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German Pages 276 [277] Year 2013
Stefania Centrone (Hg.)
Versuche über Husserl
Meiner
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2408-8 ISBN eBook: 978-3-7873-2409-5
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Inhalt Vorwort der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Künne Edmund Husserl. Leben, Werk und Wirkung . . . . . . . . . . . . .
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Markus Stepanians »Es war mir nicht gegeben, Mitglied seiner Schule zu bleiben« – Husserls Kritik an Brentano . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefania Centrone Aspekte des Psychologismus-Streits: Husserl und Frege über Anzahlen und logische Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Künne Intentionalität: Bolzano und Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dagfinn Føllesdal Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns bei der Konstitution der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Dagfinn Føllesdal Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . 167 Eduard Marbach »Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« Reflexion, Reduktion und Eidetik in Husserls Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
George Heffernan Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen. Eine kritische Analyse der methodologischen Reduktion der Evidenz auf adäquate Selbstgegebenheit in Husserls Die Idee der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Christian Beyer Einfühlung und das Verstehen einer Person . . . . . . . . . . . . . . . 255
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Vorwort
»Mein hochverehrter Lehrer!«, schreibt Edmund Husserl 1904 an Franz Brentano, »… Von Natur ist wol kein Bedürfnis bei mir stärker ausgeprägt, als zu verehren, mich denen, die ich verehre, in Liebe anzuschließen und mit Eifer für sie einzutreten. Aber zwiespältig wie meine Artung leider ist, lebt in mir auch ein unbändiger kritischer Sinn, der unbekümmert um die Neigungen meines Gemüts kühl zergliedert und das ihm als unhaltbar Erscheinende rücksichtslos verwirft. Im Gemüte gebunden, im Intellecte frei, so gehe ich, wenig beglückt meine Bahn«. Von Husserls Bahn und seinem Beitrag zur Geschichte und Philosophie der Logik im 20. Jahrhundert berichtet dieser Sammelband. Versuche über Husserl enthält in chronologischer Reihenfolge Beiträge aus der analytischen und phänomenologischen Husserl-Forschung. Schon im Titel wird darauf hingewiesen, dass nicht darauf abgezielt wird, eine endgültige Beurteilung des Husserl’schen Werks zu geben, sondern eher Interpretationsperspektiven zu eröffnen, aus denen man auf sein Werk blicken kann. Zugleich wird versucht, die Diskussionsgrundlagen zwischen Husserl und einigen seiner wichtigsten Gesprächspartner wiederherzustellen, welche die Geschichte der Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert stark beeinflusst haben, wie Bernard Bolzano, Franz Brentano, Gottlob Frege, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und andere. Wichtige Themen der Husserl’schen Phänomenologie, wie beispielsweise Reduktion und Eidetik sowie seine Auffassung der Evidenz, werden aus rein phänomenologischer Perspektive behandelt und beleuchtet. Die Herausgeberin dankt Professor Ulrich Melle, Direktor des Husserl-Archivs Leuven, für seine freundliche Erlaubnis, aus Husserls Manuskripten zu zitieren, sowie Dr. Carlo Ierna für seine Hilfe beim Zugang zu diesen Manuskripten.
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– Wolfgang Künne –
Edmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung
»Das Rembrandtsche Symbol«, schreibt Edmund Husserl 1933 an einen Schüler, »hängt wahrhaftig nicht als totes Bild an meiner Wand: Jakobs Kampf mit dem Gott, bis die Rippen krachen – und sein Gott ihn als der Engel segnet.«1 Von Husserls Kampf um den Segen und vom Beitrag dieses Kampfes zur Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert berichtet dieser Aufsatz. Husserl wurde am 8. April 1859 zu Prossnitz (Prostejow) in Mähren als zweiter Sohn einer alteingesessenen jüdischen Familie geboren. Entscheidend für seinen Weg in die Philosophie war ein wenige Jahre älterer Landsmann, Thomas G. Masaryk, der nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie der erste Staatspräsident der Tschechoslowakischen Republik wurde. Husserl erzählt:2 Mit 17 1/2 Jahren kam ich nach Leipzig, um Astronomie zu studieren. Zur gleichen Zeit (im Herbst 1876) kam auch Masaryk dort an, ein junger Doktor der Philosophie [der in Wien bei Brentano promoviert hatte] … Als mährische Landsleute lernten wir uns bald kennen, und Masaryk wurde mir zum Mentor und Freund. Gemeinsam mit ihm nahm ich an philosophischen Vorlesungen [bei Wilhelm Wundt] teil – damals meiner Allgemeinbildung wegen, nicht als Fach – und er, als Dr. phil. mir natürlich weit voraus, half mir die Sache zu verstehen und zeigte mir, dem Unmündigen, Wege zum selbständigen Denken. Vor allem heilte er mich von dem falschen, unethischen Nationalismus, dessen Prinzip Haß und uferloser Egoismus statt brüderliche Gemeinschaft ist. Er wies auf das Beispiel der Schweiz hin, wo drei Völker sich in einer jahrhundertelangen historischen Gemeinschaft schon längst zu einem spezifisch schweizerischen Patriotismus durchgearbeitet haben und eine einzige Nationalität von drei Volksgruppen bilden… So auch wir Tschechen und Deutschen … – Brüder im gleichen Vaterland und in gleicher Vaterlandsliebe.
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Ein halbes Jahrhundert später schrieb Husserl für die Festschrift zu Masaryks 80. Geburtstag einen Beitrag. Um Mathematik zu studieren, ging Husserl von Leipzig nach Berlin, wo er von dem bedeutenden Mathematiker Carl Weierstraß »zur intellektuellen Reinlichkeit erzogen wurde«.3 Auf Wunsch seines Vaters, eines österreichischen Patrioten, promovierte er dann aber in Wien – mit einer Arbeit zur Theorie der Variationsrechnung. Danach kehrte er noch einmal für ein Semester als Privatassistent von Weierstraß nach Berlin zurück. Husserl hatte Masaryk mit Enthusiasmus von seinem Lehrer Franz Brentano sprechen hören. Nun folgte er dem Rat seines Freundes und besuchte 1884–86 in Wien Brentanos Vorlesungen. »Zuerst aus seinen Vorlesungen schöpfte ich die Überzeugung, die mir den Mut gab, die Philosophie als Lebensberuf zu wählen, nämlich, daß auch Philosophie ein Feld ernster Arbeit sein, daß auch sie im Geiste strengster Wissenschaft behandelt werden könne und somit auch müsse.«4 Brentano hatte einen immensen Einfluss auf die Entwicklung der Philosophie in der Donaumonarchie: Zu seinen bedeutendsten Schülern gehören (neben Husserl) Alexius von Meinong (Graz), Anton Marty (Prag) und Kasimir Twardowski (Lemberg). In Deutschland lehrte sein Freund Carl Stumpf. Besonders wichtig sollte für Husserl Brentanos Unterscheidung zwischen »deskriptiver« und »genetischer Psychologie« werden: Erstere versucht, »die Elemente des menschlichen Bewusstseins und ihre Verbindungsweisen (nach Möglichkeit) erschöpfend zu bestimmen«, während letztere sich darum bemüht, »die Bedingungen anzugeben, mit welchen die einzelnen Erscheinungen ursächlich verknüpft sind«.5 Der deskriptiven Psychologie, die Brentano auch Psychognosie und Phänomenologie nannte, gebührt in seinen Augen systematische Priorität vor der genetischen oder kausal erklärenden. Brentano riet Husserl, bei einem seiner ältesten Schüler, bei Carl Stumpf in Halle an der Saale weiterzuarbeiten. Bei ihm habilitierte sich Husserl 1887 mit einer Arbeit Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analysen. Den Werken Stumpfs, insbesondere seiner Abhandlung ›Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung‹ und der bahnbrechenden Tonpsychologie, verdankt er entscheidende Anregungen. Vierzehn Jahre lang war er nun in Halle Privatdozent. 10 | wolfgang künne
Unter dem Titel Philosophie der Arithmetik. Psychologische und logische Untersuchungen. Erster Band veröffentlichte Husserl 1891 die erweiterte Fassung seiner Habilitationsschrift mit der Widmung »Meinem Lehrer Franz Brentano in inniger Dankbarkeit«. An einigen Bestandstücken der hier vorgelegten Theorie hat er stets festgehalten. So z. B. an der Lehre von den »figuralen Momenten«, in der er das beschrieb, was ein anderer Brentano-Schüler, Christian von Ehrenfels, fast gleichzeitig und unabhängig von ihm unter dem heute bekannteren Titel »Gestaltqualitäten« zum Thema machte. Figurale Momente sind charakteristische Eigenschaften einer Mannigfaltigkeit, die mit einem Blick erfasst werden kann; in der Umgangssprache werden sie in Wendungen wie ›ein Strauß Blumen‹, ›ein Schwarm Vögel‹, ›ein Zug Gänse‹ oder ›ein Rudel Wölfe‹ durch die den Plural einleitenden Ausdrücke angedeutet. Aber im Grundlegenden entfernte sich Husserl sehr bald von der Position der Philosophie der Arithmetik. Zwei Faktoren haben bei diesem Positionswechsel eine entscheidende Rolle gespielt: erstens die scharfe Kritik, die Frege in einer Rezension an Husserls Buch übte und die im Vorwurf des Psychologismus, d. h. der Psychologie am falschen Ort (nämlich in der Grundlegung der Mathematik und der Logik) ihre eigentliche Spitze hatte;6 und zweitens Husserls intensive Beschäftigung mit der (außerhalb des Brentano-Kreises fast völlig in Vergessenheit geratenen) Wissenschaftslehre Bernard Bolzanos (1837) und mit dem Kapitel »Die Ideenwelt« in Hermann Lotzes Logik (21880). Der angekündigte zweite Band der Philosophie der Arithmetik ist nie erschienen. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entstand in Halle Husserls Haupt- und Meisterwerk, die fast 1000 Seiten umfassenden Logischen Untersuchungen (LU). Wilhelm Dilthey nannte sie »den ersten großen Fortschritt, den die Philosophie seit Kants Kritik der reinen Vernunft gemacht hat«.7 1900 erschien der I. Band, die Prolegomena zur reinen Logik, 1901 der II. Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Das Ziel der Prolegomena charakterisiert Husserl in seiner ›Selbstanzeige‹ folgendermaßen:8 [Sie] versuchen zu zeigen, daß die ausschließlich psychologische Fundierung der Logik, welcher unsere Zeit so großen Wert beimißt, auf einer Vermengung wesentlich verschiedener ProblemschichEdmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung | 11
ten, auf prinzipiell irrigen Voraussetzungen über den Charakter und die Ziele … der empirischen Psychologie und der reinen Logik beruhe … Gegen den herrschenden Psychologismus gewendet, suchen die Prolegomena … die Idee einer reinen Logik neu zu beleben, aber auch neu zu gestalten. Sie führen zur Abgrenzung einer theoretischen, von aller Psychologie und Tatsachenwissenschaft unabhängigen Wissenschaft, welche in ihren natürlichen Grenzen die gesamte reine Arithmetik und Mannigfaltigkeitslehre mit umfaßt. Ihr Verhältnis zur Logik als Methodologie, als Kunstlehre des wissenschaftlichen Erkennens, deren Berechtigung natürlich unangetastet bleibt, wird analog gefaßt dem Verhältnis der Geometrie zur Feldmeßkunst.
Die Prolegomena unterscheiden (ganz im Sinne von Bolzanos Wissenschaftslehre und Freges Kritik an der Philosophie der Arithmetik) die logischen Wahrheiten als »Bedeutungen« von den psychischen Episoden, deren Gehalte sie sein können. Die beiden Teile des zweiten Bandes der LU enthalten sechs Untersuchungen: II/1: 1. 2.
»Ausdruck und Bedeutung« »Die ideale Einheit der Spezies und die neuere Abstraktionstheorien« 3. »Zur Lehre von den Ganzen und Teilen« 4. »Der Unterschied der selbständigen und unselbstständigen Bedeutungen und die Idee der reinen Grammatik« 5. »Über intentionale Erlebnisse und ihre ›Inhalte‹« II/2: 6. »Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis«. Husserl fragt in den LU zum einen nach dem ontologischen Status von Bedeutungen (I, II, IV) und zum anderen nach dem Wesen psychischer, insbesondere kognitiver Episoden (V, VI) und ihrer sprachlichen Manifestationen (I), und er bedient sich dabei an entscheidenden Stellen einer ›mereologischen‹ Begrifflichkeit (III). Die LU trugen Husserl einen Ruf nach Göttingen ein, wo er 1901 zum Außerordentlichen und 1906 (gegen den Widerstand der Philosophischen Fakultät) zum Ordentlichen Professor ernannt wurde. 1911 veröffentlichte er den programmatischen Aufsatz ›Philosophie als strenge Wissenschaft‹. Husserls Angriff richtet sich 12 | wolfgang künne
hier einerseits gegen die »naturalistische Philosophie« wegen ihrer Pseudo-Wissenschaftlichkeit und andererseits gegen die »Weltanschauungsphilosophie« wegen ihres resignativen Verzichts auf Wissenschaftlichkeit. In beiden Philosophien sieht er (unangemessene) Reaktionen auf den Zusammenbruch des Hegelianismus:9 [Dem Hegelschen System fehlte] die philosophische Wissenschaftlichkeit allererst ermöglichende Vernunftkritik. In Zusammenhang damit … steht … daß diese Philosophie, wie die romantische Philosophie überhaupt, in der Folgezeit im Sinne … einer Schwächung oder einer Verfälschung des Triebes zur Konstitution strenger philosophischer Wissenschaft gewirkt hat. Was … die Tendenz auf Verfälschung anbelangt, so rief bekanntlich der Hegelianismus mit dem Erstarken der exakten Wissenschaften Reaktionen hervor, infolge deren der Naturalismus … einen übermächtigen Auftrieb gewann… [I]m Sinne einer Schwächung des philosophischen Wissenschaftstriebes übte die Hegelsche Philosophie Nachwirkungen durch ihre Lehre von der relativen Berechtigung jeder Philosophie für ihre Zeit – eine Lehre, die freilich innerhalb des Systems von prätendierter absoluter Gültigkeit einen ganz anderen Sinn hatte als den historizistischen, mit dem sie von Generationen aufgenommen worden ist, die mit dem Glauben an die Hegelsche Philosophie auch den an eine absolute Philosophie überhaupt verloren hatten. Durch den Umschlag der metaphysischen Geschichtsphilosophie Hegels in einem skeptischen Historizismus ist nun wesentlich bestimmt das Aufkommen der neuen ›Weltanschauungsphilosophie‹.
Das letzte Buch, an dem Husserl gearbeitet hat, die Krisis-Abhandlung, schließt in vielem an die Fragestellung dieses Aufsatzes an. Zusammen mit den Münchner Philosophen Moritz Geiger und Alexander Pfänder, seinem brillanten Göttinger Schüler Adolf Reinach und dem damals in Berlin lehrenden Max Scheler gründete Husserl 1913 das ›Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung‹ (fortan: Jb.10), das er mit seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie eröffnete. Im Jahre 1913 erschienen auch die zweite, umgearbeitete Auflage der Prolegomena und der 1. bis 5. LU. (Die 6. LU erEdmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung | 13
schien erst 1921 wieder, in der alten Gestalt.) Die Ideen waren auf drei Bücher angelegt, von denen aber nur das erste zu Husserls Lebzeiten veröffentlicht wurde. In Ideen I stellte er die Phänomenologie als eine neue Form der Transzendentalphilosophie dar. Wohl auch unter dem Einfluss intensiver Diskussionen mit dem Marburger Neukantianer Paul Natorp sah er in Kant nun nicht mehr (nur), wie Brentano es getan hatte, den »Vater der deutschen Common Nonsens-Philosophie«, d. h. des Deutschen Idealismus. »Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen«: Das war die Parole, die Husserl bereits in den LU ausgegeben hatte11 und die Heidegger in Sein und Zeit wiederholte. Für die Faszination des damit beschworenen neuen Stils innerhalb der akademischen Philosophie sind die folgenden Zeugnisse von Plessner, Simone de Beauvoir und Gadamer charakteristisch: Die damit proklamierte Tendenz zum Abbau von philosophischen Theorien und ›Ismen‹, Standpunkten und Prinzipien … haben zwei Generationen bezaubert. Hier war ein Weg, … das Bücherschreiben über Bücher in der Philosophie zu überwinden … Der Ruf ›zu den Sachen‹, weg von aller Theorie, wirkte damals auf die junge Generation, wie die Forderung der Pleinairmalerei auf die Akademiker um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewirkt haben muß … ›Im Freien‹ philosophieren und damit ›zunächst einmal‹ von allem bisher zum Thema Gesagten absehen dürfen, kam einer Entdeckung gleich.12 [Als Raymond Aron 1932 aus Deutschland nach Paris zurückkehrte, erzählte er Sartre und mir von seiner Beschäftigung mit Husserl.] Wir verbrachten gemeinsam einen Abend im ›Bec de Gaz‹ in der Rue Montparnasse. Wir bestellten die Spezialität des Hauses: Aprikosen-Cocktail. Aron wies auf sein Glas: »Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie.« Sartre erbleichte vor Erregung; das war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand, und es ist Philosophie.13 Wenn er (Husserl) im akademischen Unterricht den großspurigen Behauptungen und Argumentationen begegnete, die den Anfänger 14 | wolfgang künne
im Philosophieren auszuzeichnen pflegen, dann liebte er zu sagen: »Nicht immer die großen Scheine, meine Herren, Kleingeld, Kleingeld!« Es ging eine eigentümliche Faszination von dieser Arbeitsweise aus. Sie wirkte wie eine Läuterung, eine Rückkehr zur Ehrlichkeit, eine Befreiung von der Undurchsichtigkeit überall herumgereichter Meinungen, Schlagwörter und Kampfrufe … Was· man zu lernen suchte, war fast so etwas wie ein Handwerksgeheimnis der Philosophie. Man konnte etwa sagen, daß man ›bei Husserl‹ oder ›bei Pfänder‹ ›gearbeitet‹ habe, so wie ein Praktikant dadurch einen besonderen Ausweis besitzt, daß er bei einem großen Experimentalforscher oder einem großen Arzt in die Lehre gegangen ist.14
Wer hat in Göttingen »bei Husserl gearbeitet«? Der Russe Alexandre Koyré, der später in Paris ein bedeutender Wissenschaftshistoriker wurde,15 und Helmuth Plessner, der später einer der Pioniere der Philosophischen Anthropologie wurde, waren in Göttingen seine Studenten. Husserls Münchener Bewunderer Alexander Pfänder schickte Johannes Daubert und Adolf Reinach nach Göttingen. Reinach habilitierte sich dort 1909 mit einer Schrift über ›Wesen und Systematik des Urteils‹.16 Seine Abhandlung über ›Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes‹ enthielt den ersten Entwurf einer Theorie der sprachlichen Handlungen.17 Reinach fiel im 1. Weltkrieg. Edith Stein promovierte 1916 mit einer Arbeit über ›Das Einfühlungsproblem‹, die ein Jahr später in Halle erschien, und sie war jahrelang Husserls Privatassistentin. 1919 schrieb er über sie in einem Gutachten: »Sollte die akademische Laufbahn für Damen eröffnet werden, so könnte ich sie an allererster Stelle u. aufs Wärmste für die Zulassung zur Habilitation empfehlen.«18 (1998 hat der polnische Papst auf seine Weise dafür gesorgt, dass das Leben der 1922 zum Katholizismus konvertierten und 1933 in einen Orden eingetretenen Philosophin und ihr Tod in Auschwitz nicht in Vergessenheit geraten.) Aus Polen kamen zwei Studenten nach Göttingen, von denen später entscheidende Impulse für die Entwicklung der Philosophie in ihrem Lande ausgingen: Roman Ingarden promovierte 1917 bei Husserl,19 und er verfasste die wohl bedeutendsten Beiträge der Phänomenologie zur allgemeinen Ontologie und zur Ontologie des Kunstwerks;20 Kasimierz Ajdukiewicz war besonders von der IV. LU beeindruckt, und er wurde einer der Pioniere der analytiEdmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung | 15
schen Philosophie in Polen. – Die in Ideen I vollzogene Wende zu einer neuen Version der Transzendentalphilosophie behagte nicht allen Göttinger Schülern Husserls: Daubert, Reinach und Ingarden verdächtigten sie idealistischer Umtriebe. Sie bevorzugten die LU und propagierten eine Realistische Phänomenologie. Husserl fühlte sich missverstanden. Plessner berichtet:21 Ich brachte ihm … 1914/15 durch meine Arbeit an Fichtes Wissenschaftslehre die Problematik des schöpferischen Ich immer wieder mit der Bitte um Verdeutlichung seiner Auffassung … unter die Augen. Als wir einmal zusammen vom Seminar nach Hause gingen und vor seiner Gartentür angelangt waren, kam sein tiefer Unmut zum Ausdruck: »Mir ist der ganze deutsche Idealismus immer zuwider gewesen. Ich habe mein Leben lang« – und dabei zückte er seinen dünnen Spazierstock mit silberner Krücke und stemmte ihn vorgebeugt gegen den Türpfosten – »die Realität gesucht.« Unüberbietbar plastisch vertrat der Spazierstock den intentionalen Akt und der Pfosten seine Erfüllung.
Zwei Jahrzehnte später schrieb Husserl in einem Brief an den Abbé Baudin:22 Kein gewöhnlicher »Realist« ist je so realistisch und so concret gewesen [wie] ich, der phänomenologische »Idealist« (ein Wort, das ich übrigens nicht mehr gebrauche). Die Methode der phänomenologischen Epoché und Reduction setzt die Existenz der Welt, genau als was sie uns jeweils galt und gilt, voraus, und wir in dieser Methode reflectierend – jeweils ich, der sich Besinnende – sind in der voll concreten Welthabe.
Mitten im Ersten Weltkrieg ging Husserl als Nachfolger des Neukantianers Heinrich Rickert nach Freiburg i. Br., wo er bis zu seiner Emeritierung (und auch danach, solange es ihm erlaubt war) lehrte. Von 1919 bis 1923 war Heidegger sein Assistent – und verdrängte ihn »sehr bald aus den Herzen der jungen Generation in die kalten Schatten geschichtlichen Ruhmes«.23 Im Jb. erschien 1927 Heideggers Sein und Zeit. Dort heißt es in einer Fußnote (die im Unterschied zur Widmung stets im Text geblieben ist): »Wenn die folgende Untersuchung einige Schritte vorwärts geht in der Erschließung der ›Sachen selbst‹, so dankt das der Verf. in erster Linie E. Husserl, der 16 | wolfgang künne
den Verf. während seiner Freiburger Lehrjahre durch eindringliche persönliche Leitung und durch freieste Überlassung unveröffentlichter Untersuchungen mit den verschiedensten Gebieten der phänomenologischen Forschung vertraut machte«.24 Im Jb. gab Heidegger 1928 einen von Edith Stein aus Teilen einer Göttinger Vorlesung und Forschungsmanuskripten zusammengestellten Text heraus, der wie die Logischen Untersuchungen ein Stück durchgeführter Phänomenologie enthält: die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Husserl hielt Vorträge in Cambridge und London. Einen Ruf nach Berlin lehnte er ab. Wer hat »bei Husserl« in Freiburg »gearbeitet«? Der Mathematiker Oskar Becker, dessen Buch Mathematische Existenz 1927 im selben Band des ›Jahrbuchs‹ erschien wie Sein und Zeit, übernahm Heideggers Assistentenstelle, als dieser nach Marburg ging. Ludwig Landgrebe promovierte über Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften.25 Besonders emphatisch lobte der Doktorvater Husserl die Dissertation von Eugen Fink über die »psychischen Phänomene, die unter den vieldeutigen Titeln ›Sich denken als ob‹, ›Sich etwas bloß vorstellen‹, ›Phantasieren‹ befaßt werden«. 26Aus Wien kam der Sozial- und Rechtsphilosoph Felix Kaufmann, der auch Mitglied des Wiener Kreises war, öfters zu Besuch nach Göttingen. Ebenfalls aus Wien kam der Soziologe Alfred Schütz, der in seinem Buch Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1932) Max Webers Theorie des Handlungsverstehens mit Hilfe der Husserl’schen Theorie der Intersubjektivität weiterzuentwickeln versuchte. Aus Polen kam der Psychologe Aron Gurwitsch, der die Gestaltpsychologie phänomenologisch reformierte und der später (zusammen mit Schütz) die Fackel der Phänomenologie nach Amerika trug. Auch Hans-Georg Gadamer und Karl Löwith besuchten eifrig Husserls Seminare, aber beide wurden mehr von Heidegger beeinflusst als von Husserl. Das gilt wohl auch von Günther Stern, der bei Husserl über ›Die Rolle der Situationskategorie bei den logischen Sätzen‹ promovierte. Der Doktorvater fand die Arbeit ebenso anregend wie schlampig. Dr. Stern nannte sich später anders und wurde unter dem Pseudonym Günther Anders nach dem 2. Weltkrieg als politischer Philosoph bekannt. Aus Litauen kam Emmanuel Levinas nach Göttingen. Seine Dissertation ›Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl‹ (1930) und seine Übersetzung von Husserls Pariser Edmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung | 17
Vorträgen trugen entscheidend zur Rezeption der Phänomenologie in Frankreich bei, – eine Rezeption, die dann in den frühen Arbeiten Sartres zur Imagination und zur Theorie der Emotionen und in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung kulminierte. Aus Ungarn kam Aurel Kolnai, der über die Phänomenologie »feindlicher« Gefühle arbeitete und später in London am Bedford College lehrte.27 Jan Patočka gehörte zu Husserls letzten Schülern. Er wurde der bedeutendste tschechische Philosoph in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als einer der Initiatoren der »Charta 77« hatte er auch erheblichen Einfluss auf die Geschichte seines Landes. Im Jahre 1928 wurde Husserl emeritiert, Heidegger wurde sein Nachfolger. Husserl reiste zu Vorträgen nach Amsterdam und Groningen, nach Paris und Straßburg. 1929 erschien seine Formale und Transzendentale Logik, deren Programm er folgendermaßen beschrieb:28 [V]on der traditionellen und alsdann in ihrem Sinn vertieften und geklärten Logik, als der thematischen Wissenschaft des formalen Apriori, werden wir durch die Kritik ihrer Voraussetzungen zurückgeleitet in ihre Verwurzelung in den konstituierenden Zusammenhängen aktueller und implizierter Intentionalitäten des transzendentalen Bewusstseins.
Diesem Buch blieb größere Resonanz versagt. Überhaupt sah Husserl sich zunehmend isoliert. 1930 erschien der letzte Band des Jb. mit einem ›Nachwort zu meinen Ideen‹, das zugleich ein Epilog auf die gemeinsame Arbeit einer Gruppe bedeutender Philosophen war.29 Unter dem Titel ›Phänomenologie und Anthropologie‹ hielt er in Berlin, Halle und Frankfurt a.M. einen Vortrag, in dem er sich deutlich von Scheler und Heidegger distanzierte. Die Entfremdung zwischen Husserl und Heidegger hat nicht erst 1933 begonnen, und sie ist aus Husserls Sicht nur das deprimierendste Kapitel in der langen Geschichte seiner Erfahrungen mit einer »durch die Zusammenbruchspsychosen von wissenschaftlicher Philosophie abgedrängt[en]« Generation,30 die – so schreibt er 1930 – »meine veröffentlichten Bruchstücke und unvollkommenen Anfänge ihrem tiefsten Sinn nach mißdeutend, eine vermeintlich verbesserte Phänomenologie propagiert und mich als alten Papa verehrt, der nun18 | wolfgang künne
mehr überholt sei«.31 (Als Husserl Jahrzehnte früher die Sorge andeutete, Brentano könnte ihm die Abweichungen von seiner Lehre verübeln, antwortete ihm sein Lehrer: »Schon Anaximander hat sich von Thales und Aristoteles von Platon entfernt. Und ich kann nicht glauben, daß Platon ihm dies verübelt habe. Der wahre Lehrer ist wie ein Vater. Und was wünscht doch Hector seinem Astyanax? – Das Volk möge einmal sagen: ›der ragt noch weit vor dem Vater‹.«32 Goldene Worte, – aber Brentano vermochte ihnen ebenso wenig zu folgen wie Husserl.) 1931 erschien die überarbeitete Fassung seiner Pariser Vorträge: Méditations Cartésiennes. Introduction à la phénomenologie, die zusammen mit Ideen I die Husserl-Rezeption in Frankreich entscheidend bestimmen sollten. (Die deutsche Fassung wurde erst zwei Jahrzehnte später veröffentlicht.) Husserl geht hier von denjenigen Motiven in Descartes’ Meditationes aus, »denen, wie ich glaube, Ewigkeitsbedeutung zukommt«, um sodann »die Umbildungen und Neubildungen« zu begründen, »in welchen die transzendental-phänomenologische Methode und Problematik entspringt«.33 Husserl wurde zum Korrespondierenden Mitglied der Academie des sciences morales et politiques de l’Institut de France (als erster Deutscher seit dem 1. Weltkrieg), der American Academy of Arts and Sciences und der British Academy ernannt. Husserl hatte schon in den zwanziger Jahren betroffen registriert, wie sich antisemitische Tendenzen in akademischen Kreisen immer mehr ausbreiteten. »Selbst in der – Philosophie; sogar die philosophischen Katheder werden unter dieser Parole besetzt. Wir haben eine ›Fichtegesellschaft‹ … mit einer eigenen philosophischen Zeitschrift gegen die Verjudung der deutschen Philosophie.«34 Als er sich in einer Fakultätssitzung für die Entkonfessionalisierung eines philosophischen Lehrstuhls in Freiburg einsetzte (nicht zuletzt, um eine Berufung Heideggers zu ermöglichen), pöbelte ihn ein Kollege an: »So etwas müssen wir hören von einem österreichischen Juden!«35 (Husserls österreichische Intonation des Deutschen war unverkennbar.) 1921 schrieb er einem Freund:36 Ich bin rein jüdischer Abstammung, habe aber nie eine jüdische Erziehung genossen. Ich habe mich nie anders denn als Deutscher gefühlt und fühlen können… Als Student trat ich [1886] unter dem Edmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung | 19
ungeheuren und für mein ganzes Leben entscheidenden Eindruck, den das Neue Testament (das ich damals zuerst kennenlernte) auf mich machte, in die evangelische Kirche über, ohne aber … zum kirchlichen Leben Bezug gewinnen zu können. Mein ganzes Leben spielte sich … ganz außer Zusammenhang mit dem Judentum ab.
Noch hoffte Husserl, dass sich bald niemand mehr darum kümmern werde, »was die unverfälschten Germanen als ›deutsch‹ definieren«.37 1933 wurde er zunächst durch Erlass des Badischen Kultusministeriums in sofortigen Urlaub versetzt; zwei Monate später hob das Ministerium die Beurlaubung wieder auf (»vorbehaltlich«). »[Ich habe] das neue Beamtengesetz und dann die Beurlaubung als größte Kränkung meines Lebens empfunden… Ich denke, ich war nicht der schlechteste Deutsche (alten Stils und Umfangs) …«38 Husserl musste jetzt lernen, »auf die bergehohe Gemeinheit der Sklavennaturen [zu] pfeifen, die sich eine Fakultät nennen«.39 Er trat aus der Deutschen Akademie aus, deren Senator er war. Er erhielt einen Ruf nach Los Angeles, den er nach längeren Verhandlungen ablehnte. Im September 1935 wurden die ›Nürnberger Rassengesetze‹ vom Reichstag angenommen:40 Die Bombe vom 15. September hat mich ein paar Tage gekostet – ich brauchte sie um den Ekel zu überwinden u. die thatsächliche Lage abschließend zu überlegen u. zu distanzieren … Immerhin gieng mir schon [im Sommer] der Gedanke viel im Kopfe herum, daß ich doch in D nicht mehr lang aushalten könne, u. ob es nicht möglich sei in die alte Heimat zurückzukehren … Jetzt ist es soweit, daß ich wirklich nicht mehr aushalten kann u. in P[rag] alles Erdenkliche versuchen … werde.
In Wien und in Prag hielt Husserl 1935 vielbeachtete Vorträge. (In Prag sprach er am ersten Abend im Gebäude der Philosophischen Fakultät der Deutschen Universität, und am zweiten Abend setzte er seine Vorlesung im Gebäude der Philosophischen Fakultät der Tschechischen Universität fort.) Einige der Fragen, die er in seinen Vorträgen erörterte, nahm er in seinem Buch Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie wieder auf. An eine Publikation in Deutschland war nicht mehr zu denken. Zwei 20 | wolfgang künne
von drei geplanten Teilen erschienen 1936 in der Zeitschrift ›Philosophia‹, die der Neukantianer Arthur Liebert in Belgrad herausgab. Hatte Husserl in seinem programmatischen Aufsatz von 1911 der »naturalistischen Philosophie« vorgeworfen, sie orientiere sich bei ihrem anerkennenswerten Versuch, die Philosophie als strenge Wissenschaft aufzubauen, an einem ungeeigneten Modell, an den Naturwissenschaften, so wirft er nun der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft selber eine systematische Verkennung ihrer eigenen Voraussetzungen vor. Und in diesem Zusammenhang führt er einen Begriff ein, der dann Jahrzehnte später im Mittelpunkt der deutschen Husserl-Diskussion stehen sollte – den Begriff Lebenswelt:41 [Schon bei Galilei vollzieht sich eine] Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt. Diese Unterschiebung hat sich alsbald auf die Nachfolger, auf die Physiker der ganzen nachfolgenden Jahrhunderte vererbt … Der Geometrie der Idealitäten ging voran die praktische Feldmeßkunst, die von Idealitäten nichts wußte. Solche vorgeometrische Leistung war aber für die Geometrie Sinnesfundament … Es war ein verhängnisvolles Versäumnis, daß Galilei nicht auf die ursprünglich sinngebende Leistung zurückfragte.
Zumindest eine Dimension der »lebensweltlichen« Erfahrung hatte er schon lange vorher – wenngleich nicht unter diesem Titel, den er zuerst wohl 1920 verwendete42 – thematisiert: in der Phänomenologie der Wahrnehmung. In einem Manuskript aus dem Jahre 1935, das als Beilage zur Krisis-Abhandlung abgedruckt wurde, findet sich eine Aussage, die zu einem anscheinend unausrottbarem Missverständnis der Spätphilosophie Husserls geführt hat: »Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft – der Traum ist ausgeträumt.«43 Ludwig Landgrebe war einer der ersten, die in diesem Seufzer eine radikale Selbstkritik Husserls zu vernehmen glaubten (und eine Annäherung an Heidegger), und viele haben sich dieser Auslegung angeschlossen. Noch 1990 endete David Bells lesenswertes Buch über Husserl in der Londoner Reihe ›The Edmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung | 21
Arguments of the Philosophers‹ mit der folgenden Auslegung des Seufzers: »The tragedy is that he [Husserl] did not live to develop further the insights … that emerged out of, and owe their existence to, the … total disintegration of that very dream.«44 Gadamer hatte diese Auslegung schon längst mit Nachdruck zurückgewiesen: Jene Worte drücken eine »von Husserl nicht geteilte, ja von ihm geradezu als tödliches Verderben bekämpfte Meinung« aus.45 In der Tat! Und gerade Landgrebe hätte besser als jeder andere wissen müssen, welchen politischen Hintergrund Husserls bittere Bemerkung hatte. Sein Lehrer hatte nämlich 1933 versucht, ihm klarzumachen, dass er sich glücklich schätzen könne, in Prag untergekommen zu sein: »Sie scheinen nicht die verschiedenen Kundgebungen (auch von Rust [dem Reichskommissar für Bildung und Wissenschaft]) der nationalsozialistischen Führung hinsichtlich der autonomen Wissenschaft beachtet zu haben: dass deren Zeit endgültig vorbei sei.«46 Strenge Wissenschaft ist für Husserl selbstverständlich nur als autonome Wissenschaft möglich. Wenn die Zeit autonomer Wissenschaft endgültig vorbei ist, dann a fortiori auch die der Philosophie als strenger Wissenschaft. Husserl ersuchte 1937 das zuständige Reichsministerium um die Erlaubnis zur Teilnahme am IX. Internationalen Kongress für Philosophie in Paris; sie wurde ihm verweigert. Das Betreten seiner Universität wurde ihm verboten. Das Verbotsschreiben befindet sich in seinem Nachlass: Er hat es auf der Rückseite mit Forschungsnotizen beschrieben. Am 27. April 1938 starb Edmund Husserl. Bei seiner Einäscherung war von den Professoren der Universität Freiburg nur einer anwesend – der Historiker Gerhard Ritter. Kurz nach Husserls Tod erfolgte in Prag die Drucklegung von Erfahrung und Urteil – einer Zusammenstellung von Forschungsmanuskripten, die Landgrebe in seinem Auftrag besorgt hatte. Infolge der Annexion der Tschechoslowakei gelangte das Buch aber nicht mehr in den Buchhandel. Es erschien erst 1948 in Hamburg. Zwischen 1890 und 1938 hatte Husserl, der seine Gedanken mitzuschreiben pflegte, auf über vierzigtausend stenographierten und zehntausend maschinenschriftlich transkribierten Manuskriptseiten philosophische Reflexionen zu Papier gebracht. Ein belgischer Franziskanerpater, Herman Leo Van Breda, rettete diese Manuskripte in einer abenteuerlichen Aktion vor dem Zugriff der 22 | wolfgang künne
Nationalsozialisten. Er gründete 1939 in Belgien an der Universität Louvain (Leuven) ein Husserl-Archiv. Es veröffentlicht seit 1950 (in Zusammenarbeit mit den damals gegründeten Archiven in Freiburg und Köln) in einer historisch-kritischen Edition Husserls Gesammelte Werke, die Husserliana (Hua). Inzwischen (2012) sind einundvierzig Bände erschienen. »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Von Jakob wird erzählt, dass er das bekam, worum er gekämpft hatte. Hat Husserl den Segen auch erhalten? Diese Frage kann, wenn überhaupt, so nur in der Auseinandersetzung mit seinen Gesammelten Werken entschieden werden. Befremdlich, wenn nicht verstiegen wirkt auf den heutigen Leser der messianische Anspruch, mit dem Husserl oft auftritt: »In einer Evidenz, hinter der alle mathematische Evidenz weit zurückbleibt, kann ich dessen gewiß sein, daß aus meiner Lebensarbeit eine völlige Umwälzung des ganzen Stils, der notwendigen Problemstellung der gesamten Philosophie der Jahrtausende hervorgeht.«47 Mit der Berufung auf Evidenz ist es so eine Sache. Schrauben wir die Erwartungen lieber herunter. »Der Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt«, so sagt Husserl 1913 in Ideen I, »heißt Intentionalität.«48 Und 1936 charakterisiert er die Intentionalität in der Krisis-Abhandlung nicht minder emphatisch »als Thema, ja als das eigentlichste der fundamentierenden Untersuchungen«.49 Wegen dieses Themas dürfte Husserls Lebensarbeit für die Philosophie des Geistes noch lange relevant bleiben. Dass ihre Relevanz sich heute allgemeiner Anerkennung erfreut, kann man leider nicht sagen. Für eines der besten Handbücher zur Philosophie des Geistes, den 1994 erschienenen Oxforder Companion to the Philosophy of Mind, haben zwei prominente analytische Philosophen sehr lesenswerte Essays über Intentionalität geschrieben, die sich auf interessante Weise ergänzen. Der eine stammt von John Searle, der andere von John Perry.50 Keiner von beiden erwähnt Husserl (oder einen anderen Phänomenologen) auch nur mit einem Wort.51 Fünfzehn Jahre später hat Husserl es auf den 800 Seiten des in vielfacher Hinsicht preiswürdigen Oxford Handbook of Philosophy of Mind immerhin zu einem Platz in zwei Fußnoten und zu einer weiteren Erwähnung en passant gebracht.
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Anmerkungen
Briefwechsel [fortan: BW n], hier: 4, 91. Rembrandts Gemälde ›Jakobs Kampf mit dem Engel‹ (1659–60) ist in Berlin zu besichtigen, und die Geschichte ist in Genesis 32, 23–33 nachzulesen. 2 BW 8, 59; vgl. BW 1, 111; 120. 3 BW 4, 408. 4 In Kraus (Hrsg.) 1919, 154. 5 Brentano 1982, 1. 6 In einem Brief an Paul Natorp schreibt Husserl: »Ich arbeite an einer größeren Schrift [sc. an den Logischen Untersuchungen], welche gegen die subjectivistisch-psychologisirende Logik unserer Zeit gerichtet ist (also gegen einen Standpunkt, den ich als Brentanos Schüler früher selbst vertreten habe)« (BW 5, 43). Husserls Student und Übersetzer Boyce Gibson notiert 1928 in seinem Freiburger Tagebuch: »Husserl remarked that Frege’s criticism was the only one he was really grateful for. lt hit the nail on his head« (Hua XVIII, S. xxiii). Die Formulierung klingt gar zu brutal: vermutlich hat Husserl gesagt, Frege habe den Nagel auf den Kopf getroffen). Vgl. Prolegomena, § 45 Anm. 7 Brecht 1960, 437. 8 Hua XVIII, 261 f. 9 In Logos 1 (1911), 292–293, jüngst von Eduard Marbach mit einem instruktiven Kommentar neu herausgegeben: vgl. unten Bibl. II. 10 Unten in Bibl. I sind die Inhaltsverzeichnisse aller Bände des Jb. zu fi nden. 11 LU II/1, 6. 12 Plessner 1959, 9–10. 13 de Beauvoir 1960, 118. 14 Gadamer 1963, 152, 160. 15 s. u. Bibl. I, Jb. 1922. 16 Vgl. Husserls Gutachten in BW 2, 204–208. Reinachs Habilitationsschrift ist nie erschienen; aber man darf vermuten, dass sie auch seine Überlegungen Zur Theorie des negativen Urteils einschloss. 17 s. u. Bibl. I, Jb. 1913, Wiederabdr. in Sämtliche Werke, s. Bibl. III. 18 BW 3, 508. Im selben Jahr wurde die alte Habilitationsordnung, die den Damen keine Chance gab, endlich aufgehoben. 19 s. u. Bibl. I, Jb. 1922. 20 s. u. Bibl. III. 21 Plessner 1959, 18. 22 BW 7, 16. 23 Plessner 1979, 45. 24 Anlässlich der Berufung Heideggers nach Marburg schenkte Husserl ihm 1926 ein Handexemplar der LU. Es enthält zahlreiche Annotationen und Beiblätter, die in Hua XIX/2 im Anschluss an die VI. LU abgedruckt sind. 1
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Vgl. Bibl. I, Jb. 1928. 26 BW 4, 96–97; vgl. Bibl. I, Jb. 1930, von Husserl gegenüber seinen Briefpartenern wiederholt als »exzellent« gepriesen. 27 S. u. Bibl. I, Jb. 1929; sowie: David Wiggins & Bernard Williams (Hrsg.) 1977; Kolnai 2007. 28 Hua XVII, 342. 29 Hua V. 30 BW 3, 269. 31 BW 9, 75–76. 32 BW 1, 23. (Brentano zitiert hier Ilias VI, 479.) 33 Hua I, 43. 34 BW 3, 24; vgl. 430. 35 BW 8, 186. 36 BW 3, 432. 37 BW 3, 434. 38 BW 9, 92. 39 BW 9, 236. 40 BW 9, 246–247. 41 Krisis, § 9b (in Hua VI). 42 Hua IV, 372 ff.. 43 Hua VI, 508. 44 Bell 1990, 232. 45 Gadamer 1963, 173. 46 BW 4, 313. Landgrebe bedurfte dieser Aufk lärung dringend: ebd. 299, 314, 382. (1935 habilitierte er sich bei dem Prager Brentanisten Oskar Kraus: s. u. Bibl. III. In Prag war seines Bleibens freilich nicht mehr lange, da seine Frau Jüdin war.) 47 BW 9, 78. 48 Ideen I, § 146. 49 Krisis, § 22. 50 Searle 1994; Perry 1994. 51 Von einem der Väter der analytischen Philosophie, der dazu einen erfreulichen Kontrast bildet, handelt Künne 1990. 25
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Bibliographie
I. Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung [Abk.: Jb] In Gemeinschaft mit Oskar Becker (Freiburg), Moritz Geiger (München), Martin Heidegger (Freiburg), Alexander Pfänder (München), Adolf Reinach (Göttingen), Max Scheler (Berlin), hg. v. E. Husserl. Halle a. S. I. Band, 1913 Edmund Husserl Adolf Pfänder Max Scheler Moritz Geiger Adolf Reinach II. Band, 1916 Paul Ferdinand Linke Max Scheler
III. Band, 1916 Alexander Pfänder Dietrich v. Hildebrand Hermann Ritzel Hedwig Conrad-Martius
IV. Band, 1921 Moritz Geiger Adolf Pfänder Jean Hering Roman Ingarden
V. Band, 1922 Edith Stein
Ideen I. (s. u. Bibl. II.) Zur Psychologie der Gesinnungen I. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik I. Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes.
Phänomenologie und Experiment in der Frage der Bewegungsauffassung. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik II.
Zur Psychologie der Gesinnungen II. Die Idee der sittlichen Handlung I, II. Über analytische Urteile. Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt.
Fragment über den Begriff des Unbewußten und die psychische Realität. Logik. Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee. Über die Gefahr einer Petitio principii in der Erkenntnistheorie.
Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften.
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Roman Ingarden Dietrich v. Hildebrand Alexandre Koyré
– Erste Abhandlung: Psychische Kausalität. – Zweite Abhandlung: Individuum und Gemeinschaft. Intuition und Intellekt bei Henri Bergson. Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Bemerkungen zu den Zenonischen Paradoxen.
VI. Band, 1923 Gerda Walther Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften. Hedwig Conrad-Martius Realontologie. Fritz London Über die Bedingungen der Möglichkeit einer deduktiven Theorie. Oskar Becker Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen. Hans Lipps Die Paradoxien der Mengenlehre. VII. Band, 1925 Edith Stein Roman Ingarden Dietrich Mahnke Arnold Metzger
VIII. Band, 1927 Martin Heidegger Oskar Becker
IX. Band, 1928 Fritz Kaufmann Ludwig Landgrebe Edmund Husserl
X. Band, 1929 Edmund Husserl Christopher V. Salmon Philipp Schwarz Ernst Heller Aurel Kolnai
Eine Untersuchung über den Staat. Essentiale Fragen. Ein Beitrag zum Wesensproblem. Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik. Der Gegenstand der Erkenntnis. Studien zur Phänomenologie des Gegenstandes, I.
Sein und Zeit I. Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene.
Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (hg. v. M. Heidegger).
Formale und Transzendentale Logik. (s. u. Bibl. II.) The Central Problem of David Hume’s Philosophy. Zur Ontologie der Vergleichungssachverhalte. Zur Logik der Annahme. Der Ekel.
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Festschrift E. Husserl zum 70. Geburtstag gewidmet. Ergänzungsband zum Jahrbuch, 1929 Hermann Ammann Zum deutschen Impersonale. Oskar Becker Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers. Eine ontologische Untersuchung im ästhetischen Phänomenbereich. Ludwig Ferdinand Clauß Das Verstehen des sprachlichen Kunstwerks. Ein Streifzug durch Grundfragen der verstehenden Wissenschaften. Martin Heidegger Vom Wesen des Grundes. Gerhart Husserl Recht und Welt. Roman Ingarden Bemerkungen zum Problem »Idealismus-Realismus«. Fritz Kaufmann Die Bedeutung der künstlerischen Stimmung. Alexandre Koyré Die Gotteslehre Jacob Böhmes. Ein Fragment. Hans Lipps Das Urteil. Friedrich Neumann Die Sinneinheit des Satzes und das indogermanische Verbum. Edith Stein Husserls Phänomenologie und die Philosophie des heiligen Thomas v. Aquino. Versuch einer Gegenüberstellung. Hedwig Conrad-Martius Farben. Ein Kapitel aus der Realontologie. XI. Band, 1930 Herbert Spiegelberg Eugen Fink Hermann Mörchen Oskar Becker Edmund Husserl
Über das Wesen der Idee. Vergegenwärtigung und Bild I. Die Einbildungskraft bei Kant. Zur Logik der Modalitäten. Nachwort zu meinen »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie«.
II. Werke Husserls Husserl, Edmund: Husserliana. Gesammelte Werke The Hague 1950 ff., Dordrecht 1988 ff., New York 2005 ff. [Abk. Hua] – Husserl Briefwechsel, in: Hua Dokumente, Teil III, Dordrecht 1994, 10 Bde. [Abk. BW] – Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analyse (1887), in: Hua XII, S. 289–339. – Philosophie der Arithmetik. Psychologische und logische Untersuchungen (1891), in: Hua XII, S. 1–283 – Logische Untersuchungen. Bd I: Prolegomena zur reinen Logik (1900, 21913), Nachdruck Tübingen 71993, in: Hua XVIII – Logische Untersuchungen. Bd II/1–2: Untersuchungen zur Phänomenolo28 | wolfgang künne
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gie und Theorie der Erkenntnis (1901, 21913), Nachdruck Tübingen 61993, in: Hua XIX/1–2) [Abk. LU] Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos 1 (1910/11), S. 289–341. Mit einer Einleitung hrsg. v. Eduard Marbach, Hamburg 2009 (Originalpaginierung) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), in: Hua III [Abk. Ideen I] Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußteins, hrsg. v. M. Heidegger, in: Hua X Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (1929), in: Hua XVII Méditations Cartésiennes. Introduction à la Phénoménologie, Paris 1931 Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, in: Hua I Phänomenologie und Anthropologie (1931), in: Hua XXVII, S. 164–181 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (1936), in: Hua VI [Abk. Krisis] Erfahrung und Urteil (1938), Hamburg 1976
III. Schriften anderer Autoren Anders [eigtl. Stern], Günther: Die Rolle der Situationskategorie bei den logischen Sätzen. Erster Teil einer Untersuchung über die Rolle der Situationskategorie, Dissertation, Universität Freiburg 1924 Beauvoir, Simone de: La Force de l’âge (1960), dtsch. In den besten Jahren, Hamburg 1975 Becker, Oskar: Die Philosophie Edmund Husserls, in: Kantstudien 35 (1930), S. 119–150 – s. o. Bibl. I, Jb. 1923, 1927, FS Husserl 1929, 1930. Bell, David: Husserl, London 1990 Bolzano, Bernard: Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtentheils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige Bearbeiter (1837), Wiederabdr. in: Bernard Bolzano-Gesamtausgabe I, Bd. 11–14, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985 ff. Brecht, Franz-Josef: Edmund Husserl, in: H. Heimpel u. a. (Hrsg.): Die großen Deutschen, Bd. 5, Berlin 1960, S. 436–448 Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874), Bd. 1. Hamburg 1955 – Deskriptive Psychologie, Hamburg 1982 Edmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung | 29
Ehrenfels, Christian von: Über Gestaltqualitäten, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaft liche Philosophie 14 (1890), S. 248–292 Frege, Gottlob: [Rezension von] Dr. E. G. Husserl: Philosophie der Arithmetik (1894), Wiederabdr. in: ders., Kleine Schriften, Darmstadt 1967, 21990, S. 179–192 Gadamer, Hans-Georg: Die phänomenologische Bewegung (1963), Wiederabdr. in: ders., Kleine Schriften III, Tübingen 1972, S. 150–201. Guttenplan, Samuel (Hrsg): A companion to the philosophy of mind, Oxford 1994 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 101963 – s. o. Bibl. I, Jb. 1927, FS Husserl 1929 Ingarden, Roman: Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie, Halle 1925. – Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft , Halle 1931 (Tübingen 41972) – Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968 – s. o. Bibl. I, Jb. 1921, 1922, 1925, FS Husserl 1929 Kolnai, Aurel: Ekel – Hochmut – Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt/M 2007 – s. o. Bibl. I, Jb. 1929 Koyré, Alexandre: s. o. Bibl. I, Jb. 1922, FS Husserl 1929 Kraus, Oskar: Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. Mit Beiträgen von Carl Stumpf und Edmund Husserl, München 1919 Künne, Wolfgang: The Nature of Acts: Moore on Husserl, in: D. Bell, N. Cooper (Hrsg.), The Analytic Tradition, Oxford 1990, 104–116 Landgrebe, Ludwig: Nennfunktion und Wortbedeutung. Eine Studie über Martys Sprachphilosophie, Halle 1923 Levinas, Emmanuel: La théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, Paris 1930 Lotze, Hermann: Logik (1974, 21880), Leipzig 1912 Merleau-Ponty, Maurice: Phénoménologie de la perception, Paris 1945 Perry, John: Intentionality, in: S. Guttenplan (Hrsg), S. 386–395 Plessner, Helmuth: Husserl in Göttingen, Göttinger Universitätsreden 24, Göttingen 1959 – Das Werk Edmund Husserls, in: ders., Zwischen Philosophie und Gesellschaft , Frankfurt/M 1979, S. 43–66 Reinach, Adolf: Sämtliche Werke, hrsg. v. K. Schuhmann und B. Smith, München 1989 – Zur Theorie des negativen Urteils, in: Sämtliche Werke, S. 95–140 – s. o. Bibl. I, Jb. 1913 Sartre, Jean-Paul: L’Imagination, Paris 1936 – Esquisse d’une théorie des émotions, Paris 1938 Schuhmann, Karl: Husserl Chronik, in: Hua Dokumente, Bd. I, Den Haag 1977 30 | wolfgang künne
Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932 Searle, John: Intentionality, An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge 1983 – Intentionality, in: S. Guttenplan (Hrsg), S. 379–386 Stein, Edith: Zum Problem der Einfühlung, Halle, 1917. Nachdr.: München 1980 – s. o. Bibl. I, Jb. 1922, 1925, FS Husserl 1929 Stumpf, Carl: Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, Leipzig 1873 – Tonpsychologie, Leipzig 1883–90 Wiggins, David & Williams, Bernard (Hrsg.): Ethics, Value, and Reality: Selected Papers of Aurel Kolnai, London 1977
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»Es war mir nicht gegeben, Mitglied seiner Schule zu bleiben« Husserls Kritik an Brentano Interviewer: “Are you denying that we have a great deal going on inside us?” Gilbert Ryle: “What I would like to do is throw a brick at you for saying ‘inside’.” Brian Magee: Modern British Philosophy, Oxford 1986, 137.
I. Franz Brentano 1. Brentanos Leben und Werk1 Franz Clemens Honoratus Hermann Josef Brentano wird am 16. Januar 1838 in Marienberg bei Boppard am Rhein als zweiter Sohn einer katholischen Intellektuellenfamilie geboren. Die Brentanos waren im 17. Jahrhundert aus der Gegend um den Comer See nach Deutschland eingewandert. Sie ließen sich in Frankfurt am Main nieder und brachten es durch Handel mit Wein, Gewürzen und Zitrusfrüchten schnell zu Ansehen und Wohlstand. Franz Brentanos Großmutter Sophie von La Roche war eine bekannte Schriftstellerin. Sein Onkel Clemens und seine Tante Bettina von Arnim (neé Brentano) gehören zu den bedeutendsten Autoren der Deutschen Romantik. Tante Gunda war verheiratet mit Friedrich Carl von Savigny, einem der bedeutendsten Rechtsgelehrten des 19. Jahrhunderts. Brentanos jüngerer Bruder Lujo machte sich als Wirtschaftswissenschaftler und Sozialreformer einen Namen. Im Jahr seiner Geburt ziehen seine Eltern ins bayerische Aschaffenburg um, wo Brentano mit seinen Geschwistern in einem streng katholischen Umfeld aufwächst. Von 1856 bis 1862 studiert er in München, Würzburg, Berlin und Münster Philosophie. Sein beson| 33
deres Interesse gilt den Aristoteles-Vorlesungen Friedrich A. Trendelenburgs in Berlin und den Vorlesungen über die Scholastik von Franz J. Clemens in Münster. Mit der Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles wird Brentano 1862 in Tübingen promoviert. Im gleichen Jahr entscheidet er sich für den Priesterberuf und verbringt drei Monate als Novize im Dominikanerkonvent in Graz, ohne jedoch dem Orden beizutreten. 1864 wird Brentano in Würzburg zum Priester geweiht. 1866 habilitiert er sich an der Universität Würzburg mit der Arbeit Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom ›Nous Poietikos‹ und lehrt dort bis 1872 als Privatdozent. 1869 wendet sich Brentano in einem Gutachten gegen das von Papst Pius IX. angestrebte (und ein Jahr darauf durchgesetzte) Unfehlbarkeitsdogma und setzt sich damit den Anfeindungen der papsttreuen Katholiken aus. Die negativen Folgen seines Gutachtens werden sofort spürbar. 1870 stellt Brentano einen Antrag auf eine außerordentliche Professur an der Universität Würzburg, der auf erbitterten Widerstand stößt. Weil er all dem »Abscheulichen«, das er als Reaktion auf sein als Papstkritik gewertetes Gutachten in Würzburg erfährt, »möglichst fern« sein möchte, erwägt Brentano Deutschland zu verlassen. Er reist 1872 nach England, wo er Herbert Spencer trifft. Ein Jahr später scheitert ein Treffen mit John Stuart Mill nur an dessen plötzlichem Tod in Avignon. Aufgrund einer erfolgreichen Intervention des seinerzeit hoch angesehenen Göttinger Philosophen Hermann Lotze wird Brentano 1873 schließlich doch eine außerordentliche Professur in Würzburg angeboten. Viel Freude scheint sie ihm jedoch nicht bereitet zu haben, denn kaum ein Jahr später legt Brentano seine Professur nieder, gibt sein Priesteramt auf und tritt der Sache nach (formal erst 5 Jahre später) aus der katholischen Kirche aus. Anfang 1874 wird Brentano, erneut mit Unterstützung Lotzes, auf eine ordentliche Professur nach Wien berufen. Er zieht nach Wien und nimmt die österreichische Staatsbürgerschaft an. Im gleichen Jahr erscheint sein Hauptwerk, Die Psychologie vom empirischen Standpunkte.2 In Wien lernt Brentano die Bankierstochter Ida von Lieben kennen und will sie heiraten. Die österreichischen Behörden sehen ihn jedoch weiterhin an das priesterliche Gelübde der Ehelosigkeit gebunden, das laut impedimentum ordinis (§ 63 des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches) eine Heirat ausschließt: 34 | markus stepanians
»Geistliche, … welche feierliche Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt haben, können keine giltigen Eheverträge schliessen«. Um dieses Gesetz zu umgehen, gibt Brentano 1880 die österreichische Staatsbürgerschaft auf und legt seine Wiener Professur nieder. Er fährt mit seiner Verlobten nach Leipzig, wird sächsischer Staatsbürger und heiratet dort. Zuvor hatte er mit der Wiener Universität und der Regierung vereinbart, dass er bei der Rückkehr nach Wien seine Professur zurückerhalten würde. Aber es kommt anders. Zwar nominiert die Philosophische Fakultät Brentano einstimmig und unico loco für den Lehrstuhl, aber Kaiser Franz Josef I. persönlich legt sein Veto ein und verhindert so Brentanos Neuberufung. Das Wechselspiel von Nominierung und Ablehnung wiederholt sich mehrfach.3 Zunächst unverdrossen lehrt Brentano in den folgenden 14 Jahren unentgeltlich, aber mit großem pädagogischem Erfolg als Privatdozent. 1889 erscheint Brentanos nächste größere Schrift, diesmal zur Moralphilosophie: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Einige Jahre später folgen Ueber die Zukunft der Philosophie. Mit apologetischkritischer Berücksichtigung der Inaugurationsrede von Adolf Exner ›Ueber politische Bildung‹ als Rector der Wiener Universität (1893) und die philosophiehistorische Abhandlung Vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand (1895). Als 1894 Brentanos Frau Ida stirbt und seine Ernennung zum ordentlichen Professor erneut am Widerstand der Regierung scheitert, fühlt Brentano, »dass man ihn brüskieren und moralisch zum Abschiede von der Universität nötigen wollte«.4 Er beschließt, der Wiener Universität und Österreich für immer den Rücken zu kehren. Brentano verfasst 1895 seine Letzten Wünsche für Oesterreich, erwirbt die italienische Staatsbürgerschaft und zieht im Jahr darauf nach Florenz. Brentanos ehemaliger, seit 14 Jahren vakanter Lehrstuhl geht an den Physiker Ernst Mach. Bis 1901 veröffentlicht der Pensionär nur einen einzigen philosophischen Vortrag. Aber er findet nun auch Zeit für schachtheoretische Studien über die »Spanische Partie«, die er in der Wiener Schachzeitung publiziert. Wahrscheinlich hat es ihn nicht überrascht, dass auch diese Publikation in der Wiener Schachwelt »einen Sturm der Entrüstung« auslöst.5 In Florenz heiratet Brentano 1897 die fast 30 Jahre jüngere Emilie Rueprecht. Um die Jahrhundertwende zeigen sich die ersten Symptome eines Augenleidens, das 1907 trotz zweier Operationen zu seiner fast völligen Erblindung führt. Infolge der Husserls Kritik an Brentano | 35
Kriegserklärung Italiens an Österreich und Deutschland verlässt Brentano Florenz. Seine italienische Staatsbürgerschaft verhindert jedoch eine Rückkehr nach Deutschland oder Österreich und so lässt er sich 1915 im eidgenössischen Zürich nieder. Dort erliegt der 79jährige Brentano am 17. März 1917 einer Blinddarmentzündung. Er wird auf dem Züricher Friedhof Sihlfeld beigesetzt, jedoch auf Wunsch seiner Familie 1953 exhumiert, eingeäschert und in die Familiengruft der Brentanos nach Aschaffenburg überführt.
2. Die geistesgeschichtliche Situation der Philosophie im 19. Jahrhundert Anlässlich seines Abschieds von der Wiener Universität und seiner Emigration aus Österreich erzählt Brentano 1895 eine Anekdote vom Beginn seiner Lehrtätigkeit in Wien aus dem Jahr 1874, die in seinen Augen die geistesgeschichtliche Krise der Philosophie seiner Zeit in ein helles Licht setzt: »Bezeichnend für die Lage war es, dass kurz nach meiner Ankunft ein wissenschaftlicher Studentenverein mich einlud, einem ihrer Vorträge beizuwohnen. Darin setzt der Vortragende auseinander, es habe eine Zeit der Theologie gegeben, auf sie sei eine Zeit der Philosophie gefolgt; nun aber sei auch die Philosophie abgethan, und das, was einzig berechtigt an ihre Stelle trete, seien die exakten Wissenschaften. Aus der versammelten akademischen Jugend hatte keiner etwas einzuwenden. Ja, dass man zu einem solchen Vortrage nicht zum Hohn, sondern in allerehrlichster Freundlichkeit mich geladen, zeigte mir genugsam, dass man diese These bereits für etwas so allgemein Zugestandenes hielt, dass auch der Professor der Philosophie … innerlich von der Nichtigkeit seines Treibens überzeugt sein musste.«6 Brentano verschweigt, dass der Vortragende kaum mehr tut, als das »Dreistadiengesetz« des auch in seinen Augen »hervorragendsten französischen Denkers neuester Zeit, Auguste Comte« zu referieren, dem Brentano selbst attestiert, er habe »klare Blicke getan in die Missstände unserer Philosophie und die Übel unserer Zeit überhaupt«.7 Auch wenn Brentano die These vom Ende der Philosophie und ihrer endgültigen Ablösung durch die Naturwissenschaften nicht teilt, hält auch er sie zumindest insofern für »etwas allgemein Zugestandenes«, als sie 36 | markus stepanians
einer weit verbreiteten Überzeugung des Bildungsbürgertums nicht nur in Österreich entspricht.8 Mehr noch, genau wie der Vortragende ist auch Brentano der Auffassung, dass die Zeit des weltumfassenden metaphysischen Spekulierens mit dem »Zusammenbruch der Hegelschen Geistesherrschaft« endgültig vorüber ist. Er sei in einer Zeit gekommen, schreibt er an gleicher Stelle, die sich »über die Hohlheit pomphaft aufgebauschter Lehrsysteme« von »Schwindlern« wie Fichte, Schelling und Hegel »völlig im Klaren war.«9 Die Hohlheit dieser philosophischen Lehrsysteme steht auch in Brentanos Augen in deutlichem Gegensatz zu den atemberaubenden Erfolgen der Naturwissenschaften. Hier eine rhapsodische Auswahl in der Zeit zwischen Hegels Tod und Brentanos Ankunft in Wien: Faradays Entdeckung der elektromagnetischen Induktion (1831); Wöhlers und Liebigs Formulierung der Radikaltheorie in der Chemie (1832); Schwanns Einsicht, dass Organismen aus lebenden Zellen bestehen (1838); von Mayers und Joules Entdeckung des Energieerhaltungssatzes (1843); Lord Kelvins Entdeckung des absoluten Temperaturnullpunkts (1848); Bernards Begründung der Endokrinologie (1851); Günzbergs und Remaks Nachweis der Zellteilung (spätestens 1852); Pasteurs Entwicklung des nach ihm benannte Sterilisationsverfahrens (1856); Darwins und Wallaces Entdeckung der Natürlichen Selektion (1859); Mendels Entschlüsselung der Vererbungsgesetze (1865); Mendelejews und Meyers Entdeckung des Periodensystems der chemischen Elemente (1869); Maxwells Formulierung der Theorie elektromagnetischer Wellen (1873). Mit dieser triumphalen Erfolgsserie, schreibt 1892 der Philosophiehistoriker Wilhelm Windelband, begründen die Naturwissenschaften zunehmend ihren »Alleinherrschaftsanspruch« gegenüber den Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen. Das »entscheidende Moment der Philosophie des 19. Jahrhunderts«, so Windelband, »ist zweifellos die Frage nach dem Mass von Bedeutung, welches die naturwissenschaftliche Auffassung der Erscheinungen für die gesammte Welt- und Lebensansicht in Anspruch zu nehmen hat.«10 Dem naturwissenschaftlichen Alleinherrschaftsanspruch »trat die deutsche Philosophie mit dem Grundgedanken entgegen, dass alles so Erkannte nur die Erscheinungsform und das Vehikel einer sich zweckvoll entwickelnden Innenwelt sei.«11 Die Erforschung dieser Innenwelt war jedoch die Husserls Kritik an Brentano | 37
Aufgabe der Lehre von der Seele, der Psychologie. Die Frage nach der Berechtigung des Alleinherrschaftsanspruchs der Naturwissenschaften wird so zu der »Frage, in welchem Sinne das Seelenleben der naturwissenschaftlichen Erkenntnissweise unterworfen werden kann: Denn an diesem Punkte zuerst muss über das Anrecht dieser Denkformen auf philosophische Alleinherrschaft entschieden werden. Deshalb ist über Aufgabe, Methode und systematische Bedeutung der Psychologie nie mehr gestritten worden als im 19. Jahrhundert.«12
3. Brentano als »Regenerator der Philosophie«13 Wo steht Brentano in diesem »Kampf um die Seele« (Windelband)? Auch Brentano teilt den von Windelband erwähnten »Grundgedanken«, dass alles von den Naturwissenschaften Erkannte »nur die Erscheinungsform … einer sich zweckvoll entwickelnden Innenwelt sei.«14 Aber er hält den naturwissenschaftlichen Alleinherrschaftsanspruch zumindest in methodischer Hinsicht für völlig berechtigt. Brentano will die »auf naturwissenschaftlichem Gebiet so glänzend bewährten Methoden« auch für die Geisteswissenschaften fruchtbar machen. Denn nur »ein Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft« könne »der Geisteswissenschaft zum Heil gereichen«.15 Die glänzend bewährten naturwissenschaftlichen Methoden sind für Brentano die empirischen, auf Beobachtung und Induktion beruhenden Verfahren. In seinen Vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand von 1895 stellt Brentano die philosophiehistorische These auf, dass die Philosophie immer dann floriert, wenn sie sich empirischer Methoden bedient, wie es z. B. im frühen 16. Jh. der Fall gewesen sei. Er preist Francis Bacons »induktive Forschungsweise« und René Descartes’ »Beobachtung der Thatsachen«. Zur Illustration gibt er eine Anekdote über Descartes zum Besten: »Als einer seine Bibliothek zu sehen verlangte, führte Descartes ihn ein Nebenzimmer, worin kein einziges Buch, aber, an der Wand aufgehängt, ein geschlachtetes Kalb zu sehen war, das er zum Behuf physiologisch-psychologischer [!] Studien zerlegt hatte. ›Das‹, sagte er, ›ist die Bibliothek, aus der ich mir meine Weisheit hole‹.«16 Schon 1866 hatte Brentano bei seiner Habilitation die These 38 | markus stepanians
verteidigt: »Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est (Die Methode der wahren Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaften).« Keine der 25 von ihm 1866 verteidigten Habilitationsthesen, so sagt Brentano später nicht ohne Stolz, habe mehr Aufsehen erregt und mehr Angriffe auf sich gezogen als diese.17 Brentano lässt keinen Zweifel daran, dass auch eine wissenschaftliche Psychologie sich empirischer Methoden bedienen müsse: »Die Aufschrift, die ich meinem Werke gegeben«, schreibt der Autor der Psychologie vom empirischen Standpunkte18 von 1874 im Vorwort, »kennzeichnet dasselbe nach Gegenstand und Methode. Mein Standpunkt in der Psychologie ist der empirische; die Erfahrung allein gilt mir als Lehrmeisterin.«19 Die philosophischen Hoffnungen, die Brentano in eine so verfahrende Psychologie setzt, sind enorm. Für Brentano bildet eine auf innere Erfahrung basierende, induktiv psychologische Gesetze formulierende Psychologie die Fundamentaldisziplin der Philosophie. Die Idee war nicht neu. Schon zwei Jahre nach Hegels Tod hatte Friedrich Eduard Beneke 1833 gefordert, dass die Wiedererrichtung einer Philosophie, die wissenschaftlichen Standards genügen will, »Erkenntniss von einem Realen sein« müsse, und dies sei nur dann der Fall, wenn sie »sich durchgängig auf das für sie gegebene Reale, durchgängig auf die innere Erfahrung« beziehe.20 Nur mittels dieser »neuen psychologischen Methode«, so Beneke über vierzig Jahre vor Erscheinen der PeS, könne die Philosophie Fortschritte machen. Genau so sieht es Brentano. Die Psychologie wird bei ihm zur Fundamentaldisziplin einer wissenschaftlichen Philosophie und zum Ausgangspunkt einer »universellen Revolution oder, besser gesagt, einer Reformation der Philosophie von Grund aus«.21 Die systematische und empirische Erforschung der Psyche, so Brentanos felsenfeste und lebenslange Überzeugung, werde ein »goldenes Zeitalter der Philosophie« einläuten.22Aber Brentano glaubte nicht nur, dass die Zeit für diese »Reformation der Philosophie« nun gekommen sei, dass die Gegenwart eine »Zeit … des Erwachens der Philosophie nach einer Periode traumhaft willkürlicher Konstruktion« sei.23 Brentano glaubte auch, dass niemand anderes als er dazu berufen sei, diese Revolution anzuführen. Wie sein Schüler Hugo Bergmann in seinen Erinnerungen schreibt, war Brentano »erfüllt Husserls Kritik an Brentano | 39
von starkem Selbstbewußtsein, dem Bewußtsein einer Mission, die ihm anvertraut war: den Weg zu bahnen zu einer neuen, klassisch aufsteigenden, an die großen Traditionen anknüpfenden Philosophie. […] Es war die Haltung eines Menschen, der weiß, daß er in einer Zeit philosophischer Irrwege den Weg zur Wahrheit kennt«.24 Edmund Husserl bezeichnet die Überzeugung dieser Mission als die »Urtatsache« von Brentanos Leben: Sein »Selbstvertrauen war vollkommen. Die innere Gewissheit, auf dem rechten Wege zu sein und die allein wahre wissenschaftliche Philosophie zu begründen, war bei ihm ohne jedes Schwanken. Diese Philosophie innerhalb der systematischen Grundlehren, die ihm schon als gesichert galten, näher auszugestalten, dazu fühlte er sich von innen und von außen gerufen. Ich möchte diese schlechthin zweifelsfreie Überzeugung von seiner Mission geradezu als die Urtatsache seines Lebens bezeichnen. Ohne sie kann man Brentanos Persönlichkeit nicht verstehen und nicht billig beurteilen.«25 Insofern traf die spöttische Bezeichnung »Regenerator der Philosophie in Österreich«, mit der ihn die (ihm feindlich gesinnte) Wiener Zeitung Das Vaterland belegt, sein Selbstverständnis ziemlich genau. Nicht ganz genau, da Brentanos reformatorisch-revolutionäre Ansprüche weit über die Grenzen Österreichs hinausreichten. Sicherlich ist Brentanos bemerkenswerter Erfolg als Lehrer in Würzburg und Wien und seine magnetische Anziehungskraft auf junge Menschen nicht zuletzt auf die Ausstrahlung zurückzuführen, die mit diesem Selbst- und Sendungsbewusstsein notwendig verbunden ist. Weniger als durch seine Schriften hat er vor allem durch sein Charisma entscheidend zu einer Erneuerung der Philosophie beigetragen. Mit Alexius Meinong in Graz, Kasimir Twardowski in Lemberg, Christian von Ehrenfels und Anton Marty in Prag, Carl Stumpf in Berlin und Husserl in Göttingen und Freiburg besetzten Brentanos Schüler bedeutende Lehrstühle in ganz Europa. Deren Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts war so groß, dass man ohne viel Übertreibung behaupten kann, dass fast alle bedeutenden philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts direkt oder indirekt von Brentano ausgehen.26 Zweifellos war damit eine Erneuerung der Philosophie verbunden, wenn auch gewiss nicht die von Brentano erhoffte. Wie viele andere selbsterklärte Reformatoren und Revolutionäre betrachtete er Abweichungen von 40 | markus stepanians
der vor allem in der PeS skizzierten reinen Lehre als Häresie, und so glaubte er am Ende seines Lebens genau genommen nur einen Schüler zu haben. Gegenüber Hugo Bergmann äußert er 1911 voller Enttäuschung über seine abtrünnigen Studenten: »Zwanzig Jahre Lehrtätigkeit und es bleibt ein Schüler: Marty!«27
4. Husserls »Aussonderung des Irrigen aus Brentanos Gedankenmotiven« Kurz nach Brentanos Tod schreibt Husserl in seinen Erinnerungen an Franz Brentano: »Zu Anfang sein begeisterter Schüler, hörte ich zwar nie auf, ihn als Lehrer hoch zu verehren, aber es war mir nicht gegeben, Mitglied seiner Schule zu bleiben. Ich wusste aber, wie sehr es ihn erregte, wenn man eigene, obschon von den seinen auslaufende Wege ging. Er konnte dann leicht ungerecht werden und ist es auch mir gegenüber geworden, und das war schmerzlich. […] Er fühlte wohl, daß meine große Verehrung für ihn in diesen Jahrzehnten sich nie vermindert hatte. Im Gegenteil, sie hat sich nur gesteigert. Ich lernte eben im Fortschreiten meiner Entwicklung die Kraft und den Wert der von ihm empfangenen Impulse immer höher einschätzen.«28 Die Phase seiner »begeisterten« Schülerschaft beginnt der 25jährige Husserl im Wintersemester 1884/85 mit der Teilnahme an Brentanos Vorlesungen und Übungen. Sie findet ihren ersten schriftlichen Ausdruck in Husserls Habilitationsschrift Über den Begriff der Zahl. Psychologische Analysen von 1887 und der Monografie Philosophie der Arithmetik. Psychologische und logische Untersuchungen von 1891. Im Laufe der 1890er Jahre löst Husserl sich jedoch zunehmend von Brentanos Einfluss. Das Ergebnis seiner nunmehr eigenständigen philosophischen Überlegungen sind zunächst die Logischen Untersuchungen29 von 1900/1901. Im Vorwort der zweiten Auflage von 1913/1920 bezeichnet Husserl die LU in wissenschaftlicher Hinsicht als ein »Werk des Durchbruchs«, nicht als ein Ende, sondern als einen »Anfang«. Hinsichtlich seines Schülerverhältnisses zu Brentano markieren die LU jedoch zweifellos ein Ende. Spätestens mit dem Erscheinen dieses Werks ist klar, dass Husserl in der Philosophie nunmehr »eigene«, wenn auch von Brentano »auslaufende Wege« geht, Husserls Kritik an Brentano | 41
und dass er die von ihm »empfangenen Impulse« in eine Richtung lenkt, die Brentanos ursprünglichen Absichten zuwiderläuft. So viel scheint klar. Unklar ist jedoch, erstens, worin genau für Husserl »die Kraft und der Wert der von [Brentano] empfangenen Impulse«, für die er seinem Lehrer zeit seines Lebens dankbar ist, bestehen. Welche Grundgedanken Brentanos sind es, die Husserl zunächst zu einem »begeisterten Schüler« werden lassen und die ihm Husserls lebenslange Verehrung sichern? Und zweitens, warum war es Husserl trotz seiner hohen Wertschätzung dieser Grundgedanken »nicht gegeben«, Brentanos Schüler zu bleiben? Worin besteht Husserls Kritik an Brentanos grundlegendem philosophischen Entwurf einer philosophischen Psychologie, die ihn diese Grundgedanken auf neue und andere Weise weiterentwickeln lässt? Ein Teil der Antwort auf diese Fragen findet sich verstreut in den LU, aber nirgends so konzentriert und explizit auf Brentano und seine Schule bezogen wie in einem Text mit dem Titel »Aeußere und innere Wahrnehmung. Physische und psychische Phänomene«, den Husserl den LU als »Beilage« hinzufügt. In ihm referiert Husserl zunächst die »leitenden Gesichtspunkte« der philosophischen Lehren des »hochgeschätzten Denkers«.30 Im Anschluss unterzieht er sie einer eingehenden Kritik, die »das unzweifelhaft Bedeutsame in Brentano’s Gedankenmotiven von dem Irrigen in ihrer Ausgestaltung zu sondern« verspricht.31 Die Beilage markiert eine Zwischenstation in Husserls Schaffen. Die Abfassung seines »Durchbruchs« in Gestalt der LU hinter sich, wirft Husserl in der Beilage einen letzten Blick zurück auf die Lehren, mit denen er philosophisch aufgewachsen ist, bevor er sich in den Folgejahren auf den Weg der Vertiefung und Vollendung seiner eigenen Philosophie macht, an dessen Ende seine »transzendentale Phänomenologie« steht. Allgemein folgt Husserls Umgang mit Brentanos »Gedankenmotiven« mehr oder weniger folgendem Schema: Er nimmt eine Brentano’sche These, erklärt sie für höchst wichtig und bedeutsam, nur um sie dann in einer Weise zu zerlegen, die keinen Stein auf dem anderen lässt. Anschließend setzt er sie neu zusammen, sie dabei allerdings so modifizierend, dass die neue Formulierung mit der ursprünglichen These bestenfalls noch den Grundgedanken gemein hat. Husserls Auseinandersetzung in der V. LU mit der für Brentanos Intentionalitätstheorie zentralen These, dass alle psychischen Phä42 | markus stepanians
nomene »entweder Vorstellungen sind oder […] auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen«, 32 illustriert dieses Schema. Husserl sieht in ihr zunächst eine Einsicht, »die sogar Anspruch auf Apriorität erhebt; der allgemeine Satz, der sie aussagt, ist ein mit Evidenz einleuchtendes Gesetz«.33 Aber nach 27 Seiten Diskussion entpuppt sich diese Evidenz aufgrund einer Vielzahl von Mehrdeutigkeiten als bloß »vermeintliche Evidenz«.34 Und nach weiteren 32 Seiten minutiöser Analysen ersetzt Husserl Brentanos Satz schließlich durch ein neues »Gesetz«, in dem der von Husserl im Laufe dieser fast 60seitigen Diskussion entwickelte Begriff eines objektivierenden Aktes erkennbar die Rolle einnimmt, die Brentano den »Vorstellungen« zugedacht hatte.35 Ein klares Beispiel einer Trennung des Bedeutsamen in Brentanos Gedankenmotiven vom Irrigen seiner Ausgestaltung. Wie wir sehen werden, folgt auch Husserls Auseinandersetzung mit dem zentralen Lehrstück von Brentanos Konzeption einer deskriptiv-empirischen Psychologie in der Beilage im Großen und Ganzen diesem Schema. Es geht Husserl um eine »tief dringende« Kritik der für die Stellung der Psychologie als philosophische Fundamentaldisziplin zentralen Evidenz- und Wahrnehmungstheorie Brentanos. Tatsächlich ist Husserls erklärtes Ziel die vollständige Destruktion von Brentanos »schiefer« und »erkenntnistheoretisch bedeutungsloser« Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung und ihre restlose Ersetzung durch den in Husserls Augen »echten« und »erkenntnistheoretisch fundamentalen« Gegensatz zwischen »inadäquater« und »adäquater« Wahrnehmung. Er hofft, dass als Folge dieser Kritik »der schiefe erkenntnistheoretische … Gegensatz zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung verschwinden« werde, »der dem echten Gegensatz zwischen adäquater und nichtadäquater Wahrnehmung untergeschoben wird«.36 Gleichwohl bescheinigt Husserl dem Kritisierten eine tiefe Einsicht. Sie besteht in der Erkenntnis, dass es tatsächlich »einen wolberechtigten Unterschied zwischen evidenter und nichtevidenter, untrüglicher und trüglicher Wahrnehmung« gibt.37 Aber Brentanos »Ausgestaltung« dieser Einsicht in Gestalt der These, dass diese epistemische Fundamentalunterscheidung mit der zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung zusammenfällt, hält Husserl für konfus und irrig. Brentanos Behauptung eines intrinsischen ZuHusserls Kritik an Brentano | 43
sammenhangs zwischen innerer und evidenter Wahrnehmung, so Husserl, beruhe auf Mehrdeutigkeiten und Missverständnissen der Begriffe Wahrnehmung und Erscheinung.38 Um Husserls Kritik zu verstehen, müssen wir uns jedoch zunächst Brentanos Konzeption einer philosophischen Fundamentalphilosophie vor Augen führen.
II. Brentanos Konzeption der Psychologie als Erfahrungswissenschaft 1. Brentanos zwei empirische Standpunkte: »innere« und »äußere« Erfahrung Wie Brentano im Vorwort der PeS erläutert, handelt es sich bei diesem Werk nur um die ersten zwei von insgesamt sechs geplanten Büchern: »Dieses Buch bespricht die Psychologie als Wissenschaft, das nächste die psychischen Phänomene im Allgemeinen; und ihnen werden der Reihe nach folgen ein Buch, welches die Eigenthümlichkeiten und Gesetze der Vorstellungen, ein anderes, welches die der Urtheile und wieder eines, welches die der Gemüthsbewegungen und des Willens im Besonderen untersucht. Das letzte Buch endlich soll von der Verbindung unseres psychischen mit unserem physischen Organismus handeln, und dort werden wir uns auch mit der Frage beschäftigen, ob ein Fortbestand des psychischen Lebens nach dem Zerfalle des Leibes denkbar sei. – So umfasst der Plan des Werkes die verschiedenen Hauptgebiete der Psychologie sämmtlich.«39 Aber der Plan wird nie verwirklicht. Nicht nur bleibt die Psychologie vom empirischen Standpunkte Fragment, sie ist auch der einzige Versuch Brentanos, seine Philosophie auf systematische Weise in Buchform zu entwickeln. Trotz vieler Meinungsänderungen in wichtigen Detailfragen scheint Brentano jedoch an den hier dargelegten Grundgedanken zeit seines Lebens festgehalten zu haben, so dass er 1911 noch selbst eine Neuausgabe des zweiten Buches der PeS mit dem neuen Titel Von der Klassifikation der psychischen Phänomene besorgt. Die Naturwissenschaften, so Brentano in einer ersten allgemeinen Kennzeichnung in der PeS, handeln von den durch »äußere Erfahrung« gegebenen »Körpern«, während die Psychologie die 44 | markus stepanians
»Eigenthümlichkeiten und Gesetze der Seele kennen lehrt, die wir in uns selbst unmittelbar durch innere Erfahrung finden«.40 Die systematische und methodisch geordnete Erforschung der Seele, so Brentano, habe sich in zwei Schritten zu vollziehen. Zunächst muss der Psychologe die psychischen Phänomene identifizieren, beschreiben und klassifizieren – und zwar exakt so, wie sie sich ihm in der inneren Erfahrung darbieten. Das ist der »deskriptive« Teil der empirischen Psychologie. Erst nach Abschluss dieser deskriptiven und klassifikatorischen Aufgabe soll er in einem zweiten Schritt die Kausalgesetze des Entstehens und Vergehens der so beschriebenen psychischen Phänomene formulieren. In der Identifikation und Formulierung dieser Naturgesetze besteht der »genetische« Teil der Psychologie.41 Der Versuch, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun, so Brentano, sei ein erklärungslogischer Fehler: »Eine weitere Verkehrtheit, die man begeht, ist das Hysteron-Proteron, welches man begeht, indem man die Genesis psychischer Erscheinungen begreifen will, ohne sie an und für sich noch ordentlich betrachtet und beschrieben zu haben; es ist dies wie wenn einer die Physiologie ohne anatomischen Vorstudien betreiben zu können glaubte.«42 Wie Husserl in der Beilage erläutert, bedient Brentano sich mit der Rede von »äußerer« und »innerer« Erfahrung oder Wahrnehmung einer begrifflichen Unterscheidung, die ursprünglich auf Descartes zurückgeht und von Locke terminologisch fixiert wurde: »Die äußere Wahrnehmung ist für Locke unsere Wahrnehmung von Körpern, die innere die Wahrnehmung, die unser ›Geist‹ oder die ›Seele‹ von den eigenen Betätigungen besitzt.«43 Diese zwei Gegenstandsbereiche – die durch äußere Erfahrung gegebenen Körper einerseits und die durch innere Erfahrung gegebenen Seelentätigkeiten andererseits – sind nach Brentano in ontologischer Hinsicht kategorial verschieden. Sobald man »den Blick von außen nach innen wendet«, so Brentano, sehe man sich »in eine neue Welt versetzt. Die Erscheinungen sind völlig heterogen«.44 Was sich »dem Blick nach innen«, also der »inneren Erfahrung« (»Wahrnehmung«) darbietet, so Brentano, sind keine Körper, sondern Seelentätigkeiten im Sinne psychischer Erscheinungen oder Phänomene. Die kategoriale Verschiedenheit der Forschungsgegenstände der Psychologie erzwingt eine Anpassung der für die Erforschung (physischer) Körper konzipierten empirischen Methode. Für KörHusserls Kritik an Brentano | 45
per besteht die korrekte empirische Methode in ihrer aufmerksamen Beobachtung. Aber eben dies, so Brentano, sei bei psychischen Erscheinungen unmöglich. Diese könnten zwar »innerlich wahrgenommen«, aber nicht »beobachtet« werden. Die »innere Wahrnehmung«, so Brentano, »hat das Eigenthümliche, dass sie nie innere Beobachtung werden kann. Gegenstände, die man, wie man zu sagen pflegt, äusserlich wahrnimmt, kann man beobachten; man wendet, um die Erscheinung genau aufzufassen, ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. Bei Gegenständen, die man innerlich wahrnimmt, ist dies aber vollständig unmöglich.«45 Es bleibe zwar richtig, dass Erfahrung Grundlage und Ausgangspunkt aller Wissenschaften ist, aber der präzise Sinn von »Erfahrung« hängt von der Natur der jeweiligen Forschungsgegenstände ab: »Die Naturwissenschaft« lehrt nicht, »dass wir überall […] gleichmäßig vorgehen sollen. Im Gegenteil, sie unterweist uns und übt uns darauf ein, der besonderen Natur der Gegenstände entsprechend unser Verfahren zu ändern.«46 Auch in Brentanos Augen kann demnach von einer exakten Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Psychologie, Philosophie und die Geisteswissenschaften keine Rede sein. Nur »ein Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft«, so Brentano, könne »der Geisteswissenschaft zum Heil gereichen.« 47
2. Die Evidenz der inneren Wahrnehmung Wie für viele andere Philosophen des 19. Jh. bezeichnen die Ausdrücke »innere« und »äußere Erfahrung« oder »innere« und »äußere Wahrnehmung« für Brentano in erster Linie zwei Quellen möglicher Erkenntnis. Die innere Wahrnehmung ist die primäre Quelle unseres Wissens über die eigenen psychischen Vorgänge und Zustände: »Was eine Vorstellung, was ein Urtheil, was Freude und Leid, Begierde und Abneigung, Hoffnung und Furcht, Muth und Verzagen, was ein Entschluss und eine Absicht des Willens sei, davon würden wir niemals eine Kenntniss gewinnen, wenn nicht die innere Wahrnehmung in den eignen Phänomenen es uns vorführte«48 Alle anderen, nicht-psychischen Gegenstände sind uns durch die komplementäre äußere Wahrnehmung gegeben. 46 | markus stepanians
Die Erkenntnisquellen der äußeren und inneren Wahrnehmung haben jedoch nicht den gleichen wissenschaftlichen Wert. Für Brentano könnte die Asymmetrie krasser nicht sein: Die äußere Wahrnehmung trügt immer, die innere nie.49 Brentano schreibt den Urteilen der inneren Wahrnehmung eine epistemische Unmittelbarkeit, Wahrheit und Gewissheit – kurz: eine »Evidenz« – zu, die den täuschenden, immer falschen Urteilen der äußeren, nicht auf die eigene Psyche gerichteten Wahrnehmung grundsätzlich abgeht: Von »den Gegenständen, der s. g. äussern Wahrnehmung haben wir kein Recht zu glauben, dass sie so, wie sie uns erscheinen, auch in Wahrheit bestehen. Ja, sie bestehen nachweisbar nicht ausser uns.« Folglich sei die »innere Wahrnehmung … nicht bloss die einzige unmittelbar evidente; sie ist eigentlich die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes«.50 Die äußere Wahrnehmung, so Brentano in Anspielung auf die erste Silbe des Wortes »Wahrnehmung«, sei nur eine »so genannte« Wahrnehmung, die genau genommen eine Falschnehmung ist. Mit der These von der Evidenz der inneren Wahrnehmung greift Brentano eine Meditation von Descartes auf, die Husserl in der Beilage so referiert: »Wie weit immer ich den erkenntniskritischen Zweifel ausdehnen mag, daran, daß ich bin und zweifle, und wieder, daß ich vorstelle, urtheile, fühle, oder wie sonst die innerlich wahrgenommenen Erscheinungen heißen mögen – daran kann ich, während ich sie eben erlebe, nicht zweifeln; ein Zweifel in solchem Falle wäre evident widervernünftig. Also vom Bestande der Gegenstände der inneren Wahrnehmung haben wir ›Evidenz‹, jene klarste Erkenntnis, jene unanfechtbare Gewißheit, welche das Wissen im strengsten Sinne auszeichnet.«51 Mit anderen, nämlich Brentanos, Worten: Die Phänomene der inneren Wahrnehmung »sind wahr in sich selbst. Wie sie erscheinen – dafür bürgt die Evidenz, mit der sie wahrgenommen werden – so sind sie auch in Wirklichkeit. Wer könnte also leugnen, daß hierin ein großer Vorzug der Psychologie vor der Naturwissenschaft zutage trete?«52 Allein die Psychologie liefert evidentes Wissen. Aufgrund dieses epistemischen Vorzugs bildet sie die Grundlage und den Ausgangspunkt einer systematisch aufgebauten Philosophie.
Husserls Kritik an Brentano | 47
3. Brentanos Idee »einer Psychologie ohne Seele« Die Evidenz, die Brentano den Urteilen der inneren Erfahrung zuschreibt, erhebt die so konzipierte empirische Psychologie in den Rang einer »philosophischen Fundamentaldisciplin«.53 Brentanos empirische Psychologie soll aber auch in dem Sinne fundamental sein, dass die von ihr verwendeten Begriffe und Unterscheidungen von keinerlei zweifelhaften Voraussetzungen, Annahmen oder Prämissen Gebrauch machen. Genau hier, so Husserl in seinem Referat in der Beilage, stellt sich für Brentano jedoch mit Blick auf die zentrale Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung ein ernstes Problem. Denn die traditionelle, auf Locke zurückgehende Erklärung dieses Unterschieds beruht auf starken ontologischen Vorannahmen. Locke, so Husserl in seinem Brentano-Referat, differenziert diese zwei Wahrnehmungstypen anhand ihrer Gegenstände. Hier noch einmal das Zitat: »Die äußere Wahrnehmung ist für Locke unsere Wahrnehmung von Körpern, die innere die Wahrnehmung, die unser ›Geist‹ oder die ›Seele‹ von den eigenen Betätigungen besitzt.«54 Äußere Wahrnehmungen sind durch »Körper« verursacht, innere Wahrnehmungen durch die »Reflexionen« unseres Geistes. Wenn jedoch eine Wahrnehmung genau dann eine »äußere« ist, wenn sie durch »Körper« erzeugt wird, und eine »innere«, wenn sie durch Aktivitäten eines Geistes oder einer Seele angeregt werden, dann hängt die Existenz beider Wahrnehmungsarten, so Husserls Darstellung, von der Existenz von Körpern und mindestens einer Seele ab. Eine Psychologie, die mit dem Anspruch einer philosophischen Fundamentaldisziplin auftritt, muss solche ontologischen und metaphysischen Festlegungen vermeiden. Weder, so Brentano, dürfe die Naturwissenschaft »als die Wissenschaft von den Körpern, noch die Psychologie als die Wissenschaft von der Seele bestimmt werden, sondern jene wird bloss als die Wissenschaft von den physischen und diese, in ähnlicher Weise, als die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen zu fassen sein. Eine Seele gibt es nicht, wenigstens nicht für uns; eine Psychologie kann und soll es nichtsdestoweniger geben; aber um den paradoxen Ausdruck von Albert Lange zu gebrauchen – eine Psychologie ohne Seele.«55 48 | markus stepanians
Brentano, so Husserl, sehe sich aus diesen Gründen zu einer »Modification und Vertiefung der sichtlichen rohen und vagen Bestimmung Lockes«56 genötigt. Brentano versuche die erforderliche ontologische Enthaltsamkeit durch eine Explikation der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung zu erreichen, deren Explanans nicht auf die jeweiligen Gegenstände, sondern auf rein deskriptive Merkmale der jeweiligen Wahrnehmungsakte rekurriert. Denn von der Existenz dieser psychischen Erlebnisse wissen wir aufgrund innerer Erfahrung mit unmittelbarer, also auf keinerlei zweifelhaften Voraussetzungen, Festlegungen oder Annahmen beruhenden Evidenz: »Denn mag es eine Seele geben oder nicht, die psychischen Erscheinungen sind ja jedenfalls vorhanden.«57 Zu den psychischen Erscheinungen, von denen wir Evidenz haben, gehören auch innere und äußere Wahrnehmungen. Wir können nun (so Brentano) durch bloße Reflexion auf sie die Begriffe innere und äußere Wahrnehmung durch Merkmale definieren, die von keinerlei metaphysischen oder ontologischen Vorannahmen Gebrauch machen. In einem zweiten Schritt können dann die in den jeweiligen Wahrnehmungen sich darbietenden psychischen bzw. physischen Phänomene – erneut ohne implizite ontologische oder metaphysische Festlegung auf zweifelhafte »transcendente Realitäten« – als dasjenige eingeführt werden, was in ihnen »erscheint«. In einem dritten Schritt erhalten wir schließlich den gewünschten Begriff einer »Psychologie ohne Seele«, indem wir die Psychologie als die Wissenschaft von den so verstandenen psychischen Phänomenen definieren. Beginnen wir mit dem ersten Schritt. Was also sind die allein an den jeweiligen Akten erkennbaren Merkmale äußerer und innerer Wahrnehmungen? Das erste deskriptive Unterscheidungsmerkmal, das sich Brentano bei der Betrachtung paradigmatischer Exemplare der jeweiligen Wahrnehmungstypen aufdrängt, ist der schon erwähnte höhere Erkenntniswert der inneren Wahrnehmungen im Gegensatz zur angeblichen Trüglichkeit und Unsicherheit äußerer Wahrnehmungen. Der »Charakter der Evidenz« der inneren Wahrnehmung, so Husserl in seiner Beschreibung von Brentanos Überlegung, ist ein »descriptives Merkmal, welches die einen und anderen Wahrnehmungen unterscheidet und aller Voraussetzungen über metaphysische Realitäten ledig ist. Es ist ein Charakter, der Husserls Kritik an Brentano | 49
mit dem Wahrnehmungserlebnis selbst gegeben ist, bzw. fehlt, und dies allein bestimmt die Scheidung.«58 Wie wir oben sahen, sind alle Urteile der inneren Wahrnehmung und nur sie evident. Evidenz ist demnach ein notwendiges und hinreichendes Merkmal des Begriffs der inneren Wahrnehmung. Der Komplementärbegriff der äußeren Wahrnehmung ist dann durch die entsprechenden Komplementärbegriffe der Nicht-Evidenz im Sinne der Trüglichkeit definierbar. Ein zweites sich nach Brentano bei aufmerksamer Betrachtung der inneren und äußeren Wahrnehmung aufdrängendes Unterscheidungsmerkmal betrifft die sich in ihnen jeweils darbietenden Phänomene. Alle Phänomene der inneren Wahrnehmung, die als solche in innerer Wahrnehmung präreflexiv bewusst sind, zerfallen für Brentano in drei Klassen: Urteile, Vorstellungen und Akte des Liebens und Hassens. Alle Exemplare dieser drei Grundgattungen, stellt Brentano in einer berühmt-berüchtigten Passage fest, sind ihrem inneren Aufbau nach auf charakteristische Weise komplex. Sie bilden eine »gewisse Zweiheit in der Einheit«,59 nämlich ein mereologisches Ganzes, das auf besondere Weise einen anderen Gegenstand als buchstäblichen Bestandteil seiner selbst enthält: »Jedes [psychische Phänomen] enthält etwas als Object in sich […]. […] Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschliesslich eigenthümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Aehnliches. Und somit können wir die psychischen Phänomene definiren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten.«60 Husserl fasst Brentanos Überlegung wie folgt zusammen: »[R]ein descriptiv betrachtet, unter Absehen von aller Transcendenz, ist zwischen den Phänomenen ein unüberbrückbarer Unterschied zu constatiren. Auf der einen Seite finden wir die Sinnesqualitäten [wie z. B. Farbe, Schall, Wärme und Geschmack], die für sich schon eine descriptiv geschlossene Einheit bilden, möge es nun so etwas wie Sinne und Sinnesorgane geben oder nicht […] Auf der anderen Seite finden wir Phänomene wie Vorstellen, Urtheilen, Vermuthen, Wünschen, Hoffen u.s.w. Wir treten hier sozusagen in eine andere Welt. […] Hat man sich zunächst an Beispielen die descriptive Einheit dieser Klasse zur Klarheit gebracht, so findet sich bei einiger Achtsamkeit auch ein positives Merkmal, welches sie kennzeichnet; nämlich das Merkmal der ›intentionalen Inexistenz‹.«61 Demnach 50 | markus stepanians
ist die Intentionalität der sich in ihnen darbietenden Phänomene das zweite Kennzeichen innerer Wahrnehmungen im Gegensatz zu äußeren Wahrnehmungen. Die innere Wahrnehmung, so können wir nun mit Brentano zusammenfassend sagen, ist die wesentlich evidente Wahrnehmung intentionaler Phänomene, während äußere Wahrnehmung in der wesentlich nicht-evidenten Wahrnehmung nicht-intentionaler Phänomene besteht. Diese aktimmanenten deskriptiven Bestimmungen erlauben es Brentano, Lockes Erklärung von ihren ontologischen Festlegungen zu befreien. Anstatt den Begriff der inneren (bzw. äußeren) Wahrnehmung im Rückgriff auf den Begriff einer Seele (bzw. eines Körpers) zu definieren, expliziert Brentano die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Wahrnehmungen im Rekurs auf die in ihnen jeweils erscheinenden Gegenstände. Mit diesem Versuch einer Klärung des Unterschieds zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung auf der Grundlage rein aktimmanenter Merkmale, so Husserls Fazit mit Blick auf Brentanos Absichten, »erscheint das Ziel einer metaphysisch unverbindlichen, nicht durch die vermeintlichen Gegebenheiten der transcendenten Welt, sondern durch die wahrhaften Gegebenheiten der Erscheinung orientirten Definition für Psychologie und Naturwissenschaften erreicht«.62
III. Husserls Brentano-Kritik 1. Das philosophisch Bedeutsame an Brentanos Ideen Worin besteht in den Augen des Autors der LU das philosophisch Richtige und Bedeutsame in Brentanos Konzeption? Von großer Bedeutung für den jungen Husserl ist zweifellos Brentanos Idee einer erkenntnistheoretischen Fundamentaldisziplin in Gestalt »einer rein descriptiven Phänomenologie der Denk- und Erkenntniserlebnisse«.63 Der Autor der LU von 1901 meint mit »Phänomenologie«, was Brentano in der PeS als »empirische« und später (in seinen Wiener Vorlesungen) als »deskriptive Psychologie« bezeichnet.64 Husserl ist mit Brentano ferner einig, dass diese Disziplin »rein« deskriptiv ist, insofern sie nicht auf eine Kausalerklärung, sondern zunächst nur Husserls Kritik an Brentano | 51
auf eine Analyse der eigenen psychischen Erlebnisse zielt. Es gehe um eine »descriptive Analyse der Erlebnisse nach ihrem reellen Bestande, in keiner Weise aber auf ihre genetische Analyse nach ihrem causalen Zusammenhange«.65 Ein weiterer Grundgedanke Brentanos, den sich der Autor der LU zu eigen macht, ist der einer von einem »Princip der Voraussetzungslosigkeit« geprägten philosophischen Fundamentaldisziplin. Auch Husserl betont das methodische Absehen von »metaphysischen Präsumptionen«, deren Berechtigung erst in einer vollendeten Phänomenologie geprüft werden könne: »Mit der Forderung einer ›Psychologie ohne Seele‹, d. i. einer Psychologie, die von allen metaphysischen Präsumptionen betreffs der Seele absieht – und von ihnen absieht, da sie doch erst in der vollendeten Wissenschaft zu Einsichten werden könnten – correspondirt die Forderung einer ›Naturwissenschaft ohne Körper‹, d. h. einer Naturwissenschaft, die alle Theorien über die metaphysische Natur des Physischen vorerst ablehnt.«66 Als erkenntnistheoretische Fundamentaldisziplin ist Husserls Phänomenologie ebenso wie Brentanos empirische Psychologie von einer »metaphysischen, physischen und psychologischen Voraussetzungslosigkeit« geprägt. Husserl bezeichnet diese Forderung als das »Princip der Voraussetzungslosigkeit«. Es besteht im »Ausschluß aller Annahmen, die nicht phänomenologisch voll und ganz realisirt werden können. Jede erkenntnistheoretische Untersuchung muß sich auf rein phänomenologischem Grunde […] gegebener Denk- und Erkenntniserlebnisse vollziehen«.67 Eine dritte Idee Brentanos, die für Husserl richtig und wichtig ist, ist die der »evidenten Gegebenheit« psychischer Gegenstände. Die von Husserl im letzten Zitat des vorigen Absatzes betonte reine »Gegebenheit« der zu untersuchenden Denk- und Erkenntniserlebnisse liegt nur vor, wenn sie als Teile des Erlebnisstroms, der das psychische Ich ausmacht,68 aktuell präsent und in diesem (engen) Sinne bewusst und »gegeben« sind. Auch von der Idee einer »reinen Erlebnisgegebenheit«, dem damit eng zusammenhängenden Evidenzbegriff und der tragenden Rolle dieser Begriffe in der Erkenntnis- und Wahrheitstheorie dürfte Husserl wohl zuerst in Brentanos Wiener Vorlesungen gehört haben. Es spricht einiges dafür, dass Husserl Brentanos Wahrnehmungs- und Evidenztheorie mit ihrer Grundunterscheidung zwischen einer angeblich unfehlbaren, 52 | markus stepanians
unmittelbar evidenten »inneren« Wahrnehmung und einer immer trügerischen, nie evidenten »äußeren« Wahrnehmung nie viel abgewinnen konnte. Aber auch hier versucht Husserl das »zweifellos Bedeutsame« vom »Irrigen in der Ausgestaltung« zu trennen. Das Ergebnis dieser Trennung ist die Ersetzung von Brentanos »erkenntnistheoretisch bedeutungslosem Gegensatz von innerer und äußerer Wahrnehmung« durch den »erkenntnistheoretisch fundamentalen […] Gegensatz zwischen adäquater Wahrnehmung […] und der bloß vermeintlichen, inadäquaten Wahrnehmung.«69 Die Bedeutung dieser Unterscheidung sowohl für Husserls Evidenzund Wahrheitstheorie in den LU als auch für Husserls weitere Entwicklung seiner philosophischen Methode (Stichwort »phänomenologische Reduktion«) kann meines Erachtens nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schon bald nach Drucklegung der LU wird Husserl darauf bestehen, dass das Ideal »reiner Erlebnisgegebenheit« durch ein bloß abstrahierendes Absehen und Verzichten grundsätzlich nicht erreichbar sei, solange wir in der »natürlichen«, erfahrungswissenschaftlich orientierten Einstellung verharren. Dazu bedürfe es vielmehr eines radikalen Wechsels der Einstellung von der natürlichen in die phänomenologische Einstellung. Erst dieser Schritt hebe alle »transzendenten Setzungen« auf: »[A]lle in der natürlichen und erfahrungswissenschaftlichen Einstellung erfaßten psychischen Phänomene [sind] transzendent apperzipiert. Reine Erlebnisgegebenheit setzt die rein phänomenologische Einstellung voraus, die alle transzendenten Setzungen inhibiert.«70
2. Husserls Kritik von Brentanos Evidenz- und Wahrnehmungstheorie Im Zentrum von Brentanos Überlegungen steht der Begriff der Evidenz, d. h. »jener klarsten Erkenntnis, jener unanfechtbaren Gewißheit, welche das Wissen im strengsten Sinne auszeichnet«.71 Aber nach Brentano weist allein die innere, psychische Phänomene enthaltende Wahrnehmung diese Qualität auf. Äußere Wahrnehmungen sind, wie wir sahen, fallibel und trügerisch. Dieser epistemischen Qualität der Infallibilität verdankt die innere Wahrnehmung in Brentanos Augen ihren ungleich höheren Erkenntniswert gegenHusserls Kritik an Brentano | 53
über der äußeren Wahrnehmung. Weil die innere Wahrnehmung die Erkenntnisquelle der Psychologie ist, nimmt die Psychologie im Gefüge der Wissenschaften für Brentano eine Sonderstellung ein. Nach Brentano gilt also: (B1) Eine Wahrnehmung ist genau dann eine innere, wenn sie evident ist.
Die Komplementärthese lautet: (B2) Eine Wahrnehmung ist genau dann eine äußere, wenn sie nicht-evident ist.
Auf dieser epistemischen Asymmetrie beruht Brentanos These vom ungleich höheren Erkenntniswert der inneren Wahrnehmung. Husserl hält sie für falsch. In seinen Augen ist der Unterschied zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung erkenntnistheoretisch irrelevant. Denn beiden Wahrnehmungstypen komme, so wie sie gewöhnlich auch von Brentano verstanden werden, exakt derselbe – prinzipiell trügerische! – Erkenntniswert zu. Contra Brentano, schreibt Husserl, »will es mir scheinen, daß innere und äußere Wahrnehmung, wofern man diese Termini naturgemäß versteht, von ganz gleichem erkenntnistheoretischen Charakter sind«.72 Mit dem »naturgemäßen« Verständnis von Wahrnehmung meint Husserl das Alltagsverständnis von äußerer und innerer Wahrnehmung, wonach die »äußere« Wahrnehmung auf »physische Dinge, Eigenschaften und Vorgänge« wie z. B. Häuser, Berge und Bäume zielt und unter den Komplementärbegriff der »inneren« Wahrnehmung »alle übrigen Wahrnehmungen« fallen.73 Legt man jedoch den natürlichen Begriff von innerer Wahrnehmung zugrunde, so Husserls Kritik, dann haben die Begriffe innere Wahrnehmung und evidente Wahrnehmung nicht denselben Umfang. Nach Husserl gilt dann vielmehr: (H1) Es gibt Fälle innerer, aber nicht-evidenter Wahrnehmung von Psychischem.
(H1) illustrierende Beispiele, so Husserl, bietet »jede Wahrnehmung des Ich, oder jede auf das Ich bezogene Wahrnehmung eines psychischen Zustands«.74 Dies sei besonders klar bei psychischen Zuständen, die wir als »leiblich localisirt« wahrnehmen. Ein Zahnschmerz 54 | markus stepanians
erscheint uns als ein Schmerz im Zahn, ein Kummer als im Herzen und eine Angst als in der Kehle lokalisiert. Zwischen der inneren Wahrnehmung körperlich lokalisierbarer psychischer Phänomene wie Zahnschmerzen und Angstzuständen und der äußeren Wahrnehmung physischer Phänomene z. B. von Windbewegungen in Baumkronen oder quadratischen braunen Schachteln, so Husserl, sei kein epistemisch signifikanter Unterschied feststellbar: »Dass die Angst mir die Kehle zuschnürt, dass der Schmerz im Zahne bohrt, dass der Kummer im Herzen nagt, das nehme ich genau in dem Sinne war, wie daß der Wind die Bäume schüttelt, dass diese Schachtel quadratisch und braun gefärbt ist u. dergl.«75 Die innere Wahrnehmung eines körperlich lokalisierten psychischen Phänomens (z. B. eines Zahnschmerzes), so Husserl, ist ebenso trügerisch wie die äußere Wahrnehmung eines dreidimensionalen Gegenstandes (z. B. einer quadratischen Schachtel). Entscheidend ist hier, »dass die wahrgenommenen psychischen Phänomene, so wie sie wahrgenommen sind, nicht existieren«.76 Es gibt keine Angst, die mir buchstäblich die Kehle zuschnürt, keinen Schmerz, der im wörtlichen Sinne im Zahn bohrt, keinen Kummer, der seinen raumzeitlichen Ort im Herzmuskel hat. Das wird besonders deutlich an dem (schon von Descartes beobachteten) Phänomen der »Phantomschmerzen«, d. h. von Schmerzen in amputierten Gliedmaßen. Wer z. B. unter Phantomschmerzen in einem amputierten rechten Arm leidet, irrt sich zwar nicht hinsichtlich der Existenz des Schmerzes. Der Schmerz existiert, aber er existiert nicht so, wie er sich dem Subjekt in der inneren Wahrnehmung präsentiert, nämlich als Schmerz-imrechten-Arm, denn es gibt in diesem Fall keinen rechten Arm. Es gibt also eine Vielzahl innerer Wahrnehmungen, die nichtevident und trügerisch sind. Aber wie steht es um die Wahrheit der Komplementärthese? Gibt es nach Husserl auch Fälle äußerer Wahrnehmung, die evident sind? Nein, jedenfalls nicht, wenn man den Terminus »äußere Wahrnehmung« in seinem »eigentlichen«, d. h. in seinem alltäglichen Sinne versteht. Husserl schreibt: »Die äußere Wahrnehmung ist nicht evident und sogar trügerisch. – Die ist zweifellos, wenn wir unter den ›physischen Phänomenen‹, welche sie wahrnimmt, die physischen Dinge, bzw. ihre Eigenschaften, Veränderungen usw. verstehen«.77 Wie wir gleich sehen werden, versteht Brentano den Ausdruck »Wahrnehmung« in These (B2) Husserls Kritik an Brentano | 55
jedoch nach Husserl in einem »uneigentlichen« Sinn, der (B2) falsifiziert. In diesem vom »eigentlichen und allein zulässigen« Verständnis abweichenden Sinne, so Husserl, gebe es sehr wohl Fälle evidenter, nicht-trügerischer Wahrnehmungen »physischer« Gegenstände. In Brentanos Verständnis von »Wahrnehmung« gebe es »evidente Wahrnehmungen ›physischer‹ Inhalte, genau wie solche ›psychischer‹«78. Mit anderen Worten: Brentano, so Husserls zweiter Vorwurf, ist inkonsequent, wenn er in (B2) die Möglichkeit »äußerer«, aber gleichwohl evidenter Wahrnehmungen – in seinem technischen Verständnis dieses Terminus – bestreitet. Gegeben sein Verständnis von »äußerer Wahrnehmung«, müsste Brentano (R) zustimmen: (R) Es gibt Fälle äußerer, aber evidenter Wahrnehmung von Physischem.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: (R) ist keine These, die Husserl für wahr hält und sich zu eigen macht. Vielmehr ist sie in Husserls Augen eine – absurde! – Konsequenz aus Brentanos irreführendem Verständnis von »Wahrnehmung«. Aus der Falschheit von (R) folgt aus Husserls Sicht einmal mehr die Unhaltbarkeit des Brentano’schen Verständnisses von Evidenz. Betrachten wir Husserls Ableitung von (R) aus Brentanos Prämissen. Eine dieser Prämissen resultiert aus Brentanos uneigentlichem Verständnis von »äußerer« Wahrnehmung. Es ist nach Husserl so weit, dass nicht nur die »normalen« physischen Gegenstände, wie z. B. Häuser, Berge und Bäume und deren Eigenschaften darunter fallen, sondern überdies Bestandteile des Wahrnehmungsaktes selbst. Genauer: Husserl wirft Brentano vor, mit seinem uneigentlichen Verständnis von »äußerer Wahrnehmung« in der Wahrnehmungsund Evidenztheorie das »Grundgebrechen der Locke’schen und der englischen Erkenntnistheorie überhaupt«79 zu perpetuieren, nämlich die Nicht-Unterscheidung zwischen »Erscheinung« im Sinne des Wahrnehmungserlebnisses und »Erscheinung« im Sinne des erscheinenden Wahrnehmungsgegenstandes: »Es ist das fundamentale Gebrechen der phänomenalistischen Theorien, daß sie zwischen der Erscheinung, als intentionalem Erlebnis, und dem erscheinenden Gegenstand (dem Subject der objectiven Prädicate) nicht unterscheiden und daher die erlebte Empfindungscomplexion mit 56 | markus stepanians
der Complexion gegenständlicher Merkmale identificiren.«80 Auch Brentano, so Husserl, »verwechselt […] unter dem Titel physisches Phänomen die empfundenen Inhalte und die erscheinenden äußeren Gegenstände, bezw. ihre phänomenalen Beschaffenheiten«.81 Diese Mehrdeutigkeit von »physisches Phänomen« infiziert auch den Wahrnehmungsbegriff, denn »wahrgenommen« heißt nun das, »was in der Wahrnehmung ›erscheint‹, also ihr Gegenstand (das Haus), und abermals der in ihr erlebte Empfindungsinhalt, d. i. der Inbegriff der präsentirenden Inhalte, die in ihrer Complexion als das Haus und einzeln als dessen Eigenschaften ›aufgefaßt‹ werden«.82 Eine unmittelbare Konsequenz von Brentanos verfehlter (und konfuser) Identifikation des eigentlichen mit dem uneigentlichen Wahrnehmungsgegenstand – also z. B. des Hauses mit dem erlebten, zum Wahrnehmungsakt gehörigen Inbegriff der inhaltlichen Präsentationen des Hauses, d. h. der »Empfindungscomplexion« – ist, dass es sich nun auch bei solchen Wahrnehmungen aktimmanenter präsentierender Inhalte (alias Empfindungskomplexionen) aus Brentanos Sicht um Wahrnehmungen physischer Phänomene und damit um äußere Wahrnehmungen handelt. Als solche ist ihre Existenz – siehe (B2) – nach Brentano nicht evident und ebenso täuschend wie das Dasein von Häusern, Bergen und Wäldern. Erinnern wir uns: Von »den Gegenständen, der s. g. äussern Wahrnehmung haben wir kein Recht zu glauben, dass sie so, wie sie uns erscheinen, auch in Wahrheit bestehen. Ja, sie bestehen nachweisbar nicht ausser uns«.83 Hier ist Husserls Version dieser Überlegung: »Indem nun Brentano diesen eigentlichen und allein zulässigen Sinn des Wortes wahrgenommen mit dem uneigentlichen vertauscht, der statt auf die äußeren Gegenstände, vielmehr auf die der Wahrnehmung reell angehörigen, präsentirenden Inhalte bezogen ist; und indem er, hierin consequent, nicht nur jene äußeren Gegenstände, sondern auch diese Inhalte als ›physische Phänomene‹ bezeichnet: erscheinen nun auch diese letzteren durch die Trüglichkeit der äußeren Wahrnehmung betroffen«.84 Natürlich will Husserl nicht bestreiten, dass uns manchmal so ist, als nähmen wir ein Haus, einen Berg oder einen Wald wahr, wo kein Haus, Berg oder Wald ist. Aber die aus Brentanos Wahrnehmungs- und Evidenztheorie folgende Konsequenz, dass wir uns in solchen Fällen auch über die Existenz der präsentierenden Inhalte Husserls Kritik an Brentano | 57
der trügerischen Wahrnehmungsakte täuschen, hält er (zu Recht) für falsch. Über sie täuschen wir uns in solchen Fällen schon deshalb nicht, weil der Begriff der Täuschung den eines Fehlurteils impliziert. Die präsentierenden Inhalte aber sind schon deshalb nicht Gegenstand eines falschen Wahrnehmungsurteils, weil sie nicht beurteilt sind: »Ist ein äußerer Gegenstand wahrgenommen (das Haus), so sind in dieser Wahrnehmung die präsentirenden Empfindungen erlebt, aber nicht wahrgenommen. Indem wir uns über die Existenz des Hauses täuschen, täuschen wir uns über die Existenz des erlebten sinnlichen Inhalts schon darum nicht, weil wir über ihn garnicht urtheilen, weil wir ihn in dieser Wahrnehmung nicht wahrnehmen.«85 Allerdings – und damit beschließt Husserl seine Herleitung von (R) – können wir, wenn wir wollen, die präsentierenden Inhalte unserer Wahrnehmungsakte in einer nachträglichen Reflexion selbst zu intentionalen Gegenständen einer neuen Wahrnehmung machen. Tun wir dies, »und nehmen wir sie [viz. die präsentierenden Inhalte] einfach als das, was sie sind, dann nehmen wir sie allerdings wahr, aber nun nicht durch sie den äußeren Gegenstand.« Der präsentierende Inhalt meiner früheren (vermeintlichen) Hauswahrnehmung, d. h. die Empfindungskomplexion ist jetzt, sofern ich sie nicht mehr als Repräsentation eines Hauses interpretiere, sondern sie uninterpretiert »einfach als das nehme, was sie ist«, der intentionale Gegenstand einer neuen Wahrnehmung. Auch diese neue Wahrnehmung ist in Brentanos Verständnis eine Wahrnehmung eines »physischen« Gegenstands und somit eine »äußere« Wahrnehmung. Dennoch hat diese neue »äußere« Wahrnehmung nach Husserl »genau denselben Anspruch auf Untrüglichkeit und Evidenz, wie nur irgendwelche ›innere‹ Wahrnehmung. Was ist und so gemeint ist, wie es ist, das zu bezweifeln wäre evident unvernünftig. Ich mag zweifeln, ob irgendwie ein äußerer Gegenstand existirt, ob also irgendeine auf solche Gegenstände bezügliche Wahrnehmung richtig sei: aber an dem jeweilig erlebten sinnlichen Gehalt der Wahrnehmung kann ich nicht zweifeln – natürlich wo immer ich auf ihn ›reflectire‹ und ihn einfach anschaue, als was er ist.«86 Damit glaubt Husserl (R) erwiesen zu haben. Das Ergebnis ist eine Reductio für Brentanos Wahrnehmungs- und Evidenztheorie. Eine konsequente Anwendung von Brentanos Begriffen führt Hus58 | markus stepanians
serl zu einem Fazit, das mit (B1) und (B2) ist unverträglich ist: »Es giebt also evidente Wahrnehmungen ›physischer‹ Inhalte, genau wie solche ›psychischer‹.«87
3. »Adäquate«, statt »innere« Wahrnehmung Wie oben schon betont, zielt Brentano hier aus Husserls Sicht auf eine erkenntnistheoretisch höchst bedeutsame Unterscheidung – allerdings ohne sie zu treffen. Brentano meint Richtiges, aber er scheitert bei dem Versuch, den erkenntnistheoretisch relevanten Evidenzbegriff korrekt zu artikulieren. In Husserls Diskussion klang die richtige, sachgemäße Unterscheidung schon an. Es ist die »zwischen adäquater Wahrnehmung […], deren wahrnehmende Intention ausschließlich auf ihre präsenten Inhalte gerichtet ist, und der bloß vermeintlichen, inadäquaten Wahrnehmung, deren Intention im präsenten Inhalt eine nur partielle, analogische, unvollkommene Erfüllung findet und durch ihn über das Gegebene hinausweist. Im ersten Fall ist der empfundene Inhalt zugleich der Gegenstand der Wahrnehmung. Der Inhalt bedeutet nichts Anderes, es sei denn sich selbst. Im zweiten Fall treten Inhalt und Gegenstand auseinander. Der Inhalt repräsentirt, was in ihm selbst nicht oder nicht ganz liegt, was ihm aber ganz oder theilweise analog ist. In dieser Scheidung liegt das Wesen der erkenntnistheoretischen Differenz, die man [lies: Brentano] zwischen der inneren und äußeren Wahrnehmung gesucht hat.«88 Ob die Unterscheidung zwischen adäquater und inadäquater Wahrnehmung für die Aufklärung des Evidenzbegriffs tatsächlich bessere Dienste leistet als Brentanos Unterscheidung, können wir hier nicht klären. Dazu müssten wir fragen, was es genau heißen soll, dass eine adäquate Wahrnehmung »ausschließlich auf ihre präsenten Inhalte gerichtet ist«, dass in ihr der »empfundene Inhalt zugleich der Gegenstand der Wahrnehmung« ist und »nichts Anderes bedeutet, es sei denn sich selbst«. Die Beantwortung dieser Fragen hat Husserl nie zur Ruhe kommen lassen. Husserl beginnt sein Klärungswerk in der VI. LU. Er setzt es fort in der Idee der Phänomenologie von 1907, greift es erneut auf in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie von 1913 – und so weiter in fast allen Werken Husserls.89 Seine Husserls Kritik an Brentano | 59
unablässige Beschäftigung mit dieser Problematik erklärt sich aus der fundamentalen Stellung der Begriffe der Wahrheit, der Evidenz und der Gewissheit für jede Theorie menschlichen Denkens und Erkennens. Die einschüchternde Komplexität der resultierenden Analysen verdeutlichen aber auch die enormen Schwierigkeiten der begrifflichen Durchdringung dieser Problematik. Insofern sollte es vielleicht nicht überraschen, dass die einschlägigen Passagen zum Schwierigsten gehören, das Husserls an Herausforderungen ohnehin nicht armes Werk zu bieten hat. Man betritt hier gewissermaßen die phänomenologische Vorhölle. Ich hoffe plausibel gemacht zu haben, dass Brentano auch hier für Husserl den Vergil gibt.90
Anmerkungen
Für diesen Abschnitt habe ich vor allem von den biografischen Angaben zu Brentano in Werle 1989, Kraus 1919 und Smith 1994 profitiert. 2 Fortan: PeS. 3 Bezüglich seiner Frequenz herrscht allerdings unter Brentanos Biografen keine Einmütigkeit: »Year after year« heißt es bei Smith (1994, 18), »fast alljährlich« bis einschließlich 1894 sagt Kraus (1916, 7), und nach Werle (1989, 169) wurde Brentano 1884, 1885, 1890 und 1893 nominiert. 4 Brentano 1895b, 15. 5 Ehn & Strouhal 2012, 63. Es handelt sich um den heute als »BrentanoVariante« bekannten Vorschlag, 1. e4 e5; 2. Sf3 Sc6; 3. Lb5 mit … g5?! zu beantworten. Brentanos Studie erschien in der Wiener Schachzeitung in drei Teilen in den Jahren 1900, 1901 und 1903. 6 Brentano 1895b, 10 f. 7 Werle 1989, 37. 8 »Empirismus in Verbindung mit [Comtes] Positivismus (und bald mit Evolutionismus) beherrschte das Denken Europas für einige Generationen. Diese Lehren, die von einfachen Annahmen ausgingen und mit klaren Tatsachen operierten, waren leicht zu akzeptieren. Gewiss, einige professionelle Philosophen waren anderer Meinung, aber in den breiteren Intellektuellenkreisen vertraute man ihnen völlig, und fast jede aufgeklärte Person in der zweiten Hälfte es 19. Jahrhunderts war ein ›Positivist‹« (Tatarkiewicz 1973, 42). 9 Brentano 1895a, 10; 1895b, 10. – Dass Brentano im Gespräch mit ihm Fichte, Schelling und Hegel als »Schwindler« bezeichnet habe, berichtet (völlig glaubwürdig) Freud. Vgl. Gasser 1997, 17. 10 Windelband 1892, 419. 11 Loc. cit. 1
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Loc. cit. 419 f. Vgl. hierzu ausführlich: Werle 1989, 25 ff. 14 Wobei Husserl gegen Brentano und andere Befürworter dieses »Grundgedankens der deutschen Philosophie« schon bald einwenden wird, dass dieses »nur« auf einer fatalen Mehrdeutigkeit von »Erscheinung« beruht, und durch ein »nicht nur« zu ersetzen ist. Siehe unten, Teil III, § 3; sowie LU A, 705 ff. 15 Brentano 1893, 40; ähnlich: Brentano 1893, 2. 16 Brentano 1895a, 22. 17 Brentano 1893, 3. 18 Fortan PeS. 19 PeS v. 20 Beneke 1833, x. 21 Brentano 1893, 6. 22 Brentano 1893, 40. 23 Brentano 1895b, 31. 24 Zit. n. Werle 1989, 29. 25 Husserl 1919, 161. 26 Vgl. Smith 1994, 19 f. – Brentano und seine Schüler haben nicht nur die Entwicklung der Philosophie, sondern auch der Psychologie nachhaltig beeinflusst. Vgl. die Darstellungen in Smith 1994. Wenig bekannt ist offenbar, dass auch Sigmund Freud volle zwei Jahre ein begeisterter Schüler Brentanos war und um ein Haar bei ihm promoviert hätte. In einem Brief vom 7. März 1875 an seinen Freund Eduard Silberstein berichtet der 19jährige Freud begeistert von einem Treffen mit Brentano: »Von diesem merkwürdigen (er ist Gottesgläubiger, Theolog und Darwinianer, und ein verdammt gescheiter, ja genialer Kerl) und in vielen Hinsichten idealen Menschen wird Du mündlich Mehreres hören. Für jetzt die Neuigkeit, dass zumal unter den zeitigenden Einfluss Brentano’s in mir der Entschluss gereift ist, das Doktorat der Philosophie aufgrund von Philosophie und Zoologie zu erwerben« (zit. n. Gasser 1997, 16). 27 Zit. n. Werle 1989, 32 Fn. 28 Husserl 1919, 164f. 29 Fortan: LU, zitiert nach der ersten Auflage von 1900/1901. 30 LU A, 701 Fn. 31 LU A, 703. 32 PeS 111. 33 LU A, 401. 34 LU A, 428. 35 LU A, 459. – Vgl. die Darstellung in Stepanians 1998, 247 ff. 36 LU A, 333. 37 LU A, 703 f. 38 Vgl. LU A, 705 ff. 39 PeS 5. 40 PeS 6. 12 13
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Allerdings bleibt die Unterscheidung zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie in PeS nur implizit. Ausdrücklich formuliert und terminlogisch fi xiert fi ndet sie sich erstmals in Brentanos Vorlesungen im Wintersemester 1887/88. Siehe Brentano 1982. 42 Brentano 1893, 72. – Möglicherweise ist diese Bemerkung eine Spitze gegen Wundts Forschungsprogramm in dessen Grundzügen der physiologischen Psychologie von 1874. 43 LU A, 695; vgl. PeS 35. 44 PeS 64. 45 PeS 36 f. – Brentano folgt in diesem Punkt Comte, der 1838 mit Blick auf die Möglichkeit innerer Beobachtung von einer »profonde absurdité« spricht, »que présente la seule supposition si évidemment contradictoire, de l’homme se regardant penser« (Comte 1838, 773). 46 Brentano 1893, 29. 47 Brentano 1893, 40; ähnlich Brentano 1893, 2; meine Hervorh. 48 PeS 35. 49 Das Täuschende der Urteile der äußeren Wahrnehmung besteht darin, dass sie uns etwas vorgaukeln, das so, wie es dem Wahrnehmenden erscheint, nicht da ist. Alles Urteilen besteht für Brentano wesentlich im Anerkennen oder Bestreiten von Existenz. Zu Brentanos Urteilstheorie, s. Parsons 2004. 50 PeS 119. 51 LU A, 697. 52 PeS 111 f. 53 Husserls Bezeichnung, LU A, 696. 54 LU A, 695. 55 PeS 13. – Das seinerzeit viel zitierte Schlagwort von der »Psychologie ohne Seele« geht zurück auf Lange: »Also nur ruhig eine Psychologie ohne Seele angenommen!« Siehe Lange 1866, 465. 56 LU A, 695. 57 PeS 23. 58 LU A, 697. 59 PeS 118. 60 PeS 115. 61 LU A, 698. 62 LU A, 699. 63 LU A, 4. 64 Die im Vorwort der LU vorgenommene Gleichsetzung von Phänomenologie und deskriptiver Psychologie bereut Husserl schnell: »Bericht über deutsche Schriften zur Logik in den Jahren 1895–99«, Archiv für systematische Philosophie 9 1903, 397 ff. 65 LU A, 21. 66 LU A, 339. 67 LU A, 19. 41
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Vgl. A 326–335. – Auch die hier unterstellte Identifi zierung des (psychischen) Ich mit dem Inbegriff der eigenen Erlebnisse hat Husserl schnell wieder aufgegeben. Vgl. Husserls Anmerkungen zu den § 2 und § 3 der V. LU in der zweiten Auflage. 69 LU A, 711. 70 LU B , 232; diese Bemerkung ist eine Hinzufügung der zweiten Auflage 2 der LU. 71 LU A, 697. 72 LU A, 703, Husserls Hervorh.. 73 LU A, 704. 74 LU A, 704. 75 LU A, 704; vgl. LU A, 712. 76 LU A, 704. 77 LU A, 708. 78 LU A, 709. 79 LU A, 127. 80 LU A, 338. 81 LU A, 714. 82 LU A, 708. 83 PeS 11. 84 LU A,708 f. 85 LU A, 709. 86 LU A, 709. 87 LU A, 709. 88 LU A, 710 f. 89 Einen Überblick über Husserls fortgesetzte Auseinandersetzung mit diesen Fragen bietet Heffernan 2009. 90 Für eine Vielzahl hilfreicher Hinweise und Korrekturen danke ich Rochus Sowa. 68
Bibliographie
I. Werke Brentanos und Husserls Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1874 [Abk. PeS] – Die Zukunft der Philosophie, Wien 1893. – Die Vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand, Stuttgart 1895a. – Meine letzten Wünsche für Österreich, Stuttgart 1895b. – Deskriptive Psychologie, Hg. Chisholm, Roderick; Wilhelm Baumgartner, Hamburg 1982. Husserls Kritik an Brentano | 63
Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Zweiter Theil. Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis, Halle a. S., 1901 [Abk. LU] – »Erinnerungen an Franz Brentano«, in: Kraus, Oskar, Hg.: Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre, München 1919.
II. Schriften anderer Autoren Beneke, Friedrich Eduard: Die Philosophie in ihrem Verhältnisse zur Erfahrung, zur Spekulation und zum Leben, Berlin 1833. Ehn, Michael, Strouhal, Ernst: »Denken unter Zugzwang. Kurze Erinnerung an den Schachphilosophen Franz Brentano« in: Karl. Das kulturelle Schachmagazin, Ausgabe 2/2012. Gasser, Reinhard: Nietzsche und Freud, Berlin 1997. Heffernan, George: »On Husserl’s Remark that ›[s]elbst eine sich als apodiktisch ausgebende Evidenz kann sich als Täuschung enthüllen …‹ (XVII 164:32–33): Does the Phenomenological Method Yield Any Epistemic Infallibility?«, Husserl Studies, 2009. Kraus, Oskar: »Martys Leben und Werke. Eine Skizze« in: Marty, Anton: Gesammelte Schriften, Hg. Eisenmeier, Josef; Kastil, Alfred; Kraus, Oskar; Halle a. S. 1916 – Hg.: Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre, München 1919. Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1866. Parsons, Charles: »Brentano’s Theory of Judgement«, in: Jacquette, Dale, ed. The Cambridge Companion to Brentano, Cambridge University Press 2004. Smith, Barry: Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano, Open Court 1994. Stepanians, Markus: Husserl und Frege über Urteilen und Denken, Schöningh 1998. Tatarkiewicz, Wladyslaw: Nineteenth Century Philosophy, Belmont, California 1973. Werle, Joseph M.: Franz Brentano und die Zukunft der Philosophie: Studien zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssystematik im 19. Jahrhundert, Rodopi 1989. Windelband, Wilhelm: Geschichte der Philosophie, Freiburg i. B. 1892.
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– Stefania Centrone –
Aspekte des Psychologismus-Streits Husserl und Frege über Anzahlen und logische Gesetze [E]s ist das Psychologische von dem Logischen, das Subjective von dem Objectiven scharf zu trennen. Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, 1884, x.
Im Jahre 1879 gründete der Philosoph und Psychologe Wilhelm Wundt in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie in Deutschland. Zusammen mit der damit einsetzenden Institutionalisierung der empirischen Psychologie in diesem Land begann auch die Karriere des Wortes »Psychologismus«. Philosophen gebrauchten es meist polemisch, um die in ihren Augen abwegige Auffassung zu bezeichnen, nach der die Psychologie das Fundament für die Bearbeitung diverser Themenbereiche legt, die traditionell der Philosophie zugerechnet werden.1 Das Wort »Psychologismus« wurde anscheinend 1870 von dem hegelianischen Philosophiehistoriker Johann Eduard Erdmann in die Literatur eingeführt, um die philosophische Position Benekes2 kritisch zu charakterisieren. Diese Position – so sagt Erdmann – bestehe darin, »dass er [Beneke] als den Anfangspunkt und das Fundament der Philosophie die Psychologie ansieht, und zwar die Psychologie, welche er die neue nennt, weil sie die bisherigen Irrwege vermeidend, ganz dem Beispiel der Naturwissenschaft folgt«.3 Zwischen 1890 und 1914 waren fast alle deutschsprachigen Philosophen in den so genannten Psychologismus-Streit involviert. Gottlob Frege und Edmund Husserl sind die berühmtesten Teilnehmer an dieser Kontroverse. In ihrem Mittelpunkt standen die Fragen, ob die Logik und ob die Erkenntnistheorie Teile der Psychologie seien. Demgemäß kann man mindestens zwei Varianten des Psychologismus unterscheiden – den logischen und den erkenntnistheoretischen. Der logische Psychologismus behauptet, dass die Gültigkeit der logischen Ge| 65
setze abhängig ist von den psychischen Akten, in denen sie erfasst und artikuliert werden. Gegen diese These protestieren alle Versionen des logischen Objektivismus, dessen wichtigster Repräsentant in Husserls Augen Bernard Bolzano war. Der erkenntnistheoretische Psychologismus behauptet, dass alle Fragen der Epistemologie im Prinzip beantwortet sind, wenn man die Genese derjenigen psychischen Zustände und Akte, die wir als Fälle von Wissen bzw. Erkennen klassifizieren, psychologisch, also empirisch erklärt hat. Widersacher dieser These sind u. a. alle Varianten der neukantianischen Transzendentalphilosophie. Die einzige zustimmende Bemerkung in Freges Verriss eines Hauptwerks des Marburger Transzendentalphilosophen Hermann Cohen lautet: »[Abschließend] will ich nur darin Cohen zustimmen, daß die Erkenntnis nicht als psychischer Vorgang den Gegenstand der Erkenntnistheorie bildet, und dass demnach Psychologie von Erkenntnistheorie scharf zu sondern ist.«4 Nach seiner späteren Selbsteinschätzung hatte sich der logische Objektivist Husserl in der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen noch nicht ganz vom erkenntnistheoretischen Psychologismus seiner Jugend befreit. Er schreibt 1929 in seiner Formalen und Transzendentalen Logik:5 Merkwürdigerweise hat man die Prolegomena zur reinen Logik als eine schlechthinnige Überwindung des Psychologismus angesehen, ohne zu beachten, daß darin nirgends vom Psychologismus schlechthin (als einer universalen … Verirrung) die Rede war, sondern vom einem Psychologismus ganz besonderen Sinnes, eben der Psychologisierung der irrealen Bedeutungsgebilde, die das Thema der Logik sind. Die noch heute allgemein herrschende Unklarheit über … [das] … Problem des erkenntnistheoretischen Psychologismus hatte ich selbst damals noch nicht ganz überwunden; obschon gerade die »phänomenologischen« Untersuchungen des II. Bandes, sofern sie den Weg zu einer transzendentalen Phänomenologie bahnten, zugleich zu der Stellung und radikalen Überwindung des Problems des [erkenntnistheoretischen] Psychologismus die notwendigen Zugänge eröffneten.
Der Versuch, auch den erkenntnistheoretischen Psychologismus vollständig zu überwinden, bestimmte die transzendentale Wende der Phänomenologie.6 66 | stefania centrone
Ich werde mich in diesem Aufsatz ausschließlich mit dem logischen Psychologismus und seinem Gegner, dem logischen Objektivismus beschäftigen. Besonders umstritten war zwischen logischen Psychologisten und logischen Objektivisten die Frage, was eine Anzahl (eine natürliche Zahl) ihrem Wesen nach ist. Was hat die Explikation des Begriffs der Anzahl in einer Kontroverse über die Natur der Logik überhaupt zu suchen? In Freges Augen ist der Begriff der Anzahl in der reinen Logik definierbar, und für ihn sind die Axiome der Arithmetik logische Theoreme, denn er glaubte (bis 1903), dass sie aus logischen Gesetzen ableitbar sind.7 Die Philosophie der Arithmetik von 1891 ist Husserls erstes Buch. Es hat den Untertitel: Logische und psychologische Untersuchungen, und es ist seinem Lehrer Franz Brentano in inniger Dankbarkeit gewidmet. In diesem Werk ist Husserl noch ein logischer Psychologist. Die Bestimmung der Grundbegriffe der Arithmetik und »der die Arithmetik auszeichnenden symbolischen Methoden« soll psychologisch erfolgen.8 Von der Psychologie soll die Arithmetik – eine traditionell als exakt charakterisierte Wissenschaft – eine Fundierung erhoffen. In diesem Werk setzt sich Husserl auch mit Freges 1884 erschienenen Grundlagen der Arithmetik kritisch auseinander, dem ich das antipsychologistische Motto dieses Aufsatzes entnommen habe. Freges Rezension von Husserls Buch wird dann 1894 wiederum zu einer Quelle von Husserls Sinnesänderung bezüglich des logischen Psychologismus. Eine mindestens ebenso wichtige Quelle für Husserls Konversion zum logischen Antipsychologismus dürfte allerdings sein ungefähr gleichzeitiges Studium der beiden ersten Bände der monumentalen Wissenschaftslehre Bernard Bolzanos gewesen sein. Im Vorwort zu den Prolegomena zur reinen Logik (1900) schreibt Husserl: »Was … die freimütige Kritik anbelangt, die ich an der psychologistischen Logik und Erkenntnistheorie geübt habe, so möchte ich an das Goethesche Wort erinnern: »Man ist gegen nichts strenger als gegen erst abgelegte Irrtümer.«9 Ich werde mich in § 1 dieses Aufsatzes mit dem Streit Husserls und Freges über den Begriff der Anzahl beschäftigen und sodann in § 2 die (in den Prolegomena artikulierte) Sinnesänderung Husserls bezüglich der Natur der logischen Gesetze erörtern.
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§ 1. Husserl und Frege über den Begriff der Anzahl Husserls erstes Studienfach war die Mathematik.10 Er studierte Mathematik – erst an der Leipziger Universität und ab 1878 in Berlin – bei einigen der größten Mathematiker Deutschlands, bei Kronecker, Kummer und Weierstrass. Bis 1883 war er auch Assistent bei Weierstrass. 1884 übersiedelte er nach Wien, um sich dort dem Philosophie-Studium zu widmen. Bis 1886 studierte er bei Franz Brentano. Das Zusammentreffen zwischen Husserl und Brentano geschah also in einer Zeit, in der Husserl schon eine gewisse intellektuelle Reife erreicht hatte. Mit Hilfe von Brentanos Methode der deskriptiven Psychologie will Husserl nun die Grundbegriffe der Arithmetik bestimmen. Vergegenwärtigen wir uns die Art von Untersuchung, die er dabei im Sinne hatte.11 Bezüglich jedes Begriffs unterscheidet Husserl in der Philosophie der Arithmetik: i) seinen Inhalt, ii) seinen Umfang und iii) seine Entstehung. Den Inhalt eines Begriffs bestimmt er, wenn der Begriff komplex ist, ganz traditionell als eine Konjunktion von Merkmalen, und wenn er einfach ist, als das Produkt eines Abstraktionsverfahrens. Unter dem Umfang eines Begriffs versteht er »den Inbegriff der unter ihn fallenden Gegenstände«. Da Husserl’sche Inbegriffe immer mehr als einen Gegenstand enthalten, sind Umfänge bei ihm – genau wie bei Bolzano – nie leer und nie Einer-Klassen (singletons). Unter Entstehung will er die Bildungsweise des Begriffs im Geist eines Menschen verstanden wissen. Gewährleistet diese Auffassung die Intersubjektivität und die intra-subjektive Konstanz der Begriffe? Lässt sie überhaupt zu, dass beispielsweise Claudias Begriff der Zahl 12 derselbe ist wie der Guidos und dass ihr gegenwärtiger Begriff der Zahl 12 derselbe ist wie der, den sie vor einer Woche hatte? 1891 glaubte Husserl wie sein Lehrer Brentano, dass Intersubjektivität und intra-subjektive Konstanz der Begriffe durch die Gleichförmigkeit ihrer Bildungsweise verbürgt werden. Claudia und Guido haben denselben Begriff der Zahl 12, weil sie ihn auf dieselbe Art und Weise erworben haben. 68 | stefania centrone
In der Philosophie der Arithmetik betrachtet Husserl zunächst Euklids Versuch, den Begriff der Anzahl folgendermaßen zu definieren: »Die Anzahl ist eine Vielheit von Einheiten (arithmòs tò ek monádon sygkeímenon plêthos).«12 Er fragt sich, welche Gestalt die Erklärung eines Begriffs hier haben kann. Manchmal ist die Begriffserklärung eine Analyse. So erklärt man beispielsweise den Begriff eines Enterichs, indem man sagt: ›Ein Enterich ist eine männliche Ente‹. Ist ein Begriff hingegen einfach, so kann man ihn natürlich nicht in Komponenten zerlegen – er ist analyseresistent. Husserl warnt vor deplatzierten Bemühungen um analysierende Definitionen:13 Seitdem Euklids Elemente als das Muster wissenschaftlicher Darstellung Geltung erlangt haben, folgen die Mathematiker dem Grundsatze, mathematische Begriffe nicht früher als vollberechtigt anzusehen, als bis sie durch strenge Definitionen wohl[unter]schieden sind. Dieser ohne Zweifel sehr nützliche Grundsatz hat aber nicht selten zu ungerechtfertigten Übertreibungen geführt; in dem Übereifer einer vermeintlichen Strenge mühte man sich, auch solche Begriffe zu definieren, die wegen ihres elementaren Charakters einer Definition weder fähig noch bedürftig sind.
Letzteres trifft nach seinem Dafürhalten auf alle Begriffe in Euklids vermeintlicher Definition zu: »Vielheit und Einheit sind Begriffe, die einer … Definition gänzlich unfähig sind … Mit diesen hängt aber der Anzahlbegriff so eng zusammen, daß auch bei ihm von einem Definieren kaum die Rede sein kann.« Schlechte Nachrichten für den Verfasser der Grundlagen der Arithmetik: »Das Ziel, das sich Frege setzt, ist also ein chimärisches zu nennen.«14 Frege hält zwar von Euklids ›Definition‹ auch nicht viel, aber er ringt um eine angemessene Definition:15 Wenn man im Ganzen mehr dazu neigt, die Anzahl für undefinirbar zu halten, so liegt das wohl mehr an dem Misslingen darauf gerichteter Versuche als an dem Bestehen der Sache selbst entnommener Gegengründe.
Wir werden seine Definition später kennenlernen. Wenn die Begriffe Anzahl, Vielheit und Einheit analyseresistent sind, so sieht der logische Psychologist nur noch eine Option:16 Aspekte des Psychologismus-Streits | 69
Was man in solchen Fällen tun kann, besteht nur darin, daß man die konkreten Phänomene aufweist, aus oder an denen sie abstrahiert sind, und die Art dieses Abstraktionsvorgangs klarlegt; man kann, wo es sich [als] notwendig erweist, durch verschiedene Umschreibungen die bezüglichen Begriffe scharf umgrenzen und so Verwechslungen derselben mit verwandten Begriffen vorbeugen.
Der Begriff der Vielheit oder der Menge17 entsteht durch Abstraktion aus einer beliebigen unter den Vielheiten, die zusammengenommen seinen Umfang bilden.18 »Es ist eine Tatsache«, sagt Husserl, »daß wir oft imstande sind, einen und denselben Gegenstand je nach Belieben als Eines und Vieles aufzufassen.«19 Ersteres tun wir, wenn wir viele Gegenstände als Eine Menge auffassen. Dabei werden die vielen Gegenstände durch einen psychischen Akt vereint.20 Von der so entstandenen kollektiven Verbindung sagt Husserl, dass sie den Inhalt des Begriffs der Menge oder Vielheit ausmacht. Die durch den Akt des Vereinens entstandene Beziehung zwischen den Elementen einer Vielheit ist in Husserls Augen eine psychische Beziehung.21 Die Elemente, zwischen denen diese Beziehung besteht, sind Einheiten. Der hier einschlägige Begriff der Einheit ist für Husserl identisch mit dem Begriff eines Etwas, unter den buchstäblich alles fällt, woran wir überhaupt denken und worüber wir überhaupt reden können. Wir erhalten diesen Begriff – so meint Husserl – im Ausgang von irgendeinem einzelnen Gegenstand, indem wir von all den Eigenschaften abstrahieren, durch die er sich von anderen Gegenständen unterscheidet.22 Dieser Begriff wird durch das Wort ›Einheit‹ nur in derjenigen Verwendungsweise ausgedrückt, in der es einen Plural hat. In Kontexten wie ›deutsche Einheit‹ oder ›Einheitsfront der Arbeiterklasse‹ hat dieses Wort keinen Plural: Hier ist Einheit Resultat einer Vereinigung von Einheiten.23 Und was ist nun eine Anzahl? Husserls Antwort in der Philosophie der Arithmetik lautet: Die Anzahl einer endlichen Menge M wird angegeben, wenn man die Frage »Aus wievielen Einheiten besteht M?« korrekt beantwortet, also durch eine wahre Einsetzungsinstanz des Satzschemas »M besteht aus n Einheiten«. (Die damit zugeschriebene Beschaffenheit ist das, was Bolzano in seiner Wissenschaftslehre als Weite einer Menge bestimmt.24) Husserl betont: »Nicht jede mögliche Antwort auf die Frage ›wieviel[e]‹, sondern 70 | stefania centrone
jede mögliche positive Antwort führt auf Zahlen.«25 Das aus dieser Einschränkung resultierende Problem für die Null und die Eins wird uns noch beschäftigen. Die Konzeption der Anzahl als Produkt eines Abstraktionsverfahrens ist kein idiosynkratischer Zug des frühen Husserl. Sie findet sich bei seinem illustren Kollegen Georg Cantor in Halle. In Abraham Fränkels Cantor-Biographie liest man: »So trat Cantor auch mit [dem] in Halle sich für Philosophie habilitierenden jüngeren Kollege[n] Edmund Husserl … in rege wissenschaftliche wie auch persönlich freundschaftliche Verbindung«.26 In seinen Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten schreibt Cantor: 27 [Nach der] von mir … vertretene[n] … Auffassungsweise [sind] ganze Zahlen … Universalien, die sich auf Mengen beziehen und aus ihnen sich ergeben, wenn von der Beschaffenheit der Elemente abstrahiert wird. Jede Menge wohlunterschiedener Dinge kann als ein einheitliches Ding für sich angesehen werden, in welchem jene Dinge Bestandteile oder konstitutive Elemente sind. Abstrahiert man sowohl von der Beschaffenheit der Elemente, wie auch von der Ordnung ihres Gegebenseins, so erhält man die Kardinalzahl oder Mächtigkeit der Menge.
Cantors Konzeption einer Menge ist hier eine psychologische.28 Das von ihm wie von Husserl verwendete Abstraktionsverfahren charakterisiert der amerikanische Philosoph Kit Fine wie folgt:29 What [Cantor’s and Husserl’s30] accounts have in common is a view of abstraction as the process of freeing an object of its peculiar features and a conception of number … as the product of such a process.
Kit Fine versucht (mithilfe seiner Theorie der »arbitrary objects«31) zu zeigen, dass Cantors und Husserls Bestimmung des Anzahlbegriffs genau so kohärent rekonstruiert werden kann wie die uns heute vertrautere Frege’sche Definition. (Ob dieser Versuch gelungen ist, ist eine Frage, der ich in diesem Aufsatz nicht nachgehen kann.) Frege kritisiert in seiner Rezension von Husserls Buch alle Auffassungen, welche die Anzahl als eine Eigenschaft einer Vielheit oder Menge auffassen. Er spottet:32 Aspekte des Psychologismus-Streits | 71
Dabei wird das Bedürfnis gefühlt, die Gegenstände von ihren Besonderheiten zu reinigen. [Husserls] Versuch gehört zu denen, bei welchen diese Reinigung im psychologischen Waschkessel vorgenommen wird. Dieser bietet den Vorteil, dass die Dinge in ihm eine ganz eigentümliche Geschmeidigkeit annehmen, sich nicht mehr so hart im Raume stoßen[33] und viele lästige Eigentümlichkeiten und Unterschiede fahren lassen. Die jetzt so beliebte Mischung aus Psychologie und Logik gibt für diesen Zweck eine gute Lauge ab.
Schon in der Einleitung seiner Grundlagen hatte sich Frege wie folgt geäußert: »Die Psychologie bilde sich nicht ein, zur Begründung der Arithmetik irgendetwas beitragen zu können.«34 Alle Versuche, einen Begriff zu bestimmen, indem man seine Entstehung beschreibt, sind in seinen Augen abwegig.35 Das Husserl’sche Verfahren, einen Gegenstand von der-und-der Sorte durch Abstraktion in eine Einheit oder ein Etwas zu verwandeln, beschreibt Frege in satirischer Absicht wie folgt:36 Wir merken weniger auf eine Eigenschaft, und sie verschwindet. Indem wir so ein Merkmal nach dem andern verschwinden lassen, erhalten wir immer abstraktere Begriffe … Die Unaufmerksamkeit ist eine höchst wirksame logische Kraft; daher vermutlich die Zerstreutheit der Gelehrten. Nehmen wir an, es sitzen vor uns nebeneinander eine schwarze und eine weiße Katze. Wir achten nicht auf ihre Farbe: sie werden farblos, sitzen aber noch nebeneinander. Wir achten nicht auf ihre Körperhaltung: sie sitzen nicht mehr, ohne jedoch eine andere Haltung angenommen zu haben; aber jede ist noch an ihrer Stelle. Wir achten nicht mehr auf den Ort: sie werden ortlos, bleiben aber immer noch wohl geschieden. … Jeder Gegenstand verwandelt sich bei fortgesetzter Anwendung dieses Verfahrens in ein immer blutleereres Gespenst. Wir gewinnen so schließlich aus jedem Gegenstand ein Etwas, das gänzlich inhaltsentschränkt ist; aber das Etwas, das aus dem einen Gegenstande gewonnen ist, unterscheidet sich doch von dem aus einem andern Gegenstande gewonnenen, obwohl nicht leicht zu sagen ist, wodurch.
Man kann Freges eigene Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Anzahl zunächst negativ darstellen: Was sind Anzahlen auf gar keinen Fall? 72 | stefania centrone
(1) Anzahlen sind keine Eigenschaften von raum-zeitlichen Dingen. Wenn die Anzahl eine Eigenschaft solcher Dinge wäre, dann könnte es nicht Anzahlen von Gegenständen geben, die gar nicht raumzeitlich lokalisierbar sind. Wir zählen aber auch Gegenstände wie Axiome, Theoreme, Schlussfiguren, Religionen, Wissenschaften, Primzahlen zwischen 10 und 20, usw.37 (2) Anzahlen sind keine Vorstellungen, keine mentalen Bilder.38 Wenn die Anzahlen mentale Bilder wären, die ein Denker produziert, so gäbe es mindestens so viele Zweien, wie es Denker gibt, die bis Zwei zählen, und »[m]an müsste sagen: meine Zwei, deine Zwei, eine Zwei, alle Zweien«;39 und viele Zahlen, mit denen wir gewöhnlich rechnen, würden dann gar nicht existieren; denn kein Mensch ist im Stande, sich etwa die Zahl 1010 anschaulich vorzustellen.40 Anzahlen sind, nach Freges Dafürhalten, etwas Objektives. Was versteht er unter »objektiv«? In den Grundlagen erhalten wir eine negative Charakterisierung: Das Objektive ist »von unserem Empfinden, Anschauen, Vorstellen« unabhängig, und objektiv ist nicht nur – so betont er – das »Handgreifliche, Räumliche, Wirkliche«. Objektiv sind beispielsweise nicht nur die Erde und das Sonnensystem, sondern auch nicht wahrnehmbare Gegenstände wie die Erdachse, ihr Äquator und der Massenmittelpunkt des Sonnensystems.41 Wenn Zahlen etwas Objektives sind, so gilt: »[die] Beschreibung der innern Vorgänge, die der Fällung eines Zahlurteils vorhergehen, kann nie, auch wenn sie zutreffend ist, eine eigentliche Begriffsbestimmung ersetzen. … [W]ir erfahren durch sie keine Eigenschaft der Zahlen«.42 (3) Anzahlen sind keine Mengen von Einheiten. Wenn Anzahlen Vielheiten wären, wie wäre dann die Zahl 0 zu verstehen und wie die 1?43 Die Einheiten, um die es geht, können nicht die Dinge selbst sein, die wir zählen. Ansonsten gäbe es genauso viele Zweien wie es Paare gibt. Vielleicht wird der Opponent dem entgegenhalten, Einheiten seien die Dinge, nachdem man von ihren Eigenschaften abstrahiert hat. Freges Replik lautet: (a) Wenn wir von allen Eigenschaften der Dinge abstrahieren, erhalten wir nur ein Ding – und nicht mehr eine Menge von Dingen (Identität des Ununterscheidbaren).44 (b) Wenn wir nicht von allen Eigenschaften abstrahieren, sondern nur von denjenigen, durch welche sich die Dinge einer gewissen Gruppe voneinander unterscheiden, erhalten Aspekte des Psychologismus-Streits | 73
wir nicht die Anzahl der Gruppe, sondern einen Begriff, unter den jene Dinge fallen: »Wenn ich z. B. bei der Betrachtung einer weißen und einer schwarzen Katze von den Eigenschaften absehe, durch die sie sich unterscheiden, so erhalte ich etwa den Begriff Katze.«45 Positiv formuliert Frege seine eigene Konzeption so: »Jede Zahlangabe enthält eine Aussage von einem Begriffe.«46 Jetzt gibt es kein Problem mehr mit der Zahl 0. Wenn man feststellt: ›Katharina hat in der Logik-Klausur 0 Fehler‹, so sagt man vom Begriff Fehler in Katharinas Logik-Klausur, dass er leer ist.47 Die Art und Weise, wie Frege seine These über Anzahlangaben ausbuchstabiert, ist aber nicht unproblematisch. Durch den Satz ›Jesus hatte 12 Jünger‹ wird dem Begriff Jünger Jesu – so drückt sich Frege aus – die Zahl 12 beigelegt.48 Frege spricht hier von einem Begriff als Träger der Anzahl – so wie man von Gegenständen als Trägern von Eigenschaften spricht. Eigenschaft des Begriffs eines Jüngers Jesu ist streng genommen nicht die Zahl 12, sondern die Eigenschaft, 12 Gegenstände unter sich zu befassen. Frege erweckt den Eindruck, als hätte Husserl keinen guten Grund für seine Sonderbehandlung der Null. Zumindest in diesem Punkte ist seine Kritik nicht fair. Husserl vergleicht die Fragen ›Wie viele?‹, ›Wo?‹ und ›Wann?‹, und er sieht die negativen Antworten in allen drei Fällen im selben Boot. Nun würde niemand die Antworten ›Nirgendwo.‹ und ›Niemals.‹ als Angaben eines speziellen Ortes und einer besonderen Zeit verstehen. Warum sollte man dann, die Antwort ›Keine.‹ auf die Frage ›Wie viele Fehler hat sie in der Klausur gemacht?‹ als Angabe einer Anzahl verstehen?49 In dieser Hinsicht ist die Null, so kann Husserl sagen, tatsächlich keine Anzahl wie Zwei, Drei, … (Die Sonderbehandlung der Eins lässt sich so offenkundig nicht rechtfertigen.) Und natürlich bestreitet auch Husserl nicht, dass die »Übertragung« des Zahlbegriffs auf die Null und die Eins »mit Bezug auf ihre mathematische Bedeutung nicht hoch genug geschätzt werden kann.«50 Was ist für Frege ein Begriff ? Jedenfalls weder eine kognitive Fähigkeit noch eine mentale Repräsentation. In den Grundlagen nimmt er an, dass verschiedene Begriffe denselben Umfang haben können.51 Diese Annahme ist mehr als naheliegend, wenn ein Begriff der Sinn eines Prädikates ist. Die Prädikate ›ist ein gleichwinkliges Dreieck‹ und ›ist ein gleichseitiges Dreieck‹ haben nicht denselben 74 | stefania centrone
Sinn, obwohl sie nachweislich auf genau dieselben Figuren zutreffen. (Da diese beiden Prädikate denselben Umfang haben, haben sie – wie Frege ab 1891 sagen wird – dieselbe Bedeutung. Nachdem er die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung eingeführt hat, klassifiziert er nicht mehr Prädikat-Sinne, sondern PrädikatBedeutungen als Begriffe. Der Verfasser der Rezension von Husserls Buch verfügt bereits über diese Unterscheidung.) Zu den erfreulichen Konsequenzen der Frege’sche Deutung der Zahlangaben gehört, dass sie das folgende Problem beseitigt, das mit der Husserls Konzeption verbunden ist. Angenommen, die einzigen Gäste in Café C sind zurzeit t zehn Personen, und es handelt sich dabei um fünf Liebespaare. Hier machen wir im Blick auf ein und dieselbe Personengruppe zwei Zahlangaben. Dass sie beide korrekt sein können, ist leicht erklärlich, wenn man annimmt, dass hier jeweils von einem anderen Begriff gesagt wird, dass so-und-so viele Gegenstände unter ihn fallen52: einmal von dem Begriff ist eine Person, die sich zu t in C aufhält und einmal von dem Begriff ist ein Liebespaar, das sich zu t in C aufhält. Bisher haben wir noch nicht gesagt, was die Zahlen sind, sondern nur den Sinn der Zahlangaben festgestellt.53 Laut Frege kann jede Zahlangabe in die folgende Form gebracht werden: ›Die Zahl der F ist (identisch mit) n‹. Aus ›Jesus hat 12 Jünger‹ wird also ›Die Zahl der Jünger Jesu ist 12‹. Die Ziffer ›12‹ kommt in der Umformulierung als singulärer Term vor – die Umformulierung hat die Gestalt einer Gleichung, in der links und rechts vom Gleichheitszeichen zwei Bezeichnungen derselben Zahl stehen.54 Wie alles, was von einem singulären Term bezeichnet wird, sind Zahlen Gegenstände. Um etwas als Gegenstand zu denken, muss man es sich nicht anschaulich vorstellen – es genügt, spezifische Identitätsbedingungen anzugeben: »Wenn uns das Zeichen a einen Gegenstand bezeichnen soll, so müssen wir ein Kennzeichen haben, welches überall entscheidet, ob b dasselbe sei wie a.«55 Frege gebraucht in den Grundlagen eine Vorgehensweise, die man als Abstraktion via Äquivalenzrelation – als eine besondere Form von Kontextdefinition – zu bezeichnen pflegt.56 Man kann einen Begriff, der durch einen Funktor, einen Ausdruck des Typs ›das Φ von x‹ (z. B. ›die Richtung der Geraden a‹, ›die Anzahl der F‹) ausgedrückt wird, definieren, wenn man den Sinn von IdentitätsAspekte des Psychologismus-Streits | 75
aussagen des Typs ›das Φ von x = das Φ von y‹ (›die Richtung von a ist dieselbe wie die von b‹, ›die Anzahl der F ist dieselbe wie die Anzahl der G‹) erklären kann, ohne dabei den Funktor zu gebrauchen.57 In unserem Falle müssen wir den Sinn des Satzes »die Zahl, welche dem Begriffe F zukommt, ist dieselbe, welche dem Begriff G zukommt« erklären; d. h. wir müssen den Inhalt dieses Satzes in anderer Weise wiedergeben, ohne den Ausdruck »die Anzahl, welche dem Begriffe F zukommt« zu gebrauchen.
Man kann den Inhalt des Satzes ›die Richtung von a = die Richtung von b‹ wiedergeben, ohne den Richtungsfunktor zu gebrauchen, indem man die Äquivalenzrelation der Parallelität ins Spiel bringt und sagt: ›Die Geraden a und b sind parallel‹. Und man kann den Inhalt des Satzes ›die Anzahl der F = die Anzahl der G‹ wiedergeben, ohne den Anzahlfunktor zu gebrauchen, indem man die Äquivalenzrelation der umkehrbar eindeutigen Zuordnung ins Spiel bringt und sagt: ›Die Gegenstände, die F sind, und die Gegenstände, die G sind, können einander umkehrbar eindeutig zugeordnet werden‹. »Ein solches Mittel«, meint Frege, »nennt schon Hume«.58 Deshalb pflegt man hier vom Hume-Prinzip zu reden. Historisch angemessener wäre die Bezeichnung ›Hume-Cantor-Prinzip‹. Wenn zwischen den F und den G umkehrbar eindeutige Korrelierbarkeit besteht, so sagt Frege, dass der Begriff eines F und der Begriff eines G »gleichzahlig« sind. Nun genügt es, um die Zahlen als selbstständige, wiedererkennbare Gegenstände zu erhalten, mit den Begriffen Gegenstände zu assoziieren, die das Hume-CantorPrinzip erfüllen. Als mit den Begriffen assoziierte Gegenstände schlägt Frege ihre Umfänge vor. Hierbei ist zu beachten, dass der Frege’sche Umfang eines Begriffs sowohl ein singleton als auch leer sein kann.59 Er definiert nun explizit, also nicht mehr kontextuell:60 (Df. 1) Die Anzahl der F =Df der Umfang des Begriffs gleichzahlig dem Begriff eines F Und auf dieser Basis kann er schließlich zirkelfrei den Begriff einer Anzahl erklären:61 (Df. 2) n ist eine Anzahl =Df ∃F ( n = die Anzahl der F ), 76 | stefania centrone
womit er das Ziel erreicht hat, das Husserl für »chimärisch« erklärt. Zwei Kapitel in Husserls Philosophie der Arithmetik sind der Definition der Gleichzahligkeit durch Abstraktion via Äquivalenzrelation und der in Freges Definition (Df. 2) vorausgesetzten, expliziten Definition des Begriffs die Anzahl der F gewidmet. Zu der Kontextdefinition bemerkt Husserl, dass zwei Mengen einander umkehrbar zugeordnet werden können, weil ihre Anzahlen gleich sind, und nicht umgekehrt:62 Die Möglichkeit der gegenseitig-eindeutigen Zuordnung zweier Vielheiten ist nicht deren Gleichzahligkeit, sondern verbürgt sie nur. Die Erkenntnis, dass die Anzahlen gleich seien, erfordert durchaus nicht die Erkenntnis ihrer Zuordnungsmöglichkeit … Die bestrittene Definition ist also weit entfernt davon, eine Nominal-Definition darzustellen, welche die Bedeutung des Ausdruckes »Gleichheit zweier Vielheiten in Beziehung auf die Anzahl« fixiert. Alles, was wir zugeben können, ist, dass sie ein für alle Fälle gültiges, in logischem Sinne notwendiges und hinreichendes Kriterium für den Bestand der Gleichheit aufstellt … Was nun den Nutzen dieses Kriteriums anlangt, so werden wir ihn kaum hoch veranschlagen können … Wo … ein so rasches und sicheres Verfahren zu Gebote steht wie unser symbolisches Zählen, da ist … das einfachste Kriterium für die Gleichheit der Zahl eben das Ergebnis derselben Zahl bei der Abzählung der Vergleichsmengen.
Denken wir noch einmal an Freges Modell für seine Kontextdefinition. Würde Husserl auch sagen wollen, dass die Identität der Richtung von a mit der Richtung von b nicht in der Parallelität der Geraden a und b besteht, sondern nur durch sie verbürgt wird? Würde er auch sagen wollen, dass die Erkenntnis, dass die Richtungen identisch sind, durchaus nicht die Erkenntnis erfordert, dass die Geraden parallel sind? Wohl kaum. Aber dann muss er zeigen, dass von der Kontextdefinition von ›die Anzahl der Messer auf diesem Tisch = die Anzahl der Teller auf diesem Tisch‹ durch ›Es gibt auf diesem Tisch genauso viele Messer wie Teller‹ nicht mutatis mutandis dasselbe gilt. Gelingt ihm das im zweiten Absatz unseres Zitats? Wieso ist es für den Kellner leichter festzustellen, dass sich auf diesem Tisch 24 Messer und 24 Teller befinden, als sich davon Aspekte des Psychologismus-Streits | 77
zu überzeugen, dass rechts neben jedem Teller ein Messer liegt und dass sich kein Messer auf dem Tisch befindet, das nicht rechts neben einem Teller liegt?63 Außerdem – so betont Frege in seiner Rezension zu Recht – liegt auch der in Husserls Augen grundlegenden »Abzählung der Vergleichsmengen« eine gegenseitig eindeutige Zuordnung zugrunde, nämlich die der Zahlwörter von »eins« bis »vierundzwanzig« und der Elemente der relevanten Teller-und Messer-Mengen.64 Husserl verwirft auch (Df. 1), Freges explizite Definition des Funktors ›die Anzahl der F‹: 65 [Einer] Menge eine bestimmte Zahl zuschreiben hieße, sie [als zugehörig] zu einer bestimmten Gruppe untereinander äquivalenter Menge klassifizieren; dies ist aber ganz und gar nicht der Sinn einer Zahlenaussage.66 Nennen wir eine Menge vor uns liegender Nüsse darum vier, weil sie einer gewissen Klasse von unendlich vielen Mengen angehört, die sich wechselseitig in eindeutige Korrespondenz setzen lassen? Wohl niemand hätte hierbei jemals solche Gedanken, und kaum fänden wir überhaupt praktische Anlässe, uns für dergleichen zu interessieren. Was uns in Wahrheit interessiert, das ist der Umstand, daß eine Nuß und eine Nuß und eine Nuß und eine Nuß da ist.
Wer nach der Anzahl der Jünger Jesu fragt, der fragt nicht nach dem Umfang des Begriffs gleichzahlig mit dem Begriff eines Jüngers Jesu; denn diese Frage bringt Begriffe ins Spiel, die man nicht beherrschen muss, um sich jene Frage zu stellen. Die beiden Fragen sind »gedanklich nicht gleichwertig«.67 Dieser Einwand überträgt sich dann auch auf (Df. 2), auf die Definition des Begriffs einer Anzahl: »Wir wünschen etwas über den Inhalt des Anzahlbegriffs zu erfahren, und man nennt uns den Umfang.«68 Diesen Einwand nimmt Frege in seiner Rezension des Husserl’schen Buchs – darauf hat Michael Dummett aufmerksam gemacht – auf eine verblüffend leichte Schulter:69 [1] Wenn Wörter und Wortverbindungen Vorstellungen bedeuten, so ist bei zweien von solchen nichts weiter möglich, als daß sie entweder dieselbe oder verschiedene Vorstellungen bezeichnen. Im ersten Falle ist ihre Gleichsetzung durch eine Definition zwecklos, 78 | stefania centrone
»ein offenbarer Zirkel«;[70] im andern ist sie falsch. Dies sind auch die Einwände, von denen einen der Verfasser regelmäßig erhebt. Auch den Sinn zu zerlegen, vermag eine Definition nicht; denn der zerlegte Sinn ist eben nicht der ursprüngliche. Entweder ich denke bei dem zu erklärenden Worte schon alles deutlich, was ich beim definierenden Ausdrucke denke, dann haben wir den »offenbaren Zirkel«; oder der definierende Ausdruck hat einen reicher gegliederten Sinn, dann denke ich bei ihm nicht dasselbe wie bei dem zu erklärenden: Die Definition ist falsch.
Dazu bemerkt Dummett: »Husserl had clearly faced the paradox of analysis, and had come to the conclusion that it is irresoluble, and hence that analysis is impossible.«71 Auf das Paradox werde ich gleich zu sprechen kommen. Dass Husserl ihm ins Gesicht geschaut hat, erscheint mir jedenfalls zweifelhaft, und den Schluss, den Dummett ihm nachsagt, hat er ganz sicher nicht gezogen: Husserl hat nicht den geringsten Zweifel daran, dass viele Begriffe analysiert werden können, z. B. der eines Enterichs oder der einer Primzahl. (Dass er eine Analyse einfacher Begriffe für unmöglich hielt, ist nicht weiter überraschend.) Dummett fährt fort: »Frege, in his review, rejects the paradox, and with it that a definition of an existing term should be analytic in the sense of his 1914 lectures.«72 Frege reagiert auf die in [1] geschilderte Aporie wie folgt: 73 [2] Es offenbart sich hier ein Zwiespalt zwischen den psychologischen Logikern und den Mathematikern. Jenen kommt es auf den Sinn der Worte an und auf die Vorstellungen, die sie von dem Sinne nicht unterscheiden, diesen dagegen auf die Sache selbst, auf die Bedeutung der Worte. Der Vorwurf, daß nicht der Begriff, sondern dessen Umfang definiert werde, trifft eigentlich alle Definitionen der Mathematik. Für den Mathematiker ist die Definition des Kegelschnittes als Schnittkante einer Ebene und eines Kreiskegelmantels nicht richtiger und nicht falscher denn als ebene Kurve, deren Gleichung in Parallelkoordinaten vom zweiten Grade ist. Welche von diesen beiden oder noch andern er auswählt, richtet sich allein nach Zweckmäßigkeitsgründen, obwohl diese Ausdrücke weder denselben Sinn haben, noch dieselben Vorstellungen erwekken. Ich meine hiermit nicht, daß Begriff und Begriffsumfang dasAspekte des Psychologismus-Streits | 79
selbe sind; aber das Zusammenfallen des Umfangs ist hinreichendes und notwendiges Kennzeichen dafür, daß zwischen den Begriffen die Beziehung stattfindet, welche der Gleichheit bei Gegenständen entspricht.
Wozu Dummett bemerkt: »Frege is here plainly unfair to Husserl. Husserl had anticipated Moore’s discovery of the paradox of analysis, and the paradox is not to be dismissed as lightly as Frege dismisses it in his review.«74 Worin besteht das Paradox der Analyse? Nicht G.E. Moore hat es entdeckt, sondern C.H. Langford, einer der Pioniere der Modallogik, hat es Moore als Einwand gegen sein Programm der Begriffsanalyse entgegengehalten. Langfords Argument scheint ein Beweis seiner Konklusion zu sein, deren Wahrheit für die Idee einer aufschlussreichen Analyse, einer informativen zerlegenden Definition fatal wäre: 75 (P1) Wenn die Ausdrücke fürs Definiendum und fürs Definiens denselben Sinn haben, dann ist die Definition trivial. (P2) Wenn die Ausdrücke fürs Definiendum und fürs Definiens nicht denselben Sinn haben, dann ist die Definition inkorrekt. Also: (K) Keine Definition ist sowohl nicht-trivial als auch korrekt. Es ist Frege und nicht der Husserl der Philosophie der Arithmetik, der dieser Argumentation in [1] sehr nahe kommt. In Langfords Darstellung ist sie vollkommen unabhängig von der psychologistischen Nicht-Unterscheidung zwischen Vorstellung und Sinn: Wir können annehmen, dass sowohl das Definiendum als auch das Definiens ein Sinn im Frege’schen Verständnis dieses Wortes, also ganz gewiss keine Vorstellung ist. Frege scheint zu meinen, dass Husserl nicht umhin kann, (P1) und (P2) zu akzeptieren, und was (P1) angeht, so kann er PdA 98–99 ins Feld führen. Freges eigene Reaktion auf das Paradox findet Dummett zu Recht unangemessen. Sie besteht darin, die Korrektheitsbedingung für zerlegende Definitionen sehr weit herunterzuschrauben: In der Mathematik jedenfalls gehe es bei einer Definition nur um die Bestimmung des Umfangs des zu definierenden Begriffs. Das Beispiel aus der Geometrie, das er 80 | stefania centrone
anführt, zeigt das aber keineswegs; denn die beiden Definientia sind nicht bloß extensional mit dem Definiendum äquivalent (wie die Begriffe ›Werk des Verfassers der Divina Commedia‹ und ›Werk des Verfassers von La Vita Nuova‹) – es ist a priori beweisbar, dass sie es sind: Sie sind mit ihm intensional äquivalent. Dennoch haben die geometrischen Prädikate in Freges Beispiel nicht denselben Sinn, wenn man seinen Maßstab anlegt: »Überall, wo das Zusammenfallen der Bedeutung nicht selbstverständlich ist, haben wir eine Verschiedenheit des Sinnes«.76 Prädikate haben dieselbe Frege’sche Bedeutung, wenn sie auf dieselben Gegenstände zutreffen. Es versteht sich keineswegs von selbst, dass jene geometrischen Prädikate auf dieselben Gegenstände zutreffen. Was den Gebrauch des Wortes ›Begriff‹ angeht, sind Freges Formulierungen an den kursivierten Stellen in [2] verwirrend. Husserls Vorwurf war, dass nicht der »Inhalt des Begriffs« definiert wird, sondern nur sein Umfang. Wenn Frege diese Phrase hier durch ›Begriff‹ ersetzt, dann versteht er unter einem Begriff (wie in den GL) den Sinn eines Prädikats; denn dass der Sinn des Prädikats ›ist eine Anzahl‹ von ihm verfehlt wird, war Husserls Vorwurf. Er verwendet das Wort ›Begriff‹ hier also nicht so wie an der zweiten Stelle. Für den Verfasser der dort angeführten Aufsätze sind Begriffe zwar immer noch etwas anderes als Umfänge (denn im Unterschied zu diesen sind sie keine Gegenstände, sondern Funktionen), aber sie sind nicht mehr feiner als Umfänge individuiert. Für Husserl steht fest, dass »Begriffe gleichen Umfangs« nicht eo ipso »Begriffe gleichen Inhalts« sind.77 Auch in seinen Augen verbürgt intensionale Äquivalenz nicht Sinn-Identität; denn sie schließt »gedankliche Ungleichwertigkeit« nicht aus. Was das Paradox der Analyse angeht, so finden wir weder in Husserls Buch noch in Freges Rezension einen plausiblen Lösungsvorschlag. In einem gegen Ende der 90er Jahre verfassten Manuskript nimmt Husserl die in seinem Buch von 1891 geübte Kritik an der Definition der Anzahlen via Abstraktion durch Äquivalenz-Relation zurück und weist auf zwei Mängel seines Jugendwerks hin: Damals habe er vorausgesetzt, dass »man sich nur auf endliche Anzahlen beschränke, nur für sie eine Arithmetik aufbaue«.78 Außerdem gelte seine damalige Kritik nur, wenn man sich auf solche endlichen Anzahlen von Fs beschränkt, die man auf einen Blick erfassen kann – Aspekte des Psychologismus-Streits | 81
von denen man (wie er sagt) eine »eigentliche Vorstellung« haben kann. Er sagt:79 In meinem Kapitel über Zahldefinitionen durch Äquivalenz habe ich also entschieden geirrt. Dort hatte ich allerdings mit eigentlichen Zahlvorstellungen zu tun, und für sie bedarf es solcher Definitionen nicht. Ich übersah aber, daß die uneigentlichen Zahl-Vorstellungen ein Klassifikationsprinzip erfordern, das nicht a priori gegeben ist, so dass wir a priori nicht wissen können, ob eine Klassifikation überhaupt möglich ist. Dazu dient nun in vortrefflicher Weise der Äquivalenz-Begriff.
Und in einer berühmten Fußnote in den Prolegomena schreibt Husserl: »Daß ich die prinzipielle Kritik nicht mehr billige, die ich an Freges antipsychologistischer Position in meiner Philosophie der Arithmetik … geübt habe, brauche ich kaum zu sagen.«80
§ 2. Husserl (und Frege) über logische Gesetze An der soeben zitierten Stelle gibt Husserl noch einen weiteren Hinweis, der jetzt für uns sehr wichtig ist: 81 Bei dieser Gelegenheit sei bezüglich der ganzen Diskussionen dieser Prolegomena auf das Vorwort der späteren Schrift Freges, Die Grundgesetze der Arithmetik, I. Bd. Jena 1893, hingewiesen.
In der Tat enthält Freges kurzer Text82 schon vieles von dem, was Husserl auf einer breiten Leinwand darstellt. Wenden wir uns nun also Husserls anti-psychologistischer Konzeption der logischen Gesetze zu. Der 1900 erschienene erste Band der Logischen Untersuchungen, die Prolegomena zur reinen Logik, wurde sehr bald zum Schlüsseltext der deutschsprachigen Psychologismus-Kontroverse. Im Vorwort der Prolegomena berichtet Husserl:83 Die Logischen Untersuchungen, deren Veröffentlichung ich mit diesen Prolegomena beginne, sind aus unabweisbaren Problemen erwachsen, die den Fortgang meiner langjährigen Bemühungen um eine philosophischen Klärung der reinen Mathematik immer wieder gehemmt und schließlich unterbrochen haben … Ich war von der 82 | stefania centrone
herrschenden Überzeugung ausgegangen, daß es die Psychologie sei, von der, wie die Logik überhaupt, so die Logik der deduktiven Wissenschaften ihre philosophische Aufklärung erhoffen müsse. Demgemäß nehmen psychologische Untersuchungen in dem ersten (und allein veröffentlichten) Bande meiner Philosophie der Arithmetik einen sehr breiten Raum ein. Diese psychologische Fundierung wollte mir in gewissen Zusammenhängen nie recht genügen. Wo es sich um die Frage nach dem Ursprung der mathematischen Vorstellungen oder um die in der Tat psychologisch bestimmte Ausgestaltung der praktischen Methoden handelte, schien mir die Leistung der psychologischen Analyse klar und lehrreich. Sowie aber ein Übergang von den psychologischen Zusammenhängen des Denkens zur logischen Einheit des Denkinhaltes … vollzogen wurde, wollte sich keine rechte Kontinuität und Klarheit herausstellen lassen. Um so mehr beunruhigte mich daher auch der prinzipielle Zweifel, wie sich die Objektivität der Mathematik und aller Wissenschaft überhaupt mit einer psychologischen Begründung des Logischen vertrage. Da auf solche Weise meine ganze, von den Überzeugungen der herrschenden Logik getragene Methode – gegebene Wissenschaft durch psychologische Analyse logisch aufzuklären – ins Schwanken geriet, so sah ich mich in immer steigendem Masse zu allgemeinen kritischen Reflexionen über das Wesen der Logik und zumal über das Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objektivität des Erkenntnisinhaltes gedrängt. Von der [herrschenden] Logik überall in Stiche gelassen, wo ich von ihr Aufschlüsse in Beziehung auf die bestimmten Fragen erhoffte, die ich an sie zu stellen hatte, ward ich endlich gezwungen, meine philosophischmathematischen Untersuchungen ganz zurückzustellen, bis es mir gelungen sei, in den Grundfragen der Erkenntnistheorie und in dem kritischen Verständnis der Logik als Wissenschaft zu sicherer Klarheit vorzudringen. … Der Gang meiner Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass ich mich von den Männern [wie Brentano und Stumpf] und Werken, denen meine wissenschaftliche Bildung am meisten verdankt, in den logischen Grundüberzeugungen weit entfernt und mich andererseits einer Reihe von Forschern [wie Bolzano und Frege] beträchtlich genähert habe, deren Schriften nach ihrem Werte zu schätzen ich früher nicht vermocht und die ich daher während meiner Arbeiten nur zu wenig zu Rate gezogen hatte. Aspekte des Psychologismus-Streits | 83
Die Kontroverse über die Natur der logischen Gesetze wird in den Prolegomena im Blick auf die folgenden Entscheidungsfragen dargestellt: i) Ist die Logik eine theoretische oder eine praktische Disziplin? ii) Ist sie eine von der Psychologie unabhängige oder eine von ihr abhängige Wissenschaft? iii) Ist sie eine formale Disziplin oder eine materiale Disziplin? iv) Ist sie eine apriorische und demonstrative oder eine empirische und induktive Wissenschaft? Zwei Parteien werden einander gegenübergestellt: die eine akzeptiert in allen vier Fällen die erste Alternative, die andere unterschreibt jeweils die zweite Alternative.84 Im ersten Teil seiner Antypsychologismus-Schrift (Kap. 1–2) geht Husserl von der Auffassung der Logik als normativer und praktischer Disziplin aus und zeigt, was an dieser Konzeption richtig ist und was verkehrt.85 Moderate Psychologisten, denen zufolge logische Gesetze Normen für das Denken sind, haben immerhin etwas Richtiges gesehen. Im zweiten Teil (Kap. 3–10) präsentiert Husserl die These der radikalen Psychologisten, denen zufolge logische Gesetze Naturgesetze des Denkens sind, und zeigt, dass diese These völlig verfehlt ist. Im dritten Teil (Kap. 11) versucht er, das Gebiet einer reinen Logik, d. h. einer theoretischen, von der Psychologie unabhängigen, formalen und demonstrativen Disziplin zu umgrenzen. Der Tübinger Logiker Christoph von Sigwart (1830–1904) ist in Husserls Augen ein Psychologist, aber er ist ein moderater Psychologist. In seiner 1873 erstmals erschienenen ›Logik‹ schreibt er: »[Die Logik will] nicht eine Physik sondern eine Ethik des Denkens sein … Wir erkennen an, dass ihr dieser normative Charakter wesentlich ist.«86 Im selben Sinne behauptet Wilhelm Wundt (1832–1920) in seiner 1880 erstmals erschienenen ›Logik‹: »Die wissenschaftliche Logik … ist eine normative Wissenschaft, ähnlich der Ethik.«87 Und selbst Frege sagt: »Wie die Ethik kann man auch die Logik eine normative Wissenschaft nennen. Wie muss ich denken, um das Ziel, die Wahrheit zu erreichen?«88 Der alles entscheidende Unterschied ist freilich, dass Frege genauso wenig wie Husserl glaubt, dass diese Klassifikation der Logik ihr Wesen trifft, während genau dies die Überzeugung moderater Psychologisten wie Sigwart und Wundt ist. 84 | stefania centrone
Was kann gemeint sein, wenn man logische Gesetze als Normen aufgefasst wissen will? Betrachten wir ein einfaches Beispiel: Das logische Gesetz, das traditionell als Modus Barbara bezeichnet wird und das bekanntlich den Übergang von ›Alle Menschen sind sterblich‹ und ›Alle Griechen sind Menschen‹ zu ›Alle Griechen sind sterblich‹ legitimiert. Wie ist dieses Gesetz zu verstehen, wenn man es als Norm auffasst? Etwa so: Was auch immer M, S und P für Prädikate sein mögen, wer sowohl MaP als auch SaM als wahr anerkennt, der sollte auch bereit sein, SaP als wahr anzuerkennen. Husserl hat nicht den geringsten Zweifel daran, dass dies eine gültige Norm ist; aber er bezweifelt mit guten Gründen, dass das normative Verständnis eines logischen Gesetzes sein Wesen erfasst.89 Husserl fragt: Warum sollte man, wenn man MaP und SaM als wahr anerkennt, auch bereit sein, SaP als wahr anzuerkennen? Die Antwort lautet: weil die Form der Prämissen und der Konklusion die Übertragung der Wahrheit von den Prämissen auf die Konklusion garantiert. Wer also nicht bereit ist, die Konklusion eines ModusBarbara-Arguments als wahr anzuerkennen, obwohl er dessen Prämissen zu Recht akzeptiert, der verkennt den Zusammenhang zwischen zwei Wahrheiten und einer dritten – er macht also einen theoretischen Fehler. So wie das logische Gesetz Modus-Barbara, so kann jedes logische Gesetz – wie Husserl sagt – »normativ gewendet« werden90, aber seinem Wesen nach ist es ein theoretisches Gesetz, das vom Transfer der Eigenschaft Wahrheit von Prämissen auf Konklusionen handelt. Nun ist aber das Wesen eines logischen Gesetzes noch nicht zureichend erfasst, wenn wir nur sagen: es kann normativ gewendet werden; denn wie Husserl zu Recht sagt, gilt Folgendes: »Jeder beliebige theoretische Satz läßt sich … normativ wenden.«91 Nehmen wir als Beispiel das Naturgesetz, dass alle Metalle sich bei Erwärmung ausdehnen. Auch dieses Gesetz kann normativ gewendet werden: Wer akzeptiert, dass vor ihm ein Stück Metall liegt, der sollte auch bereit sein, als wahr anzuerkennen, dass vor ihm etwas liegt, das sich bei Erwärmung ausdehnt. Aber niemand würde sagen, dass die physikalische Metall-Wahrheit ein logisches Gesetz ist. Nun handelt es sich bei den normativen Wendungen logischer Gesetze um »in ihrer Allgemeinheit über alle bestimmten Wissenschaften hinausgreifende Normen«.92 Kann man dem Rechnung Aspekte des Psychologismus-Streits | 85
tragen, wenn man logische Gesetze als Naturgesetze des Denkens im Allgemeinen und des Schließens im Besonderen konzipiert? Das ist jedenfalls die Auffassung der radikalen Psychologisten: Das theoretische Fundament der normativen Gesetze wird in einer sich als Naturwissenschaft verstehenden Kognitionspsychologie gelegt. So behauptet z. B. der Psychologe und Philosoph Theodor Lipps: »[Logische Gesetze] sind identisch mit den Naturgesetzen des Denkens selbst. Die Logik ist … Physik des Denkens oder sie ist überhaupt nichts.« 93 Wenn das richtig wäre, so wären logische Gesetze empirische Gesetze, und die Logik wäre eine induktive Wissenschaft. Im zweiten Teil der Prolegomena zeigt Husserl, dass diese Konzeption der logischen Gesetze abwegig ist. Wie können logische Gesetze deskriptive Gesetze des Denkens sein? Solche Gesetze besagen doch, dass (wie unsere bisherige Erfahrung gelehrt hat) psychische Phänomene der Sorte X unter normalen Umständen von solchen der Sorte Y begleitet werden oder auf sie folgen. Aber – so wendet Husserl ein –:94 Die Gesetze der Syllogistik … sind von absoluter Exaktheit; jede Interpretation, die ihnen empirische Unbestimmtheiten unterlegen, ihre Geltung von vagen »Umständen« abhängig machen wollte, würde ihren wahren Sinn von Grund aus ändern. Sie sind offenbar echte Gesetze und nicht »bloß empirische«, d. h. ungefähre Regeln.
Würde der radikale Psychologist nun behaupten, dass es sich um exakte Naturgesetze handelt, die frei von der Klausel »unter normalen Umständen« sind, so würde Husserl ihm entgegenhalten, dass auch ein exaktes Naturgesetz ein Gesetz ist, bei dem es keineswegs a priori ausgeschlossen ist, dass es zu ihm ein Gegenbeispiel gibt. Dass Modus Barbara-Gesetz besagt aber nicht: Was auch immer M, S und P für Prädikate sein mögen, wenn MaP und SaM wahr sind, dann ist de facto immer auch SaP wahr; sondern: Was auch immer M, S und P für Prädikate sein mögen, wenn MaP und SaM wahr sind, dann ist es absolut unmöglich, dass nicht auch SaP wahr ist. Noch einen Irrtum wirft Husserl dem radikalen Psychologisten vor: die Verwechselung gewisser Urteilsakte mit den logischen Gesetzen, die ihre Gehalte sind: Im Unterschied zu Urteilsakten sind logische Gesetze »unzeitlich« und »ideal«95, also weder Ursache noch Wirkung von irgendetwas. Obwohl sie in Urteilsakten instan86 | stefania centrone
tiiert sein können, sind sie unabhängig sowohl von diesem oder jenem Urteilsakt als auch davon, dass überhaupt Urteilsakte stattfinden; m. a.W. sie sind sowohl individuell als auch generisch von Urteilsakten unabhängig: 96 [Die radikalen Psychologisten verwechseln] die logischen Gesetze mit den Urteilen, im Sinne von Urteilsakten, in denen sie möglicherweise erkannt werden, also die Gesetze als »Urteilsinhalte« mit den Urteilen selbst. Die letzteren sind reale Vorkommnisse, die ihre Ursachen und Wirkungen haben.97 Kein logisches Gesetz impliziert … die Existenz von Vorstellungen oder Urteilen oder sonstigen Erkenntnisphänomenen.
Der Fehler entsteht dadurch, dass die Sukzession realer Urteilsakte in Akten des Schließens sehr oft der Anordnung ihrer idealen Gehalte als Prämissen und Konklusionen in logisch gültigen, idealen Schlüssen entspricht. Die realen Akte des Schließens sind dann »konkrete Einzelfälle«98 eines allgemeinen logischen Gesetzes. Wenn unsere Akte des Schließens von diesen vorgeschriebenen Bahnen abweichen, so müssen wir zugeben, dass wir widerlogisch argumentiert haben. Wie die propositionalen Gehalte der Urteilsakte, so sind auch ihre Bestandteile, die Begriffe, von idealer Natur. Ein Begriff vervielfältigt sich nicht mit der Anzahl der Subjekte, die ihn denken, oder gar mit der Anzahl der verschiedenen kognitiven Akte, wodurch er aufgefasst wird. Zwei Begriffe können niemals vollkommen gleich sein, aber ein und derselbe Begriff kann zum Gehalt vieler kognitiver Akte gehören. Husserl zitiert Herbart:99 Unsere sämtlichen Gedanken lassen sich von zwei Seiten betrachten; teils als Tätigkeiten unseres Geistes, teils in Hinsicht dessen, was durch sie gedacht wird. In letzterer Beziehung heißen sie Begriffe, welches Wort, in dem es das Begriffene bezeichnet, zu abstrahieren gebietet von der Art und Weise, wie wir den Gedanken empfangen, produzieren und reproduzieren mögen.
Aus diesen kritischen Überlegungen ergibt sich, dass die normative Logik nicht der Psychologie des Denkens ihre theoretischen Grundlagen verdankt. Wie ist nun die Wissenschaft zu charakterisieren, die in Wahrheit ihr Fundament ist? Husserl charakterisiert am Ende Aspekte des Psychologismus-Streits | 87
der Prolegomena »[das Gebiet] einer ›reinen Logik‹ als einer theoretischen, von aller Empirie, also auch Psychologie unabhängigen Wissenschaft, welche [eine normative und eine angewandte Logik als Kunstlehre des Erkennens] allererst ermöglicht«.100 Er geht von der These aus, dass die reine Logik insofern ein Fundament für alle anderen Wissenschaften ist, als sie Bedingungen angibt, die jede Theorie erfüllen muss. Was ist eine Theorie? Nach Husserls (von Bolzano inspirierter) Auffassung ist eine Theorie idealiter eine Menge von wahren Propositionen, die in einer objektiven GrundFolge-Beziehung zueinander stehen. Husserl spricht von drei verschiedenen Aufgaben der reinen Logik und demzufolge von einer dreifachen Schichtung derselben. Die unterste Ebene der reinen Logik ist die logische Morphologie oder logische Grammatik. Propositionen sind letztlich aus Begriffen aufgebaut. Propositionen werden ausgedrückt durch Aussagesätze und Begriffe durch Bestandteile von Sätzen, die nicht selbst Sätze sind. Nicht jede Kombination von Wörtern und Phrasen ist ein wohlgeformter Satz, und nicht jede Kombination von Sätzen ist ein wohlgeformtes Satzgefüge. Sinnvolle Zeichen werden in der logischen Morphologie unter Bedeutungskategorien wie Name, Prädikat (verschiedener Stelligkeit), Junktor und Satz subsumiert. Auf dieser untersten Ebene der reinen Logik werden Minimalbedingungen der Sinnhaftigkeit angegeben – Bedingungen, die in jeder möglichen Sprache respektiert werden müssen. Über diese Ebene sagt Husserl in der IV. Logischen Untersuchung:101 Die apriorischen Gesetze, welche zur Konstitution der wesentlichen Bedeutungsformen gehören, … haben … die … Funktion, Sinn von Unsinn zu scheiden. Das Wort Unsinn ist hierbei … eigentlich und streng zu nehmen; ein Worthaufen, wie König aber oder ähnlich und, ist einheitlich überhaupt nicht zu verstehen; jedes Wort für sich hat einen Sinn, nicht aber die Komposition.
Dass mit dem Namen »reine Logik« ein Gebiet von Wahrheiten gekennzeichnet ist, die in jeder Wissenschaft vorausgesetzt werden, heißt für Husserl also zunächst, dass jede Wissenschaft, die diesen Namen verdient, selbstverständlich sprachliche Gebilde vermeiden muss, die nicht wohlgeformt sind und deshalb keine Propositionen ausdrücken. 88 | stefania centrone
Die zweite Aufgabe der reinen Logik besteht darin, die Gesetze des »zu vermeidenden Widersinnes«102 festzustellen. Zu dieser Ebene gehören alle logischen Gesetze – also z. B. der Satz des Widerspruchs, Modus Barbara usw. Auch diese Gesetze werden in allen Wissenschaften vorausgesetzt. Jede Wissenschaft muss sich davor hüten, Sätze der Form p und nicht-p oder solche der Form MaP, SaM, aber nicht SaP als wahr hinzustellen, denn sie drücken zwar nichts Unsinniges aus, aber – so Husserls Terminus – etwas Widersinniges. Er schreibt:103 Die Einstimmigkeit, bzw. Widersinnigkeit von Bedeutungen besagt objektive und dabei apriorische Möglichkeit (Einstimmigkeit, Verträglichkeit) gegenüber der objektiven Unmöglichkeit (Unverträglichkeit), mit andern Worten, sie besagt Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Seins von bedeuteten Gegenständen [oder des Bestehens von dargestellten Sachverhalten], sofern sie durch das eigene Wesen der Bedeutungen bedingt und somit aus diesem in apodiktischer Evidenz einsehbar ist.
Auf dieser Ebene werden also sinnvolle Phrasen wie ›Figur, die rund und nicht rund ist‹ ausgeschlossen, weil ihnen kein Gegenstand entsprechen kann, und sinnvolle Sätze wie ›Das Dreieck ABC ist gleichseitig und ungleichseitig‹, weil ihnen kein bestehender Sachverhalt (keine Tatsache) entsprechen kann. Phrasen, die nicht widersinnig sind, können natürlich de facto gegenstandslos sein, und widerspruchsfreien Sätzen braucht natürlich keine Tatsache zu entsprechen. Die dritte Aufgabe der reinen Logik besteht darin, die Bedingungen anzugeben, denen Mengen von Propositionen genügen müssen, um deduktive Theorien zu sein. Auf dieser obersten Ebene leistet die reine Logik also einen Beitrag zur allgemeinen Wissenschaftstheorie. Die basale Ebene der reinen Logik ist also nach Husserl eine logische Morphologie, die »da[s] ideale Wesen aller Sprache[n] als solcher«104 darzustellen hat. Auf ihr ruht eine Theorie der logischen Gesetze, die Husserl später auch Konsequenzlogik105 nennt, und auf dieser ruht wiederum eine Theorie der deduktiven Theorien. Diesen drei Ebenen entsprechen – darauf kann ich hier abschließend nur mehr oder weniger änigmatisch hinweisen – drei Ebenen Aspekte des Psychologismus-Streits | 89
dessen, was Husserl »formale Ontologie« nennt106: Den Bedeutungskategorien der logischen Morphologie entsprechen ontologische Kategorien wie Gegenstand, Einheit, Vielheit, Beziehung und Sachverhalt, der Theorie der logischen Gesetze entspricht ontologisch die abstrakte formale Mathematik, und der Theorie der deduktiven Theorien schließlich entspricht ontologisch eine abstrakte Strukturtheorie, die Theorie der Mannigfaltigkeiten überhaupt. Die logischen Psychologisten pflegten auf die in der Tradition von Leibniz stehende Mathematisierung der Logik bei Boole und Schröder wie auf den Aufbau einer »der arithmetischen nachgebildeten Formelsprache des reinen Denkens«107 bei Frege mit Geringschätzung herabzusehen. Dagegen verwahrt sich Husserl leidenschaftlich: 108 Nicht der Mathematiker, sondern der Philosoph überschreitet seine natürliche Rechtssphäre, wenn er sich gegen die »mathematisierenden« Theorien der Logik wehrt und seine vorläufigen Pflegekinder nicht ihren natürlichen Eltern übergeben will. Die Geringschätzung, mit welcher die philosophischen Logiker über die mathematischen Theorien der Schlüsse zu sprechen lieben, ändert nichts daran, daß die mathematische Form der Behandlung bei diesen, wie bei allen streng entwickelten Theorien … die einzig wissenschaftliche ist, die einzige, welche systematische Geschlossenheit und Vollendung, welche Übersicht über alle möglichen Fragen und die möglichen Formen ihrer Lösung bietet.
Dazu passt Husserls Hymne auf den Stammvater des logischen Objektivismus: 109 [A]uf Bolzanos Werk muß sich die Logik als Wissenschaft aufbauen, aus ihm muß sie lernen, was hier nottut: mathematische Schärfe der Unterscheidungen, mathematische Exaktheit in den Theorien. Sie wird dann auch einen anderen Standpunkt für die Schätzung der »mathematisierenden« Theorien der Logik gewinnen, welche die Mathematiker, um die philosophische Mißachtung unbekümmert, so erfolgreich aufbauen.
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Anmerkungen
Vgl. Casari 1997, 533. Friedrich Eduard Beneke (1798–1854) erhielt 1832 nach Hegels Tod eine außerordentliche Professur der Philosophie in Berlin. Seine wichtigsten Werken sind das Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft (1833) und sein System der Logik als Kunstlehre des Denkens (1842). 3 Erdmann 4 1896, 670–671. 4 Frege 1885, 329. Vgl. Künne 2010, 347 Anm. 5 FTL 136 (Die im Haupttext und in den Fußnoten gebrauchten Siglen werden in der Bibliographie aufgeschlüsselt.) 6 Vgl. Casari 1997, 533 f. 7 GL 99. 8 PdA 6. 9 Proleg viii. Das Goethe-Zitat stammt aus der ›Campagne in Frankreich 1792‹, in: Sämtliche Werke, München 1986, Bd. 14, 470. 10 Vgl. Künnes Aufsatz ›Edmund Husserl: Leben, Werk und Wirkung‹ in diesem Sammelband. 11 Vgl. Casari 1993, 37; Centrone 2010, 6 ff. 12 Zitiert in GL 39 Fussnote 7, auch Buch VII der Elemente, Def. 2. 13 PdA 97. 14 PdA 119–120. 15 GL 27. 16 PdA 119. 17 In der PdA gebraucht Husserl die Ausdrücke: »Vielheit«, »Mehrheit«, »Inbegriff«, »Aggregat«, »Sammlung«, »Menge« wesentlich als gleichbedeutend (PdA 14). 18 PdA 15. 19 PdA 155. 20 Vgl. Cantor 1887–88, 380 und 1883, 204. 21 PdA 64–76. 22 Vgl. etwa PdA 80–81. 23 PdA 154. 24 Vgl. Bolzano, WL I, 288–289. 25 PdA 130. 26 In: Cantor 1966, 477. 27 Cantor 1887–88, 379. 28 In der Anfangsphase seiner Reflexionen scheint Cantor an eine Defi nition der Anzahl durch gegenseitig-eindeutige Zuordnung zu denken. In seiner Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre schreibt er: »Jeder wohldefi nirten Menge kommt … eine bestimmte Mächtigkeit [lies: Anzahl] zu, wobei zwei Mengen dieselbe Mächtigkeit zugeschrieben wird, wenn sie sich gegenseitig eindeutig, Element für Element, einander zuordnen lassen« 1 2
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(Cantor 1883, 167), aber schon in seinem Schreiben an Lasswitz vom 15. Febr. 1884 heißt es: »Unter Mächtigkeit oder Kardinalzahl einer Menge M (die aus wohlunterschiedenen, begriffl ich getrennten Elementen m, m’, … besteht und insofern bestimmt und abgegrenzt ist) verstehe ich den Allgemeinbegriff oder Gattungsbegriff (universale), welchen man erhält, indem man bei der Menge sowohl von der Beschaffenheiten ihrer Elemente, wie auch von allen Beziehungen, welche die Elemente, sei es unter einander, sei es zu anderen Dingen haben, also im besondern auch von der Ordnung, welche unter den Elementen herrschen mag, abstrahiert und nur auf das reflektiert, was allen Mengen gemeinsam ist, die mit M äquivalent sind« (Cantor 1887–88, 387). Vielleicht wurde Cantors Sinnesänderung in Beziehung auf die Defi nition der Anzahl vom frühen Husserl beeinflusst: Casari 1993, 41; Centrone 2010, 20 f. 29 Fine 1998, 600. 30 Dass dies auch die Auffassung Husserls ist, habe ich hinzugefügt. Was Kit Fine betrachtet, sind die verwandten Konzeptionen der Entstehung einer Menge durch Abstraktion bei Cantor und bei Dedekind. 31 Fine 1985. 32 Rez 181. 33 Frege spielt hier auf Schillers Drama Wallensteins Tod (II,2) an: »Leicht beieinander wohnen die Gedanken, / Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.« (Diesen Hinweis verdanke ich Wolfgang Künne.) 34 GL vi. 35 GL vi; 33–36. 36 Rez. 181. 37 GL 32. 38 Frege gebraucht das Wort »Vorstellung« nur im subjektiven Sinne: vgl. GL v–vi, x, 37 (Anm.), 70 (Anm.) 72; SuB 29–31. 39 GL 37. 40 GL 37–38. 41 GL 35. 42 GL 34. 43 GL 38 f. 44 GL 44 f. 45 GL 45. 46 Überschrift von GL, § 46. 47 GL 59. 48 GL 61. 49 PdA 130–131. 50 PdA 131–132. 51 GL 80 Anm. 52 GL 59. 53 GL 67–68. 54 GL 69. 92 | stefania centrone
GL 73. Vgl. Künne 2010, 323 ff. 57 GL 73. 58 GL 73. 59 Jedem Begriff (also auch den singulären und leeren Begriffen) entspricht ein wohlbestimmter Gegenstand, nämlich sein Umfang. Hier springt der Unterschied zu der Bolzano-Husserl-Konzeption des Umfangs ins Auge. Der berüchtigte Grundsatz V. in den GG impliziert, dass der Umfang des Begriffs X genau dann identisch mit dem Umfang des Begriffs Y ist, wenn alles und nur das, was unter X fällt, auch unter Y fällt. Dieser Grundsatz wird von ihm verwendet, um das Hume-Cantor-Prinzip im System der GG zu beweisen. Er ist für das von Russell beobachtete Auft reten einer Kontradiktion in diesem System verantwortlich. 60 GL 78 ff. 61 GL 85. 62 PdA 105. Vgl. hierzu Centrone 2010, 13–19. 63 GL 81–82. 64 Rez 183. 65 PdA 116. 66 Frege: »Zahlangabe« (GL 58). 67 PdA 99. 68 PdA 124. 69 Rez 183. Die folgenden Ausführungen über die Konstellation HusserlFrege-Dummett-Moore verdanken Hinweisen von Wolfgang Künne Entscheidendes. 70 Frege hat hier vergessen, die Belegstelle anzuführen. Diese Phrase kommt in PdA nur einmal vor, auf S. 138, aber in einem ganz anderen Zusammenhang. Frege muss eine Bemerkung Husserls über die Defi nition der Gleichzahligkeit bei Stolz im Sinn haben: »Der Zirkel liegt … zutage« (PdA 99). 71 Dummett 1987, 24. 72 Op. cit. 24–25. Dummett spielt hier auf Freges Konzept einer Defi nition an, die nicht stipulativ, nicht »aufbauend«, sondern »zerlegend« ist: Frege, NS 226–227. 73 Rez 183–184; meine Hervorhebungen. 74 Dummett 1987, 25 75 Langford 1942, 323. 76 Frege 1976, 234–235. 77 PdA 122. 78 PdA 399. In diesem Manuskript, das den Titel Zur Lehre vom Inbegriff trägt (PdA 385–487), versucht Husserl, seine eigene Defi nition der natürlichen Zahlen anzugeben. Wie naiv dieser Versuch im Vergleich zu dem Frege’schen ist, zeigt Centrone 2010, 91–97. 79 PdA 403. 55
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Proleg 169. Proleg 169. 82 Wiederabgedruckt und kommentiert in Künne 2010. 83 Proleg v–viii (meine Hervorhebungen). 84 Proleg 7–8. 85 Vgl. hierzu Philipse 1987, 13–14. 86 Sigwart 1873, 20. 87 Wundt 1880, 1. 88 Frege, NS 139. 89 Vgl. Philipse 1987, 14, 19. 90 Proleg 48. 91 Proleg 159. 92 Proleg 159. 93 Lipps 1880, 531. 94 Proleg 62. 95 Proleg 167–180, 216. 96 Proleg 69. 97 Proleg 66. 98 Proleg, 66. 99 Herbart 1813 § 43, 77; zitiert in Proleg, 216. Dieselbe Stelle zitiert Bolzano in: WL I, 227. 100 Proleg 211; vgl. 30–31 und Philipse 1987, 19–21. 101 LU IV 334. 102 LU IV, 333 (Überschrift). Vgl. Centrone 2010, 114–118. 103 LU IV 334. 104 LU IV 340. 105 FTL 46 f. 106 Proleg 242–252. 107 So der Untertitel von Freges epochemachender Begriffsschrift (1879). 108 Proleg 253. 109 Proleg 226–227. 80 81
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Bibliographie
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III. Schriften anderer Autoren Bolzano, Bernard: Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtentheils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bishe-
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– Wolfgang Künne –
Intentionalität: Bolzano und Husserl
»Der Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt, heißt Intentionalität.« Da es der Vater der Phänomenologie ist, der dies behauptet,1 können wir uns wohl darauf verlassen. In diesem Aufsatz versuche ich, Edmund Husserls (ursprüngliche) Theorie der Intentionalität vor dem Hintergrund einer ihrer wichtigsten Inspirationsquellen, Bernard Bolzanos Theorie der »Sätze und Vorstellungen an sich«, zu rekonstruieren und in einem Punkt zu korrigieren. Im ersten Teil des Aufsatzes erörtere ich das Problem (zumindest prima facie) gegenstandsloser intentionaler Akte und Zustände, das im Zentrum von Husserls Metakritik an Twardowskis BolzanoKritik stand. Thema des zweiten Teils dieses Aufsatzes ist Husserls ursprüngliche Auffassung des ontologischen Status der Gehalte intentionaler Akte und Zustände, mit der er (für eine Weile) auf Distanz zu Bolzano ging.
Einleitung Im Jahre 1911 beantwortete der Mähre Husserl eine Anfrage über den Böhmen Bolzano. Der österreichische Historiker und Publizist Heinrich Friedjung beabsichtigte damals, in seinem nächsten Buch Bernard Bolzanos Verdienste zu würdigen, und er hatte sich deshalb an den Göttinger Professor gewandt. Dieser reagierte hoch erfreut:2 Das hat der große Mann redlich verdient. Seine Wissenschaftslehre von 1837 giebt ihm einen ganz einzigen Rang in der logischen Weltliteratur des 19. Jahrhunderts. Kein logisches Werk dieser Epoche reicht an Originalität und wissenschaftlicher Strenge auch nur von Ferne an die ersten beiden Bände der Wissenschaftslehre heran. Bis in die 90er Jahre (als ich es für mich und damit für die Zeitgenossen entdeckte) ist es völlig wirkungslos geblieben. | 97
Husserl variiert hier das noch emphatischere Lob, das er der Wissenschaftslehre im Jahre 1900 in den Prolegomena zur reinen Logik, dem wirkungsmächtigen ersten Band seiner Logischen Untersuchungen, gespendet hatte: »ein Werk, das … alles weit zurückläßt, was die Weltliteratur an systematischen Entwürfen der Logik darbietet«.3 Aus der logischen Weltliteratur wird elf Jahre später die des 19. Jahrhunderts, aber immerhin … Diese Elogen zeigen, dass Husserl einer der wenigen Philosophen ist, die Bolzanos Rang erkannt haben – sie zeigen aber leider auch, dass er die epochale Bedeutung der ihm bekannten Begriffsschrift (1879) Gottlob Freges überhaupt nicht bemerkt hat. Noch etwas ist kritikbedürftig an Husserls Bemerkung: das Eigenlob, das sie enthält. Zwei andere Brentano-Schüler hatten nämlich vor ihm die Bedeutung der Wissenschaftslehre »für die Zeitgenossen entdeckt«, und das wusste Husserl auch. Der Erste war Benno Kerry, der sich in einer 1885–91 erschienenen, langen Artikel-Serie immer wieder nachdrücklich auf die Wissenschaftslehre berufen hatte.4 Husserl hatte sich mit den Überlegungen, die Kerry in dieser Abhandlung zum Begriff der Anzahl angestellt hatte, 1891 in seiner Philosophie der Arithmetik auseinandergesetzt. Der zweite war Brentanos polnischer Schüler Kasimir Twardowski, der von seiner 1894 in Wien erschienenen Habilitationsschrift Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen in einer »Selbstdarstellung« sagen konnte:5 Ich war bemüht, dieselbe im Geiste Franz Brentanos und – Bernard Bolzanos zu schreiben, dessen »Wissenschaftslehre« ich eifrigst studierte, seit mich Kerrys Abhandlung »Über Anschauung und ihre psychische Verarbeitung« hierzu angeregt hatte.
Mit Twardowskis Buch hat sich Husserl schon im Jahr seines Erscheinens auseinandergesetzt – in einem langen Manuskript mit dem Titel »Intentionale Gegenstände«.6 Zwei Jahre später schrieb er eine Rezension.7 Den Mathematiker Bolzano, den Autor der Paradoxien des Unendlichen,8 kannte Husserl natürlich unabhängig von Kerry und Twardowski. In seinem »Entwurf einer ›Vorrede‹ zu den Logischen Untersuchungen« schreibt er:9 Auf Bolzano als Mathematiker wurde ich (als Schüler von Weier98 | wolfgang künne
straß) durch eine Abhandlung von Stolz in den Mathematischen Annalen und vor allem durch eine Auseinandersetzung Brentanos (in seinen Vorlesungen) mit den ›Paradoxien des Unendlichen‹ und durch G. Cantor aufmerksam. Danach unterließ ich es nicht, mir die längstvergessene Wissenschaftslehre von 1837 durchzusehen und mit Hilfe ihres reichhaltigen Index gelegentlich zu benützen. Seine originellen Gedanken über Vorstellungen, Sätze, Wahrheiten ›an sich‹ missdeutete ich aber als metaphysische Abstrusitäten.
Machen wir uns in Umrissen klar, worum es sich bei den »an sich«Entitäten handelt, die das Thema der »originellen Gedanken« Bolzanos sind. Äußert man mit behauptender Kraft und aufrichtig den Satz ›Der Ätna ist ein Vulkan‹, so tut man einen Akt des Urteilens kund. Dieser Akt hat einen Gehalt oder »Stoff«, den die Äußerung ausdrückt, nämlich den »Satz an sich«, dass der Ätna ein Vulkan ist. Ich bezeichne Bolzanos »Sätze an sich« in diesem Aufsatz als Propositionen. (»Wahrheiten an sich« sind wahre Propositionen.) Wer jenen Urteilsakt vollzieht, der denkt an einen Berg, dem er eine Beschaffenheit zuschreibt (zu-denkt), und an die Beschaffenheit, die er ihm zuschreibt. Diese Akte bezeichnet Bolzano als »subjective Vorstellungen« oder »gehabte Vorstellungen«. Auch Akte des Denkens an einen Gegenstand haben einen Gehalt oder »Stoff«. Bolzano bezeichnet diese sub-propositionalen Gehalte, die durch nicht-satzförmige Teile einer Satzäußerung ausgedrückt werden, als »Vorstellungen an sich« oder »objective Vorstellungen«, – ich nenne sie in diesem Aufsatz Concepte. (Die verfremdende Schreibweise möge die Erinnerung an die hier intendierte Verwendungsweise wachhalten.) Propositionen sind demnach strukturierte Entitäten:10 Es däucht mir … unwidersprechlich, daß jeder auch noch so einfache Satz [sc. an sich] aus gewissen Theilen zusammengesetzt sey; daß sich nicht etwa … nur in dem wörtlichen Ausdrucke eines Satzes [sc. an sich] erst gewisse Theile … hervorthun, sondern daß diese Theile schon in dem Satze an sich enthalten sind.
Propositionen sind wahrheitswertfähige Zusammensetzungen von Concepten. In der Theorie der Intentionalität, die Husserl in den Logischen Untersuchungen vorgelegt hat, spielen Propositionen und Concepte Intentionalität: Bolzano und Husserl | 99
unter den Titeln »Materie« (Husserls Latinisierung von Bolzanos »Stoff«) bzw. »Auffassungssinn« eines »intentionalen Erlebnisses« eine systematisch prominente Rolle.11 Ich ziehe es vor, statt von intentionalen »Erlebnissen« von intentionalen Akten oder Zuständen zu sprechen.12 Ein solcher Akt oder Zustand ist genau dann »nominal«, wenn er (in unserer Sprache) nur mit einem Satz der Form ›x ϕt …‹ zuschreibbar ist, in dem auf das Verbum ›ϕ‹ eine Nominalphrase, ein Nomen oder ein Pronomen folgt (›Ben liebt viele Frauen / eine Frau / seine Frau / Anna / dich / sich‹), und er ist genau dann »propositional«, wenn er einem Subjekt mit einem Satz der Form ›x ϕt, dass p‹ zugeschrieben werden kann.13 Das Verbum in der ϕ-Position der Zuschreibungen beider Arten gibt die »Qualität«, den psychischen Modus des intentionalen Aktes oder Zustandes an.14 In Husserls Lexikon der verschiedenen Verwendungsweisen der Wörter ›Vorstellung‹ und ›vorstellen‹ innerhalb und außerhalb der Philosophie erscheint das, was Bolzano als subjektive Vorstellung bezeichnet, unter dem Titel »nominaler Akt«.15 Urteilsakte (Meinungen) sind paradigmatische propositionale Akte (Zustände).16 Im Mittelpunkt von Twardowskis Abhandlung steht Bolzanos Unterscheidung zwischen dem (nominalen intentionalen) Akt des Vorstellens, seinem Inhalt und seinem Gegenstand. Er schreibt:17 Bolzano hat mit grosser Consequenz an diesem Unterschiede festgehalten … Bolzano gebraucht statt des Ausdruckes »Inhalt einer Vorstellung« die Bezeichnung »objective« Vorstellung, »Vorstellung an sich« und unterscheidet von ihr einerseits den Gegenstand, andererseits die »gehabte« oder »subjective« Vorstellung, worunter er den Act des Vorstellens versteht.
Das ist korrekt, abgesehen von einer kleinen terminologischen Disharmonie. Bolzano selber verwendet den Ausdruck ›Inhalt‹ anders, nämlich so, dass gilt: Denkt Herr A an Anna als die dumme Tochter seiner intelligenten Schwester, während Herr B an Berta als die intelligente Tochter seiner dummen Schwester denkt, so vollziehen sie Vorstellungsakte mit demselben Inhalt, aber verschiedenem Stoff.18 Der Bolzano’sche Inhalt eines Akts besteht aus denselben Komponenten wie sein Stoff; aber der Inhalt ist im Unterschied zum Stoff indifferent gegenüber der Art der Komposition, – er kann durch 100 | wolfgang künne
eine Liste vollständig spezifiziert werden. Twardowski will mit dem Wort ›Inhalt‹ wiedergeben, was Bolzano mit ›Stoff‹ meint.19 Zwei Akte des Vorstellens, die denselben Gegenstandsbezug haben, können sich in ihrem Stoff unterscheiden. Wer an Sokrates als den bedeutendsten Lehrer Platons denkt, denkt anders an ihn als jemand, der an Sokrates als den Mann Xanthippes denkt: die Concepte [der bedeutendste Lehrer Platons] und [der Mann Xanthippes], die durch die Terme zwischen den eckigen Klammern ausgedrückt werden, sind verschieden, aber unter sie fällt ein und derselbe Gegenstand. Wenn man an die Zahl 16 als vierte Potenz von 2 denkt, so denkt man anders an diese Zahl, als wenn man an sie als Quadrat von 4 denkt: die Concepte [24] und [42] sind nicht nur umfangs-, sondern auch inhaltsgleich, aber sie sind verschieden.20 All das akzeptiert Twardowski der Sache nach – genau wie Husserl es tut. Die Unterscheidung zwischen propositionalen und nominalen intentionalen Akten und Zuständen widerspricht einem unter analytischen Philosophen weit verbreiteten Vorurteil. Man findet es beispielsweise bei John Perry, wenn er die intentionalen »mental states and activities«, die er allesamt als »attitudes« bezeichnet, folgendermaßen charakterisiert: »the attitudes … involve relations to the propositions at which they are directed«.21 An dieser Charakterisierung der Intentionalität ist zweierlei sehr fragwürdig: [1.] Sind Urteilsakte und Meinungen auf Propositionen gerichtet? Bolzano würde das nicht akzeptieren, und Husserl würde es definitiv bestreiten. Wenn Anna urteilt, dass der Ätna ein Vulkan ist, dann ist die Proposition, dass der Ätna ein Vulkan ist, der Stoff oder die Materie ihres Urteilsaktes. Gefragt, worauf dieser Urteilsakt gerichtet ist, würde Bolzano wohl antworten: auf den Gegenstand, von dem diese Proposition handelt. Husserl fände diese Antwort nicht falsch, aber unvollständig. (Ich werde auf diesen Dissens am Ende dieses Paragraphen zurückkommen.) Einig sind sich beide darüber, dass eine Proposition auch Gegenstand eines Urteilsaktes sein kann: das ist bspw. dann der Fall, wenn Anna urteilt, dass die Wahrheit, dass der Ätna ein Vulkan ist, allseits bekannt ist. Aber auch in einem solchen Fall ist der Gehalt des Urteilsaktes nicht mit der Proposition identisch, die sein Gegenstand ist. [2.] Sind wirklich alle intentionalen Akte und Zustände propositional, also Intentionalität: Bolzano und Husserl | 101
im Stil von ›x ϕt, dass p‹ zuschreibbar? Offenkundig haben nicht alle Zuschreibungen solcher Akte und Zustände dieses Format, aber manchmal können sie leicht in dieses Format gebracht werden. So können wir ›Schliemann wollte Troja finden‹ (›Anna bezweifelt die Reduzierbarkeit der Arithmetik auf die Logik‹) durch ›Schliemann wollte, dass er Troja findet‹ (›Anna bezweifelt, dass Arithmetik auf Logik reduzierbar ist‹) paraphrasieren. Aber kann man auch Sätze wie ›Schliemann dachte an Troja‹ (›Anna liebt / hasst / hat Furcht vor / hat Mitleid mit Ben‹) als Zuschreibungen von »propositional attitudes« paraphrasieren? Quine tendiert zu vorsichtigem Optimismus: »perhaps they can with some torturing.«22 (Wie man die gerade erwähnten Sätze für das propositionale Prokrustes-Bett strecken kann, verrät er uns nicht.) Dummett ist ebenfalls geneigt zu glauben, dass alle widerspenstigen Fälle propositional gezähmt werden können, aber er gibt offen zu: »this is no more than a hope«.23 Bolzano und die Schüler Brentanos sehen keinen Grund für diese Hoffnung, und ich stimme ihnen zu. Wer eine Person liebt oder hasst, wer Furcht vor ihr oder Mitleid mit ihr hat, der befindet sich in einem intentionalen Zustand, dessen Gehalt nicht als wahr oder falsch eingestuft werden kann, der also nicht propositional ist.24 Und die Akte des Denkens an einen Gegenstand, die unter Bolzanos Begriff einer subjektiven Vorstellung fallen, sind ebenfalls keine propositionalen Akte.
§ 1. Gegenstandslose intentionale Akte und Zustände Ein fundamentales Problem für jede Theorie der Intentionalität lauert dicht unter der Oberfläche von Selbstverständlichkeiten des Typs ›Denken ist immer: etwas denken‹: Nicht immer scheint es einen Gegenstand zu geben, auf den das Denken ›gerichtet‹ ist.25 Das scheint nur so zu sein, finden Twardowski und Meinong. Der Schein trügt nicht, glauben Bolzano und Husserl. Angenommen, die Helden dieses Aufsatzes haben damit Recht: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unsere Konzeption der Intentionalität nominaler und propositionaler Akte und Zustände? Mit singulären Termen wie (a) und (b) können subjektive Vorstellungen kundgegeben (und Concepte ausgedrückt) werden: 102 | wolfgang künne
(a) das geflügelte Pferd Bellerophons (b) das runde Quadrat auf dieser Tafel. Haben diese subjektiven Vorstellungen (und damit auch die Concepte, die ihr Stoff, ihre Materie sind) einen Gegenstand? Bolzanos Antwort ist ein emphatisches Nein:26 So wahr es ist, daß die meisten Vorstellungen … Gegenstände haben: so behaupte ich, daß es doch auch Vorstellungen gebe, welche ich oben [WL I, 220] gegenstandlos genannt, d. h. welche gar keinen Gegenstand, und somit auch gar keinen Umfang haben.[27] … Wenn Jemand … ungereimt finden will, zu behaupten, daß eine Vorstellung gar keinen Gegenstand haben, und also nichts vorstellen soll: so kommt dieß wohl nur daher, weil er unter Vorstellungen … Gedanken[28] versteht, und den Stoff, den diese haben (die Vorstellung an sich), für ihren Gegenstand ansieht … Bei [Beispielen wie (b)] leuchtet es übrigens gleich von selbst ein, daß ihnen kein Gegenstand entsprechen könne, weil sie demselben [?] Beschaffenheiten beilegen, welche einander widersprechen. Allein es dürfte auch Vorstellungen geben, die nicht eben, weil sie ihrem Gegenstande [?] widersprechende Bestimmungen beilegen, sondern aus irgendeinem anderen Grunde gegenstandlos sind. So sind [Vorstellungen wie (a)] ohne Gegenstand, obgleich sie eben nichts Widersprechendes enthalten.
(Die Einfügung der beiden Fragezeichen werde ich später motivieren.) Twardowski bekennt sich dazu, einer von denen zu sein, die es »ungereimt finden« zu behaupten, dass manche Vorstellungen keinen Gegenstand haben, und mit seinem Einspruch bereitet er den Boden für die Theorie eines anderen Brentano-Schülers, für Alexius v. Meinongs ›Gegenstandstheorie‹:29 [Es wird] durch jede Vorstellung ein Gegenstand vorgestellt, mag er existieren oder nicht, ebenso wie jeder Name einen Gegenstand nennt, ohne Rücksicht darauf, ob dieser existiert oder nicht. War man also auch im Recht, wenn man behauptete, die Gegenstände gewisser Vorstellungen existieren nicht, so sagte man doch zu viel, wenn man behauptete, unter solche Vorstellungen falle kein Gegenstand, solche Vorstellungen hätten keinen Gegenstand, sie seien gegenstandslose Vorstellungen. Intentionalität: Bolzano und Husserl | 103
Demnach gilt von jedem Concept: Es gibt mindestens einen Gegenstand, der unter es fällt; aber von manchen Concepten gilt: Zwar gibt es Gegenstände, die unter sie fallen, aber diese Gegenstände existieren nicht. Und entsprechend gilt Twardowski zufolge auch von den Akten des Vorstellens: Es gibt immer mindestens einen Gegenstand, der in ihnen vorgestellt wird, aber die vorgestellten Gegenstände existieren nicht immer. Wer diese Thesen akzeptiert, der muss die Aussage, dass es Gegenstände gibt, die nicht existieren, für wahr, also a fortiori für kohärent halten, und das tun Twardowski und in seinem Gefolge Meinong und die Meinongianer in der Philosophie der Gegenwart. Rein verbal gibt es hier sogar einen Gleichklang mit Bolzano: Auch er würde den Satz ›Es gibt Gegenstände, die nicht existieren‹ unterschreiben. Mit einer Einsetzungsinstanz von ›Es gibt A‹ spricht man dem Concept, das durch ›A‹ ausgedrückt wird, die Eigenschaft zu, »gegenständlich« (i.e. nicht leer) zu sein, während man mit einer Einsetzungsinstanz von ›A existieren‹ den Gegenständen, die A sind, die Eigenschaft beilegt, Wirkungen zu zeitigen.30 Es gibt Vulkane, und sie existieren auch: Sie vernichten manchmal Dörfer und Städte. Es gibt auch Primzahlen zwischen 3 und 13, es gibt auch Propositionen und ihre Komponenten, aber sie alle existieren nicht: Sie tun niemandem etwas zuleide. Die beiden folgenden Sätze drücken also für Bolzano wie für Twardowski und Meinong verschiedene Propositionen aus: (1) Es gibt geflügelte Pferde. (2) Geflügelte Pferde existieren.
Aber man kann Twardowski und Meinong in diesem Punkt zustimmen, ohne ihre Ontologie zu akzeptieren. Während sie nur (2) für falsch halten, bestreitet Bolzano beide Propositionen, und er bestreitet (2), weil er (1) bestreitet: Da nichts unter das Concept eines geflügelten Pferdes fällt, fällt darunter erst recht kein existenter, i. e. Wirkungen zeitigender Gegenstand. Für Husserl genau wie für Frege sind Sätze wie (1) und (2) hingegen nur stilistische Varianten voneinander, und als solche werde auch ich sie fortan behandeln. Husserl schreibt 1894 in seinem Manuskript »Intentionale Gegenstände«:31
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Oft wird der Terminus Existenz in dem Sinne von Dasein, von Existenz innerhalb der realen Wirklichkeit gebraucht; hier ist der primitive und allgemeinere Existenzbegriff inhaltlich bereichert und der Umfang auf die realen Gegenstände verengt. Wahrheiten, Sätze, Begriffe sind auch Gegenstände, auch bei ihnen ist im vollen und eigentlichen Sinne von Existenz die Rede, aber sie sind nichts, das in der realen Wirklichkeit anzutreffen wäre. So weit der Ausdruck »Es gibt ein A« Sinn und Wahrheit beanspruchen kann, so weit reicht auch die Domäne des Existenzbegriffs.
Husserl schlägt sich in der Frage der gegenstandslosen Vorstellungen auf Bolzanos Seite,32 aber er sieht auch, was die TwardowskiMeinong-Position attraktiv macht, und deshalb konstatiert er eine Schwierigkeit, die er wenig später sogar als Paradox bezeichnet:33 Es gilt als selbstverständlich, daß sich jede Vorstellung, sei es in bestimmter oder unbestimmter Weise, auf irgendeinen Gegenstand beziehe, auf den eben, von dem es heißt, daß sie ihn vorstelle. Daran knüpfen sich aber merkwürdige Schwierigkeiten. Stellt jede Vorstellung einen Gegenstand vor [I], so gibt es doch für jede einen Gegenstand, also: jeder Vorstellung entspricht ein Gegenstand. Andererseits gilt es aber als unzweifelhafte Wahrheit, daß nicht jeder Vorstellung ein Gegenstand entspricht [II], es gibt, mit Bolzano zu sprechen, »gegenstandslose Vorstellungen«.[34] In der Tat ist es z. B. evident, daß der Vorstellung »ein rundes Viereck« ein Gegenstand nicht entspricht, wir sind dessen auch gewiß bei Vorstellungen wie »gegenwärtiger französischer Kaiser« usw.[35] Demnach scheint es, daß wir jeder Vorstellung zwar eine Bedeutung [einen Gehalt], aber nicht jeder eine Beziehung auf Gegenständliches zuschreiben dürfen. Dieser Neigung hält aber eine neue Erwägung das Gleichgewicht. Sinnvoll und zweifellos richtig dürfen wir doch sagen, [die Vorstellung] »ein rundes Viereck« stelle einen Gegenstand vor, der zugleich rund sei und viereckig; aber freilich gebe es einen solchen Gegenstand nicht. Ähnlich auch sonst. Wir sprechen von »imaginären« Anzahlen wie √–1, von den fiktiven Gegenständen der Mythologie wie »lernäischer Löwe«.[36] In den Intentionalität: Bolzano und Husserl | 105
bezüglichen Vorstellungen sind die unmöglichen oder fiktiven Gegenstände vorgestellt, aber sie existieren nicht … Es ist merkwürdig, daß diese Schwierigkeiten, mit deren Lösung sich schon die Scholastik redlich gequält hat, noch immer nicht behoben sind; wenigstens ist man gegenwärtig in dem, was man für die richtige Lösung hält, von der Einigkeit weit entfernt.
Letzteres kann man, so denke ich, auch heute noch mit Fug und Recht sagen. Selbst Bolzano hat sich dem Sog der von Twardowski in Anspruch genommenen Intuition [I] nicht völlig entzogen. Das zeigen die Formulierungen, die ich in meinem Exzerpt aus der Wissenschaftslehre mit Fragezeichen markiert habe:37 Wenn eine Vorstellung wegen begrifflicher Inkonsistenz keinen Gegenstand hat, wie soll sie dann »ihrem Gegenstand« einander ausschließende Beschaffenheiten sozusagen zuschreiben? Bolzano betont doch selber: »wie schon der alte Kanon besagt – non entis nullae sunt affectiones [Dinge, die es nicht gibt, haben auch keine Beschaffenheiten]«.38 (Womit er Meinongs »Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein« verwirft, demzufolge auch geflügelte Pferde und runde Quadrate Beschaffenheiten haben: jene seien u. a. geflügelt, diese u. a. rund.39) Können wir, so fragt Husserl, »die scheinbar kontradiktorischen Aussagen [I] ›Jede Vorstellung stellt einen Gegenstand vor‹ und [II] ›Nicht jeder Vorstellung entspricht ein Gegenstand‹ miteinander versöhnen«?40 Vielleicht können wir dieses irenische Ziel so erreichen: Wir fügen der Aussage [I] die Klausel hinzu: ›wobei dieser Gegenstand manchmal ein bloß intentionaler ist‹, und wir erweitern in Aussage [II] die Wendung »ein Gegenstand« zu ›ein existierender Gegenstand‹ (oder, wie Husserl in seinem Manuskript meist schreibt: ›ein wahrer Gegenstand‹). Husserl verwirft diesen Lösungsvorschlag, und er tut dies mit Hilfe einer sehr erhellenden Analogie: Er vergleicht die vorgeschlagene Einteilung der Gegenstände in bloß intentionale und existente mit der »Quasi-Einteilung der Gegenstände in bestimmte und unbestimmte«.41 Ich buchstabiere den Vergleich etwas aus: Wenn ein Kind sich eine Geige wünscht, so gibt es manchmal eine bestimmte Geige, die es haben möchte, – diese und keine andere. Manchmal geht es aber nur um die Beendigung der geigenlosen, der schrecklichen Zeit, – irgendeine Geige 106 | wolfgang künne
muss her. Gibt es also bestimmte und unbestimmte Violinen, so wie es Stradivaris und Guarneris gibt? »Man wird natürlich antworten: jeder Gegenstand ist in sich bestimmt« (loc. cit.). Die Quasi-Einteilung der Geigen in meinem Beispiel ist in Wahrheit eine Einteilung der Geigen-Wünsche: Manche Wünsche sind individuell fokussiert, während andere es nicht sind. Und ganz entsprechend ist die Pseudo-Einteilung der Gegenstände in bloß intentionale und wirklich existente eine Unterscheidung zwischen Vorstellungen: Manche Vorstellungen, aber nicht alle, sind so beschaffen, dass es einen Gegenstand gibt (m. a.W. dass ein Gegenstand existiert), von dem gilt: er wird in ihnen vorgestellt. In den Logischen Untersuchungen wird Husserl das so formulieren:42 Der Gegenstand ist ein »bloß intentionaler« … heißt: die Intention, das einen so beschaffenen Gegenstand »Meinen« existiert, aber nicht der Gegenstand. Existiert andererseits der intentionale Gegenstand, so existiert nicht bloß die Intention, das Meinen, sondern auch das Gemeinte.
Aber gilt jetzt wirklich noch, dass jedes Vorstellen ein ›intentionaler‹ Akt ist, dass jedes Vorstellen den Charakter hat, auf etwas ›gerichtet‹ zu sein? Trifft das nicht nur auf dasjenige Vorstellen zu, das nicht gegenstandslos ist? Ein wenig kann hier die Metapher helfen, die mit den scholastisch-brentano’schen Formulierungen ins Spiel gebracht wird. Thomas von Aquin bemerkt: »Intentio, sicut ipsum nomen sonat, significat in aliud tendere (›intentio‹ bedeutet, wie schon der Name besagt: (etwas) auf etwas Anderes Richten)«.43 Buchstäblich kann man z. B. einen Bogen mit angelegtem Pfeil auf etwas richten (tendere arcum in aliquid). Leidet der Möchtegern-Schütze unter einer Halluzination, so gibt es vielleicht an der Stelle, auf die er den Bogen gerichtet hat, keinen Gegenstand, den sein Pfeil treffen könnte. Aber das ist natürlich nur ein Bild, und es hilft schon deshalb nur minimal, weil mit ›a ist gerichtet auf b‹ auch dann das Bestehen einer Relation konstatiert wird, wenn mit ›b‹ nur eine Stelle in einem Koordinatensystem angegeben wird. Genau darin liegt jetzt aber unser Problem. In Husserls Worten, tentativ formuliert:44 [Folgende] Schwierigkeit erhebt sich: Mit der notwendigen Zugehörigkeit eines Gegenstandes zu jedem Vorstellungsakt ist zugleich Intentionalität: Bolzano und Husserl | 107
der Bestand einer Relation zwischen einem Existierenden und einem evtl. Nichtexistierenden behauptet. Das scheint unmöglich zu sein: besteht eine Relation, so müssen auch die Relationsglieder existieren.
Und entschiedener: »[V]on jeder echten Relationswahrheit [gilt:] [D]as Sein der Relation schließt das Sein der Relationsglieder ein.«45 Genau wie in der klassischen Prädikatenlogik werden damit die Argumentschemata ›aRb, ergo: ∃x (xRb)‹ und ›aRb, ergo: ∃x (aRx)‹ als allgemeingültig akzeptiert. Von der Idee, es handle sich beim metaphorischen Gerichtetsein-auf um eine echte Relation, die sowohl zwischen Bewohnern unserer wirklichen Welt besteht als auch zwischen ihnen und Bewohnern bloß möglicher Welten, hält Husserl überhaupt nichts:46 Die unklare Rede von verschiedenen Existenzgebieten, universes of discourse, von verschiedenen »Welten«, die über Existenz und Nichtexistenz desselben Objektes verschieden disponieren, werden wir nicht billigen … Es gibt nur Eine Wahrheit und Eine Welt, aber vielfache Vorstellungen, religiöse oder mythische Überzeugungen, Hypothesen, Fiktionen, und die ganze Unterscheidung läuft darauf hinaus, daß wir öfters, etwa aus Gründen praktischer Bequemlichkeit, so sprechen, als ob die Urteile, die wir fällen, unbedingte wären …
Allemal würde man auch in bloß möglichen Welten vergebens nach runden Quadraten und hölzernen Schüreisen suchen. Welche positive These vertritt Husserl in »Intentionale Gegenstände«? Wer mit behauptender Kraft sagt: ›Es gibt geflügelte Pferde, z. B. Pegasos‹, der tut kein »absolutes« oder »unbedingtes Urteil« bzgl. der Frage nach der Existenz von geflügelten Pferden kund, sondern (so Husserls Terminologie) ein »Urteil unter einer Assumption« – ein Urteil unter der Annahme, dass wahr ist, was im griechischen Mythos erzählt wird. Wir können das verdeutlichen, indem wir unserem Existenz-Satz einen Geschichten-Operator voranstellen: ›Dem griechischen Mythos zufolge gibt es geflügelte Pferde‹.47 Was für Existenzsätze mit fiktionalen generellen Termen wie ›geflügeltes Pferd‹ gilt, das gilt auch – so betont Husserl zu Recht – für viele andere Sätze, die fiktionale Terme enthalten. Zum Beispiel für 108 | wolfgang künne
Sätze wie ›Pegasos ist ein geflügeltes Pferd‹ und ›Pegasos ist das geflügelte Pferd Bellerophons‹. Husserl vergleicht Aussagen ›über‹ den Höllenhund Kerberos mit Aussagen über Bismarcks Hund Tyras.48 (Im Jahre 1894 konnte ein Autor noch voraussetzen, dass deutsche Leser wissen, wovon die Rede ist. 1878 war Bismarck beim Berliner Kongress, den er leitete, mit seiner Dogge Tyras (I) erschienen. Das Tier, dessen Auftritt bei den ausländischen Staatsmännern Befremden auslöste, ging auf den russischen Außenminister los und zerriss ihm die Hosen, – was alsbald im Satiremagazin Kladderadatsch mit einer Ode »An den Reichshund« gefeiert wurde.) Wir können zu Recht das unbedingte Identitätsurteil fällen: (α)
Tyras ist die Dogge, die 1878 in Berlin auf den russischen Außenminister losging.
Wenn wir aber sagen: (3)
Kerberos ist der Hund, der den Eingang zum Hades bewacht,
so sagen wir strenggenommen nichts Wahres. Das tun wir nur, wenn wir tiefer durchatmen und sagen: (3+) Dem griechischen Mythos zufolge ist Kerberos der Hund, der den Eingang zum Hades bewacht. Unsere Neigung, einer Äußerung von Satz (3) zuzustimmen, beruht darauf, dass wir sie als »uneigentliche Rede« verstehen. Wenn (3) deshalb keine Wahrheit ausdrückt, weil es keinen Gegenstand gibt, den der Name ›Kerberos‹ (in der hier relevanten Verwendungsweise) bezeichnet, dann müsste Husserl das konsequenterweise auch von dem Satz (4)
Kerberos ist (identisch mit) Kerberos
sagen; denn (4), buchstäblich verstanden, ist nur wahr, wenn gilt: (5)
Es gibt einen Gegenstand, der mit Kerberos identisch ist,
und das gilt in Husserls Augen ja gerade nicht. (4) sieht zwar aus wie eine triviale logische Wahrheit, aber was so aussieht, ist manchmal nicht einmal wahr. Zu Recht kann nur behauptet werden:
Intentionalität: Bolzano und Husserl | 109
(4+) Dem griechischen Mythos zufolge ist Kerberos mit Kerberos identisch. (Dass es einer Geschichte zufolge der Fall ist, dass p, impliziert natürlich nicht, dass ein mit ›p‹ synonymer Satz in ihrem Text vorkommt. Kein Satz, der denselben Sinn wie ›Achill ist kein Trojaner‹ hat, kommt in der Ilias vor. Dennoch dürfen wir behaupten: Der Ilias zufolge ist Achill kein Trojaner.) Husserl muss auch die oben zitierte semantische These Twardowskis bestreiten, dass »jeder Name einen Gegenstand nennt, ohne Rücksicht darauf, ob dieser existiert oder nicht«. Twardowski ist nur konsequent, wenn er seine These über Vorstellungen mutatis mutandis auch für Namen aufrechterhält und alle Einsetzungsinstanzen des folgende Schemas der Anführungstilgung (disquotation) für Namen für wahr erklärt: (Disq1) Der Name ›n‹ bezeichnet n.
Husserl ist in seinem Manuskript »Intentionale Gegenstände« genauso konsequent,49 wenn er das für eine falsche Verallgemeinerung hält: ›Tyras‹ bezeichnet Tyras, aber es ist nicht der Fall, dass ›Kerberos‹ Kerberos bezeichnet; denn es gibt zwar einen Gegenstand, den der erste Name bezeichnet, aber es gibt keinen, den der zweite (in der hier zur Diskussion stehenden Verwendungsweise) bezeichnet. Was für alle Relationen gilt, das gilt eben auch für semantische Relation x bezeichnet y: »besteht eine Relation, so müssen auch die Relationsglieder existieren« (s. o.). Akzeptieren könnte Husserl die These, dass das folgende Schema der Anführungstilgung für Namen allgemeingültig ist: (Disq2) Für alle x, der Name ›n‹ bezeichnet x genau dann, wenn x = n.
Er müsste dann (wie die Anhänger einer negativen freien Logik) sagen, dass jeder elementare Satz, der einen Namen enthält, also auch ein Satz der Form ›n = n‹, genau dann falsch ist, wenn der für ›n‹ substituierte Name nichts bezeichnet. Dann liefert uns das Schema (Disq2) eine wahre Aussage, gleichgültig ob wir ›Tyras‹ oder ›Kerberos‹ einsetzen. Die Quasi-Einteilung der Namensträger in existente und nicht-existente ist in Wahrheit eine Einteilung der Namen in 110 | wolfgang künne
zwei Sorten: solche, die einen Gegenstand bezeichnen und daher Existenzgeneralisierung zulassen, und solche, die nichts bezeichnen und deshalb keine Existenzgeneralisierung erlauben. Man kann Aussagen wie (3+) und (4+) als wahr anerkennen und das Prinzip der negativen freien Logik akzeptieren; denn das handelt ja nur von elementaren Sätzen, die einen Namen enthalten: In solchen Sätze gibt es keine satzbildenden Satzoperatoren wie ›dem griechischen Mythos zufolge‹. Was Bolzano angeht, so kann man zeigen, dass er auf der Seite der Anhänger der negativen freien Logik steht.50 Die Annahme eines impliziten Geschichten-Operators erklärt in vielen Fällen, warum wir eine Aussage als wahr anerkennen, die einen leeren singulären Term enthält. Aber sie löst nicht unser Problem mit dem metaphorisch so genannten Gerichtetsein auf Nichtexistentes, das nicht wirklich eine Relation sein kann. Denn wenn jemand sagt: (S)
Ich stelle mir den Gott Jupiter vor,
so ist das keine »uneigentliche« Rede, – Satz (S) ist gewiss keine elliptische Formulierung, von der gilt: erst durch Voranstellung von ›Dem römischen Mythos zufolge‹ wird aus ihr der Ausdruck einer Wahrheit. Mit einer assertorischen Äußerung von (S) kann man zu Recht einen »unbedingten« Wahrheitsanspruch erheben. Und es sieht so aus, als sprächen Wahrheiten wie (S) gegen das Prinzip der negativen freien Logik, für das ich eben noch plädiert habe; denn (S) scheint doch ein elementarer Satz zu sein, der einen nichts bezeichnenden Namen enthält … Vielleicht hilft uns die folgende Passage in den Logischen Untersuchungen weiter, die m.E. eine Schlüsselstelle für Husserls Intentionalitätskonzeption ist:51 [1] Ich stelle den Gott Jupiter vor, das heißt, ich habe ein gewisses Vorstellungserlebnis, in meinem Bewußtsein vollzieht sich das denGott-Jupiter-Vorstellen. [2] Man mag dieses intentionale Erlebnis in deskriptiver Analyse zergliedern, wie man will, so etwas wie de[n] Gott Jupiter kann man darin natürlich nicht finden; … er ist also … nicht immanent oder mental. [3] Er ist freilich auch nicht extra mentem, er ist überhaupt nicht. [4] Aber das hindert nicht, daß jenes den-Gott-Jupiter-Vorstellen wirklich ist, eine so bestimmte Weise Intentionalität: Bolzano und Husserl | 111
des Zumuteseins, daß, wer es in sich erfährt, mit Recht sagen kann, er stelle sich jenen mythischen Götterkönig vor, von dem dies und jenes gefabelt wurde. […]
Bedeutet der erste Satz wirklich, was er laut [1] bedeutet? ›Ich stelle den Gott Jupiter vor‹ könnte ein Schauspieler sagen, der in einer Inszenierung von Kleists Amphitryon mitwirkt. Was Husserl meint, wird im Deutschen durch (S) ausgedrückt,52 und in [4] bedient er sich auch selber der 3.Pers.-Variante dieser Formulierung. In [2] wendet sich Husserl gegen die Auffassung der Intentionalität als Relation zu Intra-Mentalem, die Brentano 1874 vertrat oder zu vertreten schien. Sodann widerspricht er in [3] – jedenfalls der Sache nach – der Twardowski-Meinong-These, Intentionalität sei (meistens) eine Beziehung zu Extra-Mentalem. In [4] beginnt Husserl, seine eigene Auffassung zu präsentieren, derzufolge es sich gar nicht um eine Relation handelt (wenngleich er inzwischen argwöhnt, dass »sich die Rede von einer Beziehung hier nicht vermeiden lasse«53). Man beachte die Bindestrich-Formulierungen, die ich in [1] und [4] hervorgehoben habe. Sie enthalten einen bedeutsamen Wink. Ich glaube, dass Husserl durch diese Formulierungen genau wie durch seine Rede von der »Weise« in [4] dem Eindruck vorbeugen will, die »Erlebnis«-Zuschreibung sei eine zweistellige Prädikation. Dass man sich mit (S) eine Weise des »Zumuteseins« zuschreibt, ist freilich nicht einleuchtend. »Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zumute«:54 Wer gefragt wird, wie ihm zumute ist, wird nach seiner Gemütsverfassung gefragt, und die kann nicht darin bestehen, dass er gerade an Jupiter denkt oder an Friederike Brion. Legt Husserl sich durch die Verwendung der Bindestriche in (A)
Ich habe eine Vorstellung-vom-Gott-Jupiter
auf die These fest, dass der generelle Term ›Vorstellung-vom-GottJupiter‹ eine semantisch nahtlose Einheit ist – wie der in ›Ich habe einen Traum‹?55 Dann könnte man die Sachlage noch deutlicher darstellen, wenn man einen Satzteil, der semantisch unteilbar ist, auch so schreibt: (A–) Ich habe eine Vorstellungvomgottjupiter. 112 | wolfgang künne
Aus (A–) folgt nun aber nicht mehr die Konklusion, die aus (A) intuitiv folgt: (K)
Ich habe eine Vorstellung.
Aus der Prämisse ›Das ist ein Geigerzähler‹ folgt ja auch nicht ›Das ist ein Geiger‹. Wäre (A–) die korrekte Auslegung von (A), so wäre es ein orthographischer Zufall, dass eine Buchstabenfolge, die aussieht wie das Wort ›Vorstellung‹, in (A) vorkommt. Zwischen den generellen Termen, die aus demjenigen in (A) durch Austausch des Namens ›Jupiter‹ gegen ›Mars‹ oder der Phrase ›vom Gott Jupiter‹ gegen ›von der Göttin Diana‹ entstehen, bestünde dann genauso wenig eine semantisch relevante Gemeinsamkeit wie zwischen den Wörtern ›Papagei‹, ›Papier‹ und ›Papst‹. Aber während das Verständnis eines dieser drei Wörter einem nicht im Mindesten hilft, wenn es gilt, die andern zu verstehen, trifft das ganz offenkundig nicht auf den Ausdruck ›Vorstellung des Gottes Jupiter‹ und seine ›Mars‹- und ›Diana‹-Varianten zu: Wer einen von ihnen versteht, hat schon einen wesentlichen Teil der Lektion für die beiden anderen gelernt. Wir müssen Interpretation (A–) also verwerfen. Welchen Reim kann man sich dann auf die Schreibweise in (A) machen? Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein: Wir müssen (A) sowohl so verstehen, dass man sich mit (A) keine Relation zu einem römischen Gott zuschreibt, als auch so, dass aus (A) die Konklusion (K) folgt.56 In meinem Analysevorschlag bediene ich mich einer oben schon einmal verwendeten Notation, die in der Bolzano-Forschung gang und gäbe ist (und die letztlich auf Quine zurückgeht): Der Einschluss eines Ausdrucks in eckige Klammern dient der Bildung eines singulären Terms, der den Sinn bezeichnet, den der zwischen den Klammern stehende Ausdruck hat. (Mit dieser Notation kann man dafür sorgen, dass eine Auskunft wie ›Der Sinn von »redundant« ist überflüssig‹ nicht so verstanden wird, als wolle man diesem Sinn Überflüssigkeit bescheinigen: ›Der Sinn von »re-dundant« ist [überflüssig]‹ ist eine Identitätsaussage.) Der folgende Analysevorschlag für (A) erfüllt die angegebenen Desiderate: (A+) ∃x (x ist eine Vorstellung & ich habe x & der Gehalt von x ist [der Gott Jupiter]). Intentionalität: Bolzano und Husserl | 113
Mit (A+) sagt jemand genau dann etwas Wahres, wenn er einen Akt des Denkens vollzieht, dessen Gehalt der Sinn ist, den die Phrase ›der Gott Jupiter‹ in seinem Munde hat. ›Gehalt‹ ist hier ein anderes Wort für das, was bei Bolzano ›Stoff‹ heißt und was sein Leser Husserl ›Materie‹ nennt. Aus (A+) folgt logisch ›∃x (x ist eine Vorstellung & ich habe x)‹, was äquivalent mit (K) ist. Und mit (A+) schreibt man sich keine Relation zum Gott Jupiter zu, sondern man sagt von dem Concept [der Gott Jupiter], dass es der Gehalt einer subjektiven Vorstellung ist. Der Wahrheitswert dessen, was man mit (A+) sage, ist unabhängig davon, ob etwas unter dieses Concept fällt. Die Wahrheit von (A+) widerlegt nicht das Prinzip der negativen freien Logik, demzufolge jede elementare Aussage, die einen leeren singulären Term enthält, falsch ist. Sie tut das genauso wenig wie die folgende Wahrheit: ›Der Gott Jupiter‹ ist eine Nominalphrase, die aus drei Wörtern besteht. So wie in diesem Satz ein singulärer Term vorkommt, der den Ausdruck ›der Gott Jupiter‹ bezeichnet, so kommt in (A+) ein singulärer Term vor, der den Sinn dieses Ausdrucks bezeichnet: Diese beiden singulären Terme sind nicht leer. (A+) passt nahtlos zu Bolzanos Auffassung. In meinem langen Exzerpt aus der Wissenschaftslehre hieß es: … Wenn Jemand … ungereimt finden will, …, daß eine Vorstellung gar keinen Gegenstand haben … soll: so kommt dieß wohl nur daher, weil er unter Vorstellungen … [Akte des Vorstellens] versteht, und den Stoff, den diese haben (die Vorstellung an sich), für ihren Gegenstand ansieht.
Ob meinem Denken an die Insel Atlantis ein Gegenstand entspricht, hängt davon ab, ob unter die Vorstellung an sich [die Insel Atlantis], ob unter das Concept, das ›die Insel Atlantis‹ ausdrückt, ein Gegenstand fällt; was bekanntlich immer noch eine sehr umstrittene Frage ist. Für die Struktur des Denkens an Atlantis ist die Antwort auf diese Frage irrelevant. Das metaphorisch so genannte Gerichtetsein eines intentionalen Aktes oder Zustandes – so meine These – besteht in nichts anderem als darin, dass er einen (conceptuellen oder propositionalen) Gehalt hat. Wenn das richtig ist, dann sollte unsere Analyse auch dem Satz (B)
Ich denke an den Reichskanzler Bismarck
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nicht die logische Form einer zweistelligen Prädikation ›xRy‹ zuschreiben. »The mere fact of real existence«, hat Elizabeth Anscombe einmal gesagt, »cant’t make so much difference to the analysis of a sentence like ›X thought of --‹ .«57 Das finde ich goldrichtig. Dieser Einsicht tragen wir Rechnung, wenn wir (B) nach demselben Muster wie (A) deuten: (B+) ∃x (x ist ein Akt des Denkens & ich vollziehe x & der Gehalt von x ist [der Reichskanzler Bismarck]).
In (B+) wird dem Denker keine Relation zu dem Gegenstand zugeschrieben, der durch den singulären Term zwischen den eckigen Klammern bezeichnet wird; aber anders als im Fall von (A+) besteht hier eine solche Beziehung. Wenn wir die Sätze (A) und (B) auf die angegebene Weise verstehen, dann sind ihre Wahrheitsbedingungen vollkommen analog, und das entspricht auch unserer ›semantischen Intuition‹. Jedenfalls entspricht es Husserls Theorie; denn er fährt an der Stelle, an der ich ihn vorhin unterbrochen habe, folgendermaßen fort: [5] Existiert andererseits der intendierte Gegenstand, so braucht in phänomenologischer Hinsicht nichts geändert zu sein. [6] Für das Bewußtsein ist das Gegebene ein wesentlich Gleiches, ob der vorgestellte Gegenstand existiert, oder ob er fingiert und vielleicht gar widersinnig ist. [7] Jupiter stelle ich nicht anders vor als Bismarck, den Babylonischen Turm nicht anders als den Kölner Dom, ein regelmäßiges Tausendeck nicht anders als einen regelmäßigen Tausendflächner.
Das »für das Bewusstsein Gegebene«, von dem in [6] die Rede ist, ist das »intentionale Erlebnis«, im gegebenen Fall: eine subjektive Vorstellung. Gleichgültig, ob der Gegenstand G existiert (wie die Vaterstadt des Sokrates oder die kleinste Primzahl) oder de facto nicht existiert (wie das erste Buch des Sokrates) oder aus begrifflichen Gründen gar nicht existieren kann (wie die größte Primzahl), das G-Vorstellen ist, so behauptet Husserl, »für das Bewusstsein ein wesentlich Gleiches«. Die Liste von Beispiel-Paaren in [7] pflegt Irritationen auszulösen. Schon beim ersten regt sich Widerstand: ›Aber ich stelle mir Bismarck ganz anders vor als Jupiter, – das megalomane Hamburger Bismarck-Denkmal entspricht immerhin Intentionalität: Bolzano und Husserl | 115
einigermaßen meiner Vorstellung von Bismarck, während es meiner Vorstellung von Jupiter ganz und gar nicht entspricht!‹ Aber dieser Protest beruht auf einem Missverständnis, an dem Husserls Ausdrucksweise in [7] (wie so oft) nicht unschuldig ist. Was er meint, ist Folgendes: Wenn man sich Bismarck vorstellt, so stellt man ihn sich im selben Sinn von ›sich … vorstellen‹ vor, in dem man sich Jupiter vorstellt. Beim letzten Beispiel-Paar58 ist (fast) genauso klar wie bei dem arithmetischen Duo die kleinste Primzahl / die größte Primzahl, dass ›sich … vorstellen‹ hier nicht soviel wie ›sich … anschaulich vorstellen‹ heißen kann. Könnte ich mir ein (reguläres) Tausendeck anschaulich vorstellen, so müsste meine anschauliche Vorstellung verschieden sein von der eines 999-Ecks und der eines 1001-Ecks, was (wie schon Descartes betont hat) nicht der Fall ist: Sie ist einfach die Vorstellung von einer Figur mit sehr sehr vielen Ecken. Eine Differenz zwischen dem Denken an den Gegenstand G und dem Denken an den Gegenstand Γ, die unsichtbar bleibt, wenn man gegenüber der Frage nach der Existenz von G und von Γ Epoché übt, ist phänomenologisch irrelevant, – so erfahren wir in [5]. Ich füge hinzu: Auch die Bestimmung der Wahrheitsbedingungen von Sätzen mit Verben wie ›sich vorstellen‹ oder ›denken an‹, mit denen wir intentionale Akte zuschreiben, sollte vom Wahrheitswert unserer Existenz-Überzeugungen unabhängig sein. Die eventuelle Differenz zwischen dem Gehalt des Denkens an G und dem Gehalt des Denkens an Γ, bleibt hingegen nicht unsichtbar, wenn man sich der Epoché befleißigt. Das Problem der gegenstandsloser ›Intentionen‹ tritt nicht nur bei nominalen Akten und Zuständen auf, wenn wir mit Husserl annehmen, dass propositionale Akte und Zustände als ganze auf eine besondere Art von Gegenständen gerichtet sind, und es sollte, so denke ich, hier wie dort im selben Geiste behandelt werden. Halten wir uns an Urteilsakte als paradigmatische propositionale Akte. Wie für Bolzano so ist auch für Husserl der Stoff, die Materie eines Urteilsaktes eine Proposition, und auch in seinen Augen enthält diese Proposition als Komponenten die Gehalte der subjektiven Vorstellungen, der nominalen Akte, die in den Urteilsakt eingehen. Angenommen, (C)
Anna urteilt, dass Voltaire ein Philosoph ist.
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Gibt es etwas, das sowohl von Voltaire als auch von der Eigenschaft, ein Philosoph zu sein, verschieden ist und von dem gilt: Es ist der intentionale Gegenstand von Annas Urteilsakt? Bolzanos implizite Antwort ist Nein, Husserls explizite Antwort ist Ja.59 In seinen Augen ist dieser Gegenstand die Tatsache, dass Voltaire ein Philosoph ist.60 Wir nehmen auf diese Tatsache mit demselben dass-Satz Bezug, mit dem wir auch auf den Gehalt von Annas Urteilsakt Bezug nehmen. Der Gehalt eines intentionalen Aktes oder Zustandes ist aber niemals mit seinem Gegenstand identisch. Also sind dass-Sätze systematisch mehrdeutig.61 Tatsachen sind gröber individuiert als Propositionen. Wenn Ben urteilt, dass François Marie Arouet ein Philosoph ist, so hat sein Urteil einen anderen Gehalt als Annas Urteil, aber da F. M. Arouet mit Voltaire identisch ist, entspricht beiden Urteilen dieselbe Tatsache: »derselbe Sachverhalt wird einmal in dieser und das andremal in jener Weise aufgefaßt.«62 Nun kann aber nur einem Urteil, dessen Gehalt wahr ist, eine Tatsache entsprechen. Gibt es dennoch zu jedem Urteilsakt als ganzem einen Gegenstand, auf den er gerichtet ist? Meinong bejaht diese Frage. Auch wenn (D)
Ben urteilt, dass Voltaire ein Maler ist,
gibt es so einen Gegenstand: er ist ein nicht-bestehender Sachverhalt, ein »untatsächliches Objektiv«.63 Das ist nicht Husserls Auffassung, jedenfalls sollte er sie m. E. nicht vertreten. Es gibt nur Sachverhalte, die Tatsachen sind, – ›zu existieren‹ heißt für einen Sachverhalt: eine Tatsache zu sein. Genau wie manchen, aber keineswegs allen nominalen Akten ein Gegenstand entspricht, so entspricht einigen, doch beileibe nicht allen propositionalen Akten ein Gegenstand. Solchen Akten als ganzen kann nur etwas entsprechen, was der Fall ist, – nur eine Tatsache kann ihr »objektives Korrelat« sein. Wenn jemand zu Unrecht urteilt, dass es sich so-und-so verhält, dann gibt es zwar einen Urteilsakt mit einer bestimmten Materie, aber keinen Gegenstand, der diesem Akt als ganzem entspricht. Eine seiner eigenen Formulierungen variierend, könnte und sollte Husserl sagen: In Fällen wie (D) existiert zwar das einen bestimmten Sachverhalt »Meinen«, aber der Sachverhalt existiert nicht; in Fällen wie (C) hingegen existiert sowohl das propositionale »Meinen« als auch der »gemeinte« Sachverhalt.64 Damit hätte er sich von Intentionalität: Bolzano und Husserl | 117
Meinong auch bezüglich der propositionalen Akte (und Zustände) deutlich distanziert. Warum tut er es nicht? Reinach hat gegen Meinong eingewandt, »daß sein Objektivbegriff die durchaus verschiedenen Begriffe von Satz (im logischen Sinne) und Sachverhalt ungeschieden enthält«.65 In der Tat konzipiert Meinong die Objektive als etwas, dessen Bestehen die Wahrheit eines Wahrheitskandidaten verbürgt, und als etwas, das (sofern es in einem Akt des Urteilens oder des Annehmens erfasst wird) einen Wahrheitswert hat.66 Schwerlich kann aber ein und dieselbe Entität beide Rollen spielen. Wie Reinach bemerkt hat, spricht nun aber auch Husserl in der 1. Auflage der Logischen Untersuchungen wiederholt von Sachverhalten als etwas, das wahr oder falsch ist, das gilt oder nicht gilt.67 Dazu passt, dass Husserl schon neun Tage nach Erhalt einer Kopie von Meinongs Buch Über Annahmen (11902) den Verfasser wissen lässt: »Sachverhalt = Objectiv in Ihrer Terminologie. Die feierliche Definition in Bd. II [›Das Objektive des urteilenden Vermeinens nennen wir den beurteilten Sachverhalt‹] enthält zufällig sogar den Ausdruck ›Objectiv‹.«68 Diese Definition dürfte Meinong trotz ihrer Feierlichkeit kaum beeindruckt haben. Sie definiert gar nicht ›Sachverhalt‹, sondern ›beurteilter Sachverhalt‹, – Sachverhalte sind aber auch »das Objektive« des nicht-thetischen propositionalen Denkens, das Meinong Annehmen nennt. Außerdem wäre es allemal besser, mit Meinong ›geurteilt‹ zu sagen: ›beurteilt‹ ist bestenfalls bei Urteilen über Sachverhalte akzeptabel und auch dort wegen der evaluativen Konnotation irreführend. Aber was ist nun unter dem in einem richtigen Urteil Geurteilten zu verstehen, – sein wahrer Gehalt oder sein wahrmachender intentionaler Gegenstand? Es gibt wahre, und es gibt falsche Propositionen, und jeder propositionale Akt oder Zustand hat eine Proposition als Gehalt (Stoff, Materie). Wenn man sich nun nicht vor der von Reinach beklagten Konfusion hütet, kommt es leicht zu einer Projektion: ›Es gibt Sachverhalte, die bestehen, und Sachverhalte, die nicht bestehen, und für jeden propositionalen Akt oder Zustand gibt es einen Sachverhalt, der sein objektives Korrelat ist.‹– Vielleicht erklärt das die Unklarheit der Logischen Untersuchungen in dieser Frage. Ihr Verfasser sollte Meinongs These, dass es nicht-bestehende Sachverhalte gibt, bestreiten, und sagen, dass nur manche propositionalen Akte und Zustände ein 118 | wolfgang künne
objektives Korrelat in Gestalt eines (sc. bestehenden) Sachverhalts, einer Tatsache haben. Für die Spezifikation der Wahrheitsbedingungen von Sätzen des Typs ›X urteilt, dass p‹ ist irrelevant, ob es eine Tatsache ist, dass p. In Analogie zu unserer Rekonstruktion der Husserl’schen Auffassung der Zuschreibungen nominaler Akte können wir die Wahrheitsbedingungen im Fall unserer paradigmatischen Zuschreibungen propositionaler Akte so angeben: (C+) ∃x (x ist ein Urteilsakt & Anna vollzieht x & der Gehalt von x ist [Voltaire ist ein Philosoph]) + (D ) ∃x (x ist ein Urteilsakt & Ben vollzieht x & der Gehalt von x ist [Voltaire ist ein Maler]).
Wenn jemand urteilt, dann gibt es etwas, was er als wahr anerkennt, und dieses Etwas ist der Gehalt seines Aktes, eine Proposition; denn Propositionen, nicht Sachverhalte, sind Anwärter auf den Titel ›wahr‹. Im Unterschied zu den entsprechenden dass-Sätzen ist das Resultat der Umrahmung eines Satzes mit eckigen Klammern per definitionem frei von der Sachverhalt/Proposition-Ambiguität. In keiner dieser Formulierungen wird dem Urteilenden eine Relation zu einer Tatsache zugeschrieben; aber wenn wir Husserls Mobilisierung der Kategorie Tatsache gutheißen, so besteht im ersten Fall eine solche Beziehung. Husserl klagt: »[Bei Bolzano] fehlte die Gegenüberstellung von Satz [an sich] und Sachverhalt.«69 Die zweite dieser Kategorien kommt in Bolzanos Ontologie einfach nicht vor. Ob ihre Abwesenheit wirklich einen Defekt in seiner Theorie bedeutet, müsste allererst gezeigt werden. Jedenfalls hindert ihn diese kategoriale Lücke (wenn es denn eine ist) nicht daran zu bemerken, dass von vielen Urteilsakten gilt, dass es Gegenstände gibt, von denen sie handeln. Ist der Subjekt-Begriff im propositionalen Gehalt eines singulären Urteils »gegenständlich« (nicht leer), dann handelt das Urteil von (all) dem, was unter den Subjekt-Begriff fällt, und Bolzano sagt vom Stoff dieses Urteils, er sei eine »gegenständliche« Proposition.70 Hätte Bolzano sich der scholastisch-brentano’schen Begrifflichkeit bedient, so hätte er gesagt: Der eine und einzige Gegenstand, auf den das in (C) zugeschriebene Urteil gerichtet ist, ist der Mann, von dem es handelt. In diesem Sinne hat auch das unrichtige Urteil, Intentionalität: Bolzano und Husserl | 119
das in (D) zugeschrieben wird, einen Gegenstand. Hingegen hat Leverriers Urteil, dass der Planet Vulkan seine Bahn zwischen dem Merkur und der Sonne hat, keinen Gegenstand im Sinne Bolzanos, da das Concept [der Planet Vulkan] gegenstandslos ist. Natürlich gibt es auch keine Tatsache, auf die der Urteilsakt des französischen Astronomen gerichtet ist.
§ 2. Attribute und Akt-Materien als Spezies Wenden wir uns nun der Frage nach dem ontologischen Status der Concepte und Propositionen zu. In einem Brief an seinen Lehrer Brentano (auf den dieser sehr ungnädig reagierte) schrieb Husserl: »[Bolzanos] Conceptionen [der] Vorstellungen und Sätze an sich … haben auf mich stark gewirkt, ebenso Lotze’s Umdeutung der Platonischen Ideenlehre.«71 Anderswo stellte er einen Zusammenhang zwischen seiner Lotze- und seiner Bolzano-Rezeption heraus: Erst die Lektüre des Kapitels »Die Ideenwelt« in Hermann Lotzes Logik72 habe ihm geholfen, Bolzanos Rede von Propositionen und Konzepten zu entmythologisieren73 und nicht mehr »als metaphysische Abstrusität« zu »missdeuten«.74 Es ist nicht leicht zu sehen, wie Lotzes Platon-Umdeutung dafür hilfreich sein konnte. Nach Lotze ist die »ideale Welt« ein Reich der Propositionen (»Sätze«), wobei er zugibt: »daß … Sätze die wesentlichsten Bestandtheile der idealen Welt sein müßten, hat sich Platon doch nicht aufgedrängt.«75 Nun haben Platonische Ideen wie Schönheit und Mut, Identität und Verschiedenheit offenkundig keine propositionale Struktur. Wenn die »ideale Welt« also von Propositionen bewohnt ist, so können die Ideen diese Transformation der platonischen Metaphysik nur überleben, wenn sie Teile von Propositionen sind, und in der Tat sind sie in Lotzes Augen Concepte (»Begriffe«). Das Sein der Propositionen und ihrer sub-propositionalen Komponenten ist nun – versichert Lotze – ihr »Gelten«. Was die Concepte angeht, so räumt er selber ein: »nur mit halber Deutlichkeit läßt sich dieser Ausdruck auf Begriffe anwenden.«76 Das ist ein Understatement. Man kann zwar von manchen Concepten zu Recht sagen, dass sie von etwas gelten, nämlich von allen und nur den Gegenständen, die unter sie fallen; aber wenn unter Concepte wie [geflügeltes Pferd] und [rundes Qua120 | wolfgang künne
drat], nichts fällt, dann gelten sie auch nicht (von irgendetwas). Genau wie Bolzano (und Frege) bejaht Husserl das Antecedens dieses Konditionals. Besteht das Sein der Propositionen in ihrem Gelten? Propositionen gelten doch wohl nur dann, wenn sie wahr sind. Bekanntlich sind aber ziemlich viele Propositionen falsch, – genau 50% von ihnen, wenn wir mit Bolzano Zweiwertigkeit voraussetzen.77 Nun ist Husserl genau wie Bolzano (und Frege) davon überzeugt, dass falsche Propositionen für eine adäquate Philosophie der Logik und des Geistes genauso unentbehrlich sind wie wahre.78 Also kann er Lotzes These nicht zustimmen, dass für Propositionen gilt: esse est verum esse. Was hat ihn dann am Kapitel »Die Ideenwelt« beeindruckt? Es ist Lotzes Auffassung, die Idealität der »Bestandtheile der idealen Welt«, der Propositionen und Concepte bestehe darin, dass sie allgemeine Gegenstände sind, deren Einzelfälle im Bereich des Mentalen anzutreffen sind.79 In seiner energischen Reaktion auf den Frontalangriff des ungarischen Philosophen Melchior Palágyi auf Thesen, die der Wissenschaftslehre Bolzanos und Husserls Prolegomena zur reinen Logik gemeinsam sind,80 schrieb Husserl:81 Erst die innere Verarbeitung der … nicht völlig abgeklärten Gedanken Lotzes gab mir den Schlüssel zu den … Konzeptionen Bolzanos und zu den Schätzen seiner Wissenschaftslehre… Bolzanos Lehre, dass Sätze [an sich] Gegenstände sind, aber doch keine »Existenz« haben, [gewinnt] die leicht verständliche Bedeutung, dass ihnen das »ideale« Sein … »allgemeiner Gegenstände« zukomme …, nicht aber das reale Sein von Dingen oder unselbständigen dinglichen Momenten, von zeitlichen Einzelheiten überhaupt.
Was Husserl hier über Propositionen behauptet, müsste, wenn es denn korrekt ist, auch für Concepte gelten: Auch sie müssten »allgemeine Gegenstände« oder, wie er anderswo sagt, Spezies sein, und in der Tat ist das die Ansicht des Autors der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen. Wenn Propositionen und Concepte Spezies sind, was sind dann ihre Exemplare? Husserls Antwort lautet: »individuelle Momente« von intentionalen Akten und Zuständen.82 Um sich diese Antwort verständlich zu machen, ist es hilfreich, das ›Ontologische Quadrat‹ im zweiten Kapitel von Aristoteles’ Kategorien-Schrift heranzuziehen: Intentionalität: Bolzano und Husserl | 121
(I)
(III)
Sokrates
Sokrates’ Blässe
diese Rose
die Röte dieser Rose
(II)
(IV)
die Spezies Mensch
die Eigenschaft, blass zu sein
die Spezies Rose
die Eigenschaft, rot zu sein
Auf der linken Seite des Quadrates sind die Gegenstände in Feld [I] Individuen in der Kategorie der Substanz, und die Gegenstände in [II] sind Spezies in dieser Kategorie. Auf der rechten Seite des Quadrats sind die Gegenstände in Feld [III] Individuen in der Kategorie der Qualität, während die in [IV] Spezies in dieser Kategorie sind. So wie die Gegenstände in [I] Exemplare der Spezies in [II] sind, so sind die Gegenstände in [III] Exemplare der Spezies in [IV].83 Die Entitäten in der oberen Hälfte des Quadrats sind Einzeldinge (particulars), – Husserl nennt sie »real«, »in einer möglichen Sinnlichkeit perzipierbar«,84 und »zeitliche Einzelheiten«.85 Die Entitäten in der unteren Hälfte des Quadrats sind Universalien, – bei Husserl heißen sie »ideale«, »allgemeine Gegenstände«.86 Die Gegenstände in Feld [III] inhärieren denen in Feld [I] (oder Teilen von ihnen), und umgekehrt subsistieren die Entitäten in [I] (oder Teile von ihnen) denen in (III).87 Warum die beiden eingeklammerten Zusätze? Inhärenz wird in der philosophischen Tradition als eine Beziehung konzipiert, welche die folgenden Bedingungen erfüllt: Was auch immer x und y sein mögen, [A] wenn x dem Gegenstand y inhäriert, dann kann x nicht zu einer Zeit existieren, zu der nicht auch y existiert, und [B] wenn x dem Gegenstand y inhäriert, dann kann es keinen von y verschiedenen Gegenstand geben, dem x ebenfalls inhäriert. 122 | wolfgang künne
Akzeptiert man diese Bedingungen, dann bezeichnen die singulären Terme ›diese Rose‹ und ›Sokrates‹, die in den komplexen singulären Termen in Feld (III) enthalten sind, nicht die Gegenstände, denen die fraglichen Individuen in der Kategorie der Qualität inhärieren.88 Keine Rose ist mit ihrer Blüte identisch. Also kann die Röte der Rose in Carmens Haar, wenn [B] korrekt ist, nicht sowohl dieser Rose als auch ihrer Blüte inhärieren. Nun ist die Blüte dieser Rose das, was hier rot ist, nicht ihr Stengel, ihre Dornen oder ihre Blätter. Daher sollten wir sagen, dass die Röte einer roten Rose strenggenommen nicht der Blume inhäriert, sondern einem ihrer Teile. (Dasselbe gilt mutatis mutatis für die Blässe des Sokrates.) Auch [A] ist nur korrekt, wenn wir die Dinge streng nehmen: Schneidet Carmen die Blüte einer roten Rose ab, um sie sich ins Haar zu stecken, so überlebt die Röte den Tod der roten Blume. Wenn wir von der Röte dieser Rose sprechen, so ist das bezüglich des subsistierenden Gegenstandes ein totum pro parte – etwa so wie Einwände gegen die Politik Amerikas bei Lichte besehen meist solche gegen die Politik der USA sind. Einzeldinge, die anderen Einzeldingen inhärieren, haben in der Philosophie viele Namen bekommen. Bei Husserl heißen sie individuelle Momente, Bolzano nennt sie Adhärenzen.89 (Wie schon die Verwendung des Plurals zeigt, ist »Adhärenz« in seinem Mund nicht eine Bezeichnung der Relation des Ad- (oder In-)härierens, sondern ein genereller Term, der auf die Gegenstände im Vorderbereich dieser Relation zutrifft.90) Über eines der Exempel in [III] schreibt er:91 Dieß Roth (numero idem) kann sich an keiner zweyten Rose finden. Das Roth, das sich an einer zweyten Rose findet, kann jenem, wenn Sie wollen, gleich, sehr gleich kommen, aber dasselbe kann es nicht seyn, eben weil es nicht dieselbe Rose ist; zu zwey Rosen werden zwey Röthen erfordert.
Wie die Röte eines bestimmten Blütenblatts so sind alle Adhärenzen im Bolzano’schen Verstande dieses Wortes Beschaffenheiten wirklicher (Wirkungen zeitigender) Gegenstände und als solche selber wirklich. Bolzano meint aber keineswegs immer Adhärenzen, wenn er in der Wissenschaftslehre von den Beschaffenheiten wirklicher GegenIntentionalität: Bolzano und Husserl | 123
stände spricht. Das ist ganz offensichtlich, wenn er den Begriff einer »gemeinsamen Beschaffenheit« erklärt und dabei die Beschaffenheit, Hände zu besitzen, als eine vielen Menschen und Affen gemeinsame Beschaffenheit als Beispiel anführt.92 Eine Beschaffenheit, die vielen wirklichen Gegenständen gemeinsam ist, ist natürlich keine Adhärenz, – sie ist (so schlage ich vor zu sagen) ein Attribut, das vielen wirklichen Gegenständen zukommt. Attribute sind im Gegensatz zu Adhärenzen keine wirklichen Gegenstände. Bei der Einführung des Begriffs der gemeinsamen Beschaffenheit kontrastiert ihn Bolzano mit einem anderen Begriff: »Wenn eine gewisse Beschaffenheit des Gegenstandes α … gar keinem andern … zukommt; so nenne ich sie … eine ihm schlechterdings … eigenthümliche oder ausschließlich zukommende Beschaffenheit« (loc. cit.). Allmacht ist in seinen Augen eine solche Beschaffenheit Gottes, und Gott ist für ihn ein wirklicher Gegenstand. Ersichtlich konzipiert er diese Beschaffenheit hier nicht als eine Adhärenz; denn als Adhärenz konzipiert gehört jede Beschaffenheit Gottes so ausschließlich zu ihm wie die Röte eines bestimmten Blütenblattes zu diesem Blütenblatt. Vom Theismus unabhängige Beispiel für diese Sorte von Beschaffenheiten sind die Beschaffenheit Goethes, ein Verfasser der Wahlverwandtschaften zu sein, und die Beschaffenheit des Mondes, ein natürlicher Erdtrabant zu sein. Eine dem Gegenstand α ausschließlich zukommende Beschaffenheit ist (in der eben vorgeschlagenen Terminologie) ein Attribut, das nur ihm zukommt. Die Attribut-Konzeption einer Beschaffenheit wirklicher Gegenstände geht auch in Bolzanos Erklärung anderer Begriffe ein. So definiert er den Begriff einer Hinsicht, in der sich zwei Gegenstände voneinander unterscheiden, wie folgt: »Ein Unterschied … zwischen zwei Gegenständen α und β ist eine Beschaffenheit m, welche dem Einen derselben zukommt, dem andern aber nicht zukommt.«93 Sind die beiden Gegenstände wirkliche Gegenstände, so ist jede Beschaffenheit, die einer von ihnen hat, ein Unterschied zwischen ihnen, wenn man unter der Beschaffenheit eine Adhärenz versteht. Das meint Bolzano aber ganz sicher nicht. Er sagt auf der nächsten Seite: »Eine der schwierigsten Fragen ist es, ob zwischen je zwei Gegenständen … irgendein Unterschied obwalten müsse.« Diese Frage wäre bei zwei wirklichen Gegenständen ganz und gar nicht heikel, wenn der Term ›Beschaffenheit‹ in der Definition von 124 | wolfgang künne
›Unterschied‹ so zu verstehen wäre, dass Adhärenzen unter ihn fallen. Bolzano findet die Frage, ob das Leibniz’sche Prinzip der identititas indiscernibilium korrekt ist, aber gerade im Blick auf wirkliche Gegenstände sehr schwierig.94 Die Frage, wie sich Attribute wirklicher Gegenstände zu deren Adhärenzen verhalten, beantwortet Bolzano nicht. (Er scheint die systematische Zweideutigkeit seiner Rede von Beschaffenheiten wirklicher Gegenstände nicht bemerkt zu haben.) Wie wir gesehen haben, enthält das Ontologische Quadrat eine Antwort auf diese Frage: Solche Attribute sind Spezies von Adhärenzen. Husserl macht sich diese Antwort zu eigen, wenn er schreibt:95 Ein Rotes [ist ein] einen Fall von Rot in sich Habendes Es tritt das primitive Verhältnis zwischen Spezies und Einzelfall hervor, es erwächst die Möglichkeit, eine Mannigfaltigkeit von Einzelfällen vergleichend zu überschauen und eventuell mit Evidenz zu urteilen: In allen Fällen sei das individuelle Moment ein anderes, aber »in« jedem sei dieselbe Spezies realisiert; dieses Rot sei dasselbe wie jenes Rot – nämlich spezifisch betrachtet, sei es dieselbe Farbe – und doch wieder sei dieses von jenem verschieden – nämlich individuell betrachtet, sei es ein verschiedener gegenständlicher Einzelzug.
Ignorieren wir fürs Erste die epistemologischen Züge dieser Passage, – halten wir uns an die ontologische These, die hier formuliert wird: Der Blüte einer Rose kommt das Attribut, rot zu sein, genau dann zu, wenn ein Einzelfall dieses Attributs der Blüte inhäriert. Diese Konzeption ist kategorial ökonomisch: Wenn sie korrekt ist, dann gibt es nicht sowohl Spezies als auch Attribute, sondern manche Spezies sind Attribute. Wenn wir die Begriffe der Zugehörigkeit zu einer Art und der Inhärenz als Grundbegriffe verwenden, können wir definieren (›W-Attribut‹ für ›Attribut wirklicher Gegenstände‹): (Df. A)
x kommt das W-Attribut y zu :↔ ∃z (z ist ein Exemplar von y & z inhäriert x).
Ausgehend von einer Bolzano’schen Position ist Peter Strawson in seiner letzten Publikation bei der in (Df. A) festgehaltenen Position Husserls angekommen. Er hatte Adhärenzen usprünglich als partikularisierte Eigenschaften bezeichnet. »We can say, of a dead man, Intentionalität: Bolzano und Husserl | 125
that his kindness and his intelligence are no more and that the world is the poorer for their loss. What we here speak of are non-substantial (though substance-dependent) particulars, particularized qualities.«96 Die Frage, wie sich die Güte einer Person zu der einer anderen verhält, bleibt unbeantwortet. In seiner letzten Publikation machte Strawson sich (Df. A) der Sache nach zu eigen und klassifizierte die Adhärenzen als »property-instances«.97 Wenn wir dieses ontologische Schema nun auf den Bereich der intentionalen Akte und Zustände anwenden, erhalten wir das folgende Resultat: Die Materie, die zwei intentionalen Akten oder Zuständen α und β gemeinsam ist, ist eine Spezies, von der ein Exemplar α und ein anderes β inhäriert, genau wie das Attribut, rot zu sein, das der Blüte hier und der Fahne dort zukommt, eine Spezies ist, von der ein Exemplar der Blüte und ein anderes der Fahne inhäriert. Anders als Blüten und Fahnen sind intentionale Akte Ereignisse – so wie das Vertrocknen einer Blüte und das Flattern einer Fahne. Letztere kann man als prozessuale Adhärenzen ihrer Subjekte von den statischen Adhärenzen unterscheiden kann, die wir bislang im Auge hatten. Bolzano klassifiziert Akte des Urteilens und des Vorstellens als (ich ergänze: prozessuale) Adhärenzen denkender Wesen,98 und er weist darauf hin, dass Adhärenzen wie das allmähliche Verblassen der Röte einer Blüte Adhärenzen höherer Stufe sind.99 Mithin sind Adhärenzen intentionaler Akte oder Zustände Adhärenzen zweiter Stufe. Und wenn Propositionen und Concepte die Spezies sind, für die der Autor der Logischen Untersuchungen sie hält, dann sind ihre Exemplare Adhärenzen von Adhärenzen erster Stufe. Diese Husserl’sche Theorie100 ist kategorial ökonomisch: Wenn sie korrekt ist, dann gibt es nicht sowohl Spezies als auch Concepte und Propositionen, sondern manche Spezies sind Concepte, manche sind Propositionen. Außerdem erlaubt uns die Theorie, die Relation x ist der Stoff von y zu definieren, die Bolzano für undefinierbar hielt:101 (Df. S)
x ist der Stoff (die Materie) von y : ↔ x ist eine Proposition oder ein Concept & y ist ein intentionaler Akt oder Zustand & ∃z (z ist ein Exemplar von x & z inhäriert y).
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Nun existiert eine Spezies X, so Husserl, genau dann, wenn es möglich ist, dass etwas ein Exemplar von X ist, und er scheint dem Modaloperator im Sinne von ›begrifflich möglich‹, ›widerspruchsfrei konzipierbar‹ zu verstehen. (So etwas wie die Spezies Rundes Quadrat und die Spezies Hölzernes Schüreisen gibt es nach Husserls Existenz-Kriterium nicht, sehr wohl aber so etwas wie die Spezies Geflügeltes Pferd und die Spezies Perpetuum Mobile.102) Mithin existiert die Proposition x dann und nur dann, wenn es möglich ist, dass jemand einen intentionalen Akt vollzieht oder sich in einem intentionalen Zustand befindet, dessen Materie (in specie) x ist. Könnte Bolzano dieser These kohärenter Weise zustimmen?103 Er kann es nicht, solange er daran festhält, dass Urteilsakte (und Meinungen) die einzigen propositionalen Akte (bzw. Zustände) sind. Diese Exklusivitätsthese ist einer (zeitweiligen) Lücke in Bolzanos philosophischen Psychologie geschuldet: Er nimmt an, dass Denken entweder Urteilen oder Vorstellen ist, tertium non datur. Daraus ergibt sich die Exklusivitätsthese, denn eine Proposition kann nicht der vollständige Stoff einer subjektiven Vorstellung sein. Nun kann eine Proposition, die ganz offenkundig falsch ist, nicht Stoff eines Urteilsaktes (oder einer Meinung) sein. Zu Recht erklärt Bolzano es für unmöglich, »daß irgend ein denkendes Wesen im Ernste glaube, daß ein Dreyeck kein Dreyeck wäre«.104 Wenn es Urteilsakte (und Meinungen) mit so offenkundig falschem Gehalt nicht geben kann, so ist es erst recht unmöglich, dass es individuelle Momente gibt, die ihnen inhärieren. Also existiert dann gemäß Husserls Existenz-Kriterium auch keine Spezies, mit der eine solche Proposition identifiziert werden könnte. Aber natürlich wäre dieses Hindernis für Bolzanos Billigung der Spezies-Konzeption der Gehalte propositionaler Akte und Zustände aus dem Weg geräumt, wenn er seine Exklusivitätsthese aufgäbe und einräumen würde, dass es auch nicht-thetische propositionale Akte (und Zustände) gibt. Er könnte dann mit Husserl sagen: Wenn wir den Satz ›Ein Dreieck ist kein Dreieck‹ mit Verständnis lesen, denken wir etwas ohne Zustimmung, und der Gehalt unseres Denkens ist eine offenkundig falsche Proposition. Und in der Tat sollte Bolzano die Exklusivitätsthese aufgeben (aus Gründen, die nichts mit der Frage nach der Akzeptabilität der Spezies-Doktrin zu tun haben), – sie hat nämlich sehr unplausible Konsequenzen. (1.) Angenommen, Intentionalität: Bolzano und Husserl | 127
gestern dachte Anna den Gedanken, dass der Ätna 2002 ausbrach, im Modus des Dahingestellt-sein-lassens, heute hat sie sich kundig gemacht, und sie urteilt, dass der Ätna 2002 ausbrach. Der Exklusivitätsthese zufolge müsste von ihr gelten: Ihr gestriger Denkakt war ein Vorstellen, sein Stoff war also ein Concept, mithin nichts, das wahr oder falsch sein könnte;105 erst ihr heutiger Denkakt hat als Stoff eine Proposition. Aber hat Anna denn nicht gestern genau dasselbe gedacht wie heute? (2.) Bolzano bemerkt zu Recht: »Wer das hypothetische Urtheil: ›Wenn Cajus lasterhaft ist, so ist er unglücklich‹ [fällt], der urtheilt … weder daß Cajus lasterhaft, noch daß er unglücklich sey«.106 Angenommen, Ben fällt erst dieses hypothetische Urteil und urteilt später, dass C lasterhaft ist, um sodann zu schließen (also zu urteilen), dass C unglücklich ist. Ben scheint damit einen makellosen Schluss nach Modus Ponens zu vollziehen. Der Exklusivitätsthese zufolge müsste nun aber gelten: Die Proposition, die der Stoff des kategorischen zweiten Urteils ist, ist nicht der Stoff des Antecedens-Gedankens des hypothetischen ersten Urteils; denn bei diesem Gedanke soll es sich ja um eine subjektive Vorstellung handeln. Warum ist Bens Schluss dann überhaupt gültig? Ein Schluss nach Modus Ponens erfordert doch, dass diese beiden Denkakte genau denselben wahrheitswertfähigen Stoff haben. – Schon in der Wissenschaftslehre hält sich Bolzano nicht immer an die Exklusivitätsthese. Wenn er z. B. schreibt, dass »der Satz an sich … den Inhalt des Gedankens oder Urtheiles ausmacht« oder dass »Sätze an sich … der Stoff sind, den ein denkendes Wesen in seinen Gedanken und Urtheilen auffasst«,107 so redet er selber so, als könne eine Proposition durchaus nicht nur Gehalt eines Urteilsakts (oder einer Meinung) sein, und er kann hier mit ›Gedanken‹ nicht subjektive Vorstellungen meinen. In einer Akademie-Abhandlung zur Ästhethik räumt Bolzano schließlich ganz explizit ein, dass es auch Gedanken gibt, die einen propositionalen Gehalt haben, obwohl sie keine Urteilsakte sind.108 Nun könnte er sich die Auffassung der Gehalte als Spezies zu eigen machen, ohne sich in einen Widerspruch zu verwickeln. Getan hat er es aber nie. Zu Recht behauptet Husserl, dass sich von seiner (in Df. S festgehaltenen) Auffassung der Stoff-von-Relation bei Bolzano nicht die »entfernteste Andeutung« findet.109 Merkwürdigerweise glaubt er dennoch, eine Andeutung dieser Konzeption 128 | wolfgang künne
bei Bolzano bemerkt zu haben. Im ersten Band seines Exemplars der Wissenschaftslehre notiert er auf S. 77 einen Vorverweis: »Daß Bolzano [mit ›Stoff eines Urteilsaktes‹] das Urtheil in specie meint, zeigt das beifällige Zitat aus Mehmel [WL I] 85.« Tatsächlich führt Bolzano dort aus der Analytischen Denklehre des Erlanger FichteAnhängers zustimmend die folgenden Worte an: »Das Urtheil objectiv, das ist, mit Abstraction von dem Geiste, dessen Handlung es ist, betrachtet, heißt ein Satz«.110 Abstraktion gilt nun traditionell als ein Verfahren, mit dessen Hilfe man, von Einzeldingen (particulars) ausgehend, einen kognitiven Zugang zu einer Spezies gewinnt, der sie angehören. Daher ist Husserls Randbemerkung zu dieser Stelle nicht unplausibel: »Das wäre das Urteil in specie«.111 Auch in Ideen I weist Husserl auf WL I, 85 hin, doch er sagt zu Recht, dass Bolzano nicht die »noetische« (oder Spezies-) Konzeption des Satzes an sich »im Auge hatte«, sondern die »noematische«.112 Das »beifällige Zitat« ist allemal keine tragfähige Basis für die These, Bolzano habe (als wahr anerkannte) Propositionen als Spezies von Urteilsakten aufgefasst. Dass Bolzanos »Beifall« für Mehmels Worte nicht allzu laut sein kann, zeigt seine scharfe Kritik an Franz Exners Versuch, sich just mit Hilfe des Begriffs der Abstraktion einen Reim auf die Idee des Satzes an sich zu machen. Was er Exner entgegenhält, hätte er nämlich mit demselben Recht auch gegen Mehmel einwenden können: Dadurch dass man davon absieht, dass ein Urteil ein mentaler Akt ist, hört es nicht auf, ein mentaler Akt zu sein.113 Husserl selber gab die Spezies-Auffassung der Propositionen und Concepte vor dem Jahr 1913 auf, in dem er Ideen I publizierte.114 Was er als falsch verwarf, war nicht die These, dass Attribute wirklicher Gegenstände Spezies von individuellen Momenten sind, sondern die These, dass das auch von den Materien gilt, die verschiedenen intentionalen Akten oder Zuständen gemeinsam sind. In einem Brief an seinen ehemaligen Doktoranden Roman Ingarden ließ er keinen Zweifel daran, worin er inzwischen den Kardinalfehler in den Logischen Untersuchungen zu erblicken glaubte:115 Der Fehler lag vor allem in der Fassung des ›Sinnes‹ u. ›Satzes‹ bei Urtheilserlebnissen … als … Species. Die Unabhängigkeit des Seins eines Satzes von dem zufälligen Urtheil u. Urtheilenden besagt noch nicht, daß das ideal-Identische ein Specifisches ist. Intentionalität: Bolzano und Husserl | 129
Wenn die Spezies-Doktrin für die Gehalte der Urteilsakte unhaltbar ist, wie Husserl im ersten Satz sagt, dann ist sie es auch für die Gehalte aller anderen propositionalen Akte und Zustände, und ein Argument, mit dem das gezeigt wird, müsste sich mutatis mutandis auch gegen die entsprechende Auffassung der Gehalte nominaler Akte und Zustände ins Feld führen lassen. Im zweiten Satz ist der Ausdruck ›ein Specifisches‹ eine verunglückte stilistische Variante des Ausdrucks ›eine Species‹ im ersten Satz. Was Husserl hier sagt (sagen will), ist einleuchtend: man verwickelt sich in keinen Widerspruch, wenn man die Unabhängigkeitsthese akzeptiert, ohne die Spezies-Doktrin zu unterschreiben: Bolzanos Theorie ist (genau wie die Freges) ein Beleg dafür. Aber der Hinweis auf die Konsistenz dieser Option zeigt natürlich noch nicht, warum Husserl jene Doktrin inzwischen für falsch hält. In Husserls posthum veröffentlichtem Buch Erfahrung und Urteil, das Landgrebe in seinem Auftrag aus Manuskripten der Jahre 1910-1929 zusammengestellt hat,116 findet man einen Versuch, diese Frage (wieder pars pro toto für den Fall der Gehalte propositionaler Akte) zu beantworten. Der Titel des einschlägigen Abschnitt ist die Antithese zur Spezies-Doktrin: »Die Irrealität der Verstandesgegenständlichkeiten bedeutet nicht Gattungsallgemeinheit«.117 Propositionen und Concepte sind »Verstandesgegenständlichkeiten«; sie sind »irreale« (oder »ideale«) Gegenstände, weil sie nicht »in einer möglichen Sinnlichkeit perzipierbar« sind.118 Husserls selbstkritisches Räsonnement beginnt so:119 Gewiß ist ein Satz insofern allgemein, als er auf eine unendliche Zahl setzender Akte hinweist, in denen er eben vermeint ist; aber er ist nicht allgemein im Sinne der Gattungsallgemeinheit.
›Satz‹ heißt hier (wie so oft auch bei Bolzano) soviel wie ›Proposition‹. Die erste Hälfte dieser Bemerkung ist einigermaßen kryptisch. Dass eine Proposition auf unendlich viele setzende Akte »hinweist«, in denen sie vermeint ist, heißt wohl kaum mehr als: Sie kann in beliebig vielen setzenden Akten vermeint sein. Muss es sich bei diesen Akten um »setzende« handeln, also um solche, in denen das Subjekt die Proposition als wahr anerkennt? (Kann die Proposition, dass manche Dreiecke keine Dreiecke sind, in einem »setzenden« Akt vermeint sein?) Es genügt doch wohl, dass es sich um propositionale Akte handelt. Wie ist das Verbum in dem Prädikat ›die Akte 130 | wolfgang künne
x1, x2, … und xn vermeinen y‹ zu verstehen?120 Würde Husserl damit sagen wollen, dass y der intentionale Gegenstand von x1, x2, … und xn ist, dann könnte man mit seiner Überlegung auch zeigen, dass der Eiffelturm »allgemein« (ein allgemeiner Gegenstand) ist; denn er kann ja das intentionale Objekt beliebig vieler Akte sein. Das Prädikat ›die Akte x1, x2, … und xn vermeinen y‹ muss hier bedeuten, dass y die Materie all dieser Akte ist. Wenn Anna jetzt urteilt, dass der Ätna ein Vulkan ist, dann ist der Gehalt ihres Aktes etwas, das Gehalt von beliebig vielen anderen Akten (Annas wie anderer Personen) sein kann. – Husserls zweiter Satz ist erfreulicherweise auf Anhieb verständlich. Er ist schlicht die Negation seiner früheren Spezies-Doktrin. Soweit ist also noch kein Argument gegen diese Auffassung in Sicht. Man findet es im nächsten Absatz des Texts:121 Um den Satz 2 < 3 zu erfassen als diesen Satz, den wir etwa … zergliedern wollen, haben wir nicht Urteilsakte, die urteilen, es sei 2 < 3, vergleichend zu behandeln; wir haben kein generalisierende Abstraktion zu vollziehen, und demnach finden wir auch nie und nimmer den Satz als Gattungsmäßiges, als ob dementsprechend in jedem Urteilsakt ein eigenes Moment, ein individueller Satz vorfindlich wäre. Jedes Urteil für sich meint den Satz: den Satz, und dieser gemeinte ist von vornherein der irreale.
Wie ist das Verbum »meinen« im letzten Satz zu verstehen?122 Es ist wohl nur eine stilistische Variante seines um eine Silbe längeren Vorgängers. Würde Husserl mit dem Prädikat ›die Akte x1, x2, … und xn meinen y‹ sagen wollen, dass y der intentionale Gegenstand all dieser Akte ist,123 so würde er seine frühere Position hier völlig falsch darstellen: Die Spezies-Doktrin impliziert ja keineswegs, dass das Materie-Moment eines Urteilsaktes dessen intentionales Objekt ist. Das merkwürdige Prädiktat muss also genau wie sein Vorgänger bedeuten, dass y die Materie von x1, x2, … und xn ist. Warum gibt es nun, wenn zwei Urteilsakte U1 und U2 dieselbe Materie, denselben propositionalen Gehalt haben, außer der einen Proposition nicht noch zwei individuelle Momente, das Materie-Moment von U1 und das Materie-Moment von U2, die schon wegen der Nicht-Identität ihrer ›Träger‹ U1 und U2 verschieden sind? Husserls Antwort auf diese Frage ist in den vorangegangenen Sätzen unseres Zitats entIntentionalität: Bolzano und Husserl | 131
halten. Sie erinnern uns zugleich an die bislang vernachlässigte epistemologische Komponente der Passage, die ich bei der Vorstellung der Husserl’schen Spezies-Konzeption der Attribute zitiert habe:124 Ein Rotes [ist ein] einen Fall von Rot in sich Habendes … es erwächst die Möglichkeit, eine Mannigfaltigkeit von Einzelfällen vergleichend zu überschauen und eventuell mit Evidenz zu urteilen: In allen Fällen sei das individuelle Moment ein anderes, aber »in« jedem sei dieselbe Spezies realisiert …
Das schrieb Husserl 1901 in der »Einleitung« zur II. Logischen Untersuchung, die den Titel »Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien« trägt: Wenn er Recht hat, dann wird uns durch eine »generalisierende Abstraktion« im Ausgang von der Wahrnehmung verschiedener individueller Rot-Momente die Spezies, deren Exemplare sie sind, kognitiv zugänglich oder (wie Husserl sagt) »vorstellig«.125 Diese Überzeugung hat Husserl auch noch ein Jahrzehnt später, aber in seinem selbstkritischen Argument will er jetzt dartun, dass im Falle der Akt-Materie nicht im Ernst von einem solchen Verfahren die Rede sein kann. Angenommen, jemand urteilt zur Zeit t, dass p, und er will nun einer Frage über die Proposition, dass p, nachgehen, z. B. der Frage, was sie impliziert. Um das tun zu können, muss er nicht erst diverse weitere Akte des Urteilens, dass p, »vergleichend überschauen« und dabei feststellen, dass jeder von ihnen ein individuelles Moment hat, das einem individuellen Moment in dem zu t vollzogenen Akt gleicht, um so so Zugang zu der Spezies zu gewinnen, der alle diese Momente als Exemplare zugehören. Eine solche (introspektive?) Prozedur ist vollkommen überflüssig; denn wer fähig ist zu urteilen, dass p, der hat die Proposition, dass p, bereits erfasst.126 Was von Propositionen gilt, dass gilt mutatis mutandis auch von den Concepten, die ihre Teile sind. Michael Dummett argumentiert für diesen Fall ganz ähnlich wie Husserl in unserem Text (und ganz unabhängig von diesem Text):127 The relation between … a meaning as a constituent of a proposition that can be grasped by different people … and [a meaning] as involved in a particular act of thinking is not that of type to token, or of universal to instance: the individual act exploits the general 132 | wolfgang künne
meaning. Mathematicians do not, for example, first have various thoughts involving the concept of integration, and then arrive … at the general concept by noticing what is in common between all these individual acts.
Zeigen diese Überlegungen – wie Husserl und Dummett annehmen –, dass die Spezies-Konzeption der Propositionen und Concepte nicht haltbar ist? Ich glaube nicht. Sie zeigen nur: Propositionen und Concepte werden uns nicht auf die Weise kognitiv zugänglich, wie uns (wenn Husserls Konzeption der generalisierenden Abstraktion korrekt ist) W-Attribute zugänglich werden. Wer annimmt, dass es sich in jedem dieser drei Fälle um Spezies handelt, kann zugeben, dass uns diese Spezies nicht auf dieselbe Weise zugänglich werden. Im Übrigen zeugt es nicht von Mangel an Kohärenz, wenn man überzeugt ist, dass W-Attribute Spezies von individuellen Momenten sind, ohne Husserls Auffassung zu teilen, dass generalisierende Abstraktion der Königsweg zu den so konzipierten W-Attributen ist. (Bei Strawson beispielsweise findet sich keine Spur dieser epistemologischen These.) Das eigentliche Problem mit der Annahme der Materie-Momente ist nach meinem Dafürhalten ein ganz anderes: Sie ist nicht über den Verdacht erhaben, ein leerlaufendes Rad zu sein. Worin besteht denn das explanatorische Potential dieser Annahme, – was kann man mit ihrer Hilfe erklären, was man nicht schon mit Hilfe der Annahme erklären kann, dass manchmal verschiedene intentionale Akte ein und denselben propositionalen (oder conceptuellen) Gehalt haben? Ich sehe nur den oben bereits angeführten ›begriffsökonomischen‹ Vorteil der Annahme von Materie-Momenten: Sie erlaubt es uns, mit Hilfe von Begriffen, die jeder benötigt, der glaubt, dass es Spezies von Substanzen und dass es Adhärenzen oder individuelle Momente von Substanzen gibt, einen andernfalls undefinierbaren Begriff zu definieren – den Begriff, den das zweistellige Prädikat ›x ist die Materie (der Stoff, der Gehalt) von y‹ ausdrückt. Natürlich stellt sich die Frage nach dem explanatorischen Potential auch schon angesichts der Annahme, es gebe überhaupt so etwas wie Adhärenzen. Aber hier scheinen mir die Aussichten auf eine befriedigende Antwort erheblich besser zu sein.128
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Anmerkungen
Husserl 1913, § 146. 2 Husserl 1911, 97. 3 LU I, 225. 4 Vgl. Künne 2008, 326–330. 5 Twardowski 1926, 11. 6 Husserl 1894 ist unter seinen Texten einer der nicht allzu vielen, die leserfreundlich geschrieben sind. 7 Husserl 1896. 8 Bolzano 1851. 9 Husserl 1913/39, 297 f., Anm.; zur Überlieferungslage vgl. S. LI der Einleitung des Hg. zu Hua XX/1. Zu Husserls autobiographischen Angaben vgl. oben Kap. 1; bibliographische Informationen zu Cantor und Stolz in Künne 2008, 414, 443. 10 Bolzano, WL I, 222. (Die Wissenschaft slehre wird hier mit der BandNummer und der Seitenzahl des Originals zitiert.) 11 Vgl. insbesondere LU II/1, 5. Unters., Kap. 2–5. 12 Den kategorialen Unterschied zwischen intentionalen Akten (wie Wahrnehmen und Urteilen) und intentionalen Zuständen (wie Hassen und Glauben) berücksichtigt Husserl in den LU noch nicht (vgl. Künne 1986, 174 f.). Bolzano tut es in WL III, 200, 208. 13 Vgl. LU II/1, 458–476. 14 LU II/1, 411–416. 15 op. cit. 500, Nr. 3. 16 Zu diesen Distinktionen vgl. Künne 1986, 190–202 (mit Hinweisen auf weitere Husserl-Texte). 17 Twardowski 1894, 17. 18 Bolzano, WL I, 244. 19 Das ist jedenfalls Twardowskis Intention. Seine Psychologisierung von Bolzanos Stoff-Konzeption wird in Husserl 1896 zu Recht als Fehlinterpretation verworfen; vgl. Künne 2008, 349. Allgemein zu Husserls Auseinandersetzung mit Twardowski: Fréchette Kap. 6.1–2. 20 Bolzano, WL I, 445 f.; III, 14; vgl. LU II/1, 47, 414. 21 Perry 386 ff. 22 Quine 179 f., cp. 152 ff. 23 Dummett 1973, 269; vgl. 187, 264, 290. Searle räumt ein, dass es nichtpropositionale intentionale Akte und Zustände gibt, aber er sagt von ihnen: »in general, they require the presence of beliefs and desires« (Searle 1994, 383; vgl. 1983, 6 f., 34 f.). Aber auch diese nicht-reduktivistische These ist dubios: welche Meinung, welchen Wunsch muss man haben, wenn man einen Baum sieht? Vielleicht soll das Präfi x »in general« die These vor Gegenbeispielen schützen … 1
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So auch Crane § 34. Einen Überblick über fehlgeschlagene Reduktionsversuche gibt Montague. 25 Das Problem klingt zum ersten Mal in Platons ›Theaitetos‹ (189A) an. 26 Bolzano, WL I, 304 f. 27 Ein Concept hat genau dann einen Umfang, wenn mindestens ein Gegenstand unter es fällt (WL I, 297 ff., 304). Bolzano gebraucht das Wort ›Umfang‹ also anders, als wir ›Extension‹ zu verwenden pflegen. 28 Ein Gedanke ist bei Bolzano (anders als bei Frege) etwas Psychisches, – ein Denken, dass es sich so-und-so verhält, oder ein Denken an einen Gegenstand. Im hier gegebenen Fall sind Gedanken der zweiten Art gemeint, also subjektive Vorstellungen. 29 Twardowski 1894, 24; vgl. Meinong 1904, bes. §§ 1–4. Zu Twardowskis Auseinandersetzung mit Bolzano vgl. Fréchette Kap. 5. 30 Bolzano, WL I, 362, 366; III, 16, u.ö. 31 Husserl 1894b, 158. Zu diesem Text und seiner Erstedition 1894a vgl. Fréchette 330–352, 373 f. 32 Kerry hatte es ebenfalls getan: Kerry 1886, 428, 444; 1891, 131. Und der Sache nach tut es auch Frege. 33 Husserl 1894b, 142 f; Nummerierung und Einrückung der kursivierten Sätze von mir. 34 So ganz spricht Husserl hier nicht mit Bolzano; denn bei dem hat das Adjektiv (meistens) kein Fugen-s. 35 Russells »present king of France« hat hier 11 Jahre vor ›On Denoting‹ seinen ersten Auft ritt. 36 Hier sind Husserl zwei Fabelwesen durcheinander geraten. Dem Nemëischen Löwen sein Fell abzuziehen, war Herakles erste Strafarbeit, und die zweite war, die Lernäische Hydra zu erlegen. 37 Oben auf Seite 103. Die missliche Formulierung fi ndet man auch in Bolzano (22.11.1834) 68. 38 Bolzano 1838, 293; vgl.. WL II, 213. Zum »Kanon« Descartes, Principia philosophiae I, § 52; Leibniz, Essais de théodicée, III, § 387. 39 Meinong 1904. Zu Meinong als Leser Bolzanos vgl. Künne 2008, 362 ff. 40 Husserl 1894b, 148. 41 Husserl 1894b, 148 f. 42 LU II/1, 425; vgl. ebd. 124 u. Husserl 1901, 76. 43 Thomas, Summa Theologiae Ia IIae, q.12, a. 1c. 44 Hua XII, 464. 45 Husserl 1894b, 150. 46 Husserl 1894b, 159–160. 47 Vgl. Künne 1995; dazu und zu Husserls Version des Geschichten-Operators: Beyer 2004. 48 Husserl 1894b, 151. 49 Husserl 1894b, 151 f. Leider ist er es in der ersten Logischen Untersuchung 24
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nicht immer: »Jeder Ausdruck besagt nicht nur etwas, …, sondern er bezieht sich auch auf irgendwelche Gegenstände… Die klarsten Beispiele … bieten uns die Namen« (LU II/1, 47 f.). 50 Vgl. Künne 2008, 268 ff. 51 LU II /1, 373, meine Herv. (Ich habe den Text mit ›Lesezeichen‹ in Gestalt von Ziffern versehen.) 52 Das zweite Pronomen in (S) signalisiert genauso wenig eine reflexive Struktur in re wie das vorletzte Wort in ›Darin habe ich mich geirrt‹. 53 LU II/1, 372 54 Goethe, Dichtung und Wahrheit, III.10. 55 Diese Deutung von (A) schreibt Arnaud (197) dem späten, ›reistischen‹ Brentano zu. 56 Vgl. zum Folgenden auch Künne 1983/2003, Anhang (»Fiktive Gegenstände«) § 2 über Nelsons Goodmans Ringen mit der Frage nach der logischen Form von Sätzen wie ›Dieses Bild stellt Pegasus dar‹. 57 Anscombe 1965, 5. 58 Hier kehrt Husserl plötzlich die bisherige Reihenfolge Nichtexistent/ Existent um. Das letzte Beispiel in [7] ist sein Exempel für einen »widersinnigen« Gegenstand, für einen Gegenstand, den es aus begriffl ichen Gründen nicht geben kann. Bekanntlich hat Theaitetos bewiesen, dass es genau fünf reguläre Vielflächner gibt, und keiner von ihnen hat mehr als 20 Seiten. 59 LU II/1, 402. 60 Im Vokabular weiche ich von ihm ab. Er spricht öft ers von der »Gegenständlichkeit« statt vom »Gegenstand« eines Aktes, u. a. um anzudeuten, dass bei propositionalen Akten nicht an »Gegenstände im engeren Sinne« zu denken ist (LU II/1, 38); ich verwende »Gegenstand« so, dass gilt: ∀x (x ist ein Gegenstand). Husserl reserviert den Ausdruck »Tatsache« manchmal für Sachverhalte, bei denen die Sachen, die sich so-und-so verhalten, »reale« (zeitliche, wahrnehmbare) Gegenstände sind (Hua XXII, 259 f.); ich verwende ihn so, dass man nicht nur zu Recht sagen kann: ›Die Tatsache, dass die Sonne größer ist als der Mond, ist identisch mit der Tatsache, dass der Mond kleiner ist als die Sonne‹, sondern auch: ›Die Tatsache, dass 24 < 18, ist identisch mit der Tatsache, dass 18 > 24.‹ Zum Gebrauch von »Tatsache« in den LU vgl. besonders II/1, 460 f., 472–477. 61 Vgl. LU II/1, 323 f, 459 f.; Künne 2003, 7–12, 141–145, 252 f., 257. 62 Husserl 1906/07, 287. In einander entsprechenden Urteilen des Typs ›a > b‹ und ›b < a‹ wird, so Husserl, derselbe Sachverhalt auf verschiedene Weise aufgefasst (LU II/1, 48). Die damit vorausgesetzte These, dass Sätze der Form ›R (a, b)‹ und ›R konvers (b, a)‹ verschiedene Propositionen ausdrükken, scheint Bolzano in WL II, 85 implizit zu bestreiten, doch in WL II, 140 f. bejaht er sie explizit – in Übereinstimmung mit seinen sonstigen Doktrinen. 63 Vgl. Meinong 1910, Kap. 3 (bes. 95, 101) u. 240, 277; ders. 1915, 39, 91. (Das 136 | wolfgang künne
Objektiv, dass p, ist genau dann »untatsächlich«, wenn das Objektiv, dass nicht-p, »tatsächlich« ist.) 64 Ich spiele hier auf die oben bereits zitierte Stelle in LU II/1, 423 an: »Der Gegenstand ist ein ›bloß intentionaler‹ … heißt: die Intention, das einen so beschaffenen Gegenstand ›Meinen‹ existiert, aber nicht der Gegenstand. Existiert andererseits der intentionale Gegenstand, so existiert nicht bloß die Intention, das Meinen, sondern auch das Gemeinte.« 65 Reinach 1911, 114 Anm. 66 Vgl. etwa Meinong 1910, Kap. 3, bes. 94, 100. 67 Diese Konfusion ist trotz Reinachs Kritik auch in der 2. Auflage noch nicht ganz getilgt: Belege in Künne 1986, 199. Dass Husserl an einer einzigen Stelle in den LU (II/2, 124) von einem »wahrmachenden Sachverhalt« spricht, ist kein Beleg für die endgültige Überwindung der Konfusion. 68 Husserl 1902, 142; Zitat aus LU II/1, 445. Was den Ausdruck ›Objektiv‹ angeht, hätte er auch auf LU II/1, 164 verweisen können. (Neun Tage …: vgl. Schuhmann 1977, 71. In seinem Brief äußert Husserl einen m. E. abwegigen Plagiatsverdacht, auf den Meinong sehr souverän reagiert.) 69 Husserl 1913a/39, 299. 70 Eine Proposition ist genau dann gegenständlich, wenn ihr Subjekt-Begriff gegenständlich ist: Bolzano, WL II, 25, 77, 331. 71 Husserl 1905, 39. Vgl. Künne 2008, 324. 72 Lotze 21880, §§ 313–321. 73 Husserl 1903, 156. 74 Su Husserl in einer (in der Einleitung zitierten) autobiographischen Aussage. 75 Lotze 21880, 521; vgl. Bolzano, WL II, 35. 76 loc. cit. 77 WL II, 7, 77. 78 Vgl. Frege 1919, 144–147, kommentiert in Künne 2010, 544–554. 79 Dafür argumentiert Beyer 1996, 131–152. 80 Dazu Künne 2008, 350 ff. 81 Husserl 1903, 156 f. 82 LU II/1, 100–103; Husserl 1908, 31–35. 83 Mit dieser Interpretation von Cat. Kap. 2, die von Porphyrios bis Ross, Anscombe und Ackrill die Standard-Deutung war, konkurriert inzwischen die von Owen 1965 und Frede 1978, derzufolge die Entitäten in [III] infimae species sind. Der Standard-Deutung von Cat. 2 verdankt auch Lowe das Gerüst seiner »four-category ontology«. Statt ›x ist ein Exemplar von y‹ sagt Lowe (18 et passim): ›y is instantiated by x‹. 84 LU II/1, 280; vgl. II/2, 139, 151. 85 So im letzten eingerückten Zitat. (Ich hätte gedacht, dass man im Deutschen unter Einzelheiten Details versteht.) 86 LU II/1, 2. Untersuchung, bes. Kap. 1–2. Auch Sachverhalte sind keine Intentionalität: Bolzano und Husserl | 137
wahrnehmbaren Gegenstände: LU II/1, 445, 460. (Wenn wir sehen, dass das Flugzeug landet, dann sehen wir die Landung des Flugzeugs, ein Ereignis, und dabei auch das Flugzeug, ein Ding, und wir urteilen auf dieser Basis, dass das Flugzeug landet.) Wenn Sachverhalte »allgemeine Gegenstände« wären, müsste es eine Antwort auf die Frage geben, was ihre Einzelfälle sind. Die Frage klingt wohl nicht nur abwegig, und Husserl stellt sie in den LU auch nicht. Das spricht dafür, dass er Sachverhalte (einleuchtender Weise) nicht für allgemeine Gegenstände hält. Dann aber ist unklar, wie sich die ontologischen Begriffe ideal und allgemein in seinen Augen zueinander verhalten. 87 Ich ziehe diese altmodische Terminologie der eingängigeren Lowes vor, der ›x is characterized by y‹ statt ›y inhäriert x‹ sagt (18 et passim); denn sein Terminus ist auch dann korrekt anwendbar, wenn x diese Blume und y die Eigenschaft, rot zu sein, ist, die sie mit allen roten Dingen teilt. 88 Vgl. Schnieder 2008, 197–215. 89 Vgl. bes. Bolzano 1838, 21–27, dazu Künne 1998 u. Schnieder 2002. Für viele Jahrhunderte hießen die in Feld (III) bezeichneten Gegenstände ›individuelle Akzidenzien‹ und ›modi‹; in Lowe 18 et passim werden sie sie ›modes‹ bezeichnet. (Im den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. machten australische Philosophen den seit Jahrhunderten für ganz anderes vergebenen Titel ›tropes‹ als Bezeichnung für individuelle Akzidenzien populär; weswegen inzwischen leider auch in unseren Breiten häufig von der Ontologie der Tropen die Rede ist.) 90 In diesem Punkt ist die Bemerkung über Bolzanos Begriffl ichkeit in Strawson 2006, 305 zu korrigieren. 91 Bolzano (23.08.1833), 32 f. 92 WL I, 523 f; vgl. WL III, 68. 93 WL I, 530; vgl. WL III, 417. 94 Vgl. WL I, 463, 490, 532 f.; (14.01.1834) 42. 95 LU II/1, 109; vgl. ebd. 155. 96 Strawson 1974, 131. 97 Strawson 2006, so auch Lowe 21 f. et passim. Vgl. Strawson. 1959, 168 f., mit Anm. 1. Statt ›x inhäriert y‹ sagt Strawson: ›x is attributively tied to y‹. 98 Bolzano 1838, passim; WL III, 10 ff., 109, 112. 99 Bolzano 1838, 23. 100 Konzis dargestellt in Simons 113 f. 101 Vgl. Bolzano (18.12.1834) 84 f. (Hier spricht Bolzano von der Konversen der Relation ›x ist der Stoff von y‹, für die er nicht nur hier den sehr irreführenden Ausdruck ›y fasst x auf‹ verwendet.) 102 Husserl 1903, 159; LU II/1, 343; 1910, 450. Vgl. Künne 1983 / 2007, Kap. III, § 1. 103 Vgl. die Diskussion dieser Problematik in Textor 1996, 16–25. 104 Bolzano (18.12.1834) 84; vgl. WL I, 176. 105 WL I, 238–243. Bei diesem Concept müsste es es sich um das Concept 138 | wolfgang künne
[die Proposition, dass p] handeln: dazu Künne 2008, 174. (Wenn wir behaupten, die Proposition, dass p, sei wahr, so behaupten wir natürlich nicht von jenem Concept, es sei wahr, sondern von der Proposition, die unter es fällt.) 106 WL I 86; vgl. ebd. 90, 157. 107 WL I, 78, WL II, 4 (meine Herv.). 108 Bolzano 1847, sub I.B; vgl. §§ 13–17. 109 Husserl 1903, 157. 110 Mehmel 1803, § 217, in WL I, 93 erneut herangezogen, wo Husserl in seinem WL-Exemplar (wie mir G. Fréchette berichtet hat) das Zitat unterstreicht. (Mit einer Anspielung auf Mephistos sarkastische Bemerkung über das Collegium Logicum sandte Mehmel sein Buch übrigens nach Weimar: s. Briefe an Goethe – Regestausgabe, Weimar 1980 ff., No. 4/1019.) 111 Marginalien in Husserls WL-Exemplar zitiert nach Rollinger 63 f. 112 Husserl 1913a, 196 Anm.; vgl. auch den Hinweis in Husserl 1908, 33, 156 Anm. 113 Vgl. Bolzano (22.11.1834) 65 f., (18.12.1834) 82 ff. Seit 1830 reiste das Manuskript der WL von einem deutschen Verleger zum andern, bis das Buch schließlich 1837 in Bayern veröffentlicht wurde. 114 Die Vorlesungen Husserl 1908 dokumentieren seinen Sinneswandel. Heidegger machte 1914 in seiner Dissertation die (autobiographische) Bemerkung, dass er die Spezies-Konzeption »nicht als ganz glücklich bezeichnen möchte« (56). 115 Husserl 1918, 182. In 1930, 269 äußert sich Husserl erfreut über die Kritik an der Spezies-Konzeption in Ingarden 1931, 99 f. Ingarden kritisiert dort aber nicht die Spezies-Konzeption als solche, sondern die These der LU, die fraglichen Spezies seien stets »unzeitlich«. 116 Vgl. oben, Kap. 1. 117 Husserl 1938, § 64 d). 118 LU II/1, 280. 119 Husserl 1939, 314. 120 Es hat hier sicher nicht denselben Sinn wie in ›Er vermeinte, ein Licht in der Ferne zu sehen‹; denn Akte können ja wohl nicht (irrtümlich) etwas glauben. (Nicht nur wegen seines idiosynkratischen Gebrauchs vieler Wörter, die man im Deutschen ganz anders zu verwenden pflegt, bereitet Husserls Prosa dem Leser oft hermeneutische Qualen. Sie werden wohl noch gesteigert, wenn man auf Übersetzungen seiner Texte angewiesen ist. Zur Aufheiterung empfehle ich die Lektüre von Jonathan Barnes’ Frotzeleien: s. u. Bibl.) 121 Husserl 1939, 315. 122 Es hat hier ja sicher nicht denselben Sinn wie in ›Sie meinte den Sohn, nicht den Vater‹; denn Akte können ja wohl nicht Propositionen im Sinn haben. (Klar ist auch, dass ›meinen‹ hier weder soviel wie ›glauben‹ noch soviel wie ›sagen wollen‹ heißen kann.) Intentionalität: Bolzano und Husserl | 139
In diesem Sinn verwendet Husserl diese Formulierung sehr oft . Man vergleiche z. B. die oben auf S. 107 angeführte Passage aus LU II/1, 425. 124 LU II/1, 109, oben S. 125 ; zum Beispiel der Farbmomente vgl. auch Husserl 1939, 314/315. 125 LU II/1, 122/1123. Eigentlich ist ›x wird vorstellig (sc. bei y)‹ ja das behördendeutsche Äquivalent zu ›x wendet sich (an y)‹; aber Husserl schreibt ja oft so, als kenne er die etablierte Verwendungsweise der Wörter gar nicht, die er für theoretische Zwecke einsetzt. 126 Damit kann man sich vielleicht auch einen Reim auf die Wendung »von vornherein« im letzten Satz der oben zitierten Selbstkritik machen. 127 Dummett 1994, 67 f. 128 Vgl. dazu Mulligan et al., 304–308, Schnieder 2002, 98–111 u. 2004, 162 f und die dort angegebene Literatur, der man inzwischen u. a. Strawson 2006, 302 f. und Lowe (u. a. 23 f.) hinzufügen kann. 123
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– Dagfinn Føllesdal –
Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns bei der Konstitution der Welt
In diesem Aufsatz werde ich Husserls und Heideggers Ansichten zu der Rolle des menschlichen Handelns bei der Konstitution der Welt diskutieren. Während die Grundidee in Husserls Phänomenologie darin besteht, dass wir die Welt durch unser Bewusstsein konstituieren, besteht Heideggers Hauptbeitrag zur Philosophie – so denke ich – in dem Nachweis, dass jede Art von menschlicher Aktivität, dass alle Formen unseres Bezugs auf die Welt, auf andere Menschen und auf uns selbst einen Beitrag zur Konstitution der Welt leisten. Das ist meines Erachtens ein Fortschritt gegenüber Husserl. Aber es gibt auch Passagen in Husserls Schriften, insbesondere in seinen unveröffentlichten Manuskripten, aus denen hervorgeht, dass auch er der Auffassung war, dass unsere Handlungen und praktischen Aktivitäten eine Rolle bei unserer Konstitution der Welt spielen. Wir werden diese Passage später betrachten. Schauen wir uns zunächst einmal an, wie Husserls und Heideggers Auffassungen über Konstitution in ihren veröffentlichten Schriften aussehen und worin sich ihre Auffassungen unterscheiden. Beginnen wir mit Husserl.
§ 1. Husserls Auffassung der Konstitution: Intentionalität Für Husserl ist »Konstitution« nur ein anderer Name für die Intentionalität des Bewusstseins. Bekanntlich war Husserl wie sein Lehrer Brentano der Meinung, dass Bewusstsein durch eine Art von Gerichtetsein charakterisiert ist: Es scheint immer einen Gegenstand zu geben, auf den das Bewusstsein gerichtet ist, einen Gegenstand, von dem wir ein Bewusstsein haben. Wenn wir denken, so scheint es immer etwas zu geben, woran wir denken, wenn wir wahrnehmen, etwas, das wir wahrnehmen, | 145
usw. für alle anderen Arten von psychischen Akten. Brentano versuchte, diesen Begriff des Gerichtetseins mithilfe des Begriffs eines »intentionalen Gegenstandes« zu klären, aber er geriet in die größten Schwierigkeiten bei den Fällen, in denen es keinen solchen Gegenstand gibt – wie z. B. im Fall der Halluzination oder des Denkens an Pegasus. Man kann versuchen, diese Schwierigkeiten zu beseitigen, indem man annimmt, dass die Gegenstände unseres Bewusstseins nicht real, sondern irgendwie in unserem Bewusstsein enthalten sind, was auch immer das heißen mag. Aber durch ein derartiges Ausdünnen der Gegenstände entstehen bei vielen anderen mentalen Akten Schwierigkeiten, so z. B. bei Akten der normalen Wahrnehmung. Nach jener Auffassung scheinen wir, wenn wir einen Baum sehen, nicht den realen Baum zu sehen, der vor uns steht, sondern etwas anderes, das wir auch dann gesehen hätten, wenn wir halluziniert hätten. Die Auffassung, dass jeder Akt auf einen Gegenstand gerichtet ist, erzeugt also ein Dilemma. Husserl löste dieses Dilemma, indem er eine Analyse des Bewusstseins vorschlug, bei der nicht entscheidend ist, ob es einen Gegenstand gibt, auf den der Akt gerichtet ist, sondern bei der es darauf ankommt, worin das Gerichtetsein besteht, also darauf, welche Züge des Bewusstseins es sind, kraft derer Bewusstsein immer so ist, als ob es Bewusstsein von etwas ist. Im Falle der Wahrnehmung ist Husserl also an denjenigen Zügen des Bewusstseins interessiert, die dafür sorgen, dass ein Wahrnehmungsakt so beschaffen ist, als ob er ein Wahrnehmen eines Gegenstandes von der-und-der Art ist, der in gewissen Beziehungen zu anderen Gegenständen und zu uns steht. Husserl ist außerdem an den Zügen des Aktes interessiert, die ihn zu einem Wahrnehmungsakt machen und nicht etwa zu einem Akt des Erinnerns oder Imaginierens.
§ 2. Noema Alle diese Züge des Aktes zusammen, also sowohl diejenigen, die seinen Gegenstand, wenn er denn einen hat, als auch diejenigen, welche die Aktsorte bestimmen, bezeichnet Husserl als Noema des Aktes (νóημα, griechisch: das Gedachte). 146 | dagfinn fØllesdal
Husserl fasst das Noema als eine intensionale Entität auf, als »Verallgemeinerung der Idee der Bedeutung auf das Gesamtgebiet der Akte«.1 So wie der Sinn eines sprachlichen Ausdrucks bestimmt, wofür der Ausdruck steht, wenn er für etwas steht, so bestimmt das Noema, was der Gegenstand des Aktes ist, wenn er denn überhaupt einen Gegenstand hat, – manche Akte haben ein Noema, dem kein Gegenstand entspricht. Der Gegenstand des Aktes ist eine Funktion des Noema, d. h. wenn das Noema gegeben ist, so ist das ihm entsprechende Objekt, sofern es denn eines gibt, eindeutig bestimmt. Das Umgekehrte aber gilt nicht: Zu ein und demselben Objekt mag es viele verschiedene Noemata geben – abhängig von den verschiedenen Weisen, auf die der Gegenstand erfahren werden kann, z. B. wahrgenommen, imaginiert, erinnert usw., und abhängig von seiner Lage, unserer Perspektive usw. Betrachten wir ein Beispiel aus dem Bereich der Wahrnehmung: den Akt des Sehens eines Baumes. Wenn wir einen Baum sehen, so sehen wir nicht eine Ansammlung von farbigen, z. B. braunen und grünen Flecken, die auf bestimmte Weise verteilt sind. Wir sehen einen Baum, ein materielles Ding mit einer Vorderseite, einer Rückseite, usw. Einen Teil des Baumes, z. B. die Rückseite, können wir nicht sehen, aber wir sehen ein Ding, das eine Rückseite hat. Dass das Sehen intentional auf einen Gegenstand gerichtet ist, bedeutet, dass wir die uns zugewandte Seite des Dings nur für eine Seite des Dings halten und dass das Ding, welches wir sehen, andere Seiten und Beschaffenheiten hat, die in dem Sinne mit-intendiert sind, dass wir das vollständige Ding für etwas halten, zu dem nicht nur die uns zugewandte Seite gehört. Das Noema ist das komplexe System von Bestimmungen, das eine Mannigfaltigkeit von Beschaffenheiten zu Aspekten ein und desselben Gegenstandes vereint. Man beachte, dass das Noema selber ein abstrakter Gegenstand ist. Seine verschiedenen Komponenten entsprechen verschiedenen Beschaffenheiten des Gegenstandes, seiner Farbe, seiner Brennbarkeit, seiner Veränderlichkeit usw., aber das Noema selbst hat keine dieser Beschaffenheiten. Das Noema kann beispielsweise nicht, wie Husserl bemerkt, »abbrennen«.2
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§ 3. Zwei Hauptunterschiede zwischen Husserls Noema und Brentanos intentionalem Gegenstand Zwei Aspekte von Husserls Analyse der Intentionalität sind entscheidend, wenn wir ihn mit Brentano vergleichen. Erstens: Das Noema, dasjenige, kraft dessen der Akt gerichtet ist, ist natürlich nicht dasjenige, auf das der Akt gerichtet ist. Wäre das Noema der Gegenstand des Aktes oder enthielte es den Gegenstand als Teil, dann träte Brentanos Dilemma erneut auf, und wir könnten Akte wie den des Denkens an Pegasus, die keinen Gegenstand haben, nicht auf zufriedenstellende Weise behandeln. Zweitens: Indem Husserl sich auf die Strukturen des Bewusstseins konzentriert, trägt er dem, worin die Intentionalität des Bewusstseins besteht, besser Rechnung als Brentano. Mit Brentano zu sagen, sie bestehe darin, dass das Bewusstsein immer einen Gegenstand hat, ist, wie wir sahen, nicht ganz korrekt, und es ist auch nicht sonderlich erhellend. Richtig ist, dass Bewusstsein immer so ist, als ob es einen Gegenstand hat. Diese Formulierung bewahrt Brentanos wertvolle Einsicht. Das »als ob« führt uns auch zu den Fragen, die Husserl stellte und durch seine Phänomenologie zu beantworten versuchte: Worin besteht das Gerichtetsein des Bewusstseins auf einen Gegenstand?
§ 4. Konstitution Dies mag zur Charakterisierung von Brentanos und Husserls Auffassung der Intentionalität genügen. Dank der Husserl’schen Analyse mit Hilfe des Begriffs eines Noema können wir jetzt leicht sehen, was Husserl mit Konstitution meint. Dass Gegenstände durch uns konstituiert werden, bedeutet einfach, dass sie auf die Weise intendiert werden, die wir beschrieben haben: als eine große Zahl von Aspekten und Beschaffenheiten besitzend, die normalerweise – wie bei allen materiellen Gegenständen – weit über die Zahl derer hinausgeht, die wir in unserer Erfahrung jemals antreffen. Dass Gegenstände durch unsere Akte konstituiert werden, bedeutet nicht, dass sie durch unsere Akte verursacht oder hervorgebracht werden, sondern nur, dass in dem Akt die verschiedenen Komponenten des 148 | dagfinn fØllesdal
Bewusstseins so miteinander verbunden sind, dass wir eine Erfahrung wie von einem kompletten Gegenstand haben. Alles, was die Existenz eines Gegenstandes ausmacht, entspricht Komponenten des Aktes. Im Fall physikalischer Gegenstände ist die Unausschöpflichkeit dessen, was wir erfahren, ein Zug des Aktes sowohl als auch dessen, worin das Sein eines physikalischen Gegenstandes besteht.3 Im weiteren Sinne aber »konstituiert« sich ein Gegenstand – »ob er wirklicher ist oder nicht« – in gewissen Bewußtseinszusammenhängen, die in sich eine einsehbare Einheit tragen, sofern sie wesensmäßig das Bewußtsein eines identischen X mit sich führen
Übrigens zeigt der Gebrauch, den Husserl hier und an vielen anderen Stellen von der reflexiven Form »ein Gegenstand konstituiert sich« macht, dass er nicht der Auffassung war, der Gegenstand werde durch den Akt hervorgebracht. Husserl hielt die Phänomenologie für die erste streng wissenschaftliche Form des transzendentalen Idealismus, aber er war auch der Auffassung, dass die Phänomenologie die traditionelle Idealismus-Realismus-Unterscheidung transzendiert, und er schrieb 1934 in einem Brief an den Abbé Baudin: »Kein gewöhnlicher ›Realist‹ ist je so realistisch und so concret gewesen [wie] ich, der phänomenologische ›Idealist‹ (ein Wort, das ich übrigens nicht mehr gebrauche).«4 Husserl hat nicht versucht, Realität auf Bewusstsein zu »reduzieren«. Nach Husserl gibt es in unserer Erfahrung der Welt ein gewisses Gegebensein, ein Ich-fremdes Element, die Hyle, doch auf diesen Aspekt seiner Philosophie werde ich in diesem Aufsatz nicht eingehen.5
§ 5. Heideggers Philosophie als eine Übersetzung der Husserl’schen Nach dieser Skizze der Husserl’schen Auffassung der Konstitution wenden wir uns Heidegger zu, bevor wir am Ende dieses Aufsatzes zu Husserl zurückkehren, um einen Blick auf einige seiner unveröffentlichten Schriften zu werfen. Heideggers Philosophie scheint auf den ersten Blick sehr verschieden von derjenigen Husserls zu sein. Die Themen, die er erHusserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 149
örtert, sein Vokabular und sein Stil sind sehr verschieden. Aber Heidegger erkennt an, dass er von Husserl stark beeinflusst ist. Er charakterisiert Sein und Zeit – das Werk, auf das wir uns konzentrieren wollen – als eine phänomenologische Arbeit, und er konstatiert explizit, dass er die phänomenologische Methode anwendet. Der Schlüssel für dieses Rätsel und auch, so denke ich, für ein Verständnis der Philosophie Heideggers besteht darin, dass seine Philosophie im Wesentlichen mit der Husserls isomorph ist. Wo Husserl vom Ich spricht, spricht Heidegger vom Dasein: wo Husserl von Noema spricht, spricht Heidegger von der Struktur des »In-derWelt-Seins des Daseins«; und so weiter. Husserl hat das selber bemerkt. An verschiedenen Stellen in seiner Kopie von Sein und Zeit notierte er am Rande, dass Heidegger die Phänomenologie Husserls bloß in eine andere Terminologie übersetzt. So schrieb Husserl z. B. am Rand von Seite 13 oben: Heidegger transponiert oder transversiert die konstitutiv-phänomenologische Klärung aller Regionen des Seienden und Universalen, der totalen Region Welt ins Anthropologische; die ganze Problematik ist Übertragung, dem Ego entspricht Dasein etc. Dabei wird alles tiefsinnig unklar und philosophisch verliert es seinen Wert.
Dem entspricht eine Bemerkung zu Seite 62, 13–16: »Was da gesagt ist, ist meine eigene Lehre, nur ohne ihre tiefere Begründung.« Indem ich sage, dass Heideggers Philosophie im Wesentlichen isomorph mit der Husserl’schen ist, will ich nicht behaupten, dass sie an jeder Stelle mit ihr isomorph ist. Wie wir sehen werden, gibt es mindestens zwei Hauptpunkte, in denen sie sich unterscheiden. Aber die Isomorphie betrifft mehr als bloß ein paar Punkte, die Husserl und Heidegger beispielsweise mit Kant gemeinsam haben. Die Grundbegriffe in ihren Philosophien entsprechen einander auch in Details, die bei Kant überhaupt nicht vorkommen. Dieser Aufsatz ist nicht der Ort, diese These durch eine detaillierte Textanalyse zu rechtfertigen. Im Folgenden werde ich nur auf die Hauptzüge der Isomorphie eingehen, was in doppelter Hinsicht nützlich sein wird: Es erleichtert die Darstellung einiger Ideen Heideggers vor dem Hintergrund dessen, was ich gerade über Husserl gesagt habe, und es hilft uns, die wichtigeren Unterschiede zwischen beiden Philosophen zu bemerken und zu bewerten. 150 | dagfinn fØllesdal
§ 6. Eine Skizze der Philosophie Heideggers Als Übersetzung Husserls interpretiert, können die Grundgedanken der Heidegger’schen Philosophie folgendermaßen umrissen werden: Heidegger will klären, was heißt es: zu sein. Für ein Ding in der Welt besteht das Sein im Konstituiertsein. Um zu verstehen, was Konstituiertsein ist, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was konstituiert, d. h. auf das Ich oder das Dasein. Heidegger verwendet das Wort »Dasein«, um die doppelte Rolle des Ich hervorzuheben: Es ist da als ein Ding unter anderen in der Welt, aber es ist auch die Quelle des Seins, indem es die Dinge in der Welt konstituiert. Während für die Dinge das Sein in ihrem Konstituiertsein besteht, ist das Dasein sowohl konstituiert als auch konstituierend, und das Letztere ist sein Unterscheidungsmerkmal. Die angemessenste Antwort auf die Frage »Was ist Dasein?« lautet: »das, was konstituiert«. Es gibt also zwei Weisen des Seins, Konstituiertsein und Konstituieren. Für Letzteres führt Heidegger den Ausdruck »Existenz« ein. Das »Wesen« des Daseins, also die angemessene Antwort auf die Frage »Was ist Dasein?« lautet daher: Existenz. Diese beiden Aspekte des Daseins bei Heidegger, dass es in der Welt ist und dass es die Welt konstituiert, entsprechen jeweils Husserls empirischem und seinem transzendentalen Ich. Im Herbst 1927 arbeitete Husserl an einem Artikel über »Phänomenologie« für die Encyclopaedia Britannica. Er erhielt Kommentare von Heidegger und von Roman Ingarden, und es gibt vier Versionen des Artikels. Einige von Heideggers Kommentaren sind inzwischen publiziert worden. In einem Brief schrieb Heidegger:6 Übereinstimmung besteht darüber, daß das Seiende im Sinne dessen, was Sie »Welt« nennen, in seiner transzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann, durch einen Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Seinsart. Damit ist aber nicht gesagt, das was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt nicht Seiendes – sondern es entspringt gerade das Problem: welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich »Welt« konstituierte? Das ist das zentrale Problem von Sein u. Zeit – d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins. Es gilt zu zeigen, daß Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 151
die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden u. daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt. Die transzendentale Konstitution ist eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst. Dieses, der konkrete Mensch ist als solcher – als Seiendes nie eine »weltlich reale Tatsache«, weil der Mensch nie nur Vorhanden ist, sondern existiert. Und das »Wundersame« liegt darin, daß die Existenzverfassung des Daseins die transzendentale Konstitution alles Positiven ermöglicht.
Der Abschnitt, den Heidegger mit »Damit ist aber nicht gesagt …« beginnt, sieht aus wie eine Kritik an Husserl und war vielleicht auch so gemeint. Es scheint, daß Heidegger Husserls »Aspekt-Theorie« des Ich nicht ganz verstanden hat. In der vierten Fassung des Artikels betont Husserl, was er schon früher in vielen seiner Schriften gesagt hat:7 Mein transzendentales Ich ist also evident ›verschieden‹ vom natürlichen Ich, aber keineswegs als ein zweites, als ein davon getrenntes im natürlichen Wortsinn … Es ist eben das … Feld der transzendentalen Selbsterfahrung, die jederzeit durch bloße Änderung der Einstellung in psychologische Selbsterfahrung zu wandeln ist. In diesem Übergang stellt sich notwendig eine Identität des Ich her …
Das empirische und das transzendentale Ich sind daher nicht zwei Egos, sondern zwei Aspekte ein und desselben Ego. Es gibt nur ein Ego, so sagt Husserl, das sowohl in der Welt ist als auch die Welt konstituiert. In dieser Hinsicht scheint daher der Parallelismus zwischen Heidegger und Husserl vollständiger zu sein, als Heidegger dachte.
§ 7. Heideggers Auffassung der Konstitution Aber worin besteht Konstitution für ihn? Wir haben bereits gesehen, was Husserl mit »Konstitution« meint. Heideggers Theorie ist komplexer. Er meint mit »Konstitution«: In-der-Welt-Sein, auf die besondere Weise, wie das Dasein in der Welt ist, d. h. nicht so in der Welt sein, wie das Wasser in einem Glas ist und wie Dinge sich 152 | dagfinn fØllesdal
unter Dingen befinden, sondern auf so vielfältige Weise auf die Welt bezogen zu sein, wie Dasein auf die Welt bezogen sein kann. Sein und Zeit ist im Wesentlichen ein Versuch, die verschiedenen Weisen herauszuarbeiten, in denen Dasein auf die Welt bezogen sein kann. Eine dieser Weisen – diejenige, die auch Husserl erörtert – besteht darin, theoretisch auf sie bezogen zu sein – wie in den Wissenschaften, wenn wir verschiedene Gegenstände und ihre Eigenschaften wahrnehmen, untersuchen und zum Thema einer Theorie machen. Wenn wir mit Gegenständen auf diese Weise umgehen, erfahren wir sie, so sagt Heidegger, als »vorhanden«. Seit der Zeit des Aristoteles war dies die von Philosophen favorisierte Weise, unsere Beziehung zur Welt aufzufassen. Sie war de facto so beliebt, dass die meisten Philosophen überhaupt nicht an andere Weisen des Weltbezugs dachten, und wenn sie sie in Betracht zogen, so pflegten sie sie als sekundär anzusehen, als fundiert in der theoretischen Einstellung. Im Allgemeinen wurde unterstellt, praktische Aktivität setze ein theoretisches Verständnis der Welt voraus, Handeln setze voraus, dass der Akteur eine Vorstellung davon hat, was wahrscheinlich geschehen wird, wenn er das-und-das tut. Heidegger verwirft diese Voraussetzung. In seinen Augen ist der praktische Umgang mit der Welt basaler als der theoretische. Die Dinge in der Welt werden von uns primär – so sagt er – als »zuhanden« erfahren, als Materialien und Werkzeuge, die von uns verwendet werden. Sie sind, was sie sind, dank der Rolle, die sie im Gesamtkontext menschlicher Aktivität, in einem Gewebe von Mitteln und Zwecken spielen. So heißt, ein Hammer zu sein, ein Werkzeug zum Einschlagen von Nägeln, zum Zerschlagen von Dingen usw. zu sein. Nur im Zusammenhang theoretischer Reflexion wird ein Hammer konzipiert als ein Gegenstand, der eine bestimmte Form, Länge, Gewicht, Farbe usw. hat. Die theoretische Einstellung ist »parasitär« gegenüber der praktischen: Durch unseren praktischen Umgang mit der Welt werden Gegenstände von ihrer Umgebung unterschieden und individuiert als Gegenstände, denen wir dann in den theoretischen Phasen unseres Lebens theoretische Aufmerksamkeit widmen können. Ich werde hier nicht auf Details der Heidegger’schen Analysen vieler Weisen unseres Weltbezugs eingehen. Seine Analysen antizipieren in vielfacher Hinsicht die Untersuchungen des späten Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 153
Wittgenstein über Lebensformen. So entspricht vieles von dem, was Wittgenstein über den Sinn von Wörtern als Ergebnis ihres Gebrauchs sagt, Heideggers Überlegungen über den »Sinn« der Dinge, d. h. darüber, worin das Sein diverser Dinge besteht. Das ist auch nicht anders zu erwarten, wenn Fragen der Konstitution und Fragen des Sinnes – wie Husserl dachte – so eng zusammenhängen, dass das Noema nichts anderes ist als eine »Verallgemeinerung der Idee der Bedeutung auf das Gesamtgebiet der Akte«.8
§ 8. Antizipation Heidegger’scher Ideen bei Husserl Den Gedanken Heideggers, dass und wie menschliche Aktivität unsere Konstitution der Welt bestimmt, halte ich, wie ich in meiner Einleitung bereits gesagt habe, für Heideggers wichtigsten Beitrag zur Philosophie. Es ist dies auch der Punkt, in dem er über Husserl hinausgeht. (Eine andere entscheidende Differenz zu Husserl besteht darin, dass er Husserls »transzendentale Reduktion« verwirft, d. h. die besondere Reflexion, durch die wir laut Husserl die Struktur unseres Bewusstseins, d. h. das Noema oder die Konstitution untersuchen. Heidegger hielt eine solche Reduktion für unmöglich: Ihm zufolge können wir diese Struktur nur »von innen« untersuchen, d. h. dadurch, dass wir gewahren, dass wir uns mitten in ihr befinden. Dieses Gewahren wird etwa dadurch ausgelöst, dass ein vertrautes Werkzeug zerbricht oder dass wir mit dem Tod konfrontiert werden. Ich werde auf Heideggers Ansichten über die transzendentale Reduktion hier nicht weiter eingehen, – auch nicht auf seine alternative Konzeption der phänomenologischen Analyse.) Interpretiert man Heidegger auf die Husserl’sche Weise, die ich vorgeschlagen habe, so kann man leicht angeben, worin genau Heideggers besonderer Beitrag bestand. In den Werken Husserls, die er selber publizierte, richtete er – so sagten wir – seine ganze Aufmerksamkeit auf die theoretische Weise des Weltbezugs. Die meisten seiner Beispiele handeln deshalb von der Wahrnehmung, weil sie – so sagt er – ein relativ einfacher und basaler Akt ist, der in den meisten komplexeren Akten, z. B. im Werten und Wollen, als Komponente enthalten ist. Aber nachdem er 1916 nach Freiburg gekommen war, wurde Husserl (besonders 154 | dagfinn fØllesdal
in den frühen zwanziger Jahren) immer deutlicher, dass unsere praktische Aktivität ein wichtiger Teil unseres Weltbezugs ist. So bemerkte er in den Notizen, die er für eine revidierte Ausgabe der Ideen machte, dass die praktische Einstellung an verschiedenen Stellen des Werks erwähnt werden sollte, an denen er in der ersten Auflage nur von unserer theoretischen Einstellung gesprochen hatte. In den drei Vorlesungen über Fichte, die er im November 1917 hielt und 1918 zweimal wiederholte, legte er dar, dass für Fichte gilt:9 Subjekt sein ist durchaus und nichts anderes als Handelnder sein. [Dementsprechend ist auch dasselbe:] Objekt für das Subjekt sein und Handlungsprodukt sein. Vor dem Handeln liegt, wenn wir an den Ursprung gehen, nichts, der Anfang ist, wenn wir uns sozusagen die Geschichte des Subjekts denken, nicht eine Tatsache, sondern eine »Tathandlung«, und eine »Geschichte« müssen wir uns hier denken. Subjekt sein ist eo ipso eine Geschichte, eine Entwicklung haben, Subjekt sein ist nicht nur Handeln, sondern notwendig auch von Handlung zu Handlung, von Handlungsprodukt in neuem Handeln zu neuen Produkten fortschreiten.
Es gibt nach Husserl eine »unendliche Kette von Zielen, Zwecken, Aufgaben« (ebd.), auf die sich unsere Handlungen und ihre Produkte beziehen. Dieser Gedanke und die Terminologie, deren sich Husserl 1917 bedient, ähneln auffällig dem Gedanken einer Kette von »Verweisungen« oder von »Wozu«-Beziehungen, in denen unsere Werkzeuge und Aktivitäten stehen, den Heidegger zehn Jahre später in den §§ 17–18 von Sein und Zeit entfaltete. Es gibt übrigens auch eine auffällige terminologische Parallele zwischen Heidegger und Husserl: Heideggers Schlüsselterminus »Sorge«, den er zur Charakterisierung aller Weisen verwendet, in denen sich das Dasein auf die Welt bezieht, begegnet uns auch in einem Manuskript Husserls aus dem Jahre 1925, in dem Husserl zwei Arten der menschlichen Aktivität unterscheidet: das Spiel, bei dem keine Ziele verfolgt werden, und »die ernste Praxis in der ursprünglichen und ernsten Sorge«.10 Man sollte auch beachten, dass Fichte, den Husserl 1917 und 1918 in seinen Vorlesungen diskutiert, der erste gewesen zu sein scheint, der den Begriff der Handlung im Zusammenhang mit der KonstiHusserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 155
tution einführte. Vielleicht war Fichte in dieser Hinsicht für Husserl und Heidegger eine gemeinsame Inspirationsquelle.
§ 9. Husserl über die Konstitution der Welt durch Handlungen Das Manuskript, in dem Husserl am ausführlichsten erklärt, wie unsere praktische Handlungen nach seinem Dafürhalten die Welt konstituieren, stammt aus derselben Zeit wie seine Fichte-Vorlesungen (1917–18); es trägt den Titel ›Wissenschaft und Leben‹. Es handelt sich um einen sehr wichtigen Text – sowohl deshalb, weil das Manuskript Husserls informativste Auseinandersetzung mit diesem Thema enthält, als auch deshalb, weil es lange vor der Zeit entstand, in der Heidegger sein 1927 veröffentlichtes Buch Sein und Zeit schrieb. In dem mit »Ähnlichkeit« überschriebenen Teil des Manuskripts erklärt Husserl zunächst kurz, wie unsere theoretische Konzeption eines Gegenstandes auf Analogien zu früheren Erfahrungen basiert. Diese Analogien oder Ähnlichkeiten dienen uns als »Leitfäden« für unsere Erwartungen: Eine »analogische Vorzeichnung« findet statt. Nach seiner Ausführung darüber, wie Konstitution im theoretischen Bereich stattfindet, führt Husserl den Begriff einer praktischen Apperzeption ein: 11 Das geht dann ins Praktische und die praktischen Apperzeptionen über. Man verhält sich ähnlich gegenüber dem analogisch Apperzipierten, ähnlich wie bei dem Analogen, man »behandelt« es in ähnlicher Weise, man versucht sich daran ähnliche Ziele zu stellen oder es in der Verwendung als Mittel ähnlich zu gestalten, zu dirigieren usw. In der praktischen Betätigung bestätigt sich die Analogisierung und führt zu einer festeren theoretischen und praktischen Apperzeption als in der vorangegangenen Analogisierung.
Wir können aus dieser Passage schließen, dass für Husserl die Konstitution im theoretischen und im praktischen Bereich auf parallelen Bahnen vollzogen wird und in beiden Fällen auf Ähnlichkeiten und Analogien basiert. Diese Analogien veranlassen Extrapolationen, die in das Noema eingehen und dadurch den Gegenstand konstituieren. Der Unterschied zwischen dem theoretischen und dem praktischen Bereich besteht darin, dass die Extrapolationen im theore156 | dagfinn fØllesdal
tischen Bereich faktische Eigenschaften des Gegenstandes betreffen, während sie im praktischen Bereich mit der Zweckdienlichkeit des Gegenstandes innerhalb eines Gewebes von Mitteln und Zwecken zu tun haben. Die Erklärung dessen, wie unsere Handlungen die Welt konstituieren, durch eine Extrapolation, die auf Ähnlichkeiten in unserem praktischen Umgang mit den Dingen beruht, gehört in meinen Augen zu dem Lehrreichsten, was Husserl oder Heidegger jemals zu diesem Thema gesagt haben. Man beachte, dass nichts dafür spricht, dass Husserl glaubte, die praktische Apperzeption sei in einer Wahrnehmung faktischer Ähnlichkeiten zwischen den Dingen fundiert, aus der erschlossen oder vorausgesagt wird, dass sie auch zu praktischen Zwecken auf ähnliche Weise behandelt werden können. Husserl behauptet auch nicht, dass wir eine Praxis wahrnehmen und dann eine ähnliche Praxis in einem kognitiven Akt antizipieren. Husserl trägt nicht die Ordnung des Sehens und Wissens in einen Bereich ein, in dem Handeln und knowing how basal sind. Praktische Apperzeption besteht für Husserl darin, dass wir praktische Beschaffenheiten auf eine ähnliche Weise extrapolieren, wie wir theoretische Beschaffenheiten extrapolieren: Wenn zwei Dinge sich in unserem praktischen Umgang mit ihnen als ähnlich erwiesen haben, so pflegen wir sie auch in vielen anderen praktischen Kontexten als ähnlich zu behandeln. Wahrnehmung im Allgemeinen und Sehen im Besonderen haben für Husserl keine Priorität gegenüber dem Handeln. Erinnern wir uns an seine Aussage, die wir ein paar Seiten weiter oben zitiert haben. »[D]er Anfang ist … nicht eine Tatsache, sondern eine ›Tathandlung‹.«
§ 10. Parallelen zwischen theoretischer und praktischer Aktivität 1. Interessenbestimmtheit Der Parallelismus zwischen theoretischer und praktischer Konstitution passt gut zu einer Feststellung, die Husserl in mehreren Manuskripten trifft: dass theoretische Aktivität nur eine von vielen Arten menschlicher Aktivität ist. Wie alle anderen Aktivitäten soll sie z. B. unseren Zielen und Zwecken dienen. Jede Aktivität, auch Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 157
die theoretische, wird von unseren Interessen bestimmt, und wir haben ein besonderes, rein theoretisches oder rein doxastisches Interesse daran,12 sie zu erkennen, Begriffe von ihnen zu bilden und Urteile über sie zu fällen.13 »Der theoretisch Interessierte inhibiert jedes sonstige ihm eigene persönliche Interesse … Er ist der ›uninteressierte‹ Zuschauer, der das Interesse im üblichen anderen Sinne, das Interessiertsein außer Spiel setzt.«14 Husserl sagt auch: »Die ›theoretische‹, die rein betrachtende Einstellung, ist … eine besondere praktische Einstellung …«.15 Er weist darauf hin: »Das kenntnisnehmende Interesse kann dabei im Dienste irgendwelcher praktischer Interessen des Lebens stehen, es kann aber auch rein theoretisches Interesse sein, rein Interesse an der Sache selbst› ,wie sie in Wirklichkeit ist‹.«16
2. Antizipationen und Erfüllung Kehren wir zum Parallelismus zwischen theoretischen und praktischen Antizipationen zurück. Über praktische Antizipationen spricht Husserl auch in einem Manuskript mit dem Titel »Einleitung in die Philosophie« (1922–23),17 und er diskutiert in verschiedenen Manuskripten den praktischen Horizont der Möglichkeiten, der mit unseren Handlungen verbunden ist.18 Selbst in einem seiner veröffentlichten Werke, in der Krisis der europäischen Wissenschaften, spricht Husserl von der theoretischen Aktivität als einer Art von Praxis, und er zeigt, dass die »Lebenswelt« der Horizont ist, innerhalb dessen jede theoretische und nicht-theoretische Aktivität stattfindet. In seinem Manuskript »Vormeditationen über die Idee der Philosophie« (1922–23) legt Husserl dar, dass man von der Erfüllung einer Intention nicht nur im theoretischen, sondern auch im praktischen Bereich sprechen kann. Im theoretischen Bereich wird unsere Intention z. B. durch Wahrnehmung erfüllt, Erfüllung ist hier soviel wie Verifikation. In Bereichen wie denen der Handlungen und Gefühle ist die Erfüllung von anderer Art, abhängig von der Art der involvierten Intention und davon, was sie befriedigen kann. Im Anschluss an Fichte verwendet Husserl das Wort »Seligkeit« als Bezeichnung für die Erfüllung jeder Art von Intention.19 Hier und 158 | dagfinn fØllesdal
an anderen Stellen tendiert Husserl dazu, zwei Begriffe von Intention miteinander zu verbinden, die Brentano sorgfältig unterschied: Intention im Sinne des Gerichtetseins eines Aktes auf einen Gegenstand und Intention im praktischen Sinne des Ziels oder Zwecks einer Handlung. Das wird besonders deutlich in einem Manuskript aus dem Jahre 1928, in dem Husserl sagt: 20 So wie in einem Willensentschluß und in einem ausführenden Handeln ein ›praktisches‹ Zielen liegt […] so ist es überhaupt bei jeder transzendent zielenden Intentionalität, also auch bei der vorstellenden und (doxisch) denkenden.
Diese Fusionierung zweier Begriffe, die Brentano für ganz verschieden hielt, kann leicht als Konfusion erschienen. Aber Husserl ist vorsichtig genug, darauf hinzuweisen, dass es wichtige Ähnlichkeiten zwischen den beiden Begriffen gibt: »solange [die Handlung] nicht zum verwirklichten Ziel geführt hat«, ist uns »das Ziel als das Woraufhin beständig bewusst«, als »dem Abzielen … transzendente und nur vorausgesetzte, aber noch nicht verwirklichte Wirklichkeit«. 21
§ 11. Ergebnisse Ich beende diesen Aufsatz mit einer historischen und einer systematischen Beobachtung.
1. Husserl und Heidegger Der historische Punkt betrifft die Beziehung zwischen Husserl und Heidegger. Meines Erachtens gibt es viele gute Gründe für die These, dass der Rahmen von Heideggers Philosophie in Sein und Zeit eine Übersetzung der Husserl’schen Philosophie ist. In dieser Perspektive wird es leicht zu sehen, worin die beiden Philosophen miteinander übereinstimmten und worin nicht. Der Hauptunterschied besteht in meinen Augen darin, dass die Welt laut Heidegger durch alle Arten von menschlicher Aktivität konstituiert ist, während Husserl in seinen publizierten Werken die Welt als etwas Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 159
auffasst, was letztlich durch theoretische Aktivität konstituiert wird. Aber aus den Zitaten, die ich aus Husserls unpublizierten Manuskripten herausgezogen habe, geht klar hervor, dass er lange vor der Veröffentlichung von Heideggers Sein und Zeit ganz ähnliche Ideen hatte. Er begann, kurz nach seiner Ankunft in Freiburg und seiner Begegnung mit Heidegger im Jahre 1916, diese Ideen zu Papier zu bringen. Es ist also möglich, dass Husserl Heidegger in diese praktische Richtung lenkte. Jedenfalls erschienen diese Ideen in Husserls Manuskripten lange bevor Heidegger damit begann, Sein und Zeit zu schreiben. Es ist natürlich auch möglich, dass Husserl durch seine Diskussionen mit dem jüngeren Heidegger in diese Richtung gelenkt wurde. Keiner von beiden verrät es uns, und es scheint keine anderen Informationen zu geben, aus denen hervorgehen würde, welche Richtung die Beeinflussung hatte. Höchstwahrscheinlich verlief der Einfluss in beide Richtungen. Wichtig ist aber, dass Heidegger die Frage, wie wir die Welt durch praktische Aktivität konstituieren, zum Hauptthema seiner Philosophie machte, auf die alles andere bezogen wird. Für Husserl hingegen war diese Idee wohl nur ein nachträglicher Gedanke, den er nur fragmentarisch präsentierte und nicht in seine Schriften einarbeitete.
2. Ist Leiblichkeit für die Erklärung des Wesens der Konstitution notwendig? Mein systematischer Punkt hängt eng mit dem historischen zusammen: In jeder seiner Arbeiten, die Manuskripte eingeschlossen, insistiert Husserl darauf, dass wir die Welt durch unser Bewusstsein konstituieren. Alle unsere Handlungen und Tätigkeiten sind in seinen Augen »Bewußtseinstätigkeiten«. In seinen »Vormeditationen über die Idee der Philosophie« schreibt er:22 Also jetzt betrachten wir den Menschen nicht als eine bloß induktiv-äußerliche Einheit von Leib und Seele, als ein nur eben doppelschichtiges Reales im räumlich-zeitlichen-kausalen Zusammenhang; jetzt nehmen [wir] ihn so, wie wir uns nehmen, wenn wir Ich sagen oder wenn wir im Ich-Du-Verhältnis den anderen als Du 160 | dagfinn fØllesdal
nehmen, ihn um etwas bitten, usw. D.i.: wir betrachten jetzt den Menschen als Ich-Subjekt, das sich als solches ich ›auf seine Umwelt bezieht‹, d. i. als Ich wahrnimmt, erfährt, sich erinnert, denkt, fühlt, will, handelt, und in allen solchen ›Bewusstseinstätigkeiten‹ Bewusstsein von seiner Umwelt hat, bewusst von ihr affiziert wird, bewusst zu dieser bewussten und ihn affizierenden Umwelt Stellung nimmt, theoretisch wie praktisch.
Aber ist Bewusstsein wirklich alles, was wir beachten müssen, wenn wir klären wollen, welchen Beitrag unsere Handlungen zur Konstitution der Welt leisten? Ist nicht in unseren Handlungen auch unser Leib so involviert, dass es unerlässlich ist, seine Rolle mitzubedenken, wenn wir die Konstitution erörtern? An verschiedenen Stellen in seinen publizierten und unpublizierten Texten erklärt Husserl, welche Rolle der Leib bei der Konstitution spielt. In Texten aus den Jahren 1923 bis 1925, die Iso Kern für die Husserliana, Band XIV, ausgewählt hat, findet man die folgende Passage: 23 Die Umwelt konstituiert nicht nur als physische Natur, als Einheit von Erscheinungen, sondern als zweckvoll von mir gestaltete Umwelt (und von Andern). Umgestaltung von Dingen nach Zweck und Zweckhandlungen in ihrer Doppelseitigkeit. Die gewordene Gestalt, die ruhende oder bewegte, auf Zweckhandlungen, auf ein absichtliches Erzeugen zurückweisend, einen Zwecksinn in sich tragend, eine bleibende Beschaffenheit, verfügbar zu sein für Zwecktätigkeiten als Werkzeug und sonstwie als Gestaltungsmittel. Auch hier also eine Doppelschicht. Ein Zwecksinn zurückweisend auf ein Ich mit Ichleib, mit Leibesvermögen, aber auch mit Wünschen, Wertungen, Zwecksetzungen usw.
Während es in den Arbeiten, die zu Husserls Lebzeiten veröffentlicht wurden, nur ganz selten (so z. B. in der Krisis-Schrift) Hinweise auf die Rolle des Leibes gibt, kommt Husserl darauf in seinen Manuskripten immer wieder zu sprechen: Der Leib ist ein »Zentrum aller Orientierungen«,24 er ist ein »Zentrum meiner körperlichen Aktivitäten«25 und »das unmittelbare Objekt aller erfahrenden und handelnd-wirkenden Praxis«.26 Husserl betont auch wiederholt die Rolle, welche die Kinästhese in der Wahrnehmung spielt. So sagt er z. B. in seinem Manuskript ›Einführung in die Philosophie‹:27 Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 161
[F]ür das ganze Wahrnehmen [spielt] meine Leiblichkeit eine wesentliche Rolle …, teils vermöge ihrer ständig fungierenden Kinästhesen und teils hinsichtlich dessen, was ich Vollkommenheit meiner Sinne, meines Gesichtssinnes, Tastsinnes, usw. […] nenne.
Es gibt in Husserls Krisis-Abhandlung viele ähnliche Stellen. Und wie steht es um die gewohnheitsmäßigen Bewegungen meines Körpers, deren ich mir normalerweise nicht bewusst bin, wie die Bewegung meiner Beine, wenn ich laufe usw.? Tragen sie nicht auch zu der Art und Weise bei, in der ich die Welt konstituiere? Und haben sie irgendein Gegenstück in unserem Bewusstsein? Vielleicht sollte man solche gewohnheitsmäßigen Bewegungen nicht als Handlungen bezeichnen, aber würde das nicht gerade zeigen, dass in unserer Konstitution der Welt eben nicht nur Handlungen, sondern auch solche Körperbewegungen eine Rolle spielen? Husserl besteht darauf, dass Konstitution stets eine Leistung des Bewusstseins ist. Er ist ständig mit der Genese der Konstitution beschäftigt, d. h. damit, wie es dazu kommt, dass wir die Noemata haben, die wir haben, und vielleicht war er der Ansicht, dass der Leib zwar für den Prozess wichtig ist, der uns dazu bringt, die Welt so konstituieren, wie wir es tun, dass aber das Produkt der Konstitution – die Welt, wie sie sich mir zu einer bestimmten Zeit darstellt – jederzeit ein Pendant der Struktur meines Bewusstseins zur fraglichen Zeit ist. Demnach muss der Körper ins Spiel gebracht werden, wenn man die Genese der Struktur meines Bewusstseins erklären will, und Husserl bringt ihn dabei auch ins Spiel. Das aber, so denkt er, widerlegt nicht die These, dass die Welt durch unser Bewusstsein konstituiert ist. Heidegger und auch Merleau-Ponty scheinen anzunehmen, dass der Körper nicht nur bei der Erklärung der Genese der Konstitution ins Spiel gebracht werden muss, sondern auch bei der Erklärung dessen, was Konstitution ist. In ihren Augen wird die Welt nicht nur durch Bewusstsein konstituiert, sondern durch ein Ego, das sowohl körperlich als auch bewusst ist, also durch Dasein in Heideggers Terminologie. Natürlich ist das Ego auch für Husserl sowohl körperlich als auch bewusst, aber nach seiner Auffassung muss man nur Bewusstsein ins Spiel bringen, wenn man erklären will, was Konstitution ist. 28 (Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Künne) 162 | dagfinn fØllesdal
Anmerkungen
Ideen III, in Hua V, 89. 2 Ideen I, in Hua III/1, 205. 3 Ideen I, in Hua III/1 313. 4 BW 7, 16. Der Brief wurde zuerst zitiert von Iso Kern 1964, 276 Anm. 5 Vgl. dazu das nächste Kapitel [Anm. d. Übersetzers]. 6 Brief von Heidegger an Husserl, 22.10.1927, BW 4, 144–148, hier 146–147. Andere Kommentare Heideggers zu Husserls Artikel sind in Phänomenologische Psychologie, Hua IX, gedruckt. 7 Hua IX, 294. 8 Ideen III, in Hua V, 89. 9 Hua XXV, 275. 10 B I 21 IV, 52. 11 B I 21 I, Transkription (von nun an Tr.) 16. 12 B I 21 IV, 14. 13 A VI 26, 103. 14 B I 21 IV, Tr. 14. 15 F I 44, Tr. 47 16 A VI 26, Ms. 18a. 17 F I 29/54b (= Hua XXXV, 162, 6–24). 18 Vgl. A V, 10 I. 19 Hua XXXV, 43–44. 20 F I 44, Ms. 123a–b. 21 F I 44, Ms. 123a–b. 22 B I 37, Tr. 14–15. 23 Hua XIV, 330, 7–18. 24 B I 37, 126. 25 D 13 VII,1. 26 D 13 VII, Tr. 5. 27 F I 29, Tr. 221. 28 Dieser Aufsatz ist eine minimal erweiterte Fassung des Vortrages »Husserl and Heidegger on the role of actions in the consitution of the world«, der auf einem Symposium der American Philosophical Association Western Division Meeting in Cincinnati, 27.–29. April 1978, gehalten wurde, und der in E. Saarinen, I. Niiniluoto und M. Provence Hintikka (Hrsg.), Essays in Honour of Jaakko Hintikka (Reidel, Dordrecht, 1979) gedruckt worden ist. Ich danke den Herausgebern und der Reidel Publishing Company für ihre Genehmigung, diesen Aufsatz in deutscher Sprache zu drucken. Ich möchte Elling SchwabeHansen für seine Hilfe mit Husserls Manuskripten danken, ebenso bin ich Hubert Dreyfus, Harrison Hall und Samuel Todes sehr verbunden für ihre Kommentare zu dem Aufsatz auf dem American Philosophical Association Symposium, wo sie als Kommentatoren wirkten. Hilfreich waren mir auch 1
Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 163
Kommentare von Robert Nozick, John Perry und Lorenz Krüger. Schließlich danke ich Wolfgang Künne für seine sorgfältige Übersetzung.
Bibliographie
Ulrich Melle, dem Leiter des Husserl-Archivs in Leuven, gebührt Dank für die Erlaubnis, aus bislang unedierten Texten Husserls zu zitieren, und Dr. Carlo Ierna für die Lokalisierung derjenigen Zitate, die nach der Publikation des englischen Originals dieses Aufsatzes im Druck erschienen sind [Anm. d. Hrsg.].
I. Manuskripte im Nachlass von Edmund Husserl A: Mundane Phänomenologie A IV: Wissenschaftslehre A V: Intentionale Anthropologie (Person und Umwelt) Signatur: A V 10 Titel (Aufschrift): 1) Beilagen zur Vorlesung 1928. Umwelt und Welt. Strukturbetrachtungen. a) Objektive Struktur der Welt, Struktur bloß physischer Natur etc. b) Realitätenstruktur. Naturalistische Psychologie. Psychophysik. Geisteswissenschaft . Reine Psychologie etc. Kritik der Psychologie. 2) Grundlegend. Umwelt und Welt. Ähnliche und gleiche Themen. Hauptsächlich Umwelt, Personen – Umwelt und R. (1925) Datierung: 1920–1932. A VI: Psychologie (Lehre von der Intentionalität) Signatur: A VI 26 Titel (Aufschrift): 1) Zur allgemeinen Lehre von der Intentionalität. Beilagen zur Vorlesung 1928. Elementares zur Lehre der Intentionalität. Datierung: 1921–1931. B: Die Reduktion B I: Wege zur Reduktion Signatur: B I 21 Titel (Aufschrift): Wissenschaft und Leben. Kritik der Erkenntnis. Erkenntnishandlung. Wissenschaft als Funktion der universalen Selbsterhaltung, Selbstverantwortung. Weg in die Philosophie von der Praxis her. • B I 21 I Titel (Aufschrift): Wissenschaft und Leben (…) Weg in die Philosophie von der Praxis her. Rechtfertigung der praktischen Weisheit und des echten Intellektualismus, des philosophischen Lebens. Instinktives Tun … Was leistet denken für das praktische Leben und was leistet Wissen164 | dagfinn fØllesdal
schaft für das Leben? Was macht den Vorzug aus? Hinblick auf die Entwicklung der Apperzeptionen. (…) Der falsche und echte Intellektualismus. Datierung: 1917 und 1918. • B I 21 IV Titel (Aufschrift): Wissenschaft und Leben (…) Weg in die Philosophie von der Praxis her. Wissensbelege (…) Der Mensch als »europäischer«, die Umwelt als wissenschaft lich umgestaltete, die Kultur eine wissenschaft liche. Wissenschaft und Tradition. (…) Der griechische Mensch und seine Wissenschaft. Datierung: 1924– 25 Signatur: B I 37 Titel (Aufschrift): Vorlesungen von 1922/23. Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. Vormeditationen über die Idee der Philosophie. Vormeditationen. Text der Vorlesungen. Unzulänglichkeit bisheriger Wissenschaft. Datierung: 1922–23 D: Primordiale Konstitution (»Urkonstitution«) Signatur: D 13 (I– XIV = 1. Teil) Titel (Aufschrift): Keine Gesamtaufschrift. • D 13 VII Titel (Aufschrift): Orientierungsstruktur. Orientierung und Zugangspraxis. Datierung: 1925. F: Vorlesungen und Vorträge F I: Vorlesungen und Teile aus Vorlesungen Signatur: F I 29 Titel (Aufschrift): Vorlesungen Winter 1922/23. Einleitung in die Philosophie (aufgrund der Vier Londoner Vorlesungen). Datierung: 1911–23 Signatur: F I 44 I & II Titel (Aufschrift): Intentionale Psychologie. Psychologische Reduktion in Anknüpfung an Kritik Diltheys. Datierung: 1928
II. Werke Husserls Husserl, Edmund: Husserliana. Gesammelte Werke The Hague 1950 ff., Dordrecht 1988 ff., New York 2005 ff. [Abk. Hua] – Husserl Briefwechsel, in: Hua Dokumente, Teil III, Dordrecht 1994, 10 Bde. [Abk. BW] Husserl und Heidegger über die Rolle des Handelns … | 165
– Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), in: Hua III/1 [Abk. Ideen I] – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (1913b), in: Hua IV [Abk. Ideen II] – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften (1913c), in: Hua V [Abk. Ideen III] – Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. In: Hua IX – Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil: 1921–1928. In: Hua XIV – Aufsätze und Vorträge. (1911–1921), in: Hua XXV – Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen (1922/23), in: Hua XXXV
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– Dagfinn Føllesdal –
Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein
In diesem Aufsatz werde ich ein in der Literatur meist vernachlässigtes Thema bei Husserl, das Thema Rechtfertigung, diskutieren und seine Auffassung mit derjenigen vergleichen und kontrastieren, die Wittgenstein vor allem in Über Gewißheit vertreten hat. Zwei Elemente sind an der Rechtfertigung beteiligt: Wahrnehmung und Rechtfertigungstransfer. Über beides hatte Husserl Interessantes zu sagen, in beiden Fällen hat er Wittgenstein antizipiert und an Einsicht übertroffen.
Husserl über Wahrnehmung1 Schon in seiner Philosophie der Arithmetik (1891) hat Husserl die Gestaltpsychologie vorweggenommen, und die mehrdeutigen Bilder, die in der Gestaltpsychologie so populär waren, kann man sowohl gebrauchen, um Husserls Ideen über Wahrnehmung zu illustrieren, als auch, um die Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, die in dieser Hinsicht zwischen ihm und Wittgenstein bestehen. Jastrows Hasen-Enten-Kopf, der durch Wittgenstein berühmt wurde, ist ein guter Ausgangspunkt.
Husserl betonte, dass die Wahrnehmung unterbestimmt ist: Was unsere Sinne erreicht, determiniert niemals vollständig, was wir erfahren. Husserl zufolge strukturiert unser Bewusstsein das, was | 167
wir erfahren, und unsere Erfahrung in einer gegebenen Situation kann im Prinzip immer auf verschiedene Weise strukturiert werden. Wie sie strukturiert wird, hängt ab von unseren früheren Erfahrungen, von der ganzen Umgebung unserer gegenwärtigen Erfahrungen und von einer Reihe anderer Faktoren. Wären wir z. B. in einer entenreichen Umgebung aufgewachsen und hätten wir nie etwas von Hasen gehört, dann hätten wir wohl beim Anblick eines Hasen-Enten-Kopf-Bildes eher eine Ente als einen Hasen gesehen; der Gedanke an einen Hasen wäre uns wahrscheinlich überhaupt nicht gekommen. Im Falle dieses Bildes wie in wenigen anderen Fällen können wir zwischen verschiedenen Weisen, unsere Erfahrung zu strukturieren, beliebig wechseln. Normalerweise bemerken wir gar nicht, dass eine Strukturierung stattfindet: Wir erfahren die Gegenstände einfach als auf eine bestimmte Weise strukturiert. Die Strukturierung findet immer so statt, dass die vielen verschiedenen Beschaffenheiten des Gegenstandes als miteinander verknüpft erfahren werden, als Beschaffenheiten ein und desselben Gegenstandes. Wenn wir z. B. einen Hasen sehen, dann sehen wir nicht bloß eine Ansammlung von farbigen Flecken, verschiedene Schattierungen von Braun, die in unserem Gesichtsfeld verteilt sind. (Übrigens geht sogar in das Sehen farbiger Flecken Intentionalität ein, – schließlich ist ein Fleck auch eine Art von Gegenstand, wenngleich eine andere Art von Gegenstand als ein Hase.) Wir sehen einen Hasen von einer ganz bestimmten Gestalt und Farbe, mit der Fähigkeit zu mümmeln, zu hüpfen, usw. Und er hat eine Seite, die uns zugewandt ist, und eine Seite, die von uns abgewandt ist. Aus unserer Position sehen wir diese andere Seite nicht, aber wir sehen etwas, das eine andere Seite hat. Diese Besonderheit unseres Bewusstseins ist das, was Husserl Intentionalität oder Gerichtetsein nennt. Dass Sehen intentional oder auf einen Gegenstand gerichtet ist, bedeutet nichts anders als dies: Das, was wir von einem Gegenstand sehen, wird von uns als eine Seite des Gegenstandes aufgefasst, und der Gegenstand, den wir sehen, hat noch andere Seiten und Beschaffenheiten, die in dem Sinne mit-intendiert sind, dass das Ding als etwas aufgefasst wird, das noch andere Seiten und Beschaffenheiten hat. Diese Struktur, in der das Gerichtetsein des Bewusstseins besteht, nennt Husserl das Noema. Das Noema ist das 168 | dagfinn fØllesdal
umfassende System der Bestimmungen, das dieser Mannigfaltigkeit von Beschaffenheiten und Seiten Einheit gibt und sie zu Aspekten ein und desselben Gegenstandes macht. An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass die verschiedenen Seiten, Erscheinungen oder Perspektiven zusammen mit dem Objekt konstituiert werden. Es gibt keine frei schwebenden Seiten oder Perspektiven, bevor wir anfangen wahrzunehmen, die dann zu Gegenständen synthetisiert werden, wenn Intentionalität ins Spiel kommt. Es gibt keine Gegenstände irgendeiner Art ohne Intentionalität, seien es nun physikalische Objekte, Seiten oder Erscheinungen solcher Objekte oder Perspektiven auf solche Objekte. Und Intentionalität arbeitet nicht in Schritten. Wir beginnen nicht damit, dass wir sechs Seiten konstituieren, um sie sodann zu einem Würfel zusammenzusetzen, – wir konstituieren den Würfel und seine sechs Seiten in einem einzigen Schritt. Das Wort »Gegenstand« muss hier im allerweitesten Sinne verstanden werden: Es trifft nicht nur auf physikalische Dinge zu, sondern auch auf Tiere, Personen, Ereignisse, Handlungen und Prozesse sowie auf Seiten, Aspekten und Erscheinungen solcher Entitäten. Wir sollten auch beachten, dass wir bei der Wahrnehmung einer Person nicht nur ein physikalisches Objekt, einen Körper wahrnehmen, um dann darauf zu schließen, dass eine Person anwesend ist. Wir nehmen vielmehr eine Person wahr, wir sind konfrontiert mit jemandem, der die Welt strukturiert, der sie aus seiner eigenen Perspektive erlebt. Unser Noema ist ein Noema von einer Person, es findet hier keine Schlussfolgerung statt. Personen zu sehen ist nicht mysteriöser als physikalische Objekte zu sehen, in beiden Fällen findet kein Schlussfolgern statt. Wenn wir ein physikalisches Objekt sehen, dann sehen wir nicht Sinnesdaten oder ähnliches, um dann daraus zu schließen, dass sich vor uns ein physikalisches Objekt befindet, – unser Noema ist das Noema eines physikalischen Objekts. Und wenn wir eine Handlung sehen, dann ist das, was wir sehen, eine Handlung im Vollsinn des Wortes und nicht bloß eine Körperbewegung, aus der wir schließen, dass eine Handlung vollzogen wird.
Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 169
Erfüllung: die Hyle Im Falle eines Wahrnehmungsaktes kann das Noema charakterisiert werden als eine komplexe Struktur von Erwartungen oder Antizipationen bezüglich der Arten von Erfahrungen, die wir haben werden, wenn wir um das Objekt herumgehen und es mit unseren verschiedenen Sinnen wahrnehmen. Wir antizipieren andere Erfahrungen, wenn wir eine Ente sehen, als wenn wir einen Hasen sehen. Im ersten Fall antizipieren wir z. B., dass wir Federn fühlen werden, wenn wir das Objekt berühren, im zweiten Fall erwarten wir, ein Fell zu spüren. Wenn wir die Erfahrung machen, die wir erwartet haben, dann werden die entsprechenden Komponenten des Noema, wie Husserl sagt, erfüllt. In jeder Wahrnehmung findet irgendeine Erfüllung statt: die Komponenten des Noema, die dem entsprechen, was gegenwärtig »ins Auge fällt«, sind erfüllt, und Entsprechendes gilt bei den anderen Sinnen. Derartige Antizipationen und Erfüllungen sind das, was die Wahrnehmung von anderen Bewusstseinsarten unterscheidet, z. B. von der Imagination oder der Erinnerung. Wenn wir Dinge bloß imaginieren, kann unser Noema das eines beliebigen Gegenstandes sein, etwa das eines Elefanten oder einer Lokomotive, die neben mir stehen. Bei der Wahrnehmung aber sind meine Sinnesempfindungen involviert, und das Noema muss zu ihnen passen. Das schließt Noemata aus, die ich hätte haben können, wenn ich imaginiert hätte. In meiner gegenwärtigen Situation kann ich kein Noema haben, das zur Wahrnehmung eines Elefanten passen würde. Dadurch wird aber die Anzahl der Wahrnehmungsnoemata, die ich jetzt beispielsweise von meinem Leser haben könnte, wenn er vor mir säße, nicht auf Eins reduziert. Wie wir bereits gesehen haben, ist ein zentraler Punkt in Husserls Phänomenologie, dass ich ganz verschiedene Wahrnehmungsnoemata haben kann, die mit meinen gegenwärtigen Sinnesempfindungen kompatibel sind. Im Hase-Ente-Fall war das offenkundig: Wir konnten zwischen einer Erfahrung mit dem Noema einer Ente und einer mit dem Noema eines Hasen beliebig wechseln. In den meisten Fällen aber sind wir uns keiner derartigen Möglichkeit bewusst. Nur wenn etwas Unerwartetes geschieht, wenn ich »widerspenstige« Erfahrungen mache, die nicht zu den Antizipationen 170 | dagfinn fØllesdal
in meinem Noema passen, beginne ich, ein Objekt zu sehen, das verschieden ist von dem, welches ich vorher zu sehen glaubte. Mein Noema – so pflegt Husserl zu sagen – »explodiert«, und ein neues Noema stellt sich bei mir ein, zu dem neue Erwartungen gehören. Das ist immer möglich, sagt Husserl. Die Wahrnehmung schließt immer Antizipationen ein, die hinausgehen über das, was uns gegenwärtig »ins Auge fällt«, und es besteht immer das Risiko eines Irrtums, gleichgültig wie groß unsere Gewissheit ist. Wahrnehmungstäuschung ist immer möglich. Die Erfahrung, die ich typischerweise mache, wenn meine Sinnesorgane affiziert werden, und die meinem Wahrnehmen Einschränkungen auferlegen, nennt Husserl »Hyle«, wobei er sich eines griechischen Wortes bedient, das Material (Stoff) bedeutet. Er sah in seiner Konzeption der Wahrnehmung eine Variante des Hylemorphismus: Die Hyle, meine Sinnenempfindungen, legt dem Noema Einschränkungen auf und wird durch es »geformt«. Man beachte, dass es sich bei der Hyle in Husserls Augen nicht um Objekte, sondern um Komponenten von Akten handelt. Wir können sie in Objekte verwandeln, wenn wir auf sie reflektieren, aber in normalen Wahrnehmungsakten werden sie nicht wahrgenommen, sondern sie begrenzen unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten. Für Husserl gibt es nicht ein unstrukturiertes »Gegebenes« in der Wahrnehmung, nichts unmittelbar Wahrgenommenes von der Art, wie es die Sinnesdaten-Theoretiker postuliert haben.
Die Welt und die Vergangenheit Wir strukturieren – oder um Husserls Wort zu verwenden – »konstituieren« das Ding nicht nur so, dass es verschiedene Beschaffenheiten hat, sondern auch so, dass es zu anderen Dingen in Beziehungen steht. Wenn ich beispielsweise einen Baum sehe, so wird der Baum als etwas aufgefasst, das vor mir steht, als etwas, das vielleicht zwischen anderen Bäumen steht, als etwas, das auch von anderen Personen gesehen wird, usw. Er wird auch als etwas aufgefasst, das eine Geschichte hat: Er war schon da, bevor ich ihn sah, er wird dort bleiben, wenn ich weggegangen bin, und vielleicht wird er schließlich gefällt und anderswohin transportiert. Aber wie alle maRechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 171
teriellen Dinge wird er nicht vollkommen aus der Welt verschwinden. Mein Baum-Bewusstsein ist auf diese Weise also ein Bewusstsein von der Welt in Raum und Zeit, in welcher der Baum lokalisiert ist. Mein Bewusstsein konstituiert den Baum und gleichzeitig auch die Welt, in welcher der Baum und ich leben. Wenn meine späteren Erfahrungen dafür sorgen, dass ich die Überzeugung aufgebe, vor mir befinde sich ein Baum, etwa weil ich herausfinde, dass das Ding keine baumartige Rückseite hat oder weil andere meiner Erwartungen sich als falsch herausstellen, so beeinflusst das nicht nur meine Konzeption dessen, was es jetzt gibt, sondern auch meine Konzeption dessen, was es gab und was es geben wird. In einem solchen Fall wird also nicht nur die Gegenwart von mir re-konstituiert, sondern auch die Vergangenheit und die Zukunft. Um zu illustrieren, wie Veränderungen in meiner gegenwärtigen Wahrnehmung mich dazu bringen, nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit zu re-konstituieren, verwendet Husserl das Beispiel eines Balls, den ich anfänglich für gleichmäßig rund und gleichmäßig rot gehalten habe. Ich entdecke dann aber, dass er auf der anderen Seite grün und eingebeult ist:2 Der Wahrnehmungssinn ändert sich nicht bloß in der momentanen neuen Wahrnehmungsstrecke; die noematische Wandlung strahlt in Form einer rückwirkenden Durchstreichung zurück in der retentionalen Sphäre und wandelt ihre aus den früheren Wahrnehmungsphasen stammende Sinnesleistung. Die frühere Apperzeption, die auf konsequent fortlaufendes »rot und gleichmäßig rund« abgestimmt war, wird implicite umgedeutet in »an der einen Seite grün und eingebeult«.
Werte, praktische Rollen Bislang habe ich nur die faktischen Eigenschaften der Dinge erwähnt. Die Dinge haben aber auch evaluative Eigenschaften, und diese Beschaffenheiten werden – so sagt Husserl – auf entsprechende Weise konstituiert. Die Welt, in der wir leben, wird von uns erfahren als eine Welt, in der manche Dinge, Ereignisse und Hand172 | dagfinn fØllesdal
lungen einen positiven Wert haben, andere einen negativen. Unsere Normen und Werte unterliegen ebenfalls der Veränderung. Veränderungen in unseren Auffassungen der Tatsachen sind oft begleitet von Veränderungen in unseren Bewertungen. Husserl betont, dass unsere Perspektiven und Antizipationen nicht überwiegend faktische Beschaffenheiten betreffen. Wir leben keineswegs ein rein theoretisches Leben. Laut Husserl sind wir auf die uns umgebende Welt primär in der Einstellung des natürlichen Lebensvollzugs bezogen, als fungierende lebendige Subjekte im Umkreis anderer fungierender lebendiger Subjekte. Das sagt Husserl in einem Manuskript aus dem Jahre 1917, aber er vertritt ähnliche Auffassungen des Praktischen auch vorher und nachher. So schreibt er z. B. in den Ideen (1913):3 Diese Welt [die Welt, zu der ich gehöre] ist für mich nicht da als eine bloße Sachenwelt, sondern in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt. Ohne weiteres finde ich die Dinge vor mir ausgestattet, wie mit Sachbeschaffenheiten, so mit Wertcharakteren.
So wie Husserl niemals der Auffassung war, dass wir erst Körper und Körperbewegungen wahrnehmen und dann schließen, dass es Personen und Handlungen gibt, oder dass wir zuerst Sinnesdaten oder Aspekte oder Erscheinungen wahrnehmen, um sie sodann zu physikalischen Objekten zu synthetisieren, so wäre es ein schweres Missverständnis, Husserl die These zuzuschreiben, dass wir erst Objekte wahrnehmen, die nur physikalische Eigenschaften haben, um ihnen dann einen Wert oder eine praktische Funktion zuzuordnen. Die Dinge werden von uns unmittelbar als Träger von sowohl funktionalen und evaluativen als auch von faktischen Beschaffenheiten erfahren, als Dinge, die in unserem natürlichen Lebensvollzug für uns von Interesse sind.
Sehen-als: Husserl versus Wittgenstein Die Grundlagen von Husserls Wahrnehmungstheorie gehen weit über Wittgenstein hinaus. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Husserls und Wittgensteins Auffassungen der WahrnehRechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 173
mung, der erwähnt werden sollte. Wittgenstein wird oft für die Entdeckung gelobt, dass jedes Sehen ein »Sehen als« ist. Man könnte den Eindruck haben, dass das auch Husserls Auffassung ist. Aber dem ist nicht so. In der normalen Wahrnehmung gibt es keinen Gegenstand, der in der einen Situation als ein Ding dieser Sorte gesehen wird (z. B. als Ente) und bei einer anderen Gelegenheit als ein Ding von einer anderen Sorte (z. B. als Hase). Es gibt kein zugrundeliegendes, mehr basales Objekt, das als ein Objekt von dieser oder jener Art gesehen wird. Es gibt die Hyle, aber bei ihr handelt es sich nicht um etwas Gesehenes, – sie besteht aus Empfindungen, die unsere Strukturierungsmöglichkeiten begrenzen und nicht Objekte der Erfahrung sind. Wittgenstein ging unglücklicherweise von einer Situation aus, in der es ein Objekt gibt, nämlich das Bild, das auf die eine oder andere Weise gesehen werden kann, und er orientierte sich in seiner Auffassung der Wahrnehmung an diesem Paradigma. Wenn wir Husserls Theorie der Wahrnehmung richtig verstehen wollen, so sollten wir nicht Jastrows Bild als unser Paradigma verwenden, sondern einen Fall normaler Wahrnehmung, in dem wir abends gegen den Horizont eine Silhouette wie das Jastrow-Bild erblicken. In so einem Fall kann ich eine Ente oder einen Hasen sehen, aber es gibt kein Bild oder ein anderes Objekt, das als eine Ente oder als ein Hase gesehen wird. Man könnte glauben, die Silhouette sei doch solch ein Objekt – genau wie das Bild in Jastrows und Wittgensteins Beispiel. Aber damit würde man eine entscheidende Pointe der Husserl’schen Wahrnehmungstheorie übersehen, – eine Pointe, die seine Theorie vor den Problemen bewahrt, die für die meisten anderen Wahrnehmungstheorien Stolpersteine geworden sind: Es gibt kein unmittelbar Gegebenes in der Wahrnehmung, weder Sinnesdaten noch Bilder, noch Silhouetten. Es gibt Passagen bei Wittgenstein, in denen er zu bemerken scheint, dass Wahrnehmung nicht nach dem Modell des Sehens von Bildern konzipiert werden sollte. Aber der Enthusiasmus für das »Sehen als« hat die fundamentalen Probleme für eine Wahrnehmungstheorie verdeckt, welche die Bildwahrnehmung als paradigmatischen Fall behandelt.
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Überlegungsgleichgewicht Aus dem Vorangegangenen dürfte deutlich sein, dass Husserl die Wahrnehmung nicht für ein unerschütterliches Fundament der Wissenschaft und der Erkenntnis gehalten hat. Das Zusammenspiel zwischen unseren Wahrnehmungen und unseren diversen vergangenen Erfahrungen und Theorien macht die Wahrnehmung formbar. Das ist ein Zug, den Husserls allgemeine Konzeption der Rechtfertigung mit neueren Auffassungen teilt, denen wir uns nun zuwenden wollen. Nach diesen neueren Auffassungen, die der Husserl’schen sehr ähneln, besteht Rechtfertigung in der Herbeiführung eines Zustandes, den man mit einem von John Rawls eingeführten Titel als »Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium)« zu bezeichnen pflegt (Rawls 1971). Eine der klarsten Formulierungen dieser Auffassung ist in Nelson Goodmans Buch Fact, Fiction and Forecast zu finden. Er diskutiert dort das Problem der Rechtfertigung der Deduktion, die viele Philosophen für evident, für keiner Rechtfertigung bedürftig gehalten haben:4 Wie rechtfertigt man eine Deduktion? Einfach dadurch, dass man zeigt, dass sie den allgemeinen Regeln des deduktiven Schließens entspricht … Doch wie kann man entscheiden, ob Regeln gültig sind? Hier begegnet man wieder Philosophen, die behaupten, dass diese Regeln aus einem evidenten Axiom folgen, und anderen, die zu zeigen versuchen, dass die Regeln in der Natur des menschlichen Geistes selbst begründet sind. Mir scheint, die Antwort liegt viel näher an der Oberfläche. Die Regeln des deduktiven Schließens werden gerechtfertigt durch ihre Übereinstimmung mit der anerkannten Praxis der Deduktion. Ihre Gültigkeit beruht auf der Übereinstimmung mit den speziellen deduktiven Schlüssen, die wir tatsächlich ziehen und anerkennen. Wenn eine Regel zu unannehmbaren Schlüssen führt, so lässt man sie als ungültig fallen. Die Rechtfertigung allgemeiner Regeln leitet sich also von Urteilen her, die einzelne deduktive Schlüsse verwerfen oder anerkennen. Das sieht eindeutig zirkulär aus. Ich sagte, deduktive Schlüsse würden aufgrund ihrer Übereinstimmung mit gültigen allgemeinen Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 175
Regeln gerechtfertigt, und allgemeine Regeln würden gerechtfertigt aufgrund ihrer Übereinstimmung mit gültigen Schlüssen. Doch das ist ein guter Zirkel. Es ist eben so, dass sowohl die Regeln als auch die einzelnen Schlüsse gerechtfertigt werden, indem sie miteinander in Übereinstimmung gebracht werden. Eine Regel wird abgeändert, wenn sie zu einem Schluss führt, den wir nicht anzuerkennen bereit sind; ein Schluss wird verworfen, wenn er eine Regel verletzt, die wir nicht abzuändern bereit sind. Der Vorgang der Rechtfertigung besteht in feinen gegenseitigen Abstimmungen zwischen Regeln und anerkannten Schlüssen: die erzielte Übereinstimmung ist die einzige Rechtfertigung, derer die einen wie die anderen bedürfen.
Ich werde nun fünf Hauptmerkmale dieser Auffassung der Rechtfertigung herausarbeiten, die sich alle auch bei Husserl finden.
(i) Kohärenz Das Verfahren betont die Wichtigkeit der Kohärenz. Die Kohärenz ist von der Art, wie wir sie in wissenschaftlichen Theorien anstreben: Deduktive logische Schlüsse spielen eine wichtige Rolle (doch Deduktion bedarf selber, wie Goodman gezeigt hat, der Rechtfertigung), aber auch die Einfachheit unserer Theorie und mancherlei anderes, wie z. B. die Argumentationsform, die oft als »Schluss auf die beste Erklärung« bezeichnet wird. Typischerweise werden generelle Aussagen dadurch gerechtfertigt, dass die gewünschten partikulären Aussagen aus ihnen folgen; andererseits sind aber die partikulären Aussagen ihrerseits in einem gewissen Grade dadurch gerechtfertigt, dass sie aus allgemeineren Aussagen ableitbar sind. Dieser letzte Punkt – dass partikuläre Aussagen durch ihre Ableitbarkeit aus allgemeineren zu einem gewissen Grade gerechtfertigt sind – unterscheidet die Methode des Überlegungsgleichgewichts von der traditionellen hypothetisch-deduktiven Methode, bei der die partikulären Aussagen, meist Aussagen über Beobachtetes, als unkorrigierbar oder zumindest als von Theorien unbeeinflusst angesehen werden. Auf diesen Unterschied werde ich jetzt eingehen.
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(ii) Unbeschränkte Korrigierbarkeit Keine Aussage in unseren »Theorien« ist unrevidierbar. (Ich verwende das Wort »Theorie« in einem weiten Sinn, bei dem es nicht erforderlich ist, dass eine Theorie die Gestalt eines deduktiven Systems hat, sondern bei dem nur gefordert ist, dass die Aussagen, aus denen sie besteht, in einem so engen Zusammenhang stehen, dass zwischen ihnen ein Rechtfertigungstransfer stattfinden kann.) Jede Aussage kann aufgegeben werden, wenn wir finden, dass wir dadurch unsere Gesamttheorie vereinfachen und kohärenter machen können. Die Auffassung mancher Logischen Empiristen, denen zufolge »Protokollsätze« nicht revidierbar und von keiner Theorie beeinflusst sind, ist damit unverträglich: Ihr Verfahren ist ein Beispiel der hypothetisch-deduktiven Methode, nicht der Methode des Überlegungsgleichgewichts. Letztere ist ebenfalls unverträglich mit einer »Sinnesdaten-Theorie« der Wahrnehmung, bei der Aussagen über Sinnesdaten unkorrigierbar sein sollen. Anhänger der Methode des Überlegungsgleichgewichts sind Fallibilisten nicht nur mit Bezug auf die Hypothesen einer Theorie, sondern auch mit Bezug auf Beobachtungsaussagen und andere »Daten«. Husserls Theorie der Wahrnehmung harmoniert bestens mit einer solchen »holistischen« Konzeption der Rechtfertigung.
(iii) Verschiedene Anwendungsbereiche Die Methode des Überlegungsgleichgewichts kann in diversen Bereichen angewendet werden. Empirische Wissenschaft, Mathematik, Logik und Ethik sind vier prominente Anwendungsbereiche. Philosophen können diese Methode in einem, in zwei, in drei oder in allen vier Bereichen für angemessen halten. Philosophen können auch danach unterschieden werden, ob sie diese Bereiche in dem Sinne für separat halten, dass es keinen Rechtfertigungstransfer zwischen ihnen gibt, oder ob sie sozusagen »globale« Holisten sind, denen zufolge alle vier Bereiche Teile eines Ganzen sind, in dem KohärenzÜberlegungen alle vier Bereiche betreffen und Rechtfertigung daher aus einem Bereich in den anderen übertragen werden kann. In den Augen des »globalen« Holisten sind die empirischen WissenschafRechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 177
ten daher auch für Wertfragen und Normen relevant und, was noch bemerkenswerter ist, ethische Überlegungen können für Fragen in Mathematik, Logik und empirischer Wissenschaft relevant sein. Der prominenteste Anwalt eines solchen globalen Holismus ist Morton White in seinen Büchern Toward Reunion in Philosophy (1956)5 und What Is and What Ought to Be Done (1981). White argumentiert hier, dass die vier erwähnten Bereiche so aufeinander bezogen sind, dass Aussagen aus verschiedenen Bereichen zusammen getestet werden können und dass gilt: »we may reject or revise a descriptive statement in response to a recalcitrant moral feeling.«6 Indem White Aussagen aus allen vier Bereichen in das Korpus derer aufnimmt, die zu testen sind, schließt er mehr ein als Quine, der keine ethischen Fragen diskutiert hat, und viel mehr als Pierre Duhem in La Théorie Physique: Son Object, Sa Structure (1906), der ein Pionier des Holismus war, aber Mathematik und Logik nicht einschloss und Ethik genauso wenig wie Quine erörterte. Andererseits schließt White aber in jeden einzelnen Test weniger ein als Quine. Während Quine der Auffassung ist, dass »in jedem Experiment oder Test jede unserer Überzeugungen auf dem Prüfstand steht«,7 ist White genau wie Duhem der Ansicht, dass nur ein Teil des »Gewebes unserer Überzeugungen« in einem Test überprüft wird. Um seine Auffassung von derjenigen Quines zu unterscheiden, nennt White sie »limited corporatism«. Dabei gebraucht er das Wort »corporatism« so, wie ich das Wort »Holismus« verwende, also für die These, dass »wir nicht isolierte einzelne Aussagen, sondern Gruppen von Aussagen überprüfen«.8 Die Qualifikation »limited« deutet an, dass für White wie für Duhem die Gruppe der Aussagen, die in einem Test auf dem Prüfstand stehen, weniger umfassend ist als für Quine. Da das Wort »corporatism« auch in der politischen Theorie verwendet wird, werde ich das, was White meint, weiterhin »Holismus« nennen. Man könnte verschiedene Etiketten für die verschiedenen Varianten des Holismus einführen, z. B. »partieller Holismus« für Duhems und Whites Auffassung, derzufolge die Gruppe von Überzeugungen, die in einem einzelnen Test geprüft werden, nur einen Teil des ganzen Gewebes unserer Überzeugungen ausmachen, und »begrenzter Holismus« für eine Auffassung wie diejenige Quines, bei der nicht alle vier Bereiche eingeschlossen sind. Duhems Konzeption wäre dann ein 178 | dagfinn fØllesdal
»begrenzter partieller Holismus«, während Whites Auffassung ein »unbegrenzter partieller Holismus« wäre. Aber statt das Gedächtnis meiner Leser zu belasten, werde ich lieber ausbuchstabieren, welche Art von Holismus jeweils zur Diskussion steht. In Science und Sentiment in America zeigt White, dass William James zwischen einer »trichotomischen« und einer holistischen Auffassung schwankte. Erstere dominiert in James’ Psychology und The Will to Believe, wo Naturwissenschaft, Logik/Mathematik und Ethik drei separate Bereiche sind, von denen jeder mit einer Methode des Überlegungsgleichgewichts zu traktieren ist, aber ohne Rechtfertigungstransfer zwischen den Bereichen. Die zweite, die holistische Auffassung findet White in einigen Teilen der Bücher Pragmatism und in A Pluralistic Universe, in denen alle drei Bereiche als Teile eines zusammenhängenden Ganzen angesehen werden, in dem es zu einem Rechtfertigungstransfer zwischen den Bereichen kommt: Spannungen in einem Bereich können durch das, was in den anderen Bereichen geschieht, verstärkt oder reduziert werden. White sagt:9 [E]in unerfüllter Wunsch kann unser Überzeugungssystem genau so erschüttern, wie es die Entdeckung eines logischen Widerspruchs oder einer widerspenstigen Tatsache vermag, und für James’ spätere Position ist die Gleichwertigkeit eines unerfüllten Wunsches mit den beiden anderen Ursachen für eine Erschütterung charakteristisch.
Husserl schätzte James sehr, und es könnte sein, dass er bei der Entwicklung seiner Theorie der Rechtfertigung partiell von James inspiriert war, was in anderen Bereichen seiner Philosophie ja definitiv der Fall ist. Auch Wittgenstein war von James fasziniert, und er räumte sogar gelegentlich ein: »Ich will also etwas sagen, was wie Pragmatismus klingt.«10 Whites letztes Buch, A Philosophy of Culture: The Scope of Holistic Pragmatism (2002), enthält eine gründliche historische und systematische Untersuchung der Entwicklung dieser holistischen Auffassung. Ein wichtiges Thema, das er hier gründlicher als in seinen früheren Büchern erörtert, ist der Status des Holismus selber: »Ich habe die These vertreten, dass Denker, denen es um Wissenserwerb geht, beim Überprüfen ihrer Überzeugungen die Methode des holistischen Pragmatismus verwenden und auch verwenden sollten.«11 Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 179
Kann der pragmatische Holismus nun auch selber überprüft und gegebenenfalls aufgegeben werden? White antwortet: Der Holismus sollte als eine Regel guter wissenschaftlicher Methodologie ansehen werden, – was zur Auffassung der Epistemologie als einer normativen Disziplin passt; aber er sollte nicht als a priori, notwendig oder unveränderlich angesehen werden. Von ihm gilt, was auch von einigen anderen Regeln in Ethik und Wissenschaft gilt: »Sie sind verankert, aber sie können mit guten Gründen aus ihrem Boden gelöst werden.«12 Bislang haben wir drei Charakteristika der Methode des Überlegungsgleichgewichts diskutiert: Rechtfertigung, Kohärenz und unbeschränkte Korrigierbarkeit. In der Goodman-Passage, die ich zitiert habe, kommt aber noch ein weiteres, außerordentlich wichtiges Charakteristikum zur Sprache, dem wir uns nun zuwenden wollen: präreflektive, intuitive Akzeptanz als Ursprungsquelle der Rechtfertigung.
(iv) Präreflektive, intuitive Akzeptanz Die Methode des Überlegungsgleichgewichts macht essentiell Gebrauch von der Tatsache, dass wir verschiedene Aussagen vor aller Reflexion intuitiv akzeptieren. Durch Reflexion, Systematisierung und Beobachtung versucht diese Methode, unsere anfänglichen Überzeugungen (acceptances) schrittweise zu modifizieren, einige zu verstärken und andere abzuschwächen. Aber sie versucht nicht, alle diese Überzeugungen auf einen Schlag zu verwerfen und durch etwas radikal Neues zu ersetzen. Es gibt keine Rechtfertigungsquelle, über der so ein neues Gebäude errichtet werden könnte: Alle Rechtfertigung ist diesen intuitiven Überzeugungen geschuldet.
(v) Wahrnehmung und andere Rechtfertigungsquellen Unsere intuitiven Überzeugungen sind verschieden stark, und sie werden durch verschiedene Faktoren beeinflusst, von denen wir einige für zuverlässiger halten als andere. Wahrnehmung beeinflusst viele unserer Überzeugungen bezüglich der Welt, die unsere Sinne 180 | dagfinn fØllesdal
affiziert. Zumindest von den Empiristen wurde die Wahrnehmung als eine privilegierte Rechtfertigungsquelle angesehen, die zwar nicht infallibel ist, die uns aber mit all der Rechtfertigung versorgt, die zusätzlich zu Kohärenz-Überlegungen verfügbar ist. Während die meisten Philosophen der Wahrnehmung und Beobachtung eine privilegierte Rolle in den Wissenschaften einräumen würden, ist die Situation in der Ethik nicht so klar. In seinem frühen Aufsatz »Outline of a Decision Procedure for Ethics« (1951) scheint Rawls der Auffassung zu sein, dass einige partikuläre Moralurteile solch einen privilegierten Status haben und dass die generellen ethischen Prinzipien in dem Maße gerechtfertigt sind, in dem sie eine gute Systematisierung unserer partikulären Moralurteile gestatten. Unsere Akzeptanz einiger partikulärer Urteile kann durch diese Systematisierung modifiziert werden, aber die partikulären Urteile bleiben die entscheidende Rechtfertigungsquelle für die ethischen Prinzipien – so wie in den Naturwissenschaften die partikulären Beobachtungssätze die entscheidende Rechtfertigungsquelle für die generellen Hypothesen einer Theorie sind. In seinen späteren Schriften räumt Rawls den partikulären Moralurteilen aber nicht mehr diesen privilegierten Status gegenüber den generellen ein: Nun vertritt er die These, dass Urteile beider Sorten der Rechtfertigung dienen und revidiert werden können bei unseren Versuchen, eine kohärente ethische Theorie aufzubauen, in der unsere generellen Prinzipien und unsere Urteile über Einzelfälle miteinander im Gleichgewicht sind. Unsere intuitiven ethischen Überzeugungen sind oft unzuverlässig, abhängig von egoistischen Erwägungen, kulturellen Einflüssen usw. Wenn wir über sie nachdenken, erscheinen uns einige von ihnen weniger zuverlässig als andere. Diese Einschätzungen der Zuverlässigkeit gehören zu den Überlegungen, die wir anstellen, um ein Überlegungsgleichgewicht zu erreichen, und die Einschätzungen müssen selber zum Überlegungsgleichgewicht beitragen. Nur eine sorgfältige Untersuchung darüber, wie verschiedene Beobachtungen, Erfahrungen und Veränderungen unseres Systems unsere Überzeugungen affizieren, kann zeigen, ob es zusätzlich zu Kohärenzüberlegungen, die für die Methode des Überlegungsgleichgewichts entscheidend sind, eine Rechtfertigungsquelle gibt, die von herausragender Bedeutung ist. Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 181
Überlegungsgleichgewicht bei Husserl Wenden wir uns nun Husserls Rechtfertigungstheorie zu. Auch für ihn ist Rechtfertigung eine Frage des Überlegungsgleichgewichts. Ich habe für diese These in einem früheren Aufsatz argumentiert und werde jetzt nicht alle meine Belege erneut anführen.13 Husserl akzeptiert alle Komponenten dieser Konzeption, die wir erörtert haben: Kohärenz, globale Korrigierbarkeit, präreflektive Überzeugungen usw. Er tut dies jeweils innerhalb der vier Bereiche, die wir beschrieben haben: Naturwissenschaft, Mathematik, Logik und Ethik. Insbesondere bezüglich der Ethik unterscheidet sich seine Auffassung von derjenigen Wittgensteins. Zwar waren Wittgensteins Ansichten zur Ethik im Verlauf seiner philosophischen Entwicklung nicht konstant, aber ich habe keinen Beleg dafür gefunden, dass er jemals der Ansicht war, es könne so etwas wie eine Rechtfertigung ethischer Aussagen geben. Husserl hingegen argumentierte für die These, dass ethische Aussagen gerechtfertigt werden können. Er schreibt:14 Und so haben wir auch in der Ethik zu fragen: Wo ist die Quelle der primitiven ethischen Begriffe, wo sind die Erlebnisse, auf Grund deren ich diesen Begriffen Evidenz der begrifflichen Geltung verleihen kann?
Er antwortet wie die englischen »Moral-Sense«-Philosophen, dass das Gefühl die basale Rechtfertigungsquelle in der Moralphilosophie ist:15 Die englische Gefühlsmoral [»Moral-Sense«-Theorie] hat es doch außer Zweifel gesetzt: Fingieren wir ein Wesen, das gleichsam gefühlsblind ist, so wie wir Wesen kennen, die farbenblind sind, dann verliert alles Moralische seinen Inhalt, die moralischen Begriffe werden zu Worten ohne Sinn.
Auf dieser Basis errichtet Husserl seine Ethik. Und er bedient sich dabei der Methode des Überlegungsgleichgewichts, wie ich es oben beschrieben habe. Aber er gibt dieser Methode eine besondere Wendung, die damit zu tun hat, dass die von ihm sogenannte »Lebenswelt« bei der Rechtfertigung eine Schlüsselrolle spielt. Und hier kommen wir nun zu der wichtigsten Hinsicht, in der sich Husserls 182 | dagfinn fØllesdal
und Wittgensteins Konzeptionen der Rechtfertigung ähneln. Doch auch hier gibt es interessante Unterschiede …
Die Lebenswelt und ihre Rolle bei der Rechtfertigung Lebenswelt ist für Husserl die Welt, so wie wir sie erfahren, jeder aus seiner eigenen Perspektive, bestimmt durch unsere Kultur, unsere Erziehung, unsere früheren Erfahrungen und unsere Reflexion. Besonders wichtig ist an der Lebenswelt, dass wir ihrer zum größten Teil gar nicht bewusst sind. Alles, was wir in unserem Leben erfahren und tun, hinterlässt Spuren in der Lebenswelt, aber nur selten besinnen wir uns darauf, nur selten fällen wir bewusst das Urteil, dass sie so-und-so beschaffen ist. Wir könnten gar nicht weiterleben, wenn wir ständig auf all das achten müssten, was zu ihr gehört. Wir müssen aber über sie nachdenken, wenn wir verstehen wollen, wie Rechtfertigung funktioniert:16 [N]ie [wird] wissenschaftlich gefragt … nach der Weise, wie die Lebenswelt beständig als Hintergrund fungiert, wie ihre mannigfachen vorlogischen Geltungen begründende sind für die logischen, die theoretischen Wahrheiten. Und vielleicht ist die Wissenschaftlichkeit, die diese Lebenswelt als solche und in ihrer Universalität fordert, eine eigentümliche, eine eben nicht objektiv-logische, aber als die letztbegründende nicht die mindere sondern die dem Werte nach höhere.
Man beachte, wie Husserl hier eine Auffassung formuliert, die derjenigen Goodmans sehr ähnlich ist: Die vorlogischen Geltungen fungieren als Gründe für die logischen, die Lebenswelt fungiert als Hintergrund. Erinnern wir uns daran, wie laut Goodman Prinzipien des deduktiven Schließens durch ihre Harmonie mit der etablierten deduktiven Praxis gerechtfertigt sind. Ihre Gültigkeit hängt von ihrer Übereinstimmung mit den einzelnen deduktiven Schlüssen ab, die wir tatsächlich vollziehen und als legitim behandeln.17 Ganz ähnlich sagt Husserl:18 [J]ede objektive Logik, jede apriorische Wissenschaft gewöhnlichen Sinnes … [ist] selbst zu begründen, … nicht mehr »logisch«, Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 183
sondern durch Rückleitung auf das universale vor-logische Apriori [d. h. die Lebenswelt], aus dem alles Logische, der Gesamtbau einer objektiven Theorie, nach allen ihren methodologischen Formen, seinen rechtmäßigen Sinn ausweist, durch welchen also alle Logik selbst erst zu normieren ist.
Es gibt eine ganze Reihe von ähnlichen Passagen in Husserls KrisisAbhandlung und in Erfahrung und Urteil. Viele von ihnen habe ich in Føllesdal 1988 zitiert. Hier werde ich nur einige Passagen anführen, die für einen Vergleich mit Wittgenstein besonders relevant sind. Erstens, Husserl hält die Lebenswelt nicht für fixiert und unveränderlich. Sie verändert sich mit unseren neuen Erfahrungen, und sie wird auch durch die Wissenschaft und durch Entwicklungen in unseren wissenschaftlichen Theorien beeinflusst. Letzteres widerspricht den Erwartungen derer, die glauben, dass die Lebenswelt so etwas wie das Oppositum der Welt der Wissenschaft ist. Die Textlage ist aber ganz eindeutig: Die Lebenswelt ist nicht ein Bereich, der gegen den der Wissenschaften abgeschottet ist. Wie wir gesehen haben, dient die Lebenswelt den Wissenschaften als ihre Rechtfertigungsquelle. Wissenschaftliche Theorien verdanken überdies ihrer Verbindung mit der Lebenswelt ihren Sinn. Umgekehrt verändern die Wissenschaften Schritt für Schritt die Lebenswelt. So sagt Husserl in Erfahrung und Urteil,19 dass zur Welt, wie sie uns, erwachsenen Menschen unserer Zeit, vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaft der Neuzeit an Bestimmungen des Seienden geleistet hat. Und wenn wir auch selbst nicht naturwissenschaftlich interessiert sind und nichts von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wissen, so ist uns doch das Seiende vorweg wenigstens so weit bestimmt vorgegeben, daß wir es auffassen als prinzipiell wissenschaftlich bestimmbar.
Zur Lebenswelt, so meint Husserl, gehört die Wissenschaft deshalb, weil sie als etwas konzipiert wird, das Anspruch auf Geltung, auf Wahrheit erhebt: 20 Mag die besondere Leistung unserer objektiven Wissenschaft der Neuzeit auch unverstanden sein, daran ist nicht zu rütteln, daß sie 184 | dagfinn fØllesdal
eine aus besonderen Aktivitäten entsprungene Geltung für die Lebenswelt [hat] und selbst ihrer Konkretion zugehörig ist.
Und schließlich, um zum wichtigsten Punkt zu kommen, ist die Lebenswelt für Husserl die letzte Rechtfertigungsinstanz, hinter der nach weiterer Rechtfertigung zu suchen witzlos ist. Der Hauptgrund, den Husserl dafür angibt, besteht darin, dass die Lebenswelt zum größten Teil aus Überzeugungen besteht, die wir niemals thematisiert haben und die deshalb niemals Gegenstand einer ausdrücklichen Urteilsentscheidung waren:21 [W]o solche vollkommen selbstgebende Anschauung vorliegt, ist ja gar kein Zweifel hinsichtlich des »so« oder »anders« möglich, und damit gar kein Anlaß für eine ausdrückliche Urteilsentscheidung gegeben.
Wittgenstein über Rechtfertigung Nach der Untersuchung von Husserls Auffassung der Rechtfertigung wenden wir uns nun der Rechtfertigungskonzeption Wittgensteins zu. Wir werden uns dabei an Über Gewißheit halten – weil Wittgenstein sich in diesen Aufzeichnungen besonders ausführlich mit dieser Problematik auseinandersetzt und weil sie seine letzten Aussagen zu diesem Thema enthalten, – die letzte Eintragung stammt vom 29. April 1951, zwei Tage vor seinem Tod. Erstens, Wittgensteins Auffassung der Rechtfertigung hat mit Husserls Konzeption des Überlegungsgleichgewichts eine Reihe von charakteristischen Zügen gemein. Der Begriff eines Systems ist auch bei ihm zentral, und er begegnet uns in mehreren seiner Eintragungen: 105. Alle Prüfung, alles Bekräften[22] und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente. Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 185
144. Das Kind lernt eine Menge Dinge glauben. D. h. es lernt z. B. nach diesem Glauben handeln. Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. 225. Das, woran ich festhalte, ist nicht ein Satz, sondern ein Nest von Sätzen. 410. Unser Wissen bildet ein großes System. Und nur in diesem System hat das Einzelne den Wert, den wir ihm beilegen.
Besonders wichtig ist die folgende Eintragung, in der er einen Gedanken formuliert, der in Husserls Auffassung zentral ist: 142. Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.
Es gibt aber auch Passagen, die nicht sehr gut zu Husserls Auffassung passen, z. B diese: 185. Es käme mir lächerlich vor, die Existenz Napoleons bezweifeln zu wollen; aber wenn Einer die Existenz der Erde vor 150 Jahren bezweifelte, wäre ich vielleicht eher bereit aufzuhorchen, denn nun bezweifelt er unser ganzes System der Evidenz[23]. Es kommt mir nicht vor, als sei dies System sicherer als eine Sicherheit in ihm.
Wenn man diese Eintragung aber im Kontext liest, so sieht man, dass Wittgenstein nicht sagen will, er halte die Existenz Napoleons für glaubwürdiger als die Existenz der Erde vor 150 Jahren, sondern dass er am Begriff der Rechtfertigung (evidence) interessiert ist; deshalb ist er, der Philosoph, eher bereit, demjenigen zuzuhören, der ein ganzes System der Rechtfertigung bezweifelt. Ein zweiter wichtiger Punkt in Husserls Konzeption der Rechtfertigung ist, dass Einfachheit und Kohärenz einer Auffassung größere Rechtfertigung verleihen und sie dadurch überzeugender machen. Wittgenstein trifft eine ganz ähnliche Feststellung: 92. Bedenke, daß man von der Richtigkeit einer Anschauung manchmal durch ihre Einfachheit oder Symmetrie überzeugt wird, d. h.: dazu gebracht wird, zu dieser Anschauung überzugehen. Man sagt dann etwa einfach: »So muß es sein«. 186 | dagfinn fØllesdal
Husserl war der Ansicht, dass ich die Lebenswelt von der Kultur übernehme, in der ich lebe. Es handelt sich also nicht um das Resultat einer bewussten Untersuchung und Entscheidung: Die Übernahme der Lebenswelt erfolgt zum größten Teil, ohne dass wir es bemerken. Die Lebenswelt wird nicht thematisiert und besteht fast nur aus implizit Gewusstem. Wittgenstein drückt eine ähnliche Auffassung aus, wenn er sagt: 159. Wir lernen als Kinder Fakten, z. B. daß jeder Mensch ein Gehirn hat, und wir nehmen sie gläubig hin. Ich glaube, daß es eine Insel, Australien, gibt von der und der Gestalt usw. usw., ich glaube, daß ich Urgroßeltern gehabt habe, dass die Menschen, die sich für meine Eltern ausgaben, wirklich meine Eltern waren, etc. Dieser Glaube mag nie ausgesprochen, ja, der Gedanke, daß es so ist, nie gedacht werden. 398. Weiß ich nicht auch, daß von diesem Haus keine Stiege sechs Stock tief in die Erde führt, obgleich ich noch nie dran gedacht habe?
Die folgende Aussage scheint dieselbe Konzeption zu formulieren, wenngleich sie hier bezogen wird auf den Gebrauch, den Wissenschaftler von Hilfshypothesen machen. 167 […] Ich sage Weltbild und nicht Hypothese, weil es die selbstverständliche Grundlage seiner [sc. Lavoisiers] Forschung ist und als solche auch nicht ausgesprochen wird.
Zu Beginn der folgenden Eintragung geht es um denselben Punkt. Das, was Wittgenstein Weltbild und was Husserl Lebenswelt nennt, ist nicht ein Resultat bewusster Untersuchung und Entscheidung, sondern es wird übernommen, ohne bemerkt zu werden: 94. Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.24
Ich habe die letzten Worte dieser Eintragung betont; denn hier macht Wittgenstein einen neuen Punkt, den auch Husserl gemacht hat: Die Lebenswelt macht unsere Unterscheidung zwischen WahRechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 187
rem und Falschem sinnvoll, – sie verleiht auch unserem Begriff der Realität Sinn. Husserl antwortet dem Skeptiker und auch dem Solipsisten, dass sie ihre Position beim Versuch, sie zu formulieren, unterminieren, dass sie den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Ein ähnlicher Gedanke wird in der folgenden Eintragung ausgedrückt: 450 […]. Ein Zweifel, der an allem zweifelte, wäre kein Zweifel.
So weit sind die Ähnlichkeiten zwischen Husserls und Wittgensteins Auffassungen der letzten Rechtfertigung eindrucksvoll. An zwei wichtigen Stellen aber trennen sich ihre Wege, und in beiden Fällen finde ich, dass wir Husserl folgen sollten. Erstens. Wie wir sahen, war Husserl der Auffassung, dass die Lebenswelt als ein Ganzes der Hintergrund ist, vor dem wir zwischen Wahrem und Falschem unterscheiden, dass sie unseren wissenschaftlichen Theorien Sinn verleiht und dass sie der Boden ist, auf dem wir unsere Tests vornehmen. Hier muss aber auch bedacht werden, dass die Lebenswelt sich verändert. Husserl war der Ansicht, dass es keine einzige Aussage gibt, die als Basis der Gewissheit festgehalten werden muss. Wittgenstein scheint hingegen oft zu denken, dass es solche Fixpunkte gibt. So z. B. in der folgenden Passage: 88. Es kann z. B. sein, daß unser ganzes Forschen so eingestellt ist, daß dadurch gewisse Sätze, wenn sie je ausgesprochen werden, abseits allen Zweifels stehen. Sie liegen abseits von der Straße, auf der sich das Forschen bewegt.
Sind die Sätze, die vom Zweifel ausgenommen werden, stets dieselben? Oder stehen manche zu einer Zeit abseits allen Zweifels und andere zu anderen Zeiten? Husserl entscheidet sich für die zweite Option. 341. D. h. die Fragen, die wir stellen, und unsre Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen.
Sind diese Angeln immer dieselben, oder wird, was zu einer Gelegenheit als Angel fungiert, zu einer anderen Zeit in Zweifel gezogen? 342. D. h. es gehört zur Logik unsrer wissenschaftlichen Untersuchungen, daß Gewisses in der Tat nicht angezweifelt wird. 188 | dagfinn fØllesdal
Wieder stellt sich dieselbe Frage: Gibt es einige Dinge, die niemals bezweifelt werden? Oder will Wittgenstein nur sagen, dass es zu jeder Zeit etwas gibt, was nicht bezweifelt wird? Die Reihenfolge der Quantoren ist hier entscheidend. Die zweite Hinsicht, in der sich Husserl und Wittgenstein unterscheiden, betrifft die letzten Grundlagen der Rechtfertigung. Sind sie etwas, wozu wir uns entscheiden? Wir haben oben bereits festgestellt, dass in Husserls Augen hier gar keine Entscheidung ins Spiel kommt:25 [W]o solche vollkommen selbstgebende Anschauung vorliegt, ist ja gar kein Zweifel hinsichtlich des »so« oder »anders« möglich, und damit gar kein Anlaß für eine ausdrückliche Urteilsentscheidung gegeben.
Das ist für Husserl ein ganz entscheidender Punkt, der im Zentrum seiner Konzeption der Rechtfertigung liegt. Ich habe eine einzige Passage bei Wittgenstein gefunden, in der auch er diese Richtung einzuschlagen scheint: 359. […] ich will sie [sc. diese Sicherheit] als etwas auffassen, was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt; also gleichsam als etwas Animalisches.26
Es gibt aber viele Eintragungen, in denen Wittgenstein behauptet, es komme hier eine Entscheidung ins Spiel, – so z. B. die folgenden: 362. Aber zeigt sich hier nicht, daß das Wissen mit einer Entscheidung verwandt ist? 146. […] – aber irgendwo muß ich mit einer Annahme oder Entscheidung anfangen.
Schluss Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen Husserls und Wittgensteins Auffassungen der Rechtfertigung und zwischen ihren Auffassungen und Theorien des Überlegungsgleichgewichts. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen ihnen bezüglich der Frage, ob gewisse Sätze ein für allemal vom Zweifel ausgenommen sind und, was besonders Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 189
wichtig ist, bezüglich der Frage, welche Rolle Entscheidungen spielen, wenn das Rechtfertigen und Begründen an sein Ende kommt. Hier finde ich Husserls Position besonders interessant. Seine Auffassung, dass es auf dieser Ebene nicht so etwas wie ausdrückliche Urteilsentscheidung gibt, spielt in seiner Theorie der Rechtfertigung eine Schlüsselrolle. Sie wirft Licht auf die Frage, warum die Methode des Überlegungsgleichgewichts tatsächlich Rechtfertigung zu erbringen vermag und nicht bloß ein Mittel ist, in Streitfragen eine Einigung herbeizuführen. Das aber wäre ein Thema für eine eigene Abhandlung, – es sprengt den Rahmen eines Vergleichs zwischen Husserl und Wittgenstein.27 (Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Künne)
Anmerkungen
Ich habe Husserls Wahrnehmungstheorie in Føllesdal 1974 und 1978 ausführlicher erörtert. Eine besonders klare und instruktive Darstellung und Diskussion fi ndet man in Miller 1984. Vgl. den exzellenten Aufsatz Mulligan 1995. 2 Husserl 1939, § 21a, 96. 3 Husserl 1913, § 27, Hua III, 1, 58. 4 Goodman 1955, 66–67; deutsche Übersetzung 86–87 (Goodmans Hervorhebung). 5 Vgl. White 1956, 254–256; 263. 6 White 1981, 122. 7 Vgl. aber auch Quines detailliertere Darstellung seiner Auff assung in § 3 von Word and Object (1960), wo er schreibt: »Some middle-sized scrap of theory usually will embody all the connections that are likely to affect our adjudication of a given sentence« (13). 8 White 1981, 15. 9 White 1972, 205. 10 Wittgenstein 1970, § 422. Vgl. R.B. Goodman 2002. 11 White 2002, 184–185. 12 White 2002, 182. 13 Vgl Follesdal 1988. 14 Husserl-Manuskript F I 20, 106. Zitiert in: Diemer 1 1956, 379. 15 Husserl-Manuskript F I 20, 227. Zitiert in: Diemer 1 1956, 381. 16 Husserl 1923–24, § 34, Hua VI, 127. 17 Goodmann 1955, 67. 1
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Husserl 1923–24, § 36; Hua VI, 144. Husserl 1939, § 10, 39. 20 Husserl 1923–24, § 34 f.; Hua VI, 136. 21 Husserl 1939, § 67, 330. 22 Anm. d. Übers.: Wohl eine Neuprägung, da die Unterstellung eines Schreib- oder Druckfehlers für ›bekräft igen‹ sachlich nicht plausibel ist. Jedenfalls im Sinne von ›confirm‹ zu verstehen (so wie das ebenfalls merkwürdige ›entkräften‹ im Sinne von ›disconfirm‹). 23 Anm. d. Übers.: Ein Anglizismus (›evidence: anything that gives reason for believing s.th.‹), der in den §§ 188, 190 wiederkehrt (und seit längerem bei deutschen Philosophen gang und gäbe ist). In der englischen Übersetzung steht denn auch ›evidence‹ – und nicht die Übersetzung von ›Evidenz‹, nämlich ›self-evidence‹. 24 Meine Hervorhebung. 25 Husserl 1939, § 67, 330. 26 Meine Hervorhebung. 27 Dieser Aufsatz ist eine minimal erweiterte Fassung meines Vortrags »Ultimate Justification in Husserl and Wittgenstein«, in: M. E. Reicher, J. C. Marek (Hg.), Experience and Analysis, Wien 2005, 127–142. Ich danke Wolfgang Künne für seine sorgfältige Übersetzung. 18
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Bibliographie
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II. Schriften anderer Autoren Diemer, Alwin: Edmund Husserl: Versuch einer systematischen Darstellung seiner Phänomenologie, Meisenheim am Glan 1956 (21965) Duhem, Pierre: La Théorie Physique: Son Objet, Sa Structure, Paris 1906 Dreyfus, Hubert L. (Hrsg..): Husserl, Intentionality and Cognitive Science, Cambridge/Ma 1982 Rechtfertigung bei Husserl und Wittgenstein | 191
Føllesdal, Dagfi nn: Phenomenology, in: Edward C. Carterette & Morton P. Friedman (Hrsgs.), Handbook of Perception, Vol. 1, New York 1974, S. 377–386. [Wiedergedrückt in: Dreyfus 1982] – Brentano and Husserl on Intentional Objects and Perception, in: R. Chisholm and R. Haller (Hrsg.), Die Philosophie Franz Brentanos: Beiträge zur Brentano-Konferenz, Graz, 4.–8. September 1977, Grazer Philosophische Studien 5 (1978), S. 83–94. [Wiedergedrückt in: Dreyfus 1982] – Husserl on Evidence and Justification, in: R. Sokolowski (Hrsg.), Edmund Hussserl and the Phenomenological Tradition: Essays in Phenomenology (Proceedings of a lecture series in the Fall of 1985. Studies in Philosophy and the History of Philosophy, Vol. 18), Washington 1988, S. 107–129 Goodman, Nelson: Fact, Fiction and Forecast, Cambridge/Ma 1955. [Deutsche Übersetzung: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt/M 1988] Goodman, Russell B.: Wittgenstein and William James, Cambridge 2002 Miller, Izchak: Husserl, Perception, and Temporal Awareness, Cambridge/Ma 1984 Mulligan, Kevin: Perception, in: B. Smith and D. W. Smith (Hrsg.), The Cambridge Companion to Husserl, Cambridge 1995, S. 168–238 Rawls, John: Outline of a Decision Procedure for Ethics, in: Philosophical Review 60 (1951), S. 177–191 – A Theory of Justice, Cambridge/Ma 1971. [Deutsche Übersetzung: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M 1979] Quine, Willard van Orman: Word and Object, Cambridge/Ma 1960 White, Morton: Toward Reunion in Philosophy, Cambridge/Ma 1956 – Science and Sentiment in America: Philosophical Thought from Jonathan Edwards to John Dewey, New York 1972 – What Is and What Ought to Be Done, New York 1981 – A Philosophy of Culture. The Scope of Holistic Pragmatism, Princeton 2002 Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit, Frankfurt/M 1970
192 | dagfinn fØllesdal
– Eduard Marbach –
»Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« Reflexion, Reduktion und Eidetik in Husserls Phänomenologie
In diesem Aufsatz möchte ich in die Methodologie einführen, welche Edmund Husserls philosophischer Phänomenologie des reinen bzw. des transzendentalen Bewusstseins zugrunde liegt. Meine Fragestellung lautet schlicht: Wie ist bei phänomenologischen Untersuchungen im Sinne Husserls eigentlich vorzugehen? Zur Beantwortung erfordern drei Themen die grösste Aufmerksamkeit: Reflexion – Reduktion – Eidetik. Diesen wird der Hauptteil meiner Darlegungen gewidmet sein. Doch bevor ich diese zentralen methodologischen Themen näher erläutere, möchte ich mit Blick auf Husserls Werk von der Zeit der Logischen Untersuchungen (1900/01) bis zur Krisis (1936) einen ganz knapp und entsprechend abstrakt gehaltenen Überblick über weitere methodologische Probleme der Phänomenologie geben und dabei die drei bereits genannten Bereiche in ein grösseres Ganzes einordnen. Im Anschluss an diesen Überblick möchte ich zudem den Begriff des Phänomens, um welchen es in der philosophischen Phänomenologie Husserls geht, vorweg noch etwas näher umreißen.
§ 1. Methodologische Probleme der Phänomenologie im Überblick Seit der Zeit der Vorbereitung der Logischen Untersuchungen in den 1890er Jahren und bis ins Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, wovon ein Teil noch zu Husserls Lebzeiten im Jahre 1936 zur Veröffentlichung kam, drängten sich in Husserls Schaffen immer wieder Fragen zur methodischen Abgrenzung der (philosophischen) Phänomenologie | 193
gegenüber der (wissenschaftlichen) Psychologie auf. Teils damit zusammenhängend, jedoch auch in Hinblick auf andere Zusammenhänge erörterte Husserl immer auch wieder Fragen der methodischen Einstellung (stance, attitude), die bei seinen Untersuchungen einzunehmen und einzuhalten sei. Die von ihm herausgestellte spezifisch »phänomenologische Einstellung« stellte er insbesondere der »natürlichen Einstellung« gegenüber, in der wir Menschen seiner Auffassung nach in der Welt leben. Dem Boden der natürlichen Einstellung bleiben auch die Geistes- und Naturwissenschaften verhaftet, die in ihren Untersuchungen methodisch die geisteswissenschaftliche oder personale bzw. die naturale oder auch die naturalistische Einstellung einnehmen.1 Der Abgrenzung von Psychologie und Phänomenologie entsprechend, unterschied Husserl auch zwischen natürlicher, vorphänomenologischer Reflexion und phänomenologischer oder reiner Reflexion. Wie ich noch näher erläutern werde, richtet sich die phänomenologische Reflexion in subjektiv-objektiver Orientierung einerseits auf Bewusstsein dieser oder jener Art rein als solches und andererseits auf die Gegenstände aller Art nur insoweit, als sie Gegenstände von Bewusstsein sind, Phänomene eben, oder Bewusstseinskorrelate. Die eigentliche methodische Grundlegung als Wissenschaft vom reinen bzw. transzendentalen Bewusstsein erfuhr die philosophische Phänomenologie Husserls durch die Methoden der im Einzelnen noch zu erläuternden Reduktionen, der phänomenologischen und der eidetischen Reduktion. Um die dank der phänomenologischen Reduktion spezifisch phänomenologische Thematik als ein Feld für Forschungen zu etablieren, ging Husserl unterschiedliche Wege, die in seinem eigenen Verständnis nahe Bezüge jeweils zu Descartes bzw. zu den englischen Empiristen Locke und Hume, vor allem aber zu Kant aufweisen.2 So heißt es schon in den Ideen I von 1913, die eine »Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie« bieten wollten, am Ende des Kapitels über »Die phänomenologischen Reduktionen«, die Phänomenologie sei »gleichsam die geheime Sehnsucht der ganzen neuzeitlichen Philosophie«:3 Zu ihr drängt es schon in der wunderbar tiefsinnigen Cartesianischen Fundamentalbetrachtung hin; dann wieder im Psychologis194 | eduard marbach
mus der Lockeschen Schule, Hume betritt fast schon ihre Domäne, aber mit geblendeten Augen. Und erst recht erschaut sie Kant, dessen grösste Intuitionen uns erst ganz verständlich werden, wenn wir uns das Eigentümliche des phänomenologischen Gebietes zur vollbewussten Klarheit erarbeitet haben.
Vielleicht besonders geeignet, ein erstes Verständnis von Husserls Art des Philosophierens zu gewinnen, wie er es seit den Jahren nach den Logischen Untersuchungen systematisch zu entwickeln begann, sind denn auch die Vorlesungen von 1923/24, in denen Husserl seine Idee einer phänomenologisch begründeten »Ersten Philosophie« auf dem Wege einer »Kritischen Ideengeschichte« vortrug.4 Im Gesamtwerk Husserls stellte sich etwa seit Beginn seiner Freiburger Jahre, ab 1916, ein weiteres methodologisches Grundproblem durch die konsequente Erweiterung des Forschungsprogramms der Phänomenologie um die Dimension einer genetisch-erklärenden neben der jahrelang ausgearbeiteten statisch-deskriptiven Phänomenologie. Ganz knapp angedeutet lässt sich sagen, dass die Hauptthemen der statischen Phänomenologie zum einen die deskriptive Analyse einzelner Erlebnisarten (Denk- und Erkenntniserlebnisse wie Wahrnehmen, Phantasieren, Bildbewusstsein, Erinnern, Urteilen, aber auch Gemüts- und Willensakte) und deren Korrelate, zum anderen methodische Klarstellungen der Phänomenologie als philosophischer Wissenschaft betrafen. In der genetisch-erklärenden Phänomenologie ging es Husserl darüber hinaus immer mehr um die Erfassung der konkreten Vereinheitlichung des Erlebens im personalen Ich, in der Person als einer Identität im Wandel bzw. in der transzendentalen Ich- oder Subjektgemeinschaft, welche Husserl in Anlehnung an Leibniz’ Monadologie auch als Monadengemeinschaft bezeichnete.5 Und korrelativ bemühte sich Husserl um die Klärung der Konstitution verschiedener Umwelten und der Konstitution der einen gemeinsamen Welt für alle. Genauer wandte er sich bei diesen konstitutiven Untersuchungen der unterschiedlichen ontologischen Struktur der Umwelten verschiedener Subjekte zu, bezüglich etwa menschlicher Kinder verschiedener Altersstufen (Embryo, Säugling, Kleinkind etc.), niederen und höheren Tieren, geisteskranken oder anomalen menschlichen und tierischen Subjekten, Menschen der Heimwelt und Menschen fremder Kul»Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 195
turen (Heimwelt – Fremdwelten) usw. Im Ausgang von der »Idee der Normalität« und von einer faktischen »Normalapperzeption« beim »Urtypus Mensch« und ideellen Abwandlungen davon versuchte er in vielen Texten aus den 1920er und 1930er Jahren, sich über mögliche Typen der Anomalität und Relativitäten auf verschiedensten Stufen Klarheit zu verschaffen. Zentral dabei war seine differenzierte Auffassung von Einfühlung in andere Subjekte und deren Abwandlungen, für welche er eine »Methode des konstitutiven Abbaus« bzw. der »phänomenologischen Rekonstruktion« im Ausgang von unserer eigenen Leib-Umwelt-Apperzeption entwarf.6 Speziell mit Blick auf die Grundlagenfragen der Wissenschaften, mit denen Husserl sich von Anfang an befasste (zuerst bzgl. der Mathematik, vornehmlich der Arithmetik, und der Logik), trat in seinem Denken schließlich die Frage nach der Lebenswelt als Grundlagenproblem der (Natur-)Wissenschaften und als universales Wahrheits- und Seinsproblem stark in den Vordergrund.7
§ 2. Zu Husserls Begriff des Phänomens Wenn Husserl sich explizit über seinen Gebrauch des Wortes ›Phänomen‹ äusserte, machte er gewöhnlich auf die Unterscheidung zwischen Phänomenen und Objekten in prägnantem Wortsinn als zweierlei Gegenstandsarten aufmerksam. Sowohl Phänomene als auch Objekte lassen sich als »Gegenstand« (»Seiendes«) im weitesten Sinn der Logik verstehen, womit Husserl meinte: als Subjekt für wahre Aussagen. So verstanden ist auch jederlei Phänomen, z. B. ein Erlebnis im Sinne eines intentionalen Aktes oder eine Erscheinungsweise eines Dinges als solche, für den Phänomenologen ein Gegenstand im Sinne eines logischen Subjekts, worüber Aussagen gemacht werden. Innerhalb dieses weitesten Begriffs von Gegenstand (qua Subjekt wahrer Prädikationen) kontrastierte Husserl also Gegenstände der Art, wie es zum Beispiel Objekte der Natur sind, und eben Phänomene. Sein Punkt dabei war, dass Objekte etwas Bewusstseinsfremdes, d. h. nicht zum Bewusstsein selbst Gehöriges seien, während Phänomene etwas Bewusstseinsrelatives, auf (erkennende, wertende, wollende) Subjekte Bezogenes seien. 196 | eduard marbach
Näher erläuterte Husserl seinen Gebrauch des Wortes ›Phänomen‹ meistens so, dass er sich zunächst auf einen ursprünglichen Sinn von ›Phänomen‹ berief, wie er sich im Ausgang vom griechischen ›phainomenon‹ anbiete: Phänomene als die Dinge so genommen, wie sie sich nach Eigenschaften, Zusammenhängen, Verhältnissen unmittelbar in der sinnlichen Erfahrung geben, wie sie uns eben erscheinen, zunächst als gegenwärtig in der Wahrnehmung, aber auch als Sinnenschein, Trugphänomen, Traumerscheinung; ferner aber auch in anschaulichen Vergegenwärtigungen (in Erinnerungen, Phantasien, im Bild). Husserl machte aber ganz bewusst auch Gebrauch von ›Phänomen‹ in erweitertem Sinn, indem er all das, was gedacht, gemeint, ausgesagt, etc. ist, und korrelativ das zugehörige Bewusstsein selbst (des Wahrnehmens, Erinnerns, Urteilens, Sich-freuens, Wertens, etc.) als Phänomen bezeichnete. Zusammenfassend lässt sich etwas vereinfacht sagen, dass bei Husserl als Phänomen bezeichnet wurde (1) der reflektierte Akt oder das reflektierte Erlebnis des Bewusstseins (noetisches Phänomen), (2) das Erscheinende (Bewusste) als Erscheinendes (als Bewusstes): also der intentionale Gegenstand im Wie seiner Gegebenheit (noematisches Phänomen). Zusammen genommen ergibt sich als Thema der Phänomenologie: die noetisch-noematische Korrelationsbetrachtung der Phänomene aufgrund von Reflexionen. Der Einteilung der Gegenstände überhaupt in Objekte bzw. Phänomene gemäß sprach Husserl von zweierlei Wissenschaften. Auf der einen Seite ist die Gesamtheit der sogenannten objektiven Wissenschaften: Diese zielen auf die objektive Natur, d. h. auf die Gegenstände abgesehen (abstrahiert) vom (subjektiv-relativen) Erscheinen. Auf der anderen Seite befindet sich die Wissenschaft vom Bewusstsein in sich selbst, die Wissenschaft von den Erlebnissen überhaupt oder die Wissenschaft von jederlei Gegenstands-Phänomen (auch der Gemüts- und Willenssphäre, der Kulturwelten mit ihren Werten, Werken, etc.). Schließlich ließ Husserl diesen Gegenständen (Objekten bzw. Phänomenen) der gegenüber gestellten Wissenschaften zwei grundverschiedene Arten der Erfahrung entsprechen: die objektive, »äußere« Erfahrung, auch transzendente Erfahrung genannt, und ihr gegenüber die immanente Erfahrung aufgrund von Reflexion, die (subjektiv-orientiert, oder noetisch) Bewusstseinsakte (allgemein: »Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 197
Bewusstseinserlebnisse) und (objektiv-orientiert, oder noematisch) Bewusstes als solches (Noemata) erfasst. Also: Die immanente Erfahrung ist die für die Erschließung des Forschungsgebietes der Phänomenologie in Husserls Sinne, der Wissenschaft von den reinen Phänomenen, notwendige Erfahrungsgrundlage.8 Im Folgenden möchte ich nun in der gebotenen Kürze verständlich machen, (1) wie Husserl Reflexion auf das Bewusstsein theoretisch auffasste bzw. wie er sie praktizierte, und dabei eine eigentümliche Spannung, ja Widersprüchlichkeit zwischen Theorie und Praxis zur Sprache bringen (§ 3). Danach werde ich (2) die grundlegende Leistung der sogenannten phänomenologischen Reduktion als Methode des Zugangs zur Forschungssphäre der Phänomenologie herausstellen, die sich der Sache nach aus einer Klärung dessen ergibt, was Reflexion für die Phänomenologie leisten soll (§ 4). Abschließend (3) werde ich zu erläutern versuchen, dass die Phänomenologie als Eidetik oder Wesenslehre, genauer: als Eidetik des reinen Bewusstseins, durchzuführen ist. Für das Verständnis dessen, was damit gemeint ist, ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass Husserl ursprünglich Mathematik studiert hatte; wie ich zeigen möchte, lässt sich nämlich Husserls Verständnis der Phänomenologie als einer eidetischen Wissenschaft vom reinen Bewusstsein am besten in Verbindung mit dem mathematischen Denken, wie Husserl es verstand, nachvollziehen (§ 5).
§ 3. Zur Methode der phänomenologischen Reflexion Im bisher über die phänomenologische Methode Gesagten wurde schon mehrfach auf die Reflexion hingewiesen. In den Ideen I von 1913, die eine »Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie« bieten wollen, erklärt Husserl im Dritten Abschnitt, »Zur Methodik und Problematik der reinen Phänomenologie«, dass die phänomenologische Methode »sich durchaus in Akten der Reflexion« bewege. »Auf die Leistungsfähigkeit der Reflexion und somit auf die Möglichkeit einer Phänomenologie überhaupt beziehen sich aber skeptische Bedenken, die wir zu allererst gründlich erledigen möchten«.9 Er schreibt dort auch, »Reflexion« sei »der Titel der Bewusstseinsmethode für die Erkenntnis von Bewusstsein 198 | eduard marbach
überhaupt«.10 Und er weist in diesem Zusammenhang auch auf den »innige(n) Zusammenhang zwischen Phänomenologie und Psychologie« hin, der sich »in diesen hier verhandelten Problemen der Reflexion […] besonders fühlbar« mache.11. Bereits in der allgemeinen Einleitung zu den sechs Logischen Untersuchungen von 1901 erörterte Husserl »Die Schwierigkeiten der rein phänomenologischen Analyse«12, wobei er die Quelle aller Schwierigkeiten »in der widernatürlichen Anschauungs- und Denkrichtung« ortete, die in der phänomenologischen Analyse gefordert wird«, die aber »den allerfestesten […] Gewohnheiten zuwider« sei:13 Anstatt im Vollzuge der mannigfaltig aufeinander gebauten Akte aufzugehen und somit ihren Gegenständen ausschliesslich zugewendet zu sein, sollen wir vielmehr ›reflektieren‹, d. h. diese Akte selbst zu Gegenständen machen. Während Gegenstände angeschaut, gedacht, miteinander in Beziehung gesetzt, unter den idealen Gesichtspunkten eines Gesetzes betrachtet sind u. dgl., sollen wir unser theoretisches Interesse nicht auf diese Gegenstände richten und auf das, als was sie in der Intention jener Akte erscheinen oder gelten, sondern im Gegenteil auf eben jene Akte, die bislang gar nicht gegenständlich waren; und diese Akte sollen wir nun in neuen Anschauungs- und Denkakten betrachten, sie analysieren, beschreiben, zu Gegenständen eines vergleichenden und unterscheidenden Denkens machen.
Es gibt nun meines Erachtens, wie bereits angedeutet, bei Husserl eine merkwürdige Spannung, ja Widersprüchlichkeit zwischen Theorie und Praxis der phänomenologischen Reflexion. Gemäß seiner genaueren theoretischen Beschreibung stellt sich die phänomenologische Reflexion als unmittelbare »innere« oder »immanente Wahrnehmung« dar; aufgrund von Wahrnehmung, unmittelbar bezogen auf aktuell gegenwärtig Gegebenes, käme jedoch nicht einmal im eigentlichen Sinn ein Gegenstand zur Gegebenheit, und so auch nicht ein Gegenstand für Reflexionen und darauf gebaute theoretische Erkenntnisse, wie Husserl selbst es auch, wenn auch selten explizit, zum Ausdruck gebracht hat. In der Praxis phänomenologischer Reflexion auf noetisch-noematische Korrelationen intentionaler Bewusstseinsakte war Husserl hingegen von meister»Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 199
licher Subtilität und Differenziertheit. Einige Textstellen mögen die angesprochene Spannung kurz belegen.14 In den Ideen I (1913) ist einerseits zu lesen: »Im cogito lebend, haben wir die cogitatio selbst nicht bewusst als intentionales Objekt; aber jederzeit kann sie dazu werden, zu ihrem Wesen gehört die prinzipielle Möglichkeit einer ›reflektiven‹ Blickwendung und natürlich in Form einer neuen cogitatio, die sich in der Weise einer schlicht-erfassenden auf sie richtet. […] jede kann zum Gegenstand einer sog. ›inneren Wahrnehmung‹ werden […]«.15 Oder ähnlich: » […] Zur Seinsart des Erlebnisses gehört es, dass sich auf jedes wirkliche, als originäre Gegenwart lebendige Erlebnis ganz unmittelbar ein Blick erschauender Wahrnehmung richten kann. Das geschieht in Form der ›Reflexion‹ […]«.16 Und später im selben Werk schreibt Husserl:17 Die fundamentale methodologische Bedeutung des Wesensstudiums der Reflexionen für die Phänomenologie und nicht minder für die Psychologie zeigt sich darin, dass unter den Begriff der Reflexion alle Modi immanenter Wesenserfassung und andererseits immanenter Erfahrung fallen. Also z. B. die immanente Wahrnehmung, die in der Tat eine Reflexion ist, sofern sie eine Blickwendung von einem anderweitig Bewussten auf das Bewusstsein von ihm voraussetzt.
Andererseits findet sich in einem »Kritischen Exkurs. Die Phänomenologie und die Schwierigkeiten der ›Selbstbeobachtung‹«, ebenfalls in den Ideen I (§ 79), folgende Stelle, wo Husserl durch Nennung einer Reihe von Beispielen klar den Weg weist, wie die phänomenologische Reflexion noematisch-noetisch orientiert in Gang zu bringen wäre. Ich würde ihm hier sehr gerne zustimmen, aber nur, wenn von der vorhin dokumentierten Auffassung der Reflexion als unmittelbare innere oder immanente Wahrnehmung Abstand genommen wird. Ich möchte diese Stelle im Wortlaut vorlegen und danach auf einige Texte aus den frühen 1920er Jahren hinweisen, die eigentlich eine scharfe, wenn auch nicht explizit formulierte Selbstkritik bezüglich der Reflexion als einer Form von Wahrnehmung darstellen und zugleich knapp eine in meinem Verständnis überzeugende Alternative skizzieren. Zunächst die längere Passage aus den Ideen I von 1913:18 200 | eduard marbach
Die Phänomene der Reflexion sind in der Tat eine Sphäre reiner und evtl. vollkommen klarer Gegebenheiten. Es ist eine jederzeit erreichbare, weil unmittelbare Wesenseinsicht, dass vom gegenständlich Gegebenen als solchem aus eine Reflexion möglich ist auf das gebende Bewusstsein und sein Subjekt; vom Wahrgenommenen, dem leibhaftigen »da« aus auf das Wahrnehmen; vom Erinnerten, sowie es als solches, als »Gewesenes« »vorschwebt«, auf das Erinnern; von der Aussage aus ihrem ablaufenden Gegebensein auf das Aussagen usw.; wobei das Wahrnehmen als Wahrnehmen eben dieses Wahrgenommenen, das jeweilige Bewusstsein als Bewusstsein dieses jeweilig Bewussten zur Gegebenheit kommt. Es ist evident, dass wesensmässig – also nicht aus bloss zufälligen Gründen, etwa gar bloss »für uns« und unsere zufällige »psychophysische Konstitution« – nur durch Reflexionen dieser Art so etwas wie Bewusstsein und Bewusstseinsinhalt (in reellem oder intentionalem Sinn) erkennbar ist.
In den Texten aus den 1920er Jahren, die unter dem Titel »Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926« aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, stellte Husserl fest, was überhaupt dazu erforderlich ist, dass etwas als Gegenstand gegeben ist, und speziell dann auch als Gegenstand für die phänomenologischen Reflexionen. Da ist zu lesen: »Jetzt gilt es nur, klar zu sein, dass das in der Wahrnehmung selbst und allein sich konstituierende Eine, wie es vor aller Wiedererinnerung und aller aktiven Erkenntnis sich in reiner Passivität konstituiert, noch kein ›Gegenstand‹ ist. ›Gegenstand‹ ist Korrelat der Erkenntnis, welche Erkenntnis ursprünglich in synthetischer Identifizierung liegt, die Wiedererinnerung voraussetzt«.19 Dass im vollen Sinne ein Gegenstand überhaupt nur aufgrund synthetisch-identifizierender Leistungen und nicht aufgrund von »Wahrnehmung selbst und allein« zur Gegebenheit kommt, hatte Husserl längst schon, nicht zuletzt in Bezugnahmen auf Kant, selbst auch vertreten.20 Für meinen jetzigen Zweck entscheidend ist die Fortsetzung im vorhin zitierten Text, wenn Husserl schreibt:21 Das gilt für jederlei Gegenstand, auch für die uns in unserer phänomenologischen Untersuchung zu wissenschaftlichen Gegenständen »Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 201
gewordenen noetischen und noematischen Strukturen der anschaulichen Erlebnisse. Wir gewannen ja selbstverständlich [sic!!] alle unsere Feststellungen, z. B. über Sinn und Sinnesstrukturen, auf Grund von Reproduktionen: Wir verglichen exemplarisch mannigfaltige Wahrnehmungen von demselben Sinnesgehalt, aber das konnten wir nur in Ketten der Wiedererinnerung, bezogen auf verflossene Erlebnisse, durch wiederholtes Durchlaufen und Identifizieren des Gemeinsamen.
Und wenige Zeilen später heißt es noch einmal im Rückblick auf Studien über Wahrnehmung und Erinnerung, »dass wir alle Erkenntnis des in Wahrnehmungen Liegenden nur auf Grund von Wiedererinnerungen und Analysen auf Grund erinnerter Wahrnehmungen gewinnen konnten. (Auch unsere Erkenntnisse über Erinnerungen erforderten es, dass wir uns nicht nur erinnerten, sondern dass wir wiederholte Erlebnisse der Erinnerung vollzogen und sie selbst in der Wiedererinnerung zur analytischen Erkenntnis und Vergleichung brachten.)«.22 Solchen Klarstellungen, die in Husserls Schriften leider, wie ich meine, allzu selten anzutreffen sind, lässt sich entnehmen, dass die phänomenologische Reflexion selbst gar nicht als unmittelbare »innere« oder »immanente« Wahrnehmung praktiziert werden könnte, sondern dass sie eine auf der Grundlage von Vergegenwärtigungen von Erlebnissen und deren Korrelaten nachträglich reflexiv thematisierende Einstellung ist.23
§ 4. Zur phänomenologischen Reduktion zwecks Etablierung und Sicherstellung der reinen Phänomenologie in Abgrenzung von der Psychologie Im Folgenden möchte ich mich nun der Methode der phänomenologischen Reduktion zuwenden, die Husserl ab 1906/07 in Vorlesungen ausführlich erörterte. Es ist in diesem Zusammenhang an Husserls Auseinandersetzung mit den skeptischen Argumentationen zu erinnern. Bereits kurz nach den Logischen Untersuchungen (1900/01) brachte er deutlich das Bedürfnis nach universal gefasster Aufklärung von Erkenntnismöglichkeiten zum Ausdruck. So ist etwa in einem Text, der wohl aus der Vorlesung vom Winter202 | eduard marbach
semester 1902/03 über »Allgemeine Erkenntnistheorie« stammt, zu lesen: »Die Verwirrungen, in welche die erkenntnistheoretische Reflexion geraten ist, sind so natürlich und naheliegend, dass sie im Grunde genommen jeder, der sich zu erkenntnistheoretischen Überzeugungen durchringen will, einmal in sich erfahren haben muss. Jeder Erkenntnistheoretiker muss die grosse Schule des Skeptizismus durchmachen«.24 Nicht die natürlich-objektiv gerichtete Erkenntnisthematik der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, deren Leistungen Husserl stets anerkannte, war für ihn als Philosoph von Interesse. Vielmehr sah er die philosophische Aufgabe in der »Aufklärung der Erkenntnis nach Wesensmöglichkeiten ihrer Leistung«. Eine solche Aufklärung liegt nach Husserl »nicht auf den Wegen objektiver Wissenschaft« selbst.25 Die dem natürlichen Denken selbstverständliche Möglichkeit der Erkenntnis wird in Husserls Darstellung in der philosophischen Skepsis radikal fraglich, im Altertum bei Protagoras und Gorgias, in der frühen Neuzeit bei David Hume. Wenn in den skeptischen Argumentationen die naive Vorgegebenheit der Welt als natürlicher Boden alles objektiv gerichteten Erkennens problematisch wurde, dann galt es nach Husserl, das Rätsel der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt auf einem letzten oder an sich ersten Boden aufzuklären. Für ihn entscheidend war folgende Fragestellung:26 Wie die erkennende Subjektivität in ihrem reinen Bewusstseinsleben diese Sinnesleistung, Urteils- und Einsichtsleistung ›Objektivität‹ zustandebringt; nicht, wie sie eine Objektivität, die sie im voraus in der Erfahrung und im Erfahrungsglauben hat, theoretisch fortschreitend bestimmt, sondern, wie sie schon in sich zu diesem Haben kommt. Denn sie hat nur, was sie in sich leistet; schon das schlichteste Ein-Ding-sich-gegenüber-haben des Wahrnehmens ist Bewusstsein und vollzieht in überreichen Strukturen Sinngebung und Wirklichkeitssetzung: nur, dass Reflexion und reflektives Studium dazu gehört, davon etwas, und gar etwas wissenschaftlich Brauchbares, zu wissen.
Aufgrund der Besinnung auf die skeptischen Argumentationen gelangte Husserl schon kurz nach den Logischen Untersuchungen zur expliziten Einsicht, dass für eine saubere, reine Formulierung phä»Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 203
nomenologisch-erkenntnistheoretischer Fragen nicht mehr (wie noch in den Logischen Untersuchungen) vom Boden des psychologisch aufgefassten Bewusstseins aus argumentiert werden durfte. Warum denn nicht? Weil – so Husserls Überlegung – Bewusstsein, solange es psychologisch aufgefasstes Bewusstsein ist – also z. B. Wahrnehmen, Erinnern, Urteilen, Schlussfolgern etc. im Sinne von Tätigkeiten dieses oder jenes faktischen Individuums in der Welt –, selbst als Bestandteil der Welt vorkommt, welche Welt aber in den erkenntnistheoretisch-skeptischen Erörterungen gerade fraglich, problematisch geworden ist. Deshalb forderte Husserl, es sei vom »naturgemässen methodischen Ausgangspunkt« aus, welcher der psychologische Standpunkt ist, das Bewusstsein zu gewinnen, wie es sich vom »Standpunkt der phänomenologischen Apperzeption« aus gibt.27 Und genau dazu bedürfe es der Methode der phänomenologischen Reduktion. Die phänomenologische Reduktion hat gegenüber der empirisch-natürlichen Apperzeption die »reine Apperzeptionsweise« des Bewusstseins in Kraft zu setzen. Die eigentliche Leistung der phänomenologischen Reduktion ist es demnach, durch die konsequente Ausschaltung der natürlichen empirischen Apperzeption des Bewusstseins dessen reine, unvermischte Gegebenheit methodisch sicherzustellen. Der für Husserls Philosophieren entscheidende Gedanke bezüglich der phänomenologischen Reduktion beruhte in anderen Worten darauf, dass es über die in den Logischen Untersuchungen geleistete reflektive Blickwendung auf die Bewusstseinsakte als solche hinaus einer methodisch reinen Fassung des in der Reflexion zum Gegenstand der Forschung gemachten Bewusstseins selbst bedurfte. Die Schwierigkeit des Vollzugs der von ihm geforderten Reduktion brachte Husserl immer wieder mit ihrer Unnatürlichkeit in Verbindung. Schärfer noch als im blossen Habitus der Reflexion und reflektiven Forschung ist die eigentliche Unnatürlichkeit der phänomenologischen Selbstbesinnung gerade in der bezüglich der Reflexionsgegebenheiten selbst auftretenden Forderung der »Reinigung« durch die Reduktion zu sehen. Denn, wie Husserl fast zwanzig Jahre nach der ersten Einführung der Methode zum Beispiel in Vorlesungen über die »Theorie der phänomenologischen Reduktion« im Wintersemester 1923/24 sagte: »Blosse Reflexion, und noch so sorgsam beobachtende, analysierende und noch so sehr auf mein 204 | eduard marbach
rein Psychisches, auf mein reines seelisches Innensein gerichtete«, wie sie seine eigene rein phänomenologische Analyse zur Zeit der Logischen Untersuchungen gekennzeichnet hatte, »bleibt ohne solche Methode [scil. der phänomenologischen Reduktion] natürliche psychologische Reflexion«.28 Durch die methodische Ausschaltung der empirischen Apperzeption in der Reduktion hörte in Husserls Auffassung Bewusstsein auf, »menschliches oder sonst ein empirisches Bewusstsein zu sein«. Den Gedankengang zur methodischen Bedeutung der Reduktion abschließend, den er ausführlich erstmals in Vorlesungen von 1906/07 vortrug, hielt Husserl fest, dass das Wort Bewusstsein »allen psychologischen Sinn« verliere, und schließlich werde man »auf ein Absolutes zurückgeführt, das weder physisches noch psychisches Sein im naturwissenschaftlichen Sinn ist. Das aber ist in der phänomenologischen Betrachtung überall das Feld der Gegebenheit. Mit dem aus dem natürlichen Denken stammenden, vermeintlich so selbstverständlichen Gedanken, dass alles Gegebene entweder Physisches oder Psychisches ist, muss man eben brechen.«29 Mittels der Methode der phänomenologischen Reduktion wollte sich Husserl eines thematisch »absoluten« – d. i. eines nicht auf irgendein empirisch psychologisches Individuum (Mensch, Tier etc.) relativierten – Forschungsbodens, nämlich desjenigen der reinen oder transzendentalen Subjektivität und Intersubjektivität, versichern. In einem Text aus den zwanziger Jahren schrieb er: »Subjektivität, und sie universal und ausschliesslich ist mein Thema, und es ist ein rein in sich abgeschlossenes, independentes Thema. Dass das möglich ist und wie, das zu zeigen, ist die Aufgabe der Beschreibung der Methode der phänomenologischen Reduktion«.30
§ 5. Zur Phänomenologie als Eidetik des reinen Bewusstseins Schließlich möchte ich noch einen weiteren grundlegenden Aspekt der phänomenologischen Methodologie erläutern. Er betrifft mit einem Wort die Phänomenologie als Eidetik, genauer, als Eidetik des reinen Bewusstseins. Für das Verständnis dessen, was damit gemeint ist, ist es, wie ich im Voraus angedeutet habe, hilfreich, sich daran zu erinnern, dass Husserl ursprünglich Mathematik studiert »Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 205
hatte. Sein Verständnis der Phänomenologie als einer eidetischen Wissenschaft vom reinen Bewusstsein lässt sich nämlich vom mathematischen Denken her besonders einsichtig nachvollziehen. Diese Zusammenhänge möchte ich hinsichtlich folgender Punkte genauer beleuchten: Zunächst beschreibe ich unter Anknüpfung an Husserls Vorlesungen von 1906/07 die Ausgangslage für eine wissenschaftliche Behandlung reiner Phänomene nach der erfolgten Durchführung der phänomenologischen Reduktion; danach erläutere ich die Nähe der Eidetik des reinen Bewusstseins zum mathematischen Denken unter Bezugnahme auf Husserls Begriff des Apriori, woraus der zweifache Sinn von ›rein‹ in der Rede von reiner Phänomenologie erhellen wird; abschließend werde ich, wenn auch nur ganz knapp, Husserls methodologische Zweiteilung der philosophischen Phänomenologie in die reine (eidetische) Phänomenologie als Eidetik des Bewusstseins und die angewandte (empirische) Phänomenologie zur Sprache bringen. Zur systematischen Ausgangslage nach der phänomenologischen Reduktion hat Husserl selbst folgende Gedanken vorgetragen: Zwar eröffne sich durch die Reduktion »ein neues Feld möglicher wissenschaftlicher Forschung«, nämlich das der Phänomenologie als der »universellen Wissenschaft vom reinen Bewusstsein«31; aber die Möglichkeit einer solchen Wissenschaft mache Schwierigkeiten, sei von Anfang an in Frage gestellt, weil durch die phänomenologische Reduktion die raumzeitliche Anknüpfung der Bewusstseinserlebnisse an das empirische, in Natur und Welt eingeordnete Ich ausgeschieden wird. Die Hauptschwierigkeit für eine wissenschaftliche Erforschung der Phänomene, die in keine objektiv-naturale Zeitordnung mehr eingefügt sind, lag darin, dass sie »immerfort in Fluss, immerfort in Kommen und Gehen« begriffen seien. Phänomenologie treibend, führte Husserl in jenen Vorlesungen aus, blicke ich zum Beispiel »bloss auf die Wahrnehmung als solche hin, sie nicht einmal als meine Wahrnehmung in Anspruch nehmend«, und er diskutierte eindringlich die begriffliche Unfassbarkeit der Phänomene in ihrer Individualität. Nach Vollzug der Reduktion ist »das Sein dieser Wahrnehmung […] das einzige Unfragliche«. In Hinsicht auf dieses Phänomen kann der Phänomenologe sagen »dies!«. »Aber was lässt sich damit machen? Doch so gut wie nichts. Die Phänomene kommen und gehen. Das gehört zu ihnen mit«. 206 | eduard marbach
Das Phänomen ist eine »absolute Individualität«, und von dieser gilt, dass sie zwar »nach ihrem sie konstituierenden Inhalt« begrifflich bestimmbar, aber als Individualität »nur im Schauen zu fassen ist«. In der phänomenologischen Sphäre finden sich keine »standhaltenden Individuen«, die sich in mannigfaltiger und sich wiederholender Konstatierung phänomenologisch als identische Individuen ausweisen ließen, im Unterschied zur empirischen Sphäre, wo sich vorgegebene Sternindividuen, vorgegebene Zeiten, wie historische Ereignisse etc., finden, relativ auf welche andere Individuen gemäß dem Bild vom Koordinatensystem nach festen Punkten und Achsen zu ordnen und relativ zu bestimmen seien. Demgegenüber hat eine zweite phänomenologische Wahrnehmung, d. h. Reflexion, »vielleicht ein gleiches, aber kein als identisch in Anspruch zu nehmendes Phänomen«. Husserl beschloss diesen Gedankengang so:32 Es ist danach völlig klar, wissenschaftliche Feststellungen in bezug auf die Phänomene sind nach der phänomenologischen Reduktion nicht zu machen, notabene wenn wir diese Phänomene als absolute Einzelheiten und Einmaligkeiten fixieren und begrifflich bestimmen wollen. Nur wenn wir in die empirisch psychologische Sphäre gehen, wenn wir die Phänomene als Erlebnisse eines erlebenden Ich, das im Zusammenhang einer Natur steht, betrachten, können wir solche Fixierung vollziehen in der Art, wie jeder Psychologe es im experimentellen Verfahren tut.
So kann Husserl (rhetorisch) fragen: »Ist damit eine Phänomenologie nicht überhaupt gerichtet und als unmöglich erwiesen?« und fortfahren: »Die Antwort lautet: Nein. Eine deskriptiv festlegende und bestimmende Erkenntnis einer phänomenologischen ›Welt‹, wie wir eine solche Erkenntnis hinsichtlich der Natur haben, ist völlig ausgeschlossen«. Sie ist ausgeschlossen, eben weil kein Festpunkt, »vielmehr ein ewiger Heraklitischer Fluss von Phänomenen« vorfindlich ist. Könnte aber der Schwierigkeit, dass alles Phänomenologische in den Fluss der Zeit unwiederbringlich hinabzusinken scheint, begegnet werden, wäre damit auch die Bedingung, unter welcher die in Frage gestellte Etablierung einer reinen Bewusstseinswissenschaft möglich ist, angezeigt. Als solche Bedingung brachte Husserl im unmittelbaren Anschluss an den aporetischen Gedankengang die Wesenserkenntnis zur Geltung:33 »Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 207
Aber in die Sphäre der reinen Intuition und absoluten Gegebenheit fallen nicht nur die cogitationes als individuelle Existenzen, als absolute Dies, als seiende absolute Einmaligkeiten, sondern auch ihre Gattungen und Artungen […] Diese Artungen können wir in immanenter Betrachtung und Evidenz zu Gegenständlichkeiten für sich machen und ihre spezifischen Zusammenhänge erforschen. Überhaupt kann sich gegenüber der individuellen, auf das einmalige Dies bezüglichen Betrachtung eine generelle etablieren, welche das zum Wesen der Phänomene überhaupt34 oder zum Wesen der oder jener Inhaltsartung Bezügliche in immanenter und präempirischer Weise erforscht.35
In der Wesensanalyse erfasse ich die Phänomene nicht als singuläre dahinfließende Dies, sondern »als Phänomene überhaupt«; ich erfasse deren Bestimmungen »als Spezies [Art], als mit sich identisches Allgemeines«. Husserl betonte, dass er diese Allgemeinheiten fixieren, vergleichen, ihre Verhältnisse und Gesetze bestimmen wolle. »Mögen die einzelnen Phänomene kommen und gehen, mögen sie in unfixierbarer Einmaligkeit im Strom des Bewusstseins verfliessen: ihre Existenz und individuelle Eigenart lasse ich bestimmungslos. Darüber urteile ich nicht«. Die Gegebenheiten »als diese« interessieren gar nicht; »sie sind nur Unterlagen für das sich auf ihrem Grund konstituierende Bewusstsein ›Phänomen überhaupt‹.«36 Im Folgenden wende ich mich nun den bei Husserl von der Mathematik her zu verstehenden Zusammenhängen von Wesen, Eidos und Apriori zu. Wenn Husserl immer wieder betonte, dass die Erforschung des Bewusstseins nicht als Erfahrungs-, sondern als Wesenswissenschaft zu etablieren sei und überhaupt nur als Wesenswissenschaft zu wissenschaftlichen Ergebnissen gelangen könne, stellt sich die Frage: Was ist Wesenswissenschaft für Husserl? Es war stets seine Meinung, es gebe neben Wissenschaften aus Erfahrung und Induktion auch reine, apriorische Wissenschaften. Ganz entsprechend ist für Husserl auch die Reinheit, nach der sich die Phänomenologie nennt, »nicht bloss diejenige der reinen Reflexion«, d. h. die durch die phänomenologische Reduktion ermöglichte, »sondern zugleich jene ganz andere Reinheit«, wie sie uns in den Titeln anderer Wissenschaften – etwa als »reiner Mathematik, reiner Arithme208 | eduard marbach
tik, reiner Geometrie, reiner Bewegungslehre usw.« – begegne, die man »auch als apriorische Wissenschaften« kennzeichne.37 Wie Husserls Phänomenologie als Wesenswissenschaft bzw. wie seine Lehre von der »eidetischen Reduktion«, die zur Etablierung von Wesenswissenschaft erforderlich ist, aufs engste mit seiner Auffassung von reiner, apriorischer Erkenntnis und diese wiederum mit seiner Auffassung des mathematischen Denkens verknüpft ist, lässt sich in Kürze wie folgt veranschaulichen, wodurch wir gleichzeitig etwas Einblick in die Art der Wissenschaftlichkeit, die Husserl für seine Phänomenologie anstrebte, gewinnen.38 In seinem späten Werk Formale und transzendentale Logik von 1929 schreibt Husserl, der Begriff des Eidos »definiert den einzigen der Begriffe des vieldeutigen Ausdrucks ›a priori‹, den wir philosophisch anerkennen. Er ausschliesslich ist also gemeint, wo je in meinen Schriften von ›a priori‹ die Rede ist«.39 Und in einem Text über »Die Methode der Wesensforschung« von 1924 ist zu lesen: »Praktisch kennt jeder das Apriori von der reinen Mathematik her. Er kennt und billigt die mathematische Denkungsart. … An ihr orientieren wir unseren Begriff von Apriori«.40 Zu erinnern ist auch an die Ideen I (1913), wo Husserl die mathematischen Disziplinen, speziell Geometrie und Arithmetik, als »die alten, hochentwickelten eidetischen Disziplinen« anspricht und sagt, in Parallele und Kontrast zu ihnen konzipiere er die »neue Eidetik« vom transzendental reinen Bewusstsein.41 Der Grundgedanke des der Mathematik entnommenen apriorischen Denkens betrifft die Befreiung vom Faktum, oder anders gesagt, die Auffassung des Faktums als beliebiges Exempel, wie sie zum Beispiel in der reinen Geometrie – neben der reinen Analysis Husserls bevorzugtem Beispiel – praktiziert wird. In ihr werden Raumgestalten, Kreise, Dreiecke etc., thematisiert, aber nicht die individuell erfahrenen oder in der Phantasie quasi-erfahrenen als solche, die de facto auf einer Tafel oder in der Vorstellung gerade erzeugten Figuren, sondern eben die »reinen« Raumgestalten, die Erzeugnisse einer geometrischen Idealisierung sind. Mathematiker, in Husserls Auffassung, urteilen nicht über Wirklichkeiten, sondern über ideale Möglichkeiten und über darauf bezügliche Gesetze.42 Alle eidetischen (apriorischen) Wissenschaften in Husserls Konzeption »hängen miteinander zusammen durch die Eidetik des Bewusstseins«43: 44 »Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 209
Das spezifisch Phänomenologische besteht in der Wesenserwägung, welche uns in das intentional allumspannende Bewusstsein hineinversetzt, welche also alles, was eidetische Betrachtung ergibt, in Beziehung setzt zum eidetischen Wesen des Bewusstseins, in dem sich alles Sein »konstituiert«.
Mit dieser Rückbeziehung auf »das intentional allumspannende Bewusstsein« ist das Zentralthema von Husserls reiner oder transzendentaler Phänomenologie bezeichnet. Auch bezüglich der intentionalen Bewusstseinserlebnisse war für Husserl fundamental die Befreiung vom Faktum der empirischen Zufälligkeiten des Bewusstseinsverlaufes; entscheidend war die Einstellung auf das »rein Spezifische« der Bewusstseinsakte, auf ihr ideales Wesen. Die wirklichen Erlebnisse der psychologischen Erfahrung binden den Phänomenologen nicht als solche wirklichen Erfahrungen. In einer längeren Passage aus Husserls »Freiburger Antrittsrede« kommen diese für sein Philosophieren grundlegenden Zusammenhänge sehr schön zur Sprache:45 Ganz so, wie nun die reine Analysis nicht von wirklichen Dingen und ihren faktischen Grössen handelt, sondern die zum Wesen möglicher Grössen überhaupt gehörigen Wesensgesetze erforscht, oder so, wie die reine Geometrie sich nicht an die in wirklicher Erfahrung beobachteten Gestalten bindet, sondern in frei konstruierender geometrischer Phantasie den möglichen Gestalten und Gestaltwandlungen nachgeht und ihre Wesensgesetze feststellt: genau so will die reine Phänomenologie das Reich des reinen Bewusstseins und seiner Phänomene nicht nach faktischem Dasein, sondern nach reinen Möglichkeiten und Gesetzen erforschen. In der Tat, sowie man auf dem Boden reiner Reflexion heimisch geworden ist, drängt sich die Einsicht auf, dass auch hier die reinen Bewusstseinsmöglichkeiten unter idealen Gesetzen stehen. So z. B., dass die reinen Phänomene, in denen sich ein mögliches Raumobjekt bewusstseinsmässig darstellt, ihr apriorisch festes System notwendiger Gestaltungen haben, an das jedes erkennende Bewusstsein, wenn es Raumdinglichkeit anschauendes soll sein können, unbedingt gebunden ist. So schreibt also die Idee eines Raumdinges a priori dem möglichen Bewusstsein von ihm eine feste Regel vor, die sich anschaulich verfolgen und 210 | eduard marbach
nach der Typik der phänomenalen Gestaltungen auf reine Begriffe bringen lässt. Und dasselbe gilt für jede oberste Kategorie von Gegenständlichkeiten. – Der Ausdruck a priori ist also nicht ein Deckmantel für irgendwelche ideologischen Verstiegenheiten, sondern besagt genausoviel wie die »Reinheit« mathematischer Analysis oder Geometrie.
In diesem Geiste meint Husserl, wenn der Phänomenologe sagt, »es gibt Erlebnisse […] wie Wahrnehmungen, Erinnerungen u.dgl., so sagt sein ›es gibt‹ genau so viel wie das mathematische ›es gibt‹, z. B. eine Reihe von Anzahlen […]. Begründet ist dieses ›es gibt‹ beiderseits nicht durch Erfahrung, sondern durch Wesensschauung«.46 In der reinen Phänomenologie kann es sich infolge des »Heraklitischen Flusses« nur um eine begriffliche und terminologische Fixierung der »Wesen von höherer Stufe der Spezialität« (Wahrnehmung überhaupt, Erinnerung überhaupt, Urteilen überhaupt, Einfühlung überhaupt, Wollen überhaupt, etc.) und der höchsten Allgemeinheiten »Erlebnis überhaupt, cogitatio überhaupt« handeln.47 Bezüglich des Einzelfalls dieses oder jenes verfließenden Erlebnisses, welcher der phänomenologischen Wesensanalyse als »Abstraktionsgrund« zugrunde zu legen ist, gilt, was Husserl noch im Spätwerk, Krisis (1936), festhält: »Das Faktum ist hier [scil. in der Phänomenologie] als das seines Wesens und nur durch sein Wesen bestimmbar und in keiner Weise in analogem Sinne wie in der Objektivität durch eine induktive Empirie empirisch zu dokumentieren«.48 Die Frage der Wesenseinstellung in der Phänomenologie lautet, wie schon bei Sokrates-Platon: »Was ist das überhaupt, ›Wahrnehmung‹, was ist das, ›Urteil‹, was ist das, ›Erinnerung‹?« Husserl formulierte die Frage auch semantisch gewendet so: »Wir könnten auch fragen: ›Was meinen wir überhaupt unter …?‹ Oder: ›Was heisst das ›Wahrnehmung‹?‹«49 Die Frage geht, wie Husserl auch sagt, auf die Bestimmung dessen, »was in solchen Wahrnehmungen [etc.] so liegt, dass sie ohne dergleichen nicht gedacht werden können«50. Anders gewendet: Wir trachten nach der Einsicht, dass die und die Momente oder Komponenten für diese oder jene Bewusstseinsform (Wahrnehmung, Erinnerung, Urteil etc.) konstitutiv sind, dass man keines dieser Momente weglassen kann und dass man kein weiteres zur Bestimmung hinzufügen muss. Wesenserfassung bei »Wer hat Angst vor der reinen Phänomenologie?« | 211
den Bewusstseinserlebnissen betrifft, in einem Wort, das, was zu einer »›Wahrnehmung als solcher‹ gehört, gewissermassen zum ewig gleichen Sinn von möglicher Wahrnehmung überhaupt«51, und mutatis mutandis zu jeder möglichen Bewusstseinsart als solcher. Nun ist Folgendes wichtig zu beachten: Wenn durch die Wesensbestimmung von einem (vorüberfließenden) Einzelphänomen nur das allgemeine Wesen herausgestellt wird, dann haben wir nach Husserl »eine Einheit, die in keinem Flusse steht, die im Fliessenden sich nur vereinzelt, aber dadurch nicht selbst in den Fluss hineingezogen ist. Ideen oder Wesen sind ›überzeitliche‹ Gegenständlichkeiten. Wesen von phänomenologischen Gegebenheiten sind frei von der Individuation durch die phänomenologische Zeitlichkeit«.52 So verstanden, erlaubt die Wesensanalyse auch für das Gebiet der verfließenden, zeitlich gebundenen reinen Erlebnisse »die Aufgaben einer umfassenden wissenschaftlichen Beschreibung sinnvoll zu stellen«53 (Ideen I, § 75). Abschließend zum Thema der Eidetik möchte ich noch einige Hinweise zu Husserls Unterscheidung von reiner und empirischer Phänomenologie geben. Von besonderer Bedeutung ist hier das Verhältnis der »Anwendung« apriorischer (eidetischer) Erkenntnis auf das Faktische, das von den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Tatsache und Wesen bzw. Tatsachen- und Wesenswissenschaften her verständlich zu machen ist. Es lässt sich nach Husserl »die Idee einer vollkommen rationalisierten Erfahrungswissenschaft«54 bilden. Die Rationalisierung des Faktischen geschieht hierbei auf dem Wege der Beurteilung der faktischen Wirklichkeiten nach den Gesetzen ihrer reinen Möglichkeiten, d. i. den apriorischen Bedingungen möglicher Erfahrung.55 Husserl war der Meinung, dass eine Erfahrungswissenschaft, in der eine Rationalisierung ihres regionalen Gebietes, sei es auch nur teilweise, verwirklicht ist, als Wissenschaft »auf eine neue Stufe erhoben« werde und dass die Konstitution der eidetischen Disziplin »einen entscheidenden Fortschritt der entsprechenden Erfahrungswissenschaft bedeuten muss«.56 In diesem Sinne betonte Husserl immer wieder, dass die als eidetische Wissenschaft konzipierte Phänomenologie des reinen Bewusstseins die der empirischen Psychologie des Bewusstseins entsprechende rationale Disziplin bilde, indem sie das in der Psychologie erforschte Faktum des psychischen Lebens, des individuellen wie des vergemeinschaf212 | eduard marbach
teten, aus Wesensgründen des möglichen Bewusstseins überhaupt aufzuklären ermögliche. So sprach Husserl auch von Anwendung der reinen Phänomenologie auf die Psychologie, in expliziter Analogie zur Anwendung der reinen Mathematik auf die Naturwissenschaften, besonders auf die Physik, wie sie für Husserl vorbildlich in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften seit Galilei und anderen im 17. Jahrhundert geleistet worden sei. Trotz aller Vorbildlichkeit der reinen Mathematik für die Wesenseinstellung hat Husserl aber stets auch betont, dass die Eidetik des phänomenologisch reduzierten Bewusstseins in ihrem theoretischen Typus als deskriptive Eidetik zu verstehen sei und also abzuheben von der Mathematik, die dank idealisierenden Begriffen (Limesbegriffen, wie Husserl auch sagte) und deduktiven Verfahren eine Exaktheit erreicht, die der Phänomenologie des Bewusstseins nicht zusteht. »Die transzendentale Phänomenologie als deskriptive Wesenswissenschaft gehört […] einer total anderen Grundklasse eidetischer Wissenschaften an als die mathematischen Wissenschaften«.57 Worum es in Husserls philosophischer Phänomenologie geht, möchte ich zum Schluss meiner Ausführungen über zentrale Aspekte ihrer Methodologie mit folgenden Sätzen aus seiner »Kritischen Ideengeschichte« von 1923/24, auf die ich im »Überblick« zu Beginn hingewiesen hatte, zusammenfassen:58 Die jetzt erwogene Wissenschaft soll die universale Wissenschaft vom Subjektiven überhaupt sein, als demjenigen, worin alles Objektive zum Bewusstsein kommt und je kommen kann. Oder: wir stellen ihr das Thema, alles auf Bewusstseinssubjekte und auf Bewusstsein selbst als Bewusstsein von etwas Bezügliche zu erforschen […] und zwar unter beständigem Hinblick auf die Bewusstseinsobjekte, auf die im Bewusstsein selbst jeweils vermeinten so oder so bewussten Einheiten. […] Also unsere Wissenschaft behandelt jederlei Objektives als Objektives des Bewusstseins und als in subjektiven Modis sich Gebendes; Bewusstseinssubjekt und Bewusstsein selbst wird nicht vom bewussten Gegenständlichen getrennt betrachtet, sondern im Gegenteil, Bewusstsein trägt Bewusstes selbst in sich, und so, wie es das in sich trägt, ist es Forschungsthema.
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Anmerkungen 1
Vgl. zum Beispiel, Ideen I, §§ 27–32; Ideen II, §§ 2 f., 49, 62; NGE, 294–
313. Vgl. Kern 1962 bzw. 1964. 3 Ideen I, 133. 4 Vgl. EP I. 5 Vgl. CM, speziell die V. Meditation: Enthüllung der transzendentalen Seinssphäre als monadologische Intersubjektivität, 121 ff. Ferner, EP II, 190: »… das gesamte absolute Sein ist das des Universums transzendentaler Subjekte, die miteinander in wirklicher und möglicher Gemeinschaft stehen. So führt die Phänomenologie auf die von Leibniz in genialem aperçu antizipierte Monadologie«. 6 Vgl. zum Beispiel, PI II, Nr. 6, Beilagen XII, XIII; PI III, Nr. 10, Nr. 11, Nr. 35, Beilagen IX, X, XLV, XLVII; LW, Nr. 17, Nr. 35, Nr. 43, Nr. 55–58, speziell zur Problematik der Relativitäten, vgl. LW, Nr. 59–65. 7 Vgl. Krisis, vor allem Dritter Teil, A., 105 ff.; wichtige Ergänzungen in LW; vgl. ferner BKM, Kap. 9. 8 Vgl. etwa »Die reine Phänomenologie, ihr Forschungsgebiet und ihre Methode« (Freiburger Antrittsrede 1917), in: AV I, 68 ff., oder »Phänomenologie und Psychologie«, in AV I, 82 ff. 9 Ideen I, § 77, 162. 10 Ideen I, § 78, 165. 11 Ideen I, § 79, 177. 12 LU, § 3, 13 ff. 13 LU, § 3, 14. 14 Vgl. Kern 1975, § 45 für eine ausführliche konstruktive Kritik an Husserls Reflexionstheorie in der Locke’schen Tradition. 15 Ideen I, § 38, 77. 16 Ideen I, § 45, 95. 17 Ideen I, § 78, 166. 18 Ideen I, § 79, 175. 19 APS, 327. 20 Vgl. z. B. VBL (1908), § 15. 21 APS, 327. 22 APS, 328. 23 Eine detaillierte phänomenologische Theorie der Reflexion fi ndet sich in Kern 1975, §§ 44 ff. 24 ELE, Beilage VIII, 367. 25 IP (1907), 6. 26 EP I (1923/24), 67 f. 27 ELE (1906/07), 212. 28 EP II, 79. 2
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ELE, 242. PI I, Beilage XXIII, 200 (aus 1924 oder etwas später). 31 Zur Textgrundlage vgl. vor allem ELE (1906/07), , §§ 36 ff., 216 ff. 32 ELE, 224. 33 Vgl. noch die späte Erörterung der »dritten Schwierigkeit« für eine reine Phänomenologie, Krisis, § 52, 181. 34 In einer Randbemerkung fügte Husserl hinzu: »Wesen der Phänomene als Aktphänomene, aber auch Wesen der erscheinenden und gemeinten Gegenständlichkeiten. Also Phänomene in mehrfachem Sinn«. 35 ELE, 225. 36 ELE, § 37b. 37 AV I, 79. 38 Für eine sehr instruktive neue Diskussion zu Husserls Eidetik vgl. Sowa 2007. 39 FTL, 255, Anm.1. 40 AV II, 13 41 Ideen I, § 71. 42 Vgl. z. B. PPs, 71, 76; Ideen I, § 7; EU, § 87a; AV I, 79; AV II, 13, et passim. 43 Vgl. BKM, 80 ff. (Zitat aus Husserls Manuskript F IV 1, 62a, S. 81) 44 Ideen III, 133. 45 AV I, 79 f. 46 Ideen III, 47. 47 Vgl. Ideen I, 157; Ideen III, 41. 48 Krisis, 182. 49 EPE, 86. 50 Vgl. BKM, 82 (Zitat aus Husserls Manuskript F I 4 (1912), S. 9b). 51 Ideen III. 40; vgl CM, § 34. 52 EPE, 87. 53 Ideen I, § 75. 54 Ideen I, § 9. 55 Vgl. z. B. MW (1924), 16 ff.; EU, § 90. 56 Ideen III, 43. 57 Ideen I, § 75. 58 EP I, 49 f. 29
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Bibliographie
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– Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07, in: Hua XXIV (1984) [Abk. ELE] – Aufsätze und Vorträge (1911–1921), in: Hua XXV (1987) [Abk. AV I] – Vorlesungen über Bedeutungslehre. Sommersemester 1908, in: Hua XXVI [Abk. VBL] – Aufsätze und Vorträge (1922–1937), in Hua XXVII (1989) [Abk. AV II] – Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution, Texte aus dem Nachlass (1916–1937), in: Hua XXXIX [Abk. LW] – Naturwissenschaft liche und geisteswissenschaft liche Einstellung. Naturalismus, Dualismus und psychophysische Psychologie, in Hua VI, 294–313 [Abk. NGE] – Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (Prag 1 1939; Hamburg 51976) [Abk. EU] – Die Methode der Wesensforschung, in Hua XXV, 13–20 [Abk. MW] – Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis. Vorlesung 1909, in Hua Materialien Bd VII (2005) [Abk. EPE]
II. Schriften anderer Autoren Bernet, Rudolf, Kern, Iso, Marbach, Eduard: Edmund Husserl. Darstellung [Abk. BKM] seines Denkens, Hamburg 21996 Kern, Iso: Die drei Wege zur transzendentalphänomenologischen Reduktion in der Philosophie Edmund Husserls, in: Tijdschrift voor fi losofie 24 (1962), S. 303–349; bzw. ders., Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Den Haag, 1964, § 18, S. 194–239. – Idee und Methode der Philosophie. Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft, Berlin 1975 [Abk. IMP] Sowa, Rochus: Wesen und Wesensgesetze in der deskriptiven Eidetik Edmund Husserls, in: Phänomenologische Forschungen, 2007, S. 5–37.
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– George Heffernan –
Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen Eine kritische Analyse der methodologischen Reduktion der Evidenz auf adäquate Selbstgegebenheit in Husserls ›Die Idee der Phänomenologie‹
Einleitung: Das Wesen der Evidenz und die Evidenz vom Wesen Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, ein Problem mit dem Begriff der Evidenz in Husserls Die Idee der Phänomenologie dadurch aufzuklären, dass er dieses klassische Werk der Phänomenologie einer genauen Lektüre unterzieht. Eine Reihe von Fünf Vorlesungen (versehen mit einem Gedankengang), die Husserl vom 26. April bis zum 2. Mai 1907 in Göttingen gehalten hat, Die Idee der Phänomenologie, sollte die ideale Einführung in die Phänomenologie Husserls darstellen. Bei näherem Hinsehen stellt es sich jedoch heraus, dass das Werk eine bedeutende Unzulänglichkeit aufweist, nämlich – wie ich zu zeigen versuchen werde – seine reduktionistische Behandlung der Evidenz. Denn am Anfang setzt Husserl bei der Phänomenologie als Erkenntnistheorie an und bezieht sich dabei auf das Wesen der Erkenntnis, die er im Hinblick auf die Evidenz definiert. In der Mitte lässt er seine Aufmerksamkeit auf die Definition der Evidenz als »Selbstgegebenheit« schwenken, wobei er sich aber auch ablenken lässt durch die Suche nach einer bevorzugten Art von Evidenz, nämlich der Evidenz von Wesen. Am Ende bleibt er übermäßig beschäftigt mit der privilegierten Erkenntnis von Wesen, und dementsprechend beschreibt er »Evidenz im prägnanten Sinn« als absolute, adäquate und apodiktische Selbstgegebenheit. Diese Tatsache hat schwerwiegende Folgen für eine Interpretation der Idee der Phänomenologie als einer zuverlässigen Einführung in das Denken Husserls über Evidenz, Erkenntnis und Wahrheit. Zugleich ist diese Tatsache ein merkwürdiges Ergebnis für eine Reihe | 219
von Vorlesungen, deren Autor darauf besteht, dass Wesensevidenzen erschaut werden müssen, aber nicht demonstriert werden können, der zugibt, dass er nicht weiß, was er für Leser tun kann, die Wesen nicht sehen können, und der weitaus bessere Beschreibungen von Wesen und deren Evidenzen in anderen Schriften hinterlassen hat. Schließlich hat diese Tatsache auch ernsthafte Folgen für die Phänomenologie der Evidenz über Husserls Untersuchungen des Phänomens hinaus. Dieser Aufsatz zielt also darauf, einen Beitrag sowohl zum Verständnis von Husserls Lehre von der Evidenz im Besonderen als auch zur Aufklärung der Erkenntnistheorie im Allgemeinen zu leisten.1 In diesem Beitrag gehe ich von Husserls sehr nützlicher Metapher von der Phänomenologie als einem neuentdeckten Land aus, vor dessen Küste er sein Schiff verankert hat, dessen Küste aber mit gefährlichen Klippen umgeben ist, um die er mit großer Vorsicht navigieren muss, bevor er das unbekannte Festland erforschen kann (Hua II 45–46).2 Ich schlage vor, dass Husserl in Die Idee der Phänomenologie den Versuch unternimmt, das Schifflein der Phänomenologie auf einem stürmischen Meer zwischen der Scylla des Psychologismus und der Charbybdis des Cartesianismus hindurch zu steuern, um den sicheren Hafen der Evidenz zu erreichen.3 Also ziele ich auf den springenden Punkt, wenn ich an die Phänomenologie als Erkenntnistheorie die Frage richte: Wenn die Evidenz weder ein Gefühl der Gewissheit noch ein Index der Wahrheit ist, was ist sie dann? Im Verlauf meiner Analyse von Husserls Antwort, nämlich »Selbst-gegebenheit«, lege ich dar, dass der phänomenologische Begriff der Evidenz, so wie er in Die Idee der Phänomenologie zur Geltung kommt, zugleich progressiv ist, da er sowohl der Idee der Evidenz als eines Gefühls der Sicherheit im Sinne der von Husserl bekämpften psychologistischen Logik als auch der Idee der Evidenz als eines Indexes der Wahrheit im Sinne der von ihm kritisierten cartesianischen Erkenntnistheorie überlegen ist, aber auch regressiv, da er der scharfsinnigen Deskription der Evidenz als eines dynamischen Übergangs von einer leeren Intention zu einer erfüllenden Intuition in den Logischen Untersuchungen und der präzisen Definition der Evidenz als der intentionalen Leistung der Selbstgebung in Formale und transzendentale Logik unterlegen ist. Im Zusammenhang mit dem regressiven Aspekt steht auch die Tatsache, 220 | george heffernan
dass, insofern die Deskription der Evidenz in Die Idee der Phänomenologie sich auf absolute, adäquate und apodiktische Selbstgegebenheit konzentriert, sie die minderwertigen Modi der Evidenz vernachlässigt, die in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie thematisiert werden. Der hier vorgeschlagene Ansatz ist insofern hermeneutisch, als er eine sorgfältige Lektüre des Texts in den Vordergrund stellt. Da Die Idee der Phänomenologie zu den verbreitetsten und beliebtesten Texten Husserls gehört, muss diese Übung sich durch den Erwerb von originellen, bedeutenden und stichhaltigen Ergebnissen rechtfertigen lassen. In der Tat führt meine Explikation des Textes zu dem Schluss, dass, während es gut so ist, dass viele neue Ausgaben der Schriften Husserls kontinuierlich erscheinen, es sich auch noch lohnt, immerwährend auf solche klassischen Texte wie Die Idee der Phänomenologie zurückzukommen, um sie noch einmal zum ersten Mal zu lesen – nach dem Motto »nicht große Scheine, sondern Kleingeld«.4 Im Hinblick auf die Entwicklung von Husserls Begriff der Evidenz stellt Die Idee der Phänomenologie eine Art Fallstudie der Evolution eines Schlüsselbegriffs der Phänomenologie von den Logischen Untersuchungen über die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie bis zu Formale und transzendentale Logik dar. Das Besondere der Idee der Phänomenologie besteht darin, dass es keinen anderen in sich abgeschlossenen Text von Husserl gibt, in dem eine solche Dichte mit solcher Kürze verbunden ist und in dem sich die phänomenologische Untersuchung so eng um die Evidenz von Wesen dreht. Aus ihrem mikrokosmischen Charakter folgt jedoch nicht, dass Die Idee der Phänomenologie ohne weiteres als eine wirklichkeitsgetreue Widerspiegelung der Phänomenologie der Evidenz gelten kann.
§ 1. Der Gedankengang: Eine Privilegierung der adäquaten Evidenz von Wesen Im Gedankengang der Vorlesungen, der nicht vor den Fünf Vorlesungen, sondern nach der V. Vorlesung geschrieben wurde,5 stellt Husserl die Weichen der Phänomenologie für Die Idee der Phänomenologie. Als Wegweiser zum Ganzen identifiziert dieser Teil, der Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 221
übrigens längste des ganzen Werkes, das Kernanliegen des Werkes als »das Wesen der Erkenntnis« (3, 8, 14). Darüber hinaus definiert dieser Teil Erkenntnis im Hinblick auf »Evidenz« (5, 8–11, 13–14), die ihrerseits als »Selbstgegebenheit« verstanden wird (5, 7–14). Diesem Ansatz zufolge gibt es nur einen Weg, »das Wesen der Erkenntnis« zu artikulieren, und er führt darüber, »das Wesen der Evidenz« oder »das Wesen der Selbstgegebenheit« aufzuklären. Aus diesem Grund konzentriere ich mich im Folgenden auf den Kernbegriff von Husserls Darstellung der Phänomenologie als Erkenntnistheorie in Die Idee der Phänomenologie, nämlich Evidenz. Einen Text verstehen heißt, die Frage zu verstehen, auf die der Text eine Antwort zu finden sucht.6 Eine grundlegende Frage, auf die Die Idee der Phänomenologie eine Antwort zu liefern beabsichtigt, lautet (3): »[W]ie kann Erkenntnis ihrer Übereinstimmung mit den an sich seienden Sachen gewiß werden, sie ›treffen‹? Was kümmern sich die Sachen an sich um unsere Denkbewegungen und um die sie regelnden logischen Gesetze?« Es ist offensichtlich, dass diese eine der Leitfragen des Texts überhaupt ist, und zwar deswegen, weil im Verlauf der Vorlesungen Husserl sie in regelmäßigen Abständen und in verschiedenen Variationen wiederholt formuliert (4–5, 7, 20, 35, 48).7 Also ist das Problem, wie ›Erkennen Sein treffen kann‹, eine der wichtigsten Fragen des Buchs (37): »Wie kann ich diese Möglichkeit verstehen?« So ist es auch das Ziel der Idee der Phänomenologie, »das Wesen der Möglichkeit dieses Treffens« (6) vom Sein durch das Erkennen zu erfassen. In der Tat, die Frage, wie das Erkennen das Sein ›berühren‹ kann, ist nichts anderes als »die reine Grundfrage« (7) der Idee der Phänomenologie. Nun ist diese Frage für Husserl eine Frage der Evidenz, und Die Idee der Phänomenologie richtig lesen heißt, zur Kenntnis zu nehmen, dass dieser Text die Frage nach der Erkenntnis als eine Frage nach der Evidenz neu definiert. Es gibt hier aber eine noch grundlegendere Frage (3): »… wie kann, wenn Erkenntnis überhaupt ihrem Sinn und ihrer Leistung nach in Frage gestellt ist, eine Wissenschaft von der Erkenntnis sich etablieren?« Wiederum wiederholt Husserl die Frage (4, 29, 32–34). Die richtige Antwort soll die richtige Methode sein (3). Da er denkt, dass allein die phänomenologische Methode, deren Kernpunkt die phänomenologische Epoché oder Reduktion ist (5–7, 9–12), das Ver222 | george heffernan
hältnis zwischen dem erkennenden Akt und dem erkannten Inhalt aufklären kann, richtet Husserl die höchste Frage der Idee der Phänomenologie an die Bedingungen der Möglichkeit der Phänomenologie (47): »Aber wie soll Phänomenologie angehen; wie ist sie möglich?« Die Erkenntnistheorie ist der Teil der Phänomenologie, der das »Wesen der Erkenntnis« aufklärt: Die Methode der Erkenntniskritik [ist] die phänomenologische, die Phänomenologie [ist] die allgemeine Wesenslehre, in die sich die Wissenschaft vom Wesen der Erkenntnis einordnet. (3)
Dementsprechend ist »die Wissenschaft vom Wesen der Erkenntnis«, die Husserl sucht, »eine Wesenslehre der Erkenntnis« (8), die die Methode der »ideierenden Abstraktion« (8) in »Wesensforschung« (7, 9, 14), »Wesensbetrachtung« (10, 12) oder »Wesensanalyse« (12, 14) anwendet, und die »Wesensaussagen« (8) über erkenntnistheoretische Phänomene – d. h. über ihre Wesenseigenschaften, ihre Wesensgesetze und ihre Wesensverhalte – macht (12–13). So überrascht es überhaupt nicht, dass der Text der Idee der Phänomenologie voller Verweise auf »Wesen« ist, und zwar sowohl im Singular als auch im Plural. Nach dem Gedankengang soll also Die Idee der Phänomenologie eine Wissenschaft des Wesens der Erkenntnis entwickeln und eine Wesensevidenz von ihr erlangen, d. h. eine Evidenz, die nicht relativ, sondern absolut (4, 7–11, 13–14), nicht inadäquat, sondern adäquat (5) und nicht zweifelhaft, sondern apodiktisch ist (4–6, 10). Andererseits aber scheint es nicht so, als gehörte es zur unerlässlichen Aufgabe dieses Texts, Fragen nach den Verhältnissen zwischen diesen verschiedenen Arten von Evidenz zu stellen. Und doch, wenn diese Verhältnisse in Unklarheit belassen werden, dann werden auch wesentliche Elemente der Beschreibungen von erkenntnistheoretischen Phänomenen in Unterdeterminiertheit verbleiben. Das Ergebnis ist eine Unausgeglichenheit zwischen einerseits der Behandlung der absoluten, adäquaten und apodiktischen Evidenz und andererseits der Vernachlässigung der relativen, inadäquaten und zweifelhaften Evidenz. Die gegenseitige Beziehung zwischen Adäquatheit und Apodiktizität der Evidenz wird nämlich in einigen Texten Husserls, z. B. in Erste Philosophie, behauptet,8 in anderen, z. B. in den Cartesianischen Meditationen, verneint.9 In Die Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 223
Idee der Phänomenologie dagegen werden die Eigenschaften absolut, adäquat und apodiktisch der Evidenz in einer solch überlappenden Art und Weise zugesprochen, dass es sehr schwer zu sagen ist, welche Evidenzen sie teilen und welche nicht. In diesem Sinn ist »der prägnante Evidenzbegriff« (5, 35, 59, 60–61, 74–75), der dem Werk zugrunde liegt, unterdeterminiert. Diese Interpretation wird durch die sprachlichen Tatsachen im Gedankengang bestätigt, (1) dass die Ausdrücke »selbst-gegeben«, »das Selbstgegebene« und »Selbstgegebenheit« synonym mit »evident«, »das Evidente« und »Evidenz« verwendet werden, (2) dass sie jeweils ein, zwei und 12 Mal (also mindestens einmal auf jeder Seite) vorkommen und (3) dass sie normalerweise von den Eigenschaften »absolut«, »adäquat« oder »apodiktisch« begleitet werden. So beabsichtigt Husserl, die Evidenz bzw. Selbstgegebenheit dessen zu erlangen, das »voll und ganz adäquat selbstgegeben« (5) und »adäquat Selbstgegebenes« ist (5), das »gewährleistet durch ihre absolute Selbstgegebenheit, durch ihre Gegebenheit in reiner Evidenz« ist (8), durch eine Selbstgegebenheit »in der Sphäre der unmittelbaren Evidenz« (14), in einer Evidenz, die jeden sinnvollen Zweifel ausschließt (9–10). Die Ausdrücke »gegeben« (10x), »das Gegebene« (1x) und »Gegebenheit« (25x) werden so verwendet, dass sie darauf hinweisen, dass sie von den Termini »selbst-gegeben«, »das Selbstgegebene« und »Selbstgegebenheit« dominiert werden. In Die Idee der Phänomenologie also bevorzugt Husserl »den prägnanten Evidenzbegriff« als absolute, adäquate und apodiktische Selbstgegebenheit dahin gehend, dass er diese Art von Evidenz über alle anderen Erscheinungen des Phänomens privilegiert. Ein Grund, warum Husserl in Die Idee der Phänomenologie es unterlässt, Evidenz als ein Phänomen zu beschreiben, das sich über das ganze Spektrum von adäquater Evidenz zur inadäquater Evidenz erstreckt, ist darin zu finden, dass er von seiner viel reichhaltigeren Deskription der Evidenz in den Logischen Untersuchungen abweicht,10 in denen er sowohl (1) den weiten oder laxen Begriff von Evidenz im relativen Sinn thematisiert, der Grade, Stufen und Schichten der Selbstgegebenheit nicht nur zulässt, sondern auch fordert,11 als auch (2) den engen oder strengen Begriff von Evidenz im absoluten Sinn, der Grade, Stufen und Schichten der Selbstgegebenheit nicht nur ausschaltet, sondern auch ausschließt.12 224 | george heffernan
Ein zweiter Grund für den beschränkten Ansatz liegt darin, dass, obwohl Husserl in Die Idee der Phänomenologie Evidenz als »Gegebenheit«, genauer als »Selbstgegebenheit«, auffasst, doch artikuliert er sie noch nicht als eine »Leistung« des Bewusstseins, genauer als »die intentionale Leistung der Selbstgebung«, so wie er sie in Formale und transzendentale Logik versteht.13 In Die Idee der Phänomenologie beschreibt er Evidenz im Hinblick auf Gegebenheit und Selbstgegebenheit ungefähr 300 Mal (je nachdem, wie man die Varianten zählt) über die 76 Seiten der Husserliana-Ausgabe, aber kein einziges Mal bezeichnet er Evidenz als Leistung, obgleich er die Wörter »Leistung« und »leisten« auch mehr als ein Dutzend Mal verwendet. Ein dritter Grund für den engen Ansatz ist darin zu finden, dass der Evidenzbegriff der Idee der Phänomenologie sozusagen »eindimensional« noematisch bleibt, während Husserls vollentwickelte noetische und noematische Behandlung der Evidenz, sowohl der adäquaten als auch der inadäquaten Gegebenheit, zum ersten Mal in Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie hervortritt.14 Eine Ausnahme zu der Regel, dass im Gedankengang (z. B.) der Idee der Phänomenologie absolute, adäquate und apodiktische Evidenz über relative, inadäquate und zweifelhafte Evidenz dominiert, stellt Husserls Aufforderung dar, man sollte »schrittweise den Gegebenheiten in allen Modifikationen … den eigentlichen und uneigentlichen [nachgehen]« (13). Unterentwikkelt in der Idee der Phänomenologie bleibt also auch die Horizonthaftigkeit des Bewusstseins im Hinblick auf die Evidenz, d. h. die Idee, dass absolute, adäquate und apodiktische Evidenz in Allgemeinheit und Notwendigkeit von relativer, inadäquater und zweifelhafter Evidenz umgeben ist. Ich setze also beim Gedankengang der Vorlesungen an und vertrete die Ansicht, dass Husserls Deskription der Evidenz in Die Idee der Phänomenologie deswegen problematisch ist, weil sie zweischneidig ist. Einerseits ist diese Deskription progressiv, da sie sowohl die cartesianische Theorie der Evidenz als eines Indexes der Wahrheit als auch die psychologistische Theorie der Evidenz als eines Gefühls der Gewissheit überwindet. Andererseits ist diese Deskription aber auch regressiv, da sie adäquate Evidenz privilegiert und inadäquate Evidenz ignoriert. Der Grund ist die abrupte und unumkehrbare Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 225
Umstellung vom Wesen der Evidenz auf die Evidenz vom Wesen. Der Wert der Studie geht aber weit über die einfältige Einsicht hinaus, dass die kurze Idee der Phänomenologie nicht so viel über die Evidenz sagen kann wie die langen Logischen Untersuchungen, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie und Formale und transzendentale Logik. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass dieser Text weder die definitive Deskription noch eine repräsentative Darstellung der Phänomenologie der Evidenz liefert.
§ 2. I. Vorlesung: Das Besondere an der phänomenologischen Evidenz In der I. Vorlesung liefert Husserl eine allgemeine Darstellung der Phänomenologie als Erkenntnistheorie. Es ist bemerkenswert, dass er dies tut, ohne Evidenz zu erwähnen. Stattdessen artikuliert er das, was den phänomenologischen Ansatz in der Erkenntnistheorie ausmacht und wie dieser Ansatz sich von den naturalistischen Ansätzen unterscheidet, die zum »Anthropologismus« (39, 48), »Biologismus« (3, 39) und »Psychologismus« (39, 48) führen. Nach Husserls Darstellung unterscheidet sich der phänomenologische Ansatz bei der Erkenntnis von den naturalistischen Ansätzen hinsichtlich der Dimension oder Sphäre, innerhalb der der Phänomenologe arbeitet (15, 18, 20, 24–25), hinsichtlich der Methode, nach der er arbeitet (23–26), und hinsichtlich der »Einstellung«, »Geisteshaltung« oder »Denkhaltung«, aus der heraus er arbeitet (15, 17–18, 23).15 Dementsprechend besteht der Hauptunterschied zwischen der phänomenologischen Erkenntnistheorie und der psychologischen Erkenntnistheorie nicht in dem Inhalt, der untersucht wird, sondern in der Art und Weise, in der er behandelt wird. Die Phänomenologie hat deswegen eine eigenartige Antwort auf die Frage nach der Erkenntnis, weil sie sich eines eigenartigen Ansatzes bezüglich der Verhältnisse zwischen dem Erkennenden, dem Erkennen und dem Erkannten bedient, und dieser Ansatz seinerseits wiederum eine eigenartige Aufklärung dieser Verhältnisse ergibt. In der I. Vorlesung vertritt Husserl also die Ansicht, dass jeder naturalistische Versuch, eine Kritik der Erkenntnis dann durchzu226 | george heffernan
führen, wenn alle Erkenntnis in Frage steht, von vornherein dazu verurteilt ist, in einen »Widerspruch«, »Widerstreit«, »Widersinn« oder »Unsinn« zu geraten (15, 17–26, bes. 20–22). Jeder derartige Versuch kann nichts als ein »Mysterium« (z. B. 19) oder »Rätsel« (z. B. 20) ergeben. Außerdem beschreibt er in dogmatischer Weise die Phänomenologie als die einzige Disziplin, die die spezifisch philosophische Methode und Einstellung besitzt, und so dazu fähig ist, die naturalistischen Vorurteile zu überwinden, die zum »Solipsismus« (20), »Relativismus« (21) und »Skeptizismus« (23) führen: Phänomenologie: das bezeichnet eine Wissenschaft, einen Zusammenhang von wissenschaftlichen Disziplinen; Phänomenologie bezeichnet aber zugleich und vor allem eine Methode und Denkhaltung: die spezifisch philosophische Denkhaltung, die spezifisch philosophische Methode. (23)
Wie Husserl in dieser Vorlesung Evidenz nicht erwähnt, so bezieht er sich in ihr auch nicht auf die phänomenologische Reduktion, das charakteristische Moment der phänomenologischen Methode. Stattdessen versucht er zu zeigen, wie die Phänomenologie sich von der Naturwissenschaft im Allgemeinen und von der Psychologie im Besonderen unterscheidet, indem er den Unterschied zwischen Tatsache und Wesen hervorhebt. Er legt dar, dass die Psychologie die Erkenntnis als eine Tatsache der Natur oder als ein psychisches Erlebnis erklärt (18–19), während die Phänomenologie das Wesen der Erkenntnis aufklärt (19, 22–23). Demnach ist die Phänomenologie eine eidetische Wissenschaft, die Psychologie dagegen eine empirische Wissenschaft.16 So hat die Phänomenologie, als die systematische Untersuchung der wesentlichen Strukturen und Inhalte der Erkenntnis, größere Ähnlichkeiten mit der Logik als mit der Psychologie.17 Obwohl Husserl in dieser Vorlesung Evidenz nicht erwähnt, ist es doch klar, dass der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen der Phänomenologie als echter Philosophie der Erkenntnis und der Psychologie als empirischer Theorie der Erkenntnis nicht nur ein Unterschied in der Dimension, der Methode und der Einstellung ist, sondern auch ein Unterschied in der Evidenz. Denn es stellt sich auch bald heraus, dass das, was das Eigentümliche an dem phänomenologischen Ansatz bei der Erkenntnis ausmachen soll, gerade Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 227
auch die Art von Evidenz ist, die dieser Ansatz ergibt, nämlich Wesensevidenz, d. h. die Gegebenheit bzw. Selbstgegebenheit der Wesenseigenschaften, Wesensgesetze und Wesensverhalte der erkenntnistheoretischen Phänomene. In der Tat sucht Husserl die Evidenz des »Wesens der Erkenntnis« (19, 22–23), und er denkt auch, er habe sie gefunden.
§ 3. II. Vorlesung: Das Erbe der cartesianischen Idee der Evidenz In der II. Vorlesung setzt Husserl die Suche nach dem Wesen der Erkenntnis fort (29–30, 32, 36), indem er »den prägnanten Begriff der Evidenz« (35) verwendet, um die Gegebenheit der Akte des Denkens und des Inhalts des Gedachten zu beschreiben, die man mittels der »erkenntnistheoretischen Reduktion« erlangt (27, 39). Diese Vorlesung gliedert sich in einen Hauptteil (29–32) und eine »Wiederholung und Ergänzung« (32–39). Der erstere Teil betont die Notwendigkeit einer absoluten Gegebenheit im Sinn einer unzweifelhaften Gegebenheit, erwähnt aber kaum »Evidenz« (30) oder »Selbstgegebenheit« (32), während der letztere Teil eine reichhaltige Darstellung der »Evidenz« liefert (33, 35). Zum ersten Mal in den Vorlesungen bezieht sich Husserl auf die phänomenologische Epoché (29), indem er seine Hörer an »die Cartesianische Zweifelsbetrachtung« (30–31, 33) erinnert. Es geht Husserl darum, eine feste Grundlage für die Phänomenologie der Erkenntnis zu etablieren, indem er an Descartes’ Antwort auf die Skepsis anknüpft. Denn Descartes’ berühmtes Argument ist zwingend (30): Wenn ich urteile, dass alles zweifelhaft ist, so ist es nicht zweifelhaft, dass ich urteile, dass alles zweifelhaft ist, wie zweifelhaft auch immer alles sein mag. Cogito, ergo sum heißt, genauer gesagt, dubito, ergo sum oder sogar persuadeo mihi, ergo sum (Meditation II, §§ 3, 15).18 Husserl konzentriert sich auf die cogitatio als eine »absolute Gegebenheit« (31–32, 35). Doch mit einem Schritt, der weiter gehen könnte als Descartes (Meditation III, §§ 3–16), dem »entdecken und fallen lassen … eines« war (10), dehnt Husserl den Bereich der Untersuchung eines Akts des Denkens dahin gehend aus, den Inhalt 228 | george heffernan
des Gedachten mit zu erfassen, und zwar auch als eine »absolute Gegebenheit«. Seine Leitidee ist, dass, solange ich mich auf das Objekt des Bewusstseins beziehe, und allein insofern, als es durch den Akt des Bewusstseins präsentiert wird, kann ich mich nicht darin irren, dass der Akt das Objekt in der Weise präsentiert, in der er es tut. Wie das Objekt ist, ist eine andere Frage. Doch bei den cogitationes stehen zu bleiben und nicht zu den cogitata, d. h. cogitata qua cogitata (so, wie sie sich in der phänomenologischen Einstellung präsentieren), fortzuschreiten, ist für Husserl »ein verhängnisvoller Irrtum« (36). Die Unterscheidung zwischen der Evidenz des Akts des Denkens und der Evidenz des Inhalts des Gedachten verlangt eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen der Ausdrücke »Immanenz« und »Transzendenz« (33–37). Damit ist der entscheidende Moment für Evidenz in dieser Vorlesung gekommen: Es gibt aber noch eine andere Transzendenz, deren Gegenteil eine ganz andere Immanenz ist, nämlich absolute und klare Gegebenheit, Selbstgegebenheit im absoluten Sinn. Dieses Gegebensein, das jeden sinnvollen Zweifel ausschließt, ein schlechthin unmittelbares Schauen und Fassen der gemeinten Gegenständlichkeit selbst und so wie sie ist, macht den prägnanten Begriff der Evidenz aus, und zwar verstanden als unmittelbare Evidenz. Alle nicht evidente, das Gegenständliche zwar meinende oder setzende, aber nicht selbst schauende Erkenntnis ist im zweiten Sinn transzendent. In ihr gehen wir über das jeweils im wahren Sinne Gegebene, über das direkt zu Schauende und zu Fassende hinaus. Hier lautet die Frage: wie kann Erkenntnis etwas als seiend setzen, das in ihr nicht direkt und wahrhaft gegeben ist? (35)
Auf den ersten Blick sieht »der prägnante Begriff der Evidenz« Husserls, mit seiner normativen Betonung auf Absolutheit, Apodiktizität und Adäquatheit (Klarheit, Unmittelbarkeit und Direktheit), der clara et distincta perceptio Descartes’, die absolut ist, indem sie jeden Zweifel ausschließt und von keinen dunklen oder verworrenen Wahrnehmungen beeinträchtigt ist (Meditation III, §§ 2, 19, 25, IV, §§ 12, 15, 17, V, §§ 7, 12, 14–15, VI, §§ 1, 15), verblüffend ähnlich.19 Andererseits aber benutzt Husserl das Argument, das auf der Evidenz der cogitatio (oder cogitationes) und des cogitatum (oder Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 229
der cogitata) fußt, zu einem ganz anderen Zweck als Descartes. Denn Husserl erwähnt Descartes wiederholt in den Fünf Vorlesungen (27, 30–31, 33, 49–50, 71), und schon im Gedankengang gibt es starke Indizien dafür, dass er sich sowohl auf seinen berühmten Vorgänger beruft als auch dass er sich von ihm distanziert, z. B. in der grundlegenden Frage, wie man den erkenntnistheoretischen Wert der Evidenz der cogitationes und cogitata beurteilen soll (4, 7–8, 10). Infolgedessen stellt Husserl »einen prägnanten Begriff der Evidenz« vor, der zugleich verblüffend ähnlich und doch radikal verschieden von der Vorstellung Descartes’ ist.
§ 4. III.Vorlesung: Husserls überschwenglicher Essenzialismus In der III. Vorlesung entwickelt Husserl den Begriff der »phänomenologischen Reduktion« (44–45, 48), der auch im nachträglich geschriebenen Gedankengang vorkommt (5–7, 9–12). Da er sich auf die Phänomenologie als Erkenntnistheorie bezieht, nennt er die phänomenologische Reduktion auch »die erkenntnistheoretische Reduktion« (27, 39, 41, 43, 48). Diese Reduktion macht das Moment seiner Methode aus, das eine echte Erkenntnistheorie ermöglicht, indem es den unbegründeten und unbegründbaren Sprung in einen transzendenten Bereich (metabasis eis allo genos) verhindert, der solch eine Erkenntnistheorie verfälschen würde (39). Dabei übernimmt Husserl einen entscheidenden Topos aus dem griechischen Skeptizismus im Allgemeinen sowie aus dem pyrrhonischen Radikalismus im Besonderen, indem er sich der Idee einer Epoché (29, 44, 48) bedient, um die »Ausschaltung« oder »Suspendierung« (41–52, bes. 45) der Gültigkeit aller »transzendierenden« Akte sowie deren Objekte zu charakterisieren (39).20 Es gibt jedoch ein Problem beim Vorgehen in dieser Vorlesung, weil Husserl, der ja das Wesen der Erkenntnis sucht (46), zuerst versucht, die Evidenz von Wesen zu beschreiben, ohne sich vorher darum bemüht zu haben, das Wesen der Evidenz aufzuklären. Seine Eile scheint motiviert durch die Sorge um eine mögliche Zirkularität in seiner Argumentation (49). Husserls Begriff der Evidenz unterscheidet sich natürlich in wesentlichen Hinsichten von Descartes’ Vorstellung der Kriterien.21 230 | george heffernan
Zwar hat es immer wieder Versuche gegeben, den »cartesianischen Zirkel« zu leugnen,22 aber Husserl hat wiederholt Descartes’ Versuch einer erkenntnistheoretischen Begründung als circulus vitiosus kritisiert:23 Man kann nur dann wissen, dass das, was man klar und deutlich wahrnimmt, wahr ist, wenn man weiß, dass Gott existiert und nicht betrügt, und man kann nur dann wissen, dass Gott existiert und nicht betrügt, wenn man weiß, dass das, was man klar und deutlich wahrnimmt, wahr ist.24 In der Tat etabliert Descartes zuerst das ego als eine res cogitans (Meditation II), dann schließt er auf Gott (III), und schließlich leitet er die Aussenwelt ab (VI). Das erkenntnistheoretische Ziel der Meditationes ist es, zu beweisen, dass das, was klar und deutlich wahrgenommen wird, wahr ist (Meditation IV, § 17). So soll Gott den Zusammenhang zwischen Evidenz und Wahrheit garantieren, und so auch verteidigt Descartes »eine theologische Erkenntnistheorie«, die auf »einer theologischen Evidenztheorie« fußt.25 Verständlicherweise lehnt Husserl Descartes’ Vorstellung von Evidenz ab (49–50). Obwohl er in Die Idee der Phänomenologie den cartesianischen Zirkel nicht erwähnt, erwähnt Husserl einen anderen »Zirkel« (49) im »Hauptzug unserer Betrachtung« (48) der III. Vorlesung. Dieser Zirkel, den er als »trüglich« bezeichnet, ist deswegen »erkenntnistheoretisch« und »phänomenologisch«, weil er sich aus der »erkenntnistheoretischen« oder »phänomenologischen Reduktion« zu ergeben scheint (48–49). In der Tat aber scheint die phänomenologische Reduktion, die als ein Mittel zum Zweck objektiver Erkenntnis dienen soll, zu einem Mittel zu werden, das den Zweck dadurch zerstört, dass es transzendente Setzungen verbietet: Verlangt aber die erkenntnistheoretische epoché—wie es scheinen möchte—, daß wir keine Transzendenz gelten lassen, ehe wir ihre Möglichkeit begründet haben, und verlangt die Begründung der Möglichkeit der Transzendenz selbst, in Form objektiver Begründung, transzendente Setzungen, so scheint hier [e]in Zirkel vorzuliegen, der Phänomenologie und Erkenntnistheorie unmöglich macht; und die bisherige Liebesmühe wäre umsonst. (48–49)
Das Problem der objektiven Begründung der transzendenten Setzungen lässt sich so formulieren: Man kann transzendenten Setzungen erst dann objektive Gültigkeit zuschreiben, wenn man Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 231
die Möglichkeit von Transzendenz begründet, und man kann die Möglichkeit von Transzendenz erst dann begründen, wenn man transzendenten Setzungen objektive Gültigkeit zuschreibt. Es stellt sich damit die Aufgabe, eine nicht zirkelhafte Antwort auf die Grundfrage des Werkes zu finden: Wie kann das Bewusstsein von der Immanenz zur Transzendenz ohne irgendwelche Voraussetzungen gelangen? Droht hier also nicht ein »Husserlscher Zirkel« (sit venia verbo)? Wie soll man sich vor solch einem Zirkel hüten? Husserls Lösungsvorschlag zu diesem Problem besteht in der Einsicht, dass die Phänomenologie viel mehr als eine bloße Studie der einzelnen Akte und der individuellen Inhalte des Bewusstseins ist. Denn man hat nicht vor der Küste des neuentdeckten Landes der Phänomenologie angehalten, um in einen »ewigen Heraklitischen Fluß von Phänomenen« zu stürzen (45–47). Es geht nicht um »Dies-da« (47, 50). Vielmehr handelt es sich um »die Erkenntnis, daß nicht nur Einzelheiten, sondern auch Allgemeinheiten, allgemeine Gegenstände und allgemeine Sachverhalte zu absoluter Selbstgegebenheit gelangen können«: Diese Erkenntnis ist von entscheidender Bedeutung für die Möglichkeit einer Phänomenologie. Denn das ist ihr eigentümlicher Charakter, daß sie Wesensanalyse und Wesensforschung im Rahmen rein schauender Betrachtung ist, im Rahmen absoluter Selbstgegebenheit. Das ist notwendig ihr Charakter; sie will ja Wissenschaft und Methode sein, um … Möglichkeiten der Erkenntnis … aufzuklären aus ihrem Wesensgrund; es sind allgemein fragliche Möglichkeiten und ihre Forschungen somit allgemeine Wesensforschungen. Wesensanalyse ist eo ipso generelle Analyse, Wesenserkenntnis auf Wesen, auf Essenzen, auf allgemeine Gegenständlichkeiten gerichtete Erkenntnis. (51)
Für Husserl ist phänomenologische Erkenntnis apriorische Erkenntnis, d. h. »eine rein auf generelle Essenzen gerichtete, rein aus dem Wesen ihre Geltung schöpfende Erkenntnis« (51). Ob die Phänomenologie sich als eine philosophische Wissenschaft behaupten kann oder nicht, hängt also davon ab, ob die phänomenologische Aufklärung der Evidenz als »Selbstgegebenheit« sich als anwendbar auf Wesen erweist oder nicht. 232 | george heffernan
Das Problem mit Husserls Lösung zum Problem der Transzendenz besteht aber darin, dass diese Deskription der Phänomenologie an dieser Stelle in seiner Argumentation deswegen vorkommt, weil Husserl die Existenz und Evidenz von Wesen als seine Lösung zum Problem der Transzendenz anführt (3–7, 20, 34–39, 48). Diese Beobachtung scheint ein bloßer protokollarischer Punkt oder sogar eine schwer nachvollziehbare Interpretation zu sein, bis man zur Kenntnis nimmt, dass Husserl auf dem besten Weg ist, Wesen, d. h. Wesenseigenschaften, Wesensgesetze und Wesensverhalte der untersuchten Phänomene, als die ersten und letzten Gegenstände der phänomenologischen Untersuchung festzulegen. Die kühnste Art und Weise, in der Husserl in Die Idee der Phänomenologie über die Evidenz nachdenkt, ist also untrennbar verbunden mit seiner Anwendung des phänomenologischen Evidenzbegriffs auf die phänomenologische Wesenslehre. Aber seine Behauptung, dass Wesen »gegeben«, sogar »absolut selbst-gegeben« seien, drückt für kritische Leser keine Tatsache, sondern eine Meinung, ja, eine Voraussetzung aus. Der springende Punkt ist doch gerade der, dass nach der phänomenologischen Reduktion und in der transzendentalen Einstellung Husserl Wesen »setzt«, und zwar mit dem Hinwies, dass »Existenz« und »Essenz« zwei verschiedene »Seinsweisen« seien (35, 45–46, 50, 68–70, 75). Doch auf der Grundlage von welcher Evidenz kann Husserl Wesen setzen? Wie soll ausgerechnet dieses Setzen nicht dogmatisch sein? Wie sollen Wesen »voraussetzungslos« sein? Sind Wesen nicht Husserls dei ex machinis, die es ihm ermöglichen sollen, von der Immanenz zur Transzendenz zu gelangen, und zwar angesichts eines Ansatzes bei erkenntnistheoretischen Phänomenen, der vom Bewusstsein ausgeht und der sich vom Bewusstsein dirigieren lässt? Was kann Husserl denjenigen sagen, die nicht dazu in der Lage oder nicht dazu fähig sind, »sich in die Stellung des reinen Schauens zu versetzen und sich alle natürliche Vormeinungen vom Leibe zu halten« (51)? Auf seiner Suche nach dem Wesen der Erkenntnis hat sich Husserls Blickpunkt verändert vom Wesen der Evidenz, das er nicht aufgeklärt hat, zur Evidenz von Wesen, die er ungenügend aufgeklärt hat. Außer Wesen also nichts gewesen? Das ist die Frage.
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§ 5. IV. Vorlesung: Die Reduktion der Evidenz auf adäquate Evidenz In der IV. Vorlesung setzt Husserl die Suche nach dem Wesen der Erkenntnis mittels seiner direkten Intuition fort (55, 57). Er bedient sich der Unterscheidung zwischen cogitatio und intentio (55), um zeigen zu können, dass der Forschungsbereich der Phänomenologie nicht nur Akte, sondern auch Objekte einschließt. Die Leitidee ist, dass die Phänomenologie der Erkenntnis ihren Blick nicht nur auf die reduzierten Akte des Bewusstseins richtet, sondern auch auf die ihnen entsprechenden reduzierten Inhalte. Wiederum gilt der Blickpunkt dem »Wesen« oder dem »Allgemeinen«, diesmal als einem intentionalen Gegenstand des Bewusstseins. Während in der III. Vorlesung Husserl sich von Descartes’ Vorstellung von Evidenz als einem Kriterium distanzierte, geht er in der IV. Vorlesung gegen die empiristische Vorstellung von Evidenz als einem »Gefühl« vor, das sich Akten des Bewusstseins äußerlich anhängt als eine emotionale Reaktion auf die Anwesenheit bzw. Abwesenheit ihrer Gegenstände. In der Tat war eine der vorherrschenden Theorien der Evidenz, die Husserl unter seinen Zeitgenossen überwinden musste, die Theorie, nach der die Evidenz ein »Gefühl« sei. Denn trotz seinen wiederholten Bemühungen darum, verschiedene Formen des »Enthusiasmus« zu bekämpfen,26 hatte der neuzeitliche Empirizismus langfristig darin versagt, eine tragfähige alternative Erklärung der erkenntnistheoretischen Begründung vorzulegen, und hatte sich schließlich mit der absurden Vorstellung von Evidenz als einem »feeling« oder »sentiment« à la Hume abgefunden.27 Unter dem Einfluss des britischen Empirismus und der deutschen Romantik auf die deutsche Logik in ihrer Entartung als logischem Psychologismus bzw. psychologistischer Logik hat die Gefühlstheorie der Evidenz eine regelrechte Renaissance erlebt.28 Von der Ideengeschichte abgesehen aber ist die Vorstellung, dass die Evidenz ein Gefühl sei, auf den ersten Blick plausibel, da es leicht fällt zu vermeinen, es gebe eine positive Korrelation zwischen der Intensität eines Akts des Glaubens und der Wahrhaftigkeit des Inhalts des Geglaubten. Es kommt jedoch in der Erfahrung immer wieder vor, dass es, je emotionaler die Menschen ihre Glaubensakte 234 | george heffernan
vollziehen, umso wahrscheinlicher wird, dass sie in den Inhalten des Geglaubten falsch liegen. Aus diesem Grund macht Husserl die strenge Unterscheidung zwischen den realen Akten des Urteilens und dem idealen Inhalt des Urteils zum Dreh- und Angelpunkt seiner Widerlegung des logischen Psychologismus.29 So liefert die phänomenologische Aufklärung der Evidenz als einer intentionalen Leistung, der signitive Akte und intuitive Akte bzw. leere Intentionen und erfüllende Intuitionen, zusammen mit ihren jeweiligen Inhalten, zugrunde liegen, ein mächtiges Gegenmittel zur psychologistischen Interpretation der Evidenz als eines Gefühls (10, 59–60). In dieser Vorlesung weist Husserl die psychologistische Evidenztheorie auch deswegen zurück, weil sie mit ihrem Blick auf die Evidenz von Tatsachen in der empiristischen Einstellung die Evidenz von Wesen in der phänomenologischen Einstellung nicht aufklären kann. Diese Evidenztheorie vollzieht keine phänomenologische Reduktion, sie kann auch keine phänomenologisch reduzierten Wesen – auch keine so reduzierten Gegenstände überhaupt – thematisieren. Zwar gibt es keinen Grund, weshalb andere Arten von Evidenz hier nicht thematisiert werden können. Aber Husserl ordnet »den prägnanten Begriff der Evidenz« der vermeintlich adäquaten Evidenz von Wesen zu: Man spricht in solchen Fällen des Schauens [bei dem schauenden und ideierenden Verfahren innerhalb der strengsten phänomenologischen Reduktion] von Evidenz, und in der Tat haben diejenigen, welche den prägnanten Evidenzbegriff kennen und ihn seinem Wesen nach festhalten, ausschließlich derartige Vorkommnisse im Auge. Das Fundamentale ist, daß man nicht übersieht, daß Evidenz dann dieses in der Tat schauende, direkt und adäquat selbst fassende Bewußtsein ist, daß es nichts anderes als adäquate Selbstgegebenheit besagt. (59)
In diesem Werk gebraucht Husserl nur selten die Termini »adäquat« bzw. »Adäquation« (die Ausnahmen bestätigen die Regel: 5, 55, 59–60). Wenn er es aber tut, dann hebt er den Zusammenhang hervor, den er zwischen adäquater Evidenz und Wesensevidenz zu sehen behauptet. Während es jedoch weise ist, die Evidenz im Hinblick auf Intention und Erfüllung zu definieren, ist es kaum klug, die Evidenz im Hinblick auf Adäquatheit zu bestimmen. Das gilt Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 235
nicht nur für Evidenz überhaupt, sondern auch insbesondere für Wesensevidenz. Das Problem mit Husserls Ansatz besteht darin, dass es unklar ist, ob eine Röte z. B. »adäquat gegeben« ist, die in vielen verschiedenen roten Individuen identisch dieselbe ist. Es ist auch unklar, ob man eine Wesensschau überhaupt braucht, um die individuellen Instanzen einer bestimmten Farbe miteinander zu vergleichen bzw. einander gegenüber zu stellen. Nach Husserls Deskription ist ein Wesen keine vage und verworrene Generalität, sondern eine klare und deutliche Allgemeinheit. Andererseits gibt er zu, man sehe sie oder man sehe sie nicht (5–6, 38–39). Anscheinend ist also nicht jeder der »ideierenden Abstraktionen« fähig, die für die Intuitionen von Wesen erforderlich sind (8, 10, 44, 57–58, 62, 67–69). Noch genügt es zu sagen: »Ich kann Wesen nicht definieren, aber ich erkenne sie dann, wenn ich sie sehe.« In der Tat sind Farben keine guten Beispiele im Argument für identische Allgemeinheiten, und zwar deswegen, weil die Vielheit und die Vielfalt der Schattierungen es oft unmöglich macht festzustellen, ob eine gegebene Schattierung einer bestimmten Farbe zuzuordnen ist. Außerdem zeigen schon die konkreten Fälle von sinnlichen Gegenständen, dass – ceteris paribus – je komplexer das Wesen ist, umso schwieriger die Intuition wird, d. h. Wesensintuition. Dann gibt es auch noch die Fälle von kategorialen Gegenständlichkeiten wie z. B. Bildung (schwieriger als »Ausbildung«), Demokratie (oder Republik), Faschismus, Gerechtigkeit, Pornografie (im Unterschied zu »Erotik«), Terrorismus – oder die Idee des Guten, ein sinnvolles Leben oder gar die Glückseligkeit selbst. In der Tat kann man hier fast beliebig ein Leitproblem der philosophia perennis wählen, vor allem den Sinn des Lebens selbst. In der »Lebenswelt« (sit venia verbo) könnte man versuchen, die Wesen von verschiedenen Bieren30 oder Weinen31 oder von den sechs »Classic malts of Scotch whisky«32 zu artikulieren. Man könnte auch versuchen, genau zu beschreiben, was einen »Klassiker« überhaupt zu einem Klassiker macht.33 Schließlich könnte man versuchen, das Wesen der Phänomenologie selbst zu erschauen, wie Husserl auch versucht, es in Die Idee der Phänomenologie und in vielen anderen Werken zu beschreiben – wobei auch das »Wesen« von Wesen selbst thematisiert werden müsste. 236 | george heffernan
Das Problem der Wesensevidenz, so wie es sich in dieser Vorlesung stellt, hängt also eng mit der Frage nach den Beispielen zusammen, die im gesamten Werk gegeben werden. Obwohl seine Lieblingsbeispiele Farben (er hat eine Vorliebe für Rot: 6, 51, 56–58, 60–61, 67, 72), Töne (besonders für die Taubgeborenen: 11, 38–39, 67), Dinge (wie Häuser: 17, 20, 72), Gefühle (50, 59–60), Fiktionen (72) und Zahlen (73) sind, bleibt der Blick Husserls auf »das Wesen der Erkenntnis« gerichtet (3, 8, 14, 19, 22–23, 29–30, 32, 36, 46, 55, 57, 75). Nun bleibt die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis eine Frage nach dem Wesen der Evidenz (59, 73). Zwar gibt Husserl zu, dass »freilich Erkenntnis keine so einfache Sache wie Rot« ist (57). Aber er springt zu schnell vom Wesen von Rot zum Wesen der Erkenntnis (56–57). Doch fällt es schwer, gültige Schlussfolgerungen zu ziehen von Beispielen wie Farbe oder Ton auf Fälle wie Erkenntnis oder Evidenz. Am Ende wird Die Idee der Phänomenologie der Husserlschen Idee vom Wesen kaum gerecht, weil für ihn, wie auch schon für Aristoteles, der Ausdruck »Wesen« in vielfacher Bedeutung ausgesagt wird34 und die Evidenz eines Wesens davon abhängt, wovon das Wesen ein Wesen ist. Nach der Untersuchung der Phänomenologie der Wesen in Die Idee der Phänomenologie, nach der Lektüre der exemplarischen Behandlungen der eidetischen Intuition, die nicht nur ihre theoretischen Aspekte,35 sondern auch ihre praktischen Dimensionen hervorheben,36 und nach Überlegungen über die Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks »Wesen« (morphologische Wesen bilden die Regel, exakte Wesen die Ausnahmen),37 bleibt es also zu folgern, dass es recht schwer zu verstehen sein kann, was genau Husserl unter »Wesen« versteht.38 Noch schwerer ist es, seine Wesen, die, wie er behauptet, durch »ideierende Abstraktion« von Einzelfällen erreicht werden können, als mustergültige Instanzen der »evidenten Gegebenheit« zu begreifen. Denn derartige Selbstgegebenheit setzt voraus, dass die Wesen klar vorgestellt und deutlich abgegrenzt sind von dem, was sie nicht sind, einschließlich anderer Wesen. Wenn Wesen überhaupt irgend-etwas anzeigen, dann zeigen sie Sinndeterminiertheit an. Aber Determiniertheit ist absolut. Harte Kerne mit ausgefransten Rändern taugen nicht, denn das Ergebnis wäre unscharfer Essenzialismus. Doch wie kann es absolute Sinndeterminiertheit ohne adVom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 237
äquate Evidenz geben? Und wie kann es adäquate Evidenz ohne absolute Sinndeterminiertheit geben? Auch wenn es keine Vorbehalte hinsichtlich der Verdinglichung von solchen Wesen als metaphysischen Entitäten gibt (in der phänomenologischen Einstellung handelt es sich um noematische Korrelate zu noetischen Akten des Bewussteins: »erschaute Wesen als solche«), so gibt es doch begründete Zweifel hinsichtlich ihrer adäquaten Evidenzen. So erklärt Husserl in Die Idee der Phänomenologie sehr stark, dass es Wesen gibt, aber er klärt nur schwach darüber auf, was sie sind. Außerdem scheint es so, als ob nicht alle Wesen gleichermaßen sinndeterminiert sind. Angesichts der Entwicklung von Husserls Begriff des Wesens im Verlauf seiner veröffentlichten und unveröffentlichten Werke ist es also auch für den hermeneutisch trainierten Leser schwierig, genau zu erfassen, was er eigentlich mit Wesen meint. Die Bemühung darum kann einen Versuch erfordern, »Husserl besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat«,39 zumal die Versuchung sehr stark ist, das Allgemeine als das Gemeinsame verstehen zu wollen.40 In der IV. Vorlesung hebt vor allem eine entscheidende Formulierung die strenge wissenschaftliche Bedeutung derjenigen Evidenz hervor, die die phänomenologische Reduktion für Akte und Objekte des Bewusstseins gewinnen soll, sowie das Dauerproblem mit der »Selbstgegebenheit« in diesem Sinn: Demnach bedeutet die phänomenologische Reduktion nicht etwa die Einschränkung der Untersuchung auf die Sphäre der reellen Immanenz, auf die Sphäre des im absoluten Dies der cogitatio reell Beschlossenen, sie bedeutet überhaupt nicht Einschränkung auf die Sphäre der cogitatio, sondern die Beschränkung auf die Sphäre der reinen Selbstgegebenheiten, auf die Sphäre dessen, über das nicht nur geredet und das nicht nur gemeint wird, auch nicht auf die Sphäre dessen, was wahrgenommen wird, sondern dessen, was genau in dem Sinn, in dem es gemeint ist, auch gegeben ist und selbstgegeben im strengsten Sinn, derart daß nichts von dem Gemeinten nicht gegeben ist. Mit einem Wort, Beschränkung auf die Sphäre der reinen Evidenz, das Wort aber in einem gewissen strengen Sinn verstanden, der schon die »mittelbare Evidenz« und vor allem alle Evidenz im laxen Sinne ausschließt. (60–61) 238 | george heffernan
Dementsprechend zieht die phänomenologische Reduktion keine »Einschränkung« nach sich, sehr wohl aber eine »Beschränkung«.41 Von der Frage nach einer verbalen Unterscheidung zwischen einer »Einschränkung« und einer »Beschränkung« abgesehen, ist doch der springende philosophische Punkt der, dass die phänomenologische Reduktion so, wie Husserl sie in Die Idee der Phänomenologie vollzieht, keine Thematisierung der defizienten Modi der Evidenz im umfassenden Sinn einschließt. Dieser Schritt stellt eine Regression gegenüber der Behandlung der Evidenz in den Logischen Untersuchungen dar. In der VI. Untersuchung z. B. thematisiert Husserl sowohl den laxen Begriff der Evidenz im relativen Sinn, der Grade, Stufen und Schichten der Selbstgegebenheit nicht nur zulässt, sondern auch fordert,42 als auch den strengen Begriff der Evidenz im absoluten Sinn, der Grade, Stufen und Schichten der Selbstgegebenheit nicht nur ausschaltet, sondern auch ausschließt.43 Da die Entwicklung des Husserlschen Begriffs der Evidenz vom »›Erlebnis‹ der Wahrheit« in den Prolegomena zur reinen Logik44 zur »intentionalen Leistung der Selbstgebung« in Formale und transzendentale Logik45 die kreative Spannung zwischen diesen beiden Begriffen der Selbstgegebenheit widerspiegelt, es ist ratsam, alle beide in Betracht zu ziehen, wenn man Die Idee der Phänomenologie verstehen will.46 In den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (I) z. B. richtet Husserl seinen Blick sowohl auf absolute, adäquate und apodiktische Evidenz als auch auf relative, inadäquate und zweifelhafte Evidenz.47 In Formale und transzendentale Logik schließlich vertritt er sogar die Ansicht, dass kein Bewusstsein ohne Evidenz ist, dass aber keine Evidenzen nicht von nicht-Evidenzen begleitet werden und dass also kein Bewusstsein ohne nicht-Evidenzen ist.48 Auch wenn Die Idee der Phänomenologie voller Verweise auf die Evidenz als Selbstgegebenheit sowie auf die Selbstgegebenheit von Wesen ist, so behauptet Husserl zwar nicht, dass Wesen »selbstevident« seien. Indem er die Evidenz als Selbstgegebenheit mit der vermeinten Selbstgegebenheit von Wesen zu eng verknüpft, setzt Husserl aber den phänomenologischen Begriff der Evidenz in indirekter und subtiler Weise aufs Spiel. Dieser Begriff der Evidenz ist jedoch allen seinen Vorgängern, z. B. den cartesianischen Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit sowie dem psychologistischen Gefühl Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 239
der Gewissheit, deutlich überlegen. Sicherlich braucht man stärkere Argumente als bloße Ansprüche auf »absolute, primitive Gegebenheit« (5–6), wenn man Wesen als gültig setzen will. Dabei ist nur am Rande auch der Unterschied zwischen dem platonischen Ansatz bei den Allgemeinheiten zu erwähnen, der eine diskursive Suche nach Formen oder Ideen beinhaltet, und dem Husserlschen Ansatz, der einen intuitiven Besitz von Essenzen oder Wesen suggeriert. Husserl hilft seiner Sache nicht, eher schadet er ihr, wenn er sagt, dass die Intuition eines Wesens nicht schwieriger sei als das mystische Erlebnis »des intellektuellen Schauens, das kein Verstandeswissen sei« (62–63). Diese Bemerkung ist besonders unglücklich, da gerade die Methode der Wesensschau eine der Eigenschaften sein soll, die die Phänomenologie als strenge Wissenschaft auszeichnet.
§ 6. V. Vorlesung: Das Problem der Horizonthaftigkeit evidenten Bewusstseins In der V. Vorlesung schließt Husserl die Suche nach dem »Wesen der Erkenntnis« (75) ab, indem er das »Wesen der Gegebenheit« (73) und das »Wesen der Gegenständlichkeit« (74) untersucht. Dabei richtet er seinen Blick auf die Verhältnisse der »Konstitution« (74) zwischen den Akten des Bewusstseins und den ihnen entsprechenden Gegenständen bzw. Gegenständlichkeiten. Die Leitidee ist, dass die Gegenstände »sich« in den Akten des Bewusstseins »konstituieren«, d. h. präsentieren (67–68, 70–73, 75). Dadurch, dass er die »Korrelation« (74–76) zwischen intentionalem Bewusstsein und konstituierter Objektivität herausarbeitet, dehnt Husserl die Reichweite der phänomenologischen Untersuchung so aus, dass diese Untersuchung den ganzen Bereich der reduzierten Phänomene umfasst und damit auch die intentionalen Gegenstände als solche einschließt. Die Einzigartigkeit dieser Vorlesung besteht darin, dass sie allein die Evidenz der konstitutiven Korrelationen untersucht (67–76). Die Unterscheidung zwischen dem reellen Inhalt und dem intentionalen Gegenstand eines Bewusstseinsakts liegt Husserls Deskription der Erkenntnis in Die Idee der Phänomenologie zugrunde. In den Prolegomena zur reinen Logik (1900/1913) hat er nachgewie240 | george heffernan
sen, dass die psychologistische Logik deswegen unwissenschaftlich war, weil sie es versäumt hat, den Inhalt des realen Urteilsakts und den Inhalt des idealen Urteilsgebildes auseinanderzuhalten. Im Zusammenhang mit seiner Arbeit an diesem grundlegenden Unterschied stellte sich heraus, dass es auch nötig sein würde, eine analoge Unterscheidung vorzunehmen, nämlich zwischen dem Inhalt des Bedeutungsakts und dem Inhalt des Bedeutungsgebildes, dem Inhalt des Akts des Glaubens und dem Inhalt des Gegenstands des Glaubens, dem Inhalt des wahrnehmenden Akts und dem Inhalt des wahrgenommenen Gegenstands und so weiter.49 In jedem Fall wird der Ausdruck »Inhalt« in mannigfacher Bedeutung benutzt, sodass Inhalt so lange vieldeutig ist, bis man ihn näher bestimmt hat.50 Der Begriff Inhalt muss also durch eine rigorose Beschreibung definiert werden.51 Weil die Gültigkeit von Husserls Widerlegung des logischen Psychologismus in den Prolegomena zur reinen Logik von der Möglichkeit abhängt, die strenge Unterscheidung zwischen subjektivem Inhalt und objektivem Inhalt zu machen und zu halten, geriete seine ganze Philosophie, und somit auch die ganze Phänomenologie, in höchste Gefahr, wenn diese Unterscheidung nicht vollziehbar oder nicht nachvollziehbar wäre. In der Tat ist die entscheidende Unterscheidung der Prolegomena die Unterscheidung zwischen dem »realen Akt des Urteilens« und dem »idealen Inhalt des Urteils«.52 Wiederholt kommt Husserl auf diese grundlegende Unterscheidung zurück, und er schenkt ihr seine besondere Aufmerksamkeit noch einmal in Formale und transcendentale Logik.53 In dieser Vorlesung klärt Husserl, wie Gegenstände nicht reell, sondern intentional im Bewusstsein sind. Zu diesem Zweck erläutert er die reale Unterscheidung zwischen Akten und Gegenständen mittels einer Anzahl von Metaphern. Husserl erinnert seine Hörer und Leser an den Gedankengang, insbesondere an seine Metaphern einer »Hülse« (12) und eines »Gefäßes« (12) sowie an seine Zurückweisung einer Variante an dem Mythos des Gegebenen (»Myth of the Given«) (11–12), und stellt fest, dass Bewusstsein nicht wie eine »Schachtel« (71) oder ein »Sack« (74) ist.54 Dagegen ist Husserls eigene, bevorzugte Metapher für den transzendental-phänomenologischen Raum, in dem sich intentionale Gegenstände in Bewusstseinsakten konstituieren, ein »Feld« (8–9, 12, 46–47) oder ein »Fluss« (9, 55, 72, 74–75), »ein ewiger Heraklitischer Fluß von Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 241
Phänomenen« (47), sogar ein »Malstrom« (70),55 d. h. ein gefährlicher Strudel oder Wirbel.56 Wie also können Gegenstände stehen bleiben, während die Akte hierhin und dahin fließen? Wie kommt man von flüchtigen Phänomenen zu festen Wesen? Wo er die Korrelationen zwischen den intentionalen Akten des Bewusstseins und den sich in ihnen konstituierenden Gegenständen beschreibt, führt Husserl mehrere Beispiele an. So erwähnt er z. B. Akte des Wahrnehmens (68), des Sich-Erinnerns (67–68) und des Sich-etwas-in-der-Phantasie-Vorstellens (68–70) sowie Gegenstände der Wahrnehmung, Erinnerung und Phantasie (72–75). Außerdem thematisiert er Instanzen der Unterscheidung zwischen dem »symbolischen« und dem »intuitiven« Denken (73) sowie Instanzen der Unterscheidung zwischen dem »eigentlichen« und dem »uneigentlichen« Denken (74). So untersucht er auch den Unterschied zwischen »intuitiven« (75) und »unanschaulichen« (75) Akten des Bewusstseins: Wir müssen sehen, in welchem Zusammenhang sie [… Evidenz …] als wirkliche und eigentliche Evidenz auftritt, und was in diesem Zusammenhang die wirkliche und eigentliche Gegebenheit ist. Es wird dann darauf ankommen, die verschiedenen Modi der eigentlichen Gegebenheit, bzw. die Konstitution der verschiedenen Modi der Gegenständlichkeit und ihre Verhältnisse zueinander herauszustellen … [Es folgt eine kurze Liste von fast einem Dutzend verschiedener Arten von Gegebenheit.] Überall ist die Gegebenheit … eine Gegebenheit im Erkenntnisphänomen … und überall ist in der Wesensbetrachtung dieser zunächst so wunderbaren Korrelation nachzugehen. (74)
Die Gegebenheit ist zwar überall, dasselbe gilt aber auch für die Verdecktheit.57 Dementsprechend, wenn der Blickpunkt zu wenig auf die anschaulich gebenden Akte und ihre anschaulich gegebenen Gegenstände im Zusammenhang mit den unanschaulich gebenden Akten und ihren unanschaulich gegebenen Gegenständen gerichtet ist und zu sehr auf die teleologische Gerichtetheit und erkenntnistheoretische Geordnetheit des Unanschaulichen zum Anschaulichen, dann bleibt die horizonthafte Beschaffenheit des Bewusstseins im Allgemeinen und des evidenten Bewusstseins im Besonderen unterschätzt, unterentwickelt und unterdeterminiert. Denn es liegt 242 | george heffernan
in der horizonthaften Geographie des Bewusstseins, dass das Gegebene in allgemeiner und notwendiger Weise vom nicht-Gegebenen »umgeben« ist.58 Der Begriff des Horizonts spielt jedoch keine bedeutende Rolle in Die Idee der Phänomenologie, denn der Terminus »Horizont« kommt in den Fünf Vorlesungen und im Gedankengang kein einziges Mal vor.59 In Die Idee der Phänomenologie beschränkt Husserl also in der Tat den erkenntnistheoretischen Umfang der transzendentalen Untersuchung nach der phänomenologischen Reduktion. Die Frage ist, ob diese »Beschränkung«, die auch eine Beschränkung hinsichtlich der Evidenz ist, berechtigt ist. Die Beschränkung, die auch eine gewisse »Einschränkung« ist, hängt mit dem fehlenden Sinn für die Horizonthaftigkeit des Bewusstseins und seiner Inhalte, d. h. seiner Akte und seiner Gegenstände, eng zusammen. Denn in Die Idee der Phänomenologie unterlässt es Husserl, das Selbstgegebene als in allgemeiner und notwendiger Weise von einem Horizont des nichtGegebenen umgeben zu begreifen, d. h. so zu thematisieren, wie er das in anderen Texten tut, z. B. in Formale und transzendentale Logik. Das alles fügt sich sehr schön in eine methodologische Landschaft ein, die die Evidenz von Wesen über das Wesen der Evidenz privilegiert. In anderen Hinsichten ist es weniger hilfreich. Noch einmal: Husserls Versäumnis hinsichtlich der inadäquaten Evidenz in Die Idee der Phänomenologie ist direkt auf seine spezifische Vernachlässigung der horizonthaften Intentionalität hinsichtlich der Evidenz als Selbstgegebenheit zurückzuführen.
Schluss: Von der Evidenz des Wesens zum Wesen der Evidenz Nach der umfassenden Explikation des Textes, die ich vorgelegt habe, lässt sich Husserls Entwicklung des Evidenzbegriffs in Die Idee der Phänomenologie im Ganzen mittels der folgenden Bestimmungsmomente der Selbstgegebenheit in den einzelnen Teilen zusammenfassen: Im Gedankengang der Vorlesungen argumentiert Husserl, dass allein die reine Phänomenologie, nicht aber die empirische Psychologie, transzendentale Erkenntnistheorie sein kann, und versucht, das Wesen der Erkenntnis dadurch zu bestimmen, dass er die MeVom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 243
thoden der phänomenologischen Reduktion und der ideierenden Abstraktion so anwendet, dass er die absolute, adäquate und apodiktische Selbstgegebenheit als die »Evidenz im prägnanten Sinn« privilegiert. In der I. Vorlesung stellt Husserl die Phänomenologie als Erkenntnistheorie dar, aber ohne die Evidenz an und für sich überhaupt zu erwähnen, obwohl er auch klar macht, dass die Aufgabe, die er sich gestellt hat, darin besteht, »das Wesen der Erkenntnis« zu beschreiben, und zwar dadurch, dass er das Wesen der Evidenz als Selbstgegebenheit definiert. In der II. Vorlesung bedient sich Husserl des Ansatzes beim Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gewissheit, der vor der cartesianischen Zweifelsbetrachtung ausgeht, wobei er sich wiederholt auf den Begriff der »Evidenz im prägnanten Sinn«, d. h. auf die Idee der absoluten, adäquaten und apodiktischen Selbstgegebenheit, beruft, um die besondere Evidenz der Denkakte zu beschreiben. In der III. Vorlesung beschreibt Husserl nicht das Wesen der Evidenz, sondern die Evidenz von Wesen, und dies tut er im Hinblick auf die absolute, adäquate und apodiktische Selbstgegebenheit, während er die relative, inadäquate und zweifelhafte Selbstgegebenheit vernachlässigt, obwohl dieses Vorgehen sich als voreilig erweist, da er das Wesen der Evidenz weder aufgeklärt noch definiert hat. In der IV. Vorlesung schränkt Husserl die Untersuchung nicht auf die Evidenz der Denkakte unter Ausschluss der Evidenz der Denkobjekte ein, aber sehr wohl beschränkt er die Evidenz auf die absolute, adäquate und apodiktische Selbstgegebenheit und unterlässt es so wiederum, die relative, inadäquate und zweifelhafte Selbstgegebenheit zu thematisieren. In der V. Vorlesung analysiert Husserl die Korrelationsbeziehungen zwischen den intentionalen Akten des Bewusstseins und den konstituierten Objekten des Bewusstseins, aber ohne den horizonthaften Charakter des Bewusstseins zu untersuchen, und so verfährt er konsistent mit der systematischen Vernachlässigung der relativen, inadäquaten und zweifelhaften Evidenz zugunsten der absoluten, adäquaten und apodiktischen Evidenz, die das ganze Werk durchzieht. Diese Explikation des Textes habe ich zur Grundlage genommen, um zu argumentieren, dass die Reduktion auf Evidenz, die 244 | george heffernan
Husserl in Die Idee der Phänomenologie vollzieht, nicht nur »befreiend«, sondern auch beschränkend ist.60 Nach seiner Beschreibung ist die »Evidenz im prägnanten Sinn« eine absolute, adäquate und apodiktische Selbstgegebenheit, die nicht nur bevorzugt, sondern auch privilegiert ist über die relative, inadäquate und zweifelhafte Selbstgegebenheit. Also ist Husserls Reduktion auf Evidenz in Die Idee der Phänomenologie zugleich eine Reduktion auf absolute, adäquate und apodiktische Evidenz, und diese Reduktion stellt auch eine Ausklammerung von relativer, inadäquater und zweifelhafter Evidenz dar. Der Hauptgrund für diesen zweischneidigen Zug besteht darin, dass Husserl danach strebt, die Phänomenologie als eine reine Wissenschaft von Wesen zu begründen, und zwar auf drei Grundstufen: von Denkakten, von Denkobjekten und von Konstitutionsrelationen. Es gilt als allgemein anerkannt, dass für Husserls Phänomenologie zwei Methoden unentbehrlich sind, nämlich die eidetische Reduktion und die phänomenologische Reduktion. Wenn aber die Phänomenologie eine strenge Wissenschaft von Wesen sein soll, so kann sie das nur dadurch werden, dass sie die Evidenzen von den betreffenden Wesen aufklärt. Wenn jedoch meine Lesart richtig ist, so sollte man nicht voreilig ein positives Urteil über die in Die Idee der Phänomenologie dargestellte Phänomenologie der Erkenntnis abgeben. Im Gegenteil, die von Husserl in diesem Werk vorgetragene Deskription der Evidenz erweist sich deswegen als unzulänglich, weil sie sich auf adäquate Evidenz konzentriert und andere Evidenzen vernachlässigt. Also enthält Die Idee der Phänomenologie keine vollständige Aufklärung der Phänomenologie der Evidenz, und sie kann auch den irreführenden Eindruck aufkommen lassen, dass »Evidenz« ohne weiteres als adäquate Selbstgegebenheit zu verstehen ist. Das Werk lenkt vom Wesen der Evidenz in dem gleichen Maße ab, wie es auf die Evidenz von Wesen aufmerksam macht. Es geht hier nicht darum, eine starke Stellung dadurch zu unterminieren, dass man sie überstrapaziert. Also behaupte ich nicht, dass Husserl in Die Idee der Phänomenologie die defizienten Modi der Evidenz völlig ignoriere, zumal er sie doch gelegentlich erwähnt, wenn auch selten. Noch übersehe ich die offensichtliche Tatsache, dass die eher skizzenhafte Behandlung der Evidenz in Die Idee der Phänomenologie mit Husserls vergleichsweise ausführlichen BeVom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 245
handlungen des Themas in den Logischen Untersuchungen, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie und in Formale und transzendentale Logik kaum verglichen werden kann. Vielmehr meine ich, dass gerade wegen der Teleologie des Projekts und der Ausrichtung des Texts Husserls Behandlung der Evidenz in Die Idee der Phänomenologie relativ einseitig und so nicht voll repräsentativ für die echte phänomenologische Behandlung des Themas ausfällt. Das Problem ist nicht der Scopus sondern der Fokus der Untersuchung. Andere Texte Husserls richten sich natürlich auf andere Aspekte der Evidenz als die adäquate Selbstgegebenheit.61 Die Phänomenologie der Evidenz in Die Idee der Phänomenologie selbst ist jedoch nicht ausgewogen. Wie Leser, vor allem Anfänger, die phänomenologische Idee der Evidenz erfassen, hängt doch oft davon ab, welchen Text Husserls sie lesen.62 Jeder Text hat aber auch einen Kontext. Ursprünglich hat Husserl die Fünf Vorlesungen der Idee der Phänomenologie als eine Einleitung zu der »Dingvorlesung« aus dem Sommersemester 1907 gehalten.63 Seiner Meinung nach hätten seine Studenten die Vorlesung nicht ganz verstanden: »Das war ein neuer Anfang, leider von meinen Schülern nicht so verstanden und aufgenommen, wie ich es erhofft. Die Schwierigkeiten waren auch allzu groß und konnten im ersten Anhieb nicht überwunden werden.«64 Es ist unklar, inwiefern sein Urteil sich auch auf die Fünf Vorlesungen bezieht. Und doch frustrierend an Die Idee der Phänomenologie ist das fehlende Verständnis seitens Husserl dafür, dass die Evidenz von Wesen, wie jede andere Evidenz auch, eine Leistung und so unzertrennbar mit Graden, Stufen und Schichten zwischen Intention und Erfüllung verbunden ist. Also ist es falsch zu denken, dass die Evidenz von Wesen ohne weiteres adäquat sei. Vielmehr bedarf auch die Wesensevidenz des Übergangs von Inadäquatheit zu Adäquatheit. In der Tat bedroht die optimistische Darstellung ihrer Evidenzen als adäquat die echte Glaubwürdigkeit von Wesen. Solch eine positive Darstellung kann eine negative Auswirkung auf die Rezeption des phänomenologischen Evidenzbegriffs haben. Erklären, dass Wesen evident seien, und aufklären, wie sie als Leistungen möglich sind, ist zweierlei. Nur indem man sie konstituiert, kann man wissen, was sie sind. 246 | george heffernan
Die naive Behauptung der adäquaten Evidenzen von Wesen mag auch mit ein Grund für die skeptische Rezeption des phänomenologischen Evidenzbegriffs sein.65 Besonders in der anglo-amerikanischen, sogenannten »analytischen« Tradition (die Phänomenologie, so wie Husserl sie praktiziert, ist ja durchaus analytisch) ist die Wirkungsgeschichte der Husserlschen Phänomenologie, Erkenntnistheorie und Evidenzlehre enttäuschend gewesen. Der Artikel über evidence in The Stanford Encyclopedia of Philosophy z. B. erwähnt Husserl nicht,66 dasselbe gilt für den entsprechenden Artikel in The Internet Encyclopedia of Philosophy,67 und The Routledge Encyclopedia of Philosophy enthält gar keinen Artikel über evidence.68 Solche Forschungsberichte berücksichtigen routinemäßig die Werke von Quine,69 Chisholm70 und Achinstein,71 nicht aber die von Husserl. Andererseits, wenn Die Idee der Phänomenologie mit ihrer Deskription der Evidenz als »Selbstgegebenheit« den irreführenden Eindruck aufkommen lässt, dass der phänomenologische Evidenzbegriff fällig für die analytische Kritik von »the myth of the given« sei, dann trägt doch Formale und transzendentale Logik mit ihrer Deskription der Evidenz als der »intentionalen Leistung der Selbstgebung« dem Charakter der Evidenz als eines Erlebnisses von »Geben und Nehmen« voll Rechnung. In der Tat hatte Husserl gezeigt, dass der phänomenologische Evidenzbegriff gegen die Kritik verteidigt werden kann, und das schon längst, bevor Sellars die Idee vom »myth of the given« überhaupt hatte.72 Schließlich muss man nicht nur die Grenzen der Idee der Phänomenologie erkennen, sondern auch die Grenzen der vorliegenden Studie. Denn hier wie überall muss man sich Husserls Mahnung zu eigen machen: »In der Tat, der größte und wie ich sogar glaube, wichtigste Teil meiner Lebensarbeit steckt noch in meinen, durch ihren Umfang kaum noch zu bewältigenden Manuskripten.«73 Die bisher umfangreichste Sammlung von Husserls Texten zur Methode der eidetischen Variation als einer systematischen Strategie, Wesen in den ihnen eigenen Evidenzen zu »leisten«, zeigt nämlich, dass die Entwicklung der Husserlschen Lehre der eidetischen Reduktion sich in fünf Hauptphasen gliedern lässt:74 (1) provisorische Überlegungen zum Begriff des Allgemeinen (1891–1901);75 (2) Untersuchungen zur Rolle der Wesenseinsicht im Zusammenhang mit der Urteilslehre bzw. der Begriffsbildung (1901–1917);76 (3) Analysen der Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 247
untersten, niedersten Wesen im Unterschied zu spezifischen und gattungsmäßigen Wesen sowie der Funktion der Phantasie in der eidetischen Variation (1917–1918);77 (4) Studien über die Wesensschau als reines Denken und über die Abgrenzung von typischen Wesen und exakten Wesen (1918–1925);78 und (5) exemplarische Wesensanalysen über physikalische und morphologische Realitäten und Behandlungen der Probleme des Eidos »Ich« und des Eidos »Welt« (1926–1935).79 Die Frage nach der Evidenz spielt eine unentbehrliche Rolle durch alle eidetischen Untersuchungen hindurch.80 Um dann zu einem angemessenen, sachgerechten Urteil über »die Sachen selbst« zu gelangen,81 wenn es sich bei den »Sachen« um Wesen handelt, sollte man also feststellen, dass Die Idee der Phänomenologie nur ein sehr kleiner Teil im sehr großen Puzzle der Selbstgegebenheit von Wesen in der Phänomenologie der Evidenz ist.
Anmerkungen
Bei diesem Beitrag handelt es sich um die umgearbeitete Fassung eines Vortrags, den ich auf dem 42. Jahrestreffen des Internationalen Husserl-Kreises, Gonzaga Universität, Florenz, 27.–30. April 2011, gehalten habe. Eine englische Fassung (keine blosse Übersetzung) des Vortrags erscheint gleichzeitig unter dem Titel »From the Essence of Evidence to the Evidence of Essence: A Critical Analysis of the Methodological Reduction of Evidence to Adequate Self-givenness in Husserl’s The Idea of Phenomenology« in Logical Analysis and History of Philosophy 16 (2013). Weil die zwei Aufsätze in inhaltlicher Hinsicht nicht ohne weiteres identisch sind, sollte der Leser sie miteinander vergleichen. Beide Arbeiten wurden ursprünglich von Shigeru Taguchi inspiriert – vgl. Taguchi 2010. 2 Vgl. Humes Desaster-Metapher (»a narrowly escap’d shipwreck«), in: Treatise, I, IV, 7, sowie Kants Insel-Metapher (»das Land des reinen Verstandes« als »das Land der Wahrheit … umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins …«), in: KrV, A 235–236/B 294–295. 3 Vgl. Konersmann 2011, 240–252. Zwar wird Husserl hier nicht erwähnt, aber seine Metapher einer stürmischen See erinnert an die Stelle bei Augustinus, De beata vita, 1.1–1.5, die gleichfalls hier unerwähnt bleibt. 4 Vgl. Gadamer 1963, 152, 160. Gadamer beschreibt Husserls Rat an Philosophen. 1
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Vgl. Biemels Bemerkung, Hua II, 87: »Wie … aus einer Anmerkung Husserls hervorgeht, schrieb er am Abend der letzten Vorlesung den Gedankengang.« 6 Vgl. Gadamer 1960, 375–384 (»Die Logik von Frage und Antwort«). 7 Zählt man indirekte Fragen mit, so wird diese Liste fast zweimal so lang. Vgl. Hua II, 34, 36–39. 8 Vgl. Hua VIII, 35. 9 Vgl. Hua I, 55–56, 62. 10 Ich beziehe mich insbesondere auf die VI. Untersuchung. Vgl. Hua XIX/2. 11 Vgl. Hua XIX/2, 596–631. 12 Vgl. Hua XIX/2, 645–656. 13 Vgl. Hua XVII, 165–170. 14 Vgl. Hua III/1, 200–294, 314–337. 15 Vgl. Staiti 2009. 16 In Die Idee der Phänomenologie dominiert die Rede vom Wesen und vom Wesentlichen, in den Ideen I dagegen die Sprache vom Eidos und vom Eidetischen. Vgl. Heffernan 2013. 17 Vgl. Sokolowski 2008. 18 Vgl. auch Augustinus, civ. Dei 11.26: »Si … fallor, sum.« 19 Vgl. auch Descartes, Principia philosophiae, I, § 45, wo eine klare Wahrnehmung (perceptio clara) als »anwesend« (praesens) und »offen« (aperta) und eine deutliche Wahrnehmung (perceptio distincta) als »getrennt« (sejuncta) und »präzise« (praecisa) defi niert wird. 20 Vgl. Hua VIII und Hua XXXIV. 21 Vgl. Heffernan 1997. 22 Vgl. z. B. Van Cleve 1979. 23 In der Frage der Zirkelhaft igkeit des cartesianischen Verfahrens stimmt Husserl mit Descartes’ zeitgenössischen Kritikern Mersenne, Arnauld und Gassendi überein. Vgl. Heffernan 1997, 128–131. 24 Vgl. Heffernan 1997, 105–108, 112, 125–126. 25 Vgl. Hua VII, 79, 86, 341. 26 Vgl. z. B. Locke, Essay, IV. Buch, 19. Kapitel. 27 Vgl. z. B. Hume, Enquiry, V. Abschnitt, II. Teil. 28 Vgl. Heffernan 1999. 29 Vgl. Hua XVIII, 76–80, 96–105, 124–129, 131–158, 170–171, 173–183, 190– 195, 218–221. 30 Vgl. Garrett 2011. 31 Vgl. Robinson 2006. 32 Es sind in alphabetischer, wenn auch nicht wesentlicher Reihenfolge: Cragganmore (Speyside), Dalwhinnie (Highland), Glenkinchie (Lowland), Lagavulin (Islay), Oban (West Highland) und Talisker (Skye). 33 Vgl. Gadamer 1986, 290–295 (»Das Beispiel des Klassischen«). 5
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Vgl. Aristoteles, Meta., V, passim, und VII, 4. Vgl. Sowa 2007, Sowa 2008 und Sowa 2009. 36 Vgl. Sokolowski 1974, 57–85 (»How To Intuit an Essence«), und Sokolowski 2000, 177–184 (»Eidetic Intuition«). 37 Vgl. Sowa 2010a. 38 Vgl. Mulligan 2004. 39 Vgl. Hua VI, 74. 40 Vgl. Sowa 2010b und Sowa 2012. 41 Die neuere englische Übersetzung der Idee der Phänomenologie unterlässt es, diese Unterscheidung zu übersetzen. Vgl. Hardy 1999, 45. Es gibt aber auch eine ältere englische Übersetzung. Vgl. Alston und Nakhnikian 1964. 42 Vgl. LU VI, 3. Kapitel: »Zur Phänomenologie der Erkenntnisstufen«. 43 Vgl. LU VI, 5. Kapitel: »Das Ideal der Adäquation. Evidenz und Wahrheit«. 44 Vgl. Hua XVIII, 193. 45 Vgl. Hua XVII, 166. 46 Vgl. Heffernan 1998. 47 Vgl. Hua III/1, 200–294, 314–337. 48 Vgl. Hua XVII, 165–170, 289–295. 49 In diesem Sinn stellt sich »Inhalt« als das Noema der Ideen I heraus. Vgl. Hua III/1, 202 ff. 50 Vgl. LU I, §§ 14, 30, LU V, §§ 16–17, 44–45, LU VI, §§ 22–23, 26, 28. 51 Vgl. Hua III/1, 298. 52 Vgl. Hua XVIII, 76–80, 96–105, 124–129, 131–158, 170–171, 173–183, 190– 195, 218–221. 53 Vgl. Hua XVII, 157–183. 54 Vgl. Brough 2008. Vgl. auch Meixner 2006. 55 Hardys »a pretty kettle of fish« ist eine Fehlübersetzung von »ein schöner Malstrom«. Vgl. Hardy 1999, 52. 56 Vgl. Descartes, II. Meditation, § 1. 57 Hardys Übersetzung überspringt den springenden Punkt: »Überall ist die Gegebenheit …« 58 Vgl. Descartes, IV. Meditation, wo die These vertreten wird, dass die Menschen das wahrnehmen, was sie klar und deutlich wahrnehmen, als umgeben von einem Horizont von dem, was sie vage und dunkel wahrnehmen. 59 Je reifer Husserls Philosophie in ihrer graduellen Entwicklung wird, umso mehr zeichnet sie sich durch eine Aufmerksamkeit auf die Horizonthaft igkeit der Erfahrung im Allgemeinen sowie der Horizonthaft igkeit der Evidenz im Besonderen aus. Vgl. Hua XXXIX. Es fehlt dem Leser schwer, in diesem Band überhaupt Texte zu fi nden, die Horizonte nicht thematisieren, z. B. 207–258. 60 Vgl. Taguchi 2010. 61 Vgl. Hua XXIV und Hua XXX. 62 Auf dem Deckblatt der Ausgabe des Werkes in der Reihe Edmund Hus34 35
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serl Collected Works liest man einen Werbetext, der so anfängt: »As a teaching text, The Idea of Phenomenology is ideal …« 63 Siehe Hua II, x–xi, und vgl. Hua XVI. 64 Vgl. Hua II, xi (Husserls Beobachtung vom 6. März 1908). 65 Vgl. Levinas 1930, 5–7. Kapitel. 66 Vgl. Kelly 2008. 67 Vgl. DiFate 2007. 68 Vgl. Craig 1998. 69 Vgl. Quine 1992, 1. Kapitel (über Evidenz). 70 Vgl. Chisholm 1966/1977/1989. 71 Vgl. Achinstein 2001. 72 Vgl. Sellars 1997, Soffer 2003. Sellars erwähnt Husserl nicht in seinem Essai. 73 Vgl. Hua XV, lxvi (Brief an Adolf Grimme vom 5. März 1931). 74 Vgl. Hua XLI. Ich klammere die Frage nach der endgültigen Richtigkeit der folgenden Einteilung aus. 75 Vgl. Hua XLI, 1–28. 76 Vgl. Hua XLI, 29–118. 77 Vgl. Hua XLI, 119–200. 78 Vgl. Hua XLI, 201–260. 79 Vgl. Hua XLI, 261–394. 80 Vgl. Hua XLI, 29–40, 44–55, 89, 171–173, 222–236. 81 Vgl. Hua XIX/1, 10.
Bibliographie
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– Ding und Raum: Vorlesungen 1907, Hua XVI – Formale und transzendentale Logik: Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (1929), Hua XVII – Prolegomena zur reinen Logik (1900 / 21913), Hua XVIII – Logische Untersuchungen (1901 / 21913/1921), Hua XIX/1–2 – Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie: Vorlesungen 1906/07, Hua XXIV – Logik und Allgemeine Wissenschaftstheorie: Vorlesungen 1917/18, mit Ergänzenden Texten aus der Ersten Fassung von 1910/11, Hua XXX – Zur phänomenologischen Reduktion: Texte aus dem Nachlass (1926–1935), Hua XXXIV – Die Lebenswelt: Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution: Texte aus dem Nachlass (1916–1937), Hua XXXIX – Zur Lehre vom Wesen und zur Methode der eidetischen Variation: Texte aus dem Nachlass (1891–1935), Hua XLI
II. Schriften anderer Autoren Achinstein, Peter: The Book of Evidence, Oxford 2001 Alston, William; Nakhnikian, George (Übersetzer): The Idea of Phenomenology, Den Haag 1964 Aristoteles: Metaphysik, Hamburg 1980 [Abk.: Meta.] Augustinus: De Vita Beata (386/387), in: Corpus Christianorum Series Latina XXIX, Turnhout 1970, S. 63–85 – De civitate Dei (413/427), Darmstadt 1981 Brough, John: Consciousness Is Not A Bag: Immanence, Transcendence, and Constitution in The Idea of Phenomenology, in: Husserl Studies 24 (2008), S. 177–191 Chisholm, Roderick: Theory of Knowledge, Englewood Cliffs, New Jersey 1966/21977/31989 Craig, Edward: The Routledge Encyclopedia of Philosophy, 3. Bd, London 1998 Descartes, René: Meditationes de prima philosophia (1641/1642), in: Œuvres de Descartes VII, Paris 1983 – Principia philosophiae (1644), in: Oeuvres de Descartes VIII/A, Paris 1983 DiFate, Victor: Evidence, in: The Internet Encyclopedia of Philosophy (30. Dezember 2007), http://www.iep.utm.edu/evidence/ Gadamer, Hans-Georg: Die phänomenologische Bewegung (1963), in: Kleine Schriften III, Tübingen 1972, S. 150–189 – Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 2. erweiterte Auflage 1986 Garrett, Oliver (Hg.): The Oxford Companion to Beer, Oxford 2011 252 | george heffernan
Hardy, Lee (Übersetzer): The Idea of Phenomenology, Dordrecht 1999 Heffernan, George: An Essay in Epistemic Kuklophobia: Husserl’s Critique of Descartes’ Conception of Evidence, in: Husserl Studies 13 (1997), S. 89–140 – Miscellaneous Lucubrations on Husserl’s Answer to the Question ›was die Evidenz sei‹: A Contribution to the Phenomenology of Evidence on the Occasion of the Publication of Husserliana Volume XXX, in: Husserl Studies 15 (1998), S. 1–75 – A Study in the Sedimented Origins of Evidence: Husserl and His Contemporaries Engaged in a Collective Essay in the Phenomenology and Psychology of Epistemic Justification, in: Husserl Studies 16 (1999), S. 83–181 – From the Essence of Evidence to the Evidence of Essence: A Critical Analysis of the Methodological Reduction of Evidence to Adequate Self-givenness in Husserl’s The Idea of Phenomenology, in: Logical Analysis and History of Philosophy, 16 (2013) Hume, David: A Treatise of Human Nature (1739–1740), Oxford 1975 [Abk.: Treatise] – An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), Oxford 1975 [Abk: Enquiry] Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1781/21787), Hamburg 1956 [Abk.: KrV] Kelly, Thomas: Evidence, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Auflage vom Herbst 2008), http://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/ evidence/ Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2011 Levinas, Emmanuel: La théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, Paris 1930 Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding (1690 [recte 1689]), Oxford 1975 [Abk.: Essay] Meixner, Uwe: Classical Intentionality, in Erkenntnis 65 (2006), S. 25–45 Mulligan, Kevin: Essence and Modality: The Quintessence of Husserl’s Theory, in: M. Siebel, M. Textor (Hg.), Semantik und Ontologie: Beiträge zur philosophischen Forschung, Heusenstamm bei Frankfurt 2004, S. 387–418 Quine, Willard V. O.: The Pursuit of Truth, Cambridge, Massachusetts 1992 Robinson, Jancis (Hg.): The Oxford Companion to Wine, Oxford 2006 Sellars, Wilfrid: Empiricism and the Philosophy of Mind (1965), Cambridge 1997 Soffer, Gail: Revisiting the Myth: Husserl and Sellars on the Given, in: Review of Metaphysics 57 (2003), S. 301–337 Sokolowski, Robert: Husserlian Meditations: How Words Present Th ings, Evanston, Illinois 1974 – Introduction to Phenomenology, Cambridge 2000 – Husserl’s Discovery of Philosophical Discourse, in: Husserl Studies 24 Vom Wesen der Evidenz zur Evidenz vom Wesen | 253
(2008), S. 167–175 Sowa, Rochus: Essences and Eidetic Laws in Edmund Husserl’s Descriptive Eidetics, in: The New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy 7 (2007), S. 77–108 – Wesen und Wesensgesetze in der deskriptiven Eidetik Edmund Husserls, in: Phänomenologische Forschungen 2007 (2008), S. 5–37 – Essences et lois d’essence dans l’eidétique descriptive de Edmund Husserl, in: Methodos 9 (2009) (En ligne/on-line) – Eidetik, Eidetische Variation, Eidos, Ideation, Kategoriale Anschauung, Typus, Wesensgesetz, in: H.-H. Gander (Hg.), Husserl-Lexikon, Darmstadt 2010a, S. 63–65, 65–69, 69–75, 144–147, 164–168, 287–291, 313–317 – The Universal as ›What is in Common‹: Comments on the Proton-Pseudos in Husserl’s Doctrine of the Intuition of Essence, in: C. Ierna, H. Jacobs, F. Mattens (Hg.), Philosophy, Phenomenology, Sciences: Essays in Commemoration of Edmund Husserl, Dordrecht 2010b, S. 525–557 – Eidetics and Its Methodology, in: S. Luft, S. Overgaard (Hg.), The Routledge Companion to Phenomenology, London 2012, S. 254–265 Staiti, Andrea: Systematische Überlegungen zu Husserls Einstellungslehre, in: Husserl Studies 25 (2009), S. 219–233 Taguchi, Shigeru: Reduction to Evidence and Its Liberating Function: Husserl’s Discovery of Reduction Reconsidered, in: Proceedings of the 41st Annual Meeting of the Husserl Circle, The New School for Social Research, New York (2010), http://www.husserlcircle.org/HC_NYC_Proceedings.pdf, S. 144–155 Van Cleve, James: Foundationalism, Epistemic Principles, and the Cartesian Circle, in: The Philosophical Review 88 (1979), S. 55–91
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– Christian Beyer –
Einfühlung und das Verstehen einer Person Keine noch so weitgehende Kausalforschung kann das Verständnis verbessern, das wir haben, wenn wir die Motivation einer Person verstanden haben.1
In diesem Zitat aus dem zweiten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen II) deutet sich an, welch immense Bedeutung Husserl dem Verstehen einer Person beimisst. Der Begriff des Personenverstehens wird im dritten Abschnitt dieses Bandes eingeführt, den Husserl Mitte der 1920er Jahre zur (am Ende nicht realisierten) Veröffentlichung überarbeitet hat, wobei er auf Vorarbeiten seiner Assistentin Edith Stein aus den Jahren 1918/19 zurückgreifen konnte.2 Dieser Begriff wirft nicht nur Licht auf Husserls Konzeption der individuellen bzw. kommunikativen Umwelt (die u. a. Heidegger beeinflusst hat). Er spielt auch – damit zusammenhängend – eine wichtige Rolle in Husserls Ethik, wie sie sich insbesondere in seinen 2004 erschienenen Ethikvorlesungen aus den Jahren 1920/24 manifestiert. Diese Vorlesungen stehen in einem engen sachlichen und entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit den Ideen II. Im Anschluss an eine kurze (und unkritische) Wiedergabe des zentralen Gedankens dieser Vorlesungen (Abschnitt 1) skizziere ich den Zusammenhang zwischen Personenverstehen und Umwelt bei Husserl (Abschnitt 2). Schließlich gehe ich auf ein paar wichtige Eigentümlichkeiten und Besonderheiten von Husserls einfühlungsbasierter Konzeption des Verstehens einer Person ein, die auch im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Debatte um die Zuschreibung mentaler Zustände in der Kognitionswissenschaft und Philosophie des Geistes interessant sind (Abschnitt 3).
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§ 1. Husserls Ethik In den besagten Ethikvorlesungen rühmt Husserl Immanuel Kant ob seiner Kritik an sensualistischen Konzeptionen vollwertiger (moralischer) Personen, wonach diese im Wesentlichen durch passive Gefühlsaffekte motiviert werden; demgegenüber habe Kant die Einsicht gewonnen, dass es sich bei solchen Personen um freie, selbstverantwortliche Akteure handelt.3 Dennoch lehnt Husserl Kants Ethik ab. Er hält sie für »formalistisch«,4 da sie die motivierende, rechtfertigende Funktion vernachlässige, die »aktive« Gefühle hinsichtlich der Werturteile und des Willens einer Person ausüben. In Husserls Augen teilt Kant mit den Sensualisten das Vorurteil, dass es sich bei Gefühlen durchweg um arationale, passive Affektionen handelt.5 Husserl zufolge wird jeder Wille durch eine emotionale Wertung motiviert, die sich zu einer passiven Gefühlsaffektion ähnlich verhält wie ein vollwertiger Wahrnehmungsakt zu dem ihm zugrunde liegenden Sinneseindruck. Emotionale Wertungen sind nichts anderes als veridische oder nicht-veridische und, im veridischen Falle, mehr oder weniger adäquate Wahrnehmungen (der Instantiierung) von Werten.6 Diese Wertungen (auch: »Wertnehmungen«) können deshalb veridisch sein und mithin der Rechtfertigung objektiv gültiger Werturteile dienen, weil ihre objektiven Korrelate, sprich: die entsprechenden Werte, einer idealen (aber dennoch intersubjektiv konstituierten; siehe unten) Welt angehören, Diltheys »geistiger Welt«.7 Die fraglichen Werte stehen in hierarchischen Beziehungen zueinander, welche den idealen Gesetzen der »formalen Axiologie« unterliegen. Daher ermöglichen Wertwahrnehmungen in Gestalt emotionaler Wertungen, contra Kant, sehr wohl apriorische Erkenntnisse. (In diesem Punkte ist Husserl nach eigenem Bekunden von Franz Brentano beeinflusst.) Und solche Erkenntnisse bestimmen ihrerseits den guten Willen. Dieser orientiert sich nämlich an den ranghöchsten Werten, welche das Willenssubjekt a priori und auf der Basis emotionaler Wertungen anzuerkennen und im Lichte seiner individuellen Vermögen und umweltlichen Gegebenheiten auch umzusetzen imstande ist. Husserls (gleichfalls Brentano-inspirierter) »kategorischer Imperativ« lautet:8 256 | christian beyer
Handle stets so, daß dein Tun möglichst optimal zur Verwirklichung des Besten (Wertvollsten) beiträgt, von dem du zu erkennen vermagst, daß du es in deinem Leben vor dem Hintergrund deiner individuellen Fähigkeiten (Vermögen) und deiner Umwelt erreichen kannst.
Dieses Prinzip soll den ultimativen Maßstab moralischer (und sonstiger rationaler) Bewertung von Akteuren abgeben. Im Rahmen von Husserls Ethik lässt sich hieraus folgendes ableiten. Moralische Bewertungen (Werturteile) haben sich nicht nur an idealen formalaxiologischen Gesetzen (z. B. »Das Bessere ist der Feind des Guten«) und Werthierarchien (wonach z. B. Gerechtigkeit der oberste moralische Wert ist) zu orientieren. Sie haben darüber hinaus auch das Motivationssystem und insonderheit die persönlichen Gefühlsmotive des moralisch zu bewertenden Akteurs zu berücksichtigen – und diese Motive auf der Folie seiner individuellen Vermögen und dem, was Husserl seine »Umwelt« nennt, zu evaluieren. Um solche Bewertungen vorzunehmen, müssen wir erstens Zugang finden zu den persönlichen und insbesondere den emotionalen Motiven, der Umwelt und den Vermögen des betreffenden Subjekts. Zweitens müssen wir diese Motive im Lichte der Idee des besten (wertvollsten) Lebens bewerten, welches das Subjekt in Anbetracht seiner Umwelt und seiner individuellen Fähigkeiten zu führen imstande ist. Der erste Schritt umfasst das, was Husserl in den Ideen II als »Verstehen (der Motivation) einer Person« bezeichnet.
§ 2. Personenverstehen und Umwelt Der dritte Abschnitt der Ideen II, in dem dieser Begriff eingeführt wird, trägt die Überschrift »Die Konstitution der geistigen Welt«. Was ist damit gemeint? Husserl bezeichnet die Phänomenologie auch als Konstitutionsforschung. Wenn der Phänomenologe der Konstitution von etwas nachspürt, dann sucht er nach einer vorurteilslosen, möglichst einsichtigen und gegen vernünftigen Zweifel gesicherten Begründung einer entsprechenden (zunächst und zumeist für selbstverständlich genommenen) Existenzvoraussetzung aus der Perspektive der Ersten Person Singular. Diese Begründung Einfühlung und das Verstehen einer Person | 257
soll Licht auf die rationale Struktur werfen, die der fraglichen Voraussetzung faktisch zugrunde liegt, und damit zugleich auf den »Sinn«, welchen das darin Vorausgesetzte für das jeweilige Subjekt besitzt. (Dieser Sinn bestimmt die Struktur seiner Umwelt; siehe unten.) Zur phänomenologischen Begründung der Annahme einer Welt, die ideale Werte involviert, fragt Husserl nun im fraglichen Abschnitt nach der rationalen Struktur, die der Art und Weise zugrunde liegt, wie uns (d. h. jedem von uns für sich) die Welt in der »personalistischen Einstellung« erscheint bzw. bewusst ist; diese Erscheinungsweise schließt Husserl zufolge auch dergleichen wie Wertbewusstsein ein.9 Ganz anders [sc. als die naturalistische Einstellung; C.B.] ist die personalistische Einstellung, in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im Gruße die Hände reichen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind; desgleichen in der wir sind, wenn wir die uns umgebenden Dinge eben als unsere Umgebung und nicht wie in der Naturwissenschaft als ›objektive‹ Natur ansehen.
In letzter Analyse betrachtet Husserl die personalistische Einstellung der naturalistischen gegenüber, was die Konstitutionsverhältnisse anbelangt, als grundlegender. Die objektive Natur bleibt ihrem Sinn nach zurückbezogen auf die »personalistische Welt« des Geistigen, »unsere Umgebung« oder, wie Husserl auch sagt, »Umwelt«; erst »durch eine Abstraktion«, die mit »eine[r] Art Selbstvergessenheit des personalen Ich« einhergeht, entsteht der Schein, als sei die objektiv bestimmbare Natur dieser personalen Umwelt gegenüber etwas Selbstständiges.10 Der Sache nach findet sich einer, wenn nicht der zentrale Gedanke von Husserls letztem Werk, der Krisis-Schrift, somit schon in den Ideen II. In der personalistischen Einstellung begegnen uns die Dinge unter Aspekten, die von unserer jeweiligen erstpersonalen Perspektive abhängen. Dazu gehören jene egozentrischen (d. h. auf das jeweilige Subjekt als »Orientierungszentrum« bezogenen) Aspekte, die sich sprachlich durch die Äußerung »wesentlich okkasioneller«, also indexikalischer Ausdrücke wie z. B. »ich«, »hier«, »oben«, »rechts«, »gestern«, »dies« artikulieren lassen, sowie diverse »motivationale« 258 | christian beyer
Aspekte. Der Begriff der Motivation spielt in Husserls phänomenologischer Umweltanalyse eine Schlüsselrolle. Die jeweilige Umwelt besitzt insofern »Sinn« für uns, als ihre Strukturelemente, die uns umgebenden Dinge, Motivationskraft auf uns ausüben. Husserl erklärt die Anwendung des Motivationsbegriffs wie folgt:11 [W]ie komme ich darauf, was hat mich dazu gebracht? Daß man so fragen kann, charakterisiert alle Motivation überhaupt. [D]ie physiologischen Prozesse in den Sinnesorganen, in Nervenund Ganglienzellen motivieren mich nicht, wenn sie das Auftreten von […] psychischen Erlebnissen in meinem Bewußtsein psychophysisch bedingen. Was ich nicht ›weiß‹ […], ›bestimmt‹ mich nicht geistig. Und was nicht in meinen Erlebnissen, sei es auch unbeachtet oder implizite intentional beschlossen ist, motiviert mich nicht, auch nicht in unbewußter Weise.
Die Dinge, welche motivierend auf uns einwirken, verdanken demnach den »Sinn«, der ihnen diese Motivationskraft verleiht, bestimmten Formen des intentionalen Bewusstseins. Das folgende Beispiel von Kristana Arp ist geeignet, diesen Punkt zu illustrieren:12 I am walking on a […] path in the woods and up ahead of me is a fairly large rock that is embedded in the dirt. Most likely I will walk up, step over the rock and continue on my way without thinking about it at all. […] To apply Husserl’s concept of motivation in this context, the presence of the rock in the path, instead of motivating a specific explicit interest in it, simply motivates me to step over it. […] [T]he motivation exercised on me by the rock is related to the motivation exercised on me by the path. The rock has the meaning for me of something to be stepped over because it is in the middle of the path. It would not have this significance in the middle of a field or meadow.
Die Motivation des Subjekts, über den Stein zu treten, rührt von seinem Willen her, den Weg entlang zu gehen, etwa, um einen Zielort zu erreichen oder um sich sportlich zu betätigen – eine intentionale Aktivität, die ihrerseits als Mittel zu einem Zweck dienen dürfte, der durch den Willen des Subjekts bestimmt ist. Wie Husserl in den genannten Ethikvorlesungen beobachtet, ist der Wille Einfühlung und das Verstehen einer Person | 259
eines freien Akteurs immer schon in einen holistischen »Willenszusammenhang« eingebettet, welcher den offenen »Zukunftshorizont« eines »volle[n] individuelle[n] Leben[s]« vorzeichnet, das der Akteur gegenwärtig zu führen sich imstande sieht.13 Darin liegt: Selbst der motivierende »Reiz« (um die Terminologie der Ideen II zu übernehmen), den ein im Wege liegender Stein auf einen Akteur ausübt (wenn dieser den Fuß hebt, um darüber zu steigen), lässt sich, bei Lichte besehen, rational auf das individuelle Leben des Akteurs zurückführen. Und wie Husserls Gebrauch des phänomenologischen Terminus’ »Zukunftshorizont« anzeigt, konstituiert sich dieses Leben im Rahmen einer zeitübergreifenden Struktur intentionalen Bewusstseins. In den Ideen II betont Husserl denn auch, dass ein intentionaler Bewusstseinsgehalt, ein »Noema«, im Spiel ist, sobald sich jemand »zu einem Objekt verhält«, das ihn »reizt«; das Objekt ist dann »immanent« (sprich: im Bewusstsein des Akteurs) entsprechend »konstituiert«, etwa als Hindernis, das ihm im Wege liegt.14 Es wird anschließend auffassbar als potentielles Hindernis, besitzt also fortan eine neuen »Sinn« für das fragliche Subjekt. Als aktuelles Hindernis aufgefasst, evoziert der Stein aufseiten des Akteurs negative Gefühle. In einem anderen (Willens-)Zusammenhang mag der Stein jedoch als nützliches Werkzeug gelten oder als hübsch geformtes Objekt oder als Gegenstand theoretischen Interesses. In derartigen Fällen wird er positive Gefühle hervorrufen. Ob die evozierten Gefühle positiv oder negativ sind, hängt davon ab, worin der Wille des Akteurs besteht und ob er den Stein als Mittel zur Ver wirklichung dieses Willens ansieht. Husserl zufolge stehen diese Gefühle daher in rationalen Beziehungen zum Willen des Akteurs. Aus diesem Grunde sind sie geeignet, Werturteile des Akteurs vernünftig zu motivieren. Wir haben es, anders gesagt, mit emotionalen Wertungen zu tun. In den gerade skizzierten Beispielen evaluieren die so motivierten Urteile Objekte, die (fortan) zur persönlichen Umwelt des betreffenden Akteurs gehören (und zwar unter Aspekten, unter denen sie sich dieser Umwelt nunmehr als Strukturelemente einordnen). Husserl zufolge tragen die diesen Bewertungen motivational zugrunde liegenden emotionalen Wertungen wesentlich zur Konstitution der persönlichen Umwelt des jeweiligen Subjekts bei:15 260 | christian beyer
Zunächst ist die Welt einem Kerne nach sinnlich erscheinende und als ›vorhanden‹ charakterisierte Welt. […] Auf diese Erfahrungswelt findet das Ich sich in neuen Akten bezogen, z. B. in wertenden Akten, in Akten des Gefallens und Mißfallens. In ihnen ist der Gegenstand als werter, als angenehmer, schöner usw. bewußt. […] [Im Falle] begehrender und praktischer Akte [reizen] die erfahrenen Gegenstände als Gegenstände dieses Erfahrungssinnes […] mein Begehren, oder sie erfüllen Bedürfnisse, etwa [in Beziehung] auf das sich öfter wieder regende Nahrungsbedürfnis. Sie werden nachher auffaßbar als zur Befriedigung solcher Bedürfnisse gemäß der oder jener Eigenschaft dienlich, sie stehen dann auffassungsmäßig da als Nahrungsmittel, als Nutzobjekte irgendwelcher Art: Heizmaterialien, Hacken, Hämmer usw. Kohle z. B. sehe ich als Heizmaterial; ich erkenne es und erkenne es als dienlich und dienend zum Heizen, als dazu geeignet und dazu bestimmt Wärme zu erzeugen. […] Ich kann [den brennbaren Gegenstand] als Brennmaterial benutzen, […] er ist mir wert mit Beziehung darauf, daß ich Erwärmung eines Raumes und dadurch angenehme Wärmeempfindungen für mich und andere erzeugen kann. Unter diesem Gesichtspunkt fasse ich ihn auf: ich ›kann ihn dazu benützen‹, er ist mir dazu Nützliches; auch andere fassen ihn so auf, und er erhält einen intersubjektiven Nutzwert, ist im sozialen Verbande geschätzt und schätzenswert als so Dienliches, als den Menschen Nützliches usw. So wird er nun unmittelbar ›angesehen‹ […].
Nur im Vorbeigehen sei bemerkt, dass Heidegger genau diese Konstitutionsanalyse aus § 50 der Ideen II in den »Umweltparagraphen« (§§ 15–18) von Sein und Zeit auf den Kopf zu stellen versucht – freilich mit wenig überzeugenden Argumenten16 und bei näherer Betrachtung wohl auch bloß nominell. Weitgehend ausgeblendet bleibt bei Heidegger allerdings die am Ende des Zitats herausgestellte soziale Dimension der Umweltkonstitution. Husserl beschreibt hier, wie das Bewusstsein intersubjektiver Übereinstimmung in Form geteilter emotionaler Wertungen zur Erweiterung der persönlichen Umwelt eines Einzelsubjekts beiträgt, so zwar, dass diese Umwelt nun den Sinn einer sozial geprägten, gemeinsamen Umgebung annimmt, die mit Objekten ausgestattet ist, denen intersubjektiv geteilte Werte zukommen – im vorliegenden Falle: Einfühlung und das Verstehen einer Person | 261
gemeinsame Gebrauchs- oder Nutzwerte. Diese Werte bestimmen die »geistige Bedeutung« der fraglichen Objekte.17 Im nachfolgenden Paragraphen 51 (Überschrift: »Die Person im Personenverband«) werden diese Beobachtungen verallgemeinert. Husserl behauptet, dass die soziale Umwelt strukturell von Personen abhängt, die in der Lage sind, miteinander zu »kommunizieren«, d. h. dadurch aufeinander »motivierende Kraft« zu üben, dass sie »Akte in der Absicht [vollziehen], von ihrem Gegenüber verstanden zu werden und es in seinem verstehenden Erfassen dieser Akte (als in solcher Absicht geäußerter) zu gewissen persönlichen Verhaltungsweisen zu bestimmen«.18 Husserl bezeichnet solche sprachlichen Handlungen, mit einem Terminus seines Göttinger Meisterschülers Adolf Reinach, auch als soziale Akte.19 Gelingt ein derartiger Akt, dann bilden sich, so Husserl, intersubjektive »Beziehungen des Einverständnisses«:20 [A]uf die Rede folgt Antwort, auf die theoretische, wertende, praktische Zumutung, die der Eine dem Anderen macht, folgt die gleichsam antwortende Rückwendung, die Zustimmung (das Einverstanden) oder Ablehnung (das Nicht-einverstanden), ev. ein Gegenvorschlag usw. In diesen Beziehungen des Einverständnisses ist eine bewußtseinsmäßige Wechselbeziehung der Personen und zugleich eine einheitliche Beziehung derselben zur gemeinsamen Umwelt hergestellt […] Die sich im Einverständnis konstituierende Umwelt bezeichnen wir als kommunikative.
In späteren Schriften Husserls, namentlich den Kaizo-Artikeln und der Krisis-Schrift, firmiert die kommunikative Umwelt unter den Bezeichnungen »Kultur« resp. »Lebenswelt (eines Verkehrskreises)«. Dass diese Umwelt ihr je eigenes Gepräge nicht zuletzt sprachlichen Handlungen innerhalb einer sozialen Gruppe verdankt, wird wohl nirgends so deutlich ausgesprochen wie in den Ideen II.
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§ 3. Einfühlung und Personenverstehen Was hat all das nun mit Personenverstehen zu tun? Die Antwort ist denkbar einfach: Ohne solches Verstehen wäre wechselseitiges Einverständnis und (in weiterer Folge) so etwas wie geistig-kulturelle Einheit innerhalb einer sozialen Gruppe unmöglich; Personenverstehen ist notwendig, wenn auch nicht hinreichend, für den erfolgreichen Vollzug eines sozialen Aktes. Husserl schreibt:21 Die Akte der sozialen Wechselbeziehung sind […] unter den Akten des einseitigen Hineinverstehens in fremdes Ichleben besonders ausgezeichnet. Es genügt nicht, daß die Anderen als Personen verstanden werden […]; dabei brauchte kein Einverständnis mit den Anderen zu bestehen. Aber darauf gerade kommt es an. Die Sozialität konstituiert sich durch die spezifisch sozialen, kommunikativen Akte, Akte in denen sich das Ich an Andere wendet, und dem Ich diese Anderen auch bewußt sind als die, an welche es sich wendet, und welche ferner diese Wendung verstehen, sich ev. […] zurückwenden […] usw. Diese Akte sind es, die zwischen Personen, die schon voneinander ›wissen‹, eine höhere Bewußtseinseinheit herstellen, in diese die umgebende Dingwelt als gemeinsame Umwelt der stellungnehmenden Personen einbeziehen; und auch die physische Welt in dieser apperzeptiven Einbezogenheit hat sozialen Charakter, sie ist Welt, die geistige Bedeutung hat.
Dieses Zitat verdeutlicht, dass Husserl das Verstehen einer Person als solcher allemal als einen Fall von Einfühlung (»Hineinverstehen«) auffasst. Wenngleich er für das Vorliegen solchen Verstehens keine Wechselseitigkeit fordert, scheint er mir die Zugehörigkeit zu einer »kommunikativen Gemeinschaft« (die ihre Konstitution, wie gehört, ihrerseits Akten des wechselseitigen Verstehens verdankt) als unabdingbare Voraussetzung für die Fähigkeit zu betrachten, sich in eine Person umfassend einzufühlen:22 In der kommunikativen Gemeinschaft […] erfahren [wir] dieselben Dinge und Vorgänge, wir erfahren die uns gegenüberstehenden Tiere und Menschen, sehen ihnen dasselbe Innenleben an usw. Und doch hat jeder seine ihm ausschließlich eigenen Erscheinungen, jeder die ihm ausschließlich eigenen Erlebnisse. Diese erfährt nur er in ihrer Einfühlung und das Verstehen einer Person | 263
leibhaften Selbstheit, ganz originär. In gewisser Weise erfahre ich […] auch die Erlebnisse des Anderen: sofern die mit der originären Erfahrung des Leibes in eins vollzogene Einfühlung (comprehensio) zwar eine Art Vergegenwärtigung ist, aber doch den Charakter des leibhaften Mitdaseins begründet. Insofern haben wir also Erfahrung, Wahrnehmung. Aber dieses Mitdasein (›Appräsenz‹ […]) ist prinzipiell nicht zu verwandeln in unmittelbares originäres Dasein (Urpräsenz). Das Eigentümliche der Einfühlung ist es, daß sie auf ein solches originäres Leib-Geist-Bewußtsein verweist, aber als ein solches, das ich selbst nicht originär vollziehen kann, ich, der ich nicht der Andere bin und nur als verständigendes Analogon für ihn fungiere.
Diese Passage enthält Husserls Konzeption der Einfühlung in nuce. Nach dieser Konzeption handelt es sich bei der Einfühlung (den Terminus übernimmt Husserl von Theodor Lipps) um eine »empirische Erfahrung« sui generis.23 Wie die bewusste Wahrnehmung involviert sie ein Moment der »Appräsenz« oder, vom intentionalen Objekt her gesprochen, des »Mitdaseins«: Ebenso wie wir von einem Haus, das wir frontal als solches wahrnehmen, immer schon erwarten, dass es eine Rückseite und einen Innenraum aufweist (Rückseite und Innenraum sind »appräsentativ« gegeben), nehmen wir von einer Person, die wir in der Einfühlung als ein Subjekt erfahren, das gerade ein Erlebnis hat, automatisch an, dass sie dieses Erlebnis aus ihrer erstpersonalen Perspektive heraus unmittelbar (in seiner »Urpräsenz«) erlebt. Doch anders als bei der Wahrnehmung ist im Falle der Einfühlung die »anschauliche Erfüllung« des so »Appräsentierten« ausgeschlossen; die Einfühlung ist keine »originäre«, keine authentische Erfahrung (Anschauung) des eingefühlten Erlebnisses, sondern lediglich eine »Vergegenwärtigung« desselben.24 In dieser Beziehung ähnelt sie weniger der Wahrnehmung, als vielmehr der Wiedererinnerung oder der (bloßen) Phantasievorstellung. Anders als die Rückseite und das Innere eines wahrgenommenen Hauses ist das Bewusstsein des Anderen für das einfühlende Subjekt nämlich prinzipiell nicht wahrnehmbar.25 Daraus, dass wir in der Einfühlung anderen »appräsentativ« Erlebnisse zuschreiben, folgt, dass wir in diesen Fällen keinen Schluss auf das Vorliegen von Bewusstsein ziehen, auch keinen Analogieschluss. In dieser Hinsicht ist die Einfühlung ein genauso unmittel264 | christian beyer
bares Erlebnis ihres intentionalen Gegenstandes wie die Wahrnehmung. (Auch hier findet kein Schluss von der in die gegenwärtige Anschauung fallenden Seite des intentionalen Objekts auf dessen »mitdaseinende«, stillschweigend hinzugedachten Seiten bzw. Aspekte statt.) Im Falle der Einfühlung einer (bewussten) Wahrnehmung verdankt sich diese Direktheit einem durch implizite Erwartungen (Antizipationen) des einfühlenden Subjekts, welche sich automatisch aus dem intentionalen Gehalt der Einfühlung ergeben, vorgezeichneten Horizont künftiger einfühlungsmäßiger Erfahrungen. Diese Erwartungen laufen darauf hinaus, dass ein Wesen, das uns in Aussehen und Verhalten mehr oder weniger ähnelt, seine Umwelt ebenfalls unter den uns vertrauten egozentrischen Aspekten wahrnimmt, dergestalt dass uns die Dinge seiner Umgebung »im großen und ganzen« (Husserl) unter denselben Aspekten erscheinen würden wie ihm, wenn wir uns in seiner Wahrnehmungssituation befänden. In diesem Sinne fungiert das einfühlende Subjekt hier als »verständigendes Analogon«, wie Husserl es im vorstehenden Zitat ausdrückt. Es findet (in der Terminologie der Cartesianischen Meditationen gesprochen) von vornherein eine »Paarung« zwischen dem einfühlenden Subjekt und dem Anderen statt (genauer: zwischen ihren Leibern, auf die ihre jeweiligen egozentrischen Begriffe bezogen sind). Die Suche nach Gemeinsamkeiten mittels analogischer (und sonstiger) Schlüsse erübrigt sich dadurch. Wir haben es vielmehr mit einer instantanen Reproduktion des eingefühlten Erlebnisses zu tun, einer Art adaptierter Selbstprojektion des einfühlenden Subjekts, welches dabei freilich keineswegs seine momentane egozentrische Perspektive auf die ihn umgebenden Dinge aufgibt. Der zuletzt genannte Aspekt unterscheidet Husserls Einfühlungskonzeption von Ansätzen, wonach wir eruieren, was wir in der Situation des Anderen selber fühlen oder erleben würden, indem wir uns in der Phantasie mit dem Anderen identifizieren, indem wir also eine »imaginative Identifikation« vollziehen. Diese letztere Auffassung weist starke Gemeinsamkeiten mit Adam Smiths Konzeption der Sympathie auf,26 findet sich auch bei Theodor Lipps und wird heute von Robert Gordon vertreten. Ihr zufolge identifizieren wir uns in solchen Fällen in gleicher Weise mit dem Anderen wie ein Schauspieler mit der von ihm dargestellten Figur, wenn er »eins wird« mit seiner Rolle. Einfühlung und das Verstehen einer Person | 265
Was die Einfühlung betrifft, so weist Husserl diese Charakterisierung klarerweise zurück. In einer Vorlesung aus dem Winter 1910/11 versichert er:27 […] wenn ich dem Du einen Zorn einfühle, bin ich nicht selber zornig, nicht im mindestens.28
Im Zuge der Einfühlung fassen wir die Erlebnisse des Anderen als Komponenten einer inseparablen geistig-körperlichen Einheit auf, die sich uns, so Husserl, in ähnlicher Weise präsentiert wie die sinnvollen Sätze oder Satzfolgen eines Textes, den wir mit Verständnis lesen.29 Husserls Göttinger Meisterschülerin, Edith Stein, formuliert diesen Sachverhalt in ihrer zeitgleich mit den Ideen II entstandenen und von Husserl betreuten Dissertation Zum Problem der Einfühlung (dem besten Buch zum Thema, das ich kenne) folgendermaßen: In der (bewussten) Einfühlung betrachten wir das physische Verhalten des Anderen, z. B. eine traurige Miene, als »Außenseite« einer »natürlichen Einheit«, deren »Innenseite« das eingefühlte Erlebnis bildet.30 Die Analogie zum unmittelbaren Verstehen eines sinnvollen Satzes verdeutlicht die folgende Überlegung Steins:31 [W]ie verhalten sich Trauer und traurige Miene einerseits, Feuer und Rauch andrerseits? Beide Fälle haben etwas Gemeinsames: ein Objekt äußerer Wahrnehmung führt auf etwas, das nicht in gleicher Weise wahrgenommen ist, hin. Dennoch liegt eine andere Art der Gegebenheit vor. Der Rauch, der mir Feuer anzeigt, ist mein ›Thema‹; Objekt meiner aktuellen Zuwendung und weckt in mir Tendenzen des Fortschreitens in einem weiteren Zusammenhange. […] Das ›Mitgegebensein‹ der Trauer in der traurigen Miene ist ein anderes: die traurige Miene ist eigentlich gar nicht ein Thema, das zu einem andern überleitet, sondern eins mit der Trauer, aber so, daß sie selbst ganz in den Hintergrund treten kann.
Eine auch für die neuere Debatte über Einfühlung interessante Besonderheit der Husserlschen Konzeption besteht darin, dass ihr zufolge bei der Einfühlung ein Element der analogischen Auffassung beteiligt ist. Wenn dieses Element nun aber, wie Husserl und auch Stein32 insistieren, nicht mit einem Analogieschluss zu verwechseln ist, auf welche Weise lässt es sich dann charakterisieren? Und wie 266 | christian beyer
soll es uns ermöglichen, die Motivation einer anderen Person, einschließlich ihrer Gefühlsmotive, zu verstehen? Husserl geht von der Beobachtung aus, dass wir uns hinsichtlich der Frage, »was für ein persönliches Subjekt« wir sind, im Verlauf unserer individuellen Entwicklung nach und nach immer besser kennenlernen, insbesondere, wenn wir von Zeit zu Zeit einen Schritt zurücktreten und darauf reflektieren, wie wir uns »unter verschiedenen subjektiven Umständen […] ›verhalte[n]‹« und durch »die offenen und verborgenen Intentionalitäten der Motivation […] motiviert zu sein pflege[n]«.33 Derlei reflektive Selbsterfahrung, in der sich eine Person als Individuum konstituiert, gibt Aufschluß über unsere »›persönlichen Eigenheiten‹ oder Charaktereigenschaften«.34 Husserl behauptet, dass diese Eigenschaften einer Person ihr selbst primär mit Blick auf ihre Umwelt, etwa die im Laufe ihres Lebens konstituierten »Wertsachen«,35 manifest werden. Das in Rede stehende reflektiv-erfahrungsmäßige Bewusstsein bezüglich meiner selbst als Person betrifft, wie Husserl in § 59 der Ideen II betont, »meine Eigenart«, »meine individuellen Wertungen, meine Weise des Bevorzugens, meine Versuchungen, meine Kräfte des Überwindens gegenüber gewissen Gruppen von Versuchungen, gegen die ich gefeit bin«, meine »ethische[n] Zielsetzungen«, »aber innerhalb der Normalität, speziell der Normalität der Jugend, des Alters etc.«.36 Nicht zufällig erwähnt Husserl individuelle »Versuchungen« und darauf bezogene »Kräfte des Überwindens« in § 59, der den Titel trägt: »Das Ich als Subjekt der Vermögen«. Die persönlichen Fähigkeiten, die Husserl hier im Sinn hat, betreffen nämlich nicht zuletzt dasjenige, was uns als Wesen, die einer Versuchung oder einem »Trieb« zu widerstehen in der Lage sind, von (in dieser Hinsicht) passiven, rein instinktgesteuerten Wesen unterscheidet:37 Das personale Ich konstituiert sich […] nicht nur als triebhaft bestimmte Persönlichkeit […], sondern auch als höheres, autonomes, freitätiges, insbesondere von Vernunftmotiven geleitetes […] Ich. Gewohnheiten müssen sich ausbilden sowohl für das ursprünglich instinktive Verhalten […] als für freies Verhalten. Einem Triebe nachgeben begründet die Gewohnheit des Nachgebens: gewohnheitsmäßig. Ebenso: sich durch ein Wertmotiv bestimmen lassen und einem Triebe widerstehen begründet eine Tendenz (einen Einfühlung und das Verstehen einer Person | 267
›Trieb‹), sich wieder durch solch ein Wertmotiv […] bestimmen zu lassen und einem solchen Triebe zu widerstehen.
Gewohnheit und Freiheit, deren Ausübung auf vernünftigen Wertmotiven basiert, stehen somit nach Husserls Auffassung nicht per se in Opposition zueinander. (Ganz im Gegenteil; vgl. Hua XXVII, 63, Stichwort: Freiheit als Habitus kritischer Stellungnahmen.) Es gibt Gewohnheiten, in Hinblick auf welche wir uns jeweils selbst als freies, selbstverantwortliches Subjekt erfahren, das seinen eigenen Stil der Ausübung persönlicher Freiheit zeigt, indem es etwa eigene trieb- oder instinktgeleitete Wünsche und Versuchungen suspendiert oder sie »›billigt‹, […] zur Reizaufforderung als Forderung zum Nachgeben ja [sagt] und […] praktisch sein fiat [gibt]«38 – also eine Bewertung zweiter Stufe vollzieht, die dafür sorgt, dass der fragliche »Wille selbst Willensobjekt« wird.39 So bildet sich ein Selbstbild des Subjekts als eines selbstverantwortlichen Wesens heraus, sein persönlicher »Selbstbegriff« (um einen Terminus von John Perry zu adaptieren). Auf solche Selbstbegriffe greifen wir beim Personenverstehen zurück, wie noch hinreichend deutlich werden wird. Die vorstehende Passage aus § 59 zeigt, dass die wesentliche Differenz zwischen personalen Subjekten und instinktgesteuerten Animalien Husserl zufolge in der Fähigkeit der ersteren liegt, ihren Willen aufgrund rationaler Selbstreflexion hinsichtlich der eigenen Motive, besonders der eigenen »Wertmotive«, in eine (andere) Richtung zu lenken.40 In § 60 ergänzt Husserl, dass die entsprechenden rationalen Entscheidungen eines personalen Subjekts ihrerseits u. a. nach Maßgabe von »Gesetzen[n] der Motivationskraft und der personalen Werte« evaluierbar sind. Erläuternd fügt er hinzu:41 Den höchsten Wert repräsentiert die Person, die habituell dem echten, wahren, gültigen, freien Entschließen höchste Motivationskraft verleiht.
Diese Konzeption rationaler Personen harmoniert natürlich gut mit Husserls eingangs skizzierter Ethik. Mehr noch: Sie scheint unmittelbar in diese Ethik hineinzureichen, et vice versa. Husserl zufolge unterscheidet sich nun ein individuelles personales Subjekt als solches von anderen Personen kraft seines 268 | christian beyer
»Gesamtstil[s] und Habitus[’]«, einschließlich eines »gewissen durchgängigen einheitlichen Stil[s] […] in der Art, wie es sich urteilend, wollend entscheidet«.42 Dieser Stil ist eine Funktion der Gewohnheiten des Subjekts, sich durch Wertmotive bestimmen zu lassen; will sagen: durch emotionale Wertungen und gegebenenfalls durch dementsprechend motivierte explizite Werturteile, sprich: Bewertungen höherer Stufe, welche die volitionalen Motive (Willensbestimmungen) des Subjekts betreffen, bezüglich derer das freie, sich selbst bestimmende Subjekt »ja« oder »nein« sagt. Im ersteren Falle (»ja«) wird das entsprechende Motiv zu einer »Stellungnahme«, die vom eigenen »Ich ausgeht«, im Gegensatz zu einem »bloße[n] Reiz«, welcher dem Subjekt äußerlich ist; das Subjekt »eignet sich« das Willensmotiv »selbsttätig an«, internalisiert also den entsprechenden Wert.43 Mittels reflektiver Selbsterfahrung kann sich das Subjekt die relevanten Gewohnheiten der (zum Teil emotionalen) Selbstmotivation und den dadurch bedingten individuellen Gesamtstil bewusst machen und so einen expliziten persönlichen Selbstbegriff ausbilden. Dieser Selbstbegriff ist variabel; das personale Subjekt kann ihn sogar absichtlich verändern, indem es sich selbst neu definiert, seine persönlichen Werte und motivationalen Gewohnheiten infolge kritischer Selbstreflexion modifiziert. Persönliche Selbstbegriffe gehören zur Kategorie dessen, was Husserl andernorts, bezogen auf die Verwendung von Namen im persönlichen Idiolekt, »Eigenbegriffe« nennt.44 Dabei haben wir es gleichsam mit »mentalen Dateien« (Perry) zu tun, die angelegt werden, sobald ein einzelner Gegenstand sich empirisch zu konstituieren, also vom Subjekt erfahren und in entsprechend motivierten Urteilen prädikativ bestimmt zu werden beginnt; wobei die prädikativen Einträge der Datei im weiteren Erfahrungsverlauf jeweils aktualisiert (und bei Bedarf revidiert) werden. Die aktuelle Version eines Eigenbegriffs zeichnet laut Husserl einen intentionalen Horizont möglicher künftiger Erfahrungen vor, die für das Subjekt im Lichte der gegenwärtigen Einträge mehr oder weniger zu erwarten sind.45 Im Falle eines persönlichen Selbstbegriffs betrifft dieser Horizont die Weise, »wie die und die Motive auf mich wirken würden […], wie ich, als der ich bin, handeln würde und handeln könnte, urteilen, werten, wollen könnte und nicht könnte«.46 Einfühlung und das Verstehen einer Person | 269
Kehren wir vor diesem Hintergrund zum Personenverstehen durch Einfühlung zurück. Wenn sich individuelle personale Subjekte tatsächlich durch persönliche Selbstbegriffe und entsprechende Motivationssysteme auszeichnen, und zwar auf je eigene Weise, dann muss das einfühlende Subjekt die Möglichkeit besitzen, sich den persönlichen Selbstbegriff des zu verstehenden Subjekts (in relevanten Hinsichten) reproduktiv zu vergegenwärtigen. Andernfalls würde es uns die Einfühlung nämlich nicht erlauben, Interpretationsprobleme zu lösen, wie sie sich etwa in der zweiten These der folgenden »Antinomie« (Husserl) manifestieren:47 [I]ch kann mir vorstellen, ich vollzöge einen Mord, einen Diebstahl etc., und doch, ich kann mir nicht vorstellen, daß ich es täte.
Um diese Antinomie aufzulösen, bringt Husserl den Begriff eines Quasi-Motivs ins Spiel. Quasi-Motive sind die »Neutralitätsmodifikationen« echter intentionaler Motive.48 Es handelt sich, in neuerer, »simulationstheoretischer« Terminologie gesprochen, um »off-line« per Phantasievorstellung (»E-imagination«) vorgegebene (»pretend«) Motive.49 So fungiert z. B. die anschauliche Phantasievorstellung eines Flügelrosses als Quasi-Motiv für ein Quasi-Wahrnehmungsurteil, dem zufolge man mit einem Flügelross konfrontiert ist. Die Neutralitätsmodifikation einer Wahrnehmung »setzt« nicht wirklich ein existentes Objekt, auf das sie intentional bezogen wäre; sie geht mit keiner diesbezüglichen »Stellungnahme« des Subjekts einher. Sie wirft aber Licht auf eine Existenzmöglichkeit – im vorliegenden Falle auf die Möglichkeit, dass es geflügelte Pferde gibt. In analoger Weise wirft die Neutralitätsmodifikation eines praktischen Motivs, oder einer absichtlichen Handlung, Licht auf eine praktische Möglichkeit, dahingehend, dass das Subjekt des Quasi-Motivs vor dem Hintergrund seines persönlichen Selbstbegriffs und des durch dessen gegenwärtige Einträge vorgezeichneten intentionalen Horizonts etwas Bestimmtes »tun«, sich auf bestimmte Art »motivieren lassen« könnte.50 In diesem Sinne besagt die zweite These der obigen Antinomie, dass Husserl, als dasjenige personale Subjekt, das er ist, keinen Mord oder Diebstahl begehen könnte. Wie steht es indes mit der ersten These, der zufolge er sich sehr wohl vorstellen kann, er »vollzöge« eine solche Tat? Husserls eigene Paraphrase dieser These51 ist so, wie sie dasteht, unbefriedigend. Er 270 | christian beyer
reformuliert sie im Rekurs auf den Begriff der praktischen Möglichkeit, obwohl doch sein ursprünglicher Punkt gerade lautete, dass er angesichts seines persönlichen Selbstbegriffs der praktischen Möglichkeit ermangelt, einen Mord oder Diebstahl zu begehen. Den Schlüssel zur Lösung dieses Problems liefert Husserls Konzeption der »Analogisierung«, und zwar im Verein mit seiner Idee eines Quasi-Motivs. Er behauptet, dass uns die »Motivationen und Motivationskräfte« anderer »im nachverstehenden Erleben […] zur Gegebenheit kommen«.52 Der Terminus »nachverstehendes Erleben« deutet den Analogie-Charakter der Einfühlung an, den Husserl unterstellt. Während nämlich das Motivationssystem einer anderen Person zwangsläufig »allgemein-menschliche« Züge aufweist, die »ein Allgemeintypisches für das Ich in Affektion und Aktion« darstellen, zeigt es Husserl zufolge auch »individualtypische« Aspekte;53 und diese Aspekte kann das einfühlende Subjekt nicht ohne weiteres dadurch verstehen, dass es Quasi-Motive ausbildet, die Neutralitätsmodifikationen von Motiven sind, welche der eigene persönliche Selbstbegriff liefert:54 Ich kann im einzelnen nachverstehen, wie dieses Ich motiviert ist: z. B. er greift jetzt zur Tasse, weil er trinken will und das, weil er Durst hat. Das hat mit seiner Person im allgemeinen nichts zu tun; es ist ein Allgemein-Menschliches. Aber daß er z. B. die Tasse plötzlich absetzt, ehe er getrunken, weil er einem armen, in der Nähe stehenden Kinde Hunger und Durst ansieht, und daß er die Tasse dem Kinde reicht, das bekundet sein ›gutes Herz‹ und gehört zu seiner Persönlichkeit.
Das Erfassen persönlicher Motive, die in der Persönlichkeit bzw. dem Charakter des zu verstehenden Individuums begründet liegen, erfordert einen besonderen Verstehensmodus:55 »Der Mensch […] hat eine individuelle Art, jeder eine andere. […] [S]eine charakterologische Art, seine Persönlichkeit ist eine in seinem Lebensgang konstituierte Einheit als Subjekt der Stellungnahmen, […] und sofern man analoge Linien aus der Erfahrung an verschiedenen Menschen kennt, kann man […] die Einheit, die sich hier konstituiert, ›intuitiv‹ erfassen und darin einen Leitfaden Einfühlung und das Verstehen einer Person | 271
haben, die Intentionen durch Auseinanderlegung der wirklichen Zusammenhänge in der Anschauung zu erfüllen. […] Ich versetze mich in das andere Subjekt: durch Einfühlung erfasse ich, was ihn und wie stark […] motiviert. Und innerlich lerne ich verstehen […], was er vermag und nicht vermag. […] Ich gewinne diese Motivationen, indem ich mich in seine Situation, seine Bildungsstufe, seine Jugendentwicklung etc. hineinversetze, und im Hineinversetzen muß ich sie mitmachen; ich fühle mich nicht nur in sein Denken, Fühlen, Tun hinein, sondern muß ihm darin folgen, seine Motive werden zu meinen Quasi-Motiven, die aber im Modus der anschaulich sich erfüllenden Einfühlung einsichtig motivieren. Ich mache seine Versuchungen mit, ich mache seine Trugschlüsse mit, in dem ›mit‹ liegt ein innerliches Miterleben motivierender Faktoren, die ihre Notwendigkeit in sich tragen. Freilich bleiben da ungelöste und unlösliche Reste: die ursprüngliche Charakteranlage, die ich mir aber doch auch analogisch klar und verständlich machen kann. Ich bin vorwiegend phlegmatisch, aber gelegentlich werde ich angeregt zur Fröhlichkeit […], ev. nach Genuß von Reizmitteln […] Analog ist jener dort bleibend und vorwiegend zur Fröhlichkeit disponiert: er ist von vornherein so ähnlich, und ist es habituell wie ich nach Weingenuß.
Im ersten Absatz dieses Zitats beschreibt Husserl das mehr oder weniger dunkle »Vorauserfassen«56 der Persönlichkeit eines Subjekts, welches dann stattfindet, wenn wir den Charakter einer Person unmittelbar an ihrem Verhalten in einer relevanten Situation (wie z. B. der mit dem armen, durstigen Kind) ablesen. Solches Vorauserfassen (die »erste Stufe« der Einfühlung57) kann noch nicht als genuines, einsichtiges Verstehen gelten. Um dergleichen Verständnis zu erlangen, müssen wir uns vielmehr »in das andere Subjekt [versetzen]« und dessen Motivation anschaulich reproduzieren (zweite Einfühlungsstufe). Das ursprüngliche Vorauserfassen generiert einen Horizont diesbezüglicher Erwartungen, welche sich auf der zweiten Stufe des Verstehensprozesses anschaulich erfüllen (resp. enttäuschen) lassen. Husserl beschreibt diese zweite Stufe im dritten Absatz des Zitats, wobei er in dieser Beziehung ausdrücklich auf Quasi-Motive 272 | christian beyer
rekurriert. In einer ersten Phase muss sich das einfühlende Subjekt in das »Denken, Fühlen, Tun« des Anderen »hineinfühlen« und entsprechende Quasi-Motive ausbilden.58 Daran schließt sich eine Phase der bewussten »Simulation« (Goldman) an: Das einfühlende Subjekt muss dem Anderen in den off-line ausgebildeten Motiven »folgen«, muss sie »mitmachen«, um ihn genuin verstehen zu können. Eine plausible psychologische Hypothese lautet, dass die Quasi-Motive in dieser Phase denjenigen kognitiven Mechanismus durchlaufen, den Motive des fraglichen Typs (z. B. geeignete Paare aus Willensbestimmungen und Urteilen) auch dann zu durchlaufen pflegen, wenn sie nicht im Modus der Neutralitätsmodifkation vorliegen (etwa den für praktische Räsonnements zuständigen Mechanismus); das Resultat wäre dann beispielsweise eine QuasiEntscheidung, auf deren Basis das Subjekt dem Anderen in der dritten und letzten Einfühlungsphase eine (genuine) Entscheidung zuschreibt (vgl. ebd.). Diese abschließende Phase darf allerdings, folgt man Husserl und Stein, nicht mit einer Schlussfolgerung verwechselt werden (siehe oben). Quasi-Motive entstammen, wie gesehen, normalerweise dem intentionalen Horizont, den die gegenwärtigen Einträge des persönlichen Selbstbegriffs des jeweiligen Subjekts vorzeichnen. Am Ende des vorstehenden Zitats macht Husserl jedoch auf eine Schwierigkeit aufmerksam, die in diesem Zusammenhang auftritt und die obige Antinomie generiert. Diese Schwierigkeit rührt von der Tatsache her, dass die Motivationssysteme verschiedener Personen teilweise stark divergieren: Selbst infolge bewusster Einfühlung werden stets »ungelöste und unlösliche Reste« an Unverstandenem verbleiben, die ihren Grund in der anders gearteten »ursprünglichen Charakteranlage« der zu verstehenden Person haben. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, kann das einfühlende Subjekt auf seinen eigenen persönlichen Selbstbegriff zurückgreifen und sich mittels reproduktiver (naherhin: phantasiemäßiger) Analogiebildung die relevanten Aspekte des persönlichen Selbstbegriffs des Anderen anschaulich vergegenwärtigen. Husserls Beispiel mit dem Weingenuss soll illustrieren, wie derlei Analogisierung konkret vonstatten geht. Durch »quantitative Steigerung«59 der fröhlichen Stimmung, die Husserl nach einem Schoppen Badischen Weins zu verspüren pflegt, vermag er den Fall der ihm eigentlich unsympathiEinfühlung und das Verstehen einer Person | 273
schen Frohnatur »zu sich nach Hause zu bringen«, wie Adam Smith es ausdrücken würde. So gelingt es ihm mittels Analogisierung am Ende doch, Quasi-Motive bewusst (anschaulich) auszubilden, welche es ihm ermöglichen, die Motivation einer derart strukturierten Person »nachzuverstehen«. Entsprechendes wäre für das Verstehen der Gefühlsmotive eines fremden personalen Subjekts (und der damit verbundenen persönlichen Werte) auszuführen. Durch Analogisierung kann das einfühlende Subjekt die emotionalen Wertungen, welche der Andere in einer relevanten Situation vollziehen würde, im »Off-line«-Modus simulieren, obwohl es die entsprechenden Werte aufgrund seines »On-line«-Motivationssystems und -Selbstbegriffs nicht teilt – und folglich nicht mit dem Anderen zu sympathisieren vermag. Bewusste »Off-line«-Simulation mittels Analogisierung ermöglicht es ihm gleichwohl, die Motive des Anderen verstehend nachzuvollziehen. Keine noch so weitgehende Kausalforschung kann das auf diese Weise erlangte Verständnis verbessern.60
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Hua IV, § 56, 229. Vgl. Sommer 1984, XXVI. Vgl. Hua XXXVI, § 46, 232 ff. Vgl. ebd., § 47, 243. Vgl. ebd., § 45, 228. Vgl. ebd., § 45. Vgl. ebd., § 44, 217 ff. Vgl. Hua XXXVI, § 49, 251 ff. Hua IV, § 49, 183. Vgl. Hua IV, § 49, 183 ff. Hua IV, § 56, 222; 231. Arp 1996, 162–166. Vgl. Hua XXXVII, § 49, 252. Vgl. Hua IV, § 55, 219. Hua IV, § 50, 186 f. Vgl. dazu Tugendhat 2000. Vgl. das übernächste Zitat. Vgl. Hua IV, § 51, 192. Vgl. Hua IV, § 51, 192.
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Hua IV, § 51, 192 f. Hua IV, § 51, 194. 22 Hua IV, § 51, 198; erste Hervorhebung von mir. 23 Vgl. Hua XIII, 187. 24 Vgl. Hua XIII, 188. 25 Vgl. Hua XIII, 224 ff. 26 Vgl. Smith 1790, 4 f.: »By the imagination we place ourselves in his situation […], we enter as it were into his body, and become in some measure the same person with him, […] and even feel something which, though wea ker in degree, is not altogether unlike them[, sharing] some degree of the same emotion.« 27 Hua XIII, 187 ff. 28 Dessen ungeachtet billigt Husserl der Phantasie, in Form der bildlichen Repräsentation, hinsichtlich zahlreicher, aber eben nicht aller, Einfühlungsphänomene eine wichtige Rolle zu: vgl. Hua XIII, 188. 29 Vgl. Hua IV, § 56, 236 ff.; 244 f. 30 Stein 1917, 87. 31 Stein 1917, 86 f. 32 Vgl. Stein 1917, 28 ff. 33 Vgl. Hua IV, § 57, 248 f. 34 Vgl. ebd., 249. 35 Vgl. Hua IV, § 58, 252. 36 Vgl. Hua IV, § 59, 254. 37 Hua IV, § 59, 255. 38 Vgl. Hua IV, § 60, 257. 39 Vgl. ebd., 258. 40 Vgl. auch Hua IV, § 60, 267 f. 41 Hua IV, § 60, 268. 42 Hua IV, § 61, 277. 43 Vgl. Hua IV, § 60, 269. 44 Vgl. Hua XX/2, 358. 45 Vgl. Beyer 2008, 175 ff. 46 Hua IV, § 60, 265 f. 47 Hua IV, § 60, 265. 48 Vgl. Hua IV, § 60, 261 ff. 49 Vgl. Goldman 2006, 19 f., 46 ff. 50 Vgl. Hua IV, § 60, 263 ff. 51 Vgl. Hua IV, § 60, 265. 52 Hua IV, § 60, 100. 53 Vgl. Hua IV, § 60, 282. 54 Hua IV, § 60, 270. 55 Hua IV, § 60, 274 f. 56 Vgl. Hua IV, § 60, 274. 20 21
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Vgl. Stein 1917, 10. Vgl. dazu auch Goldman 2006, 19, 28 ff. 59 Vgl. Hua IV, § 60, 275. 60 Für hilfreiche Diskussion danke ich Auditorien in Oslo, Göttingen, Graz und Hamburg. Bei Gordon Naninga Rößler bedanke ich mich für die Unterstützung bei der Herstellung der Endfassung dieses Beitrags. 57
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Bibliographie
Arp, Kristana: Husserlian intentionality and everyday coping, in: T. Nenon und L. Embree (Hrsg.), Issues in Husserl’s Ideas II, Dordrecht 1996 Beyer, Christian: Noematic Sinn – General meaning-function or propositional content?, in: F. Mattens (Hrsg.), Meaning and Language – Phenomenological Perspectives, Dordrecht 2008 Goldman, Alvin: Simulating Minds – The Philosophy, Psychology and Neuroscience of Mindreading, Oxford 2006 Husserl, Edmund: Husserliana. Gesammelte Werke. The Hague 1950 ff., Dordrecht 1988 ff., New York 2005 ff. [Abk. Hua] 6 Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments, London 1790 Sommer, Manfred: Einleitung: Husserls Göttinger Lebenswelt, in: Edmund Husserl, Die Konstitution der geistigen Welt, Hamburg 1984 Edith Stein: Zum Problem der Einfühlung, Halle 1917 Tugendhat, Ernst: Schwierigkeiten in Heideggers Umweltanalyse (2000), in: ders., Aufsätze 1992–2000, Frankfurt/M. 2001
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