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German Pages 343 [346] Year 2016
BEIHEFTE
Lars Bülow
Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandelmodell
Germanistik
ZDL
Franz Steiner Verlag
zeitschrift für dialektologie und linguistik
beihefte
166
Lars Bülow Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandelmodell
zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt
band 166
Lars Bülow
Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandelmodell
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11531-5 (Print) ISBN 978-3-515-11533-9 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT .................................................................................................... 11 1 EINLEITUNG.............................................................................................. 13 1.1 Forschungsstand und Erkenntnisziele .................................................... 16 1.2 Methode ................................................................................................. 26 TEIL I: DIE SICHT AUF SPRACHE UND SPRACHWANDEL IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT – HANDLUNGS- UND SYSTEMTHEORETISCHE ANSÄTZE .................................................................... 33 2 VON STRUKTURALISTISCHEN ZU HANDLUNGS- UND DYNAMISCH-SYSTEMTHEORETISCHEN KONZEPTEN DER SPRACHWANDELFORSCHUNG ............................................................ 33 2.1 Sprache und Sprachwandel aus strukturalistischer Sicht ....................... 35 2.1.1 Das sprachliche Zeichen ............................................................... 37 2.1.2 System und Struktur...................................................................... 37 2.1.3 Sprachwandel ................................................................................ 41 2.2 Sprachwandel als Handlungstheorie ...................................................... 46 2.2.1 Erste handlungstheoretische Konzeptionen in der Sprach- und Kommunikationstheorie................................................................ 47 KARL BÜHLER – Sprechen als Handlung ...................................... 48 LUDWIG WITTGENSTEIN – Gebrauchstheorie der Bedeutung ....... 50 2.2.2 Sprechakttheorie ........................................................................... 56 JOHN L. AUSTIN – zur Theorie der Sprechakte ............................. 56 JOHN R. SEARLE – Sprechakte....................................................... 59 2.2.3 Sprachliches Handeln als maximengeleitetes Handeln ................ 64 H. PAUL GRICE – Implikatur und Konversationsmaximen ........... 64 RUDI KELLER – von der unsichtbaren Hand in der Sprache ......... 70 Das Wirken der unsichtbaren Hand in der Sprache ...................... 76 Der semantische Wandel am Beispiel des Wortfeldes ‚Frau‘ ...... 78 Zwischenfazit ................................................................................ 81 2.3 Sprachwandel als Strukturwandel .......................................................... 84 2.3.1 Kurzer Abriss systemischen Denkens........................................... 84 2.3.2 Grundlagen LUHMANNS Systemtheorie und Sprachauffassung .... 88 2.3.3 ZEIGE – Sprachwandel als Strukturwandel ................................... 94 2.3.4 GANSEL – die Evolution von Textsorten....................................... 97 2.3.5 Zwischenfazit .............................................................................. 101
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Inhaltsverzeichnis
2.4 Sprachwandel unter den Prämissen dynamisch-systemtheoretischer Ansätze................................................................................................. 102 2.4.1 Dynamische Systemtheorie......................................................... 103 2.4.2 Das Konzept der Sprachdynamik ............................................... 108 2.4.3 Zwischenfazit .............................................................................. 114 TEIL II: SPRACHE ALS KOMPLEXES ADAPTIVES SYSTEM ............ 117 3 SPRACHWANDEL ALS EVOLUTIONÄRER PROZESS ..................... 117 3.1 Evolution .............................................................................................. 120 3.1.1 Evolutionstheorie(n) ................................................................... 122 Replikation und Reproduktion .................................................... 123 Mutation..... ................................................................................. 124 Selektion..................................................................................... 125 3.1.2 Der Mensch als Produkt der Evolution ....................................... 134 3.1.2.1 Die Evolution der Sprachfähigkeit ................................. 138 FOXP2 und Feinmotorik ................................................ 140 Spiegelneuronen.............................................................. 143 Von der natürlichen zur kulturellen Evolution ............... 148 3.1.2.2 Sprache und kulturelle Evolution ................................... 152 Evolution – mehr als eine hilfreiche Metapher, um Sprachwandel zu erklären ............................................... 162 Generalized Darwinism aus einer sprachhistorischen Perspektive..................................................................... . 165 3.2 Komplexe adaptive Systeme ................................................................ 170 3.3 Sprache als komplexes adaptives System ............................................ 176 3.3.1 Evidenzen aus dem Erstspracherwerb ........................................ 178 3.3.1.1 Konnektionismus und komplexe adaptive Systeme ....... 179 3.3.1.2 Übergeneralisierungen im Spracherwerb als Testfeld für die verschiedenen Modelle mentaler sprachlicher Repräsentation ................................................................ 186 3.3.2 Mondegreens ............................................................................... 194 4 SPRACHWANDELTHEORIEN............................................................... 199 4.1 Grammatikalisierung............................................................................ 200 4.1.1 Degrammatikalisierung ............................................................... 208 4.1.2 Pragmatikalisierung .................................................................... 214 4.1.3 Zwischenfazit .............................................................................. 220 4.2 Morphologische Natürlichkeitstheorie................................................. 221 4.2.1 Die universelle Fassung der Morphologischen Natürlichkeitstheorie ......................................................................................... 222 4.2.2 Von der universellen Morphologischen Natürlichkeit zur systembezogenen Morphologischen Natürlichkeit ..................... 225 4.2.3 Kritik an der Morphologischen Natürlichkeitstheorie ................ 226
Inhaltsverzeichnis
4.2.4 Zwischenfazit .............................................................................. 229 4.3 Analogie und Reanalyse als Motoren des Sprachwandels ................... 231 TEIL III: EXEMPLARISCHE FELDER DER ANWENDUNG AUF SPRACHWANDEL – VOM SPRACHGEBRAUCH ZUM SPRACHSYSTEM UND WIEDER ZURÜCK ........................................................ 237 5 ASPEKTE DER ENTWICKLUNG VON GENUS IM DEUTSCHEN .... 237 5.1 Faktoren der Genuszuweisung ............................................................. 238 5.2 Genus und seine Bedeutung ................................................................. 241 5.2.1 Kongruenz oder Konvergenz ...................................................... 242 5.2.2 Genus-Sexus-Reanalyse.............................................................. 244 5.2.3 Sexus- bzw. Genderassoziationen............................................... 247 5.3 Wandel und Beharrlichkeit im Gebrauch des generischen Maskulinums ........................................................................................ 250 5.3.1 Die Reanalyse des Partizipialsuffixes -end als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch ............................................... 254 5.3.2 Zum Gebrauch des generischen Maskulinums in der Straßenverkehrsordnung ......................................................................... 257 5.4 Zwischenfazit ....................................................................................... 264 6 KONTAKTINDUZIERTER SPRACHWANDEL AM BEISPIEL DER HERAUSBILDUNG UND ENTWICKLUNG EINER (MULTI-) ETHNOLEKTALEN SPRECHWEISE VON JUGENDLICHEN ............ 267 6.1 Kontaktinduzierter Sprachwandel als Evolutionsprozess .................... 268 6.2 Mehrsprachigkeit, Spracherwerb, Sprachkontakt und Sprachwandel . 272 6.3 Migration und Sprachwandel ............................................................... 279 6.4 Die Evolution einer (multi)ethnolektal geprägten Sprechweise .......... 282 6.5 Kiezdeutsch – Sprachkontakt und soziosymbolische Aufladung ........ 286 6.5.1Sprachkontakteinflüsse ............................................................... 289 6.5.2 Indexikalisierung und soziosymbolische Aufladung .................. 293 6.6 Zwischenfazit ....................................................................................... 297 TEIL IV: MODELLBILDUNG .................................................................... 299 7 SPRACHDYNAMIK IM LICHTE DER EVOLUTIONSTHEORIE – FÜR EIN INTEGRATIVES SPRACHWANDELMODELL ................... 299 LITERATURVERZEICHNIS ...................................................................... 311 Internetseiten .............................................................................................. 343
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VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN Abb. 1: Kategorien und Maximen nach GRICE ........................................... 66 Abb. 2: Entwicklung zur Funktionalisierung von Magd nach NÜBLING (2011, 348) ..................................................................................... 80 Abb. 3: Funktionsweise komplexer adaptiver Systeme nach GELL-MANN (1992, 11) ................................................................ 172 Abb. 4: Iterated Learning Model nach KIRBY / CHRISTIANSEN (2003b, 284) ................................................................................. 177 Abb. 5: Spracherwerb als komplexes adaptives System (eigene Darstellung) .................................................................................. 182 Abb. 6: Schemata der Pluralbildung aus HARNISCH / KOCH (2009, 415) nach KÖPCKE (1993, 88–89)......................................................... 190 Abb. 7: Grammatikalisierungsphasen nach LEHMANN (1995a, 13) .......... 204 Abb. 8: Prozesse und Gegenprozesse auf den (De-)Lexikalisierungsund (De-)Grammatikalisierungs-Achsen nach HARNISCH (2004a, 211).................................................................................. 207 Abb. 9: Grammatischer Wandel nach LÜDTKE (1988, 1634) ................... 212 Abb. 10: Partiell erweitertes Modell des grammatischen Wandels von LÜDTKE (1988, 1634) nach HARNISCH (2004a, 221) ................... 212 Abb. 11: Feature pool-Modell nach MUFWENE (2001, 6) ........................... 272 Abb. 12: Deutschland als migratorischer Sprachkontaktraum nach KREFELD (2004, 35; leicht verändert LB) .................................... 276 Abb. 13: Entwicklung in der Verwendung ethnischer Merkmale nach AUER (2013b, 12) ......................................................................... 283
VERZEICHNIS DER TABELLEN Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6:
Grammatikalisierungsprozesse nach LEHMANN (1995b, 1255; leicht verändert LB) ...................................................................... 203 Pragmatikalisierungsparameter und -prozesse nach MROCZYNSKI (2013, 139) ............................................................. 219 Formen mit Partizipialsuffix in der aktuellen StVO..................... 260 Generische Maskulina in der aktuellen und der alten StVO ........ 262 Possessivpronomen 3. Ps. Sg. in der aktuellen und der alten StVO ............................................................................................. 262 wer-Konstruktionen in der aktuellen und der alten StVO ............ 263
VORWORT Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2014 von der Philosophischen Fakultät der Universität Passau als Dissertation angenommen. Sie entstand am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft. Für den Druck wurde die Arbeit gekürzt und aktualisiert. Herrn Prof. Dr. Rüdiger Harnisch danke ich sehr herzlich für die hervorragende und wohlwollende Betreuung meines Promotionsprojekts. Die Freiheiten, die er mir stets zugestand, weiß ich mehr als zu schätzen. Herrn Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt danke ich sehr herzlich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und Frau Prof. Dr. Daniela Wawra für die Erstellung des Drittgutachtens. Meinen Kollegen, PD Dr. Günter Koch und Prof. Dr. Ulrike Krieg-Holz, möchte ich für die gute Zusammenarbeit danken. Sie standen mir bei meinen ersten akademischen Unternehmungen mit Rat und Tat zur Seite. Die Hanns-Seidel-Stiftung hat mich finanziell und ideell während meines Studiums gefördert. Das Stipendium hat mir sowohl den nötigen finanziellen Freiraum gegeben, mein Studium abzuschließen, als auch viele Freunde geschenkt. Zuvörderst danke ich dem Leiter des Instituts für Begabtenförderung, Herrn Prof. Hans-Peter Niedermeier, der immer an meinem wissenschaftlichen Werdegang interessiert war. Ganz besonders herzlich bedanke ich mich bei meinen ehemaligen Vertrauensdozenten und mittlerweile langjährigen Freunden, Herrn Prof. Dr. Gerd Strohmeier und Herrn Prof. Dr. Rainer Wernsmann, für die aufrichtige Anteilnahme an meiner akademischen Laufbahn. Wichtige Impulse und Rückhalt verdanke ich außerdem meinen Freunden Albert Hell, Matthias Herz, Tobias Höfling, Johannes Regner, Johannes Pinkl, Michael Poxrucker, Christoph Schamberger, Christian Tabel und Johannes Wedekind. Auch Familie Schmideder, die mich wie ein Familienmitglied aufgenommen hat, möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Allen, die an der Entstehung und Korrektur dieser Arbeit mitgewirkt haben, danke ich ebenfalls ganz herzlich. Zu nennen sind hier in erster Linie Marina Frank, Lucia Frommeld, Klaus Kerschensteiner und Diana Steinbrenner. Mein innigster Dank richtet sich an meine Eltern, Heidrun und Jochen Bülow, sowie meinen Bruder, Kai Bülow, und seine Frau, Antje Bülow. Sie haben mich bedingungslos in allen Phasen meines Werdegangs unterstützt. Ihre Förderung und ihr Rückhalt waren mir stets gewiss. Ohne meine Familie hätte ich nicht erreicht, worauf ich heute zurückblicken kann. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet. Passau im April 2016
Lars Bülow
1 EINLEITUNG What is needed for a twenty-first-century linguistics is an understanding of language that is inspired not by Descartes but by Darwin. (ANDRESEN 2014, 1)
Leider hat insbesondere die germanistische Linguistik Bedenken gegenüber einer evolutionären Sprachauffassung zum Ausdruck gebracht. Die Linguistik könne ihren Gegenstand, die Sprache, aus den Augen verlieren (FIX 2013, 80–81), so lautet beispielsweise eine der Sorgen:1 „Denn der das Fach einst konstituierende Gegenstand wäre nicht länger die Sprache und ihre Formen, sondern der Körper des Menschen in seiner Umwelt. Der Preis, der diesen evolutionsbiologischen turn antreibt, wäre das Gütesiegel einer quasi naturwissenschaftlichen Empirie.“ (BLEUMER et al. 2013, 11) Damit stünde die Identität des Faches auf dem Spiel. Diese hätten – verursacht durch diverse trans- und multidisziplinären turns2 – bereits andere traditionsreiche Disziplinen wie die Literaturwissenschaft und Mediävistik teilweise eingebüßt.3 Auch die Einheit der Germanistik sei durch diesen Fortschritt ins Bröckeln geraten. Mit Hilfe einer Rückbesinnung auf ‚die Sprache‘ könne die verlorengeglaubte Einheit und Identität allerdings wieder hergestellt werden, so zumindest die Hoffnung einiger.4 Dabei scheint eine interdisziplinäre Nutzbarmachung der Evolutionstheorie gerade für historische Disziplinen oder Disziplinen, die sich mit Entwicklungsprozessen von komplexen Systemen beschäftigen, so naheliegend zu sein. Zum Verständnis des Wandels komplexer Systeme wie der Sprache gehört aber nicht nur die Einsicht in die innersystemischen Zusammenhänge (bspw. in das Verhältnis der Subsysteme zueinander), sondern auch ein Verständnis der Umwelt dieser Systeme mit ihren Wechselwirkungen. Die Loslösung der Sprache aus ihrer Umwelt hat aber u. a. dazu geführt, dass beispielsweise strukturalistische Ansätze gerne folgenden Punkt vergessen: „Languages don’t change; people change language through their action“ (CROFT 2000, 4).5 Auch die Sprachwandelforschung 1
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Welchen Stellenwert die Evolutionstheorie für die Deutsche Sprachwissenschaft hat, kann daran abgelesen werden, dass das sogenannte Darwin-Jahr 2009 von germanistischen Linguisten fast völlig ignoriert wurde. Um nur einige der zahlreichen turns zu benennen: cognitive turn, spatial turn, postcolonial turn, gender turn, performative turn, iconic turn. So entwickle sich die Literaturwissenschaft beispielsweise zunehmend zu einer Kultur- und Medienwissenschaft (BLEUMER et al. 2013, 12). AUER (2013a, 27) ist allerdings bemüht, „den Topos von der verlorenen Einheit der Germanistik“ zu dekonstruieren und fragt zu Recht, wo die Linguistik heute stünde, wenn sie sich nur auf die Beschreibung von sprachlicher Struktur fokussierte. Sprachwandel ist in den allermeisten Fällen aber nicht bewusst vom Menschen gesteuert. Das Spannungsverhältnis zwischen bewusst herbeigeführtem Sprachwandel und nicht-intendiertem Sprachwandel wird insbesondere in Kap. 5 verdeutlicht.
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Einleitung
hat lange den Menschen und damit die soziale Bestimmung von Sprache ausgeblendet. Die Entwicklung von Sprache kann nicht ohne den Menschen gedacht werden, auch wenn Sprachwandel meist nicht das Ergebnis menschlicher Planung ist (KELLER 1995b, 213).6 Die Sprachwandelforschung muss sowohl die soziale als auch die kognitive Dimension von Sprache berücksichtigen, will sie die Entwicklung ihres Gegenstandsbereiches adäquat erklären. Überhaupt ist es missverständlich, von Sprache als einem Gegenstand oder Ding zu sprechen.7 Sprache zeichnet sich durch ein hohes Maß an Variation und Dynamik auf allen Betrachtungsebenen aus. „Sprachvariation und Sprachwandel sind für den Gegenstand Sprache konstitutiv.“ (SCHMIDT 2005a, 16) Obwohl dieser Befund ein Gemeinplatz der historischen Linguistik ist und mit Hilfe der Evolutionstheorie Variation und Wandel von Systemen erklärt werden können, werden Sprachwandelprozesse und Evolutionstheorie in den gängigen deutschsprachigen Einführungen zum Sprachwandel nicht miteinander in Verbindung gebracht. Dabei erheben evolutionstheoretische Ansätze den Anspruch, wenn auch nicht prognostisch, so doch erklärend für Wandelprozesse zu sein. Weiterhin versprechen evolutionstheoretische Erklärungen von Sprachwandel Erklärungen mit Hilfe allgemeinster Prinzipien des Wandels sein, die sowohl innersystemische Voraussetzungen als auch Umweltbedingungen mit einbeziehen.8 Damit könnte Sprachwandel auch nicht länger losgelöst von der sozialen Umwelt der Sprachbenutzer und deren kognitiven Voraussetzungen betrachtet werden. Insbesondere in der englischsprachigen Literatur hat sich der Begriff Evolution aber trotz seiner schwierigen Geschichte in den letzten Jahren zum „Fahnenund Schlüsselwort“ (KNOBLOCH 2011, 204) entwickelt. Diese „neue evolutionistische Massenbewegung zeigt an, dass die Bindungskraft der Generativen Grammatik dabei ist, sich zu erschöpfen“ (KNOBLOCH 2011, 205), ohne dass die Linguistik ihren Anspruch aufgeben muss, sowohl Natur- als auch Kulturwissenschaft zu sein, wenngleich diese Opposition und eine Positionierung zu hitzigen Kontroversen innerhalb der Linguistik des 20. Jahrhunderts geführt haben. Die Evolutionstheorie bietet ein interdisziplinäres Framework, das es erlaubt, sowohl die Natur-Kultur-Debatte zu überwinden als auch den dynamischen Gegenstand Sprache methodisch adäquat zu fassen. „A linguistics inspired by Descartes is beautiful but static. A linguistics inspired by Darwin is messy and dynamic.“ (ANDRESEN 2014, 1) Momentan konzentriert sich die evolutionäre Linguistik darauf, einen Zusammenhang zwischen Genen und Sprache herzustellen bzw. die Anfänge und die Herausbildung sprachlicher Strukturiertheit und Universalien zu erforschen (RODENAS-CUADRADO / HO / VERNES 2013; EVANS / LEVINSON 2009; KIRBY / CORNISH / SMITH 2008). Theoretisch vertiefende Überle 6
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Eine Ausnahme ist sprachpolitisch motivierter Wandel, wie er beispielsweise von der Feministischen Linguistik und Genderlinguistik initiiert ist (vgl. Kap. 5; HORNSCHEIDT 2006, 288; SCHRÄPEL 1986, 223). Vgl. dazu beispielsweise DE BOT et al. (2013, 199) und ANDRESEN (2014, 5). KELLER (1995b, 211) stellt zu Recht fest: „Eine Theorie des Sprachwandels kann nur eine Theorie der Prinzipien des Wandels sein“.
Einleitung
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gungen und qualitative Anwendungen bezogen auf konkrete Sprachwandelphänomene sind hingegen selten, wenn auch Einigkeit darin besteht, dass ein Verständnis der Prinzipien der Evolution hilfreich ist, auch Sprachwandel adäquater zu erklären (MCMAHON / MCMAHON 2013, 14). Diese Arbeit möchte darüber hinaus zeigen, dass der Begriff Evolution mehr als nur eine Metapher dafür ist, Sprachwandel zu beschreiben und zu erklären. Zwischen biologischer Evolution, kultureller Evolution und Sprachwandel sind auf einer abstrakten Beschreibungsebene Isomorphismen erkennbar. Sprachwandel ist letztlich ein Ausdruck kultureller Evolution. Seit DARWINS (1859/1890) „On the Origin of Species“ haben sich diverse Konzeptionen von Evolution herausgebildet, die auf der Ebene der Mikroprozesse unterschiedlich ausdifferenziert sind, auf der Mesoebene aber einige abstrahierte Merkmale teilen, auf die im Folgenden mit den Begriffen Replikation, Variation und Selektion Bezug genommen wird. Der ebenfalls abstrakte Begriff Evolution verbindet diese Konzepte und gibt diese als zentrale Kategorien gleichsam vor. Die Ausdifferenzierung dieser Kategorien kann nach Disziplin und Forschungstradition ganz unterschiedlich aussehen.9 Davon ausgehend, dass Sprache kein angeborenes Organ10 ist, halten CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 503) fest: „By contrast, if language has evolved to fit prior cognitive and communicative constraints, then it is plausible that historical processes of language change provide a model of language evolution; indeed, historical language change may be language evolution in microcosm“. Diese Arbeit widmet sich im Folgenden der Aufgabe, Sprachwandel als evolutionären Wandel konzeptuell und theoretisch zu fassen.
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Die Synthetische Evolutionstheorie ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein Versuch, diese Ausdifferenzierung zumindest innerhalb der Biologie aufzulösen. Einen kompakten Überblick über die Genese der Synthetischen Evolutionstheorie gibt MESOUDI (2011, 47–51). Allerdings unterliegt auch die Synthetische Evolutionstheorie – ganz im Sinne evolutionären Wandels – wieder diversen Ausdifferenzierungsprozessen (vgl. RIEDL 2003). Insbesondere die noch junge Disziplin der Biolinguistik versteht Sprache als abstraktes Organ (ALEXIADOU 2013, 64–65). Eine Sammlung von Aufsätzen zur Biolinguistik bieten SCIULLO / BOECKX (2011).
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Einleitung
1.1 FORSCHUNGSSTAND UND ERKENNTNISZIELE Daß die Sprache in einem beständigen Wandel begriffen ist, ist etwas von ihrem Wesen Unzertrennliches. So sehr der Einzelne in seiner Sprechtätigkeit durch die Überlieferung gebunden ist, so bleibt ihm doch immer ein gewisser Grad von Freiheit. […] Daß das Verhältnis von Freiheit und Gebundenheit richtig erfaßt wird, ist eine Hauptbedingung für das Verständnis der Wandlungen in der Sprache. (PAUL 1910, 369)
Das wissenschaftliche Verständnis von Sprachwandel und Sprachdynamik setzt sich aus einer kaum noch zu überschauenden Fülle von theoretischen und methodischen Ansätzen zusammen. ZEIGE (2011, XIII) nennt diese verschiedenen Theoriegebäude nicht widersprüchlich, sondern „inkommensurabel“.11 „[S]ie beschreiben den Objektbereich nicht in erster Linie besser oder schlechter, sondern vor allem anders.“ Jeder Theorie wird in gewisser Weise ihre Berechtigung zugesprochen. ZEIGE schlägt damit einen versöhnlichen Ton an, obwohl sich einige der Sprachwandelmodelle, die eng an eine bestimmte Vorstellung von Sprache geknüpft sind, scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. Als gesicherter kleinster gemeinsamer Nenner verbindet alle Forschungsansätze lediglich die Einsicht PAULS (1910, 369), „daß die Sprache in einem beständigen Wandel begriffen ist“. Es mag beispielsweise schon am unterschiedlichen Selbstverständnis der eigenen Disziplin scheitern. Die Frage, ob die moderne Sprachwissenschaft eine Naturoder Kulturwissenschaft sei, wird noch immer gestellt und teilweise sehr unterschiedlich und einseitig beantwortet.12 Um ein zu enges Korsett an nicht letztbegründbaren Vorannahmen zu vermeiden, wird in Anlehnung an SCHMIDT / HERRGEN (2011) dafür plädiert, die Sprachwissenschaft sowohl als Kultur- als auch als Kognitionswissenschaft aufzufassen.13 11
So sind auch die diversen Analogien zu verstehen, die Sprache beispielsweise als Organismus, Tätigkeit, Organ oder System beschreiben. Diese Analogien sind ein Ausdruck der Betonung einer bestimmten Dimension – strukturalistisch, funktionalistisch, sozial, biologisch – von Sprache. Viele Sprachwandeltheorien fokussieren lediglich eine dieser Dimensionen. ZEIGE (2011, 17) stellt richtig fest: „[D]iese Sprachbilder und Sprachwandelauffassungen [werden] zu jeder Zeit durch das Übergewicht einzelner Ursachen für den Wandel belastet. Bis in unsere Zeit liegt ein Grund für die Inkompatibilität vieler Auffassungen darin, dass Teilbereiche des Wandelprozesses so untersucht werden, als könnte damit der Gesamtprozess hinreichend begründet werden. So entsteht der Eindruck monofaktorieller Sprachwandelerklärungen“. 12 Insbesondere CHOMSKY (1972, 51) hat sich für eine Anlehnung der Linguistik an die naturwissenschaftliche Psychologie ausgesprochen. Die linguistische Hermeneutik bestreitet diesen Anspruch und möchte die Linguistik klar als Geisteswissenschaft verstanden wissen. HERMANNS (2009, 182) schreibt beispielsweise: „Eine Linguistik ohne Hermeneutik ist ein Unding. Und es gibt deshalb auch keine Linguistik ohne Hermeneutik. Dass die Linguistik naturwissenschaftlich-szientifisch zu sein hätte oder sogar schon sei, ist nur ein Selbstmissverständnis mancher ihrer Schulen“. An dieser Stelle sei auch auf die antinomische Auslegung der Begriffe Diachronie und Synchronie im Strukturalismus hingewiesen. 13 Diese Auffassung ist auch in der Kognitionswissenschaft zu finden. EVANS / LEVINSON (2009, 446) verstehen Sprache als „bio-cultural hybrid“.
Forschungsstand und Erkenntnisziele
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Kulturwissenschaft, weil Sprache die Basis aller Kulturleistungen ist und weil sich an ihr menschliche Kulturgeschichte und Kontaktgeschichte verfolgen lässt; Kognitionswissenschaft, weil Sprache im wörtlichen Sinne direkter Ausdruck der zentralen kognitiven Fähigkeiten des Menschen ist, hocheffiziente Symbolsysteme als Kommunikationsformen zu schaffen und zu handhaben. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 13)
Will man Sprachwandel ganzheitlich verstehen, sollte weder die natur- noch die kulturwissenschaftliche Dimension ausgeblendet werden. Dazu gehört sowohl die Schnittstelle der Sprache zur kognitiven Sprachverarbeitung, als auch die Schnittstelle der Sprache zur sozialen Umwelt des Menschen. Es ist sogar notwendig und längst überfällig, beide Schnittstellen gemeinsam zu betrachten. Die Sprachwissenschaft – wie übrigens auch die Anthropologie – hat hier den Anschluss an ein integratives Modell lange verpasst. BECK (2008, 162) stellt völlig zu Recht fest: „Erkenntnisfortschritt setze voraus – […] – dass die überkommene Gegenüberstellung von Natur/Kultur ersetzt werde durch ein Verständnis lebendiger Prozesse, die als emergent, als Resultat der Interaktion von Natur und Kultur konzeptualisiert werden müssen“. Eine Überwindung dieses Gegensatzes scheint zunächst nur unter der Prämisse eines generalisierenden und übergreifenden Blickwinkels möglich zu sein, der die Gemeinsamkeiten zwischen dem Menschen als kognitiv verarbeitendem Wesen, als sozialem und kulturschaffendem Wesen und dem Untersuchungsgegenstand Sprache im Auge behält. Derzeit existiert keine ausgereifte Sprachwandeltheorie, die dies leisten kann. SIMON (2010, 41) sieht die „Möglichkeit, zu einer intellektuell reizvollen Sprachwandeltheorie zu gelangen […] darin, den Konnex zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu suchen“. Doch welches Forschungsparadigma oder welche natur- und kulturwissenschaftenüberspannende Theorie kann dieser Herausforderung gerecht werden? Hier bietet sich in erster Linie die Evolutionstheorie an, die als interdisziplinäres Framework schon einigen Disziplinen zu einem fruchtbaren Blickwechsel verholfen hat. „A linguistics inspired by Darwin dispels the conceptual chaos of the nature/nurture opposition and recasts explanations within the framework of a developmental system that has evolutionary stability.“ (ANDRESEN 2014, 1) Die Hoffnungen, die in eine evolutionäre Sprachwandeltheorie gesetzt werden können, sind hoch, weil sie Vielfalt, Variation und Komplexität mit Hilfe einer Handvoll einfacher Prinzipien erklären können müsste. Außerdem wird die Hoffnung formuliert, dass „evolutionary models may bridge, or at least reconcile, the gap between formal and functional views on language change“ (ROSENBACH 2008, 51).14 Weiterhin ist die Systemtheorie zu nennen, die sich in stetiger Wechselwirkung mit der biologischen Evolutionstheorie als eigenständige Disziplin etabliert (und ausdifferenziert) hat. Was diese Theorieentwürfe für die Sprachwandeltheorie besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass beide Theorien den An 14
„[T]hough it should also be noted that the old polarities still persist or may even be highlighted, as e.g. in Croft’s (2000) functional and Lightfoot’s (1999) generative model.“ (ROSENBACH 2008, 51)
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Einleitung
spruch erheben, sowohl Dynamik, Variation, Konvergenz, Divergenz als auch Stase zu erklären. Warum ist die moderne Linguistik aber bisher so verhalten in Bezug auf eine Verbindung von Evolutions- und moderner Systemtheorie? Als CHARLES DARWIN sein bahnbrechendes Hauptwerk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“ 1859 veröffentlichte, wurde auch die Sprache zunächst aus einem evolutionstheoretischen Blickwinkel betrachtet. Die Evolutionstheorie, zu diesem Zeitpunkt noch jung und wenig ausdifferenziert, sorgte für viel Euphorie, die in Bezug auf die Sprachbetrachtung aber schnell in die wildesten Spekulationen umschlug, so dass die Société de Linguistique de Paris 1866 keine Schriften zur Evolution und zum Ursprung der Sprache(n) mehr annehmen wollte.15 Bis heute sind viele Linguisten sehr zurückhaltend in Bezug auf die Evolutionstheorie.16 Für die deutsche Forschungstradition mag es zudem eine Rolle spielen, dass befürchtet wird, in eine „sozialdarwinistische Schublade gesteckt“ oder der „Naturwissenschaftelei“ (KELLER 1987, 104) verdächtig zu machen. Diese Umstände veranlassen MCMAHON (1994, 314) zu dem Ausspruch: „Evolution, in particular, has become a ‚dirty word‘ in modern linguistic theory“17. Seitdem sind beinahe zwanzig Jahre vergangen, in denen sich das Verhältnis – zumindest der angloamerikanischen Linguistik – zur Frage nach der Evolution der Sprache normalisiert hat. JÄGER (2007, 74) spricht sogar davon, dass die Evolutionäre Linguistik dabei ist, ein eigenes Forschungsparadigma auszubilden, das sich zwar noch in der „pre-paradigmatic stage“ befindet, aber bereits vielversprechende Ergebnisse erzielt. Evolution ist in der angloamerikanischen Linguistik längst kein schmutziges Wort mehr. MCMAHON / MCMAHON (2013, XIV) schreiben: „[B]ut though we might concede that the ban on discussion of our topic was amply justified in 1866, it is important to note that the same conditions no longer obtain now“. MCMAHON / MCMAHON (2013, XV) unterstreichen aber auch, dass die Frage nach der Evolution der Sprache und Sprachfähigkeit ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben ist, das neben Ergebnissen aus der Sprachwandelforschung auch Resultate aus der Genetik, Neurologie, Psychologie, Anthropologie, Soziologie, Soziolinguistik, Computerlinguistik, Sprachphilosophie und Spracherwerbsforschung berücksichtigen muss.18 Die Zusammenschau der verschiedenen Disziplinen ver 15
Die Anfänge der Überlegungen zum Ursprung der Sprache(n) werden übersichtlich in MCMAHON / MCMAHON (2013, 2–7) zusammengefasst. 16 Durch die Erfolge der Neurowissenschaften wird seit den 1980er Jahren insbesondere wieder die Evolution der Sprachfähigkeit erforscht. KIRBY / CHRISTIANSEN (2003a, 2) verbinden die Wiederaufnahme des Evolutionsparadigmas in die linguistische Forschung mit der Tagung „Origins and Evolution of Language and Speech“, die u. a. 1975 von der New York Academy of Science ausgerichtet wurde. Der aus dieser Konferenz resultierende Sammelband (HARNAD / STEKLIS / LANCASTER 1976) gab der evolutionären Linguistik wichtige Impulse. 17 Zitate in Zitaten werden im Folgenden mit einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet. 18 Die Aufzählung der Disziplinen, die interessante Ergebnisse für die Frage nach der Evolution der Sprache liefern, ist nicht vollständig. Wie breit das Feld der beteiligten Disziplinen aufgestellt ist, zeigt die seit 1996 stattfindende Konferenzreihe „Evolang“.
Forschungsstand und Erkenntnisziele
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deutlicht aber auch, dass die Kluft zwischen Natur- und Kulturwissenschaft überwunden werden muss, wenn man die Sprache besser verstehen möchte. Beeindruckende Fortschritte, was beispielsweise die Evolution der Sprachfähigkeit betrifft, werden aktuell im Bereich „Sprache und Genetik“ am Max-Planck-Institut in Nijmegen erzielt (DERIZIOTIS / FISHER 2013; DEDIU / LEVINSON 2013).19 Nun kann aber von der Sprachwissenschaft nicht behauptet werden, dass sie sich neben eigenen Modellentwürfen, wie dem Strukturalismus, nicht für andere Theoriekonzepte anderer Wissenschaften wie der Psychologie, Soziologie oder Philosophie anschlussfähig zeigt. Auf dieser Grundlage sind die verschiedensten Sprachbilder entstanden. ROLF (2008) diskutiert immerhin 30 verschiedene Sprachtheorien. Die Sprachwandelforschung hat sich zum Teil sehr eng an eine der verschiedenen Sprachauffassungen angelehnt und auf dieser Grundlage versucht, Sprachwandel zu erklären. Auffällig ist allerdings, dass keine dieser Theorien einen evolutionstheoretischen Zusammenhang herstellt.20 Insbesondere eine Wandeltheorie kommt heute allerdings nicht umhin, sich intensiv mit der Evolutionstheorie auseinanderzusetzen, die in wissenschaftlichen Kreisen allgemein als akzeptiert gilt. Die Evolutionstheorie beschränkt sich nicht allein auf die biologische Evolution. Neben der Evolution der Sprachfähigkeit muss auch die Evolution der Struktur und der Komplexität der Sprache untersucht werden. Einige neuere Forschungsergebnisse scheinen zu bestätigen, dass dieser Prozess ein kultureller Evolutionsprozess ist, der eine angeborene Universalgrammatik in Frage stellt (CORNISH / TAMARIZ / KIRBY 2009; EVANS / LEVINSON 2009; KIRBY / CORNISH / SMITH 2008; CHRISTIANSEN / CHATER 2008). Obwohl einige Wissenschaftler wie PAUL (1880/1975, 37) die Parallelen zwischen biologischem Wandel und kulturellem Wandel schon im 19. Jahrhundert hervorgehoben haben, „only now are scholars beginning to properly apply Darwinian methods, tools, theories, and concepts to explain cultural phenomena“ (MESOUDI 2011, ix). Der Begriff kulturelle Evolution ist in den Geisteswissenschaften längst zu einem eigenen Paradigma geworden. Programmatisch und vielversprechend ist beispielsweise der Titel „Cultural Evolution. How Darwinian Theory Can Explain Human Culture & Synthesize the Social Sciences“ von MESOUDI (2011). MESOUDI (2011, xii) spricht sogar bereits von „a coming ‚evolutionary synthesis‘ for the social sciences“.21 Die Sprachwandeltheorie in Deutschland wagt die Auseinan 19
MCMAHON / MCMAHON (2013, 2) wollen für die Erforschung der Evolution der Sprachfähigkeit – also für den Zusammenhang zwischen Genen, Gehirn und Sprache – den Begriff Evolutionary Linguistics reservieren. Die Erforschung der Entwicklung von Einzelsprachen oder Sprachfamilien wird bewusst ausgeklammert und der Sprachwandelforschung und Typologie überlassen. 20 LUHMANNS allgemeine Theorie der sozialen Systeme ist zwar evolutionstheoretisch ausgelegt, die darin entworfene Sprachtheorie orientiert sich allerdings stark am Zeichenmodell des „Cours de linguistique générale“ wie er von CHARLES BALLY und ALBERT SECHEHAYE herausgegeben wurde (vgl. Kap. 2.3.2). Der evolutionstheoretische Zusammenhang wird bei ROLF (2008, 31–37) in keiner Weise erwähnt. 21 Eine synthetische kulturelle Evolutionstheorie für die Geistes- und Sozialwissenschaften muss es insbesondere schaffen, zwischen Mikro- und Makroansätzen zu vermitteln. Eine
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dersetzung mit der Evolutionstheorie in bescheidenem Maße wieder seit den 1980er Jahren. Einen Einfluss hat hier sicher die Allgemeine Systemtheorie ausgeübt, die die Entwicklung von Systemen als evolutionären Prozess verstanden wissen will. Die wenigen Ansätze, in denen versucht wurde, systemisches Denken auf Sprache zu übertragen, haben auch auf die Evolutionstheorie Bezug genommen. KELLER (2008, 21; 2003, 191–206; 1987) stellt sein handlungstheoretisches Sprachwandelmodell beispielsweise explizit in einen evolutionstheoretischen Zusammenhang. KELLERS Sprachwandeltheorie der unsichtbaren Hand wird zwar vielfach rezipiert und gelobt, der Bezug zur Evolutionstheorie bleibt aber zunächst so gut wie unbeachtet. Jüngere Arbeiten zur Sprachwandeltheorie, die zumindest einen evolutionstheoretischen Zusammenhang herstellen, wie die von ZEIGE (2011, 152–188; Kap. 2.3.3) oder GANSEL (2014; 2011; Kap. 2.3.4) beziehen sich allerdings vorrangig auf die konstruktivistische Systemtheorie LUHMANNS und seine allgemeine Theorie sozialer Systeme. Handlungs- und kognitionspsychologische Aspekte bleiben in diesen Ansätzen allerdings unterspezifiziert (vgl. Kap. 2.3). Sprachwandel müsse subjektlos erklärt werden, so ZEIGE (2011, 260).22 In dieser Arbeit wird allerdings vielmehr dafür argumentiert, die Wechselwirkungen zwischen psychischen und sozialen Systemen für die Erklärung von Sprachwandel stärker zu berücksichtigen. Einen vielbeachteten evolutionstheoretischen Sprachwandelentwurf hat CROFT mit seiner Arbeit „Explaining Language Change. An Evolutionary Approach“ (2000) vorgelegt. CROFT stellt das Individuum und seine Äußerungen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Ähnlich wie KELLER wählt er einen stark sprecher- bzw. hörerzentrierten23 Ansatz. CROFT erklärt Sprachwandel in Anlehnung an HULLS „Science as a process“ (1988) allein unter Zuhilfenahme einer allgemeinen Evolutions- und Selektionstheorie. Für ihn – wie auch für diese Arbeit – sind Replikation, Variation und Selektion die zentralen Begriffe, die im Zusammenhang mit Sprachwandel noch näher erläutert werden (vgl. Kap. 3.1.1). CROFT nimmt zudem an, dass die Entwicklung von Systemen in einen größeren Zusammenhang gestellt werden muss. „It is that languages and biological systems are instances of a more general phenomenon whose essential traits consist of (among other things) a population, variants, survival/extinction of lineages, and selection of individuals.“ (CROFT 1996, 100) Trotz des größeren Zusammenhangs kann die Evolution der Sprache nicht mit der biologischen Evolution gleichgesetzt werden. Während beispielsweise die Replikation von Informationen bei der biologischen
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Aufgabe, der sich auch diese Arbeit widmet. Für die Linguistik beschreibt MESOUDI (2011, 51) die Spaltung in Mikro- und Makrobetrachtungen wie folgt: „Linguistics has microlevel branches such as psycholinguistics, concerned with how individuals acquire and use language, and macrolevel branches such as historical linguistics, concerned with how entire language change over hundreds or thousands of years“. Konsequenterweise versteht ZEIGE (2011, 132) Sprache in Anlehnung an LUHMANN nicht als System, sondern nur als Struktur. Im Folgenden ist oft nur noch allgemein vom Sprecher oder der Sprecherzentrierung die Rede, auch wenn der H ö r e r und seine Interessen immer im Auge behalten werden.
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Evolution nur vertikal stattfindet, kann sprachliche Struktur auch horizontal repliziert werden. Im Kontext der Fruchtbarmachung des Exaptationsbegriffes aus der Evolutionsbiologie für die Linguistik, stellt LASS (1990, 96) fest, dass es Unterschiede zwischen biologischen Systemen und der Sprache gibt: while claiming that the notion of exaptation seems useful in establishing a name and descriptive framework for a class of historical events, I remain fully aware (even insistent) that languages are not biological systems in any deep sense.
MCMAHON / MCMAHON (2013, 13–18) schlagen daher vor, von richtiger Evolution nur im Zusammenhang mit genetischer Evolution zu sprechen. Sie postulieren, dass die Übertragung des Evolutionskonzepts auf andere Bereiche immer eine – wenn auch hilfreiche – Metapher bleiben muss. Aber um es mit den Worten HASPELMATHS (2004, 24) zu sagen: „But at the same time it is clear that we cannot do linguistics without abstract metaphors“. In diesem Sinne muss die Übertragung der Evolutionstheorie auf die Sprachwandeltheorie aus einem generalisierenden Blickwinkel vorgenommen werden, der hier auch mit dem Begriff Generalized Darwinism (RITT 2004, 17) gefasst wird. Es sind insbesondere Isomorphien zwischen Sprachwandelprozessen sowie klassischen kulturellen und biologischen Evolutionsprozessen aufzuzeigen. Unter evolutionärem Wandel werden in dieser Arbeit Prozesse verstanden, die über die miteinander verschränkten Stufen Replikation, Variation und Selektion verlaufen. Weitere Sprachwandelentwürfe, die sich explizit auf die Evolutionstheorie beziehen bzw. diese berücksichtigen, finden sich vor allem in der angloamerikanischen Linguistik. Zu nennen wären hier etwa die Arbeiten von MCMAHON (1994), LASS (1997), KIRBY (1999), MUFWENE (2008; 2001) oder RITT (2004). Den drei letztgenannten Autoren ist gemeinsam, dass sie Sprache als komplexes adaptives System (Complex Adaptive System) verstehen. Der Begriff komplexes adaptives System lässt zum einen durch das Attribut adaptiv den evolutionstheoretischen Aspekt erkennen; zum anderen verdeutlicht das Nomen System den systemtheoretischen Charakter dieser Theorie. Es wird zum Ausdruck gebracht, dass komplexe Systeme wie die Sprache anpassungsfähig sind und der Evolution unterliegen. Komplexe adaptive Systeme sind in systemtheoretischer Tradition evolutionäre Systeme. So beschreibt RITT (2004, 92) den Ansatz komplexer adaptiver Systeme als: „A less biologically biased term for systems with ‚Darwinian‘ characteristics“. Komplexe adaptive Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus Informationen, die sie ihrer Umwelt entnehmen, Regelmäßigkeiten ableiten, die zu Schemata verdichtet werden. Die Informationen sind Anlass für Anpassungs- und Lernprozesse.24 HOLLAND (2006, 1) definiert komplexe adaptive Systeme als Systeme, „that have a large numbers of components, […], that interact and adapt or learn“. Durch ihre Lern- und Anpassungsfähigkeit unterscheiden sich komplexe adaptive Systeme auch wesentlich von anderen komplexen Systemen wie Meeresströmungen, Sonnensystemen oder Hoch- und Tiefdrucksystemen. Anpassung 24
Das Konzept der Anpassung ist höchst umstritten und konzeptuell vielschichtig (vgl. Kap. 3).
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kann demnach nur unter der Prämisse von Umwelt stattfinden. MUFWENE (2008; 2001) unterscheidet mit Bezug auf die Sprache zwischen internen und externen Umweltbedingungen.25 Interne Umweltbedingungen sind beispielsweise die aktuellen strukturellen Bedingungen des Systems, ihre Geschichte und ihre Beschränkungen. Zu den äußeren Umweltbedingungen lassen sich beispielsweise sozioökonomische Faktoren, politische Grenzen und sprachpolitische Vorgaben zählen.26 Dass Sprache ein komplexes adaptives System ist, wird beispielsweise von CORNISH / TAMARIZ / KIRBY (2009), MUFWENE (2008; 2001) und KIRBY (1999) einfach vorausgesetzt, ohne auf die Traditionslinie zu verweisen oder problematische Aspekte dieses Ansatzes zu diskutieren. Wer oder was ist das komplexe adaptive System? Ist es der Mensch als kognitiv verarbeitendes Wesen (Mikroebene) und/oder die Sprache im hypostasierten Sinne (Makroebene)? MUFWENE (2008; 2001) wählt beispielsweise einen sprecherzentrierten Ansatz, der den Idiolekt als Ausgangsbasis für Sprachwandel nimmt.27 Erst in den letzten zehn Jahren wird dem Idiolekt wieder mehr Bedeutung für Sprachwandel beigemessen, obwohl schon HERMANN PAUL seine Relevanz deutlich unterstrichen hat. PAUL (1880/1975, 37) verweist auch auf die Schnittmenge zur Evolutionstheorie: Man sollte erwarten, dass sich bei der Betrachtung dieses Prozesses mehr als irgend wo anders die Analogieen [sic!] aus der Entwicklung der organischen Natur aufdrängen müssten. Es ist zu verwundern, dass die Darwinisten unter den Sprachforschern sich nicht vorzugsweise auf diese Seite geworfen haben. Hier in der Tat ist die Parallele innerhalb gewisser Grenzen eine berechtigte und lehrreiche. […] Der grosse Umschwung, welche die Zoologie in der neueren Zeit durchgemacht hat, beruht zum guten Teil auf der Erkenntnis, dass nichts reale Existenz hat als die einzelnen Individuen, dass die Arten, Gattungen, Klassen nichts sind als Zusammenfassungen und Sonderungen des menschlichen Verstandes, die je nach Willkür verschieden ausfallen können […]. Wir müssen eigentlich so viele Sprachen unterscheiden als es Individuen gibt.
Idiolekten müsste auch in der modernen Soziolinguistik mehr Beachtung geschenkt werden. Der Idiolekt kann in idealer Weise die Schnittstelle zwischen psycho- und soziolinguistischer Sprachwandelbetrachtung sein (OKSAAR 2000, 39). Für eine Nutzbarmachung psycholinguistischer Forschungsergebnisse für die 25
Die grundsätzliche Differenz zwischen System und Umwelt wird durch die Terminologie nicht aufgehoben. Interne Umweltbedingungen sind hier mit den internen Strukturbedingungen von Subsystemen gleichzusetzen, die natürlich für andere (systeminterne) Subsysteme wieder Umwelt sind. 26 SMITS (2011, 298) konnte beispielsweise nachweisen, dass eine politische Grenze (die zwei Standardvarietäten trennt) einen Einfluss auf die Dialektentwicklung auf beiden Seiten der Grenze nimmt. 27 MUFWENE (2013, 355) macht außerdem deutlich, warum Sprache nicht als Organ betrachtet werden sollte (vgl. dazu auch Kap. 6). MUFWENE (2013) versteht die Evolution von Sprache(n) als Entwicklung und Ausdifferenzierung von Technologie(n). Diese Sichtweise erinnert allerdings sehr an funktionalistische Ansätze: „[L]inguistic technology continues to be adapted to its users‘ communicative needs under particular ecological pressures […]“ (MUFWENE 2013, 353).
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Soziolinguistik spricht sich beispielsweise DE BOT (2000, 74–75) aus. Im Folgenden wird überprüft, ob diese Schnittstelle nicht der Missing Link ist, um auch Sprachwandel als dezidierte Wandeltheorie unter einer evolutionstheoretischen Perspektive beschreiben zu können. Auch wenn MCMAHON (1994, 340) optimistisch klingt, hat sich eine evolutionstheoretische Sichtweise auf Sprache knapp zwanzig Jahre später noch nicht durchgesetzt. „However, the Darwinian theory of biological evolution, with its interplay of mutation, variation and natural selection, has clear parallels in historical linguistics, and may be used to provide enlightening accounts of linguistic change.“ (MCMAHON 1994, 340) Evolutionstheoretische Zugänge in geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen sind längst kein Tabuthema mehr; sprachwandeltheoretische Annäherungen finden sich aber insbesondere in der deutschsprachigen Forschungsliteratur gleichwohl selten. KELLERS (2008; 2003; 1987) Vorschlag eines evolutionären Sprachbegriffes wurde auf die Theorie der unsichtbaren Hand (Invisible-hand) reduziert. Dass KELLER (1987, 105) eine historische Entwicklung genau dann evolutionär nennt, „wenn sie dadurch entsteht, daß Varianten der Wirkung von Selektion ausgesetzt“ sind, scheint auch in den vielfältigen Rezensionen zu seinem Buch „Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache“ (2003) kaum eine Rolle zu spielen, obwohl KELLER (2003, 191–206) ein eigenes Kapitel darauf verwendet, Sprachwandel als einen evolutionären Prozess zu beschreiben. Einzig SIMON (2010) scheint die Verbindung zwischen KELLERS Ansatz, der Evolutionstheorie und der Theorie der komplexen adaptiven Systeme zu sehen, auch wenn er eine Verknüpfung nur im Zusammenhang mit dem Exadaptionsbegriff herstellt: „Ein Bereich, in dem eine solchermaßen abstrahierende Beschreibungsweise angewendet wird, sind die sogenannten „komplexen adaptiven Systeme“, zu denen auch die in der Linguistik wohlbekannten ‚Phänomene der Dritten Art‘ (KELLER 2003) zählen“ (SIMON 2010, 41). Ein Grund für die seltene Bezugnahme auf die Evolutionstheorie, den KELLER (1987, 117) allerdings antizipiert, könnte sein, dass insbesondere die sozialgeschichtlichen und sozioökonomischen Einflussfaktoren zu komplex sind, als dass diese als hinreichende Gründe wissenschaftlich erfasst und für Sprachwandel angeführt werden könnten. Zu ergänzen wäre dieser Einwand mit einem Hinweis auf die Komplexität der Prozesse, die bei der Sprachproduktion und Sprachverarbeitung stattfinden. Diesen Einwänden ist damit zu entgegnen, dass Komplexität keine Ausrede sein darf, um nach adäquateren Erklärungen zu suchen. Eine Erklärung, die soziohistorische Entwicklung und psycholinguistische Erkenntnisse berücksichtigt, vermag allemal mehr zu explizieren, als eine Erklärung der Art: i in der Folgesilbe hat den Umlaut von a zu e im Althochdeutschen ausgelöst (KELLER 1987, 117).28 Ein weiterer Einwand, der in Bezug auf KELLERS Sprachwandeltheorie häufig geäußert wurde, ist, dass KELLER lediglich Beispiele aus dem semantischen Wandel vorführt. Sein Ansatz, Sprachwandel als Invisible-hand-Phänomen zu erklären, wurde seitdem 28
Fraglich ist bei solchen Erklärungen des Lautwandels, ob diese Bedingungen überhaupt als hinreichend gekennzeichnet werden können.
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zwar auch für die Grammatik und Pragmatik erprobt (MROCZYNSKI 2012), aber nicht mehr evolutionstheoretisch zurückgebunden. Diese Arbeit leistet einen Beitrag dazu, das Verhältnis zwischen Sprachwandeltheorie und Evolutionstheorie neu und mit Hilfe weiterer Blickwinkel zu denken. Auf den bestehenden Arbeiten und Ergebnissen von KELLER (2008; 2003), CROFT (2000), RITT (2004) und MUFWENE (2008; 2001) wird dabei aufgebaut. Mit dieser Arbeit wird eine Konzeption für eine evolutionäre Sprachwandeltheorie vorgelegt und erprobt. Es wird geprüft, ob sich der Evolutionsbegriff als hilfreich erweist, um Sprachwandel im Spannungsfeld zwischen Sprachgebrauch, Sprachstruktur, kognitiver Sprachverarbeitung und Sprachpolitik adäquater erklären zu können. Die Andeutung des Spannungsfeldes lässt erkennen, dass untersucht wird, ob sich das Paradigma der Evolutionstheorie eignet, die scheinbare Dichotomie von Natur und Kultur aufzulösen. Dazu muss geprüft werden, ob eine systemische Perspektive jenseits des radikalen Konstruktivismus eingenommen werden kann, wie sie die Theorie der komplexen adaptiven Systeme anbietet. Systeme sind in diesem Sinne grundsätzlich als offen und in Austausch mit der Umwelt modelliert (DE BOT et al. 2013, 204–205). So muss die Wechselwirkung von psychischen und sozialen Systemen mit Bezug auf Sprachwandel aufgezeigt werden. Eine evolutionäre Sprachwandeltheorie, die dies leistet, verspricht eine Relativierung der folgenden dichotomischen Betrachtungsweisen von Sprache: Natur vs. Kultur, kognitiv vs. sozial, formal vs. funktional und System vs. Handlung. Zur Modellierung dieser Wechselwirkungen eignet sich die Theorie komplexer adaptiver Systeme in Verbindung mit dem Modell der Sprachdynamik von SCHMIDT / HERRGEN (2011). Die Wechselwirkungen betreffen besonders die Mikro- und Mesoebene des sprachlichen Handelns, was das Sprachdynamikmodell berücksichtigt. Allerdings ist schon die Zuschreibung von Strukturkategorien auf der Mesoebene, z. B. als Dialekt oder Soziolekt, immer auch eine Konstruktion des Beobachters in Beziehung zu seinem sprachlichen Wissen von der Makroebene, der kodifizierten Sprache im hypostasierten Sinne. Sprachwandel ist aber zunächst Idiolekt- und Varietätenwandel. Dieser „setzt notwendigerweise bereits die Verbreitung und Übernahme einer Variation (bzw. einer Innovation) voraus“ (KREFELD 2004, 45). Diese Arbeit unternimmt also insbesondere den Versuch, theoretischen Fragestellungen im Hinblick auf die Erarbeitung eines evolutionären Sprachwandelkonzepts nachzugehen. Die vorliegende Arbeit setzt sich aus drei Teilen zusammen. In Teil I „Sprache und Sprachwandel im 19. und 20. Jahrhundert – handlungsund systemtheoretische Ansätze“ (Kapitel 2) und Teil II „Sprache als komplexes adaptives System“ (Kapitel 3 und 4) wird der theoretische Rahmen entwickelt, der in Teil III „Exemplarische Felder der Anwendung auf Sprachwandel – vom Sprachgebrauch zum Sprachsystem und wieder zurück“ (Kapitel 5 und 6) erprobt wird. Teil IV (Kapitel 7) dient der abschließenden Modellbildung. Teil I fokussiert die soziale Dimension der Sprache, wohingegen Teil II einen Schwerpunkt auf die kognitiven Aspekte der Sprachverarbeitung legt. In den Anwendungskapi-
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teln in Teil III werden die sozialen und die kognitiven Momente synthetisiert und jeweils für die Erklärung des Sprachwandels als Evolutionsprozess berücksichtigt. In Kapitel 2 werden zunächst verschiedene Sichtweisen von Sprache und die aus ihnen resultierenden Implikationen für den Sprachwandel und die Sprachwandelforschung nachgezeichnet. Anhand der zentralen Gedanken der ausgewählten Autoren wird der Weg von einem strukturalistischen (SAUSSURE) und generativen (CHOMSKY) Verständnis der Sprache als System im hypostasierten Sinne zu einem modernen handlungstheoretischen Ansatz, der den einzelnen Sprecher, seine Äußerungen und seine Intentionen und Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, beschrieben. Insbesondere die pragmatisch-handlungstheoretische Traditionslinie der Sprachbetrachtung wird als Ausgangspunkt für den hier versuchten Entwurf einer evolutionären Sprachwandeltheorie dienen (BÜHLER, WITTGENSTEIN, AUSTIN, SEARLE, GRICE, KELLER). Einen pragmatisch-handlungsorientierten Sprachbegriff als Basis für weitere Überlegungen zum Sprachwandel anzunehmen, scheint sich seit den 1990er Jahren langsam durchzusetzen. Denn um Sprachwandel „begründen zu können, bedarf es einer pragmatischen Kommunikations- und Sprachwandeltheorie“ (BLANK 1997, 440). Dabei müssen aber außerdem neuere Entwicklungen berücksichtigt werden, die Sprachwandel im Anschluss an und mit Bezug auf LUHMANNS allgemeine Theorie sozialer Systeme modellieren (ZEIGE 2011; GANSEL 2011). Abschließend wird auf dynamisch-systemtheoretische Konzepte eingegangen. Dabei stehen die Dynamische Systemtheorie (DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2005; 2007) und das Sprachdynamikmodell von SCHMIDT / HERRGEN (2011) im Mittelpunkt der Betrachtungen. Diese Ansätze versprechen eine gute Grundlage dafür zu sein, das Verhältnis zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene systemisch modellieren zu können. In Kapitel 3 wird der theoretische Entwurf einer evolutionären Sprachwandeltheorie vorgenommen. Kapitel 3.1 widmet sich zunächst den Kernaussagen der Evolutionstheorie. Zudem werden die Schnittmengen zwischen der Evolutionstheorie und der Theorie der komplexen adaptiven Systeme erörtert. Um den Zusammenhang zwischen kognitiven und sozialen Faktoren auf den Sprachwandel angemessen modellieren zu können, muss zudem kurz auf die Evolution der Sprachfähigkeit des Menschen und die genetischen und neuronalen Voraussetzungen des Spracherwerbs und des Sprachenlernens eingegangen werden. Auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der biologischen Evolution und der kulturellen Evolution sind zu erläutern. Die Darstellung von nicht genuin linguistischen Fachdiskursen wie beispielsweise im Zusammenhang mit der Frage, ob mit der Entdeckung der FOXP2-Mutation ein Sprachgen gefunden worden sei, wie in der Presse teilweise kolportiert wurde, kann zwangsweise nicht in einer erschöpfenden Tiefe stattfinden. Auf all die oben angerissenen Forschungsfelder umfänglich einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Dafür bietet der Themenbereich zu viele Anschlussmöglichkeiten für interdisziplinären Austausch. Neben kanonischem Wissen wird aber versucht, neueste Erkenntnisse zu berücksichtigen. So fließen beispielsweise Diskussionen zur Epigenetik und zur Spiegelneuronen-Theorie in diese Arbeit ein. Kapitel 3.2 setzt sich dann dezidiert mit der Sprache als komplexem adaptivem System auseinander. Evidenzen für
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diesen Ansatz werden in Kapitel 3.3 an Beispielen aus dem Spracherwerb und der Sprachverarbeitung dargestellt. Anschließend werden in Kapitel 4 mit der Grammatikalisierungstheorie und der Morphologischen Natürlichkeitstheorie zwei etablierte Sprachwandeltheorien in Hinblick auf ihre Erklärungskraft und ihre Kompatibilität mit evolutionstheoretischen Ansätzen diskutiert. Auch die Konzepte Analogie und Reanalyse werden in die Überlegungen einbezogen. Die Erklärungskraft des entwickelten Entwurfs wird in Kapitel 5 und 6 anhand zweier aktueller Sprachwandelprozesse erprobt. Die empirische Überprüfung der Theorie legt den Fokus auf die Sprachdynamik und Sprachentwicklungen, die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren stattgefunden haben. Damit sind einige Vorteile verbunden. So kann beispielsweise ausgeschlossen werden, dass der beobachtete Sprachwandel durch genetischen Wandel beeinflusst ist. Die sozioökonomischen Umweltfaktoren, aber auch der Einfluss von Sprachkontakt sind für die beobachteten sprachlichen Phänomene noch relativ gut rekonstruierbar. Die sprachstrukturelle Ausgangslage ist zudem durch die System- und Varietätenlinguistik gut erfasst und beschrieben. Abschließend wird in Kapitel 7 auf der Grundlage der Ergebnisse aus den Kapiteln 2 bis 6 ein Gesamtentwurf für eine evolutionäre Sprachwandeltheorie erarbeitet und vorgestellt. 1.2 METHODE Wie eingangs bereits dargestellt, leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Sprachwandeltheoriediskussion, indem Konzepte und Ergebnisse anderer Disziplinen stärker als bisher einbezogen und berücksichtigt werden. Im Sinne von BECK (2008) werden Relationen zu Expertisen und Modellentwürfen aus anderen Wissenschaftszweigen hergestellt und geprüft, ob diese für die Linguistik und insbesondere für die Sprachwandelforschung nutzbar gemacht werden können. Was BECK für die Anthropologie bemängelt, kann zumindest teilweise auch der Sprachwissenschaft vorgeworfen werden. „[D]ie Integration natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Wissens“ (BECK 2008, 162) wurde verschlafen. Ein Grund dafür ist sicherlich darin zu sehen, dass auch die Sprachwissenschaft den exklusiven Dualismus zwischen Natur und Kultur noch nicht überwunden hat und entsprechend pflegt. Unabhängig von der unterstellten Dichotomie werden in dieser Arbeit Ergebnisse aus verschiedenen Wissensbereichen einfließen und in eine Theoriediskussion zum Sprachwandel eingebettet. Diese Theoriediskussion prüft, ob ein kohärentes Netzwerk von Aspekten aus bisher teilweise unabhängigen Theorien in Bezug auf Sprachwandel möglich ist. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es eine der wichtigsten Aufgaben einer theoretischen Arbeit ist, die Übereinstimmung mit empirischen Gegebenheiten im Auge zu behalten. Der Mehrwert dieser Arbeit liegt gerade in diesem integrativen Moment und der Einbeziehung von Expertisen aus anderen Fachdisziplinen. Einerseits wird natürlich Reduktionismus abgebaut. Andererseits ist das Bewusstsein dafür vorhanden, dass Theorien die Komplexität des Beschreibungsgegenstandes reduzieren sollen und
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deswegen auch hier nur eine Auswahl aus mehreren Angeboten getroffen wurde. Was die Auswahl der Sprachtheorien betrifft, die in Kapitel 2 diskutiert werden, kann diese angesichts der Fragestellung der vorliegenden Arbeit sowie der immensen Anzahl an sprachtheoretischen Arbeiten weder vollständig noch umfassend unternommen werden. Die Herausforderung besteht darin, anschlussfähige und möglichst einschlägige Ergebnisse aus den Diskursen herauszufiltern. Das Problem der Grenzziehung und der Entscheidung, welche Faktoren in die Untersuchung einbezogen werden, tritt in den meisten wissenschaftlichen Arbeiten auf. Boundaries that are too widely drawn may result in more complexity than can be adequately studied. Boundaries that are too narrowly drawn may exclude complexity that is necessary to an adequate understanding of the situation. Any solution necessarily involves a compromise between what you would like to know and what you feel you can adequately investigate. (BRADLEY 1992, 102)
Die Einbeziehung evolutionären Denkens, um die Entwicklung sprachlicher Struktur zu verstehen, ist allerdings nicht nur als Anlehnung an eine naturwissenschaftliche Theorie zu bewerten. Gesellschaftlicher und kultureller Wandel wird insbesondere in den Sozialwissenschaften häufig durch systemisches Denken erfasst. Die Nähe zwischen systemischem und evolutionärem Denken wurde bereits aufgezeigt. Von einer allgemein akzeptierten Systemtheorie als Überbau sind die verschiedenen Disziplinen aber weit entfernt. Obwohl Gemeinsamkeiten systemischen Denkens bestehen, gibt es nicht die eine ‚Allgemeine Systemtheorie‘. Die Probleme sind oft erkenntnistheoretischer Natur. Zu differenzieren sind beispielsweise konstruktivistische (LUHMANN 1987) und hypothetisch-realistische (RIEDL 2000; VOLLMER 1975/2002) Systemansätze. Hier wird eine Position in der Nähe zur Evolutionären Erkenntnistheorie eingenommen, die in Anlehnung an LORENZ (1973/1997, 18) und CAMPBELL (1974; 1960) auch als hypothetischer Realismus bezeichnet wird. Die Methode kann als theoretisch-deduktiv mit Rückbindung an Fallstudien unter Berücksichtigung reflexiver Theorieüberprüfung beschrieben werden. Gerade Theorien sind dazu da, die Komplexität der Wirklichkeit handhabbar zu machen.29 „Mit Hilfe von Theorien werden Erwartungen (bzw. Hypothesen) formuliert und überprüft oder auch generiert.“ (APELTAUER 2004, 10) Um das methodische Vorgehen theoretisch abzusichern, sind einige Punkte anzuführen. Grundsätzlich gilt: „The process of designing and implementing a good research project is, in essence, putting together and following a plan that consciously matches methodology with the particular characteristics of what the investigator wants to know“ (BRADLEY 1992, 98). Hier werden Theorien über Strukturen und deren Wandel und die daraus ableitbaren Konsequenzen mit Blick auf tatsächliches Sprachverhalten untersucht, um die Theorie erklärungsadäquater formulieren zu können. Dieser erste Schritt ist deduktiv und in gewisser Weise den methodologi 29
Aus erkenntnistheoretischen Gründen ist es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass die Komplexität bestimmter Phänomene wie der Sprache je völlig durchdrungen werden kann.
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schen Annahmen des Kritischen Rationalismus POPPERS verpflichtet.30 Es geht zunächst darum, falsifizierbare Hypothesen bzw. ein falsifizierbares Theoriegebäude zu formulieren. Anschließend sind diese Theorien fortwährend und kritisch mit Blick auf die empirische Datenlage zu überprüfen und zu verbessern.31 Der Schritt zur Auswahl der Theorien, die zu einem Netzwerk zusammengeführt werden, kann hingegen als abduktiv32 im Sinne von PEIRCE bezeichnet werden. Die Annahme der Relevanz der Evolutions- und Systemtheorie für die Sprachwandeltheorie ist zunächst hypothetisch. Die Linguistik hat sich bisher nur vereinzelt auf diese Theorien bezogen, um neues theoretisches Wissen zu generieren. Der Zusammenhang zwischen Evolutions- und Systemtheorie ist hingegen schon in anderen Disziplinen wie der Verhaltensbiologie (LORENZ 1997), Physik (VOLLMER 1975/2002) und Psychologie (CAMPBELL 1974) und auch in der Soziologie (LUHMANN 1987; 1997) gedacht worden.33 Die Ableitung von Hypothesen setzt immer schon Wissen voraus. POPPER (1969, 104) charakterisiert das rationalistische Erkenntnisinteresse in Bezug auf den sogenannten Positivismusstreit34 folgendermaßen: 30
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Sprachtheoretische Arbeiten fühlen sich naturgemäß eher dem deduktiven Ansatz verbunden und verweisen auf die methodischen Unzulänglichkeiten der Induktion (MÜLLER-MALL 2012, 34; GLAUNINGER 2005, 31). Mit der Hinwendung zum Kritischen Rationalismus soll nicht verkannt sein, dass sich die Linguistik auch (und in vielen Teildisziplinen auch zu Recht) als empirische Wissenschaft versteht. POPPER lehnt die Verifikation von Theorien ab. GLAUNINGER (2005, 32) verweist darauf, dass Theorien, die sich nicht falsifizieren lassen, als metaphysisch eingestuft werden müssen. Damit ist aber grundsätzlich keine Abwertung der Metaphysik verbunden. „Man muss sich im Gegenteil stets die inspirierende und oft fruchtbringende Rolle vor Augen führen, die metaphysische Spekulationen bei der Entstehung von Theorien gespielt haben […].“ (GLAUNINGER 2005, 32) Es geht bei der wissenschaftlichen Formulierung von Theorien aber darum, die metaphysische Inspiration als solche auszuzeichnen und sich davon wissenschaftlich abzusetzen. NAGEL (2013, 32) stellt selbstkritisch fest, „dass ein Hang zu dieser Art von Idealismus in jedem theoretisch denkenden Wissenschaftler stecken muss – denn reiner Empirismus reicht nicht aus“. PEIRCE beschreibt die Abduktion als ein Schlussverfahren, das im Gegensatz zur Deduktion und Induktion steht. Abduktive Schlüsse werden durch überraschende Beobachtungen und Feststellungen möglich, wenn dadurch neue Hypothesen aufgestellt werden können. „The abductive suggestion comes to us like a flash.“ (PEIRCE Collected Papers 5.181) Durch Abduktion sind Hypothesen möglich, die vorher nur schwer denkbar gewesen wären: „but it is the idea of putting together what we had never before dreamed of putting together“ (PEIRCE Collected Papers S. 5.181). Durch Abduktion kann der Wissenschaftler beispielsweise versuchen, ein auffälliges Resultat oder eine besondere Beobachtung mit einer Hypothese zu erklären (vgl. FELDER 2012, 149). In dieser Arbeit wird eine Verknüpfung zu Annahmen der Evolutionären Erkenntnistheorie vorausgesetzt, die radikal-konstruktivistischen Grundannahmen wie der prinzipiellen Unmöglichkeit von Wirklichkeitserkenntnis entgegenstehen (vgl. VOLLMER 2002, 119; 2003). POPPER vertrat auf der Tübinger Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1961 den Standpunkt von der Einheit von Methoden in den Natur- und Sozialwissenschaften. Dem widersprachen HABERMAS und ADORNO, die POPPER und dem kritischen Rationalismus Positivismus unterstellten. Unterstützung bekam POPPER (1969) unter anderem von ALBERT
Methode
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Kein Problem ohne Wissen – kein Problem ohne Nichtwissen. Denn jedes Problem entsteht durch die Entdeckung, daß etwas in unserem vermeintlichen Wissen nicht in Ordnung ist; oder logisch betrachtet, in der Entdeckung eines inneren Widerspruchs zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den Tatsachen, oder vielleicht noch etwas richtiger ausgedrückt, in der Entdeckung eines anscheinenden Widerspruchs zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den vermeintlichen Tatsachen.
Es werden theoretische Annahmen gemacht und Hypothesen formuliert, die erst im Anschluss durch Fallstudien erprobt werden. Eine Arbeit, die sich dezidiert mit Sprachwandel auseinandersetzt, wird schnell als rein diachrone Studie interpretiert. Der methodischen Trennung zwischen synchroner und diachroner Sprachbetrachtung fühlt sich diese Arbeit mit Verweis auf das Modell der Sprachdynamik, das das Konzept der Synchronisierung zugrunde legt (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 28–34; Kap. 2.4.2), nicht verpflichtet. Die Ausführungen (Kap. 5 und 6) zur Erprobung einer evolutionären Sprachwandeltheorie erheben – immer im Bewusstsein gewisser erkenntnistheoretischer Grenzen – den Anspruch erklärend zu sein. Was diese Arbeit allerdings nicht leisten kann, ist ein repräsentatives Bild von Sprachwandel für alle linguistischen Beschreibungsebenen zu zeichnen. Die Theoriekonzeption bleibt aber weiter fallibel und müsste sich auch für die hier nicht erprobten Beschreibungsebenen bewähren. In den Fallstudien werden einerseits Sprachwandelprozesse mit Schnittstellen zur Morphologie untersucht und andererseits durch Sprachkontakt induzierte Wandelerscheinungen der letzten Jahrzehnte im Fokus stehen. Kapitel 5 beschäftigt sich mit der Verwendung und Entwicklung von Genus im Deutschen. Diese werden sowohl mit Rückgriff auf kognitive als auch soziolinguistische Faktoren erklärt. Dazu eignet sich insbesondere die Untersuchung der Entwicklung des generischen Maskulinums, das im deutschsprachigen Raum unter hohem sprachpolitischen Druck steht. Kapitel 6 untersucht die Entwicklung einer sprachkontaktinduzierten Sprechweise, die WIESE (2012) als Kiezdeutsch bezeichnet. Auch hier müssen sowohl kognitive als auch soziolinguistische Parameter für eine adäquate Erklärung des Phänomens herangezogen werden. Die Erklärungen in den Fallstudien sind – dies sei hier schon vorweggenommen – nie grundsätzlich hinreichend empirisch belegt. Zum einen ist es unmöglich, wirklich letztbegründbare Rückschlüsse auf eine sich ohnehin ständig verändernde Sprachwirklichkeit aus linguistischen Korpora zu ziehen (GLAUNINGER 2005, 52). Zum anderen kann das Beobachterparadoxon nicht ausgeräumt werden. Wenn also in dieser Arbeit auf empirische Daten Bezug genommen wird, kann nicht davon gesprochen werden, dass die Belegdaten aus einem statistisch validen
(1969). POPPER und ALBERT wenden sich beispielsweise gegen die Möglichkeit einer wertfreien und induktiven Theoriebildung. Eine Sammlung der Beiträge von POPPER, ALBERT, ADORNO und HABERMAS zu diesem Streit findet sich in MAUS / FÜRSTENBERG (1969) „Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“.
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Einleitung
Korpus gewonnen wurden.35 Die Belege stammen aus den folgenden (Teil-) Korpora:
Sammlung (HARNISCH) Studierende36 Straßenverkehrsordnung37 Sammlung HARNISCH Kindersprache Belege von ELSEN (1991, 135–385) Eigene Belegsammlungen Eigene ‚experimentelle‘ Erhebung von Sprachdaten im Rahmen der Zulassungsarbeit (BÜLOW [unpubliziert] 2008)
In Anlehnung an GLAUNINGER (2005, 52) müssen die hier diskutierten beleglinguistischen Evidenzen als eine Stütze (und nicht als zwingende Beweise) für den dargestellten Theorieentwurf interpretiert werden, zumal eine Theorie mit dem hier zugrundeliegenden kritisch rationalistischen Wissenschaftsverständnis auch niemals verifiziert werden könnte. Aktuell populäre Sprachwandeltheorien wie beispielsweise die Grammatikalisierungstheorie oder die Morphologische Natürlichkeitstheorie werden in der Theoriediskussion berücksichtig. Sie bilden das Fundament für weitere Erklärungsansätze. Sowohl bei der Auswahl der diskutierten Sprachwandeltheorien als auch bei den Fallstudien ist zu berücksichtigen, dass andere Möglichkeiten nicht betrachtet werden. Zugunsten einer ausführlichen und qualitativen Diskussion muss auch auf die Erfassung aller möglichen Beschreibungsebenen der Sprache verzichtet werden. Dort wo Wechselwirkungen zwischen den Beschreibungsebenen offensichtlich sind, werden diese auch in die Diskussion eingebunden. Dass das Ganze oft mehr als die Summe seiner Teile ist (ARISTOTELES Metaphysik, VII 10 1034b–1036a), muss bei der Betrachtung der Einzelphänomene immer beachtet werden. Systemisches Denken kann hierbei sehr hilfreich sein, da versucht wird, sowohl das Gesamtsystem als auch die Beziehungen der Elemente des Systems im Auge zu behalten. Es muss allerdings überlegt werden, wie repräsentativ die ausgesuchten Wandelerscheinungen sind und ob die Ergebnisse generalisiert werden können. Dabei darf nicht der Fehler gemacht werden, Repräsentativität und Generalisierbarkeit von Beispielen miteinander gleichzusetzen: „[W]e need to distinguish two analytically different problems that are usually confused 35
GLAUNINGER (2010, 181) verweist darauf, dass es ein statistisch valides Korpus für den Gegenstand Sprache wohl auch kaum geben kann. 36 Die Belegsammlung von HARNISCH wurde durch eigene Belege erweitert. 37 a) Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) in der Fassung des Inkrafttretens vom 04.12.2010. Letzte Änderung durch: Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung und der Bußgeldkatalog-Verordnung vom 1. Dezember 2010 (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2010 Teil I Nr. 60 S. 1737 Art. 1, ausgegeben zu Bonn am 03. Dezember 2010). b) Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) in der Fassung des Inkrafttretens vom 01.04.2013. Letzte Änderung durch: Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung und der Bußgeldkatalog-Verordnung vom 6. März 2013 (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2013 Teil I Nr. 12 S. 367–427 Art. 1, ausgegeben zu Bonn am 01. April 2013).
Methode
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with one another: the representativeness of samples and the generalizability of findings“ (GOBO 2007, 436). Dass in der Regel eine Auswahl getroffen werden muss, liegt unter anderem an den begrenzten Ressourcen, die Wissenschaftlern zur Verfügung stehen, und daran, dass selten alle Daten (z. B. der gesamten Population), die möglicherweise für eine Auswertung in Frage kommen, auch verfügbar sind. Oft wird vergessen, dass Rückschlüsse aus wenigen Beispielen sowohl in der Wissenschaft als auch im alltäglichen Leben relevant sein können. Dieser Prozess ist tief in unserem Denken und Sprechen verwurzelt. Die Frage, die in der Methodenlehre oft diskutiert wird, ist, wie diese Beispiele bewertet werden müssen. In den Sozialwissenschaften im Allgemeinen, aber auch in der Linguistik im Speziellen haben sich zwei Herangehensweisen etabliert, die als quantitativ und qualitativ beschrieben werden. Die Forscher, die quantitativ arbeiten, verwenden häufig statistische Methoden, um die Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse zu rechtfertigen. Qualitative Studien werden von dieser Seite oft abgewertet und die Ergebnisse in Frage gestellt. GOBO (2007) zeigt allerdings, dass auch die quantitativen Analysen in den Sozial- und Geisteswissenschaften unter Rechtfertigungsdruck stehen. Für welche Herangehensweise sich Wissenschaftler letztlich entscheiden, hängt stark vom Forschungsfeld und vom Erkenntnisinteresse ab. Qualitative Studien sind beispielsweise dann zu bevorzugen, wenn es darum geht, allgemeine Strukturen aufzuzeigen und nachzuvollziehen: In qualitative research, generalizability concerns general structures rather than single social practices, which are only an example of this structure. The ethnographer does not generalize one case or event that, as Max Weber pointed out cannot recur but its main structural aspects that can be notices in other cases or events of the same kind or class. (G OBO 2007, 453)
GOBO (2007, 453) macht dies an einem Beispiel aus dem alltäglichen Leben deutlich: Something similar happens in film and radio production with noise sampling. The squeak of the door (which gives us the shivers when we watch a thriller or a horror) does not represent all squeaks of doors but we associate it with them. We do not think about the differences between that squeak and the one made by our front door; we notice the similarities only.
Ähnlich wird hier mit Blick auf den empirischen Bezug vorgegangen. Die Arbeit kann damit nicht nur als theoretisch, sondern auch als qualitativ verstanden werden. Es geht um die allgemeinen Prozesse sprachlichen Wandels. Generalisierbarkeit im Verhältnis zur Repräsentativität ist dann folgendermaßen zu sehen: Therefore, generalizability is mainly a practically and contingent outcome related to the variance of research topic; in other words it is a function of the invariance (regularities) of the phenomenon, not a standard or automatic algorithm of a statistical rule. (GOBO 2007, 452)
TEIL I: DIE SICHT AUF SPRACHE UND SPRACHWANDEL IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT – HANDLUNGS- UND SYSTEMTHEORETISCHE ANSÄTZE 2 VON STRUKTURALISTISCHEN ZU HANDLUNGSUND DYNAMISCH-SYSTEMTHEORETISCHEN KONZEPTEN DER SPRACHWANDELFORSCHUNG Zu den Aufgaben der Sprachwandelforschung gehört es nicht nur, sprachlichen Wandel zu beschreiben. Dieser muss auch adäquat erklärt werden. Gerade das Erklären bereitet den Linguisten allerdings oft große Probleme. Erklären heißt in wissenschaftlichen Kontexten, im Rahmen einer konsistenten Theorie zu begründen.38 Diese Aussage gilt auch für das Erklären von Sprachwandel. Eine adäquate Sprachwandeltheorie muss nicht nur explizieren, warum und wie sich Sprache verändert, sondern auch auf die Fragen antworten können, warum sprachliche Strukturen in vielen Fällen über einen langen Zeitraum unverändert bleiben oder warum sich viele Ad-hoc-Bildungen nicht durchsetzen (CROFT 2000, 4). Eine entsprechende Sprach(wandel)theorie muss berücksichtigen, dass sprachliche Strukturen sowohl dynamisch als auch stabil sein können. Daher sind nicht nur die Aspekte und Faktoren zu beleuchten, die Wandel verursachen, sondern auch diejenigen, die für Stabilität sorgen. Eine adäquate Sprachwandeltheorie sollte sich auch innerhalb einer entsprechenden Sprachtheorie verorten lassen.39 Diese muss wiederum in der Lage sein, sprachliche Dynamik zu erklären, zumal Wandel eine der wenigen mit Sicherheit verbrieften universalen Eigenschaften von natürlichen Sprachen ist:40 Since its [language; LB] changeability is an undeniable fact, however, one can certainly not simply ignore it when one intends to understand the nature of language, particularly since it is possible that language might not ‚just change‘, but change in specific, interesting ways. Should this be the case, then any model of language which cannot explain these ways must necessarily be incomplete or inadequate, or most likely both. (RITT 2004, 16)
38
TITZMANN (2010, 379) bringt das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Theorie präzise auf den Punkt: „Wissenschaft ohne Theorie ist keine“. 39 Die Sprachwandelforschung versucht, spätestens seit den Junggrammatikern, ihre Ergebnisse in einen größeren theoretischen Überbau einzubetten, der die Beobachtungen, Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen legimitiert und stützt. Dieser theoretische Rahmen sollte möglichst alle sprachhistorischen Erscheinungen und Prozesse erfassen können und zudem mit der Sprachrealität vereinbar sein. 40 „The claims of Universal Grammar […] are either empirically false, unfalsifiable, or misleading in that they refer to tendencies rather than strict universals.“ (EVANS / LEVINSON 2009, 429)
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Konzepte der Sprachwandelforschung
WEINREICH / LABOV / HERZOG (1975, 101–102) fassen diejenigen Punkte zusammen, die eine gute Sprachwandeltheorie beschreiben und erklären können müsste: actuation: Der Antrieb bzw. Grund für Sprachwandel „in a given language at a specific time and place“ constraints: Die Strukturbedingungen und -grenzen, die den Wandel bis zu einem gewissen Grad determinieren transition: Die Diffusion des Sprachwandels durch die Sprechergemeinschaft embedding: Die Rückkopplungseffekte für die sprachliche Strukturiertheit evaluation: Die Reaktionen einer Sprechergemeinschaft auf die Wahrnehmung von Sprachwandelphänomenen Diese Punkte sind allerdings auch vielfach kritisiert worden. MILROY / MILROY (1985, 342) schreiben beispielsweise: „Such a program […] is not necessarily the best way of organizing a systematic study of linguistic change“. Weiterhin müssen die Faktoren Zeit, Raum und soziale Einbettung der Sprecher stärker berücksichtigt werden. Insbesondere innerhalb dieser Parameter lässt sich die Variabilität der Sprache beobachten. Zudem greifen die von WEINREICH / LABOV / HERZOG (1975, 101–102) genannten Punkte ineinander und können kaum isoliert betrachtet werden. Das Zusammenspiel der Punkte verdeutlicht aber auch, dass monokausale Beantwortungsversuche die Komplexität nicht adäquat erfassen können. Überhaupt ist mit HARNISCH (2008, 86) festzuhalten, dass monofaktorielle Erklärungen für Sprachwandel durch polyfaktorielle Erklärungsansätze zu ersetzen sind: Monokausale Ansätze jedenfalls, ob sie nun auf Motive der Markiertheitsevaluation oder Sprachverarbeitungsökonomie, des kommunikativen oder sozialen Erfolgs des Sprachverhaltens abstellen, dürften nicht zielführend sein.
ZEIGE (2011, 17–18) schlägt daher vor, polyfaktorielle Sprachwandelmodelle zu entwerfen: Die Zusammenhänge zwischen Innen und Außen, Struktur und Funktion, Innovation und Diffusion im Sprachwandelprozess sollten deshalb im Sinn polyfaktorieller Modelle integriert werden.
Polyfaktorielle Erklärungen sind dann Sowohl-als-auch-Erklärungen, die zwangsläufig ein integratives Moment aufweisen. Auch CROFT (2000), der einen evolutionären Ansatz vertritt, weist mit Recht auf die Notwendigkeit hin, verschiedene Blickwinkel zusammenzuführen: „[A] comprehensive framework for understanding language change must subsume structural, functional and social dimensions of language change“ (CROFT 2000, 5).41 41
LÜDTKE (1980a, 9) versteht Sprachwandel als ein universelles Phänomen, das sowohl final als auch kausal interpretiert werden kann. Er unterscheidet zwischen endogenem und exogenem Sprachwandel. Zwischen diesen beiden Typen kommt es in systemtheoretisch-kybernetischer Tradition zu Wechselwirkungen. Exogener Sprachwandel wird durch die soziale Umwelt hervorgerufen. Endogener Sprachwandel beruht auf dem Wechselspiel zwischen Freiheitsgraden und Optimierungsstreben im Hinblick auf die kognitive Verarbeitung sprachli-
Sprache und Sprachwandel aus strukturalistischer Sicht
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Dieses Kapitel widmet sich nun im Folgenden den wichtigsten Entwicklungen der Sprach- und Sprachwandeltheorie im 20. Jahrhundert. Dabei wird an gegebener Stelle auch auf Erkenntnisse von HERMANN PAUL und AUGUST SCHLEICHER verwiesen, ohne dass ihnen ein eigenes Unterkapitel gewidmet wird. Es wird zunächst diskutiert, ob der Strukturalismus und seine Ausprägungen über ein angemessenes Sprachbild verfügen, um Sprachwandel in ihr theoretisches Konstrukt zu integrieren bzw. die dringenden Fragen der Sprachwandelforschung beantworten zu können. Anschließend werden Alternativen und deren Traditionslinien aufgezeigt und diskutiert. 2.1 SPRACHE UND SPRACHWANDEL AUS STRUKTURALISTISCHER SICHT Um Sprachwandel aus strukturalistischer Sicht erklären und diskutieren zu können, sind zunächst einige allgemeine Ausführungen zum Begriff und zum Konzept des Strukturalismus notwendig. Der Strukturalismus prägte insbesondere die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts, fand aber auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen Beachtung. Ein literaturwissenschaftliches Verständnis von Strukturalismus, wie es von TITZMANN (1977; 2010) entworfen wird, weicht beispielsweise in zahlreichen Punkten von sprachwissenschaftlichen Konzeptionen ab. BRÜGGER / VIGSØ (2008, 7) schlagen daher vor, besser von „Strukturalismen“ zu sprechen. Dennoch lassen sich entscheidende Schnittmengen ausmachen. In allen Fällen wird auf Systeme, deren Strukturen sowie deren Elemente Bezug genommen. Diese – so die Grundidee – konstituieren dadurch Ordnungen, dass sie in bestimmten Relationen zu einander stehen. Für den Strukturalismus ist folgendes Zitat von SAUSSURE (1916/1978, 43) prägend geworden: „[L]a langue est un système, qui ne connaît que son ordre propre“42. Im literaturwissenschaftlichen Strukturalismus ist von Literatursystemen die Rede, der Sprachwissenschaft geht es hingegen um das abstrakte Sprachsystem. SAUSSURE (1916/1978, 23) nennt dieses „langue“.43 Entscheidend an dieser Sprachsystemauffassung ist der Gedanke, dass die Konstitution eines Sprachzustandes über die Beziehungen der Elemente zueinander untersucht werden muss (SAUSSURE 1967, 147). Tatsächlich beziehen sich die entscheidenden Arbeiten zum sprachwissenschaftlichen Strukturalismus allesamt auf SAUSSURES „Cours de cher Struktur. LÜDTKE (1980a, 10) spricht von Selektion, was zeigt, wie sehr systemisches Denken auf evolutionärem Denken beruht: „Sprachliche Tätigkeit ist also ein komplexes Wechselspiel aus Wahl (zwischen unbegrenzten Möglichkeiten), Selektion (unter einer gegebenen Anzahl von Alternativen) und Zwang (zu determinierten Schritten zwecks Erreichung eines selbst gesteckten Kommunikationszieles)“. 42 „[D]ie Sprache ist ein System, das nur seine eigene Ordnung zuläßt.“ (SAUSSURE 1967, 27) 43 Die ‚langue‘ ist das abstrakte Sprachsystem, das den konkreten Sprachgebrauch, der im „Cours de linguistique générale“ (SAUSSURE 1978) ‚parole‘ genannt wird, strukturiert. Der Begriff ‚langage‘ meint einen allgemeinen Begriff von Sprache.
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Konzepte der Sprachwandelforschung
linguistique générale“ (1916/1978). Zu nennen sind hier beispielsweise die Prager Schule, der ROMAN JOKOBSEN und NIKOLAJ TRUBETZKOY angehörten, der Kopenhagener Linguistenkreis, dessen wichtigster Denker LOUIS HJELMSLEV war, und der amerikanische Strukturalismus, der wesentlich durch LEONARD BLOOM44 FIELD und NOAM CHOMSKY geprägt wurde. Der „Cours“ wurde erst posthum von SAUSSURES Schülern CHARLES BALLY und ALBERT SECHEHAYE herausgegeben und beruht im Wesentlichen auf den Mitschriften der Genfer Vorlesungen SAUSSURES zwischen 1907 und 1911. SAUSSURES Name und der „Cours“ sind deshalb noch immer eng mit der strukturalistischen Idee verknüpft. JÄGER (2010, 104) merkt allerdings quellenkritisch an, dass die handschriftlichen Überlegungen beispielsweise der sogenannten „Genfer Gartenhausnotizen“ (SAUSSURE 2003) „in einem so vollkommenen Gegensatz zu dem strukturalistischen Programm“ stehen, dass SAUSSURE sogar als Kritiker von strukturalistischen Ansichten gelesen werden müsste. Es liegt deshalb auf der Hand, dass die Modellierung des Zeichens, die die Herausgeberautoren des ‚Cours‘ vor dem Hintergrund ihrer ‚strukturalistischen‘ Auffassung des Verhältnisses von langue und parole ihrer Edition zugrunde gelegt haben, nicht diejenige Saussures sein konnte. (JÄGER 2010, 107–108)
In dem Zitat wird die Konzeption einer Unterscheidung angesprochen, die für den sprachwissenschaftlichen Strukturalismus grundlegend wurde, die SAUSSURE aber wohl nie so radikal vertreten hätte, sondern vielmehr dem „Cours“ und seiner Wirkungsgeschichte zuzuschreiben ist. Im Folgenden wird in dieser Arbeit anstelle eines Autors deshalb der Text genannt.45 Die Differenzierung zwischen Sprachsystem (langue) auf der einen Seite und Sprachgebrauch (parole) auf der anderen Seite ist noch immer kennzeichnend für weite Teile der Grammatikschreibung. Unter Sprachsystem versteht der „Cours“ den Teil der Sprache, der nicht vom Individuum gesteuert ist, den es weder schaffen noch ändern kann, sondern der sich virtuell in den Gehirnen der Individuen befindet in Form der sprachlichen Konventionen, die in einer bestimmten Sprachgemeinschaft gelten und die einen individuellen Sprachgebrauch überhaupt erst ermöglichen (BRÜGGER / VIGSØ 2008, 14).
Zum einen wird deutlich, dass mit ‚Sprachsystem‘ (langue) etwas Abstraktes und Virtuelles gemeint ist, zum anderen wird klar, dass strukturalistische Ideen auch frühes systemtheoretisches Denken beinhalten. Dieses Denken findet sich auch in der Konzeption des sprachlichen Zeichens. 44
In Deutschland setzte die Herausbildung des Strukturalismus bedingt durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erst verspätet ein (VATER 2010, 149). Auch wenn die Arbeiten von HANS GLINZ (1965) strukturalistische Tendenzen aufweisen, nahm die Wiederentdeckung des Strukturalismus nicht den Weg über die Schweiz, sondern über Ostberlin, wo 1961 die „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ an der Deutschen Akademie der Wissenschaften eingerichtet wurde. Zu den wichtigsten Vertretern des deutschen Strukturalismus dieser Phase zählen MANFRED BIERWISCH, WOLFGANG MOTSCH und HEINZ VATER. 45 Auszüge werden allerdings weiterhin in Klammern unter dem Namen SAUSSURES zitiert.
Sprache und Sprachwandel aus strukturalistischer Sicht
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2.1.1 Das sprachliche Zeichen Im „Cours“ werden dem sprachlichen Zeichen zwei wesentliche Eigenschaften zugeschrieben: a) Arbitrarität und b) Linearität. Der Hintergrund dieser Eigenschaften ist, dass das sprachliche Zeichen „etwas Doppelseitiges ist, das aus der Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht“ (SAUSSURE 1967, 77). Beide Bestandteile sind psychischer Natur und durch Assoziation verknüpft. Gemeint ist die Verbindung zwischen psychischem Lautbild, das ist die Vorstellung, die der Sprecher von den Lauten hat (signifiant), und dem dazugehörigen Begriff (signifié). Im Systemzusammenhang ist das sprachliche Zeichen eine psychische Entität. „[L]e signe linguistique est arbitraire“ (SAUSSURE 1978, 100) meint, dass die Verbindung zwischen signifié und signifiant beliebig und zufällig ist. Im „Cours“ wird argumentiert, dass verschiedene Sprachen für gleiche Begriffe unterschiedliche Lautvorstellungen hätten.46 Dem sprachlichen Zeichen wird damit zugesprochen, dass es unmotiviert sei und lediglich auf Konventionen beruhe.47 Auch wenn im „Cours“ behauptet wird, dass niemand diese Eigenschaft bezweifeln würde, muss dieses starke Arbitraritäts- und Unmotiviertheitspostulat an anderer Stelle noch einmal kritisch aufgegriffen werden (vgl. Kap. 5.1). „[C]’est une ligne“ (SAUSSURE 1978, 103) heißt, dass sprachliche Zeichen immer nur nacheinander in zeitlichem Abstand geäußert werden können, dass sie eine Ausdehnung darstellen. Die Linearität steht in Zusammenhang mit der Syntagmatizität der sprachlichen Zeichen.48 Das Syntagma bildet sich aus dem Zusammenwirken der einzelnen Elemente, die in einem konkreten Bezug zueinander stehen. Der Wert eines Zeichens ist zum einen immateriell und zum anderen nur innerhalb eines Bezugsrahmens eines Systems von Bedeutung. 2.1.2 System und Struktur Im „Cours“ erscheint Struktur zwar nicht als Terminus, dafür wird aber eine strukturalistische Definition des Begriffes vorbereitet. Zudem wird Sprache schon sehr deutlich als System mit psychischem Charakter beschrieben. 46
Diese Begründung verwendete bereits PLATON in seinem Kratylos-Dialog. HERMOGENES nimmt hier die Position des Konventionalisten ein und behauptet: „Ich [...] kann mich nicht überzeugen, daß es eine andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet. [...]. Denn kein Name irgendeines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen.“ (PLATON Kratylos 384c–d) 47 Arbitrarität und Konventionalität sind untrennbar miteinander verbunden. Sie sind zwei Aspekte desselben Sachverhalts (vgl. BUSSE 2009, 28). 48 Zur Bedeutung der Linearität für die Sprachverwendung vgl. BUSSE (2009, 28).
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Konzepte der Sprachwandelforschung C’est un système de signes où il n’y a d’essentiel que l’union du sens et de l’image acoustique, et où les deux parties du signe sont également psychiques. (SAUSSURE 1978, 32)
Nur innerhalb dieses Systems erhält das sprachliche Zeichen in der Differenz und in der Beziehung zu anderen Zeichen seinen Wert. „Das sprachliche Signifiant besteht nicht aus der materiellen Substanz, sondern ausschließlich aus den Unterschieden, die sein akustisches Bild von allen anderen akustischen Bildern, d. h. anderen Signifiants unterscheidet.“ (BRÜGGER / VIGSØ 2008, 14) Die Grundidee des Strukturalismus besteht darin, dass die Teile eines Systems erst durch ihre Beziehungen zueinander definiert sind. Sprachliche Zeichen treten damit innerhalb des Systems als relationale Gegensätze auf. Sie werden aber auch durch ihre syntagmatische Stellung, d. h. durch ihre Reihenfolge im zeitlichen Kontinuum, bestimmt. Neben der syntagmatischen Beziehung von Zeichen existiert außerdem eine assoziative Verbindung. Die Zeichen sind Klassen und Paradigmen wie Wortarten oder Morphemtypen zuzuordnen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Feststellung, dass das Sprachsystem keine Substanz, sondern ausschließlich Form sei. Die Betonung der Form und die Verlagerung des Zeichensystems in einen virtuellen Raum hatten zur Folge, dass die strukturalistische Sprachwissenschaft die langue als ihr primäres Erkenntnisinteresse formulierte und die parole dadurch lange ein Schattendasein fristen musste. So sind auch die kognitive Wende und das mentalistische Paradigma des amerikanischen Strukturalismus durch CHOMSKY zu erklären, aus dem sich die generative Grammatiktradition entwickeln sollte. Zwar wurde schon im „Cours“ hervorgehoben, dass auch das grammatische System einen psychologischen Charakter besitzt – „un système grammatical existant virtuellement dans chaque cerveau, ou plus exactement dans les cerveaux d’un ensemble d’individus“ (SAUSSURE 1978, 30) –, doch mit der kognitiven Revolution wurde das Sprachsystem zunehmend auf die Syntax reduziert. Die generative Grammatik wollte zunächst ohne Semantik, Kontext, Text und Weltwissen auskommen. Dies war auch dem Bedürfnis nach naturwissenschaftlicher Exaktheit geschuldet. Das hieß, wie in der Physik oder anderen Naturwissenschaften den Anspruch zu erheben, ideale und konstante Bedingungen als Maßstab zu setzen und hypothetisch deduktiv zu arbeiten. Mutmaßliche äußere Störfaktoren wie individuelle Sprecher, verschiedene Kontexte oder gesellschaftliche Entwicklungen mussten so nicht operationalisiert werden. Sowohl der generative Strukturalismus als auch die ideal language philosophy zeigten eine große Affinität zur Formalisierung und Mathematisierung sprachlicher Strukturen.49 Die den Diskurs beherrschenden Hochwertvokabeln hießen Theorie, Exaktheit, Präzision sowie Problem und Problemlösen. Ihre primäre Funktion bestand m. E. in der Abgrenzung von und der Stigmatisierung der diachronen Germanistik […]. (HASS 2010, 209)
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Besonders CARNAP prägte mit seinem Werk „Logische Syntax der Sprache“ (1934/1968) die Entwicklung der generativen Grammatik. Den Ausgangspunkt nimmt die Entwicklung allerdings bereits bei LEIBNITZ und DESCARTES. Weitere wichtige Vertreter waren RUSSEL und der frühe WITTGENSTEIN.
Sprache und Sprachwandel aus strukturalistischer Sicht
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Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mit dem Strukturalismus insbesondere die historische Sprachwissenschaft an Substanz und Anerkennung verlor. Der „Cours“ stellt deutlich die Wichtigkeit der Beschreibung des synchronen Sprachstandes gegenüber der Diachronie heraus. Der Gegensatz zwischen dem Diachronischen und dem Synchronischen zeigt sich auf Schritt und Tritt. Ich beginne gleich mit dem Punkt, der am deutlichsten in die Augen springt: beide sind nicht gleich wichtig. Es ist nämlich klar, daß die synchronische Betrachtungsweise der anderen übergeordnet ist, weil sie für die Masse der Sprechenden die wahre und einzige Realität ist. Ebenso ist es für den Sprachforscher: vom Gesichtspunkt der Diachronie aus kann er nicht mehr die Sprache selbst wahrnehmen, sondern nur eine Reihe von Ereignissen, welche sie umgestalten. (SAUSSURE 1967, 106–107)
Das Sprachsystem könne nur adäquat beschrieben werden, wenn der Sprachwissenschaftler die Diachronie ignoriert. „Er kann in das Bewußtsein der Sprechenden nur eindringen, indem er von der Vergangenheit absieht. Die Hineinmischung der Geschichte kann sein Urteil nur irreführen.“ (SAUSSURE 1967, 96) Die Geschichtlichkeit der Sprache wird zwar im „Cours“ durchaus anerkannt. COSERIU (1974, 217–219) sieht das Problem im „Cours“ allerdings darin, dass die Phonetik dort mit der diachronen Sprachwissenschaft gleichgesetzt wird und die Grammatik mit der synchronen Sprachwissenschaft. Im „Cours“ wird somit verkannt, dass Lautwandel und Grammatikwandel ineinandergreifen. Vielmehr wird der Lautwandel dort als „asystematisch“ und „der Sprache äußerlich“ dargestellt. Lautwandel würde demnach in erster Linie die Form und nicht das System betreffen. COSERIU (1974, 215) stellt daher fest, „daß de Saussure, um die Äußerlichkeit des Wandels zu behaupten, seiner eigenen Sprachauffassung Gewalt antun und zu einer fehlerhaften und widersprüchlichen Argumentation greifen mußte“. Die Aussagen im „Cours“ haben zu einer zeitweiligen Abwertung der historischen Sprachwissenschaft geführt und lassen verstehen, weshalb beispielsweise die generative Grammatik kaum Interesse an Sprachwandelprozessen gezeigt hat (SCHEERER 1980, 88). Das System müsse stets synchron gefasst werden. Deshalb befasst sich die synchrone Sprachwissenschaft „mit logischen und psychologischen Verhältnissen, welche zwischen gleichzeitigen Gliedern, die ein System bilden, bestehen, so wie sie von einem und demselben Kollektivbewußtsein wahrgenommen werden“ (SAUSSURE 1967, 119). Auch wenn VATER (2010, 135) betont, dass die generative Grammatik dem Strukturalismus entwachsen ist, wird deutlich, wo ihre Anfänge und Traditionen begründet sind. Dazu gehören u. a. der Systemgedanke, die Betonung der Kompetenz vor der Performanz und die Unterschätzung der historischen Sprachwissenschaft. ŠAUMJAN (1971, 60), der die Bezüge zwischen struktureller Linguistik und generativer Grammatik begründet, formuliert klar: „Die strukturale Linguistik ist eine synchronische Disziplin“.50 Die klare Trennung zwischen Synchronie und Diachronie in der strukturalistischen Sprachwissenschaft beeinflusst wesentlich das Verständnis des Strukturbe 50
„Den Grundgehalt der strukturalen Linguistik muß die Theorie der generativen Grammatik bilden.“ (ŠAUMJAN 1971, 462)
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Konzepte der Sprachwandelforschung
griffes, der bei SAUSSURE mit dem Begriff der Form anklingt. Der Begriff Struktur findet sich erstmals bei TRUBETZKOY (1939/1977), der dem Prager Linguistenkreis angehörte. Der Strukturbegriff soll die Beziehung der Elemente in einem System fassen. „Ainsi, dans un état de langue, tout repose sur des raports“.51 (SAUSSURE 1978, 170) Erst wenn die Struktur eines Systems bekannt ist, kann den Elementen ein Platz zugewiesen werden. Abweichungen oder Auffälligkeiten können zum Beispiel erst dann als solche erkannt werden, wenn das System und seine Strukturen erfasst wurden. Die Struktur ist in der strukturellen Tradition ausschließlich auf das Sprachsystem zu beziehen. Die syntagmatische Reihung eines Satzes und seine zugrunde liegende Struktur sind in der langue verortet: „Mais ce n’est pas tout; il faut attribuer à la langue, non à la parole, tous les types de syntagmes construits sur des formes régulières“ (SAUSSURE 1978, 173). TRUBETZKOY bezieht den Strukturbegriff zunächst auf die Phonologie. Sein Hauptwerk „Grundzüge der Phonologie“ (1939) löst die Phonologie aus der Phonetik heraus. In der Phonologie ging es fortan um die funktionale Entität mit bedeutungsunterscheidendem Charakter.52 Der funktionelle Wert eines Phonems kann aber nur für Erklärungen herangezogen werden, wenn die Stellung im System bekannt ist. Diese kann durch Distributionsanalysen ermittelt werden. Einen Strukturbegriff liefert auch der dänische Sprachwissenschaftler HJELMSLEV in Anlehnung an die Überlegungen des „Cours“.53 Die Struktur ist die Gesamtheit der konstitutiven Züge eines Sprachsystems, so wie es allgemein für Systeme gilt. Die Struktur beruht auf der Tatsache, dass die Teile des Systems voneinander abhängen und nur in Kraft dieser Abhängigkeit existieren, und dass diese Abhängigkeiten wiederum voneinander abhängen. Wenn man ‚Struktur‘ sagt, sagt man Abhängigkeit zwischen Teilen des Systems (d. h. zwischen den Teilen des Systems und den Abhängigkeiten der Teile). (HJELMSLEV 1939, 122; zitiert nach BRÜGGER / VIGSØ 2008, 31)
Die Sprache wird von ihm als ein autonomes und geschlossenes System betrachtet. Dieses System besteht aus Elementen und Teilen. Die Abhängigkeiten und Beziehungen der Elemente lassen sich als Struktur beschreiben. Diese Struktur ist sprachimmanent und hängt nicht von außersprachlichen Faktoren ab. HJELMSLEV bezeichnet die Sprache in diesem Sinne als Totalität (vgl. ROLF 2008, 42). Sein Idealbild des Strukturalismus war eine exakte, deduktive und systematische Wissenschaft. Zum strukturalistischen Strukturbegriff lässt sich zusammenfassend sagen, dass dieser in Bezug auf ein geschlossenes Sprachsystem gedacht wird, das von äußeren Faktoren unabhängig existiert.
51 „So beruht denn bei einem Sprachzustand alles auf Beziehungen.“ (SAUSSURE 1967, 147) 52 TRUBETZKOY (1939/1977, 38) beschreibt das Phonem in seiner Funktion als bedeutungsunterscheidend: „Das Phonem ist vor allem ein funktioneller Begriff, der hinsichtlich seiner Funktion definiert werden muß“. 53 HJELMSLEV wurde zudem maßgeblich von CARNAP beeinflusst (ROLF 2008, 41–42).
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Ein gegebenes Sprachsystem, das aus Elementen besteht, die sich gegenseitig bedingen, lässt sich also durch die interne Anordnung der Elemente von anderen Systemen unterscheiden, eine Anordnung, welche man als Struktur des Systems bezeichnen kann. (BRÜGGER / VIGSØ 2008, 28)
Abweichungen vom idealisierten System der langue bzw. Kompetenz werden aus methodischen Gründen als Phänomene der parole bzw. Performanz vernachlässigt und nicht in die synchrone Sprachbeschreibung integriert. 2.1.3 Sprachwandel Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, gehörte die diachron ausgerichtete Sprachforschung lange nicht zum primären Erkenntnisinteresse der strukturalistischen Linguistik. Damit verbunden ist auch eine lange andauernde Geringschätzung der Variations- und Soziolinguistik. For quite a long period of time, variation phenomena were simply ignored in the development of formal linguistic theory. One important property of the generative enterprise was idealization. (DUFTER / FLEISCHER / SEILER 2009, 6)
Was man aus Sicht des Strukturalismus erfassen könne, seien lediglich historische Sprachzustände, die sich wiederum synchron als System beschreiben ließen. Feststellbar ist, dass jüngere Systeme „Umformungsresultate“ aus älteren Systemen sind (ŠAUMJAN 1971, 60). Die Charakterisierung als „Umformungsresultate“ deutet schon darauf hin, dass die Erklärung von Systemwandel als Prozess nicht unbedingt zum strukturalistischen Forschungsprogramm gehörte. Das mehr oder weniger statische Systemverständnis musste allerdings durch die zahlreichen Variationen, wie sie sich in verschiedenen Dialekten, Fachsprachen und Jugendsprachen zeigen, herausgefordert werden. Tatsache ist, „dass uns Sprache über den gesamten Zeitraum, für den wir über gesicherte Daten verfügen, als heterogen und sich ständig wandelnd gegenübertritt“ (SCHMIDT 2005a, 16). Der Versuch, dynamische Systeme als Aufeinanderfolge synchroner und stabiler Systemzustände zu erklären, ist methodisch inadäquat (SCHMIDT 2005a, 17). Dieses Vorgehen verstellt entscheidend den Blick für den dynamischen und variantenreichen Charakter der Sprache. Auch das Konzept homogener Varietäten erweist sich „empirisch als leer und theoretisch als falsch“ (SCHMIDT 2005b, 62). Richtungsweisend für eine Neuorientierung und Rückbesinnung auf die Sprachwandelforschung war die Arbeit von WEINREICH / LABOV / HERZOG (1975), die auf Schwierigkeiten der Vereinbarung von strukturalistischer Sprachauffassung und historischer Sprachwissenschaft aufmerksam machen und ein variationsorientiertes und soziolinguistisches Paradigma begründen. WEINREICH / LABOV / HERZOG (1975, 188) formulieren: „Not all variability and heterogeneity in language structure involves change; but all change involves variability and heterogeneity“. Es ist allerdings nicht so, dass die defizitäre Haltung der strukturalistischen Sprachwissenschaft gegenüber der historischen Sprachwissenschaft nicht schon
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Konzepte der Sprachwandelforschung
früher erkannt wurde. WERNER (1969, 125) plädiert beispielsweise für eine Anwendung der strukturalistischen Methoden auf die Sprachgeschichtsforschung: Seit de Saussures überspitzter Formulierung glaubte man lange Zeit, Sprachgeschichte und strukturelle Sprachbetrachtung würden sich ausschließen; der Strukturalismus drohe, die Sprachgeschichte – ein Zentrum unseres germanistischen Studiums – zu verdrängen. Im Gegenteil, der strukturalistisch geschärfte Blick kommt auch einem vertieften Studium der Sprachentwicklung zugute.
Seine Ergebnisse begründet WERNER (1969, 102) in strukturalistischer Tradition allerdings ausschließlich mit systemimmanenten Prozessen.54 Diese schon aufgeschlossenere system-funktionalistische Sicht innerhalb der strukturalistischen Linguistik kann zwar als Fortschritt bezeichnet werden, bleibt aber in monokausalen Erklärungszusammenhängen hängen, die Sprachwandel als „push chains and drag chains“ zu fassen versucht (CROFT 1996, 121).55 Abgesehen davon, dass die Transformation einer Oberflächenstruktur aus einer Tiefenstruktur dynamisch erscheint, hält ŠAUMJAN (1971, 41) fest: Strukturale Linguistik, statische Linguistik, synchronische Linguistik, deskriptive Linguistik gelten bis heute als Synonyme, (insbesondere geht die Gleichsetzung der Termini ‚synchronische Linguistik‘ und ‚statische Linguistik‘ auf F. de Saussure zurück).
Die Beschreibung als ‚synchronische‘ und ‚statische Linguistik‘ ist sicher im „Cours“ angedeutet, doch kann nur schwerlich davon gesprochen werden, dass SAUSSURE für alle Aussagen selbst verantwortlich ist. Gerade in Bezug auf die Konzeption von Sprachwandel sind einige Ungereimtheiten im „Cours“ auszumachen, die auf Widersprüche zwischen der tatsächlichen Meinung SAUSSURES und der Herausgeberintention hindeuten. SAUSSURE hätte wohl nicht behauptet, dass keine Sprachgeschichtsforschung betrieben werden solle. Im „Cours“ wird einerseits ausgesagt, dass die langue unveränderlich sei, andererseits sollte aber das Kapitel über die „Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit des Zeichens“ (SAUSSURE 1967, 83–93) nicht vergessen werden. Hierin wird deutlich, dass das Sprachsystem auch dynamische Aspekte enthalten muss: „nämlich daß die sprachlichen Zeichen mehr oder weniger schnell umgestaltet werden, und in einem gewissen Sinn kann man zu gleicher Zeit von der Unveränderlichkeit und von der Veränderlichkeit des Zeichens sprechen“ (SAUSSURE 1967, 87). Es findet im Laufe der Zeit „eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen dem Bezeichneten und Bezeichnung“ (SAUSSURE 1967, 88) statt. Diese Verschiebung beruht auf der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens. Im Gegensatz zu Sitten und Gesetzen, wo nur bedingt von Beliebigkeit gesprochen werden kann, sei die Sprache „in keiner Weise in der Wahl ihrer Mittel beschränkt, denn es ist nicht einzusehen, was die Assoziation irgendeiner beliebigen Vorstellung mit einer beliebigen Lautfolge verhindern könnte“ (SAUSSURE 1967, 89). Dennoch erscheint die Sprache im 54 55
EGGERS (1969, 29) verweist im selben Sammelband sehr anschaulich darauf, dass der Sprachwandel „seine tiefsten Ursachen im gesellschaftlichen Wandel hat“. Diese Auffassung wurde beispielsweise auch von MARTINET (1952) vertreten.
Sprache und Sprachwandel aus strukturalistischer Sicht
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„Cours“ als eine von den Menschen geschaffene und damit in der Zeit verankerte „Institution“. Hier wird etwas deutlich, was im Strukturalismus und insbesondere in der generativen Grammatik gerne unterschätzt wird. Die Sprache hat eben auch eine soziale und funktionale Dimension, die strukturprägend sein können. „Ihre soziale Natur gehört zu ihrem inneren Wesen.“ (SAUSSURE 1967, 91)56 Diese Einschätzung steht allerdings im Widerspruch zu der strukturalistischen Annahme, dass die Sprache ein geschlossenes System sei, indem lediglich interne Kräfte und Abhängigkeiten wirken. Es ist beispielsweise so, dass der historische Charakter der Sprache trotz aller Beliebigkeit und Dynamik als strukturformende Komponente wirkt. Die Strukturen der Gegenwart sind durch die Strukturen der Vergangenheit mitbestimmt. „Die Zeichen sind ein Erbe früherer Zeiten. Das Verhältnis zwischen Signifié und Signifiant ist immer schon festgelegt – die Sprachgemeinschaft, die sich eines Sprachsystems bedient, übernimmt es von anderen.“ (BRÜGGER / VIGSØ 2008, 22) Der historische Charakter der Sprache ist immens wichtig, denn trotz der zahlreichen Freiheiten muss Wandel immer an einer bestehenden Struktur ansetzen. „Das Sprachsystem ist der Hintergrund, der die Möglichkeiten des Sprachgebrauchs bedingt, und daher auch die Möglichkeiten für sprachliche Erneuerungen.“ (BRÜGGER / VIGSØ 2008, 22) Damit ist aber nichts darüber ausgesagt, wie sich das Sprachsystem konstituiert, ob es in grundlegenden Strukturen angeboren ist oder ausschließlich gelernt werden muss. Weder die Beliebigkeit des Zeichens noch die Zeit oder der soziale Charakter der Sprache sind allein dynamisierend oder stabilisierend. Sie sind immer beides. So wird die scheinbare Paradoxie von der „Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit des Zeichens“ (SAUSSURE 1967, 83) verständlich. BRÜGGER / VIGSØ (2008, 24) fassen die Eigenschaften der genannten Faktoren folgendermaßen zusammen: Einerseits ist das sprachliche Zeichen stets festgelegt in Form der arbiträren Konventionen, die ererbt wird und deren Kontinuität durch das Soziale gesichert wird. Aber andererseits bewirken gerade die Beliebigkeit des Zeichens, der Lauf der Zeit und das Soziale auch, dass das Zeichen immer potentiell offen für Veränderungen ist.
Des Weiteren hat die strukturalistische Linguistik den konkrete Sprachgebrauch und den Idiolekt unterschätzt. Insbesondere der Sprachgebrauch macht aber die soziale Dimension der Sprache aus. „[I]t is not languages that innovate; it is speakers who innovate“ (MILROY / MILROY 1985, 345). Auch deshalb ist der ideale Sprecher-Hörer der strukturalistischen Schule eine reduktionistische, statisch konzipierte und unrealistische Gedankenfigur. Der Bezug auf einen idealen Spre 56
Sprache als soziale Tatsache zu charakterisieren, scheint heute zu der Aussage „Die Sprache ist ein System, das nichts als seine eigene Ordnung kennt“ (SAUSSURE 1967, 27) in einem nur schwer aufzulösenden Spannungsverhältnis zu stehen. Diese Spannung ist wohl auch auf editorische Fehler der Herausgeber des „Cours“ und die einseitige Kenntnisnahme der Systemidee durch die nachfolgenden Generationen von Linguisten zurückzuführen. BUSSE (2005, 23) betont, dass die „Konzipierung der Sprache als eines Systems aus Elementen und Relationen nicht von vornherein einem Verständnis der Sprache als eines im Kern sozialen Phänomens“ entgegensteht.
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Konzepte der Sprachwandelforschung
cher-Hörer hat zudem zwangsläufig eine Abwertung bzw. Missachtung des Idiolekts57 und damit auch des konkreten Sprachgebrauchs zur Folge. Unserem Sprachgebrauch liegt also ein doppeltes, dialektisches Verhältnis zwischen Sprachgebrauch und Sprachsystem zugrunde. Durch die konkrete Sprechhandlung aktualisiert der Sprecher die virtuelle Struktur, die das Sprachsystem zur Verfügung stellt – und durch den Sprachgebrauch anderer geschaffen wurde – dadurch, dass er sie gleichzeitig benutzt wie sie ist, sie aber auch ändert. (BRÜGGER / VIGSØ 2008, 25)
Diese Wechselwirkung von Sprachgebrauch und Sprachsystem ist durch die lange dominierende generative Grammatik scheinbar bei der Erforschung von sprachlichen Strukturen so gut wie nie berücksichtigt worden. Sprachstruktur wird hier als individualpsychologisches Phänomen verstanden. Die Abstrahierung ist so weit vorangeschritten, dass das Sprachsystem ohne funktionale Aspekte gedacht werden konnte. CHOMSKY (1965, 3) verortet den idealen Sprecher-Hörer zudem in einer homogenen Sprachgemeinschaft:58 Linguistic theory is concerned primarily with an ideal speaker-listener, in a completely homogeneous speech-community, who knows its language perfectly and is unaffected by such grammatically irrelevant conditions as memory limitations, distractions, shifts of attention and interest, and errors (random or characteristic) in applying his knowledge of the language in actual performance.
Insbesondere WEINREICH / LABOV / HERZOG (1975, 125) stellen diese idealisierende Position CHOMSKYS zu Recht in Frage: [D]eviations from a homogeneous system are not all errorlike vagaries of performance, but are to a high degree coded and part of a realistic description of the competence of a member of a speech community.
Strukturiertheit von Sprache bedeutet nicht, dass diese homogen ist. WEINREICH / LABOV / HERZOG (1975, 100) argumentieren: [T]he generative model for the description of language as a homogeneous object […] is itself needlessly unrealistic and represents a backward step from structural theories capable of accommodating the facts of orderly heterogeneity.
CHOMSKY möchte sprachliche Strukturen als geschlossenes System kognitivbiologisch erklären. Bis heute fehlt der generativen Grammatik aber ein angemessenes Verhältnis zum Sprachwandel und zur Pragmatik. BUSSE (2005, 24) konstatiert: Die Auffassung, dass es möglich sei, eine Systemlinguistik so zu betreiben, dass keinerlei Bezug auf Situationen und Kontexte des Sprachgebrauchs genommen wird, […], kann nur […] auf einer theorie- und interessengeleiteten Selbsttäuschung beruhen.
57 Der Idiolekt ist das als offenes System organisierte Sprachwissen des Individuums, das durch sozialen Austausch sein eigenes Sprachwissen beständig aktualisiert (vgl. Kap. 2.4). 58 Zur weiteren Diskussion des idealen Sprecher-Hörers in Bezug auf Sprachwandel vgl. RITT (2004, 34–36).
Sprache und Sprachwandel aus strukturalistischer Sicht
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Die Reduzierung des sprachwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstandes auf individualpsychologische, kognitive Prozesse und die Ausblendung des Sprachgebrauchs bezeichnet JÄGER (1993, 95) zu Recht deutlich als „Erosion“ des Erkenntnisgegenstandes der Linguistik. Auch für Sprachwandelphänomene ist so kaum Erkenntnisinteresse vorhanden, weil potenzielle Ergebnisse wohlmöglich das statische Sprachsystemverständnis gefährden. Sprachwandel kann vielleicht als Untersuchungsgegenstand ausgeblendet werden, er lässt sich als Tatsache allerdings nicht leugnen. Insbesondere die generative Grammatiktradition hat daher darauf verwiesen, dass der Sprachwandel (speziell grammatischer Wandel) durch den Erstspracherwerb ausgelöst wird, indem Regeln von den Kindern übergeneralisiert werden (vgl. LIGHTFOOT 1991; HALLE 1962). Die sogenannte child-based theory of language change wirft bestimmte empirische Implikationen auf (CROFT 2000, 45–46): Historische Sprachwandelprozesse sind identisch mit Wandelprozessen im Erstspracherwerb. Änderungen, die im Erstspracherwerb auftreten, werden bis ins Erwachsenenalter beibehalten. Sprachwandel erscheint relativ abrupt, da er in Generationen auftritt. Ein Sprecher verfügt entweder über die ‚alte‘ Grammatik oder die ‚neue‘ Grammatik. CROFT (2000, 44–53) zeigt, dass alle vier Annahmen empirisch nicht haltbar sind und die child-based theory of language change in dieser starken Ausprägung verworfen werden muss, ohne damit anzuzweifeln, dass Sprachwandel durch den Spracherwerb beeinflusst ist. „That language change occurs primarily as a result of acquisition is uncontroversial.“ (TRAUGOTT 2012, 549) Dennoch kann Sprachwandel bei Sprechergruppen in allen Altersgruppen stattfinden, wenn wohl auch Jugendliche noch am stärksten zum Sprachwandel beitragen (ZIMMERMANN 2012, 232–236; AUER 2003, 255–256). Selbst in der Phonologie – eigentlich eine Bastion des Strukturalismus – muss Wandel teilweise auf soziale Einflüsse zurückgeführt werden (BUSSE 2005, 24; LABOV 1975, 332; 1972a). Bestimmte Aussprachevarianten genießen insbesondere in der Umgangssprache und den Dialekten ein hohes Prestige. Was in der Phonologie eine Rolle spielt, macht sich erst recht in der Semantik – einem weiteren wichtigen Feld der strukturalistischen Forschung – bemerkbar. BUSSE (2005, 25) bemerkt kritisch: Die Idee etwa eines abgeschlossenen Inventars wesentlicher semantischer Merkmale, zwischen denen als den Elementen eines semantischen Systems dann so etwas wie eine geordnete Menge von Relationen aufzeigbar sei, konnte der sprachlichen Realität aus prinzipiellen Gründen nicht gerecht werden.
Insbesondere LABOV (1975, 332) hat schon sehr früh die strukturalistischgenerative Sichtweise in Bezug auf eine sich wandelnde Sprache mit dem Hinweis auf soziale Einflussfaktoren kritisiert:
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Konzepte der Sprachwandelforschung Man kann nicht länger das Argument vertreten, daß der Linguist seine Erklärungen des Wandels auf die wechselseitigen Einflüsse von Sprachelementen beschränken müsse. Noch kann in irgendeinem ernsthaften Sinn argumentiert werden, daß ein sich wandelndes Sprachsystem autonom ist.
Handlungstheoretische Ansätze haben als Gegenbewegung zur generativen Dogmatik den Sprachgebrauch in den Vordergrund gerückt. Ihr Erkenntnisinteresse richtete sich auf die performative Kraft der Sprache. Die Entwicklung einer anspruchsvollen Sprechakttheorie führte in den 1960er und 1970er Jahren zu einer pragmatischen Wende. 2.2 SPRACHWANDEL ALS HANDLUNGSTHEORIE Sprachwandel handlungstheoretisch zu fassen, heißt, Sprechen als soziales und an Zwecke gebundenes Handeln zu verstehen.59 Die Fokussierung des Strukturalismus auf das Sprachsystem, ließ den Gedanken verblassen, dass Menschen handeln und Ziele verfolgen, indem sie Sprache verwenden. Findet die strukturalistische Linguistik ihre philosophische Begründung noch in der ideal language philosophy, ist die handlungstheoretische Linguistik einem anderen Zweig der analytischen Sprachphilosophie verbunden, die häufig als ordinary language philosophy bezeichnet wird. Ihr prominentester Vertreter ist wohl der späte WITTGENSTEIN. Im Gegensatz zum strukturalistischen Forschungsprogramm versteht sich die handlungstheoretisch-analytische Sprachwissenschaft wieder als empirische Wissenschaft. Es ginge wohl zu weit, WITTGENSTEIN als dogmatischen Empiristen zu bezeichnen, dennoch setzt diese Art der Sprachanalyse an der konkreten Sprachäußerung unter Berücksichtigung der situativen Zusammenhänge an.60 Auch die moderne Soziolinguistik versteht sich als empirische Disziplin, in der heute quantitative und qualitative Methoden verfolgt werden. Der Blick auf den konkreten Sprachgebrauch offenbart Variation auf allen Ebenen der Sprachbetrachtung. Diese Variationen in der sprachlichen Struktur sind der Schlüssel zum Verständnis von Sprachwandelprozessen. Ein wichtiger Ansatz, der sich mit diesen konkreten Sprachäußerungen zunächst von philosophischer Seite auseinandersetzt, ist die Sprechakttheorie (vgl. AUSTIN 1962/2002; SEARLE 1969/1983). Sie bildet in vielen Lehrbüchern noch immer das Kernstück der linguistischen Pragmatik (vgl. MEIBAUER 2001, 84). Ausgehend von der Sprechakttheorie haben sich in den letzten Jahrzehnten verschiedene diskursanalytische Modelle entwickelt (vgl. SPIESS 2011). Heute sind 59
Zur Bestimmung des Handlungsbegriffes vgl. MEIBAUER (2001, 84–85). Von Handlung kann in diesem Zusammenhang u. a. nur gesprochen werden, wenn der Handelnde auch die Fähigkeit bzw. die Möglichkeit zum Vollzug der Handlung hat. Handlungen werden hier außerdem stets als intentional verstanden. 60 Am strukturalistischen Forschungsprogramm ist zu kritisieren, dass häufig Sätze analysiert werden, die ohne Kontext systematisch unterbestimmt sind. Außerdem wird oft reine Formalisierung von längst bekannten Tatsachen als Erkenntnisfortschritt verkauft (ANDRESEN 2014, 17–19; BUSSE 2005, 36–37).
Sprachwandel als Handlungstheorie
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sowohl die Gesprächslinguistik als auch die Diskurslinguistik selbstständige Teildisziplinen innerhalb der Sprachwissenschaft (BUSSE / TEUBERT 1994, 25–26; SCHWITALLA 2006). Sowohl die Sprechakttheorie als auch die Diskursanalyse folgen einer pragmatischen Sprachauffassung. Sprachstruktur und Sozialität des Menschen stehen demnach in einem wechselseitigen Verhältnis. Sprache ist folglich sowohl in soziale als auch in situative Kontexte eingebettet, die jeweils gebunden sind an gesellschaftliche und kulturelle Voraussetzungen einerseits sowie an Intentionen und Interessen der sprechenden Individuen andererseits. (SPIESS 2011, 11)
Bei den Sprechakttheoretikern und den Ansätzen, die Maximen sprachlichen Handelns formulieren (vgl. GRICE 1979b; KELLER 2003), ist der Handlungsbegriff allerdings nicht nur sozial, sondern auch rational gedacht. Denn Rationalität wird in diesen Ansätzen als Handlungsrationalität verstanden und dem Sprechen wird damit kommunikative Rationalität unterstellt. Das Handeln richtet sich an Zielen aus. Die Ziele werden wiederum durch die Präferenzen des Individuums mitbestimmt. Außerdem erfolgt eine Abwendung von der Vorstellung der Sprache als einem geschlossenen und statischen System. Im Folgenden werden insbesondere die theoretischen und sprachphilosophischen Grundlagen einer handlungstheoretischen Konzeption von Sprachwandel dargelegt. Diese sind hilfreich, den Weg zu einer evolutionstheoretischen Perspektive auf Sprachwandel besser nachvollziehen zu können. 2.2.1 Erste handlungstheoretische Konzeptionen in der Sprachund Kommunikationstheorie Schon bei HUMBOLDT ist die Gesellschaftlichkeit des Sprechens wesentliches Bestimmungsmerkmal der Sprache. Diese wird von HUMBOLDT zwar als systematisch aber nicht als statisch verstanden. Trotz einiger Parallelen zu SAUSSURE betont HUMBOLDT die Punkte, die in der vom „Cours“ angestoßenen strukturalistischen Sprachwissenschaft kaum beachtet wurden. Sprache wird von HUMBOLDT als ein dynamisches und prozedurales System verstanden, in dem das Sprechen der Sprache vorausgeht. „[D]ie eigentliche Sprache [liegt] in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens“ (HUMBOLDT 1836/1974, 56). Im Akt des Sprechens wird folglich Sprache erzeugt.61 MÜLLER-MALL (2012, 54) bevorzugt die folgende Formulierung: „Die Sprache wird durch das Sprechen, im Sprechen hervorgebracht“. Dieses Verständnis des Sprechens als Akt bzw. als Tätigkeit kann als früher Vorläufer einer pragmatischen Sprachauffassung gelten. Mit dieser Auffassung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Mensch notwendig in gesellschaftliche Strukturen eingebunden ist. Sprache muss daher immer in einem sozialen Raum und Rahmen stattfinden. Das Wechselwirkungsverhältnis von So 61
HUMBOLDT betont zudem die Einheit von Sprechen und Denken, die mit einer rein repräsentationistischen Sprachauffassung nicht zu vereinen ist (MÜLLER-MALL 2012, 53).
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Konzepte der Sprachwandelforschung
zialität und individueller Tätigkeit des Sprechens ist der Grund für Statik und Dynamik in der Sprache. Sprache ist die Arbeit des Geistes, Sprache ist Energeia.62 Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). […] Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, […]; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. (HUMBOLDT 1974, 55–56)
Zum einen wird der Gedanke der Tätigkeit nochmals deutlich herausgestellt. Zum anderen spielt der Ausdruck „Totalität dieses Sprechens“ auf die Idee an, dass die Gesamtheit des Sprechens einer Gemeinschaft ein Sprachsystem auf einer übergeordneten Ebene erzeugt. Auf HUMBOLDT (1974, 64) geht die Vorstellung der Sprache als Organ mit vielfältigen Bezügen zurück.63 Die Wechselwirkung zwischen System und konkretem Sprechen ist bei Humboldt eine Wechselwirkung zwischen Subjektivem und Objektivem und ein wesentliches Merkmal seiner Sprachkonzeption. Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reisst sich die Vorstellung los, wird, der subjectiven Kraft gegenüber, zum Object und kehrt, als solche aufs neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. (HUMBOLDT 1974, 67)
Bedeutung entsteht als intersubjektives Moment durch die Rückbindung an die Gesellschaft (SPIESS 2011, 20). Dennoch evoziert die Auffassung des Sprechens und damit auch der Sprache als beständiges Tun ein dynamisches Bild dieser Tätigkeit. Diesem Verständnis folgend, dürfte es schwierig sein, sehr konkrete Prinzipien von Sprachwandel zu verallgemeinern. Es wird aber auch deutlich, dass ein Sprachwandelmodell den Handlungscharakter von Sprache und deren Sozialität zwingend berücksichtigen muss. KARL BÜHLER – Sprechen als Handlung Auch der Psychologe KARL BÜHLER betont die Wechselwirkung zwischen Sprachgebrauch und Sprachstruktur als eine „Wechselbeziehung zwischen subjektbezogenem Redeakt und objektivem Sprachsystem“ (SPIESS 2011, 28). BÜH 62
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Der Begriff Energeia geht auf ARISTOTELES zurück und bezieht sich auf die Lehre von der Bewegung und Veränderung. Energeia beschreibt den Prozess vom Übergang des Möglichen zum Seienden. Zur Rezeption und Entwicklung der Organ- und Organismusmetapher vgl. KELLER (2008, 9– 13). Dieser arbeitet deutliche Unterschiede zwischen diesen Auffassungen heraus. Das Bild von der Sprache als Organ wird auch im „Cours“ benutzt und später von der generativen Grammatiktradition aufgegriffen. Für CHOMSKY (2002, 64; 1981, 216) ist Sprache beispielsweise ein „mentales Organ“, das sich durch unterschiedliche Umweltfaktoren in bestimmten Grenzen unterschiedlich ausprägen kann.
Sprachwandel als Handlungstheorie
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LER 1934/1999, 48–54) unterscheidet zwischen Sprechhandlung und Sprachwerk. Die Sprechhandlung ist mit dem Ziel des Sprechers und seiner konkreten Äußerung verknüpft, wohingegen das Sprachwerk die Struktur und Beschaffenheit der Sprache unabhängig von sprachlicher Handlung erfasst. In Anlehnung an HUMBOLDT und SAUSSURE entwickelt BÜHLER (1934/1999, 49–51) ein Vierfelderschema mit sechs Relationen, in dem allerdings die langue nicht losgelöst von der parole erscheint. Vielmehr geht BÜHLER davon aus, dass kein Feld ohne das andere sein kann. Er bemüht sich ebenfalls, das Verhältnis zwischen Sprachstatik und Sprachdynamik zu erfassen. Als wichtige Neuerung bindet er auch das Verstehen und den Hörer in seine Kozeption ein. Insbesondere die Sprachdeutungs- und Sprachverstehensprozesse spielen in der ordinary language philosophy zunehmend eine bedeutsamere Rolle (GRICE 1979a; 1979b). BÜHLERS Organonmodell ist eine komplexe Kommunikationstheorie, die zwischen Sender, Empfänger und Gegenständen/Sachverhalten unterscheidet, die alle in einer Beziehung zum Sprachzeichen stehen, das gleichzeitig Symbol, Symptom und Signal ist.
Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appels an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen. (BÜHLER 1999, 28)
Der Sprecher befindet sich im Origo eines Zeigefeldes, in dem deiktische Bezüge eine wichtige Funktion haben. BÜHLER unterscheidet zwischen dem Verweisen in einem gemeinsamen und aktuellen Bezugsrahmen zwischen Sprecher und Hörer, dem Verweisen mittels des Gedächtnisses bzw. der Vorstellungskraft (Deixis am Phantasma) und dem anaphorischen Verweisen auf bereits geäußerte Sachverhalte. Die vollständige Bedeutung erhält ein Zeichen erst durch die Verhältnisse im Zeigefeld. Der Begriff Organon (gr. ὄργανον ‘Werkzeug, Gerät, Element mit bestimmter Funktion, Instrument’) impliziert ähnlich wie bei HUMBOLDT eine Auffassung von Sprache als Werkzeug bzw. als Organ.64 Sprache ist hier in ein komplexes Gefüge integriert und wird primär funktional aufgefasst.65 Entscheidend für jede Kommunikation sind der aktuelle Kontext und die Situationalität. Das sprachliche Zeichen entwickelt demnach seine vollständige Bedeutung erst durch den Kontext, es steht nicht isoliert. Erst mit dieser Klassifizierung werden Sprechhandlungen vollständig charakterisiert. Bedeutungskonstitution ist somit als ein prozessuales und kontextbedingtes Geschehen zu begreifen. (SPIESS 2011, 26)
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Die Metapher, Sprache als Werkzeug zu betrachten, geht auf PLATONS Kratylos-Dialog zurück. Der platonische Sokrates stellt fest: „Richtig. Ein Werkzeug ist also auch das Wort.“ (PLATON Kratylos 388a) ZEIGE (2011, 13) weist darauf hin, dass „Organ- wie Werkzeugauffassung […] funktionale und teleologische Sprachbilder, die von einer Sprachbenutzung zum Ziel der Kommunikation (‘geeignet für’) und Weltbeeinflussung (‘um-zu’) ausgehen“, begünstigen.
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Konzepte der Sprachwandelforschung
BÜHLER (1913) vertritt ganz im Sinne des gestaltpsychologischen Ansatzes ein ganzheitliches Verständnis sprachlicher Bedeutung. Damit nimmt BÜHLER bereits den pragmatischen Sprachspielbegriff von WITTGENSTEIN (PU § 23) vorweg, arbeitet wie dieser aber keine explizite Sprechakttheorie aus. LUDWIG WITTGENSTEIN – Gebrauchstheorie der Bedeutung WITTGENSTEINS Sprachphilosophie ist ebenso wie BÜHLERS kommunikationstheoretischer Ansatz als wichtiger Meilenstein für die Entwicklung einer linguistischen Sprechakttheorie zu werten. WITTGENSTEIN machte zunächst 1921 mit seinem „Tractatus logico-philosophicus“ auf sich aufmerksam, indem er eine realistische Abbildtheorie der Sprache entworfen hat. Zu diesem Zeitpunkt steht WITTGENSTEIN als Schüler von BERTRAND RUSSEL noch in der Tradition der ideal language philosophy. Diese versteht die natürliche Sprache als ein defizitäres Gebilde, da sie nicht den Ansprüchen der formalen Logik gerecht wird. WITTGENSTEIN distanziert sich in seinem Spätwerk vom „Tractatus logico-philosophicus“. Seine „Philosophischen Untersuchungen“ (PU), die 1953 posthum erschienen, begründen hingegen die Wende zur ordinary language philosophy, die die Alltagssprache nicht länger als fehlerhaft betrachtet. Um philosophische Erkenntnisse zu gewinnen, bedürfe es lediglich einer genauen Analyse des tatsächlichen Sprachgebrauchs. Da insbesondere die „Philosophischen Untersuchungen“ wegweisend für die linguistische Pragmatik waren, wird kurz auf die wichtigsten Gedanken dieses Werks eingegangen. WITTGENSTEINS zentrale Ideen und Begriffe bedingen sich zum Teil gegenseitig und können kaum losgelöst voneinander erklärt werden. Sein Bedeutungsverständnis ist handlungs- und kontextorientiert, aber nicht unabhängig von den Begriffen Sprachspiel, Lebensform und Regel zu verstehen. WITTGENSTEIN versteht Sprache, ähnlich wie die strukturalistische Linguistik, als etwas Regelhaftes und Regelgeleitetes. Sprachliche Regeln sind für ihn aber nur innerhalb eines Sozialgefüges möglich. Der Regelbegriff ist bei WITTGENSTEIN daher im Wesentlichen sozial bestimmt (BUSSE 2005, 32). Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen). (WITTGENSTEIN PU § 199)
WITTGENSTEIN vergleicht sprachliche Regeln mit „Institutionen“, die von Menschen geschaffen wurden. Sprachliche Regeln sind ähnlich wie Städte historisch gewachsen. Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. (WITTGENSTEIN PU § 18)
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Das Zitat lädt förmlich dazu ein, es auf die morphologischen und syntaktischen Strukturen der Sprache anzuwenden, die ebenfalls historisch erklärt werden können und sowohl Regelmäßigkeiten als auch Unregelmäßigkeiten aufweisen. Einer Regel zu folgen, heißt demzufolge, an Gebrauchsweisen von bereits bestehenden (Sprach)Strukturen anzuknüpfen. Regeln haben somit in der Regel historische Wurzeln. Obwohl Bestehendes aufgegriffen wird, haben Regeln für WITTGENSTEIN keinen streng normativen Charakter. Regeln sind keine die Sprache determinierenden Muss-Verbindungen, sondern kontingente Kann-Verbindungen. Sie können zur Übereinstimmung als auch zur Nicht-Übereinstimmung ausgelegt werden. Sprachregeln sind in diesem Sinne keine notwendigen66 Naturgesetze. Sie sind kontingent, auch wenn innere Abhängigkeiten dann als logisch notwendig gedacht werden können. Dies hat natürlich eine Aufweichung des Regelverständnisses zur Folge, was WITTGENSTEIN (PU § 201) zunächst als Paradox empfindet:67 Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist jede mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch.
Damit ist die Natur von Regeln allerdings widersprüchlich. Die Regeln können nicht zugleich ihre Anwendung regeln (KRÄMER 2001, 127).68 Eine Regel kann nicht alle Fälle eindeutig vorausbestimmen, für die sie gelten soll. Es bedarf daher immer weiterer Regeln, die wiederum Regeln bedürften, was in einen Regress führen würde.69 Eine mögliche Konsequenz des Regelparadoxes wäre eine generelle Regel-Skepsis. „Ist nämlich beides möglich, dann hat die Regel nicht nur gar 66 Zum Begriff der Notwendigkeit und seinen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten vgl. PRIEST (2008, 46–47). 67 WITTGENSTEINS Überlegungen zum Regelfolgen können als Kritik an der sogenannten regelplatonischen Konzeption verstanden werden, die besagt, dass eine Regel ihre Befolgung regelt (MÜLLER-MALL 2012, 93; LIPTOW 2004, 123–124). WITTGENSTEINS Ausführungen zur Problematik des Regelfolgens gehören zu den meist diskutierten Passagen der „Philosophischen Untersuchungen“ (vgl. KRIPKE 1987; GLÜER 1999; 2002; MÜLLER-MALL 2012). 68 WITTGENSTEIN (PU § 218) verwendet für die Annahme, dass Regeln und Handeln in einem festen Zusammenhang stehen, das Bild eines Gleises, das gradlinig zwei Orte verbindet. Er wendet sich allerdings gegen dieses Bild, indem er zeigt, dass eine gradlinige Verbindung nicht logisch notwendig ist. Regeln könnten verschieden gedeutet werden und damit auch zu unterschiedlichen Handlungen führen (KRÄMER 2001, 127). WITTGENSTEIN (PU §§ 185–190) verdeutlicht die Vielzahl von Möglichkeiten, die grundsätzlich bestehen, indem er zeigt, dass Zahlenreihen auch beliebig fortgeführt werden könnten. WITTGENSTEIN (PU § 219) wendet sich allerdings auch gegen reine Beliebigkeit: „Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind“. KRÄMER (2001, 129) fasst WITTGENSTEINS Auffassung folgendermaßen zusammen: „Es ist nicht die Interpretation und die Anwendung von Regeln, sondern die praktische Wiederholung erlernter Muster, durch die eine Übereinstimmung im Verhalten entsteht“. 69 MÜLLER-MALL (2012, 94) zieht folgende Konsequenz: „Der Regelplatonismus unterliegt einem infiniten Regress und ist deshalb abzulehnen“.
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keine klare und feste Bedeutung, sondern überhaupt keine, weil eine in sich widersprüchliche.“ (LÜTTERFELDS 2011a, 76) Eine skeptische Haltung könnte aber wohl kaum erklären, warum wir uns im Alltag so sicher verständigen. Die Anwendung der sprachlichen Regeln erfolgt oft unbewusst: „wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind“ (WITTGENSTEIN PU § 219). Entscheidend ist die intersubjektive und soziale Bestimmung von sprachlichen Regeln als Tätigkeit. Darum ist ‚der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ‚privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen. (WITTGENSTEIN PU § 202)
Damit wendet sich WITTGENSTEIN auch gegen die Möglichkeit einer Privatsprache.70 Den sprachlichen Regeln kann damit ein intersubjektiver Sinn zugeschrieben werden, dessen Befolgung aber nicht in der konkreten Handlung schon festgeschrieben ist, allerdings an vorangegangene Handlungen anknüpfen muss, um den sozialen Aspekt nicht zu verfehlen. Die Regeln determinieren nicht den Sprachgebrauch. Neue Regeln können entstehen, indem alte Regeln durch die gemeinsame Praxis geändert werden. Die Regeln sind durch die genaue Beschreibung des Sprachgebrauchs bestimmbar, aber nicht als normativ aufzufassen. KRÄMER (2001, 130) nennt WITTGENSTEINS Auffassung „praxeologisches Regelverständnis“. Die Regel bestimmt nicht den Gebrauch, sondern der Gebrauch bestimmt letztlich die Regel. Der Ausdruck einer Regel folgen ist aus dieser Perspektive höchst irreführend, da die Phrase nicht als Summe der Teile Regel und folgen aufgefasst werden kann (MÜLLER-MALL 2012, 97). WITTGENSTEIN versteht sprachliche Regeln u. a. als historisch gewordene „Gebräuche“ und Konventionen, die durch „die praktische Wiederholung erlernter Muster […] eine Übereinstimmung im Verhalten“ (KRÄMER 2001, 129) erzeugen. WITTGENSTEINS Regelverständnis ist eng mit den Schlüsselbegriffen Sprachspiel 71 und Lebensform verbunden. „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (WITTGENSTEIN PU § 23) Sprachspiele sind nicht allein durch die Sprache konstituiert. Sprache ist lediglich „ein Teil […] einer Tätigkeit“. Ein Sprachspiel bezieht immer auch nicht-sprachliche Gegebenheiten einer Situation ein. Die sprachliche Bedeutung ist im Sprachspiel mehr als die Summe seiner sprachlichen Einzelteile. „In Sprachspielen sind sprachliche Tätigkeitsformen mit nicht-sprachlichen Tätigkeitsformen konstitutiv verbunden.“ (BERTRAM 2011, 101) Als konkrete Sprachspiele können beispielsweise Befehlen, Fluchen, Beschreiben, Übersetzen usw. aufgefasst werden (WITTGENSTEIN PU § 23). Sprachspiele sind allerdings bei WITTGENSTEIN nicht ohne den Begriff der Lebensform denkbar. 70
Vgl. weitere Argumente von WITTGENSTEIN gegen eine Privatsprache: PU §§ 243, 259, 261, 262, 265, 272. Vgl. gegen die Möglichkeit von privaten Regeln auch KELLER (1979, 29). 71 Der Sprachspielbegriff ist bei WITTGENSTEIN kein theoretisches Modell zur Analyse von Sprachhandlungen.
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Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und Verneinung. Und unzählige Andere. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen. (WITTGENSTEIN PU § 19)
Die Lebensform fasst in einem Begriff zusammen, was die Gesamtheit einer gesellschaftlichen Gruppe ausmacht, einschließlich ihres Sprachgebrauchs. In die Lebensform sind die Sprachspiele eingebettet. „Dabei konstituiert die Lebensform das Ensemble von Gewissheiten bzw. Selbstverständlichkeiten, auf dessen Hintergrund Sprachspiele statthaben.“ (SPIESS 2011, 36) WITTGENSTEIN (PU § 32; § 198) macht im Zusammenhang mit dem Begriff Sprachspiel auch wichtige Aussagen zum Spracherwerb. WITTGENSTEIN versteht Sprachlernen in gewissen Zügen als kulturelle Vermittlung. „Nun, etwa diese: ich bin zu einem bestimmten Reagieren auf diese Zeichen abgerichtet worden, und so reagiere ich nun.“ (WITTGENSTEIN PU § 198) Vor allem die Interaktionisten verweisen häufig auf WITTGENSTEIN, um ihren empiristischen Ansatz, wie z. B. den usage-based approach (TOMASELLO 2005), zu untermauern. WITTGENSTEIN verwendet das Konzept des Spiels, um seine sprachphilosophische und zeichentheoretische Position zu veranschaulichen. Er stellt damit deutlich die Funktion des sprachlichen Zeichens im Hinblick auf die Bedeutung heraus. Die Spielmetapher hilft bei der Veranschaulichung seiner Sprachkonzeption. Sie kann außerdem helfen, den Charakter von sprachlichen Regeln weiter freizulegen. Zunächst gibt es nicht das Spiel oder eine auf alle Zeiten festgelegte Definition dieses Begriffes. Der Spielbegriff ist offen, aber nicht willkürlich. Er ist zugleich statisch und dynamisch. Er ist „nicht durch eine Grenze abgeschlossen“ (WITTGENSTEIN PU § 68). Ein Spiel hat Regeln, es ist aber nicht jegliche Spielhandlung geregelt. Beim Tennis – diesen Vergleich bemüht WITTGENSTEIN – ist nicht festgeschrieben, wie hoch der Ball beim Aufschlag geworfen werden darf (WITTGENSTEIN PU § 68). Wie das Beispiel Tennis zeigt, haben Spiele auch einen pragmatischen und damit dynamischen Charakter, der in Freiheitsgraden ausgedrückt werden kann. Ansonsten können Spiele neben dem, dass sie in der Struktur viele Ähnlichkeiten aufweisen, ganz unterschiedlich sein, vergleichbar mit dem Prototypenkonzept. Die Konzepte, die an der Peripherie liegen, werden am ehesten unterschiedlich beurteilt. In diesem Zusammenhang spricht WITTGENSTEIN (PU § 67) von der „Familienähnlichkeit“72. Das Erkennen von Ähnlichkeiten versteht WITTGENSTEIN, wie seine Haltung zum Nominalismus zeigt, nicht als willkürlich. Damit grenzt er sich klar vom Nominalismus ab, der in enger Verbindung zum Konstruktivismus steht. So kann es scheinen, als wäre, was wir treiben, Nominalismus. Nominalisten machen den Fehler, daß sie alle Wörter als Namen deuten, also ihre Verwendung nicht wirklich beschreiben, sondern sozusagen nur eine papierene Anweisung auf so eine Beschreibung geben. (WITTGENSTEIN PU § 383)
72
Zum Begriff der F a m i l i e n ä h n l i c h k e i t bei WITTGENSTEIN vgl. KRÄMER (2001, 117–118).
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Die zitierte „papierene Anweisung“ ist bei WITTGENSTEIN eine Umschreibung für Geld. Dieser verweist an mehreren Stellen auf die vielfältige Verwendungsmöglichkeit von Papiergeld (Geldscheinen), das nicht mit dem gleichgesetzt werden darf, was der Einzelne dafür kaufen kann. Die Analogie Wort : Bedeutung = Geld : Kuh ist demnach unzulässig. „Nicht der potentielle sachliche Wert eines Wortes oder des Geldes, sondern der Nutzen des Wortes oder des Geldes erklärt seine Bedeutung.“ (BEZZEL 1996, 35) In seinem Werk „Philosophische Grammatik“ (PG) zieht WITTGENSTEIN einen sehr einprägsamen Vergleich: „Wie der, welcher Geld heiratet, es nicht in demselben Sinne heiratet, wie er die Frau heiratet, die es besitzt“ (WITTGENSTEIN PG 63). Die konkrete Bedeutung von sprachlichen Strukturen entsteht erst im Vollzug der Tätigkeit des Sprechens. Die Wirklichkeit bzw. die Referenz ist nichts, was zu einer festen Bedeutung des Wortes hinzuaddiert wird. Die Referenzsetzung ist die Bedeutung. BEZZEL (1996, 35) entgegnet einem möglichen Einwand, der auf Willkürlichkeit abzielen könnte: Und dabei besteht keinerlei Gefahr von Beliebigkeit; denn im alltäglichen Gebrauch eines Wortes liegt, jenseits der scheinbaren Willkür der Bedeutungssetzung, eine genügend große Verbindlichkeit für die Sprachgemeinschaft.
Verbindlichkeit kann hier mit dem Regelbegriff übersetzt werden. Der Ausdruck „genügend“ impliziert aber schon, dass auch von Nicht-Verbindlichem und NichtRegelkonformen ausgegangen werden muss. Auch KRÄMER (2001, 133–134) unterstreicht den naturalistischen Ansatz von WITTGENSTEIN, der auf „irritierende Weise die Grenze zwischen Natur und Kultur unscharf werden [lässt], die im alltäglichen Verständnis doch gerade durch die arbiträren Zeichen gezogen wird“. Bei WITTGENSTEIN ist damit ein Gedanke angedeutet, der in dieser Arbeit noch eine wichtige Rolle spielen wird. Die Kulturgeschichte ist immer auch ein Teil der Naturgeschichte. „Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.“ (WITTGENSTEIN PU § 25) KRÄMER (2001, 134) fasst die Konsequenz aus WITTGENSTEINS latentem Naturalismus wie folgt zusammen: Die Zeichen sind keine Demarkationslinie mehr zwischen Kultur und Natur, zwischen Sprache und außersprachlicher Welt, sondern stiften ein Kontinuum, das immer zugleich sozial und natürlich, geistig und physisch ist: Eine naturalisierte Kultur eben.73
Durch die Ablehnung des Nominalismus wird deutlich, dass zumindest zwischen dem Repräsentierten in der Vorstellung und der Wirklichkeit eine logische Identität bestehen kann. Dieses Argument von WITTGENSTEIN (PU § 389) führt vor allem LÜTTERFELDS (2011b, 54–55) gegen den radikalen Konstruktivismus an. Eine Passage aus „Über Gewißheit“ (ÜG) weist in Zusammenhang mit der Sprache auf 73
Die Evolutionäre Erkenntnistheorie würde das Verhältnis wohl eher als kulturalisierte Natur beschreiben (VOLLMER 2002). Eine weitere wichtige Konsequenz, die sich aus diesem Verständnis ergibt, ist, dass Nicht-Sprachliches kaum von Sprachlichem unterschieden werden kann. Daher muss über die Wortverwendung hinaus ein komplexes Zusammenspiel aus verbaler Sprache, Gestik, Mimik, Intonation usw. einbezogen werden (KRÄMER 2001, 134).
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logische Identitäten hin: „Alles Sprachspiel beruht darauf, daß Wörter und Gegenstände wiedererkannt werden. Wir lernen mit der gleichen Unerbittlichkeit, daß dies ein Sessel ist, wie daß 2 x 2 = 4 ist“ (WITTGENSTEIN ÜG, 455). Beim Erkennen scheinen für WITTGENSTEIN Muster und deren Antizipation bzw. Einübung eine große Rolle zu spielen. Die Bedeutung von Wörtern muss für WITTGENSTEIN aus dem Sprachspielbegriff heraus verstanden werden, der immer in Bezug auf sprachliches Handeln gedacht ist. Eine der meistzitierten Passagen aus den „Philosophischen Untersuchungen“ zeigt WITTGENSTEINS Verständnis von dem Zusammenhang zwischen der Bedeutung und dem Gebrauch von Wörtern. Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dies Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (WITTGENSTEIN PU § 43)
Das Zitat unterstreicht die Einordnung des späten WITTGENSTEINS in die ordinary language philosophy. Der Bedeutung eines Wortes kann sich über die Untersuchung seiner Verwendungsweisen in den verschiedenen Kontexten und Situationen genähert werden.74 Wenn also beispielsweise das Wort Bedeutung in Sprachspielen verwendet wird, dann könnte der ‘Gebrauch von Wörtern’ gemeint sein. Auch eine Passage aus WITTGENSTEINS „Das Blaue Buch“ (BB)75 unterstützt diese Lesart: „Wenn wir [...] irgendetwas, das das Leben des Zeichens ausmacht, benennen sollten, so würden wir sagen müssen, daß es sein Gebrauch ist.“ (WITTGENSTEIN BB, 20).76 WITTGENSTEIN (PU § 23) versteht Bedeutung handlungsorientiert: Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.
Gegen den Einwand der Willkürlichkeit wurde schon an anderer Stelle argumentiert. Im Sinne WITTGENSTEINS muss sich an der Praxis ausrichten, welche Bedeutung beispielsweise von dem Wort Bedeutung gerade am plausibelsten ist. Unsere Erfahrung sagt uns aber, dass wir uns mit Sprache über Sachverhalte in der Welt verständigen können und unsere Gegenüber verstehen, was wir meinen. Ohne diese Annahme wäre wohl auch Wissenschaft unmöglich. WITTGENSTEINS sprachkritische Gedanken sind für die Diskurs- und Gesprächslinguistik wichtige Grundlagen ihres handlungstheoretischen Sprachver 74
75 76
BERTRAM (2011, 102) warnt davor, Bedeutung und Gebrauch im Sinne von „meaning is use“ gleichzusetzen. WITTGENSTEIN spricht hier seiner Meinung nach nur von „der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘“ (so auch WITTGENSTEIN PU § 560). WITTGENSTEIN geht es vermutlich in erster Linie um ein konkretes Sprachspiel und zwar das Sprachspiel, das mit dem Wort Bedeutung zusammenhängt (vgl. dazu auch KRÄMER 2001, 124–125). WELLMER (2004, 56–57) vertritt beispielsweise die hier favorisierte Lesart. Wenn es aber der Gebrauch ist, der die Bedeutung eines Wortes bestimmt, dann vertritt WITTGENSTEIN „keinen dezidierten Begriff sprachlicher Bedeutung“ (BERTRAM 2011, 102).
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ständnisses. Dabei wird allerdings gerne übersehen, dass WITTGENSTEIN sich nicht vollständig von seiner Abbildtheorie aus dem „Tractatus logico-philosophicus“ löst. Wie oben gezeigt, würde WITTGENSTEIN die grundsätzliche Verknüpfung zwischen Sprache und Wirklichkeit nicht vollständig abstreiten. WITTGENSTEIN hat eine sprachunabhängige Wirklichkeit nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Dies wird ihm aber beispielsweise von SPIESS (2011, 41) unterstellt: „so gibt es nach WITTGENSTEIN nicht mehr eine Wirklichkeit an sich, die durch Sprache abgebildet wird […] Welt existiert immer nur als sprachliche Interpretation“. Auch wenn diese Einschätzung nicht als völlig falsch zu bewerten ist, fehlen einschränkende Hinweise, die auf ein Sowohl-als-auch-Verständnis in WITTGENSTEINS Spätwerk hindeuten. Entgegen SPIESSʼ Ansicht war WITTGENSTEIN wohl eher kein radikaler Konstruktivist. 2.2.2 Sprechakttheorie JOHN L. AUSTIN – zur Theorie der Sprechakte BÜHLER und WITTGENSTEIN sind bedeutende Wegbereiter für die Sprechakttheorie, weil sie Sprechen und Handeln bereits als Einheit denken. Aber erst der britische Philosoph JOHN LANGSHAW AUSTIN arbeitete in seiner posthum erschienen Vorlesung „How to Do Things With Words“ (1962)77 eine systematische Theorie der Sprechakte aus. AUSTIN ist ebenfalls ein Vertreter der ordinary language philosophy, die sich insbesondere der Alltagssprache widmet und einen wichtigen Einfluss auf die Herausbildung einer pragmatisch orientierten Linguistik ausübte.78 AUSTIN greift zwar wichtige Gedanken von WITTGENSTEIN auf, nimmt in seinen Texten aber keinen direkten Bezug auf diesen. Was ihn ganz wesentlich von WITTGENSTEIN abhebt, ist das Bedürfnis nach einer systematischen Ausarbeitung der Regularitäten des Sprachgebrauchs (SAVIGNY 2002, 15). WITTGENSTEIN und AUSTIN sind sich darin einig, dass die Rolle des Kontextes für die Bestimmung der Bedeutung von sprachlichen Äußerungen wichtig ist. „Letzten Endes gibt es nur ein wirkliches Ding, um dessen Klärung wir uns bemühen, und das ist der gesamte Sprechakt in der gesamten Redesituation.“ (AUSTIN 2002, 166) AUSTIN kritisiert zunächst die Sprachphilosophie, die versucht hat, alle Teilsätze natürlicher Sprache mit Wahrheitswerten zu belegen.79 Diese 77
AUSTIN hielt seine Vorlesung „How to do Things with Words“ bereits 1955 im Rahmen der William James Lectures an der Harvard University. Im Folgenden wird auf die deutsche Übersetzung „Zur Theorie der Sprechakte. (How to do things with Words)“ (2002) Bezug genommen. 78 Teilweise wird für die Entwicklung der Linguistik in den 1970er und 1980er Jahren auch von einer „pragmatischen Wende“ gesprochen (SPIESS 2011, 44). 79 In der ideal language philosophy werden allerdings in der Regel die Funktion der Sprache und die Satzart berücksichtigt. „Am meisten legt man wohl unser Prädikat [wahr; LB] Sätzen bei; jedoch sind die Wunsch-, Frage-, Aufforderungs-, Befehlssätze auszuschließen und nur
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wahr/falsch-Dichotomie kann aber nicht auf alle Sätze der Alltagssprache angewendet werden. Viele Sätze beschreiben, berichten, behaupten überhaupt nichts; sie sind nicht wahr oder falsch […]; [D]as Äußern des Satzes ist, jedenfalls teilweise, das Vollziehen einer Handlung, die man ihrerseits gewöhnlich nicht als ‚etwas sagen‘ kennzeichnen würde (AUSTIN 2002, 28).
Daher unterscheidet AUSTIN zunächst zwischen konstativen und performativen Sprechakten. Performative Sprechakte können nach ersten Überlegungen AUSTINS im Gegensatz zu konstativen Sprechakten nicht mit Wahrheitswerten versehen werden. Performative Äußerungen können lediglich glücken oder misslingen. Sie sind insbesondere durch ihren Handlungscharakter gekennzeichnet. Durch die Äußerung der Formel Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil handelt der Richter, indem er das Ergehen des Urteils vollzieht (MÜLLER-MALL 2012, 61). Durch die Untersuchung von performativen Äußerungen legt AUSTIN systematisch die Handlungsdimension von Sprache offen. Die strenge Dichotomie zwischen Performativa und Konstativa muss AUSTIN allerdings nach eingehenden Untersuchungen wieder aufgeben, da er keine eindeutigen (linguistischen) Unterscheidungskriterien findet. ROLF (2009, 23) sieht einen Grund dafür darin, dass die Eigenschaften, die AUSTIN Konstativa und Performativa zuschreibt (wahr/falsch; glücken/misslingen), keine vergleichbaren Eigenschaften sind und „nicht füreinander eintreten können“. Am Ende der siebenten Vorlesung entscheidet sich AUSTIN daher für eine Neukonzeption der Sprechakte. Aufgrund der Feststellung, dass die wahr/falsch-Dichotomie ebenfalls für Performativa bedeutsam sein kann und Konstativa ebenso misslingen bzw. glücken können, hebt AUSTIN die Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Sprechakten wieder auf.80 Stattdessen differenziert er zwischen lokutionären, illokutionären und per
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Behauptungssätze kommen in Betracht, solche Sätze, in denen wir Tatsachen mitteilen, mathematische Gesetze oder Naturgesetze aufstellen.“ (FREGE 1897/2001, 40) So bezieht FREGE seine Untersuchung in erster Linie auf wissenschaftliche Aussagen. Zudem klammert FREGE (1897/2001, 41) gewisse Behauptungssätze für eine wahrheitsfunktionale Auffassung aus, wenn sie in bestimmten Kontexten geäußert werden: „Wenn der Sinn eines Behauptungssatzes also nicht wahr ist, so ist er entweder falsch oder Dichtung […]. Die Dichtkunst hat es, wie z. B. auch die Malerei, auf den Schein abgesehen. Die Behauptungen sind in der Dichtung nicht ernst zu nehmen: es sind nur Scheinbehauptungen“. KRÄMER (2001, 140–145) arbeitet heraus, dass die Unterscheidung zwischen performativen und konstativen Äußerungen nicht daran scheitern muss, dass die Zuschreibung von Wahrheitswerten auch für Performativa relevant ist. Der Wahrheitsbezug performativer Äußerungen ist im Gegensatz zu den Konstativa nicht auf der linguistischen Ebene angesiedelt, „sondern wurzelt in seiner Einbettung in außersprachliche instutionalisierte Praktiken. Genau genommen sind ursprüngliche Performativa keine rein sprachlichen Ereignisse, vielmehr soziale Handlungen“ (KRÄMER 2001, 141). Dass AUSTIN zunächst keine passenden Kriterien der Abgrenzung findet, liegt an der Fokussierung auf die Sprache. „Während die illokutionäre Kraft, die in dem intersubjektiven Bindungspotential zwischen Sprecher und Hörer besteht, tatsächlich jedem Sprechakt implizit ist, und zwar allein aufgrund seiner Eigenschaft, ein sprachliches Vorkommnis zu sein, kommt die performative Kraft einem Sprechakt nur zu, sofern dieser Teil einer nichtsprachlichen, zeremoniellen, institutionellen Prozedur ist.“ (KRÄMER 2001,
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lokutionären Akten (AUSTIN 2002, 112–125). Der lokutionäre Akt besteht darin, dass etwas gesagt wird. Der illokutionäre Akt ist dadurch gekennzeichnet, dass etwas getan wird, indem etwas gesagt wird. Der perlokutionäre Akt besteht in der Wirkung, die der Sprechakt auf den Rezipienten hat. Performative Kraft haben insbesondere jene Äußerungsakte, die AUSTIN als illokutionäre Sprechakte bezeichnet81 und bei ihm noch charakteristisch mit institutionellen und/oder sprachlichen Konventionen verbunden sind,82 wobei AUSTIN denjenigen Sprachgebrauch ausklammert, der nicht ernst gemeint und damit „parasitär“ (AUSTIN 2002, 44) ist.83 STRAWSON (1964, 456–457) zeigt allerdings, dass zwischen konventionellen (conventional) und nicht-konventionellen (non-conventional) Sprechakten in Bezug auf die illokutionäre Kraft unterschieden werden muss. Die konventionellen illokutionären Sprechakte sind in komplexe situative Zusammenhänge eingebunden und durch außerlinguistische und gruppenspezifische Konventionen determiniert. „Such acts could have no existence outside the rule- or convention-governed practices and procedures of which they essentially form part.“ (STRAWSON 1964, 457) Die Worte ich taufe dich hiermit können nicht als Akt des Taufens verstanden werden, wenn sie nicht von einer dazu durch eine Institution oder Konvention legitimierten Person ausgesprochen wurden. Ein nicht-konventioneller Sprechakt unterscheidet sich hingegen dadurch, dass seine Äußerung nicht garantiert, dass die Intention des Sprechers als solche erkannt wird, wenn die Sprecherintention aus der Sicht des Interpretierenden mehrschichtig sein kann. Die Äußerung Geh nicht, kann gesprochensprachlich unter Bezugnahme auf weitere Faktoren wie Intonation und Situation als Aufforderung oder als Bitte verstanden werden (STRAWSON 1964, 455). 142) AUSTIN hat den außersprachlichen Bezug performativer Äußerungen zwar angedeutet, dass sich Performative und Illokutionäre auf verschiedene Phänomene beziehen, hat er allerdings nicht erkannt. 81 KRÄMER (2001, 137) betont allerdings, dass performative und illokutionäre Sprechakte bei AUSTIN in keinem eins-zu-eins Ersetzungsverhältnis stehen. 82 Dass illokutionäre Sprechakte obligatorisch mit institutionellen und/oder sprachlichen Konventionen verbunden sind, ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium zu den perlokutionären Akten, die nicht konventional sind (MÜLLER-MALL 2012, 73). Die Betonung der Konventionalität von illokutionären Akten, die den Kernbereich der Sprechakttheorie ausmachen, ist verwunderlich. Denn eine zentrale Annahme der von der ordinary language philosphy kritisierten ideal language philosophy ist ja grade, dass sprachlich/mathematische Logik auf linguistischen Konventionen aufbaut. Das Problem der Konventionalität von illokutionären Akten gehört daher zu den meist diskutierten Fragen der Sprechakttheorie (STRAWSON 1964; SEARLE 1983; KASHER 1984; DAVIDSON 1986; KISSINE 2013). MÜLLER-MALL (2012, 85) fasst den aktuellen Forschungsstand wie folgt zusammen: „Vielmehr scheint der wissenschaftliche Stand der Dinge in Bezug auf Sprechakte zu sein, dass weder ihre wesentliche Konventionalität beweisbar ist noch das Gegenteil“. 83 Dadurch dass AUSTIN den nicht ernst gemeinten Sprachgebrauch ausklammert, immunisiert er seine These, dass alle illokutionären Akte zwingend auf Konventionen basieren. Jedes Gegenbeispiel fällt so aus der Menge des Sprachgebrauchs heraus, den AUSTIN erfassen möchte. Damit entzieht sich die Hypothese jedem Falsifikationsversuch, womit deren Wissenschaftlichkeit in Frage gestellt werden muss. Die These lässt sich jedenfalls nicht empirisch überprüfen.
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Unabhängig von STRAWSONS Differenzierung argumentiert AUSTIN anhand einer Vielzahl von Beispielen, die deutlich machen, dass er stets versucht, „eine Perspektive der Fehlschläge“ (KRÄMER 2001, 147) einzunehmen. Er differenziert zwischen sechs „Unglücksfällen“ (AUSTIN 2002, 40), unter denen Sprechakte misslingen können. Die Kategorien A.1, A.2 und B.1, B.2 kennzeichnen ein Versagen der Sprechhandlung, Γ.1, Γ.2 sind Missbräuche. Bei den Sprechakten muss weiterhin zwischen expliziten performativen Sprechakten und primären bzw. impliziten Sprechakten differenziert werden (AUSTIN 2002, 88). Bei den expliziten Äußerungen wird durch das Verb in der „ersten Person Singular Präsens Aktiv“ (AUSTIN 2002, 84) klar, welche Handlung vollzogen wird.84 Ich lobe dich für deine gute Arbeit ist deutlich als Lob mit illokutionärem Charakter zu erkennen. Ich weiß, wo dein Auto steht ist mehrdeutig und erst durch den Kontext oder die Betonung als Bekräftigung, Versicherung oder Drohung zu verstehen. AUSTINS „How to do Things with Words“ schärft eine Blickrichtung auf Sprache, die bei WITTGENSTEIN noch recht unsystematisch ausgeprägt ist. Auch wenn der Text in erster Linie problematisiert, statt Antworten zu geben, hat AUSTIN bis heute einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die Pragmatik und Sprachphilosophie genommen. SEARLE nimmt diese Gedanken auf und entwickelt beispielsweise die primär performativen Sprechakte zu einem Konzept der indirekten Sprechakte aus, ohne genauer auf den Begriff der Performativität einzugehen. JOHN R. SEARLE – Sprechakte JOHN ROGERS SEARLE (1932*) versteht seine Sprechakttheorie als Weiterentwicklung der Gedanken AUSTINS. In seinen sprachtheoretischen und sprachphilosophischen Werken „Sprechakte“ (1969/1983) und „Ausdruck und Bedeutung“ (1982) steht insbesondere die Bedeutung des illokutionären Aktes im Mittelpunkt.85 Anders als AUSTIN kann SEARLE trotz seines handlungstheoretischen Ansatzes nur schwer in die ordinary language philosophy eingeordnet werden. Zum einen ist SEARLE nicht wirklich an der Alltagssprache interessiert86 und zum anderen nimmt er eine stark satzorientierte Sprachbetrachtung in der Tradition des Strukturalismus und der generativen Grammatik ein. Wie SPIESS (2011, 46) zu behaupten, „Searle interessiert hier nicht die Sprache als ein System von Zeichen“, ist deshalb eine verkürzte Wiedergabe von SEARLES Auffassung. Immerhin schreibt dieser in seinem Hauptwerk „Sprechakte“ (1983), „daß es sich bei der adäquaten Untersuchung von Sprechakten um eine Untersuchung der langue handelt“ (SEARLE 84 Zur Bestimmung von performativen Verben vgl. MEIBAUER (2001, 88–89). 85 Seit SEARLE (1983) werden die Begriffe S p r e c h a k t und i l l o k u t i o n ä r e r A k t gelegentlich synonym verwendet. 86 SEARLE hat nie versucht, seine Theorie durch größere empirische Studien zu untermauern.
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1983, 32). Die Illokution ist für SEARLE eine universale Eigenschaft von Sprache (WIRTH 2002, 12), die eng mit der grammatischen Form der Sprache verbunden ist. „[F]or Searle, any well-formed sentence-type corresponds to a speech-act type in virtue of linguistic conventions“ (KISSINE 2013, 4). Mit dieser Einordnung sind zwei Grundannahmen verbunden. Zum einen, „daß man alles, was man meinen kann, auch sagen kann“ (SEARLE 1983, 32) und zum anderen ist „das Sprechen einer Sprache eine regelgeleitete Form des Verhaltens“ (SEARLE 1983, 29). Im Vergleich zur Unterscheidung zwischen langue und parole bzw. Kompetenz und Performanz verliert das Sprechen für SEARLE allerdings „den Status, ein ‚bloßes‘ Aktualisierungs- und Realisierungsphänomen zu sein, und wird mit Hilfe der Bifurkation zwischen universalem Sprechakt und seinem partikulären Vollzug in der einzelsprachlichen Äußerung rational rekonstruierbar gemacht“ (KRÄMER 2001, 56).87 Wie schon bei WITTGENSTEIN ist der Regelbegriff für SEARLE von besonderer Bedeutung. Er möchte insbesondere die Regeln herausarbeiten, die einen illokutionären Sprechakt möglich machen. Eine wichtige These der Sprechakttheoretiker lautet: Sprechen ist eine „regelgeleitete Form des Verhaltens“ (SEARLE 1983, 38). Allerdings, und hier ist SPIESS (2011, 46) zuzustimmen, löst Searle bei der Beschreibung der Sprechakte und Systematisierung seiner Theorie die einzelnen Äußerungen aus ihrer Situationalität und Kontextualität heraus […], insofern die Regeln für den geglückten Vollzug eines Sprechakts anhand virtueller Äußerungen herausgearbeitet und nicht an die Alltagssprache als empirischen Untersuchungsgegenstand gebunden werden.
Dennoch sind die Regeln nicht wie bei CHOMSKY angeboren, sondern soziale bestimmt. Regeln sind keine Naturgesetze. Ihnen kommt ein normativer Charakter zu (KRÄMER 2001, 57). Anders als WITTGENSTEIN, der den Begriff der Regel in seiner Sprachkonzeption zu den erklärungsbedürftigen Grundbegriffen (explananda) rechnet, haben Regeln für SEARLE eine erklärende (explanans) Funktion (VOSSENKUHL 1982, 24). SEARLE (1983, 54–55) unterscheidet zwischen regulativen und konstitutiven Regeln. Regulative Regeln regeln eine bereits existierende Tätigkeit, eine Tätigkeit, deren Vorhandensein von Regeln logisch unabhängig ist. Konstitutive Regeln konstituieren (und regeln damit) eine Tätigkeit, deren Vorhandensein von den Regeln logisch abhängig ist.
Als Beispiel für eine regulative Regel nennt SEARLE (1983, 55): „Offiziere haben beim Essen eine Krawatte zu tragen“. Regulative Regeln sind oft imperativisch und haben die Form „Wenn Y, tue X“ (SEARLE 1983, 56). Konstitutive Regeln 87
SEARLE (1974, 420) sieht im Gegensatz zu CHOMSKY den engen Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion der Sprache: „Im allgemeinen verlangt ein Verstehen syntaktischer Tatsachen ein Verstehen ihrer kommunikativen Funktion, da es sich bei Sprache eben um Kommunikation handelt“. CHOMSKY verkennt, „daß Kompetenz letztlich PerformanzKompetenz ist und daß aus diesem Grund eine Untersuchung der sprachlichen Aspekte der Fähigkeit, Sprechakte zu vollziehen, eine Untersuchung der sprachlichen Kompetenz ist“ (SEARLE 1974, 437).
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sind dagegen schon schwerer verständlich zu machen. SEARLE (1983, 55–56) versucht konstitutive Regeln am Beispiel des Schachspielens zu erklären: Sie [die konstitutiven Regeln; LB] sind ihrem Wesen nach fast tautologisch, denn was die oben genannten ‚Regeln‘ aussagen, gehört zur Definition von ‚Schachmatt‘ [...]. Daß zum Beispiel ein Schachmatt beim Schachspiel in der und der Weise erreicht wird, scheint bald eine Regel zu sein, bald eine analytische Wahrheit, die auf der Bedeutung von ‚Schachmatt beim Schachspiel‘ beruht.
Ein Anzeichen für eine konstitutive Regel ist demnach ihr analytischer Charakter und die Form „X gilt als Y im Kontext C“ (SEARLE 1983, 57), außerdem sollen sie „die Möglichkeit neuer Verhaltensformen“ (SEARLE 1983, 56) erklären. „Konstitutive Regeln, wie z. B. die für Spiele, bilden dagegen die Grundlagen für Verhaltensspezifikationen, die ohne das Vorhandensein solcher Regeln nicht möglich wären.“ (SEARLE 1983, 58) SEARLE spricht insbesondere den sprachlichen Regeln einen konstitutiven Charakter zu. Unter Einbindung der Sprechakte formuliert SEARLE (1983, 61): „[D]aß eine Sprache zu sprechen bedeutet, Sprechakte in Übereinstimmung mit Systemen konstitutiver Regeln zu vollziehen“. An anderer Stelle klingt eine Idee an, die auf WITTGENSTEIN zurückgeführt werden kann. SEARLE (1983, 81) betrachtet Sprache (und insbesondere Sprechakte) als eine „institutionelle Tatsache“88, die die Grundlage für alle anderen institutionellen Tatsachen wie Geld und Eigentum bildet (ECKARD 2008, 141; KRÄMER 2001, 71). Eine Institution ist letztlich ein System konstitutiver Regeln, „und ein solches System schafft automatisch die Möglichkeit institutioneller Tatsachen“ (SEARLE 2012, 24). Dennoch ist die Untergliederung in regulative und konstitutive Regeln und die Beschreibung der Sprache als ein System konstitutiver Regeln aus einer diachronen Sprachbetrachtung heraus unbefriedigend, da der konstitutive Regelbegriff beinhaltet, dass die Regeln der Sprache vorausgehen. SEARLE lässt offen, wie durch konstitutive Regeln „neue Verhaltensformen“ geschaffen werden können und aus seinem Regelverständnis ist auch keine Lösungsmöglichkeit zu ersehen. Konstitutive Regeln führen in denselben infiniten Regress, den auch WITTGENSTEIN (PU § 201) schon beschrieben und völlig zu Recht kritisiert hat. Damit ist nicht die Regelgeleitetheit des Sprechens als grundsätzlich unmöglich anzunehmen, sondern als hinreichender Grund, um Regeln als dem Sprechen vorgängige, durch dieses gewissermaßen unberührbare Entitäten und damit eine Regel-Anwendungs-Vorstellung, wie SEARLE sie voraussetzt, abzulehnen (MÜLLER-MALL 2012, 94).
88
SEARLE (2012, 23–24) unterscheidet zwischen „nackten Tatsachen“ und „institutionellen Tatsachen“. Zu den nackten Tatsachen zählt beispielsweise, dass die Erde 150 Millionen Kilometer von der Sonne entfernt ist. „Institutionelle Tatsachen sind zwar im Regelfall objektive Fakten, doch seltsamerweise sind sie nur aufgrund menschlicher Zustimmung oder Akzeptierung Tatsachen. […] Tatsachen wie die, daß Obama der Präsident ist, daß ich einen Führerschein habe, […] sind allesamt institutionelle Tatsachen, denn sie existieren im Rahmen von Systemen konstitutiver Regeln.“ (SEARLE 2012, 23–24)
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In einem engen Zusammenhang mit dem Regelverständnis ist das Prinzip der Ausdrückbarkeit zu lesen. Dieses Prinzip spielt für die Bedeutung von Sprache eine entscheidende Rolle. Für SEARLES Sprechakttheorie ist es wichtig, „daß man alles, was man meinen, auch sagen kann“ (SEARLE 1983, 34). SEARLE (1983, 36) beschreibt den Zusammenhang zwischen dem Prinzip der Ausdrückbarkeit und Regeln folgendermaßen: Für unsere Zwecke am wichtigsten aber ist, daß jenes Prinzip uns erlaubt, Regeln für den Vollzug von Sprechakten mit Regeln für die Äußerung bestimmter sprachlicher Elemente gleichzusetzen, da es für jeden möglichen Sprechakt ein mögliches sprachliches Element gibt, dessen Bedeutung (im gegebenen Zusammenhang der Äußerung) gewährleistet, daß seine aufrichtige Äußerung den Vollzug genau des betreffenden Sprechaktes darstellt.
Aus diesem Zusammenhang leitet SEARLE (1983, 30) ab, dass der Sprechakt die Grundeinheit der Kommunikation ist. Bedeutung entsteht im Vollzug des Sprechaktes, indem der Sprecher seine Absicht zu erkennen gibt, seine Intention89 ist für den Sprechakt von besonderer Wichtigkeit. Damit wird klar, dass ein erfolgreicher illokutionärer Sprechakt voraussetzt, „daß der Hörer erkennt, daß der Sprecher die Intention hat, diesen Effekt bei ihm zu bewirken“ (KRÄMER 2001, 65). Die Intention kann aber nicht ohne die Einhaltung von sprachlichen Regeln deutlich gemacht werden: Wer einen Satz äußert und ihn wörtlich meint, der äußert ihn in Übereinstimmung mit gewissen semantischen Regeln und mit der Intention, seine Äußerung gerade durch die Berufung auf diese Regeln zum Vollzug eines bestimmten Sprechaktes zu machen. (SEARLE 1974, 434– 435)
SEARLE formuliert Bedingungen, die für einen erfolgreichen Sprechakt notwendig sind. Aus ihnen leiten sich die universellen Sprechaktklassen ab. Neben der bedeutungstheoretischen Bedingung, die aussagt, dass der Hörer die Intention des Sprechers erkennen können muss, führt SEARLE die Bedingung der Normalität, des propositionalen Gehalts, der Einleitung, der Aufrichtigkeit und die wesentliche Bedingung an (KRÄMER 2001, 62–67; MEIBAUER 2001, 90–91). Diese werden später von SEARLE / VANDERVEKEN (1985) spezifiziert. SEARLE (1983) verdeutlicht die Glückensbedingungen am Beispiel des Versprechens. Die wesentliche Bedingung wäre in diesem Fall, dass der Sprecher sich tatsächlich zur Durchführung einer Handlung verpflichtet. Aus dem Zusammenwirken der Bedingungen leitet SEARLE Regeln für Sprechakte und eine Klassifikation ab. Die Regeln orientieren sich an den Bedingungen: 1. Regeln des propositionalen Gehalts, 2. Einleitungsregeln, 3. Aufrichtigkeitsregeln und 4. wesentliche Regeln (SEARLE 1983, 96–100; KRÄMER 2001, 66). Aus den Regeln lassen sich fünf Sprechaktklassen
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GRICE (1957/1979a, 9) hat in seinem Aufsatz „Intendieren, Meinen, Bedeuten“ bereits auf die Bedeutung der Sprecherintention hingewiesen. Entscheidend ist hier ebenfalls der Gedanke, dass der Hörer diese Intention auch erkennen können muss.
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bilden: 1. Repräsentativa, 2. Kommissiva, 3. Direktiva, 4. Deklarativa und 5. Expressiva.90 Auch hier ist Kritik an der Auffassung angebracht, dass Sprache ein System konstitutiver Regeln sei. VOSSENKUHL (1982, 36–38) kritisiert, dass die Regeln des propositionalen Gehalts, die Einleitungsregeln und die Aufrichtigkeitsregeln nur schwer oder überhaupt nicht in die Form „X gilt als Y im Kontext C“ gebracht werden können. Auch erscheint ihm die „Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln unhaltbar“ (VOSSENKUHL 1982, 39), selbst wenn die Differenzierung die „Abhängigkeit des Sprechens von nicht-sprachlichen, sozialen Normierungen und Institutionen“ (VOSSENKUHL 1982, 40) unterstreicht. Der universelle Charakter der Sprechakte lässt sich insbesondere an den indirekten Sprechakten nachweisen. SEARLE bestimmt verschiedene illokutionäre Indikatoren zur Bestimmung eines illokutionären Sprechaktes. Zu nennen sind performative Verben, Verbmodus, Modalverben, Modalpartikeln, Satztypen, Satzadverbien, Intonation, Interpunktion und Kontext. Mit diesen Mitteln kann der Sprecher dem Hörer seine Intention zu erkennen geben und bei diesem „einen gewissen illokutionären Effekt“ (SEARLE 1982, 51) hervorrufen. Indirekte Sprechakte haben die Besonderheit, dass neben einem illokutionären Akt ein weiterer illokutionärer Akt ausgedrückt wird. „Indirekte Sprechakte stellen uns vor das Problem, wodurch es dem Sprecher möglich ist, etwas zu sagen und es zu meinen, aber darüber hinaus auch noch etwas anderes zu meinen“ bzw. „wodurch es dem Hörer möglich ist, den indirekten Sprechakt zu verstehen, wenn der von ihm vernommene und verstandene Satz etwas anderes bedeutet“ (SEARLE 1982, 52). So kann der Satz Kommst du ans Salz ran? sowohl als Frage als auch als Bitte gemeint sein (SEARLE 1982, 52). Indirekte Sprechakte beschreiben Fälle, bei denen nicht die aufgrund der illokutionären Indikatoren zu erwartende Interpretation einer Äußerung einsetzt, sondern eine davon abweichende. Mir ist kalt ist zunächst eine Behauptung, kann aber in bestimmten Äußerungssituationen auch als Aufforderung verstanden werden, beispielsweise ein Fenster oder eine Tür zu schließen. Solche Äußerungen stellen SEARLE vor ein Problem, da er die Glückensbedingungen für einen illokutionären Sprechakt mit den Regeln für den Einsatz von illokutionären Indikatoren in Verbindung bringt. „Und das scheint zu implizieren, daß eine Verwendung eines Indikators, in der dieser nicht indiziert, was er eigentlich indizieren sollte, ausgeschlossen ist.“ (MEIBAUER 2001, 101) SEARLE hat dieses Problem erkannt und sich damit auseinandergesetzt. Er unterscheidet daher weiter zwischen einer sekundären Illokution und einer primären Illokution. Die sekundäre Illokution ist die durch die Indikatoren angezeigte. Die primäre Illokution ist die vom Sprecher eigentlich intendierte 90
Die Glückensbedingungen und Regeln für die illokutionären Sprechakte wurden gelegentliche kritisiert und die Klassen der Sprechakte neu bewertet (HARNISH 1990; WUNDERLICH 1986). „Der Searlesche Vorschlag, zwischen fünf Klassen zu unterscheiden, hat sich weitgehend durchgesetzt, und spielt auch bei dem Entwurf von Alternativvorschlägen eine wichtige Rolle.“ (MEIBAUER 2001, 98–99) Zur Klassifizierung der Sprechakte von SEARLE vgl. auch HINDELANG (2010, 42–48).
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und gemeinte, aber nicht deutlich ausgedrückte Illokution. SEARLE (1982) geht davon aus, dass der Hörer durch praktisches Schließen in der Lage ist, den primären Sprechakt zu identifizieren. Diese Idee des Schlussfolgerns hat GRICE (1979b, 254–255) bereits in seiner Theorie der Implikatur angedeutet. Dieses Schließen muss vorrangig bei nicht-konventionellen indirekten Sprechakten angewendet werden. Oft hat es der Hörer allerdings mit konventionalisierten indirekten Sprechakten zu tun, „die für den indirekten Gebrauch gewissermaßen standardisiert sind“ (MEIBAUER 2001, 103). Bestimmte Äußerungstypen werden also mit der Zeit dadurch standardisiert, dass die Einleitungsbedingungen des Sprechaktes generalisiert und auf die indirekten Sprechakte ausgedehnt werden. Damit indirekte Sprechakte erfolgreich sein können, benötigt der Hörer „Annahmen über das Gespräch, inhaltliches Hintergrundwissen, Kenntnisse der Prinzipien konversationaler Kooperation und der Sprechakttheorie sowie die Fähigkeit des praktischen Schließens“ (MEIBAUER 2001, 103). Diese Punkte sind im Wesentlichen schon in der Theorie der Implikatur von GRICE (1979b) enthalten. SEARLE verkennt zwar in seiner Sprechakttheorie nicht, dass Sprache und gesellschaftliche Institutionen dynamisch sind, er geht aber nicht auf Wandelerscheinungen ein. Die ausschließliche synchrone Beschreibung der Sprechakte legt eine weitere Traditionslinie zum Strukturalismus frei. Sprachliche Dynamik blendet SEARLE vollkommen aus. Sein Regelverständnis und die Unterteilung in regulative und konstitutive Regeln sind mit Blickwinkel auf Sprachwandel ebenfalls wenig hilfreich. Damit umgeht er natürlich das Problem, erklären zu müssen, wie sich konstitutive Regeln überhaupt etablieren und verändern. Außerdem erhebt SEARLE mit den Regeln für seine Sprechakte auf einer abstrakten Ebene einen universellen Anspruch, der ungeklärt lässt, inwieweit Wandel beispielsweise in einem universellen Rahmen stattfinden kann. 2.2.3 Sprachliches Handeln als maximengeleitetes Handeln H. PAUL GRICE – Implikatur und Konversationsmaximen HERBERT PAUL GRICE (1913–1988) und JOHN R. SEARLE haben nicht nur für eine gewisse Zeit gleichzeitig an der Universität Berkeley gearbeitet, sie haben sich auch in ihrem sprachphilosophischen Schaffen gegenseitig beeinflusst. DASCAL (1994, 325) bemerkt dazu: „[B]oth Grice and Searle make use of each other’s theories“. Es wurde schon angedeutet, dass SEARLES indirekte Sprechakte durch Schlussverfahren vom Hörer erkannt und interpretiert werden müssen. Die Grundlagen für SEARLES Ansatz liefert GRICE mit seinem theoretischen Konzept der Implikatur, dass insbesondere in dem Aufsatz „Logik und Konversation“ (1979b; 1989a) ausführlich dargestellt ist.91 Dieses Konzept ist problemlos als Baustein 91
GRICE entwickelte seine Gedanken zur Theorie der Implikatur zunächst in seiner 1967 in Harvard gehaltene Vorlesung „Logic and Conversation“ im Rahmen der William James Lec-
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zum Verständnis der indirekten Sprechakte zu verstehen. Es erklärt, wie Gemeintes aber nicht explizit Gesagtes verstanden werden kann. Das Implikaturkonzept hat auch innerhalb der Sprachwandeltheorie – insbesondere der Grammatikalisierungsforschung – einen hohen Stellenwert und wird für die Erklärung von Sprachwandel herangezogen (SZCZEPANIAK 2011, 46; NÜBLING et al. 2010, 158– 159; HOPPER / TRAUGOTT 2003, 78–84). GRICE nimmt eine Zwischenposition zwischen den Vertretern der ideal language philosophy und ordinary language philosophy ein (CHAPMAN 2005, 2).92 Besondere Beachtung erfuhr er allerdings mit seinen Überlegungen zum Gebrauch der Alltagssprache und deren Logik. Im Gegensatz zu SEARLE, dem es eher um das Aufdecken von Konventionen für die Etablierung eines Sprechaktes geht, stellt GRICE die Intentionalität der Sprache in den Mittelpunkt.93 GRICE ist daran interessiert, die allgemeinsten Prinzipien und Maximen der alltäglichen Kommunikation aufzudecken. Sprachlichem Handeln unterstellt er eine gewisse kommunikative Rationalität. GRICE möchte diese Maximen „nicht nur als etwas auffassen können, woran sich die meisten oder alle de facto halten, sondern als etwas, woran wir uns vernünftigerweise halten, was wir nicht aufgeben sollten“ (GRICE 1979b, 252). Rationales Handeln ist also eine wichtige Grundvoraussetzung des Konzepts von GRICE. Als wichtigstes Prinzip arbeitet GRICE (1979b, 248) das Kooperationsprinzip heraus: Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird.
Ohne die Annahme, dass der Gesprächspartner grundsätzlich bereit ist zu kooperieren, kann das Konzept der Implikatur nicht gedacht werden, das immer dann greift, wenn eine oder mehrere der zahlreichen Maximen nicht vom Sprecher eingehalten bzw. beachtet werden. Die Maximen ordnet GRICE in Anlehnung an
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tures. Kopien der Vorlesungen waren in der sprachphilosophischen Szene seit 1968 in Umlauf (ROLF 2008, 145). Erst 1975 wurden einige Auszüge teilweise veröffentlicht. Die Schriften erschienen 1989 in Buchform unter dem Titel „Studies in the Way of Words“. „Logic and Conversation“ ist heute einer der meistzitierten philosophischen Aufsätze (BACH 2012, 55). Zur Entwicklung des Begriffes Implikatur vgl. auch ausführlich ROLF (2013, 62–71). GRICE (1979b, 243) bezeichnet die Vertreter der ideal language philosophy als „formalistische Gruppe“, die Vertreter der ordinary language philosophy nennt er „informalistische Gruppe“. „Zudem habe ich nicht vor, mich zugunsten der einen oder der andern Seite in den Streit einzumischen.“ (GRICE 1979b, 245) ROLF (2008, 145) stellt außerdem heraus, dass sich GRICE der Gleichsetzung von Bedeutung und Gebrauch, wie sie seit Wittgenstein für die ordinary language philosophy üblich geworden war, widersetzte. CHAPMAN (2005, 3) charakterisiert GRICE folgendermaßen: „[H]e is neither exactly empiricist nor exactly rationalist, neither behaviourist nor mentalist“. WIRTH (2002, 14) unterscheidet zwischen „Intentionalisten“, wie GRICE und DAVIDSON, und „Konventionalisten“, zu denen er SEARLE und HABERMAS mit ihren universalpragmatischen Ansätzen zählt.
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KANT verschiedenen Kategorien zu.94 Wie KANT (KrV, B 106/7) unterscheidet GRICE (1979b, 249) zwischen den Kategorien95 „Quantität, Qualität, Relation und Modalität“. In Anlehnung an KANTS (KrV A 80/B 106) „Tafel der Kategorien“ können die Kategorien und Maximen von GRICE (1989a, 26–27; 1979b, 249–250) folgendermaßen arrangiert werden (ROLF 2013, 46; 1994, 104; BÜLOW / SCHAMBERGER unveröffentlicht): Quantity 1. Make your contribution as informative as is required (for the current purpose of the exchange). 2. Do not make your contribution more informative than is required. Quality
Relation
supermaxim:
Be relevant.
Try to make your contribution one that is true 1. Do not say what you believe to be false. 2. Do not say that for which you lack adequate evidence. Manner supermaxim: Be perspicuous 1. Avoid obscurity of expression. 2. Avoid ambiguity. 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). 4. Be orderly. Abb. 1: Kategorien und Maximen nach GRICE
In der sprachwissenschaftlichen Rezeption wird diese Differenzierung zwischen Kategorien und Maximen kaum oder gar nicht reflektiert (BÜLOW / SCHAMBERGER unveröffentlicht). KELLER (1995a, 6) schreibt beispielsweise: „Dieses allgemeine Prinzip fächert GRICE in vier ‚Maximen‘ auf, die er in Anlehnung an KANT die Maxime der Quantität, Qualität, Relation und Modalität nennt“. Tatsächlich unterscheidet GRICE aber zwischen vier Kategorien und insgesamt 11 Maximen.96 Durch die entsprechende Differenzierung müsste deutlicher werden, dass die Ka 94
Insbesondere CHAPMAN (2005) arbeitet heraus, dass GRICE stark von den Arbeiten KANTS beeinflusst war. Weiterhin mag überraschen, dass sich GRICE auch von CHOMSKYS Ideen inspirieren ließ (CHAPMAN 2005, 85–86). 95 KANT (KrV B 95) nennt diese allerdings Titel. Vgl. zum Unterschied zwischen Kategorien und Titeln bei KANT auch BÜLOW / SCHAMBERGER (unveröffentlicht). 96 Später formuliert GRICE (1989b, 273) noch eine weitere Maxime zur Kategorie der Modalität: „Faciliate in your of expression the appropriate reply“.
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tegorien a priori97 zu deuten und an rationales Handeln gebunden sind. Häufig wird in der Sekundärliteratur auch vergessen, dass GRICE (1979b, 250) die Ansicht vertrat, dass seine Maximen mutmaßlich nicht ausreichen: „Und möglicherweise braucht man noch andere [Maximen; LB]“.98 Die Maximen sind von GRICE – vermutlich ebenfalls in Anlehnung an KANT – als hypothetische Imperative formuliert worden.99 Einige Autoren schlussfolgern daher, GRICE hätte eine Art Kommunikationsethik entworfen (HERINGER 1989, 3; WIMMER 1990, 130; ROLF 1994, 9–14; GARDT 2008, 23–24). Zumindest in „Logik und Konversation“ spricht GRICE nicht von Ethik.100 HARNISCH (2011, 148) warnt deshalb vor Fehldeutungen: Das darf nun aber nicht dazu verleiten, Grice sozusagen für einen ‚Sprachtrainer‘ zu halten, der mit seinen Maximen Tipps geben wolle, wie man sich kommunikativ erfolgreich verhält, indem man sich ‚klar‘, ‚straff‘ usw. ausgedrückt. Schon gar nicht ist Grice ein ‚Moralist‘, der mit erhobenem Zeigefinger […] mahnen wolle, ‚wahr‘, ‚klar‘ usw. zu sprechen. Diesem Missverständnis sitzen nichtlinguistische Nachbarwissenschaften oft auf, indem sie Grice‘ Lehre von den Konversationsmaximen für eine Kommunikations-Ethik halten. (HARNISCH 2011, 148).101
HARNISCH (2011, 148) versteht GRICEʼ Konzept als „KommunikationsEthologie“, „eine Lehre von menschlichen Verhaltensweisen, die das kommunikative Miteinander regeln und sichern“. EHRHARDT / HERINGER (2011, 73) geben folgende Einschätzung mit Bezug zur Evolution, die hier im Grunde geteilt wird: Die kommunikativen Maximen sind nicht normativ gedacht. Sie sind regulierende Prinzipien, nach denen Kommunikation funktioniert. Den Griceschen Katalog kann man als Grundstock
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A priori im Sinne KANTS meint, dass die Kategorien vor jeder Erfahrung vorhanden sind. „Wir werden also im Verfolg unter Erkenntnissen a priori nicht solche verstehen, die von dieser oder jener, sondern die schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden. Ihnen sind empirische Erkenntnisse, oder solche, die nur a posteriori, d. i. durch Erfahrung, möglich sind entgegengesetzt.“ (KANT KrV B 3,4) KANT unterscheidet weiterhin reine und nicht reine Sätze a priori (vgl. KANT KrV B 3,4). Die von KANT vorgelegten Kategorien machen Erfahrung überhaupt erst möglich. KANT deutet das Vorhandensein der Kategorien allerdings als transzendental und nicht als angeboren. KOCH (2006, 84) ergänzt beispielsweise in Anlehnung an FILL (2003) die Maxime: „Sag, was spannend ist, auch wenn du dadurch andere Prinzipien verletzt“. Diese Maxime ist am ehesten der Kategorie der Modalität zuzurechnen. Maximen sind hypothetische Vorschriften, die zunächst an Zwecke gebunden sind und daher häufig als wenn-dann-Sätze erscheinen. Die Imperative sind unabhängig von der grammatischen Form als hypothetisch zu bestimmen. KANT (KrV, B 840) versteht unter Maximen subjektive Grundsätze des Handelns, die allerdings auch Grundhaltungen oder „Lebensgrundsätze“ (HÖFFE 2004, 187) ausdrücken können. Vgl. zum Status von hypothetischen Imperativen bei KANT und GRICE auch BÜLOW / SCHAMBERGER (unveröffentlicht). GRICE (1989c) hat sich durchaus – insbesondere in Anlehnung an ARISTOTELES und KANT – mit ethischen Fragestellungen beschäftigt. Auch KELLER (1995a, 6) weist darauf hin, dass GRICE hier nicht falsch interpretiert werden dürfe: „Daß diese Maximen in Form von Aufforderungssätzen sind, hat ausschließlich darstellungstechnische Gründe. […] GRICE will niemanden zu einer bestimmten Kommunikationsweise überreden oder auffordern, sondern allgemeine Handlungsprinzipien beschreiben“.
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Konzepte der Sprachwandelforschung des kommunikativen Handelns ansehen, so wie es sich in der Evolution entwickelt hat. Somit wären die Maximen eher sprachunabhängig oder universal zu verstehen.102
Aussagen wie „Ich habe meine Maximen hier so formuliert, als bestünde dieser Zweck in maximal effektivem Informationsaustausch“ (GRICE 1979b, 250) sind allerdings, was eine normative Interpretation betrifft, durchaus missverständlich. Ein Kommunikationsratgeber könnte GRICE so auslegen, als ob es ihm darum ginge, den Weg zur optimalen Kommunikation aufzuzeigen. Sein Konzept der Implikatur zeigt allerdings, dass GRICE an einer philosophischen Theorie des Sprachgebrauchs interessiert ist, die erklären kann, warum Kommunikation nicht scheitert, auch wenn die Kommunikationsmaximen vom Sprecher nicht erfüllt worden sind.103 Daher unterscheidet GRICE (1979b, 246) zunächst zwischen dem Gesagten „what is said“ und dem Angedeuteten „what is implied“. Das, was der Sprecher intendiert, kann mit dem Gesagten übereinstimmen. Häufig weichen Gesagtes und Gemeintes ab. Es geht GRICE allerdings gerade um das, was der Sprecher meint.104 Empfindet der Hörer nun im Gespräch einen Verstoß gegen die oben aufgeführten Kategorien – immer unter der Bedingung, dass er keinen Anlass hat, daran zu zweifeln, dass sich sein Gegenüber kooperativ verhält – setzt ein Schlussverfahren ein, das den Hörer dazu bringt, eine „Implikatur“ anzunehmen.105 „Implicatures are things speakers mean, not what hearers, even rational ones, think they mean.“ (BACH 2012, 61) Um die Implikatur106 zu erkennen, muss der Hörer folgende Punkte beachten: (1) die konventionale Bedeutung der verwendeten Worte samt ihrem jeweiligen Bezug; (2) das KP [Kooperationsprinzip; LB] und seine Maximen; (3) den sprachlichen und sonstigen Kontext der Äußerung; (4) anderes Hintergrundwissen; und (5) die Tatsache (oder vermeintliche Tatsache), daß alles, was vom bisher Aufgeführten relevant ist, beiden Beteiligten verfügbar ist, und daß beide Beteiligte wissen oder annehmen, daß dem so ist. (GRICE 1979b, 255)
102 Zu einer evolutionären Herleitung von Sprachhandlungsmaximen vgl. insbesondere SAGER (1988, 115–134). 103 GRICE (1979b, 250) geht davon aus, dass es weitere Maximen gibt, die den Konversationsmaximen durchaus entgegenstehen können. Diese sind beispielsweise ästhetischer, gesellschaftlicher oder moralischer Natur. Um die Maxime „Sei höflich“ erfüllen zu können, ist, um das Gesicht des Gegenübers zu wahren, oft eine indirekte Sprechweise notwendig, die den Maximen „Vermeide Mehrdeutigkeit“, „Sei relevant“ oder „Sei kurz“ entgegensteht. 104 ROLF (1994, 18) merkt zu Recht an, dass zwischen der Bedeutungstheorie und dem Konzept der Implikatur ein wichtiger Zusammenhang besteht. In seinem Aufsatz „Meaning“ (1957; dt. 1979a „Intendieren, Meinen, Bedeuten“) unterscheidet GRICE zwischen einer natürlichen Bedeutung („bedeutenn“) und einer nicht-natürlichen Bedeutung („bedeutennn“). Die natürlichen Bedeutungen sind die zeit- und situationsunabhängigen Bedeutungen. Die nicht-natürlichen Bedeutungen sind hingegen die situations- und kontextabhängigen Bedeutungen. „Etwas mit einer Äußerung meinen ist ein Fall von nicht-natürlicher Bedeutung.“ (GRICE 1979a, 4) Besonders Implikaturen fallen damit in den Bereich nicht-natürlicher Bedeutung. 105 Zum Unterschied zwischen implied und implicated vgl. BACH (2012, 55). 106 Andere Autoren wie LEVINSON (2000) und ROLF (2013) verstehen Implikaturen allerdings als Inferenzen. Zur Diskussion vgl. BACH (2012, 61–62).
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Das Schlussverfahren unter Berücksichtigung der oben genannten Punkte beschreibt GRICE (1979b, 255) so: Er hat gesagt, daß p; es gibt keinen Grund anzunehmen, daß er die Maximen oder zumindest das KP [Kooperationsprinzip; LB] nicht beachtet; […]; er weiß (und weiß, daß ich weiß, daß er weiß), daß ich feststellen kann, daß die Annahme, daß er glaubt, daß q, nötig ist; er hat nichts getan, um mich von der Annahme, daß q, abzuhalten; er will – oder hat zumindest nichts dagegen –, daß ich denke, daß q; und somit hat er impliziert, daß q.
GRICE differenziert weiterhin zwischen zwei Arten von Implikaturen. Diese können „nicht-konventional“ und „konventional“ sein. Den ersten Fall nennt er „konversationale Implikatur“, im zweiten Fall spricht er von „konventionalen Implikaturen“ (GRICE 1979b, 262).107 Auf die Unterscheidung wird hier näher eingegangen, weil sie einen Prozess andeutet, der als Sprachwandel aufgefasst wird. Sowohl die Grammatikalisierungsforschung (vgl. SZCZEPANIAK 2011, 32; HOPPER / TRAUGOTT 2003, 78–84) als auch KELLER (2003, 127; Kap. 2.2.3) und sein Ansatz zur unsichtbaren Hand in der Sprache greifen auf das Konzept der Implikatur zurück. Für NÜBLING et al. (2010, 159) bilden die Implikaturen generell den Ausgangspunkt dafür, dass Abweichungen aller Art vom Gewohnten seitens der Sprecher von Hörern interpretiert, verstanden und produktiv gemacht werden können; sie ermöglichen damit die ersten Schritte von Sprachwandel.
Zunächst bilden sich auf der Grundlage der oben erläuterten Schlussverfahren konversationale Implikaturen heraus, wenn vom Sprecher gegen eine der Konversationsmaximen verstoßen wurde. Der Hörer schließt also auf eine Intention des Sprechers, die nicht dezidiert verbalisiert wurde. Dazu muss eine gewisse kognitive Leistung unter Einbeziehung der oben genannten Punkte erbracht werden, die leichter wird, je öfter der Sprecher sich auf diese Weise ausdrückt. Nach HOPPER / TRAUGOTT (2003, 71–74) sind Routinen und Wiederholungen Problemlösungsstrategien, die – dem Ökonomieprinzip entsprechend – die Dekodierungs- und Kodierungsleistung bei der mentalen Verarbeitung entlasten. Die Hörer beginnen, die wiederkehrenden Äußerungen zu generalisieren und Muster abzuleiten. Von einer konventionalen Implikatur kann gesprochen werden, wenn die Teilnehmer einer Kommunikationsgemeinschaft davon ausgehen können, dass bestimmte Muster hinlänglich bekannt sind und sofort verstanden werden, auch wenn die Konversationsmaximen vordergründig verletzt worden sind. Konversationale Implikaturen transportieren neben dem Gesagten auch das konventional Implizierte (HAGEMANN 2011, 213).108 Aus konversationalen Implikatu 107 GRICE (1979b, 262) unterscheidet eigentlich noch eine dritte Art von Implikatur. Diese nennt er „generalisierte konversationale Implikaturen“. Dieser Fall kann aber leicht vernachlässigt werden, „weil es ja allzu einfach ist, eine generalisierte konversationale Implikatur so zu behandeln, als wäre sie eine konventionale Implikatur“ (GRICE 1979b, 262). Zur Untergliederung der Implikatur in verschiedene Typen vgl. auch ROLF (2013, 96–126; 1994, 119–144) und HAGEMANN (2011, 215). 108 Zur Kritik am Konzept der konventionalen Implikatur vgl. BACH (1999). Zum Unterschied zwischen konventionalen Implikaturen und Präsuppositionen HAGEMANN (2011, 213–214).
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ren entwickeln sich bei einer bestimmten Nutzungshäufigkeit und einem entsprechenden Verbreitungsgrad konventionale Implikaturen. GRICE deutet einen solchen Entwicklungsprozess für konversationale Implikaturen zumindest an: Obwohl es für etwas, das sozusagen als konversationale Implikatur zur Welt kommt, nicht unbedingt ausgeschlossen ist, konventionalisiert zu werden, bedürfte es doch besonderer Rechtfertigung, um in einem gegebenen Fall anzunehmen, daß es sich so verhält. Konversationale Implikate gehören – zumindest anfangs – nicht zur Bedeutung der Ausdrücke, an deren Verwendung sie geknüpft sind. (GRICE 1979b, 264–265)
Inwiefern mit Blick auf den Wandel von einer konversationalen zu einer konventionalen Implikatur von Anpassung gesprochen werden kann, wird an anderer Stelle diskutiert (vgl. Kap. 4.1). RUDI KELLER – von der unsichtbaren Hand in der Sprache Der Einfluss von GRICEʼ Gedanken auf die Sprachwissenschaft lässt sich nicht nur in der Sprachphilosophie und in der linguistischen Pragmatik nachweisen. Auch die Sprachwandelforschung hat GRICE rezipiert und seine Ideen aufgegriffen. In der Grammatikalisierungsforschung sind die Sprechhandlungsmaximen und die Implikaturtheorie nach GRICE ein fester Bestandteil der funktionalistischen Erklärung für Grammatikalisierungsprozesse (vgl. SZCZEPANIAK 2011, 32; NÜBLING et al. 2010, 157; HOPPER / TRAUGOTT 2003, 78–84). Besonders hervorzuheben ist auch KELLERS Monographie „Sprachwandel“ (2003) mit dem Untertitel „Von der unsichtbaren Hand in der Sprache“, in der er in Anlehnung an GRICE ebenfalls „Maximen sprachlichen Handelns“ (KELLER 2003, 126) entwirft und auf das Konzept der Implikatur Bezug nimmt. KELLER lehnt sich außerdem an Theorien aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Evolutionären Psychologie an, um Sprachwandelphänomene zu erklären. Damit schärft KELLER den Blickwinkel der Sprachwandelforschung maßgeblich für den Einfluss sozialer Faktoren und sprachökonomischer Mechanismen. Für KELLER (1995, 213) ist sprachliche Struktur das Ergebnis „spontaner Ordnung“, ein Phänomen der dritten Art (KELLER 2003, 87–95).109 Sprache kann weder ausschließlich dem Diktum natürlich (Phänomene der ersten Art) noch dem Diktum künstlich (Phänomene der zweiten Art) zugeschrieben werden. Sprache ist demnach nicht einseitig als Natur- oder Kulturphänomen aufzufassen. Sprache ist beides, was es zu einem Phänomen der dritten Art macht. Diese sind zwar das Ergebnis menschlicher Handlungen, aber nicht das Ergebnis menschlicher Intentionen (KELLER 2003, 61). KELLER versteht Sprache auf der einen Seite als ein System, das sich nach natürlichen – sprich evolutionären – Systemmechanismen wandelt. Auf der anderen Seite ist Sprache aber maßgeblich durch menschliches Handeln beeinflusst und geformt. Sprache kann nicht ohne den 109 „Phänomene der dritten Art sind eine Teilmenge der spontanen Ordnungen, eben die durch menschliche Handlungen erzeugten spontanen Ordnungen.“ (KELLER 1997, 419)
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Menschen als kulturschaffendes Wesen gedacht werden. Phänomene der dritten Art sind als kulturelle Evolutionsprozesse mit einer historischen Tiefe zu verstehen. Erstaunlicherweise hatte schon GOETHE (1952, 85; zitiert nach KELLER 2003, 88) eine Vorstellung von solchen Phänomenen: Das dritte, was mich beschäftigt, waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie aus dem Zusammentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerstand ein drittes hervorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und zufällig, absichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesellschaft.
KELLER (2003, 93; Text im Original fett gedruckt, LB) definiert Phänomene der dritten Art folgendermaßen: Ein Phänomen der dritten Art ist die kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen.
Phänomene der dritten Art zeichnen sich außerdem durch Prozesshaftigkeit und die Differenzierbarkeit in Mikro- und Makroebene aus (KELLER 2003, 99). Auf der Mikroebene finden die individuellen und intentionalen Handlungen statt, während die Makroebene die Strukturen der Systemebene widerspiegelt. Spontane Ordnungen sind makrostrukturelle Systeme, die sich unter bestimmten Rahmenbedingungen aufgrund mikrostruktureller Einwirkungen bilden, und zwar ohne daß die Einwirkungen auf die Bildung der betreffenden Systeme abzielten. (KELLER 1995b, 214; Text im Original fett gedruckt, LB)
Wie aus einer Vielzahl von individuellen und intentionalen Handlungen Phänomene der dritten Art erwachsen können, wird durch das Prinzip der unsichtbaren Hand 110 (Invisible-hand-Erklärung) erklärt.111 Die Invisible-hand-Erklärung weist eine dreigliedrige Struktur auf (KELLER 2003, 99–100). Erstens müssen die Intentionen, Ziele und Rahmenbedingungen des individuellen Handelns erarbeitet werden, zweitens ist der Prozess des Zusammenwirkens der individuellen Handlungen aufzuzeigen, drittens muss das Explanandum erfasst und benannt werden. Die Struktur der Makroebene ist die kausale Konsequenz der intentionalen Handlungen (KELLER 1997, 420). Dies sind Prozesse, die schon die Vertreter der schottischen Moralphilosophie und allen voran ADAM SMITH (1776/1978) und ADAM FERGUSON (1767/1923) beschrieben haben.112 SMITH prägte für diese Prozesse 110 Die Formulierung „unsichtbare Hand“ ist vielleicht nicht ganz glücklich gewählt. Seine Verwendung soll nicht zum Ausdruck bringen, dass metaphysische Kräfte wirken. „Vielmehr soll durch eine U.-H. Erklärung gerade gezeigt werden, daß das zu erklärende Phänomen allein aus dem individuellen Bestrebungen und den gegebenen Handlungsbedingungen – ohne jegliche weitergehende Annahme – erklärt werden kann.“ (VANBERG 1984, 117) 111 Phänomene der dritten Art erinnern in diesem Kontext sehr an das, was WITTGENSTEIN (PU § 199) und SEARLE (2012, 24) in Bezug auf Sprache als „Institution“ bzw. als „Institutionelle Tatsache“ bezeichnen. Sie sind historisch gewachsene und von Menschenhand geformte Gebilde. 112 Bereits FERGUSON (1767/1923, 171) erkannte: „Jeder Schritt und jede Bewegung der Menge wird sogar in den Zeitaltern, die man erleuchtete nennt, mit gleicher Blindheit für die Zukunft
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den Begriff Invisible-hand-Erklärung: „in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat“ (SMITH 1776/1978, 371). Hierbei handelt es sich im Grunde um ein Paradox, das auch als das Mandevillesche Paradox bekannt geworden ist. Es wurde nach dem Philosophen BERNARD MANDEVILLE113 benannt, der 1705 die Fabel „The Grumbling Hive: or, Knaves Turn’d Honest“ („Der brummende Bienenstock, oder die ehrlich gewordenen Schurken“) anonym veröffentlichte.114 Die Fabel ist eine zeitgenössische Karikatur der englischen Gesellschaft (MANDEVILLE 1980, 60) und beschreibt den Wohlstand eines Bienenvolkes, der nicht die Folge eines fleißigen und tugendhaften Handelns ist, sondern die Konsequenz aus dem schlechten und unmoralischen Handeln der Bewohner. Der Bienenstock geht ausgerechnet dann zugrunde, als der Gott Jupiter veranlasst, dass nur noch tugendhaft gehandelt wird (MANDEVILLE 1980, 80–92). Daher lautet MANDEVILLES (1980, 92) „Moral“: So klagt denn nicht: für Tugend hat’s In großen Staaten nicht viel Platz [...] Von Lastern frei zu sein, wird nie Was anderes sein als Utopie.
[…] Mit Tugend bloß kommt man nicht weit; Wer wünscht, daß eine goldene Zeit Zurückkehrt, sollte nicht vergessen: Man mußte damals Eicheln essen.
Das Paradox beschreibt ein Phänomen, das viel allgemeiner gedeutet werden kann; die Beobachtung, „daß moralisch zu mißbilligende Bestrebungen der Individuen auf der Ebene der Gesellschaft durchaus billigenswerte Auswirkungen haben können“ (KELLER 2003, 56–57). Dieser Gedanke MANDEVILLES115 steht wiederum, wie HAYEK zeigt, einem cartesianischen Rationalismus gegenüber.116 In Reaktion schließlich gegen diesen cartesianischen Rationalismus entwickelten die englischen Moralphilosophen des achtzehnten Jahrhunderts ausgehend sowohl von der Theorie des common law wie von der des Naturrechts eine Sozialtheorie, die die ungeplanten Ergebnisse individueller Handlungen zu ihrem zentralen Objekt machte und im besonderen eine umfassende Theorie der spontanen Ordnung des Marktes lieferte. (HAYEK 1982a, 22)
HAYEK (1975) ist es auch, der die Unsichtbare-Hand-Erklärung mit dem Regelparadox in Verbindung bringt (vgl. Kap. 2.2.1). Er diskutiert, wie Regeln in juristischen Kontexten entstehen und gedeutet werden müssen. HAYEK (1982b; 1975) weist aber immer wieder darauf hin, dass neben der Ökonomie und dem Rechts 113 114 115 116
gemacht und die Nationen stoßen im Dunkeln auf Einrichtungen, die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung irgend eines menschlichen Planes“. Eigentlich BERNARD DE MANDEVILLE, seit 1704 verzichtete er aber auf das de. „Jene anstößige Sixpenny-Broschüre, die Mandeville allmählich durch Kommentare, Essays und Dialoge zur heutigen Fassung der ‚Bienenfabel‘ erweiterte.“ (MANDEVILLE 1980, 11) „Ohne Zweifel: der Autor, dem mehr als irgendeinem anderen diese ‚antirationalistische‘ Reaktion zuzuschreiben ist, war Bernard Mandeville.“ (HAYEK 1982a, 22) CHOMSKY (1971) hat seine generative UG mit einem cartesianischen Rationalismus in Verbindung gebracht. AARSLEFF (1970) zeigt allerdings in seinem Aufsatz „The History of Linguistics and Professor Chomsky“, dass CHOMSKY sich zu Unrecht in die Tradition von DESCARTES und HUMBOLDT stellt.
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wesen auch die Sprache ein historisch gewachsenes Gebilde ist. In Bezug auf den Erstspracherwerb schreibt HAYEK (1982b, 57) beispielsweise: The most striking instance of the phenomenon from which we shall start is the ability of small children to use language in accordance with the rules of grammar and idiom of which they are wholly unaware. [...] So far as we are able to describe the character of such skills we must do so by stating the rules governing the actions of which the actors will usually be unaware.
Diesen angesprochenen Regeln wohnt paradoxerweise die Eigenschaft inne, dass ihnen nicht zwingend gefolgt werden muss und MANDEVILLE hat in seiner Fabel beschrieben, dass, wer einer Regel nicht folgt, nicht unbedingt nachteilige Konsequenzen befürchten muss. „In the instances so far quoted it will probably be readily granted that the ‚know how‘ consists in the capacity to act according to rules which we may be able to discover but which we need not be able to state in order to obey them.“ (HAYEK 1982b, 58) Das Nicht-Befolgen einer Regel durch eine Vielzahl von Menschen kann dazu führen, dass sich eine neue soziale Praxis etabliert, die in der Analyse wiederum als Regel (praxeologisch) erkannt und formuliert wird. Das Mandevillsche Paradoxon ist für diese Arbeit deshalb interessant, weil es eine philosophische Rechtfertigung dafür ist, „daß die Frage nach den Motiven individuellen Handelns ausdrücklich getrennt (werden muß) von der Frage nach den sozialen Auswirkungen dieses Handelns“ (VANBERG 1982, 43). Entscheidend ist der Aspekt, dass die Individuen ihre Interessen separat verfolgen. Wenn wir kommunizieren, verfolgen wir zunächst immer separate Interessen, selbst wenn es das Ziel ist, den Gesprächspartner für eine kollektive Handlung zu gewinnen. Auch die moralische Bewertung von Motiven sprachlichen Handelns kann und muss von den Folgen für das Sprachsystem getrennt werden (vgl. Kap. 5.3). Sprechen kann durchaus als menschliches Handeln im Sinne von Maximen verstanden werden. KELLER lehnt sich hier deutlich an GRICE (1979a; 1979b) an. „Den Aspekt der relevanten Ähnlichkeit des Handelns kann man (nach dem Vorbild von Grice) in Form von Maximen erfassen. Ich nenne sie Handlungsmaximen.“ (KELLER 2003, 127) Die wichtigste Maxime nennt KELLER „Hypermaxime“ und formuliert sie folgendermaßen: „Rede so, daß Du sozial erfolgreich bist, bei möglichst geringen Kosten“ (KELLER 2003, 143). KELLER bringt mit der Hypermaxime funktionale und soziale Faktoren in Verbindung. Zum einen wird angenommen, dass das Individuum – bewusst oder unbewusst – bestrebt ist, erfolgreich zu handeln, um seine soziale Stellung und damit letztlich seine Überlebensund Fortpflanzungschancen deutlich zu verbessern. Zum anderen wird unterstellt, dass dem Menschen zum Erreichen seiner Ziele nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen und er deshalb versucht, möglichst ökonomisch bzw. effektiv damit umzugehen.117 Der Hypermaxime gehen nach KELLER (2003, 142) also zwei triviale Maximen voraus: 117 Auch die kostenorientierten Maximen werden von der Grammatikalisierungsforschung für Sprachwandel verantwortlich gemacht: „[G]rammaticalization changes seem to draw primarily on the second maxim of Quantitiy […] and Relevance“ (HOPPER / TRAUGOTT 2003, 79).
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Konzepte der Sprachwandelforschung Rede so, daß Du die Ziele, die Du mit Deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst.118 Rede so, daß es Dich nicht mehr Energie kostet, als erforderlich ist, um Dein Ziel zu erreichen.
Die Ziele, die die Sprecher verfolgen, können ganz unterschiedlich sein. Es muss außerdem beachtet werden, dass die Sprecher zum Teil mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen können. KELLER unterscheidet zwischen Zielen, die die Verständigung im Wesentlichen sichern, und Zielen, die den Sprecher besonders herausheben oder ihm zumindest Kosten sparen. Die erste Art von Zielen überträgt KELLER (2003, 135–137) in Maximen, die er statisch nennt: Rede so, daß der andere Deine Intentionen erkennen kann. Rede so, wie Du denkst, daß der andere reden würde, wenn er an Deiner Statt wäre. 119 Rede so, daß Du als Gruppenzugehöriger zu erkennen bist. Rede so, daß du nicht auffällst.
Die zweite Art von Zielen lässt sich in dynamische Maximen übersetzen: Rede so, daß Du beachtet wirst. Rede so, daß Du als nicht zu der Gruppe gehörig erkennbar bist. Rede amüsant, witzig etc. Rede besonders höflich, schmeichelhaft, charmant etc. Rede so, daß es Dich nicht unnötige Anstrengung kostet. (KELLER 2003, 139–140)
Diese Maximen stehen teilweise in einem Spannungsverhältnis, das in besonderer Weise im Sinne der Unsichtbaren-Hand-Erklärung für Sprachwandel verantwortlich ist. KELLER nimmt dabei nicht nur auf GRICE Bezug, sondern auch auf LÜDTKE, der als einer der ersten Linguisten versucht hat, Sprachwandel unter systemtheoretisch/kybernetischen Gesichtspunkten zu erfassen. LÜDTKE (1980a) beschreibt Sprache im Sinne der Kybernetik bereits als Regelkreislauf aus Verschmelzung, lautlicher Reduzierung und lexikalischer Anreicherung (vgl. Kap. 4.1.1).120 Dieser Kreislauf „entsteht als ungewolltes, unbewusstes Nebenprodukt Vgl. auch TRAUGOTT (2012, 551), die sich auf beide Maximen der Kategorie der Quantität bezieht. 118 Mit dieser Maxime wird nichts über die Merkmale sozialen Erfolgs ausgesagt, die sich ebenfalls wandeln können. 119 KELLER leitet diese Maxime von HUMBOLDT (1836/1974, 57) ab: „Es darf also Niemand auf andere Weise zum Anderen reden, als dieser, unter gleichen Umständen, zu ihm gesprochen haben würde“. 120 Diesem Regelkreislauf liegen die folgenden Prinzipien zugrunde: 1. Ökonomieprinzip, 2. Redundanzprinzip (lieber ein wenig zu viel als zu wenig), 3. Prinzip der Verschmelzung (Elemente, die stets zusammen auftreten, können als Einheit interpretiert werden). Dieser Kreislauf erinnert an den Jespersenzyklus, der die historische Entwicklung des Negationspartikels nicht darstellt (SZCZEPANIAK 2011, 43–53).
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aus der Paarung von Entscheidungsfreiheit und Optimierungsstreben bei der sprachlichen Tätigkeit“ (LÜDTKE 1980a, 10). Beim Vollzug der sprachlichen Tätigkeit lautet die Frage jeweils, wie viel „Signal-Negentropie“ (LÜDTKE 1980b, 11) aufgewendet werden muss, damit der Sprechvorgang erfolgreich ist, d. h. der Hörer die Kommunikationsabsicht versteht. Diese Frage kann allerdings in einem gewissen Toleranzbereich nur abhängig vom Hörer im Zusammenspiel mit gewissen gesellschaftlichen Erwartungen beantwortet werden. In bestimmten Situationen, wie z. B. bei einem wissenschaftlichen Vortrag, wird erwartet, dass der Referent laut, deutlich und standardnah spricht, heißt beispielsweise, Flexionsendungen nicht verschluckt (habe vs. hab 1. Ps. Sg. Ind. Akt.) und Klitisierungen (habe es vs. hab’s 1. Ps. Sg. Ind. Akt.) vermeidet. In der gesprochenen Umgangssprache sind diese Prozesse durchaus üblich, vom Hörer erwartet und entsprechen sprachökonomischem Verhalten. Dadurch, dass mit der Zeit im Sprecher-Hörer-Zusammenspiel gewisse Lernprozesse (Synchronisierungen) stattfinden und Erwartungen und Generalisierungen aufgebaut werden, verfügt die Sprachstruktur über Redundanzen. Diese Redundanzen sind für den Sprecher allerdings auch eine gewisse Sicherheit. Negative Redundanz, d. h. zu geringe Signal-Negentropie, verhindert den Erfolg des Kommunikationsaktes und führt – im harmlosesten Fall – zu Rückfrage und Neuformulierung, mithin zu hohem zusätzlichem Aufwand. Um dieses Risiko zu vermeiden, muß der Sprecher eine gewisse Sicherheitsmarge an Redundanz in Kauf nehmen, die andererseits auch nicht übermäßig groß sein soll. Es geht also darum, die Redundanz nicht zu eliminieren, sondern sie dem jeweiligen Kommunikationsziel entsprechend zu dosieren, also zu optimieren. (LÜDTKE 1980b, 11)
Wenn sich für sprachliche Strukturen Routinen, Automatismen und Vorhersagbarkeiten einstellen, kann es zu Verschleifungen, Verschmelzungen und formalem Abbau kommen. „Signal simplification typically results from routinization (idomatization) of expressions.“ (HOPPER / TRAUGOTT 2003, 72) Automatisierung bzw. Ritualisierung ist ein Prozess, der bei fast allen Lebewesen zu beobachten ist, die bestimmte Handlungen oft wiederholen. HAIMAN (1994, 25) betont, dass die Wiederholung der Sprachstruktur (repetition of utterances) der Motor für formale Reduktionsprozesse ist. Lüdkte (1980a, 12) beschreibt den Verarbeitungsprozess hörerseitig folgendermaßen: [D]er Hörer nimmt nicht zunächst die gesamte Signalnegentropie war, um die anschließend zu dekodieren, sondern diese zweite Stufe des Verarbeitungsprozesses setzt ein, sobald nur ein Teil des Sprachschalles eingegangen ist; es werden sodann mögliche Fortsetzungen projektiv antizipiert, mit den nach und nach eintreffenden weiteren Teilen des Signals verglichen und daraufhin – je nachdem – verworfen oder bestätigt.
Die Antizipationsleistung des Hörers ist allerdings zu einem gewissen Anteil fakultativ. Oft sind mehrere Anschlussmöglichkeiten möglich, von denen zunächst eine, weil beispielsweise von der Sprecher-Hörer-Gemeinschaft häufiger genutzt, dominiert. Die Struktur, auch wenn sie nicht deutlich artikuliert wurde, ist vom Rezipienten antizipierbar und rekonstruierbar, da er über Sprachwissen verfügt, das ihm erlaubt, die Struktur Top-down zu erschließen. Der Sprecher und der Hö-
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rer verlassen sich auf Regelmäßigkeiten. Eine weitere Frage ist, ob morphologische Grenzen noch als solche wahrgenommen werden (Kiefer < Kienföhre) bzw. neue Strukturgrenzen wie bei (Re)Motivierungen entstehen (Bikini(-Atoll) > Bikini ‘Bademode’ > Bi-kini ‘zweiteilige Bademode’ > Mono-kini > Tan-kini usw.). Daraus resultieren dann Verschleifungen und Abbauprozesse formaler sprachlicher Struktur, aber auch semantische Anreicherungen. LÜDTKE (1980a, 18) beschreibt folgende Gesetzmäßigkeit: [P]arallel mit dem Produkt aus Größe und Frequenz nimmt die Wahrscheinlichkeit der Segmentierung zu; umgekehrt: die Wahrscheinlichkeit der Verschmelzung (= NichtSegmentierung) nimmt zu, wenn das Produkt aus Größe und Frequenz abnimmt. Da nun die Größe (d. h. der lautliche Aufwand) einer gegebenen morphosyntaktischen Verkettung sich langfristig irreversibel verringert […], muss das Produkt aus Größe und Frequenz sich ebenfalls verringern, sofern nicht – was zwar gelegentlich, aber nicht oft vorkommt – die Frequenz ansteigt. Die Folge ist stetige probabilistische Zunahmen der Verschmelzung bzw. Abnahme der Segmentierung […] im Laufe der Zeit.
Diese Prozesse erzeugen Variationen, die, wenn sie akkumuliert werden, ebenfalls in den Kreislauf der Automatisierung Eingang finden. Anders als LÜDTKE interpretiert KELLER den Regelkreislauf aus Verschmelzung, lautlicher Reduzierung und lexikalischer Anreicherung aber nicht als universales Phänomen. Vielmehr hat LÜDTKE „einen Invisible-hand-Erklärungsrahmen entworfen, innerhalb dessen singuläre historische Ereignisse erklärt werden können“ (KELLER 2003, 152). Das Wirken der unsichtbaren Hand in der Sprache Die Unsichtbare-Hand-Erklärung wurde in erster Linie als Sozialtheorie in den Wirtschaftswissenschaften ausgearbeitet.121 „Seitdem gilt die bildhafte Formel von der ‚unsichtbaren Hand‘ allgemein als Kürzel für die theoretische Idee der spontanen Herausbildung einer sozialen Ordnung aus der Verflechtung individuell eigeninteressierter Handlungen.“ (VANBERG 1984, 115) KELLER (2003) überträgt diese Idee erstmals auf den Bereich des Sprachwandels. Sowohl überindividuelle Einzelsprachen als auch Idiolekte können als historisch gewachsene Gebilde betrachtet werden. CROFT (1997, 393–394) erhofft sich von der Übertragung dieser Idee auf den Sprachwandel eine Fokussierung der Linguistik auf den konkreten Sprachgebrauch. KELLER betont neben dem Sprachgebrauch auch den Idiolekt und die individuellen kommunikativen Ziele der Sprachbenutzer. Jede Individualkompetenz dürfte tatsächlich ein echtes Unikat sein. Es gibt vermutlich keine zwei Menschen, die über exakt die gleichen sprachlichen Mittel verfügen. Teil der Individualkompetenz eines Individuums ist dessen Hypothese über die Individualkompetenz seines jeweiligen Kommunikationspartners. Ein Sprecher […] wird aus den Möglichkeiten, die ihm seine eigene Individualkompetenz bietet, genau die Varianten auswählen, von denen er
121 Zur Nutzbarmachung der Theorie der ‚unsichtbaren Hand‘ für die Wirtschaftswissenschaften vgl. SIGMUND-SCHULTZE (1992) und VANBERG (1984).
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glaubt, daß sie am besten geeignet sind, seine kommunikativen Absichten zu realisieren. (KELLER 1995, 214)
BÜHLER (1991, 185) sieht in der Arbeit KELLERS zudem einen „wichtige[n] Beitrag in Richtung auf adäquate Erklärungen von Sprachwandelprozessen“. GREULE (1991, 321) hebt den integrativen Aspekt KELLERS Theorie hervor: [D]essen Reiz darin liegt, nicht allein nachzuvollziehen, wie KELLER die Erklärung mittels der unsichtbaren Hand auf die Sprache überträgt, sondern auch wie er den speziellen Fall des Sprachwandels mit sozialen, politischen und ökonomischen Prozessen in Verbindung bringt.
Auch wenn KELLERS Erklärung mittels der unsichtbaren Hand in der Sprachwandeltheorie mittlerweile breit rezipiert und wiedergegeben wird (LINKE / NUSSBAUMER / PORTMANN 2004, 433–434; SCHMID 2009, 74–75), sind kritische Stimmen auszumachen. RONNEBERGER-SIBOLD (1997, 260) kritisiert, dass die Sprachbenutzer Sprachwandel viel bewusster steuern, als KELLER zugeben mag: Auch beim normalen Sprachgebrauch gibt es zwar tatsächlich den Fall, dass Sprachbenutzer beim Verfolgen eines sprachlichen Ziels unbeabsichtigt Nebeneffekte erzeugen (die ‚Verheerungen‘, die der bezeichnenderweise ‚blind‘ genannte Lautwandel in der Morphologie anrichten kann, sind ein klassisches Beispiel), aber solche ‚partikularen Optimierungen‘ sind im Hinblick auf das Gesamtsystem gerade nicht ökonomisch […]. Allein schon aus diesem Grunde […] scheint es mir übertrieben, wenn KELLER den Gesamtzustand unseres gegenwärtigen Sprachsystems (bis auf wenige Ausnahmen) als von den Sprachbenutzern unbeabsichtigt betrachtet.
Von bewusster Sprachveränderung wäre beispielsweise dann zu sprechen, wenn die feministische Sprachkritik die Sprecher/innen dafür sensibilisieren könnte, dass diese das generische Maskulinum bei Personenbezeichnungen für gemischtgeschlechtliche Gruppen oder Frauen nicht länger verwenden (LINKE / NUSSBAUMER / PORTMANN 2004, 433). Dass allerdings auch dabei ungewollte Effekte entstehen, wird in Kapitel 5 ausführlich diskutiert. Der Kritik von RONNEBERGERSIBOLD kann entgegengehalten werden, dass KELLER durchaus davon spricht, dass die Sprachbenutzer bewusst den Sprachhandlungsmaximen folgen. Entscheidend ist allerdings, dass sie dies tun, um kommunikativ (und damit auch sozial) erfolgreich oder ökonomisch zu sein und nicht mit dem Ziel, die Sprache zu verändern (WURZEL 1997, 300). Weiterhin wurde am Konzept der unsichtbaren Hand kritisiert, dass es nicht das actuation-Problem löse, sondern nur eine Erklärung für das transitionProblem sei (CROFT 1997, 399; BITTNER 1995, 120–121). Die unsichtbare Hand würde nicht die Entstehung, sondern lediglich die Verbreitung von Sprachwandel erklären. Auch diesem Einwand kann mit dem Hinweis auf die dynamischen Sprachhandlungsmaximen begegnet werden. Neue sprachliche Strukturen entstehen, wenn bewusst oder unbewusst sozial erfolgreich oder ökonomisch gehandelt wird. Für HASPELMATH (1999a, 1055) ist beispielsweise die Maxime der Extrava-
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ganz „talk in such a way that you are noticed“122 der wichtigste Mechanismus zur Lösung des actuation-Problems. Schwerer wiegt schon NÜBLINGS (2011) und CROFTS (1997) Kritik an KELLERS Darstellung des Wandels im Wortfeld ‚Frau‘ durch das Galanterieprinzip. KELLER (1995, 216) betrachtet Sprachwandel in vielen Fällen eben nicht als Spiegel123, sondern als „Zerrspiegel der Kultur“. „Die kulturellen Rahmenbedingungen, die die Wahl der sprachlichen Mittel der einzelnen Individuen mitbestimmen, können auf der Makroebene der Sprache vollständig verzerrt und gleichsam ins Gegenteil verkehrt erscheinen.“ (KELLER 1995, 216) NÜBLING nimmt hingegen an, dass der Wandel im Wortfeld ‚Frau‘ den sozialen Status der Frau in der Gesellschaft widerspiegelt. Im Folgenden wird anhand dieses Beispiels kurz erläutert und diskutiert, wie das Prinzip der unsichtbaren Hand in der Sprache funktioniert. Der semantische Wandel am Beispiel des Wortfeldes ‚Frau‘ KELLER (2003, 107–109) zeigt anhand des semantisch-lexikalischen Wandels im Wortfeld ‚Frau‘, wie die unsichtbare Hand in der Sprachgeschichte wirkt. Die sprachlichen Ausdrücke für das Konzept ‚Frau‘ unterliegen in der deutschen Sprachgeschichte einer stetigen Pejorisierung. Dahinter stehe aber nach KELLERS Auffassung kein offener oder verborgener Chauvinismus, sondern genau das Gegenteil. KELLER (2003, 108) bezeichnet den Mechanismus, der hinter dieser Entwicklung steht, als „Galanteriespiel“.124 Auf sprachlicher Ebene würden Männer demnach versuchen, sich galant zu verhalten, indem sie einen Ausdruck zur Bezeichnung oder Anrede einer Frau wählen, der auf einer höheren Stilebene anzusiedeln ist. Hier gelte die Maxime: „Rede besonders höflich, schmeichelhaft, charmant etc.“ (KELLER 2003, 140). Teil dieses Galanterieverhaltens ist es, daß die Tendenz besteht, Frauen gegenüber oder beim Reden über Frauen Ausdrücke zu wählen, die eher einer höheren Stil- oder Sozialebene angehören als einer niedrigen. [...] greife bei deiner Wortwahl lieber eine Etage zu hoch als eine zu niedrig. (KELLER 2003, 108)
Im Mittelalter war es in bestimmten Situationen am Hof von sozialem Vorteil, statt dem gebräuchlichen Wort für ‘Frau’ wîp125, das Wort vrouwe126 zu verwenden, das im Mittelhochdeutschen noch die Bezeichnung für eine ‘sozial hochstehende bzw. adelige Frau’ war. Dadurch, dass sich die Sprecher sehr häufig dafür entschieden, das Wort vrouwe aus der höheren Stillage zu verwenden, etablierten 122 Diese Maxime entspricht KELLERS (2003, 139) Maxime „Rede so, daß Du beachtet wirst“. 123 Die Sprache ist für KELLER kein Abbild, sondern ein Teil der Kultur. „Die Sprache verhält sich zur Kultur wie ein Teil zum Ganzen, und nicht wie das Urbild zum Abbild.“ (KELLER 1995, 209) 124 Kritik am Galanterieprinzip äußert CROFT (1997, 397), der die Pejorisierung der Begriffe im Wortfeld ‚Frau‘ mit der Entwicklung der Bezeichnungen colored, Negro und black vergleicht. 125 „wîp stN Frau; Ehefrau; Frau von niedrigem Stand; […].“ (HENNIG 2001, 475) 126 „vrouwe, vrôwe, […] stswF […] Herrin, Dame, Edelfrau; Herrscherin, Gebieterin […].“ (HENNIG 2001, 445)
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sie eine neue soziale Praxis. Die Pejorisierung der Begriffe käme nach KELLER dadurch zustande, dass sich diese mit der Zeit durch den vermehrten Gebrauch abnutzen und in die mittlere bzw. niedere Stilebene abrutschen würden. Der heutige Begriff Weib steht für eine ‘sozial niedere Frau’, das Wort Frau hat das neutrale Konzept ‘Frau’ übernommen. Die entstandene Lücke für ‘sozial hochstehende Frau’ wurde mit dem Lehnwort Dame gefüllt, das heute als galante Anredeform gilt. Wie kann etwas positiv Intendiertes aber zu einer Pejorisierung führen? Hier greift nach KELLER die Erklärung der unsichtbaren Hand. Für diese müssen die Motive des Handelns von den sozialen Folgen des Handelns getrennt werden. Eine Bedeutungsverschlechterung der Begriffe wîp und vrouwe war sicher nicht intendiert, ist aber die Folge menschlichen Sprachhandelns. KELLERS Anwendung des Galanteriekonzeptes auf die Entwicklung der Begriffe aus dem Wortfeld ‚Frau‘ ist allerdings nicht ohne Widerspruch geblieben.127 NÜBLING (2011, 350) kritisiert beispielsweise a) die unilaterale Auslegung des Galanteriebegriffes. KELLERS Darstellung würde fälschlicherweise implizieren, dass nur Männer auf die Sprachhandlung des Schmeichelns bei der Anrede zurückgreifen. Weiterhin stellt NÜBLING fest, dass b) Pejorisierungen von Frauenbezeichnungen auch in Kulturen auftreten, die das Galanterieprinzip nicht kennen. Außerdem bezweifelt NÜBLING (2011, 350) c), dass das Galanteriemodell „in der breiten Bevölkerung überhaupt so wirkmächtig war, wie man dies voraussetzen müsste“. Punkt c) ist entgegenzuhalten, dass Prestige ein wesentlicher Faktor für die Verbreitung von Sprachwandel ist. Auch kleinere Sprachgemeinschaften können in Verbindung mit gewissen sozialen Faktoren, die stark variieren können, ein hohes sprachliches Prestige ausbilden (vgl. Kap. 6.5.1). So hat beispielsweise eine zunächst noch relativ kleine Schicht des Bildungsbürgertums eine große Rolle für die Ausbreitung der Standardvarietät gespielt. Welche Kulturen NÜBLING unter Punkt b) versteht, kann nur schwer nachvollzogen werden, da sie kein Beispiel für Pejorisierungen von Frauenbezeichnungen in Kulturen ohne Galanterieprinzip angibt.128 Punkt a) lässt sich allerdings nicht so leicht wegdiskutieren. Zwar gesteht NÜBLING (2011, 351) in der Anrede vor Namen (mhd. vrouwe ‚sozial hochstehend‘ > nhd. Frau Meier ‚sozial neutral‘ bei Anrede + Familienname) „soziale Degradierung als Folge von Inflationierung ein“, dieser Befund gelte aber gleichermaßen für die Anrede in Bezug auf Männer (mhd. herr(e) ‚sozial hochstehend‘ > nhd. Herr Meier ‚sozial neutral‘ bei Anrede + Familienname). Bei diesem Beispiel liegt eine Bedeutungserweiterung durch Semverlust vor. Was KELLER mit seinem Galanteriemodell allerdings nicht erklären kann, sind Bedeutungsveränderungen durch Semzuwachs, wie sie bei der Funktionalisierung des Begriffes Magd auftreten:129 127 Zur Darstellung der Begriffe Frau und Mann in der deutschen Lexikografie und dem darin zum Ausdruck kommenden Androzentrismus vgl. NÜBLING (2009, 609–628). 128 Vgl. dazu aber auch BUSSMANN (2005, 499). 129 Weitere Bezeichnungen sind Weib, Dirne, Mamsell und Frauenzimmer (NÜBLING 2011, 351).
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Abb. 2: Entwicklung zur Funktionalisierung von Magd nach NÜBLING (2011, 348)
Die Funktionalisierung mache nur „aus männlicher Perspektive Sinn“ (NÜBLING 2011, 348). Dieser Wandel sei ein Abbild (Spiegel) der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Frauen lange einen niedrigeren sozialen Status als Männer hatten. Immerhin sind sich KELLER und NÜBLING darin einig, dass Sprachwandel nur dann adäquat verstanden werden kann, wenn die außersprachlichen Gegebenheiten einbezogen und richtig gewertet werden. In der Wertung sind KELLER und NÜBLING allerdings verschiedener Meinung, unabhängig davon, ob Sprachwandel ein Spiegel oder ein Zerrspiegel der kulturellen Verhältnisse ist. KELLER (1995, 210) behauptet keineswegs, dass „die Pejorisierung von Bezeichnungen für Frauen ein universales Phänomen ist“. Das Wort Mutter ist von dieser Entwicklung beispielsweise ganz ausgenommen. KELLER will vielmehr dafür sensibilisieren, dass mit linearen und einfachen Erklärungen vorsichtig umgegangen werden muss. Auch wenn viel dafür spricht, dass bestimmte Begriffsentwicklungen nicht mit dem Galanterieprinzip erfasst werden können und Pejorisierungen häufig auch Ausdruck negativer Einstellungen sind, so steht doch außer Frage, dass die Folgen auf der Makroebene nicht als intendiert oder geplant zu betrachten sind. Zumindest für den Fall der Anrede kann die Pejorisierung, dies deuten sowohl KELLER (2003, 109) als auch NÜBLING (2011, 351) an, zum einen durch den Wandel von einer konversationalen zu einer konventionalen Implikatur erklärt werden. Zum anderen ist ersichtlich, wie ein Sprachspiel im Sinne WITTGENSTEINS funktionieren könnte, das zu einer neuen sprachlichen Praxis führt. Der inflationäre Gebrauch von Begriffen der höheren Stillage130 führt dazu, dass der Gebrauch dieser Begriffe zu einem konventionalen Muster wird und sie dadurch ihren stilistischen Mehr-Wert verlieren. Sie werden standardisiert oder auch konventionalisiert, d. h. dass sie normal werden und die spezifische Bedeutung ‘sozial hochstehend’ einbüßen. Das liegt nicht zuletzt an unserer Vorstellung der Begriffe galant und höflich, die implizieren, dass die Handlung ‘besonders’ sein muss. Wenn aber alle so handeln, geht das Besondere an dieser Handlung verloren.131 Der Bedeutungswandel ist ein komplexer Vorgang, der nicht nur durch die sprachliche Ebene beeinflusst ist und viele außersprachliche Faktoren 130 Zum Stilpotential von Wörtern vgl. BUSSE (2009, 97–98) und EROMS (2008, 57–66). 131 Eine begriffliche Deduktion könnte hier beliebig fortgeführt werden. Z. B.: Der Begriff besonders impliziert, dass etwas als ungewöhnlich und nicht unbedingt erwartbar betrachtet wird, usw. Es sollte gezeigt werden, dass unsere Vorstellungen auch durch sprachliche Konzepte beeinflusst werden.
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einbeziehen muss (KELLER 2003, 109). Hier liegt außerdem ein Analogieprozess vor. Ein erfolgreiches sprachliches Muster wird in anderen Kontexten analog angewendet. Die Bedeutungsveränderung kann auf mehreren Ebenen als Sprachspiel im Sinne WITTGENSTEINS gesehen werden und hängt teilweise mit der Etablierung und dem inflationären Gebrauch von sprachlichen Konstruktionen zusammen. Auch das Regelparadox kommt hier zum Tragen (vgl. Kap. 2.2.1). Die erste Ebene ist das Galanteriespiel selbst. Gesellschaftliche Faktoren bedingen beispielsweise, dass das Galanteriespiel nicht mehr zeitgemäß ist, da die moderne und selbständige Frau nicht mehr darauf angewiesen ist, dass ihr der Mann in den Mantel hilft oder die Autotür öffnet. Dann würde das Galanteriespiel überflüssig und die darin enthaltenen sprachlichen Regeln ebenfalls. Auf der zweiten Ebene wird das Galanteriespiel nur in bestimmten sozialen Kontexten gespielt, wenn es die soziale Praxis vorsieht. In dem Zusammenhang, dass Sprache ein Teil der kulturellen Praxis sei und diese nicht nur abbilde, zitiert KELLER (1995, 209) WITTGENSTEIN. Sprechen sei eben „ein Teil […] einer Lebensform“ (WITTGENSTEIN PU § 23). Durch gesellschaftliches Handeln werden Regeln etabliert. Auf einer Abendveranstaltung, etwa dem Wiener Opernball, ist es durchaus geboten, die Dame zum Tanz zu bitten. In einem Nachtclub dürfte es dagegen eher unüblich sein, eine Frau mit der Bezeichnung Dame anzusprechen. „So haben Tennisclubs ‚Damenabteilungen‘; Kliniken aber ‚Frauenabteilungen‘, [...].“ (KELLER 2003, 108) Der oben beschriebenen Regel wird aber nicht zwingend gefolgt. Sollte sich die Anrede Dame auch in Nachtclubs132 als erfolgreich erweisen, weil jemand auf die Idee kommt, sich an der Anredepraxis aus anderen Kontexten zu orientieren, wäre es möglich, dass ein Sprachwandel in diesen sozialen Kontexten stattfindet. Zwischenfazit KELLERS Sprachwandelkonzeption erfasst Sprachwandel in Anlehnung an verschiedene nicht-linguistische Theorien als einen komplexen Vorgang, der sowohl innersprachliche als auch außersprachliche Einflussgrößen miteinbezieht. Hier sind nochmals kurz die wichtigsten Merkmale seines Sprachwandelkonzepts zusammengefasst. Sprache ist ein Epiphänomen. „Sie ist ein unintendiertes Nebenprodukt der kommunikativen Bemühungen zahlloser Generationen einer Population.“ (KELLER 2008, 15) Jedes Individuum strebt letztlich nach kommunikativem Erfolg (sozial und sprachökonomisch). 132 Das Beispiel Nachtclub wurde gewählt, um den Kontrast zu Tanzball möglichst groß erscheinen zu lassen. Dazwischen liegen natürlich verschiedene Abstufungen mit verschiedenen subtilen Codes.
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Jedes Individuum verhält sich nach kommunikativen Handlungsmaximen, die zum einen für Stase und zum anderen für Dynamik sorgen. Sprachliche Strukturen sind zwar das Ergebnis individueller Handlungen, sie sind aber nicht die Umsetzung eines bewussten Plans (Prinzip der unsichtbaren Hand). Sprachwandel ist insofern gerichtet, als Strukturen entstehen, die größeren kommunikativen Erfolg für den jeweiligen Kontext versprechen (Sprachwandel führt zu geeigneteren sprachlichen Strukturen). Sprachwandel ist nicht teleologisch, sondern kontingent. Für kommunikative Probleme gibt es vielfältige Lösungsmöglichkeiten. Sprachwandel ist nicht vollständig beliebig, weil er als historischer Prozess an bestehende Strukturbedingungen anknüpft. Sprachwandel ist auf der Mikroebene final (intentional; auf den Zweck des kommunikativen Erfolgs ausgerichtet) und auf der Makroebene kausal. Sprachwandel ist in der Retrospektive erklärbar, aber nicht prognostizierbar. Sprachwandel ist ein evolutionärer Prozess. Auf den letzten Punkt muss noch einmal genauer eingegangen werden. Zum einen wurde bisher lediglich angedeutet, dass KELLER Sprachwandel als evolutionären Prozess versteht, und zum anderen ist der Nachweis, dass Sprachwandel evolutionär gedeutet werden kann, eine der wesentlichen Herausforderungen dieser Arbeit. Phänomene der dritten Art haben sowohl Gemeinsamkeiten mit natürlichen als auch künstlich-kulturellen Phänomenen. „Mit ersteren haben sie gemeinsam ihre evolutionäre Entstehungs- bzw. Veränderungsweise, mit letzteren haben sie gemein, daß sie Folgen menschlichen Handelns sind.“ (KELLER 1997, 415) Phänomene der dritten Art sind für KELLER (2008, 16) „das Ergebnis eines potenziell unendlichen Prozesses soziokultureller Evolution“. Diesen Prozessen schreibt KELLER vier wesentliche Eigenschaften zu. Sie sind 1. nicht teleologisch, 2. kumulativ, 3. ein Zusammenspiel aus Variation und Selektion und 4. adaptiv. Die Punkte 1 und 2 sind aus den obigen Ausführungen zur unsichtbaren Hand verständlich. Die Punkte 3 und 4 leitet KELLER aus der Evolutionstheorie ab.133 Variation und Selektion sind für KELLER (1997, 427) voneinander abhängige Prozesse. KELLER geht zum einen davon aus, dass die Sprecher immer mehrere Möglichkeiten haben, ihre kommunikativen Ziele zu erreichen, zum anderen nimmt KELLER Selektionsinstanzen an: „[E]ine Selektion, die von außen kommt, und eine, die der Kodebenutzer in Antizipation der ersteren selbst vornimmt“ (KELLER 1997, 427). KELLER unterscheidet zwischen „sozialer Selektion“ und „Sprachselektion“ (die sprachliche Struktur betreffend). Weiterhin thematisiert KELLER 133 KELLER (2003, 195) sieht eine unmittelbare Verbindung zwischen den Konzepten der unsichtbaren Hand und der Evolution: „Von der Theorie der unsichtbaren Hand zum Konzept der Evolution ist es sowohl in wissenschaftshistorischer als auch in systematischer Hinsicht nur ein kleiner Schritt“. KELLER (2003, 195) möchte in keinem Fall so verstanden werden, als wolle er „ein naturwissenschaftliches Modell auf einen kulturwissenschaftlichen Gegenstand übertragen“.
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(1997, 427–428) die Möglichkeit der Gruppenselektion, die er in Anlehnung an HAYEK (1982a) gegen die Kritik von VANBERG (1982) verteidigt. Eine zwischen der Mikro- und Makroebene angesiedelte und auf (Klein)Gruppenphänomene bedachte Mesoebene kommt in der Konzeption von KELLER allerdings nicht vor. Diese Mesoebene wird allerdings im Konzept der Sprachdynamik von SCHMIDT / HERRGEN (2011), das später noch aufgegriffen und erläutert wird (vgl. Kap. 2.4.2), berücksichtigt. KELLER (2008, 18–20) geht außerdem ausführlich auf die „sogenannte Funktion der Sprache“ ein. Er erklärt vollkommen richtig, dass die Aussage, dass die Sprecher ihre Sprache funktional benutzen, nicht mit der Aussage identisch ist, „dass die Sprache per se eine Funktion hat“ (KELLER 2008, 18). Dass Sprache funktional ist, erinnert an die Werkzeugmetapher von PLATON (Kratylos 388a–e). In Bezug auf die Evolutionstheorie muss Funktionalität allerdings im Sinne von Tauglichkeit, Nützlichkeit und Passung sowohl in Anbetracht kognitionspsychologischer Faktoren als auch Faktoren des sozialen Erfolgs im jeweiligen Kommunikationsraum verstanden werden. KELLERS Gedanke, Sprachwandel mit Hilfe der unsichtbaren Hand zu erklären und mit evolutionärem Wandel zu vergleichen, ist auch von anderen Autoren aufgegriffen worden. CROFT (2000, 59) versteht die Theorie der unsichtbaren Hand als „type of utterance selection theory“, die allerdings nur ein Teil einer evolutionären Sprachwandeltheorie sein kann. Die Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand sind beispielhaft für „evolutionary drift“ (CROFT 2000, 60), können aber nicht mit einer allgemeinen Theorie von Selektion in Übereinstimmung gebracht werden, wie sie beispielsweise von HULL (2001; 1988) vorgeschlagen wurde. „A model of differential replication based on drift cannot be an empirically complete theory of propagation of language change.“ (CROFT 2000, 60) CROFT (2000, 62) beschränkt den Geltungsbereich der Theorie der unsichtbaren Hand auf evolutionären Drift in pejorativen Kontexten: „It does imply that drift via an invisible hand process is a relatively minor propagation mechanism“. Auch wenn eine Erklärung von Sprachwandel mittels der Theorie der unsichtbaren Hand nicht alle Sprachwandelprozesse erklären kann, dürfen KELLERS grundlegende Gedanken nicht unterschätzt werden. Sprachhandeln ist maximengeleitetes Handeln. Aus dem Befolgen dieser Maximen können sowohl Dynamik und Stase erklärt werden, was nicht heißt, dass Sprachwandel prognostizierbar ist. Auch die Untergliederung in Mikro- und Makroebene erscheint äußerst sinnvoll, wenn auch zu überlegen ist, ob nicht eine weitere Ebene notwendig ist. Weiterhin muss die Rolle des Idiolekts differenziert ausgearbeitet und mit kognitionslinguistischen Aspekten angereichert werden. Die in diesem Abschnitt diskutierten Ideen von KELLER und GRICE betonen zwar, dass Menschen handeln, wenn sie Sprache benutzen, beide würden allerdings den Systemstatus der Sprache nicht prinzipiell in Frage stellen. In Anlehnung an LUHMANNS sind aus konstruktivistischer Perspektive in den letzten Jahren allerdings Sprachwandelentwürfe entstanden, die zwar einen evolutionstheoretischen Erklärungsansatz verfolgen, Sprachwandel aber nicht als System- sondern
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als Strukturwandel konzipieren, in dem handlungstheoretische und funktionalistische Aspekte keine Rolle spielen. 2.3 SPRACHWANDEL ALS STRUKTURWANDEL Einen systemtheoretischen Ansatz in der Linguistik zu vertreten, setzt interessanterweise nicht voraus, Sprache als System zu verstehen. Die Vertreter dieses Ansatzes berufen sich vorzugsweise auf die Systemtheorie und Gedankenwelt LUH134 In dieser Tradition stehend, fordert etwa ZEIGE (2011, 195–196), die MANNS. Sprachwissenschaft dezidiert als Strukturwissenschaft zu begreifen, um sich vom Sprachsystemverständnis der strukturalistischen und generativen Linguistik deutlich abzugrenzen. Eine solche Sichtweise wirft natürlich auch einige Implikationen für die Sprachwandeltheorie auf, die im Folgenden diskutiert werden. Dass einige Systemtheoretiker Sprache nicht als System betrachten, mag auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich erscheinen, kann aber wissenschaftshistorisch hergeleitet werden. Das Kapitel gibt daher zunächst einen kurzen Überblick über die Evolution systemischen Denkens im 20. Jahrhundert. Um Sprachwandelkonzepte auf der Grundlage LUHMANNS Systemtheorie verstehen zu können, die teilweise sogar „als Supertheorie“ (GLAUNINGER 2015, 17) Anerkennung erfährt, wird diese in der gebotenen Kürze dargestellt.135 Ein Fokus liegt dabei auf LUHMANNS schwieriger Auffassung von Sprache. LUHMANNS Systemtheorie und die darauf beruhenden Sprachwandelkonzeptionen von ZEIGE (2011) und GANSEL (2011) werden in dieser Arbeit auch deshalb so prominent besprochen, weil sie Strukturwandel und damit letztlich auch Sprachwandel als evolutionären Wandel modellieren. 2.3.1 Kurzer Abriss systemischen Denkens Für Wissenschaftler, die an der Beschreibung und Erklärung komplexer Zusammenhänge interessiert sind, hat die Systemtheorie schon immer große Anziehungskraft gehabt. Als interdisziplinär anschlussfähige Theorie bietet sie einen soliden und kaum zu umgehenden theoretischen Überbau für Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dynamischen Phänomenen auseinandersetzen. Die Systemtheorie war von Anfang an ein interdisziplinärer Entwurf. Entscheidend ist folgende 134 KRAUSE (2005, 227) definiert im Luhmann-Lexikon: „Sprache ist kein System“. REESESCHÄFER (2011, 127) scheint bei seiner Auslegung LUHMANNS teilweise zu einem anderen Ergebnis zu kommen: „Sie [Sprache, Geld, Recht usw.; LB] sind nicht ausschließlich als Medien zu betrachten, weil sie, wie die Sprache das Recht oder die Religionen, jeweils auch als Systeme betrachtet werden können, da sie eine innere Struktur und Bezüglichkeit aufweisen“. 135 LUHMANNS Systemtheorie ist dabei ein Stück weit als Wissenschaftsgeschichte zu betrachten. Seine Texte, Ideen und Konzeptionen sind seit seinem Ableben verschiedentlich interpretiert und weiterentwickelt worden. LUHMANNS hermetischer Schreibstil und sein Umgang mit Paradoxien haben sicher zu dieser Interpretationsoffenheit beigetragen.
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Idee: „[Z]wischen an sich verschiedenen Systemen bestehen Gleichförmigkeiten oder Isomorphien in gewissen allgemeinen Prinzipien“ (BERTALANFFY 1972, 21). Dass Erfahrungen aus vielen verschiedenen Forschungsdisziplinen nutzbar gemacht werden konnten, war dabei zunächst ein großer Vorteil. Mittlerweile sind systemtheoretische Ansätze allerdings stark ausdifferenziert. Von einer einheitlichen Systemtheorie kann längst nicht mehr gesprochen werden. Nicht jede systemtheoretische Auffassung lässt sich auf jedes Fach übertragen. „Einem Naturwissenschaftler wird beispielsweise die LUHMANNSCHE Verkürzung, Systeme mit autopoietischen Systemen gleichzusetzen, höchst befremdlich vorkommen, und selbst für viele Biologen ist Maturanas Autopoiese ebenso unbekannt wie unverständlich.“ (RATHJE 2008, 13) In seinen Anfängen ist systemtheoretisches Denken allerdings über die Disziplinengrenzen hinaus anschlussfähig und essentialistisch136. Das Sprachsystemverständnis des „Cours“ ist beispielsweise noch stark durch prä-quantenmechanische Vorstellungen der Physik und Chemie geprägt (GLAUNINGER 2014, 22). Systeme sind in diesem Paradigma Menge-Element-Beziehungen. System bedeutet in diesem Zusammenhang, dass etwas komplex Zusammengefügtes im Vergleich zum Elementaren interagiert.137 Elemente stehen demnach in vielfältigen Beziehungen zueinander. Die Struktur eines Systems wird über diese Relationen definiert und ist im Grunde berechenbar. Dieser Systembegriff der strukturalistischen Sprachwissenschaft dominiert bis heute die linguistischen Lehrbücher (ZEIGE 2011, 130; GLAUNINGER 2015, 16). Und auch in der Sprachwandelforschung ist dieses statische Systemverständnis – trotz einiger Bemühungen neue Ansätze einzubringen (vgl. KELLER 2003; LÜDTKE 1980a; 1980b) – noch immer sehr präsent. In den 1930er Jahren etabliert sich ein Systembegriff, der der Gestaltpsychologie entlehnt ist. Dieser Systembegriff weist weitere Facetten auf. „Er rekurriert stets auf Ganzheiten im Sinne einer Einheit, die mehr sei als die bloße Summe ihrer Teile.“ (KNEER / NASSEHI 1993, 17) Der Gedanke, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sein kann, findet sich allerdings schon bei ARISTOTELES (Metaphysik, VII 10 1034b–1036a) und soll ausdrücken, dass wir in einem System nicht nur die Teile, sondern auch die Beziehungen und insbesondere die Wechselwirkungen zwischen diesen Teilen berücksichtigen müssen. In einer weiteren Evolutionsstufe systemischen Denkens rücken SystemUmwelt-Wechselwirkungen nun stärker in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Dieser Ansatz hat sich als Kritik an der in einfachen Kausalitäten verhangenen Newtonschen Physik des 19. Jahrhunderts entwickelt (KNEER / NASSEHI 136 Als essentialistisch werden mit GLAUNINGER (2014, 21) Positionen bezeichnet, „die Erkenntnis auf die Korrespondenz zwischen einem epistemologischen Subjekt und einem vermeintlich vorab existierenden, […] zu untersuchenden Objekt zurückführt“. 137 Zur geschichtlichen Entwicklung des Systembegriffes vgl. STEIN (1968). Der Begriff System (gr. σύστημα) wird bereits in der nachsokratischen Philosophie der Antike im Sinne von ‘das Zusammengestellte, das Zusammengeordnete, das Zusammengesetzte’ verwendet (ZEIGE 2011, 20; STEIN 1968, 2). STEIN (1968, 14) erarbeitet eine Semasiologie des Systembegriffes mit insgesamt immerhin vier verschiedenen Bedeutungsauslegungen.
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1993, 18). Vorreiter dieser Kritik an linearen Naturgesetzen war neben dem französischen Mathematiker und theoretischen Physiker POINCARÉ138 sicher auch die Biologie. Leben würde sich demnach nicht auf isoliert beschreibbare Vorgänge chemischer oder physikalischer Natur reduzieren lassen, da diese Prozesse nie isoliert voneinander abliefen. Das Leben ist komplexer als die Summe von isolierten Prozessen. Diese Kritik kommt ohne Zweifel einer wissenschaftlichen Revolution gleich: Die Biologie sieht sich außerstande, ihren ausgezeichneten Gegenstand – das Leben – durch die klassische Wissenschaftsauffassung abzubilden und muß zu neuen Formen der wissenschaftlichen Beobachtung greifen, wenn sie nicht Leben durch außerwissenschaftliche Kategorien – Lebenskraft, Schöpfung – bestimmen will. (KNEER / NASSEHI 1993, 25)
Die Biologie beginnt sich als eine der ersten Wissenschaften im Zusammenhang mit der aufgeworfenen Problematik für die Vernetzung von Einzelphänomenen und Prozessen zu interessieren. Einer der wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes ist der schon zitierte Biologie KARL LUDWIG VON BERTALANFFY139 (1901–1972), der stets die Interdisziplinarität der Systemforschung verfochten hat. In Wissenschaften, die sich, wie die Bevölkerungslehre, die Soziologie, aber auch weite Gebiete der Biologie, nicht im Rahmen der physikalisch-chemischen Gesetzlichkeit einordnen, treten dennoch exakte Gesetzmäßigkeiten auf, die durch passend gewählte Modellvorstellungen erreicht werden können. Es sind solche Homologien, die sich aus den allgemeinen Systemcharakteren ergeben, und aus diesem Grunde gelten formal gleichartige Beziehungen auf verschiedenen Erscheinungsbereichen und bedingen die Parallelentwicklung in verschiedenen Wissenschaften. (BERTALANFFY 1951, 127)
Es sind bezeichnenderweise insbesondere Biologen, Physiker und Mathematiker, die erfolgreich auch nach der quantenmechanischen Revolution innerhalb der Physik weiter an der Ausarbeitung einer kybernetischen Systemtheorie mitwirken, die stark durch das aufkommende Computerzeitalter beeinflusst ist. Die kybernetische Systemtheorie wurde in den 1970er und 1980er Jahren auch in der Kommunikationstheorie (SCHWEIZER 1979; LÜDTKE 1970) und Sprachwandeltheorie wahrgenommen (LÜDTKE 1980a; 1980b). Insbesondere in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften hat sich etwa gleichzeitig zur Kybernetik eine konstruktivistische Auffassung von Systemtheorie etabliert140, die sehr stark durch die Arbeiten von MATURANA, VARELA, FOERSTER und LUHMANN geprägt ist. MATURANA, VARELA und FOERSTER verfügen über die Autorität von Naturwissenschaftlern, was für die Rezeptionsgeschichte nicht unerheblich gewesen sein dürfte. So ist vermutlich die Aufmerksamkeit zu 138 POINCARÉ gilt als einer der Vordenker der Chaostheorie und damit auch der Dynamischen Systemtheorie (vgl. Kap. 2.4.1). 139 BERTALANFFY gilt als einer der Begründer der Theoretischen Biologie (RIEDL 2003, 135). 140 Zum großen Einfluss des Konstruktivismus auf die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften vgl. BOGHOSSIAN (2013, 9–14). Der Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie der Postmoderne, die behauptet, „dass es überhaupt keine Fakten, keine Tatsachen an sich gibt, dass wir vielmehr alle Tatsachen nur durch unsere vielfältigen Diskurse oder wissenschaftlichen Methoden konstruieren“ (GABRIEL 2013, 11).
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verstehen, die den Thesen in den verschiedensten Disziplinen zuteil geworden ist. Zu nennen wären hier beispielsweise die Soziologie, Jurisprudenz, Kommunikationswissenschaft, Philosophie141, Ökonomie, Neurobiologie142 und Physik. In die Linguistik hat der Konstruktivismus mit einiger Verzögerung durch die Diskursund Genderlinguistik sowie durch die sogenannte dritte Welle in der Soziolinguistik143 Einzug gehalten (ECKERT 2012; 2005; 2000). In der Sprachwandelund Varietätenforschung haben sich konstruktivistische Ideen bisher aber kaum etabliert, auch wenn ein Trend zur Perzeptionsforschung attestiert werden muss. Der Konstruktivismus versteht sich selbst als Paradigmenwechsel innerhalb der Systemtheorie (LUHMANN 1987, 15), als die sozialwissenschaftliche Entsprechung des linguistic turn144 (LUHMANN 1997, 219), als modernste Systemtheorie (GLAUNINGER 2014, 26), als höchste Evolutionsstufe systemtheoretischen Denkens (GLAUNINGER 2015, 48) sowie als antirealistische Denk- und Kulturwende (MITTERER 1992, 118). Systeme sind nicht länger offen, sondern autopoietisch, d. h.: operativ-geschlossen und selbstreferenziell.145 Das Konzept der Autopoiesis146 ersetzt das der Selbstorganisation. „[N]atürliche Sprache (bzw. ihre Heterogenität) wird – mangels Anwendbarkeit notwendiger Systematizitätskriterien (im modernen systemtheoretischen Sinn) – nicht als System behandelt“ (GLAUNINGER 2014, 26), sondern als Aktualisierungsstruktur bzw. Medium. 141 BOGHOSSIAN (2013, 14–15) wendet ein, dass die Philosophie – abgesehen von wenigen Autoren wie GOODMAN oder RORTY – eine der wenigen Geistes- und Sozialwissenschaften ist, „in der sie [die konstruktivistische Ideen; LB] kaum Fuß fassen konnten“. Die Philosophen haben die konstruktivistischen Kollegen „der übrigen Geistes- und Sozialwissenschaften ungeduldig abgewiesen, da diese mehr von Rücksicht auf politische Korrektheit als von echter philosophischer Einsicht motiviert seien“ (BOGHOSSIAN 2013, 16). 142 Vgl. dazu Arbeiten von ROTH (2006; 2001, 453; ROTH / SCHWEGLER 1990, 48–49). Zur Kritik am Neuro-Konstruktivismus vgl. GABRIEL (2013, 60) und MITTERER (1992, 146). 143 GLAUNINGER (2014, 26) bezeichnet diesen Ansatz als „moderne (semi-)konstruktivistische […] interaktionale Soziolinguistk“, weil er sich teilweise auf den strukturalistischen Systembegriff stützt. 144 Vgl. dazu auch KRÄMER (2001, 154): „Der Begriff ‚linguistic turn‘ bezeichnet eine Wende in der Philosophiegeschichte, die die zentralen Probleme der Philosophie in die Sprachphilosophie verlegt“. Besonders die sprachanalytische und sprachskeptische Philosophie erfuhren mehr Beachtung. Die Bezeichnung linguistic turn ist zugleich der Titel eines programmatischen Sammelbandes, der 1967 von RORTY herausgegeben wurde. 145 Die Setzung von Autopoiesis und Geschlossenheit sind Postulate, denen mal folgen kann aber nicht zwingend folgen muss. 146 Das Prinzip der Autopoiesis wurde von den Neurobiologen MATURANA und VARELA entwickelt (konstruiert) und in den 1970er Jahren zu einer eigenen Erkenntnistheorie ausgebaut. Die Bestandteile des Begriffes sind von griechisch αύτόσ (‘selbst’) und ποιἑω (‘schaffen, hervorbringen, bauen’) abgeleitet. MATURANA hat sich für den Begriff der poiésis in Anlehnung an die aristotelische Unterscheidung zwischen práxis und poiésis entschieden. „In der ‚poiésis‘ tut man etwas, man handelt, aber nicht, weil das Handeln Freude macht oder tugendhaft ist, sondern weil man etwas produzieren will.“ (LUHMANN 2011, 107) Der Begriff Autopoiesis bringt also zum Ausdruck, dass sich etwas selbst hervorbringt und damit selbstreproduktiv ist.
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Obwohl es allen systemtheoretischen Überlegungen darum geht, universelle und möglichst allgemeine Strukturen und Wandeleigenschaften von Systemen aufzudecken, wurde der Begriff Allgemeine Systemtheorie von LUHMANN (2011) für den Konstruktivismus vereinnahmt.147 BERTALANFFY (1972, 21) hatte den Anspruch einer allgemeinen Systemtheorie (General System Theory) ursprünglich so formuliert: Natürlich müssen Systeme – physikalische, chemische, biologische, soziologische und so fort – in ihren Eigenheiten untersucht werden. Andererseits aber stellt sich heraus, daß für die Systeme gewisse sehr allgemeine Prinzipien gelten – unabhängig davon, was das System als Ganzes, die Natur seiner Komponenten und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen oder Kräfte sein mag.
Heute scheint das Ideal einer wirklich universellen Systemtheorie auch durch die verschiedenen erkenntnistheoretischen Prämissen in weite Ferne gerückt zu sein. Selbst LUHMANN (2011, 40) gesteht letztlich ein: Eigentlich gibt es eine solche allgemeine Systemtheorie nicht. Zwar wird in der soziologischen Literatur immer auf die Systemtheorie Bezug genommen, so als ob es sich um etwas handele, das im Singular vorhanden wäre, aber wenn man genauer zusieht und wenn man über die soziologische Literatur hinausgreift, wird es schwierig, einen entsprechenden Gegenstand, eine entsprechende Theorie zu finden. Es gibt mehrere allgemeine Systemtheorien.
Eine konstruktivistisch-systemtheoretische Modellierung von Sprachwandel ist ein – im Vergleich zu den bisher dargestellten Theorieangeboten – noch relativ junger Ansatz, der insbesondere an der Überbetonung von einerseits kognitivbiologischen und andererseits funktionalistischen Auffassungen Kritik übt. Bevor verschiedene Modellentwürfe – denn auch unter diesem Paradigma darf man keine einheitliche Konzeption von Sprachwandel und Variation erwarten – ausführlich dargestellt und diskutiert werden, ist eine kurze Einführung in LUHMANNS Systemtheorie unabdingbar. 2.3.2 Grundlagen LUHMANNS Systemtheorie und Sprachauffassung Für LUHMANN ist die Sprache kein System, sondern ein Medium bzw. eine Struktur mit deren Hilfe soziale Systeme prozessieren bzw. operieren. KRÄMER (2001, 161) hebt die Bedeutung der Sprache für LUHMANNS Systemtheorie hervor: „ohne Sprache keine Autopoiesis der Kommunikation; ohne sie also keine Gesellschaft“. Um Sprach- bzw. Strukturwandel in diesem Zusammenhang besser verstehen zu können, sind die Konzepte von Strukturdeterminiertheit und Ereignischarakter von besonderer Bedeutung. Diese Konzepte mögen sich auf den ersten Blick widersprechen, sind aber vielmehr Ausdruck eines komplexen Zusammenspiels. Trotz des Ereignischarakters, der sich aus dem Différance-Verständnis von Derri 147 LUHMANN (2011) verkürzt den Begriff der A l l g e m e i n e n S y s t e m t h e o r i e . Unter der Überschrift „Allgemeine Systemtheorie“ ist das Konzept der Autopoiesis alternativlos angeführt (LUHMANN 2011, 97–113).
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da ableitet, müssen die Anschlussfähigkeit der Systemoperationen und deren Strukturen gewahrt bleiben. Systemkonstituierende Strukturen wie Sprache sind daher immer auch von vorangegangenen Strukturen abhängig. Damit sind Anschlussoperationen zwar kontingent aber nicht völlig beliebig. „Das System muss also die Relationierung der Elemente konditionieren, d. h. es muss Systemstrukturen einrichten, welche die jeweiligen Anschlussmöglichkeiten der Ereignisse regelt.“ (SCHEIBMAYR 2004, 8) Das Verhältnis zwischen einem System und seinen Strukturelementen wird zudem interdependent gedacht. Systemelemente und -strukturen sind nicht präexistent oder ontologisch vorgegeben. „Elemente sind Elemente nur im System“ (LUHMANN 1987, 183). Die Elemente von sozialen Systemen sind Kommunikationen (LUHMANN 1987, 192).148 Die Relationierung der Systemelemente erfolgt durch systeminterne Strukturierungsprozesse, die einerseits historisch und andererseits kontingent und damit selektiv wirken und dadurch systemimmanente Komplexität aufbauen. „Kommunikation ist Prozessieren von Selektion.“ (LUHMANN 1987, 194) Kommunikation ist weiterhin die Einheit eines dreiteiligen Selektionsprozesses von Information, Mitteilung und Verstehen (LUHMANN 1987, 194).149 Die Selektionen, also die Auswahlen aus den Möglichkeiten, müssen sich bewähren. Sie sind einem evolutionären Prozess unterworfen, der nach dem Schema Irritation, Variation, Selektion und (Re)Stabilisierung verläuft (SCHEIBMAYR 2004, 11). Die evolutionär erfolgreichen Strukturen bilden Anschlussmöglichkeiten für weitere Systemprozesse. Die sich wiederholenden Strukturen in unterschiedlichen Kontexten sind dann für Identitätserfahrungen und relative Stabilität verantwortlich. LUHMANN erklärt dieses Phänomen aus dem Zusammenspiel von Kondensierung und Konfirmierung (KRAUSE 2005, 179–180). Bei der Kondensierung wird durch Reduktion und Abstraktion der sinnhafte Kern einer Struktur herausgefiltert, „auf den bei den Wiederholungen trotz jeweiliger Kontextwechsel rekursiv zurückgegriffen werden kann“ (SCHEIBMAYR 2004, 11). Konfirmierung ist bedeutsam, um die Kompatibilität der kondensierten Sinneinheiten sicher zu stellen (KRAUSE 2005, 180). Die Herausbildung von Identität im Systeminneren sorgt dafür, dass Strukturen nicht mehr an konkrete Situationen zu konkreten Zeitpunkten gebunden sind. Durch Generalisierungen werden Redundanzen erzeugt, was Komplexitätsreduktionen zur Folge hat. Diese sind notwendig, damit wir auf der Grundlage von erwartbaren Strukturen operieren können. Die durch generalisierte Sinneinheiten hervorgebrachte Redundanz muss im Systemgedächtnis festgehalten werden, damit das System rekursiv die Konsistenz kondensierender und kon-
148 Systeme basieren auch auf der Gleichförmigkeit der Elemente. Daher gibt es „chemische Systeme, lebende Systeme, bewußte Systeme, sinnhaft-kommunikative (soziale) Systeme; aber es gibt keine all dies zusammenfassenden Systemeinheiten“ (LUHMANN 1987, 67). Die psychischen Systeme operieren mit Bewusstsein; die sozialen Systeme operieren mit Kommunikationen (KRÄMER 2001, 154). 149 „Bei Austin nimmt die gleiche Dreiteilung die Form einer Typologie unterscheidbarer Äußerungen (utterances) oder Sprachhandlungen (acts) an, nämlich lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Akte.“ (LUHMANN 1987, 197)
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So entstehen historische und relativ stabile Sinneinheiten, die allerdings Anschlussmöglichkeiten offerieren und somit permanent die Systemstrukturen aktualisieren. Das Verhältnis von System und Umwelt ist, wie bereits erklärt, durch operationale Geschlossenheit und Selbstreferenz der jeweiligen Systeme gekennzeichnet. Die Strukturen der Umwelt können nicht in die Systemstrukturen hineinwirken. „Das System ist lediglich an seine Umwelt strukturell gekoppelt, d. h. das System versucht seine Strukturen so einzurichten, dass es durch die Irritationen aus der Umwelt in seiner Autopoiesis möglichst wenig beeinträchtigt wird.“ (SCHEIBMAYR 2004, 12) LUHMANN (1993b, 441) definiert strukturelle Kopplung folgendermaßen: „Von strukturellen Kopplungen soll dagegen die Rede sein, wenn ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verläßt […]“. Diese Aussage legt nahe, dass Systeme zumindest implizit auf Umweltinformationen zugreifen können, also informationell offen sind. Diese Art von Umweltrelevanz für den Aufbau sozialer Systeme ist eine Art Einschränkung des Möglichen, verhindert aber nicht, daß soziale Systeme sich autonom und auf der Basis eigener elementarer Operationen bilden. Bei diesen Operationen handelt es sich um Kommunikationen – und nicht um psychische Prozesse per se, also nicht um Bewußtseinsprozesse. (LUHMANN 1987, 346)
ZEIGE (2011, 69) nennt diese Anpassung „Übersetzungsleistung“ und bezieht sich zur Erklärung seiner Sprachwandelkonzeption auf den Begriff der Interpenetration, den LUHMANN (2011, 254) von Parson ableitet.150 Dieser Begriff spielt schon früh in LUHMANNS (1977) Denken eine Rolle, ist aber nur ungenügend mit dem System-Umwelt-Verhältnis autopoietischer Systeme in Einklang zu bringen (SCHEIBMAYR 2004, 48). Interpenetration beschreibt die strukturelle Kopplung zwischen Systemen als eine Art informationelle Offenheit, ohne dass ein Durchgreifen auf systeminterne Operationen stattfindet. Soziale Systeme sind demnach „auf Sensoren angewiesen, die […] Umwelt vermitteln. Diese Sensoren sind die Menschen im Vollsinne ihrer Interpenetration: als psychische und als körperliche Systeme“ (LUHMANN 1987, 558). LUHMANN hebt zumindest in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Interpenetration für die Gesamtkonzeption hervor. „Gerade autopoietische, geschlossen-selbstreferentielle Systeme sind insofern auf Interpenetration angewiesen. Oder anders formuliert: Interpenetration ist die Bedingung der Möglichkeit von geschlossen-selbstreferentieller Autopoiesis“ (LUHMANN 1987, 558). Interpenetration bezeichnet so „ein Verhältnis zwischen Systemen, die (im Unterschied zum Fall der Systemdifferenzierung) füreinander Umwelt bleiben, bei de 150 LUHMANN selbst ist mit dem Begriff der Interpenetration, der auch eine zentrale Rolle in ZEIGES (2011) Sprachwandelkonzeption einnimmt, unzufrieden: „Mein Vorschlag ist terminologisch nicht sehr glücklich, und ich bin auch nicht ganz zufrieden, diesen Begriff nun mit einer anderen Sinnladung wieder verwendet zu haben, […]“ (LUHMANN 2011, 255).
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nen aber die Eigenkomplexität und Variabilität des interpenetrierenden Systems für den Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung gestellt wird“ (LUHMANN 1981, 276). Wie diese Informationen einem System zur Verfügung gestellt werden, ist m. E. unter der Annahme von Autopoiesis bzw. Selbstreferentialitiät allerdings nicht völlig verständlich. So bleibt beispielsweise unklar, wie ein Kind unter den Prämissen von Interpenetration sprachliche Strukturen lernen kann, wie sich also Strukturen der sozialen Systeme als Sprachwissensbestände in seinem geschlossenen psychischen System manifestieren. Auch die Verknüpfung zwischen dem individuellen Sprachwissen einer Person und deren konkreten Sprachstrukturrealisierungen bleibt deutlich unterspezifiziert.151 Dass LUHMANNS Systemauffassung in der Sprachwissenschaft bisher kaum rezipiert wurde, hängt vielleicht damit zusammen, dass sein Entwurf keine Sprachtheorie im engeren Sinne darstellt und die Ausarbeitung einer dezidierten Sprachtheorie ein „augenfälliges Desiderat seiner Kommunikationstheorie“ (KRÄMER 2001, 167) bildet. KÜNZLER (1987, 331) unterstellt dem Kommunikations- und Systementwurf von LUHMANN sogar, dass die Sprache darin als „Fremdkörper“ erscheint. Sprache geistert als Fremdkörper durch die Supertheorie Systemtheorie und ihre Teiltheorien, taucht an überraschenden Stellen auf, um ebenso überraschend wieder zu verschwinden, und wird ganz offensichtlich als störendes Element empfunden, das aber auch nicht eliminiert werden kann.
Scheint die Kritik an LUHMANNS geringer Wertschätzung der Sprache auch überzogen, so ist doch festzuhalten, dass LUHMANN kaum auf den Sprachgebrauch eingeht und seine Ausführungen zur Sprache viele Fragen unbeantwortet lassen. Wie vor allem SCHEIBMAYR (2004, 143–145) herausarbeitet, sind LUHMANNS zeichentheoretische Erklärungen zum Teil selbstwidersprüchlich und nicht mit einer konstruktivistischen Axiomatik vereinbar. Seine Anlehnung an das Zeichenverständnis des „Cours“ birgt große Probleme. Operationen basieren auf Selektionen. Diese sind historisch, irreversibel und kontingent. Jede Operation hätte, gemessen an der Potentialität der Anschlussmöglichkeiten, auch anders ausfallen können, wenn auch nicht völlig beliebig. Die Zuordnung der beiden Formseiten kann dann nicht natürlich oder objektivsachlich begründet werden (SCHEIBMAYR 2004, 127). Wenn die Operationen aber historisch, irreversibel und kontingent sind und erst durch die Differenz entstehen, die ein Beobachter zu einem konkreten Zeitpunkt herstellt, kann LUHMANN Sprache nicht als System im Sinne der langue verstehen. Sprache ist für ihn daher Struktur bzw. Medium, mit deren Hilfe Systeme operationell prozessiert werden. Die Operationen sozialer und psychischer Systeme können sprachlicher Natur sein. 151 Wenn man allerdings wie GANSEL (2011) oder GLAUNINGER (2015) eine deutlich pragmatische bzw. offene Lesart LUHMANNS Systemtheorie vertritt, kann die Verbindung gelingen (vgl. Kap. 2.3.4).
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Konzepte der Sprachwandelforschung Wir weisen nur darauf hin, daß wir hiermit Grundvoraussetzungen der Saussureschen Linguistik widersprechen: Sprache hat keine eigene Operationsweise, sie muß entweder als Denken oder als Kommunizieren vollzogen werden; und folglich bildet Sprache auch kein eigenes System. Sie ist und bleibt darauf angewiesen, daß Bewusstseinssysteme auf der einen und das Kommunikationssystem der Gesellschaft auf der anderen Seite ihre eigene Autopoiesis mit völlig geschlossenen eigenen Operationen fortsetzen. (LUHMANN 1997, 112)
Die beiden Systemverständnisse sind, wie SCHEIBMAYR (2004, 143) richtig bemerkt, „inkommensurablen Paradigmen“ entlehnt.152 Dadurch „läuft Luhmanns Argumentation, mit der er Saussure zu widersprechen glaubt, eigentlich ins Leere“. Der unklare und unpräzise Bezug und die Vergleiche mit dem Zeichenverständnis im „Cours“ lassen LUHMANNS Sprachkonzeption als schwammig und nur schwer verständlich erscheinen. So schreibt LUHMANN (1997, 195 Anm. 9) an anderer Stelle, dass seine Medien-Form-Unterscheidung „Saussures Unterscheidung von ‚langue‘ und ‚parole‘“ ersetzen oder ergänzen würde. „Man kann diese Unterscheidung verallgemeinern zur Unterscheidung von Struktur und Ereignis“. Die Form als sprachliches Zeichen kann jedenfalls nur ereignishaft aktualisiert werden und der Verweis auf den kontingenten Charakter macht deutlich, dass die Aktualisierung, wenn auch nicht beliebig, doch auch immer anders hätte ausfallen können. Das Spannungsverhältnis aus Aktualität und Potentialität, also das Spannungsverhältnis zwischen Form und Medium ist konstitutiv für den SinnBegriff bei LUHMANN. Dieser Sinnbegriff ist nichts anderes als die MediumForm-Unterscheidung selbst, thematisiert jedoch in einer ganz bestimmten Hinsicht. „Man kann die Form von Sinn bezeichnen als Differenz von Aktualität und Möglichkeit und kann damit zugleich behaupten, daß diese und keine andere Unterscheidung Sinn konstituiert.“ (LUHMANN 1997, 50) Die nicht ausgeschöpften Potentialitäten sind im Gegenwärtigen aber immer mitgedacht und konstitutiv. Das Gegenwärtige ist präsent nur, indem es das Nichtgegenwärtige apräsentiert [sic!]. Das Wirkliche ist real nur im Horizont der ausgeschlossenen Möglichkeiten, auf die es zugleich als Potentialitäten verweist. […] Sinn entsteht also durch die Anwesenheit dessen, was im jeweils Aktuellen abwesend und ausgeschlossen ist […]. (KRÄMER 2001, 170)
Sinn ist zugleich ein Medium, das nur ereignishaft aktualisiert werden kann und zugleich eine Vielzahl von anderen Aktualisierungsmöglichkeiten appräsen-
152 SCHEIBMAYR (2004, 142–143) ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass die Systemvorstellungen von LUHMANN und des „Cours“ „keinerlei Überschneidungen“ aufweisen und daher nur schwer zu verstehen ist, warum der Vergleich von LUHMANN angestellt wird. Auch ZEIGES (2011) Kritik an der strukturalistischen Sprachauffassung basiert auf dem veralteten Systembegriff des „Cours“. Das Systemverständnis des „Cours“ kennt keine Operationen. „Das Zeichensystem der langue beinhaltet also selbst keine Operationen, diese gibt es ausschließlich im Bereich der konkreten, prozesshaften und sich diachron verändernden Sprachverwendung, also in der parole. […] Saussures Zeichensystem ist ein statischer, formaler Zusammenhang von Differenzen, der von einem Beobachter zweiter Ordnung beobachtet, aber als solcher nicht von einem Beobachter erster Ordnung operativ verwendet werden kann.“ (SCHEIBMAYR 2004, 142–143)
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tiert.153 Als Form wird Sinn nur für den einen konkreten Moment erzeugt. In diesem einen Moment wird durch die Form der Unterschied markiert und ist dann eine „insofern determinierte Festlegung“ (LUHMANN 1997, 199). Diese Aktualisierung als konkrete Form beschreibt LUHMANN auch als strikte Kopplung. Die anderen Struktur- bzw. Formmöglichkeiten sind im Medium durch lose Kopplung vorhanden. „Die lose gekoppelten Worte werden zu Sätzen verbunden und gewinnen dadurch eine in der Kommunikation temporäre, das Wortmaterial nicht verbrauchende, sondern reproduzierende Form.“ (LUHMANN 1997, 197) Damit wird wiederum deutlich, dass LUHMANN seine Medium-Form-Unterscheidung nicht mit der Unterscheidung zwischen langue und parole vergleichen darf. Die langue ist im Gegensatz zum Medium ein statisches System von Differenzen, „in dem jedes Zeichen durch die Konjugation seiner Negation von allen anderen Systemzeichen exakt definiert und positioniert ist. Die langue ist also keine lose oder auch gar nicht gekoppelte Menge von Elementen und demnach auch kein Medium“ (SCHEIBMAYR 2004, 143). SCHEIBMAYR (2004, 144) kritisiert weiter: Luhmanns Versuch, Saussures Zeichenmodell aus dessen statischer Systemstruktur zu lösen und unverändert in ein prozessual operatives System einzubinden, scheitert also genau, wie Jaques Derridas angebliche Radikalisierung des Saussure’schen Zeichenbegriffs.
Die Kopplung spielt in LUHMANNS Konzeption aber eine gewichtige Rolle. Laute oder Wörter stehen als lose gekoppelte Elemente auf der Medium-Sinn-Ebene zur Verfügung, um daraus auf der nächst höheren Ebene beispielsweise des Wortes oder der Phrase fest gekoppelte Formen zu erzeugen. Dabei besteht, wie immer bei Formen in unserem Verständnis, ein kondensierter Verweisungszusammenhang der beiden Seiten, so daß der Laut nicht der Sinn ist, aber gleichwohl mit diesem Nichtsein bestimmt, über welchen Sinn jeweils gesprochen wird; so wie umgekehrt der Sinn nicht der Laut ist, aber bestimmt, welcher Laut jeweils zu wählen ist, wenn über genau diesen Sinn gesprochen werden soll. (LUHMANN 1997, 213)
Dass sich eine bestimmte Kopplung fest etabliert, erscheint unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz sehr unwahrscheinlich zu sein. Unter der Annahme der Unwahrscheinlichkeiten, die dem Zeichenverständnis zugrunde liegen,154 muss gefragt werden, warum Sprache dann so stabil verwendet werden kann. Was stabilisiert die Zeichenformen? Was macht den Anschluss von Kommunikationen an andere Kommunikationen wahrscheinlich? Hier argumentiert LUHMANN wieder 153 SCHEIBMAYR (2004, 154) kritisiert zudem: „Das Verhältnis zwischen Zeichen und Sinn entwickelt LUHMANN unplausibel und hochgradig widersprüchlich“. 154 LUHMANN (1997, 190) betont ebenfalls permanent die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. Kommunikation ist für ihn die Synthese aus den drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen. Jede Selektion für sich ist schon kontingent und unwahrscheinlich. Die Synthese erscheint LUHMANN (1997, 190) dann zwingend noch unwahrscheinlicher. Die Information wird dabei als Differenz verstanden, die eine andere Differenz erzeugt, diese Differenz ist die Mitteilung. Wenn der Sprecher sagt, es ist warm, und der Hörer nimmt diese Äußerung akustisch wahr, erhält er zunächst lediglich eine Information. Entscheidend ist dann, dass der Hörer die Differenz zwischen der reinen Information und der Mitteilung versteht. Die Mitteilung könnte eine Aufforderung zum See zu fahren sein oder ein Fenster zu öffnen.
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mit Kondensierung und Konfirmierung. Kondensierte Komplexität schafft unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeiten (LUHMANN 1997, 221). Wenn Zeichen wiederholt als Form umgesetzt werden, dann kann ihre Form nicht nur kondensieren, sondern auch konfirmieren. Die Form wird „zu einer mit unterschiedlichen, aber nicht beliebigen Kontexten kompatiblen Einheit verdichtet“ (SCHEIBMAYR 2004, 146). Dadurch wird Redundanz erzeugt. Sprache entsteht durch die Wiederverwendung von Lauten bzw. Lautgruppen. Oder genauer gesagt: sie erzeugt im Duktus der Wiederverwendung einerseits die Identität von Wörtern, sie kondensiert spracheigene Identitäten: und andererseits konfirmiert sie im Zuge diese Kondensate in immer neuen Situationen, sie generalisiert. (LUHMANN 1997, 218)
Die kondensierende und konfirmierende Zeichenwiederholung schafft Erwartungen, durch die Anschlussmöglichkeiten eingeschränkt werden können (LUHMANN 1993a, 55–57).155 Trotz einiger schwerwiegender Probleme, die LUHMANN mit seinem Sprachverständnis hat, kann ihm nicht abgesprochen werden, zumindest um ein dynamisches Sprachverständnis bemüht gewesen zu sein, das Sprachstrukturwandel auch aus einer evolutionären Perspektive betrachtet. Seine Überlegungen zum Sprachwandel bleiben allerdings sehr unkonkret und auf einer sehr abstrakten Ebene. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Linguisten verschiedene Sprachwandelkonzeptionen vor der Folie seines Theorieangebots entworfen haben. Im Folgenden werden zwei dieser Ansätze vorgestellt und diskutiert. 2.3.3 ZEIGE – Sprachwandel als Strukturwandel ZEIGES (2011) Sprachwandelentwurf, der auf LUHMANNS Systemtheorie aufbaut, bleibt auf einer sehr abstrakten Theorieebene.156 Ausgangspunkt für ZEIGE ist wiederum eine kritische Betrachtung überholten systemischen Denkens in strukturalistischen, generativen und funktionalistischen Sprachwandelauffassungen. Für ZEIGE wird mit LUHMANN klar, dass Sprache kein System, sondern Struktur ist. Sprache wird in Systemen erzeugt, um zu deren Fortbestand beizutragen. „Dass Sprache kein System sein darf, ist aber nicht gleichbedeutend mit Strukturlosigkeit. Im Gegenteil muss Sprache gerade als Struktur der sie verwendenden Systeme verstanden werden.“ (ZEIGE 2011, 132) Die Auffassung von Sprache als 155 „Die Notwendigkeit einer willkürlichen Zuordnung bezieht sich nur auf das Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Hier kommt ohne Willkür nicht die erforderliche Isolation zustande. Aber das Zeichen selbst muss unterscheidbare Einheit wiederholt verwendbar, also erinnerbar sein. Es kann nicht bei jedem Gebrauch neu erfunden werden. Gerade die Willkürlichkeit der Zuordnung schließt das aus. Im Verhältnis der Zeichen zueinander kommt dann Tradition ins Spiel oder, im Strukturalismus eines Saussure, Analogie.“ (LUHMANN 1993a, 56) 156 ZEIGE übernimmt viele theoretische Probleme LUHMANNS Theorieangebot, ohne diese zu reflektieren oder näher darauf einzugehen. SCHEIBMAYRS (2004) kritische Analysen werden beispielsweise ignoriert, obwohl der Titel in ZEIGES (2011, 284) Literaturverzeichnis erscheint.
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Struktur (ohne dabei strukturalistisch zu sein) ist für ZEIGE (2011, 195–196) so zentral, dass er fordert, die Sprachwissenschaft solle sich zukünftig besser als Strukturwissenschaft verstehen, um ihrem Forschungsbereich gerechter werden zu können. ZEIGE geht aber darüber hinaus und kritisiert auch funktionalistische Sprachbetrachtungen.157 Eine Erklärung der Form über die Funktion oder andersherum muss mit einer konstruktivistischen Grundhaltung ein „Außen/InnenProblem“ erzeugen, insbesondere wenn von operationaler Geschlossenheit ausgegangen wird. Die sprachliche Form würde so „auf einen Reaktionsmechanismus reduziert […], der die veränderten Bedingungen der Systemumwelt durch Strukturänderungen bloß abarbeitet“ (ZEIGE 2011, 131).158 Weiterhin kritisiert ZEIGE (2011, 131): Die Überbetonung funktionaler oder kognitiver Aspekte verwischt die System/UmweltGrenze und führt zu Unschärfe in der Abgrenzung von Systemen, was besonders in der Frage nach dem Träger von Sprache und Sprachwandel deutlich wird.
Die Frage nach dem Träger von Sprache und Sprachwandel ist m. E. aber, entgegen der Darstellung von ZEIGE, gerade nicht über eine Anlehnung an die Systemtheorie LUHMANNS zu lösen, der soziale Systeme subjektlos erklärt, und diese klar von psychischen Systemen trennt. Daher lässt auch ZEIGE in seinem Ansatz das Individuum, seine kognitive Sprachverarbeitung und seine Intentionen bei der Erklärung von Sprachwandel außen vor. ZEIGE vertritt im Grunde eine subjektlose Sprachwandeltheorie.159 „Für die Sprachwissenschaft heißt das vor allem, dass der materiell-psychische Sprecher mit seiner leiblichen und kognitiven Ausstattung nicht als Träger der relevanten Strukturen in Frage kommt.“ (ZEIGE 2011, 203) Sprachlicher Strukturwandel wird von ZEIGE in Anlehnung an LUHMANN lediglich über die problematischen Konzepte der Irritation, Interpenetration und strukturellen Kopplung erklärbar. Das Individuum, seine Kognition und seine Intentionen werden in ZEIGES Entwurf ausgeklammert.160 Die sprachliche Struktur selbst ist nach dieser ausdrücklichen Trennung ein Operationsvorgang, der sich nur im Bereich der sozialen Systeme abspielt. Aus dieser Anforderung leitet sich ab, dass die Theorie sozialer Systeme den theoretischen Bezugspunkt des Sprachwandelmodells darstellt, weil in einem geschlossenen selbstrepro-
157 GLAUNINGER (2015; 2014) zeigt hingegen, dass eine funktionalistisch dimensionierte Sprachvariationstheorie mit dem konstruktivistischen Theorieangebot vereinbar sein kann. 158 Warum laut (ZEIGE 2011, 131) allerdings gerade Exaptationsprozesse im Sprachwandel, wie sie von SIMON (2010) und LASS (1997) beschrieben werden, gegen funktionalistische Erklärungen sprechen, bleibt unklar. Es geht doch im Wesentlichen darum, dass eine bestehende Form in Abhängigkeit von den kommunikativen Bedürfnissen eine neue Funktion bekommt (SIMON 2010, 52). Dass die Form der Funktion hier vorausgeht oder dass eine weitere Funktion mit der Form verbunden ist, kann kein Argument gegen eine funktionalistische Erklärung sein. Zur Diskussion des Exaptationsbegriffes vgl. Kapitel 3.1.2.2. 159 „Die Rolle von anatomischen, physiologischen und psychologischen Rahmenbedingungen als Auslöser von Sprachwandel ist deshalb nicht beschreibungsrelevant.“ (ZEIGE 2011, 205) 160 Systeminterne Erklärungsansätze, wie sie die Natürlichkeitstheorie oder Ökonomietheorie anbieten, müssen dann in den Augen von ZEIGE (2011, 190) konsequenter Weise auch scheitern.
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Konzepte der Sprachwandelforschung duktiven System nur der eigene Systemprozess als Erklärung für Aussehen und Funktion der betreffenden Struktur – hier also Sprache – relevant sein kann. (ZEIGE 2011, 64)
Damit gibt ZEIGE allerdings auch die Idee der Einheit von Sprechen und Denken auf, die gerade von Disziplinen wie der Psycholinguistik, Spracherwerbsforschung und der Kognitionswissenschaft bereits empirisch nachgewiesen wurde. Sprache bzw. sprachliche Form kann einen Einfluss auf unsere mentalen Konzepte haben (PAVLENKO 2014; BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS 2003). Unter dem Bezugspunkt der Systemtheorie LUHMANNS ist die Trennung der Systeme allerdings konsequent gedacht. Die Schlussfolgerung, dass Operationen der Psyche keinen Beitrag zur Strukturbildung sozialer Systeme leisten, mag unter den theoretischen Prämissen konsistent erscheinen. Konsistent ist dann auch die Aussage, dass der Spracherwerb nicht zum Sprachwandel beitragen kann, weil der Spracherwerb von ZEIGE (2011, 65) auf der Ebene der psychischen Systeme angesiedelt wird.161 Dass die strikte Trennung der Systeme letztlich aber nicht durchgehalten werden kann, belegt ZEIGES Verweis auf das Konzept der Interpenetration. „Für den Zusammenhang von Sprachstruktur und Sprachverarbeitung im Sprecher ist das Verhältnis der Interpenetration daher von besonderer Bedeutung.“ (ZEIGE 2011, 70) Da die Wirkungsweise von Interpenetration nur schwer verständlich ist, muss gefragt werden, warum der Einfluss des Spracherwerbs auf den Sprachwandel einerseits komplett negiert wird, um dann andererseits festzustellen, dass psychische und soziale Systeme doch einen mittelbaren Einfluss aufeinander ausüben. Sprachwandel zweckfrei162 und ohne den Bezug auf psychische und biologische Eigenschaften erklären zu wollen, untergräbt ZEIGES (2011, 260) Forderung nach den „Sowohl-als-auch-Erklärungen“, die nur „um den Preis von >Sowohlals-auch-Untersuchungen< zu bekommen“ sind. ZEIGES Sprachwandelkonzeption stützt sich, um einigermaßen gerechtfertigte Erklärungsansprüche erheben zu können, sehr stark auf den fragwürdigen Theoriebaustein der Interpenetration, der die System-Umwelt-Schnittstelle plausibel machen soll. Gerade diese Schnittstelle ist aber eine „besondere Schwachstelle […] hinsichtlich der postulierten Eigenschaften der Umwelt, des Komplexitätsvergleichs und der strukturellen Kopplung“ (SCHEIBMAYR 2004, 156). Das Problem von ZEIGES Konzeption sind oft nicht die Schlussfolgerungen, sondern die Prämissen, auf denen er sein Modell entwickelt. Seinen eigenen Theorieentwurf untermauert er aber ganz im Geiste LUHMANNS nicht anhand einer eigenen empirischen Studie. Vielmehr wirft er lediglich einige praktische Implikationen für Sprachwandelforscher auf. ZEIGE (2011, 259) weist beispielsweise darauf hin, dass die Dialektologie und Soziolinguistik für eine konstruktivistische Sprachwandelforschung die entsprechenden methodischen Zugänge wie Netzwerk- und Korpusanalysen bereithalten würden. 161 Anders beispielsweise KOLONKO (2011, 45), die feststellt, dass der Spracherwerbsprozess ein Lernprozess ist, „der durch die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit seiner sozialen und dinglichen Umgebung gestaltet wird“. 162 Politisch motivierter Sprachwandel kann zunächst wohl kaum zweckfrei gedacht werden.
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Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, dass sich die Dialektologie darauf einlassen würde, ihren Forschungsgegenstand nicht als System zu beschreiben.163 ZEIGE (2011, 260) schlägt weiterhin vor, „den möglichen Erkenntnisgewinn durch explorative Studien abzuprüfen“. Mir ist nicht bekannt, dass er dies bisher geleistet hätte. Immerhin gibt es in der Textlinguistik Versuche, LUHMANNS Systemtheorie empirisch zu validieren. CHRISTOPH (2008, 135) bemerkt beispielsweise: „Insofern kann die Textlinguistik einen Beitrag dazu leisten, die Systemtheorie ‚mit Leben zu füllen‘ und anhand exemplarischer Analysen Belege für diese sehr abstrakte Theorie liefern“. Diese Pionierarbeit leistet insbesondere GANSEL (2011; 2008).164 Sie bezieht sich in ihrer korpusbasierten Arbeit auf die historische Entwicklung von Textsorten. Sie positioniert sich zwar nicht in der Frage, ob Sprache System oder Struktur sei, übernimmt aber in weiten Teilen LUHMANNS evolutionäre Erklärung von Wandel. 2.3.4 GANSEL – die Evolution von Textsorten GANSEL (2011, 16) möchte zeigen, „dass ein systemtheoretischer Zugang gleichfalls in der Textsortenlinguistik möglich ist“.165 Dazu geht GANSEL von der Annahme aus, dass beispielsweise „Wirtschaftskommunikation, die religiöse Kommunikation oder die Gesundheitskommunikation als soziale Systeme konzeptualisiert werden können“ (GANSEL 2011, 16). GANSEL nimmt also mit LUHMANN an, dass Kommunikation soziale Systeme prozessiert. Damit ist impliziert, dass jedes soziale System über eine partiell andersgeartete Kommunikation und auch Struktur von Sprache verfügt (GANSEL 2011, 24).166 GANSEL (2011, 17) verspricht sich von einem systemtheoretischen Ansatz, Wie-Fragen der Art „Wie entsteht eine 163 Selbst eine konstruktivistische perzeptuelle Dialektologie hält an der Idee regionalsprachlicher Systeme fest (PURSCHKE 2014a; 2010). Auch stehen dort handlungsorientierte Ansätze im Mittelpunkt. PURSCHKE (2014b, 128) setzt in Anlehnung an Cassirer „das Handeln im Sinne eines konstruktiven Tuns ins Zentrum der Beschreibung menschlicher SinnProduktion“. Ansonsten sind gerade in der Dialektologie systeminhärente Wandelfaktoren wichtig, um Sprachwandel umfassend zu beschreiben. Anders allerdings GLAUNINGER (2015), der um eine funktional dimensionierte Sprachvariationstheorie bemüht ist, die Varietäten nicht als Systeme begreift. 164 ANTOS (1997, 47–53) ist mit seinen zwölf Thesen für eine evolutionstheoretische Begründung der Textlinguistik ein wichtiger Wegbereiter für eine system- und evolutionstheoretische Erklärung der Entwicklung von Textsorten. ANTOS (1997, 61) versteht Texte als Medien, die durch Selektion kognitive Ordnung stiften und kulturelles Wissen vererben (tradieren). 165 Hier wäre auch noch die Arbeit von Meinhardt (2008) zu beachten, die die Entwicklung der Rektoratsantrittsreden an der Universität Greifswald untersucht hat. Meinhardt bringt die diachrone Textsortenentwicklung aus systemtheoretischer Perspektive allerdings noch nicht mit dem Evolutionsbegriff in Zusammenhang. Für die Gesprächslinguistik haben sich beispielsweise HAUSENDORF (1992) und DOMKE (2006) für eine Übertragung der Systemtheorie LUHMANNS ausgesprochen. 166 Dieser Gedanke wird aktuell auch in diskursgrammatischen Ansätzen verfolgt (MÜLLER 2013).
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Textsorte?“ oder „Wie tragen Textsorten zur Kommunikation eines sozialen Systems bei?“ beantworten zu können. Über die Einordnung von sozialen Systemen als Sinnsysteme schlägt GANSEL (2011, 22) die Brücke zu sozialen Systemen als „Interaktionen“, „Organisationen“, „funktional ausdifferenzierte Systeme[n]“ und „Gesellschaften“. Den verschiedenen Interaktionssystemen ordnet sie Textsorten zu. Zum Interaktionssystem Familie würden so beispielsweise die Textsorten Weihnachtskarte und Einkaufszettel gehören, zu dem gesellschaftlichen Teilsystem der Massenmedien etwa Bericht, Kommentar oder Glosse (GANSEL 2011, 23).167 Die Textsorten sind allerdings zugleich ein Produkt und ein Abgrenzungskriterium für das jeweilige soziale System. Damit wird deutlich, dass der Zusammenhang zwischen sozialen Systemen und (ihren) Kommunikationen zirkulär ist (REESE-SCHÄFER 2011, 117). Dass Textsorten in der Linguistik eher handlungstheoretisch fundiert werden (SANDIG 2006, 9; BRINKER 2002, 42)168, stellt ein weiteres Problem für eine systemtheoretische Textlinguistik in Anlehnung an LUHMANN dar. Kommunikation ist für LUHMANN (1987, 225) zunächst keine Handlung.169 „Kommunikation ist Prozessieren von Selektion.“ (LUHMANN 1987, 194) Wie schon dargestellt wurde, ist Kommunikation die Synthese eines dreifachen Selektionsprozesses: Selektion der Information, Selektion der Mitteilung und Selektion des Verstehens (vgl. Kap. 2.3.2). Der Handlungsbegriff ist für LUHMANN problematisch, da Handlungen Akteure mit Intentionen voraussetzen. LUHMANN möchte allerdings nur auf der Ebene der Systemdimension erklären. „Seine [LUHMANNS; LB] Theorie will ausschließlich nur die eine, die systemische Dimension erfassen. So häufig sie auch von Systemkomplexität spricht, bleibt sie doch […] in Wirklichkeit eindimensional, weil sie nur die Systemdimension, nicht aber die Akteurdimension zu erfassen bereit ist.“ (REESE-SCHÄFER 2011, 78) LUHMANN kommt aber nicht gänzlich ohne das handelnde Individuum aus, worin GANSEL (2011, 27) einen Anknüpfungspunkt für die Textlinguistik sieht. Damit gelingt GANSEL in gewisser Weise eine Verknüpfung von System- und Handlungstheorie. Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme. Beides sind hochkomplexe Sachverhalte, die als Einheit verwendet und auf das dazu nötige Format verkürzt werden. (LUHMANN 1987, 241)
167 GANSEL (2011, 53) verwendet die Kategorie Kerntextsorte: „In Kerntextsorten werden die spezifischen Elemente des eigenen Systems reproduziert. Sie dienen der Autopoiesis (der Selbstreflexion und Selbstproduktion) des Systems“. Als Beispiel führt GANSEL Gesetzestexte und Urteile für das Rechtssystem an. In diesen Kerntextsorten werden nach GANSEL (2011, 53) „Sinnverarbeitungsregeln eines sozialen Systems ausgehandelt und verfestigt“. 168 „Auf der Grundlage des sprechakttheoretisch begründeten Textbegriffs können Textsorten als konventionalisierte Muster für komplexe sprachliche Handlungen definiert werden.“ (BRINKER 2002, 42) 169 „Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, daß Kommunikation nicht als Handlung und der Kommunikationsprozeß nicht als Kette von Handlungen begriffen werden kann.“ (LUHMANN 1987, 225)
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Aus dieser Äußerung schlussfolgert GANSEL (2011, 27): „Letztendlich ist festzuhalten, dass ein soziales System als Kommunikationssystem und als Handlungssystem zu verstehen ist“. Die Handlung besteht schließlich im „Mitteilungshandeln als zeitlich fixierte[m] Ereignis“ (GANSEL 2011, 28). Diese geschickte Verknüpfung passt zwar nicht hundertprozentig zu LUHMANNS Systemtheorie, eröffnet GANSEL aber die Möglichkeit, einen Konsens zur pragmatischen Textlinguistik herzustellen. Kommunikationsbereiche im Sinne von LUHMANN werden so beispielsweise einfach mit Handlungs- und Kommunikationsbereichen im Sinne von BRINKER (2010, 127–130) verglichen.170 GANSEL (2011, 30) erkennt allerdings das Problem: Es zeigt sich, dass die Begriffe ‚soziales System‘ und ‚Kommunikationsbereich‘ nicht gleichgesetzt werden können. Und sie haben ja auch einen unterschiedlichen theoretischen Hintergrund – Systemtheorie vs. Handlungstheorie. Wir stellen nun auf die Verwendung des Begriffs ‚soziales System‘ um und denken es als Kommunikations- und Handlungssystem.
Das Problem der strukturellen Kopplung der unterschiedlichen Systemtypen wird von GANSEL (2011, 56–59) allerdings nur sehr unzureichend problematisiert. Einerseits teilt sie LUHMANNS Auffassung, dass „die Fokussierung auf das Subjekt […] den Blick auf das Kommunikationssystem und seine Regularitäten für sinnhafte Kommunikation“ (GANSEL 2011, 32) verstellt, andererseits spielen bei ihr individuelle Handlungsträger als psychische Systeme eine wichtige Rolle bei der Herausbildung von Textsorten.171 Weiterhin unterscheidet GANSEL (2011, 61–62) neben Kerntextsorten, Textsorten der Anschlusskommunikation auch Textsorten der strukturellen Kopplung.172 In Anlehnung an CHRISTOPH (2008; 2009) fasst GANSEL (2011, 58) beispielsweise Public Relations als „spezifisches System“ „zur strukturellen Kopplung“ von System-Umwelt-Beziehungen.173 Die Kerntextsorte Pressemitteilung wäre somit „eine Textsorte der strukturellen Kopplung“ (GANSEL 2011, 59). Public Relations ist wiederum nur ein Subsystem, das von Muttersystemen benutzt wird, „um mit der Gesellschaft, mit der Systemumwelt zu kommunizieren“ (GANSEL 2011, 58). Mit dieser Unterscheidung muss allerdings
170 „Der Terminus ‚Kommunikationsbereich‘ bezieht sich dabei auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche, für die jeweils spezifische Handlungs- und Bewertungsnormen konstitutiv sind. Kommunikationsbereiche können somit als situativ und sozial definierte ‚Ensembles‘ von Textsorten beschrieben werden.“ (BRINKER et al. 2000, XX) BRINKER (2010, 127) bemängelt, dass die Linguistik noch weit von einer ausgereiften Situationstypologie entfernt sei. 171 Bei ihren Beispielen bezieht sich GANSEL häufig auf Akteure. „Letztlich sind derartige Textsorten erforderlich, um Beziehungen zwischen den genannten Akteuren und dem Prüfungsamt als Subsystem der Universität herzustellen.“ (GANSEL 2011, 55) Ein weiteres Beispiel von GANSEL (2011, 59): „Deshalb orientieren sich die Schreiberinnen und Schreiber von Pressemitteilungen an journalistischen Standards“. 172 Die Pressemitteilung müsste demnach sowohl eine Kerntextsorte als auch eine Textsorte der strukturellen Kopplung sein. 173 CHRISTOPH (2008, 134–135) beschreibt die strukturelle Kopplung zwischen dem sozialen System Wirtschaft und dem sozialen System Journalismus.
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die Geschlossenheit der sozialen Systeme, die jeweils mit der Textsorte Pressemitteilung operieren, in Frage gestellt werden. Nachdem GANSEL in einigen Punkten von LUHMANNS Systemtheorie abweicht bzw. darüber hinausgeht, muss die Frage erlaubt sein, ob der systemtheoretische Ansatz nach LUHMANN bisher einen Mehrwert für die Textsortenlinguistik darstellt? Die von GANSEL (2011, 54) erhoffte „begriffliche Schärfung in Hinblick auf textsortenlinguistische Termini“ konnte beispielsweise nicht eingelöst werden.174 Der Fokus mag sich zwar unter der spezifischen systemtheoretischen Perspektive von der Funktionsdimension auf die Sozialdimension verschieben, dass Texte und Textsorten jeweils eine Sach-, Zeit- und Sozialdimension haben, ist aber keine neue Einsicht, die LUHMANNS Systemtheorie zu verdanken ist oder mit seiner Terminologie beschrieben werden muss. Lohnend erscheinen hier allerdings Überlegungen, die Entwicklung von Textsorten und Textmustern als Evolutionsprozess zu fassen. Die Herausbildung von Textsorten erklärt GANSEL system- und evolutionstheoretisch mit Hilfe von Schemata und Mustern. Als Routinen für die Gestaltung von Kommunikationen sind Textmuster einerseits konventionalisiert, andererseits immer prozedural offen für Veränderungen. Die reflexive, durch Selbstirritation gesteuerte, Verwendung von bekannten Textmustern kann zu deren Konsolidierung führen, jedoch ebenso zur Variation im globalen Textmuster, sodass für die Produktion einer Textsorte mehrere Textmuster (z. B. bei Stellenangeboten oder Rektoratsantrittsreden) zur Verfügung stehen oder sich neue Textsorten als stabile Selektionen neben die Ausgangstextsorte (Textfamilie >Kontaktanzeige b) Pertinenz [+relevant/–relevant] > c) Modifikation oder Stabilisierung sprachlichen Wissens (PURSCHKE 2011, 308; 2014a). Weiterhin versteht PURSCHKE (2014b, 126) das Ergebnis von Hörerurteilen „als sozialen Zeichengebungsprozess in der Interaktion, der sprachlichen Phänomenen soziale Bedeutung 2. Ordnung im Sinne einer sozio-pragmatischen Indexikalität zuweist“. Wie solche Prozesse aussehen können, wird in Kapitel 6 diskutiert. Das von PURSCHKE entworfene Schema Salienz > Pertinenz > Modifikation/Stabilisierung sprachlichen Wissens weist zudem Parallel mit der Funktionsweise dynamischer und komplexer adaptiver Systeme auf (GELL-MANN 1995; 1994; Kap. 3.2). Interessanterweise verstehen SCHMIDT / HERRGEN (2011, 24) Sprache als „echt dynamisches System“ und nicht nur als Struktur. Ihr Verständnis von Dynamik entlehnen sie der Physik, ohne Sprache rein mechanistisch zu verstehen.190 SCHMIDT / HERRGEN (2011, 20) fassen mit dem Terminus Sprachdynamik „die Wissenschaft von den Einflüssen auf die sich ständig wandelnde komplexe Sprache und von den sich daraus ergebenden stabilisierenden und modifizierenden Prozessen“. Stabilisiert oder modifiziert wird das Sprachwissen des Individuums rekursiv kausal durch die Rückkopplung mit den Kommunikationspartnern, wobei sprecher- und hörerseitige Strategien berücksichtigt werden müssen. Beim Sprachverstehensakt können sowohl „soziale[r] ‚Input‘“ als auch „genetischer ‚Input‘“ „Auslöser sprachlicher Umstrukturierungen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 26) sein. Genetischer Input meint angeborene Lernstrategien der Sprachverarbeitung. In Anlehnung an CROFT (2000, 117–144) wird besonders die Reanalyse her 187 PURSCHKE (2011, 75) versteht Hörerurteile „als komplex konditionierte Entscheidungsprozesse über Gegenstände, Personen und Sachverhalte der Umwelt, die den Bedingungen der Situation, Perzeption, Kognition und Projektion unterliegen“. 188 Salienz ist sowohl stimulusinduziert (bottom-up) als auch erwartungsinduziert (top-down) zu verstehen (PURSCHKE 2014a). 189 PURSCHKE (2014b, 126) beschreibt Pertinenz als „situativ zugestandene subjektive Relevanz“. Was letztlich als relevant gesetzt wird, ist in Anlehnung an die Überlegungen von GRICE mit Hilfe von relevanztheoretischen Ansätzen (SCHÜTZ 1982) konzeptualisierbar (PURSCHKE 2014b). 190 „Gerade weil diese Gegenstandsbestimmung von einem Begriff der klassischen Mechanik inspiriert ist, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass sich Sprache vollständig mechanistischen Kategorien entzieht […].“ (SCHMIDT 2005a, 18)
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vorgehoben, die auf der Makroebene auch als Optimierungsstrategie bei Grammatikalisierungsprozessen wirkt (vgl. Kap. 4.1).191 Aber auch das individuelle Sprachwissen wird von SCHMIDT / HERRGEN als dynamisches System verstanden, das sich fortwährend an die kommunikativen Herausforderungen der Lebenswelt anpasst. Diese Anpassung ist mittlerweile auch neurolinguistisch modellierbar; ein Punkt, der noch genauer diskutiert wird (vgl. Kap. 3). Eine neurolinguistische Validierung des Konzepts der Sprachdynamik wird zudem aktuell am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg erprobt (LANWERMEYER / WERTH 2013; WERTH / HENRICH 2015). SCHMIDT / HERRGEN (2011, 28) halten zunächst fest: Die „Vorstellung von der Struktur der Kognition korrespondiert auch im Detail mit unserer Einsicht in die Sprachdynamik“. Umstrukturierungen haben also gleichsam eine neuronale Basis.192 Rückkopplungen hingegen, die partielles Nichtverstehen oder Nichterfüllen einer Sprachverhaltenserwartung signalisieren, können bei entsprechender subjektiver Wichtigkeit (=Erregung) oder einer genügenden Anzahl von Wiederholungen (=Überschreitung des Schwellwertes) den Aufbau neuer Synapsen und damit neuer Verbindungen zwischen Neuronen bewirken. Systemtheoretisch sind Änderungen von Relationen (Verbindungen) zwischen Elementen Strukturveränderungen. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 28)
Der neuronale Synchronisierungsvorgang ist grundlegend für die verschiedenen Synchronisierungstypen.193 SCHMIDT / HERRGEN (2011, 29–34) differenzieren zwischen Mikro-, Meso- und Makrosynchronisierung, wobei Meso- und Makrosynchronisierung auf der Mikrosynchronisierung aufbauen. Mikrosynchronisierung ist die Voraussetzung für die anderen Synchronisierungstypen. Die „Dynamik der Einzelsituation“ ist die „Basis der Sprachdynamik“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 30) überhaupt. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 29) verstehen unter Mikrosynchronisierung „eine punktuelle, in der Einzelinteraktion begründete Modifizierung und zugleich Stabilisierung des individuellen sprachlichen Wissens“, das als komplexes adaptives System mit Schemata auf der Basis einer neuronalen Grundlage verstanden werden kann (vgl. Kap. 3.3). Mikrosynchronisierung betrifft gleichermaßen den Sprachproduktions- und den Sprachverstehensakt. Mesosynchronisierung ist die „Folge von gleichgerichteten Synchronisierungsakten, die Individuen in Situationen personellen Kontaktes vornehmen und die zu einer Ausbildung von gemeinsamem situationsspezifischem sprachlichem Wissen führt“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31). Für einen spezifischen Bereich des 191 Die Umstrukturierungen können mit Rückgriff auf die Erklärungskraft der statischen Maximen von KELLER (2003, 137) „Rede so, wie Du denkst, daß der andere reden würde, wenn er an Deiner Statt wäre“ wieder konventionalisiert werden. „Diese Maxime […], so lautet die These, erzeugt Homogenität bei heterogener Ausgangslage und Stase bei homogener Ausgangslage.“ (KELLER 2003, 137) 192 Diese Idee steht natürlich dem Materialismus sehr nahe. Der Materialismus geht u. a. davon aus, dass alles was im Universum vorkommt (also auch Vorstellungen und Sprache), zumindest eine materielle Grundlage hat (GABRIEL 2013, 42–43). 193 Synchronisierung ist ein Konzept, das SCHMIDT / HERRGEN (2011) aus der Akkommodationstheorie entlehnt haben.
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Sprachlebens und der Sprachteilhabe ist die Mesosynchronisierung konvergierend, so dass sich „gruppen- und situationsspezifische sprachliche […] Konventionen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31) ergeben. Für die Gesamtsprache hat Mesosynchronisierung allerdings eine divergierende Wirkung, „in dem die Gruppen, die situationsspezifische Mesosynchronisierungen vornehmen, sprachliches Sonderwissen entwickeln“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32), wie es für Fachsprachen oder Jugendsprachen typisch ist. Entscheidend ist, dass durch hohe Kommunikationsdichte, hohes emotionales Involvement und mit zunehmender Zeitdauer die Individuen von Sprechergruppen in der Interaktion gemeinsame Kommunikationsstrategien ausbilden. Makrosynchronisierung ist auf das sprachliche Gesamtsystem bezogen. Makrosynchronisierungen sind „Synchronisierungsakte, mit denen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich an einer gemeinsamen Norm ausrichten“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32), ohne persönlichen Kontakt haben zu müssen. Makrosynchronisierungen definieren zudem „die Grenzen des dynamischen Systems Einzelsprache“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32). Makrosynchronisierungen sind nach SCHMIDT / HERRGEN (2011, 32–33) insbesondere an der neuhochdeutschen Schriftsprache ausgerichtet, die – durch das Bildungssystem getragen – von den meisten Mitgliedern der Gesellschaft beherrscht wird. Hinzukommen seit ca. den 1980er Jahren „die Formen massenmedialer Mündlichkeit, an denen, wenn auch überwiegend rezeptiv, Großgruppen teilnehmen (z. B. bundesdeutsche, österreichische und schweizerdeutsche Varianten der Standardsprache)“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32). Das kodifizierte Schriftsprachsystem ist zudem äußerst stabil, gewährleistet die höchste kommunikative Reichweite und verfügt über ein hohes Prestige. Für alle, die auf der Basis ihres Schriftsprachwissens subjektiv erfolgreich kommunizieren, sind die Verteidigung der beherrschten Norm und damit die Vermeidung neuer ‚Spracherwerbskosten‘ höchst rational. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 34)
Die Synchronisierungsprozesse sind wiederum nicht isoliert zu betrachten und können sich überlagern und rückkoppeln. Überlagerungen und Rückkopplungen führen zu einem komplexen Netz aus geteilten sprachlichen Wissensbeständen, die als Varietäten wahrgenommen werden (KEHREIN 2012, 36). Varietäten werden von SCHMIDT / HERRGEN (2011, 51) wie folgt definiert: Individuell-kognitiv sind Varietäten also durch je eigenständige prosodisch-phonologische und morpho-syntaktische Strukturen bestimmte und mit Situationstypen assoziierte Ausschnitte des sprachlichen Wissens. Da es sich um in gleichgerichteten Synchronisierungsakten herausgebildetes gemeinsames sprachliches Wissen handelt, sind Varietäten immer auch sozial konstituiert. Daher definieren wir Varietäten sprachsozial als partiell systemisch differente Ausschnitte des komplexen Gesamtsystems Einzelsprache, auf deren Grundlage Sprechergruppen in bestimmten Situationen interagieren.
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Varietäten sind dynamische kognitive Konzepte, die durch permanente Synchronisierungsleistungen und Differenzfeststellung zu anderen Konzepten durch die Sprachteilnehmer selbst hergestellt werden.194 Varietätenstatus haben nur diejenigen Differenzen, denen individuell eine sprachlichkognitive ‚Grenze‘, also eine durch klare Indikatoren (Hyperkorrektionen, Vermeidungsstrategien) signalisierte eigenständige prosodisch-phonologische und morpho-syntaktische Struktur zugrunde liegt […]. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 53)
Wenn wir komplexe Systeme im Sinne der CDST als Systeme „with different types of elements, […], which connect and interact in different and changing ways“ (LARSEN-FREEMAN / CAMERON 2008, 26) verstehen, können wir auch Varietäten als komplexe Systeme beschreiben. Das individuelle Sprachwissen ist ein Ausdruck der Spracherwerbs- bzw. Sprachsozialisationsbiographie eines Individuums, das in seiner Summe immer einzigartig ist.195 SCHMIDT / HERRGEN (2011, 38) verstehen die Systemkompetenz und die Registerkompetenz daher als die individuelle Verfügung über Varietäten und Sprechlagen […], wobei die Systemkompetenz sich auf das Inventar der sprachlichen Elemente und Regeln, die Registerkompetenz auf die Regeln der situationsadäquaten Verwendung bezieht.196
Damit wird auch deutlich, dass SCHMIDT / HERRGEN (2011, 49) nicht das Konzept der „Gesamtsprache“ aufgeben. „Die individuelle Kompetenz umfasst zu jedem Zeitpunkt nur einen (jeweils anderen) Ausschnitt der komplexen Gesamtsprache.“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 49) Die obligatorischen Unterschiede des individuellen Sprachwissens sind die Ursache für permanente Synchronisierungsprozesse und Sprachdynamik auf allen sprachlichen Beschreibungsebenen. Auch wenn zwei Sprachteilnehmer niemals über ein vollständig identisches Sprachwissen verfügen, entsteht durch die Synchronisierungsprozesse gemeinsames bzw. geteiltes Sprachwissen. Ein dynamisches Gesamtsystem Einzelsprache ist die „Folge gleichgerichteter Synchronisierungsakte, in denen die Individuen gemeinsames situationsspezifisches sprachliches Wissen ausbilden“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 49).197 Der Begriff Sprachsystem wird von SCHMIDT / HERRGEN damit auf zwei Weisen verwendet. Zum einen meint Sprachsystem den Idiolekt, zum anderen das Gesamtsystem Einzelsprache. Synchronisierungen sind nichts anderes als individuelle und wechselseitige Anpassungsprozesse von komplexen adaptiven Systemen (vgl. Kap. 3.3). Synchronisierung wird im Folgenden als Replikations-, Se 194 Diesem Verständnis liegt eine Kritik am Konzept von homogenen Varietäten zugrunde (SCHMIDT 2005b, 62–63). 195 „[E]s gibt keine zwei Sprecher, die über ein identisches sprachliches Wissen verfügen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 49). 196 Vgl. dazu auch KEHREIN (2012, 37). 197 Den Synchronisierungsprozessen sind allerdings kognitive und lebenszeitliche Grenzen gesetzt. Kompetente Dialektbeherrschung beispielsweise setzt Mesosynchronisierung über einen längeren Zeitraum mit intensivem Sprachkontakt voraus (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 50–51).
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lektions- und Anpassungsprozess evolutionstheoretisch gedeutet. Das Gesamtkonzept der Synchronisierung erhebt wie die Evolutionstheorie den Anspruch, Dynamik und Stase aus wenigen Prinzipien zu erklären (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32). Können das Konzept der Sprachdynamik und die CDST voneinander profitieren? Lassen sich die Theorien synchronisieren? Sie weisen ja ohnehin große Schnittmengen auf. Beide heben die Unterscheidung von Synchronie und Diachronie zu Gunsten eines dynamischen Systemverständnisses auf. Mit Hilfe beider Theorieangebote können Idiolekte als dynamische und komplexe adaptive Systeme modelliert werden. Zeit, Variation sowie das Individuum und seine soziale Einbettung sind grundsätzlich zentrale Bezugsgrößen, um Wandel zu erklären. Das Synchronisierungskonzept ist hilfreich, das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene zu modellieren. Das individuelle Sprachwissen und das Sprachverhalten können sich beispielsweise relativ schnell an lokale Bedingungen anpassen. Konkretes Sprachverhalten hat aber wiederum auch einen Einfluss auf das Sprachwissen der sozialen Umwelt. Der Prozess ist allerdings mehr als ein reiner Informationsaustausch.198 Die TanzMetapher verdeutlicht diese Wechselwirkungen. Whereas the information-transmission metaphor prompts one to conceptualize communicative exchanges in terms of such constructs as signal and response, sending and receiving, and encoding and decoding, the dance metaphor leads one to conceptualize communicative encounters in terms such as engagement and disengagement, synchrony and discord, and breakdown and repair. (SHANKER / KING 2002, 605)
Synchronisierung ist ein komplexer und rekursiver Prozess, der auch von vielen nicht-sprachlichen Faktoren abhängt.199 The interaction in dyads is multimodal: voice, rhythm and facial expressions interact to create mutual understanding and agreement on steps to take. There is constant adaptation and change, but it is often unclear which partner is the initiator of change. Perfect dancers show what in developmental studies has become known as ‚interactional synchrony’ […]. Like in all other forms of communication, dancers go through waves of synchrony and asynchrony, and they are constantly adapting to repair asynchrony. (DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2007, 9; Textteile im Original fett gedruckt, LB)
198 BONVILLIAN / PATTERSON (2002, 621–622), GRAMMER (2002, 625) und SPURETT (2002, 639–640) sehen das information processing paradigm und das dynamic system paradigm eher als komplementäre Ansätze. GRAMMER (2002, 625) nimmt beispielsweise an, dass das information processing system und das dynamic system im oben beschriebenen Sinne parallel verarbeiten: „There is empirical evidence for a dynamic communication system, but it appears to be coexisting with an information processing system. I would suggest that there are two systems working in parallel: a high level system where signals are exchanged and a low level system that regulates relationships“. 199 Damit ist auch eine Kritik an der „conduit metaphor“ verbunden. „The conduit metaphor assumes that words are containers for meaning, that speakers place meaning into their words and receivers extract these meanings and thereby understand what the speaker meant.“ (WATERS / WILCOX 2002, 644)
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Arbeiten zur Sprachdynamiktheorie müssen noch mehr Wert auf die intraindividuelle Variation eines Sprechers legen. Variation sollte in diesem Sinne nicht notwendigerweise als Abweichen von der Norm betrachtet werden. Variation enthält vielmehr wesentliche Informationen, um Entwicklungs- und Lernprozesse erklären zu können. Die CDST kann den Synchronisierungsansatz bzw. Akkommodationstheorie fruchtbar machen, wenn sie sich in ihrer empirischen Ausrichtung vom Individuum lösen möchte. 2.4.3 Zwischenfazit In den letzten Jahren sind in Abgrenzung zum statischen Sprachsystemverständnis des Strukturalismus verschiedene vielversprechende dynamische Ansätze entwickelt worden. Diese erklären Sprachwandel teilweise als evolutionären Prozess, der über die Stufen Replikation, Variation und Selektion verläuft. Diese evolutionstheoretische Sichtweise auf Sprachwandel steckt allerdings noch in den Kinderschuhen und ist in den Lehrbüchern und gängigen Darstellungen zum Sprachwandel noch nicht angekommen.200 Trotz der Überlegungen von KELLER (2003; 1987), ZEIGE (2011), GANSEL (2011), CROFT (2000; 1996) und SCHMIDT / HERRGEN (2011) ist eine evolutionstheoretische Konzeption von Sprachwandel längst nicht ausgereift und etabliert. Sprachwandel lediglich als Strukturwandel im Sinne LUHMANNS Systemtheorie zu begreifen, verkürzt m. E. die Komplexität sprachlicher Dynamik. Sprachproduktion hat immer auch eine psychische und kognitive Dimension, die bei der Erklärung von Sprachwandel nicht ausgeblendet werden darf. Eine anschauliche Metapher formuliert MUFWENE (2013, 330–331): From an evolutionary perspective discussing language without any references to their physical components would be like talking about computers without any references to their hardware or trying to make sense of how the mind works without any references to the (activities of the) neurological circuitry in the brain. […] just like ignoring the constraints that the hardware imposes on the software of a computer (by way of facilitating or impeding some processes) and the brain on the capacity of the mind.
Insbesondere in der Sprachkontaktforschung, die größtenteils auch Sprachwandelforschung ist, spielt die Verknüpfung von kognitiven mit sozialen und innersystemischen Aspekten eine große Rolle.201 Viele Autoren wie RIEHL (2014, 12–14) bevorzugen eine doppelte Begriffsbestimmung von Sprachkontakt. Dieser ist einerseits in Anlehnung an (WEINREICH 1953) psycholinguistisch und andererseits in Bezug auf die Kommunikationsräume und Sprechergruppen soziolinguistisch 200 Einen Zusammen zwischen Evolution und der Herausbildung von Einzelsprachen und Sprachfamilien haben auch schon DARWIN, SCHLEICHER und PAUL vermutet. 201 ROSENBACH (2008, 61) stellt ebenfalls einen Zusammenhang her: „All this indicates that an evolutionary approach to language change based on cognitive principles is well compatible with the phenomenon of language contact“.
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zu verstehen (KREFELD 2004). Auch in der Spracherwerbsforschung ist es üblich, die sprachliche Entwicklung des Idiolekts mit allgemeinen kognitiven Entwicklungsprozessen in Verbindung zu bringen. Insbesondere in der Mehrsprachigkeitsforschung, die wie keine andere Disziplin Aspekte der Spracherwerbs- und Sprachkontaktforschung verbindet, haben sich dynamische Systemansätze entwickelt, die sowohl soziale als auch kognitive Faktoren berücksichtigen. Die CDST beispielsweise „clearly supports a social participation view of SLA; however, it does not do so the exclusion of the psychological acquisitionist perspective“ (LARSEN-FREEMAN 2002, 43). Das handelnde Subjekt, seine Intentionen und Bedürfnisse können ebenfalls nicht einfach ausgeklammert werden, zumal handlungstheoretische Ansätze in der Linguistik mit Autoren wie BÜHLER, WITTGENSTEIN und AUSTIN mittlerweile eine lange Tradition haben und Sprechen und Sprachplanung auf der individuellen Ebene sehr bewusst und intentional stattfinden kann. GRICE (1979b) und KELLER (2003) nennen uns gute Gründe dafür, sprachliches Handeln maximengeleitet zu interpretieren. Weiterhin spricht einiges dafür, dass das Sprachwissen des Individuums einem dynamischen und komplexen adaptiven System im Sinne der CDST entspricht. Vielversprechend scheint eine Verknüpfung der CDST mit dem Konzept der Sprachdynamik von SCHMIDT / HERRGEN (2011) zu sein, um Sprachwandel adäquat zu erklären. Beide Ansätze beschäftigen sich mit komplexen Systemen unter Berücksichtigung des Faktors Zeit, worüber die Sprachdynamiktheorie auch die Idee der Synchronisierung herleitet. Beide Theorieangebote verweisen zudem darauf, dass sowohl soziale als auch innersprachliche und kognitive Faktoren bei der Entwicklung von sprachlicher Divergenz und Konvergenz zu berücksichtigen sind. Die Rückbindung idiolektalen Sprachwissens an neuronale Prozesse erlaubt zudem eine dynamische Konzeption von Sprachwandel, die Reproduktion, Variation und Selektion sprachlicher Strukturen systemisch erklärt. Dies sind Indizien, die dafür sprechen, Sprachwandel im Folgenden auf der Grundlage der CDST und der Sprachdynamiktheorie evolutionstheoretisch zu modellieren. Nachdem in Kapitel 2 die linguistischen und sprachphilosophischen Traditionslinien aufgezeigt wurden, die deutlich machen, warum eine evolutionstheoretische Sicht auf Sprachwandel möglich und nötig ist, wird in den folgenden Abschnitten eine eigene evolutionstheoretische Sprachwandelkonzeption erarbeitet und überprüft. Dazu werden in Kapitel 3 zunächst wichtige Entwicklungen der Evolutionstheorie aufgezeigt, die kognitiven Voraussetzungen des Menschen für Sprache und Sprachlernen angerissen und mit der Möglichkeit zur kulturellen Evolution in Zusammenhang gebracht. Außerdem wird ausführlich auf die Funktionsweise komplexer adaptiver Systeme eingegangen. Sprache im Allgemeinen und Idiolekte im Besonderen als komplexe adaptive Systeme zu begreifen, ist eine wichtige Grundvoraussetzung, um Sprachwandel evolutionstheoretisch modellieren zu können.
TEIL II: SPRACHE ALS KOMPLEXES ADAPTIVES SYSTEM 3 SPRACHWANDEL ALS EVOLUTIONÄRER PROZESS Der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt der letzten 150 Jahre wurde wesentlich durch die Einsicht vorangebracht, dass sich sowohl die Vielfalt des Lebendigen als auch die Diversität des Kulturellen durch Wandel- und Ausdifferenzierungsprozesse erklären lässt. Mannigfaltigkeit, Reichtum und Variation brauchen keinen übernatürlichen Schöpfer. Triebfeder dieser Entwicklungsprozesse ist die Evolution. Die bahnbrechende Entdeckung und Durchsetzung des Evolutionsgedankens ist insbesondere ein Verdienst von CHARLES DARWIN (1809–1882). Sein Hauptwerk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“ (1859) sorgte weltweit für großes Aufsehen und wurde vielfach rezipiert und diskutiert. DARWIN beschreibt darin den natürlichen Wandel und die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Arten. Dass auch der Mensch ein Produkt der Evolution ist und vom Affen abstammen könnte, stellt DARWIN ausführlicher in „The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex“ (1871) dar. Die Faszination für DARWINS Ideen bestand und besteht sicher darin, dass er es schafft, die Vielfalt und Komplexität der natürlichen Welt mit wenigen einfachen Prinzipien zu erklären. DARWIN formulierte nicht nur die Evolutionstheorie, sondern mit der Theorie der natürlichen Selektion auch eine Theorie über die Ursachen von Evolution. DARWIN war nicht der erste und nicht der einzige, der diese Beobachtung gemacht hat (VOSS 2008, 41–58; RIEDL 2003, 27–51)202, doch erst ihm gelang es, von einem breiten wissenschaftlichen und interessierten Publikum wahrgenommen zu werden. Auch wenn die Kirche DARWINS Ideen sogleich als ketzerisch bezeichnete und ablehnte203, war nun die Zeit reif, den Evolutionsgedanken offen vertreten zu können. 202 Insbesondere die Idee der Selektion war bereits vor DARWINS Veröffentlichung der „Entstehung der Arten“ (1859) in wissenschaftlichen Kreisen verbreitet. Zu den Vertretern eines Selektionsgedanken gehörten beispielsweise DARWINS Großvater ERASMUS DARWIN (1731– 1802), der Geologe CHARLES LYELL (1797–1875), der Zoologe JEAN-BAPTISTE LAMARCK (1744–1829) und der Philosoph und Soziologe HERBERT SPENCER (1820–1903). 203 Zum einen wird hier auf die oft zitierte Auseinandersetzung zwischen dem Oxforder Bischof SAMUEL WILBERFORCE und DARWINS Vertrautem THOMAS HENRY HUXLEY („Darwin‘s Bulldog“) von 1860 angespielt. Auf die geringschätzige Frage WILBERFORCE‘, ob HUXLEYS Abstammung vom Affen eher auf die mütterliche oder die väterliche Linie zurückzuführen sei, soll dieser geantwortet haben, dass er lieber vom Affen als vom Pfaffen abstamme (RIEDL 2003, 69; VOSS 2008, 29–30). Bis heute wird die Evolutionstheorie in einigen religiösen Kreisen abgelehnt. Die Kreationisten behaupten, dass die Welt, das Leben und der Mensch Akte der göttlichen Schöpfung sind. Gegen den Kreationismus argumentiert insbesondere der Biologe RICHARD DAWKINS (*1941) in seinen Werken „Der Gotteswahn“ (2006) und „Die
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Trotz einiger Kontroversen hat sich die Evolutionstheorie seitdem grundsätzlich bewiesen und ist in vielen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Entwicklungsprozessen beschäftigen, zu einer Art Metatheorie geworden. Weil sich auch die Wissenschaft entwickelt, werden ebenfalls die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftstheorie selbst zum Untersuchungsobjekt der Evolutionstheorie bzw. mit dieser in einen Zusammenhang gebracht (POPPER 1995; 1979204; CZIKO 1995; KUHN 1976/2012; HULL 1988; 2001).205 Besonderen Erfolg hat der Evolutionsgedanke allerdings in der Biologie und den Naturwissenschaften.206 Mitte des 20. Jahrhunderts konnten die verschiedenen Ansätze innerhalb der Biologie sogar unter dem Theoriegebäude der Synthetischen Evolutionstheorie vereint werden.207 Die Sozial- und Geisteswissenschaften, aber auch die Linguistik für sich, sind weit entfernt von einem überdachenden theoretischen Framework. Dabei wurden die Evolutionstheorie und ihre zentralen Ideen auch von der Psychologie und den Sozial- und Geisteswissenschaften rezipiert und mit den eigenen Theorieentwürfen in Verbindung gebracht (LUHMANN 2011; HULL 2001; CROFT 2000; KUHN 1976/2012; CAMPBELL 1965). Durch die Anlehnung an die Evolutionstheorie gewannen viele Wissenschaftsdisziplinen einen neuen Blickwinkel und die Möglichkeit, erklärungsadäquatere Theoriekonzepte zu erarbeiten. Nach DARWINS Veröffentlichung von „The Origin of Species“ wurde auch die Sprache zunächst aus einem evolutionstheoretischen Blickwinkel betrachtet. Im 19. Jahrhundert wurde daraufhin vielfach auf die Parallelen zwischen biologischen und kulturellen Entwicklungen hingewiesen (PAUL 1880/1975, 37). Die von MESOUDI (2011, xii) prognostizierte „coming ‚evolutionary synthesis‘ for the social sciences“ ist aber noch weit entfernt. Wie bereits dargestellt wurde (vgl. Kap. 1.1), sind insbesondere die germanistischen Linguisten noch sehr zurückhaltend, Sprachwandel als Evolutionsprozess zu erklären. Diese Arbeit möchte dieses Versäumnis nachholen und darlegen, warum Sprachwandel als Evolutionsprozess 204
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Schöpfungslüge“ (2009). Eine Auflistung weiterer Literatur, die sich explizit gegen den Kreationismus wendet, findet sich in MAYR (2005a, 20). Kennzeichnend für den Gedanken, dass sich auch die Wissenschaft wie ein evolutionäres System verhält, ist folgendes Zitat aus POPPERS programmatischer Schrift „Objektive Erkenntnis“ (hier aus dem Englischen „Objective knowledge“) (1979, 261): „[T]he growth of our knowledge is the result of a process closely resembling what Darwin called ‚natural selection‘; that is, the natural selection of hypotheses“. GERHARDT (2010, 196–203) legt die Evolution des Evolutionsbegriffes von LEIBNIZ bis DARWIN dar. So zeigt GERHARDT beispielsweise, dass KANT den Evolutionsbegriff in der „Kritik der Urteilskraft“ zunächst kritisiert, später aber in „Streit der Fakultäten“ rehabilitiert, indem er ihn gegen den Revolutionsbegriff abgrenzt. Insbesondere die Evolutionsbiologie unterscheidet sich von anderen Naturwissenschaften dadurch, dass sie nicht über Naturgesetze im Sinne von universell gültigen Gesetzen verfügt, die genaue Vorhersagen erlauben. MAYR (2005b, 52–53) argumentiert daher dafür, Evolutionsbiologie als eine historische Wissenschaft zu verstehen, die sich der historisch-geisteswissenschaftlichen Methode bedient. Ähnlich äußert sich auch VOSS (2008, 194), die daraus die Konsequenz zieht, dass natürliche Selektion nicht vorausgesagt werden kann. Einen kompakten Überblick über die Genese der Synthetischen Evolutionstheorie gibt MESOUDI (2011, 47–51).
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im Sinne DARWINS verstanden werden kann. DARWIN sieht die Parallelen zwischen biologischer und kultureller Evolution in Bezug auf Sprache: Die Bildung verschiedener Sprachen und verschiedener Spezies und die Beweise, daß beide sich stufenweise entwickelt haben, sind merkwürdig parallel. […] Sprachen können wie organische Wesen in Gruppen klassifiziert werden, die anderen Gruppen untergeordnet sind, und man kann sie entweder natürlich nach ihrer Abstammung oder künstlich nach anderen Charakteren klassifizieren. […] Verschiedene Sprachen können sich kreuzen oder miteinander verschmelzen. Wir beobachten in jeder Sprache Variabilität und neue Wörter tauchen beständig auf; […] Das Überleben oder die Beibehaltung gewisser begünstigter Wörter im Kampf ums Dasein ist natürliche Zuchtwahl [The survival or preservation of certain favoured words in the struggle for existence is natural selection; i. O.] (DARWIN 1871/1908, 62–63).
An dieser Stelle sei aber nochmals darauf hingewiesen, dass die Evolution kultureller Entitäten im Detail von der biologischen Evolution abweichen kann. Von Interesse sind in dieser Arbeit allerdings die allgemeinen Prinzipien, die sowohl für biologische, als auch für kulturelle Evolutionsprozesse kennzeichnend sind. Insbesondere eine Wandeltheorie wie die Sprachwandeltheorie kommt heute nicht umhin, sich intensiv mit der Evolutionstheorie auseinanderzusetzen, die allgemein als akzeptiert gilt. Die Evolutionstheorie beschränkt sich zwar nicht allein auf die biologische Evolution, von einer synthetischen Evolutionstheorie für die Sozial- und Geisteswissenschaften kann allerdings noch nicht gesprochen werden. Eine evolutionäre Sprachwandeltheorie könnte sicher ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer allgemein akzeptierten kulturellen Evolutionstheorie sein. Wandel und Entwicklung ist Kultur inhärent. Die Kultur prägt unser Sprachverhalten, wie auch das Sprachverhalten einen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung nimmt, weil Sprache ein wesentlicher Teil der Kultur ist. Beide üben einen Anpassungsdruck aufeinander aus. Dabei spielen auch funktionale Aspekte eine Rolle. KIRBY (1999, 1) bemerkt in Bezug auf Sprache: „[T]his ‚fit‘ of form to function pervades the world of living organisms and their products“. Diese Beobachtung bzw. Denkfigur ist allerdings in gewisser Weise zirkulär. Sie wird auch als Funktionalitätsparadox beschrieben, dem sich jedwede evolutionstheoretische Erklärung nur schwer entziehen kann. Das Funktionsparadox hängt eng mit dem Begriff des reverse engineering zusammen. Die zirkuläre Denkfigur behauptet zunächst, dass dasjenige, was angepasster sei, über einen Überlebensvorteil verfüge. Daraus folgt, dass dasjenige, was noch existiert, besser angepasst sein müsse, als dasjenige, was bereits ausgestorben ist, weil es sonst nicht überlebt hätte. KNOBLOCH (2011, 246) bringt den Gedanken auf den Punkt: „Letztlich behauptet jeder Evolutionismus die ‚normative Kraft des Faktischen‘“. KNOBLOCH (2011: 246) bemängelt zu Recht, dass in den Argumentationsgängen vieler Neo-Darwinisten aus zufälliger Variation schnell vollständige Determination folgt und jegliche Kontingenz ausgeblendet wird. Wenn auch die normative Kraft des Faktischen nicht unterschätzt werden sollte, ist reine Existenz immer nur ein Indikator für Angepasstheit. Insbesondere den Linguisten der funktionalistischen Schule wie GIVÓN und CROFT ist aufgefallen, dass, ähnlich wie im biologischen Leben, sprachliche Formen in einem wechselseitigen Verhältnis zu Funktionen stehen, was sie ermutigt,
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evolutionstheoretische Erklärungen für den Sprachwandel zu geben. Wie die Form des Fisches an das Leben im Wasser angepasst ist, sei auch die Struktur der Sprache an funktionale Zusammenhänge angepasst. Die Morphologische Natürlichkeitstheorie um MAYERTHALER (1981) und WURZEL (1984) hat beispielsweise herausgearbeitet, dass Kodierungsasymmetrien auf funktionale und/oder semantische Asymmetrien verweisen. Die universellen Prinzipien der Natürlichen Morphologie sind im Wesentlichen konstruktioneller Ikonismus, Transparenz und Uniformität (vgl. Kap. 4.2). Entscheidend sind aber gerade die systemabhängigen Natürlichkeitskriterien (WURZEL 1984), die den Linguisten erlauben, das innersystemische Anpassungsproblem differenziert zu betrachten. Wenn etwa für Phonologie oder Morphologie ‚Natürlichkeitsbedingungen‘ formuliert werden (z. B. Wurzel 1984), dann ist das stets der Versuch, die Kraftfelder zu bestimmen, in denen sich bestimmte features festsetzen, halten, durchsetzen, verändern, weil sie entweder ‚besser‘ sind als andere oder konkurrierenden Optionen besser trotzen als andere etc. Dabei dürfte die Pfadabhängigkeit der Nischenbedingungen im Kern der Grammatik (Morphologie, Syntax) höher sein als an den (sensomotorischen und sozialkommunikativen) Rändern. (KNOBLOCH 2011, 264)
Auf den Zusammenhang zwischen Morphologischer Natürlichkeitstheorie und evolutionärem Wandel wird noch in Kapitel 4.2 näher eingegangen. Dass Berührungspunkte und Parallelen zwischen sprachlicher Entwicklung und evolutionärer Entwicklung bestehen, ist in den letzten Jahren aber verschiedenen Autoren wieder bewusst geworden. Explizit wird dieser Zusammenhang beispielsweise von Autoren wie CROFT (2000), MUFWENE (2008; 2001), KELLER (2003; 1987), RITT (2004) und SIMON (2010) herausgestellt. Bevor jedoch intensiv die Frage erörtert wird, ob sich Sprache nach evolutionären Prinzipien wandelt, müssen diese Prinzipien zunächst im Kontext der biologischen Evolutionstheorie diskutiert werden, ehe Anknüpfungspunkte zu einer evolutionären Kulturtheorie aufzuzeigen sind. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls ein kurzer Exkurs über die Evolution der menschlichen Sprachfähigkeit und die biologischen Voraussetzungen nötig. 3.1 EVOLUTION Ihrer immensen Erklärungskraft verdankt die Evolutionstheorie heute einen Anwendungshorizont, der weit über biologische Kontexte hinausragt. Vielfach wurde versucht nachzuweisen, dass Evolution ein Phänomen ist, das auch außerhalb des organischen Lebens universelle Geltungskraft hat. CROFT (2000) beruft sich für seine Erklärung evolutionären Sprachwandels beispielsweise auf die Arbeiten von HULL (1988), der eine allgemeine Theorie der Selektion entworfen hat und zeigt, dass sich auch die Wissenschaft nach evolutionären Mechanismen entwickelt.208 208 HULL (1988) beschreibt beispielsweise, wie sich wissenschaftliche Ideen in Analogie zu Organismen in Stammbäumen verzweigen (BLACKMORE 2000, 65).
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Vielfach wurde allerdings auch auf die Unterschiede zwischen biologischer Evolution und der Entwicklung und Diffusion kultureller Phänomene hingewiesen (BLACKMORE 2000, 46–49, 119–120; SHIFMAN 2014, 12). Diese Unterschiede legen den Schluss nahe, dass der Evolutionsbegriff nicht auf kulturelle Phänomene übertragen werden sollte. GERHARDT (2010, 190) hält dagegen: Die Übertragung des Evolutionsbegriffs auf die Erscheinungsformen der Kultur versteht sich auch deshalb von selbst, weil er lange vor Darwin darauf bezogen war.
Auch die Allgemeine Systemtheorie vertritt den Standpunkt, dass sich Systemwandel nach evolutionären Prinzipien wie Variation und Selektion vollzieht. In den 1970er Jahren hat sich die Allgemeine Systemtheorie allerdings in verschiedene erkenntnistheoretische Lager aufzuspalten. Auf der einen Seite stehen die (radikalen) Konstruktivisten wie MATURANA, VARELA, FOERSTER, GLASERFELD und LUHMANN (vgl. Kap. 2.3.1). Auf der anderen Seite sind die Anhänger einer teilweise realistischen Erkenntnistheorie zu verorten, die nicht nur weiterhin nach evolutionären Maßstäben denken, sondern die Evolutionstheorie sogar als Ausgangsbasis ihrer hypothetisch-realistischen Weltanschauung und Erkenntnistheorie nehmen.209 Diese Position, die hier gegenüber dem Konstruktivismus favorisiert wird, ist unter dem Begriff Evolutionäre Erkenntnistheorie bekannt geworden. Mit dieser Auffassung wird nicht bestritten, dass menschliche Erkenntnisleistung auch auf (Re)Konstruktionen basiert. Vielmehr ist durch diese erkenntnistheoretische Positionierung zum Ausdruck gebracht, dass unser (vermeintliches) Erkennen von Strukturen der Welt immer auch durch diese Strukturen mitgeprägt ist. Damit wird schließlich auch das Dogma der operationalen Geschlossenheit von Systemen in Frage gestellt. Systeme können interagieren und sich an ihre Umwelt anpassen, auch wenn die Kenntnis dieser Umwelt zu großen Teilen ein Konstrukt bleiben muss. Der Begriff Evolutionäre Erkenntnistheorie stammt von DONALD T. CAMP210 BELL (1974) und geht auf seinen Aufsatz „Evolutionary Epistemology“ zurück , in dem er sich kritisch mit POPPERS Gnoseologie auseinandersetzt. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist eng mit dem kritischen Rationalismus und der erkenntnistheoretischen Position des hypothetischen Realismus verbunden, wie sie beispielsweise dezidiert von LORENZ (1997), VOLLMER (2002) und RIEDL (2000; 209 Die vereinfachende Dichotomie zwischen Konstruktivismus und realistischen Positionen soll nicht verdecken, dass es sicher Systemtheoretiker gibt, die sich nie mit der erkenntnistheoretischen Debatte auseinander gesetzt haben. Außerdem muss beachtet werden, dass sowohl vom Konstruktivismus als auch vom Realismus verschiedene erkenntnistheoretische Abstufungen und Spielformen existieren. 210 VOLLMER (2003, 67–70) rekonstruiert die Namensgebung der Evolutionären Erkenntnistheorie. Maßgeblich daran beteiligt war der Psychologe CAMPBELL, der seinen Beitrag für den von SCHILPP (1974) herausgegebenen Band „The Philosophy of Karl Popper“ schon 1968 fertiggestellt und dann an interessierte Kollegen verschickt hatte. Darunter war auch KONRAD LORENZ, der die Ideen von CAMPBELL aufgreift und schon 1973 in „Die Rückseite des Spiegels“ mehrmals zitiert. Insbesondere CAMPBELL (1974, 450) betont die Universalität des Selektionsgedankens, den er auch auf die Wissenschaft und die kulturelle Entwicklung überträgt.
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2003) vertreten wird.211 Den Autoren ist gemeinsam, dass sie auf der Grundlage von allgemeinen systemtheoretischen Überlegungen argumentieren und bestimmte Postulate wissenschaftlicher Erkenntnis vertreten. Biologische Anpassung wird beispielsweise als ein indirekter Erkenntnisprozess verstanden, der durch die Mechanismen blinde Variation und Selektion abläuft (BLACKMORE 2000, 65). CAMPBELL (1960, 397–398; 1965, 46) stellte schon sehr früh heraus, dass mit den Mechanismen der blinden Variation und der Selektion nicht nur biologische Entwicklungen, sondern auch kulturelle und soziale Prozesse erklärt werden können. Das Attribut blind impliziert zum einen, dass Variationen zufällig entstehen, und zum anderen, dass Evolutionsprozesse nicht teleologisch sind. Insbesondere die Epigenetik stellt allerdings die reine Zufälligkeit der Variation zunehmend in Frage (NEUWEILER 2008, 83; vgl. Kap. 3.1.1.3). Das folgende Kapitel setzt sich zunächst mit den Grundlagen der Evolutionstheorie und ihrer Entwicklungsgeschichte auseinander. Danach wird kurz auf die Evolution des Menschen und seine Sprachfähigkeit eingegangen. 3.1.1 Evolutionstheorie(n) JARED DIAMOND (in: MAYR 2005a, 7) beschreibt die Evolutionstheorie als „das tiefgreifendste, machtvollste Gedankengebäude, das in den letzten 200 Jahren erdacht wurde“. Der Genetiker THEODOSIUS DOBZANSKY (1900–1975) prägte den Ausspruch: „Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution“ (zitiert nach SPERLING 2011, 214). Für ERNST MAYR (2005a, 14) ist Evolution der „wichtigste Begriff in der gesamten Biologie“. Aber auch für den Biologen MAYR geht die Evolution „weit über die Biologie hinaus“. Der Evolutionsgedanke löst ein lange dominierendes statisches Weltverständnis ab. Die Welt, so wie sie war, wurde demnach von Gott geschaffen. Der Mensch war in dieser Welt die Krone der Schöpfung.212 Bereits im 17. Jahrhundert stellten einige Naturforscher fest, dass die Welt wesentlich älter sein musste, als die Bibel den Menschen suggerierte. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden die Indizien gegen eine von Gott geschaffene Weltordnung immer eindringlicher und erdrückender. Der Glaube an eine statische Weltordnung geriet letztlich durch DARWINS „On the Origin of Species“ (1859) endgültig ins Wanken. Die Zusammenhänge der Welt wurden mit der Evolutionslehre als dynamisch und veränderbar wahrgenommen. Diese Wahrnehmungsveränderung war vielleicht einer der größten geistigen Umbrüche in der Geschichte der Menschheit. DARWIN postulierte aber mehr als die bloße Existenz von Evolution. Er stellte mit der Theorie der natürlichen Selektion zugleich eine Theorie für die Ursachen von Evolution auf. „Da war es kein Wunder, dass Die 211 Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Evolutionären Erkenntnistheorie vgl. beispielsweise LÖW (1983), PÖLTNER (1993), IRRGANG (2001) und KOLLER (2008). 212 NEUWEILER (2008, 200–201) argumentiert aus der evolutionsbiologischen Sicht für die Sonderstellung des Menschen. Dies verrät auch der Titel seines vielbeachteten und vergriffenen Buches: „Und wir sind es doch – Die Krone der Evolution“ (2008).
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Entstehung der Arten so großen Aufruhr verursachte. Das Buch sorgte fast allein für die endgültige Säkularisierung der Naturwissenschaft.“ (MAYR 2005, 26) Heute gilt die Evolution als Tatsache, die erfolgreich überprüft und getestet worden ist. MAYR (2005b, 113–130) hat allerdings herausgearbeitet, dass sich die Evolutionstheorie von DARWIN eigentlich aus einem Konglomerat von fünf Theorien zusammensetzt, die stark ineinandergreifen. MAYR spricht daher auch von Evolutionstheorien. Die Theorien können im Einzelnen folgendermaßen aufgeschlüsselt werden (MAYR 2005a, 114; VOSS 2008, 98).
Arten können sich entwickeln und verändern213 alle Arten können auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden Evolution ist ein kontinuierlicher Prozess eine Art kann sich in mehrere neue Arten aufspalten der Prozess der Artentwicklung ist von der natürlichen Selektion bestimmt
Trotz der Aufschlüsselung der verschiedenen Theorien DARWINS hat man nach den verallgemeinerbaren Prinzipien von Evolution gesucht. Als ein allgemeingültiges Prinzip wurde beispielsweise die Selektion identifiziert (HULL 1988, 432– 476). Die Prinzipien der Evolution werden zudem unter dem Schlagwort Generalized Darwinism214 (RITT 2004, 89–121) zusammengefasst und mit dem Ansatz der komplexen adaptiven Systeme von GELL-MANN (1994; 1995) in Verbindung gebracht. Evolution verläuft demnach über die sich überlappenden Stufen Replikation, Mutation, Selektion sowie Diffusion. Replikation und Reproduktion Organismen verfügen auf die eine oder andere Weise über die Möglichkeit zur Replikation bzw. Reproduktion von Informationen. Replikation ist eine conditio sine qua non für Evolution, denn erst durch die Replikation kann es zu Variationen kommen. Replikation bezeichnet zunächst einen Vorgang, bei dem die DNA, der Erbinformationsträger, vervielfältigt wird. Allgemeiner gesprochen, handelt es sich bei Replikation in der Regel um die Herstellung exakter Kopien. Die Zellteilungen bei der Meiose oder Mitose können beispielsweise als Replikationsprozesse verstanden werden. Jede Zelle beinhaltet einen Zellkern (Nukleus), der wiederum genetisches Material oder DNA enthält. Die DNA besteht vereinfacht aus vier unterschiedlichen Bausteinen, die mit den Buchstaben A, C, G und T codiert werden. Eine lange Sequenz dieser Bausteine …ACAGTACTGAAGTC… bildet ein Gen. Jedes Gen verfügt durch die unterschiedliche Anordnung dieser Baustei 213 Diese Theorie wird von den folgenden vier Theorien spezifiziert. 214 ROSENBACH (2008, 24) weist darauf hin, dass der Begriff Generalized Darwinism manchmal mit den Begriffen Universal Darwinism und Neo-Darwinism gleichgesetzt wird. In dieser Arbeit wird Generalized Darwinism allerdings verwendet, ohne explizit neo-darwinistische Postulate mit zu meinen. Zur Diskussion der neo-darwinistischen Position vgl. Kap. 3.1.2.2.
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ne über Informationen, um Proteine freizusetzen, die wiederum in einem komplexen Zusammenspiel mit anderen Proteinen eine bestimmte Funktion im Organismus übernehmen. Die DNA ist durch Zellteilung in der Lage, Kopien von sich selbst herzustellen. Replikation bedeutet also, dass eine exakte Kopie der Sequenz erzeugt wird. a a
(t1) = … ACAGTACTGAAGTC… (t2) = … ACAGTACTGAAGTC…
Entscheidend für die Replikation ist nun aber auch, dass von etwas repliziert wird, das der Replikation zeitlich voraus geht und in einer bestimmten Weise strukturiert ist. Replikation verläuft als Prozess auf der Zeitachse. Replikation folgt auf Replikation. Dieser Prozess hat eine historische Tiefe und führt zu einer gewissen Stabilität und zu Abstammungslinien. CROFT (1996, 124) bestimmt den Begriff Abstammungslinie wie folgt: „[A] replicator produces a new ‚copy‘ which can in turn produce another ‚copy‘ – that is, a lineage“. Durch Mutationen können sich Bausteine der DNA-Sequenz ändern. Diese veränderte Sequenz (Struktur) ist potentiell wiederum Grundlage für weitere Replikationsvorgänge und verzweigte Abstammungslinien. a a‘ a‘
(t1) = …ACAGTACTGAAGTC… (t2) = …ACTGTACTGATGTC… (t3) = …ACTGTACTGATGTC…
Diese Veränderungen können Auswirkungen auf die Produktion der Proteine, und damit auch auf die Funktion, die die Proteine im Organismus erfüllen, haben. Mutation Evolution würde nicht stattfinden, wenn es keinen Wandel gäbe. Im Kontext von biologischer Evolution heißt Wandel u. a. auch (blinde) Mutation.215 Bei der Replikation von Einheiten kann es zu Fehlern bzw. Abweichungen kommen. Mutationen in der DNA von Organismen entstehen in der Regel durch Zufall, können aber auch durch Umweltfaktoren verursacht worden sein. Durch Mutationen entstehen beispielsweise verschiedene Varianten der Ausgangs-DNA. Diese Varianten werden dann wiederum repliziert. a → a → a → a … a → a → a‘ → a‘ …
a a‘
Jede Mutation verursacht einen – wenn auch oft sehr kleinen – messbaren Wandel der DNA. Dieser Wandel kann sich verschiedentlich auf den Phänotyp eines Individuums auswirken. Einerseits kann der Effekt auf den Phänotyp so verheerend 215 In Bezug auf kulturelle Evolutionsprozesse sollte zur Abgrenzung von der biologischen Evolution besser von Variation gesprochen werden.
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sein, dass das Individuum nicht überlebensfähig ist und sich nicht replizieren kann. Andererseits, wenn der Organismus überlebt und fortpflanzungsfähig bleibt, entstehen zwei Varianten, die zunächst koexistieren. Die weitere Entwicklung hängt von den verschiedenen Effekten der Mutation auf den Phänotyp des Organismus ab. Viele Veränderungen der Ausgangs-DNA haben keine Konsequenzen für den Phänotyp und können vererbt werden. Andere Veränderungen haben einen Effekt auf den Phänotyp, der sich für das Individuum positiv auswirkt, indem es Vorteile hinsichtlich der Überlebensfähigkeit oder Reproduktion mit Blick auf den Lebensraum hat. Die beiden Varianten stehen in diesem Lebensraum in Konkurrenz um die Ressourcen zueinander, wobei sich die für den Lebensraum angepasstere Variante mit der Zeit durchsetzen wird.216 Damit ist im Kern eigentlich auch schon beschrieben, was DARWIN unter natürlicher Selektion versteht. Das Prinzip der Selektion wird am häufigsten mit dem Evolutionsgedanken identifiziert und diskutiert. Selektion Für DARWINS Verständnis von Evolution ist der Populationsbegriff entscheidend, den auch die moderne Evolutionsbiologie deutlich herausstellt. So schreibt MAYR (2005a, 104): „Und wie sich herausstellt, erweist sich die Population auch als wichtigster Ort der Evolution. Am besten begreift man die Evolution als genetischen Wandel der Individuen aller Populationen von Generation zu Generation“. Die Population „besteht aus den Individuen einer biologischen Art in einem bestimmten geografischen Gebiet, die sich potenziell untereinander kreuzen können“. Die Evolution findet damit nach MAYR auf der Ebene des Individuums statt, insbesondere der Phänotyp des Individuums wird selektiert. Dieser Punkt ist allerdings umstritten. So behauptet DAWKINS in seinem Werk „Das egoistische Gen“ (1976/1994), dass die biologische Selektion ausschließlich auf der Ebene der Gene wirkt. Die natürliche Selektion „begünstigt Gene, die ihre Überlebensmaschine so steuern, daß sie den besten Nutzen aus ihrer Umwelt ziehen“ (DAWKINS 1976/1994, 121; 1982/2010). In der Biologie wurden seitdem allerdings einige Beispiele aufgeführt, in denen deutlich wird, dass auch soziales Verhalten von der natürlichen Selektion bevorzugt wird (VOSS 2008, 196–197). Diese Form des Altruismus lässt sich nicht ausschließlich durch Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den agierenden Individuen erklären (NEUWEILER 2008, 68– 69).217 216 Dabei ist wiederum von Wechselwirkungen auszugehen. 217 Zunächst hatte der Biologe WILLIAM D. HAMILTON (1964a; 1964b) mit seiner kinship theory Altruismus und Egoismus der Gene zu vereinen versucht, indem er altruistisches Verhalten z. B. bei Bienen auf Verwandtschaftsbeziehungen zurückrechnete. Neuere Untersuchungen u. a. bei Bienen zeigen allerdings, dass sich Altruismus im Tierreich nicht ausschließlich durch Verwandtschaft erklären lässt. Bei einigen tropischen Vogelarten wurden Exemplare beobachtet, die anderen Vogelpaaren helfen, die Jungen großzuziehen. Diese Helfer sind oft
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NEUWEILER (2008, 70–71) argumentiert zudem, dass die Gene neben einer Zellumgebung immer Interaktionspartner suchen und eine „zelluläre Reparaturmaschinerie“ benötigen, um überlebensfähige Kopien erzeugen zu können.218 Die Umgebung der Gene ist entscheidend für die Auswirkungen ihrer Instruktionen. Wer wie DAWKINS nur die Perspektive der Gene sieht, vergisst leicht die Vielfalt, die sich aus der Interaktion der Gene mit der Umwelt ergibt. Für das Bewährte ist jede Mutation eine Bedrohung, ein Kopierfehler bei der Replikation der Gene. Für die Vielfalt der Organismen liefern genau diese Fehler jedoch das Spielmaterial (Roheisen) für die Entstehung neuer Arten in der Schmiede natürlicher Auslesen. Das Leben spielt sich in der ständigen Auseinandersetzung der individuellen Organismen mit ihrer Lebenswelt ab. Die Gene sind nicht der Inhalt, sondern das Ergebnis des Lebens. (NEUWEILER 2008, 71)
DARWIN ging davon aus, dass Selektion bei der phänotypischen Ausprägung des Individuums ansetzt.219 Der Ausdruck survival of the fittest steht heute stellvertretend für seine Vorstellung von Selektion. Diese Formulierung stammt jedoch von HERBERT SPENCER (1864) und kam in den ersten Auflagen von DARWINS „On the Origin of Species“ gar nicht vor. „Allerdings ist Darwins Begriff der Selektion an der Variabilität in Populationen orientiert und daher keineswegs rassistisch auszulegen.“ (IRRGANG 2001, 61) NEUWEILER (2008, 74) ersetzt die damit verbundenen Kampfmetaphern durch den Begriff Interaktion: Im Gegensatz zu Darwins Kampf ums Dasein beschränkt sich der Begriff Interaktion nicht nur auf die Konkurrenz um Ressourcen, sondern bezieht sich auf die Kooperation und gegenseitige Begünstigung.
NEUWEILER (2008, 213–215) betont zudem, dass die natürliche Selektion für den Menschen längst nicht mehr der einzige Selektionsfaktor ist. Der Mensch ist durch seine außerordentlichen Fähigkeiten in der Lage, sich eigene – von der Natur unabhängige – Nischen zu gestalten. Er ist durch seine offene Lernfähigkeit vom Homo sapiens zum Homo faber geworden. Mit anderen Worten: Die Darwin’sche natürliche Evolution ist nicht mehr allein auf der Welt. Die vom Menschen zu verantwortende kulturelle Evolution prägt heute und in alle Zukunft Mensch und Natur. (NEUWEILER 2008, 210)
nicht mit den Vogeleltern verwandt (NEUWEILER 2008, 69). Dennoch hat sich die Verwandtschaftstheorie grundsätzlich bestätigt. 218 „Es gibt keine Gene außerhalb von Zellen, und wo es sie doch in Form von Viren gibt, müssen sie als Piraten eine Zelle entern, um sich mit deren Hilfe zu vermehren. Die Genumgebung nimmt Einfluss auf das, was Geninstruktionen bewirken.“ (NEUWEILER 2008, 70–71) 219 Die dominierende Meinung der meisten Biologen ist ein interessanter Kompromissvorschlag, den beispielsweise WUKETITS (1988, 73) auf der Grundlage der Synthetischen Evolutionstheorie zitiert. Er sieht, dass die Gene mutieren, die Selektion auf der Ebene des Organismus stattfindet und Arten dadurch evolvieren (vgl. auch HULL 1984, 142). Ein weites Verständnis von Selektion legt allerdings auch nahe, dass auf allen Ebenen selektiert wird, denn bei sexueller Fortpflanzung kann ein Individuum allein keine Nachkommen zeugen (IRRGANG 2001, 79).
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Damit soll nicht unterschlagen werden, dass sich kulturelle Evolution natürlich auch als vorteilhaft für die biologische Evolution erweisen kann. [L]earning, either individual or cultural, is favored over innateness when environments change relatively rapidly, because genes cannot respond to rapid change that occurs within a single biological generation. (MESOUDI 2011, 17)
Die genetische Variation beruht zwar nach Meinung vieler Biologen auf Zufall220, die Selektion ist hingegen in Abhängigkeit von der Passung des Individuums bzw. des Organismus mit seinen Umweltbedingungen bestimmbar. Die Zufälligkeit des Rekombinationsprozesses wird zudem durch die Randbedingungen, wie beispielsweise dem Bauplan des Organismus und seiner evolutionären Geschichte, wie „seiner biotischen und abiotischen Umwelt“ (IRRGANG 2001, 83), eingeschränkt. Evolution ist ein historischer Prozess, der nicht losgelöst von zirkulären Kausalitäten und Selbstorganisationsprozessen beschrieben werden kann (vgl. NEUWEILER 2008, 32–33). Diese kausalen Zusammenhänge sind allerdings so komplex, dass die Wissenschaft weit davon entfernt ist, diese erschöpfend erkennen und beschreiben zu können.221 In diesem Sinne sind die Ausführungen der Evolutionsbiologen in hohem Maße reduktionistisch und naturalistisch, wenn auch der richtige Ansatz, um die Vielfalt und die Diversität des Lebens zu erklären. „The insight that the ways in which genetic and environmental factors interact to ‚produce‘ phenotypes are highly complex and is something we owe to Evolutionary Theory, and which should not be held against it.“ (RITT 2004, 84) Zudem spielt der Phänotyp eines Individuums, der zu einem großen Teil durch die Umwelt mit beeinflusst wird, eine wichtige Rolle bei der sexuellen Selektion, die als einer der wichtigsten Selektionsmechanismen beschrieben wird. Dass der Phänotyp indirekt auf die Gene zurückwirken kann, wird insbesondere von RIEDL / KRALL (1994, 258) betont. Diese Position läuft natürlich Gefahr, dass ihr eine gewisse Nähe zum Lamarckismus unterstellt wird. Lamarckisten gehen davon aus, dass die Veränderungen des Phänotyps eines Individuums zu seinen Lebzeiten durch Umwelteinflüsse direkt vererbt werden können. Die Idee, dass Gene durch die Umwelt formbar seien, wird auch als „weiche Vererbung“ (MAYR 2005, 109) bezeichnet und ist höchst umstritten.222 Heute dominiert ein Ansatz, 220 GOULD (1994, 360) hat in seinen Schriften immer wieder darauf hingewiesen, dass der Mensch ein Zufallsprodukt der Natur ist. NEUWEILER (2008, 78) schränkt den Zufallsgedanken ein, indem er betont, dass sich das Leben, aus der Makroperspektive betrachtet, in Richtung zunehmende Komplexität entwickelt. Wachsende Komplexität bedeutet für ihn ein höheres Maß an Freiheit. NAGEL (2013, 126) nimmt sogar eine teleologische Entwicklung zu vernunftbegabten Wesen durch die Evolution an. Er postuliert, dass die Naturordnung dazu neigt, „Wesen zu erzeugen, die in der Lage sind, sie zu begreifen“. 221 „[W]e might find that the processes which have governed the interaction between lineages and populations of genes and factors in their environment are far too complex to be tractable by humans at all. This is also because the environment of genes is typically constituted by other genes without taking the lineages of many other genes into account as well“ (RITT 2004, 83). 222 Auch DARWIN muss eine gewisse Nähe zum Lamarckismus attestiert werden (VOSS 2008, 44; MAYR 2005a, 109; RIEDL 2003, 62–65).
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deren zentrale Dogmen einen Informationsaustauch vom Phänotyp auf den Genotyp verneinen. LAMARCKS Ideen gelten durch die moderne Genetik und Molekularbiologie als widerlegt (MAYR 2005a, 109).223 Diese Revision, die zweifellos beachtenswerten Fortschritt gebracht hat, wird „Synthetische Evolutionstheorie“ genannt (MAYR 2005b, 61; RIEDL / KRALL 1994, 254–255).224 Diese ist dem NeoDarwinismus verbunden und behauptet im Kern, dass zwar keine weiche Vererbung stattfindet, dafür aber Selektion kausal durch die Milieu- oder Umweltbedingungen erklärbar ist (RIEDL / KRALL 1994, 255).225 Die Synthetische Evolutionstheorie hat zudem eine teleologische Interpretation der Selektion überwunden.226 Scheinbar zielgerichtete Prozesse sind das Ergebnis materialistischer Anpassung, die beispielsweise auf physikalische und chemische Ursachen zurückgeführt werden können. Selbstverständlich ist die natürliche Selektion ein Optimierungsprozess, aber dieser hat kein bestimmtes Ziel, und angesichts der vielen Einschränkungen und der zahlreichen Zufallsereignisse wäre es ziemlich abwegig, ihn teleologisch zu nennen. Auch eine Verbesserung bei einer Anpassung ist kein teleologischer Vorgang, denn ob eine evolutionäre Veränderung einen Beitrag zur Angepasstheit leistet, kann erst im Nachhinein entschieden werden. (MAYR 2005b, 83)
MAYR (2005b, 82) befürwortet ähnlich wie LORENZ (1997, 38) den Begriff der Teleonomie im Sinne der Zweckmäßigkeit. Die Kosmologische Teleologie lehnt MAYR (2005b, 80) grundsätzlich ab.227 Die Synthetische Evolutionstheorie und ihre Dogmen sind allerdings nicht alle unumstritten. Die moderne Epigenetik hat in den letzten 10 Jahren erhebliche 223 Dieses Dogma lässt sich auf die Arbeiten des Biologen FRIEDRICH L. A. WEISMANN (1834– 1914) zurückführen, der als einer der Begründer des Neo-Darwinismus gilt. Das Dogma, das besagt, dass Phäne nicht auf die Keimzellen zurückwirken können, wird auch als WeismannDoktrin bezeichnet. WEISMANN sieht sein Dogma u. a. durch ein Experiment bestätigt, in dem er Mäusen über mehrere Generationen den Schwanz abschnitt, um herauszufinden, ob sich die Schwanzlänge verkleinern würde (RIEDL / KRALL 1994, 250; CZIKO 1995, 18). 224 Als die wichtigsten Vertreter der Synthetischen Evolutionstheorie gelten ERNST MAYR (1904–2005), JULIAN S. HUXLEY (1887–1975), RONALD A. FISHER (1890–1962) und G. G. SIMPSON (1902–1984). Die Synthetische Evolutionstheorie hat verschiedene Ansätze innerhalb der Biologie unter einem theoretischen Framework vereint. 225 ALFRED R. WALLACE (1823–1913) gilt mit seinem Buch „The Darwinism“ (1889) als der Erfinder des Begriffes Darwinismus, der aber zugleich eine Vereinfachung und Verkürzung der tatsächlichen Ansichten DARWINS nach sich zog. DARWIN war zu diesem Zeitpunkt bereits tot und konnte nicht auf die Publikation reagieren. Im Gegensatz zu DARWIN lehnt WALLACE die Idee ab, dass die Selektion auch einem inneren Prinzip folge. WALLACE betont hingegen ausschließlich die Selektion durch Umweltfaktoren (RIEDL 2003, 80–81; RIEDL / KRALL 1994, 250–251). 226 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff Teleologie findet sich bei MAYR (2005b, 59–84). NAGEL (2013, 103) vertritt eine teleologische Position: „Ich glaube jedenfalls, dass es sinnvoll ist, nicht nur die neurophysiologische, sondern auch die evolutionäre Forschung mit einem bestimmten utopischen Langzeitziel im Hinterkopf zu verfolgen“. 227 Die Anpassung ist als Prozess in der Tat schwierig zu interpretieren und ein Hauptproblem in der Konzeption einer Evolutionären Erkenntnistheorie (IRRGANG 2001, 76–92).
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Fortschritte erzielt und behauptet beispielsweise, dass durch die Kultur oder Umwelt erlernte Informationen durchaus vererbt werden können (KEGEL 2009, NEU228 NEUWEILER (2008, 83) definiert Epigenetik als WEILER 2008). vererbbare und nicht vererbbare Mechanismen, die Genexpressionen regulieren, das heißt Gene ein- und ausschalten, wobei die DNA-Sequenzen selbst unangetastet bleiben. Die Epigenetik stellt ein Bindeglied zwischen den Genen der DNA und der zellulären und äußeren Umgebung dar, unter deren Einflüssen bestimmte Gene aktiviert und andere stillgelegt werden.229
Zentral und gegen das Dogma der geschlossenen Systeme kann folgendes Zitat von KEGEL (2009, 171) aufgefasst werden: Es gibt einen zweiten Eingabepfad, und in diesem Fall sitzt nicht die DNA, sondern die Umwelt an der Tastatur. Es gibt die Möglichkeit, das innere Programm mit der Außenwelt abzugleichen, innerhalb gewisser Grenzen zu reagieren, zu modifizieren, mitunter sogar radikal umzugestalten, ohne auf einen Geniestreich der Evolution warten zu müssen oder die Sequenz der DNA anzutasten. Organismen entstehen nicht nur aus sich selbst heraus. Signale der Umwelt sind natürlicher und notwendiger Bestandteil ihrer Entwicklung.
Für eine Aufwertung der kulturellen und sozialen Faktoren für die Vererbung durch die Epigenetik plädiert auch WEIGEL (2010, 106–107): Insofern dabei nicht nur die molekular-biologische Dimension, sondern auch die äußere Umgebung im Blick ist, sind die epigenetischen Prozesse als Eintrittstor für die Umwelt in den Organismus und damit für die Bedeutung kultureller und sozialer Faktoren in der Evolution zu betrachten.
Einen vertieften aber verständlichen Einblick in die epigenetischen Mechanismen wie Genaktivierung, Genstilllegung und Reorganisation bieten die Ausführungen von KEGEL (2009) und NEUWEILER (2008, 83–95). Die Epigenetik erlaubt beispielsweise Erklärungen, warum in Stresssituationen, die durch die Umwelt bedingt sind, sogenannte Transposone, das sind frei bewegliche DNA-Pakete, akti 228 In diesem Zusammenhang muss auch der Baldwin-Effekt genannt werden, der auf den Psychologen und Philosophen JAMES M. BALDWIN (1861–1934) zurückgeht und von SIMPSON (1953, 110) geprägt wurde. Der Baldwin-Effekt ist ein evolutionärer Mechanismus, bei dem durch Lernprozesse erworbene Merkmale durch natürliche Selektion über mehrere Generationen befördert werden und so indirekt auf die Gene zurückwirken. Im Gegensatz zum Lamarckismus geht BALDWIN nicht davon aus, dass erlernte Eigenschaften sich direkt auf die Gene auswirken können. Das erlernte Verhalten kann die Bedingungen dergestalt verändern, dass die Merkmale von der Selektion begünstigt werden, die das erlernte Verhalten besonders unterstützen. BLACKMORE (2000, 194) nennt als Beispiel „salamanderartige“ Wesen, die lernen, ihre Beute springend zu fangen. Die Selektion bevorzugt nun diejenigen Individuen mit starken Beinmuskeln, die dann wiederum ihre guten Anlagen für kräftige Beine vererben können. 229 WEIGEL (2010, 105) zieht aus dieser Definition die folgende Schlussfolgerung: „Das Medium der Vererbung solcher Mechanismen wäre damit jenseits der DNA-Sequenzen zu suchen“. Zur Definition des Begriffes Epigentik vgl. auch JABLONKA / RAZ (2009, 132). WEIGEL (2010, 117–122) zeigt außerdem, wie sich der Begriff der Epigenetik vom 18. Jh. bis heute verändert hat.
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viert werden und so Mutationen hervorrufen. Diese Mutationen werden auf ihre Angepasstheit hin selektiert. Bei plötzlichen Änderungen der Umweltbedingungen wird so die evolutionäre Entwicklung von Arten unterstützt. Die Transposone wurden in der Genetik lange für überflüssige „Landstreicher“ gehalten. Die moderne Epigenetik kann jedoch belegen, dass diese Transposone eine wichtige Quelle evolutionärer Innovationen sind, die durch Umweltbedingungen befördert werden. NEUWEILER (2008, 86) schätzt, dass sich im menschlichen Genom zehntausend Transposone befinden, die zum Teil wichtige genregulatorische Aufgaben übernehmen. Epigenetische Mechanismen können mittlerweile gut experimentell getestet werden. Dabei können besonders zwei Mechanismen als vererbbare Anpassung an die Umweltbedingungen identifiziert werden. Zum einen kann sich die Mutationshäufigkeit in den Gengruppen steigern, die von den Umweltveränderungen betroffen sind. So erhöht sich die Möglichkeit, dass Mutationen entstehen, die besser an die neuen Umweltbedingungen angepasst sind. Zum anderen können stillgelegte Gene aktiviert werden, die als neue Genkombinationen eine bessere Anpassung an die Umwelt versprechen. Entscheidend ist dabei, dass diese Mechanismen nicht zwingend der Weismann-Doktrin (engl. Weismann’s barrier) widersprechen und somit dem Vorwurf des Lamarckismus entgehen.230 Die Mutationen bleiben im Grunde zufällig und der Informationsfluss vom Protein zum Gen bleibt verwehrt, wenn auch ein Austausch von Informationen zumindest zwischen RNA-Molekülen und Genen angenommen werden muss (NEUWEILER 2008, 88). Die Forschungen zur Epigenetik stecken zwar noch in den Kinderschuhen, es mangelt aber nicht an Beispielen für die Funktionsweise epigenetischer Mechanismen (NEUWEILER 2008, 89–90). So hat man nachweisen können, dass die Ernährung „das Muster aktiver und stillgelegter Gene“ (NEUWEILER 2008, 90) verändern kann. Daher erlebt die epigenetische Forschung aktuell einen großen Aufschwung in der Krebsforschung. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass einige Krebsarten durch äußere Einflüsse wie Umweltbelastung und Ernährung verursacht werden, die nicht zuletzt epigenetische Veränderungen sind. Die Forschungen zur Epigenetik haben erst in den letzten Jahren ein Umdenken in der Evolutionsbiologie eingeleitet.231 Umweltfaktoren und die Interaktion zwischen Genen und Umwelt rücken wieder verstärkt in den Fokus. Das Epige 230 Aufschlussreich erscheint folgende Anmerkung von NEUWEILER (2008, 87): „Außerdem haftet der Epigenetik der Hautgout des Lamarckismus an, der Vererbung erworbener Eigenschaften, ein Dunstkreis, der für den Ruf eines Biologen auch heute noch tödlich ist“. 231 Der Physik-Nobelpreisträger GELL-MANN (1994, 118) hält beispielsweise an der Auffassung fest, dass genetische Variation wesentlich durch den Zufall bestimmt ist. Er scheint epigenetische Forschung allerdings schon wahrgenommen zu haben, wie ein geklammerter Kommentar zeigt, der die Bedeutung der Epigenetik aber noch deutlich unterschätzt. „(Es gibt Hinweise dafür, daß es mitunter infolge neuer Bedürfnisse zu genetischen Mutationen kommt. Sollte es dieses Phänomen wirklich geben, spielt es allerdings im Vergleich zu Zufallsmutationen eine unbedeutende Rolle.)“ Epigenetische Erkenntnisse sind allerdings gut mit GELL-MANNS Idee der komplexen adaptiven Systeme vereinbar (vgl. Kap. 3.2).
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nom ist durch Umweltfaktoren beeinflussbar und trägt zum evolutionären Wandel mehr bei „als die erfreulicherweise seltenen, da meist schädlichen Zufallsmutationen im Genom“ (NEUWEILER 2008, 92). Vererbung muss deshalb wohl als ein Wechselspiel aus genetischer und epigenetischer Vererbung betrachtet werden. NEUWEILER (2008, 94) weist in diesem Zusammenhang aber zu Recht darauf hin, dass Anpassung nicht nur aus einer Richtung gesehen werden darf. Anpassung bedeutet, dass komplexe Wechselwirkungen zwischen Systemen und Systemumwelten stattfinden. Dabei sind sowohl die Strukturbedingungen und -prozesse von innen (aus den Systemprozessen heraus) als auch von außen (der Umwelt) zu beachten. Es ist „eben nicht alles nur ‚Zufall und Notwendigkeit‘, vielmehr sorgen epigenetische Wege zu den Genen dafür, dass aus blindem Zufall eine adaptive Antwort auf aktuelle Lebensanforderungen werden kann“ (NEUWEILER 2008, 94). Wichtige Evidenzen gegen eine Vereinfachung durch die Synthetische Evolutionstheorie kommen auch aus dem Versuch, eine Systemtheorie der Evolution zu entwickeln, die den Einfluss und die Dogmen der molekularen Genetik abmildern möchte, ohne zu behaupten, dass tatsächlich ein Informationsaustausch „vom Phänotyp der Eltern zum Genotyp der Nachkommen“ stattfindet (RIEDL / KRALL 1994, 257).232 Dennoch, und dies ist das zentrale Argument, wird „die genotypische Evolution über ihre Konsequenzen für den Phänotyp gesteuert“ (RIEDL / KRALL 1994, 259). Aus dieser Erkenntnis ergibt sich allerdings die Frage, „wie sich die Muster genetisch erzeugter phänotypischer Variation als Resultat der Evolution ändern können“ (RIEDL / KRALL 1994, 260), wenn Selektion nicht ausschließlich auf die Milieubedingungen zurückgeführt werden kann. Eine Antwort wäre, die Möglichkeit von Rekursivität zwischen Phän- und Geninteraktionen anzunehmen, die in systemtheoretischer Tradition auf statistischen Prinzipien beruhen und nicht ausschließlich auf der chemischen Codierung basieren (RIEDL / KRALL 1994, 261): Die evolutionäre Anpassung der Geninteraktionen an die funktionalen Interdependenzen zwischen phänotypischen Eigenschaften beruht damit auf demselben statistischen Prinzip wie die Anpassung des Genotyps an funktionale Anforderungen für den Phänotyp. Sie wird ebenso wie letztere durch die Wechselwirkung zwischen Mechanismen der genetischen Erzeugung von Variation und Selektion induziert.
Der evolutionäre Vorteil für imitatorische Epigenotypen liegt darin, dass die Freiheitsgrade der phänotypischen Variation, die auch durch Umwelteinflüsse bedingt sind, weitergegeben werden, weil sie aus den genetisch determinierten Mechanismen der Umsetzung genetischer in phänotypische Variation in der Ontogenese resultieren, und daraus, daß imitatorische Epigenotypen wegen der höheren Anpassungsgeschwindigkeit tendenziell in reproduktiv überdurchschnittlich erfolgreichen Individuen zu finden sind. (RIEDL / KRALL 1994, 261)
232 Die S y s t e m t h e o r i e d e r E v o l u t i o n hat erkenntnistheoretische Implikationen, die mit denen der Evolutionären Erkenntnistheorie übereinstimmen. RIEDL (2003) spricht von einer Systemtheorie des Erkennens.
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In diesem Fall kann auch nicht von einem lamarckistischen Prinzip gesprochen werden, weil die grundlegenden Vorgaben für die ontogenetische Entwicklung nicht durch individuell erworbene Charakteristika durch Umwelteinflüsse auf die Nachkommen vererbt werden. Der Phänotyp ist allerdings „das Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Genotyp und Umwelt während der Entwicklung“ (MAYR 2005, 118). Wie hoch der Anteil ist, den die Umwelt tatsächlich ausübt, ist allerdings umstritten.233 Dass bereits hier komplizierte Wechselwirkungen vorliegen, ist einer der Gründe, warum Selektionen und letztlich die Evolution nicht vorausgesagt werden können. Die Entstehung von Variationen ist von genetischer Seite sicher von Zufallsprozessen begleitet. Der Zufall muss aber durch die epigenetische Forschung relativiert werden. Die natürliche Selektion wird indes von MAYR (2005, 153) als komplizierter und rekursiver Kausalprozess beschrieben. Evolution ist, kurz gesagt, wegen des zweistufigen Vorgangs der natürlichen Selektion die Folge sowohl von Zufall wie von Notwendigkeit. Sie enthält tatsächlich ein starkes Zufallselement, insbesondere was die Entstehung der genetischen Variation angeht, aber ihr zweiter Schritt, ob man ihn nun Selektion oder Beseitigung nennt, ist das Gegenteil von Zufall.
Dieses Denken und die Betonung von Variation und Selektion waren aber auch in der Biologie nicht selbstverständlich. Auch das Verständnis von Evolution ist gelegentlich bestimmten Variationen unterlegen. Verschiedene Ausprägungen der Evolutionstheorie sind beispielsweise von verschiedenen Artbegriffen ausgegangen. „Herkömmlicherweise wurde eine Gruppe natürlicher Objekte, ob belebt oder unbelebt, als Art bezeichnet, wenn sie sich von einer anderen, ähnlichen Klasse ausreichend stark unterschied.“ (MAYR 2005, 206) Die Unterschiede können dieser Auffassung zur Folge an divergierenden Merkmalen festgestellt werden. Dieser Artbegriff wird als typologischer Artbegriff bezeichnet. Er dominierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Forschungsergebnisse der jüngeren Vergangenheit in der Biologie haben allerdings gezeigt, dass Arten nicht ausreichend durch typologische Merkmale bestimmt werden können. Aus der Biologie sind Beispiele unterschiedlicher Arten bekannt, die erstaunliche taxonomische Ähnlichkeiten aufweisen, aber keinen Nachwuchs zeugen können.234 Andersherum gibt es Individuen einer Art, die sich äußerlich von anderen Vertretern dieser Art erheblich unterscheiden, aber doch paaren können (MAYR 2005a, 207). Es ist daher besser, davon zu sprechen, dass Arten keine Typen darstellen, „sondern Populationen oder Gruppen von Populationen“ (MAYR 2005, 206) sind. Das entscheidende Kriterium, ob Populationen zu derselben Art gezählt werden können, macht MAYR (2005a, 207) an der Fortpflanzungsfähigkeit der jeweiligen Individuen fest: „Eine Art ist eine Gruppe natürlicher Populationen, die sich untereinander kreuzen können und von anderen 233 MESOUDI (2011, 14) schätzt, dass der Anteil der kulturellen Prägung innerhalb einer Gesellschaft zu 50–60 % das menschliche Verhalten als wichtigen Teil des Phänotyps bestimmt. 234 In diesen Fällen wird von sympatrischen Populationen oder Geschwisterarten gesprochen (MAYR 2005a, 206).
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Gruppen reproduktiv isoliert sind“. Diese Definition entspricht dem biologischen Artbegriff, der zunächst allerdings auf die sexuelle Fortpflanzung bezogen ist. Lebewesen können sich aber auch anders reproduzieren als durch sexuelle Fortpflanzung. Die Vermehrung vieler Pflanzenarten ist dafür ein gutes Beispiel. CROFT (2000, 230) betont deshalb insbesondere die Ähnlichkeiten zwischen einem sprachlichen Evolutionskonzept und der Entwicklung von Pflanzen, die sich in der Regel nicht sexuell reproduzieren. Pflanzen benutzen allerdings keine Sprache im eigentlichen Sinne. Über ein Zeichensystem wie die Sprache verfügt lediglich der Mensch. Mit diesem Argument grenzt sich der Mensch u. a. von den Tieren ab. Die nahe Verwandtschaft des Menschen zu den Menschenaffen und anderen Säugetieren wird auch in Hinblick auf aktuelle tierethische Diskussionen immer wieder herausgestellt (NAKOTT 2012; SINGER 2004, 3–4). Bisweilen wurde sogar behauptet, Affen könnten die menschliche Sprache lernen. Bis heute ist aber jeglicher Beweis dafür schuldig geblieben (TENNIE / CALL / TOMASELLO 2012; GIBSON 2012, 130; FITCH 2010, 166–168; BLACKMORE 2000, 153). Affen, wie das Beispiel Kanzi235 zeigt, können sprachliche Zeichen bis zu einem gewissen Grad verstehen, das tatsächliche Sprechen bleibt ihnen allerdings verwehrt (FITCH 2010, 167–168).236 Kein einziger Menschenaffe, ob jung oder alt, hat je gelernt, ein einziges Wort zu sprechen. Nicht mangelndes Verständnis, sondern das Nicht-sprechen-Können hat verhindert, dass so etwas wie Sprache als Kommunikationsmittel in Menschenaffengesellschaften benutzt werden konnte. (NEUWEILER 2008, 174)
Der Mensch zeichnet sich gegenüber den Affen dadurch aus, dass er über bessere Fähigkeiten und Techniken zum kulturellen Lernen verfügt (MESOUDI 2011, xii; TOMASELLO 2006). Auf neuronaler Ebene bestehen neben vielen Gemeinsamkeiten vor allem quantitative Unterschiede zwischen einigen Menschenaffen und dem Menschen. So ist beispielsweise das wichtige Neocortexvolumen des Menschen viermal größer als beim Schimpansen (NEUWEILER 2008, 112). Die besonderen Leistungen des Menschen lassen sich insbesondere mit den Fähigkeiten unseres Gehirns begründen. Zunächst ist aber kurz zu schildern, dass auch der Mensch ein Produkt der biologischen Evolution ist, auf deren Grundlage sich so etwas wie kulturelle Evolution herausbilden konnte.
235 Kanzi ist ein Bonobo-Affe, der in jungem Alter durch Beobachtung der Experimente mit seiner Stiefmutter erstaunliche Fähigkeiten beim Sprachverstehen erworben hatte. „Ohne das Einüben durch Trainer und ohne Belehrung zeigt Kanzi, dass er abstrakte Symbole und Grammatik der englischen Sprache verstehen und anwenden kann, eine Fähigkeit, die man eigentlich nur dem Menschen zuspricht.“ (NEUWEILER 2008, 173) 236 Anders verhält es sich bei bestimmten Vogelarten, die durchaus in der Lage sind, menschliche Lautsprache zu imitieren (FITCH / HAUSER / CHOMSKY 2005, 205).
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3.1.2 Der Mensch als Produkt der Evolution Heute gilt es in wissenschaftlichen Kreisen als unumstritten, dass auch der Mensch ein Produkt der Evolution ist. DARWIN hat die Idee popularisiert, dass der Mensch nahe Verwandte im Tierreich hätte und vom Affen abstamme. Insbesondere die Paläoanthropologie und die Genetik sind seitdem daran interessiert, die Abstammungsgeschichte des Menschen zu rekonstruieren. Zwischen der Entwicklung vom Einzeller zum komplexen System eines Säugetiers liegen etliche Milliarden Jahre. Obwohl wir heute ca. 1,5 Millionen Arten kennen (GANTEN / SPAHL / DEICHMANN 2009, 39), können bei den Organismen immer die gleichen Grundmechanismen beobachtet werden. Daraus wird geschlossen, dass alle Arten einen gemeinsamen Vorfahren haben. Die ersten Lebewesen waren vermutlich Einzeller, die vor ca. 4,5 Milliarden Jahren in Folge von chemischen Reaktionen entstanden (GANTEN / SPAHL / DEICHMANN 2009, 39). Die Entwicklung von Einzellern bis hin zu komplexen Lebensformen kann bei GANTEN / SPAHL / DEICHMANN (2009, 38–64) nachvollzogen werden. Wasser gilt gemeinhin als eine Grundvoraussetzung für die Entstehung von Leben und auch der Mensch verdankt seine Existenz dem Wasser. „Alle Wirbeltiere waren ursprünglich Wasserbewohner. Sie traten vor etwa 450 Millionen Jahren erstmals in Erscheinung.“ (GANTEN / SPAHL / DEICHMANN 2009, 43) Aus den Flossen der Fische entstanden viele Millionen Jahre später unsere Arme und Beine. Man braucht nur das frühe Wachstum eines noch wenige Millimeter großen menschlichen Embryos zu beobachten, um die Verwandtschaft von Mensch und Fisch zu erkennen. (GANTEN / SPAHL / DEICHMANN 2009, 44)
Insbesondere während der Ontogenese im Mutterleib zeigt sich, dass unsere biologischen Anlagen Abwandlungen von Prinzipien aus der Urzeit sind.237 Der Mensch zählt zur Spezies der Primaten. Diese ist verhältnismäßig jung und kann etwa mit einem Alter von 80 Millionen Jahren bestimmt werden. Primaten zeichnen sich durch einen nach vorne gerichteten Blick aus, können dreidimensional sehen, haben ein verhältnismäßig großes Gehirn und leben in Gruppen, in denen sich so etwas wie eine Sozialordnung herausbildet. Die Bedeutung der Sozialität 237 Der Zoologe ERNST HAECKEL (1834–1919) vertrat die Idee, dass das „organische Individuum […] während des raschen und kurzen Laufes seiner individuellen Entwicklung die wichtigsten von denjenigen Formveränderungen, welche seine Voreltern während des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwicklung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben“ (HAECKEL 1916, 10), wiederholt. HAECKEL selbst schränkte zwar ein, dass die Wiederholung der Stammesgeschichte niemals ganz vollständig sei, dennoch wurde seine Grundidee oft kritisiert. HAECKELS Biogenetisches Grundgesetz gilt beispielsweise nicht für die kognitiven Fähigkeiten von Lebewesen. STORCH / WELSCH / WINK (2007, 28) geben folgende Einschätzung: „Obwohl man an fast jeder Einzelformulierung von HAECKELS Biogenetischem Grundgesetz Kritik üben kann, bleibt es im Kern gültig. HAECKEL ging es um die Beziehung von Phylogenie und Ontogenie, und es ist unbestritten, dass die Embryonalentwicklung die Evolution der Vorfahren widerspiegelt“.
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für die Entwicklung des Menschen wird insbesondere von DUNCKER (2011, 19) betont. Erste Vertreter der Hominini, aus denen der Mensch hervorgegangen ist, erschienen vor ca. 10 bis 11 Millionen Jahren (GANTEN / SPAHL / DEICHMANN 2009, 55).238 Ihr Vorteil war der aufrechte Gang und ein größeres und differenzierteres Gehirn. Diese Entwicklungen wurden vermutlich durch veränderte und differenzierte Umwelten hervorgerufen bzw. mit beeinflusst. Die Gattung Homo entwickelte sich vor rund 2,5 Millionen Jahren. Homo rudolfensis hatte beispielsweise ein größeres Gehirn und konnte bereits einfache Werkzeuge benutzen. Etwa gleichzeitig ist der Homo habilis in Ostafrika anzutreffen (DUNCKER 2011, 17). Der aufrechte Gang kann sogar als eine Bedingung für Intelligenz betrachtet werden. Die für die Zweibeinigkeit nötige Ausdifferenzierung des Gleichgewichtssinns im Hirn zum Beispiel dürfte unmittelbar mit der Entwicklung der neuen motorischen Fähigkeiten einhergegangen sein. Außerdem wurden durch den aufrechten Gang die Arme und Hände frei und zu wichtigen Greifinstrumenten. Dem Gebrauch von Werkzeugen […] stand nichts mehr im Wege. Hand und Gehirn haben sich praktisch gegenseitig in ihrer Entwicklung angefeuert. (GANTEN / SPAHL / DEICHMANN 2009, 59)
Ein großer Vorteil des Homo habilis war sein großes Gehirnvolumen mit ca. 800 Kubikzentimetern. Diese Entwicklung verlangte allerdings einen größeren Schädel, was wiederum bedeutete, dass die Nachkommen früher geboren werden mussten, was gleichzeitig ein großer Vor- und Nachteil sein kann. Zum einen musste die weitere Reifung in direkter Interaktion mit der Umwelt erfolgen, was ein erhöhtes Schutz- und Fürsorgeaufkommen durch die Eltern und die Gruppe erforderte. Zum anderen waren die Kinder dadurch aber intensiveren sozialen Lernprozessen ausgesetzt. Auf den Homo habilis folgte der Homo erectus mit seinen Unterformen Homo ergaster und Homo heidelbergensis. Vor ca. 800.000 Jahren muss der Übergang zum Homo sapiens stattgefunden haben, aus dem sich wiederum der moderne Mensch und der Neandertaler vor ca. 400.000 bis 200.000 Jahren entwickelten. Zwischen diesen beiden Arten der Gattung Homo lassen sich allerdings auffällige Unterschiede im Körperbau und der Gehirngröße feststellen.239 Die Neandertaler waren kräftiger gebaut und besaßen einen flacheren und längeren Schädel mit ausgeprägten Oberaugenwülsten. Nach Rekonstruktionen wies ihr Gehirn ein etwas grö-
238 DUNCKER (2011, 16–17) geht davon aus, dass sich die Vorgänger der Arten der Gattung Homo vor ca. 8 Millionen Jahren von der Entwicklungslinie abgespalten haben, zu denen die Schimpansen und Gorillas gehören. Als weiteres wichtiges Bindeglied nennt er die Gattung Ardipithecus mit der Art „Ard. ramidus […], deren Vertreter vor 4,4 Millionen Jahren lebten“. Aus dieser Art geht für DUNCKER dann vor 2,5 Millionen Jahren der Homo habilis als „erste Homo-Art“ hervor. 239 Die Abstammungslinien des modernen Menschen und des Neandertalers haben sich vermutlich ca. vor 400.000 Jahren getrennt, bevor ca. vor 100.000 Jahren wieder ein Kontakt bestand (DEDIU / LEVINSON 2013, 3). Der robustere Körperbau des Neandertalers wird u. a. als Anpassung an die Eiszeiten in Europa zurückgeführt.
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess ßeres Volumen als das des modernen Menschen auf, jedoch besaß ihr Frontalhirn eine etwas geringere Größe und Höhe als das der modernen Menschen. (DUNCKER 2011, 17)
Obwohl ein Austausch zwischen den Neandertalern und den modernen Menschen vermutet wird, ist das Aussterben des Neandertalers vor ca. 35.000 bis 30.000 Jahren rätselhaft und löst verschiedene Spekulationen aus. Beide verfügten über sprachliche Kommunikation, wenn auch der Kehlkopf beim Neandertaler noch nicht abgesenkt war und die Bildung eines komplexen Vokalinventars bei ihm beschränkt geblieben sein musste (DUNCKER 2011, 17).240 Zu den biologischen Vorteilen, die der moderne Mensch im Laufe der Evolution erworben hat, zählt insbesondere sein großes Gehirn, das auf neuronaler Basis241 arbeitet und zu erstaunlichen Leistungen fähig ist. Ca. einen Monat vor der Geburt verfügt der Embryo bereits über ein ähnlich großes Gehirn wie ein ausgewachsener Schimpanse. Ein ausgewachsenes Gehirn des Menschen verfügt über ca. 1013 Neuronen mit 1017 Synapsen. NEUWEILER (2008, 100) bezeichnet die Synapsen als „die eigentlichen Arbeitsstätten des Gehirns“. Informationen bzw. Potentiale werden hier verstärkt, abgeschwächt oder verändert. Durch die Transmitterstoffe wird die Aktivität der Synapsen in einen Gesamtzusammenhang mit dem allgemeinen Körperzustand gestellt. Ändert sich der Zustand können sich auch die Synapsen ändern. Sie sind „daher keine lebenslang festgelegten Strukturen, sondern je nach Verhaltenskontext und vorausgegangener Erfahrung adaptiv wandelbar“ (NEUWEILER 2008, 101).242 Synapsen verfügen über eine enorme Plastizität. Jede besitzt „ein individuelles Leistungsprofil, das wie unsere persönlichen Gesichtszüge nicht nur ausdrückt, was wir von unseren Müttern und Vätern ererbt, sondern auch was wir in unserer bisherigen Biographie erlebt haben“ (NEUWEILER 2008, 105). Für die Lernfähigkeit des Organismus ist nun entscheidend, dass die Neuronen grundsätzlich bestrebt sind, einen Gleichgewichtszustand zu erhalten. Wird also ein bestimmtes Erregungspotential überschritten, wird die Empfindlichkeit der Synapsen verringert oder abgeschaltet. Ist das Erregungspotential zu gering, wird die Sensibilität der Synapsen erhöht. Wiederholen sich bestimmte Erregungsmuster, können sich die Synapsen längerfristig ändern. „Diese bleiben-
240 Nachdem Ergebnisse der Paläogenetik vermuten ließen, dass der Neandertaler ausgestorben sei, weil er nicht wie der moderne Mensch über das sogenannte Sprachgen FOXP2 verfügt haben könne, weisen neuere Gentests FOXP2 nun doch beim Neandertaler nach (KRAUSE et al. 2007, 1911), wenn auch leichte Unterschiede bestehen (DEDIU / LEVINSON 2013, 4). Damit ist die Sprachfähigkeit des Neandertalers allerdings noch nicht bewiesen (vgl. HAGELBERG 2013, 321). DEDIU / LEVINSON (2013, 7) weisen allerdings darauf hin, dass sogar der Homo heidelbergensis schon über Artikulation verfügt haben könnte. 241 Neuronen sind Zellen, die sich auf die Informationsverarbeitung und Informationsweiterleitung spezialisiert haben. Die Information besteht in der elektrischen Potentialänderung der Zelle. Die Neuronen sind untereinander durch die Axone vernetzt. Die Potentialänderung wird durch chemische Substanzen, Transmitter, weitergegeben, die Ionenkanäle in den Neuronenmembranen öffnen und schließen. 242 Zur detaillierten Funktionsweise von Prä- und Postsynapsen vgl. NEUWEILER (2008, 100–107).
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den Veränderungen der Synapsenfunktionen sind die Grundlage des Gedächtnisses und des Lernens.“ (NEUWEILER 2008, 106) Die Synapsen bilden zusammen mit den Neuronen sogenannte Neuronennetzwerke, die prinzipiell alle in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Diese Netzwerke sind einerseits bis zu einem gewissen Grad genetisch determiniert, andererseits besteht aber auch Potential für selbstorganisierende Prozesse. Das Gehirn besteht aus vielen dieser Netzwerke, die wiederum über Unternetzwerke verfügen, die Aufgaben des Obernetzwerkes erfüllen. Visuelle Wahrnehmungen werden beispielsweise zunächst in separaten Netzwerken analysiert. Es gibt ein Analysenetzwerk für die Farbe, ein anderes für die Formen, ein drittes für Bewegungen und ein viertes, das speziell den Bildfluss bei Eigenbewegungen analysiert oder bei Bewegungen, die auf den eigenen Körper zielen. (NEUWEILER 2008, 106)
Der Mensch verfügt über eine einheitliche Wahrnehmung, weil die Netzwerke parallel arbeiten und durch assoziative Netzwerke miteinander verbunden sind. NEUWEILER (2008, 107) hebt insbesondere den Netzwerkcharakter des Gehirns hervor: „Wenn man vom Gehirn spricht, sollte man nur in neuronalen Netzwerken denken, denn es gibt keine isolierten Neurone“. Aus der Perspektive der CDST sind sowohl die Neuronennetzwerke, als auch der Mensch sowie seine Gesellschaftsformen komplexe adaptive Systeme, die in Wechselwirkungen mit ihrer Umwelt stehen (Kap. 2.4.1). Zu den Besonderheiten der Reifung des Gehirns gehört das Wachstum des Großhirns im letzten Schwangerschaftsstadium, wobei das menschliche Kleinhirn im Gegensatz zu dem eines Affen weniger stark ausgebildet ist. Das hat zur Folge, dass die Motorik des menschlichen Säuglings Fortbewegung erst nach ca. sechs bis neun Monaten zulässt und die Klammerreflexe weitestgehend abgebaut sind. Ein Affenjunges kann sich hingegen schon bald nach der Geburt an seiner Mutter festklammern und entwickelt die Fähigkeiten des Sitzens, Kletterns und Laufens viel früher. Der Säugling ist indessen noch lange ein sogenannter Tragling (DUNCKER 2011, 19). Dieser Umstand wird insbesondere für die Entwicklung des menschlichen Sozialverhaltens hervorgehoben, das so u. a. auch biologisch erklärt werden kann. Die Entwicklung dieser gegenüber allen Tieren exponentiell gesteigerten Soziabilität stellt eine biologische Kompensation des Verlustes dar, den die Menschen in ihrer Evolution durch das Verlassen ihres angestammten Lebensraumes des tropischen Regenwaldes erlitten, wodurch sie die für ein solches Leben funktionell ausgerichteten Verhaltens- und Ernährungsgewohnheiten aufgeben mussten. Die durch die Traglingsphase eingeleitete Entwicklung ihrer hohen Soziabilität wird entscheidend gefördert durch die langzeitigen intimen und liebevollen Körperkontakte im natürlichen Umgang einer Mutter mit ihrem Säugling, aus dem intensive Gefühle entstehen. (DUNCKER 2011, 19–20)
Diese besondere Soziabilität des Menschen führt DUNCKER (2011, 20–23) auch auf die Entwicklung und Größenzunahme der Großhirnrinde zurück. Diese ist beim Menschen viermal größer als beim Schimpansen. Insbesondere die tertiären Assoziationsareale haben sich in der menschlichen Evolution neu herausgebildet. Sie nehmen ca. die Hälfte der Großhirnrinde ein und können bis zum Abschluss
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der Pubertät funktional ausdifferenziert werden. Die Großhirnrinde ist „bei der Geburt erst am Anfang ihrer funktionellen Ausdifferenzierung“ (DUNCKER 2011, 22). Auch die Entwicklung der qualitativen Wahrnehmungsverarbeitung ist nur bedingt genetisch determiniert. Diese wird insbesondere in der Kindheit und der Pubertät durch soziale Lernmechanismen ausgeprägt. Nur die generellen neurobiologischen Verarbeitungsmechanismen der verschiedenen Kortexareale wurden in der ontogenetischen Entstehung durch genetische Entwicklungsprogramme festgelegt, während alle mit ihnen erzielten qualitativen Wahrnehmungsverarbeitungen, Denkprozesse und Handlungsplanungen ausschließlich von den speziellen sozialen, kulturellen und natürlichen Gegebenheiten bestimmt werden, unter denen sie aufgenommen und verarbeitet wurden. So können sie alle zukünftigen Wahrnehmungen bereits erfahrungsgeleitet vornehmen, um die darauf aufbauenden Handlungsplanungen zu verbessern und die daraus zu ziehenden Einsichten weiter differenzieren zu können. (DUNCKER 2011, 23)
Durch die biologische Entwicklung der tertiären Assoziationsareale und deren funktionellen Ausgestaltungsmöglichkeiten in der Kindheit ist der Mensch zu besonderen Lernleistungen in der Lage, die „bei Tieren nicht einmal im Ansatz vorhanden“ (DUNCKER 2011, 25) sind. Diese Voraussetzungen sind ein wichtiger Baustein der kulturellen Evolution des Menschen, die sich vor ca. 50.000 bis 40.000 Jahren deutlich beschleunigt haben dürfte. An diese Entwicklung ist auch die Sprachfähigkeit des Menschen geknüpft. Die Vergrößerung der Großhirnrinde, welche die Sprach- und Kulturentwicklung der Menschen ermöglichte, erfolgte durch die schrittweise Ausbildung ihrer tertiären Assoziationsareale, die stets von den sich ebenfalls vergrößernden sekundären Assoziationsarealen ausging, die den primären sensorischen Arealen der Körperfühlsphäre, der Sehrinde und der Hörrinde direkt angelagert sind, sowie von der ursprünglichen prämotorischen Rinde, die der primären motorischen Rinde vorgelagert ist. (DUNCKER 2011, 26)
Im Folgenden wird diskutiert, wie die Evolution der Sprachfähigkeit abgelaufen sein könnte. Vieles spricht dafür, dass diese stark mit der Evolution des Gehirns verknüpft war. 3.1.2.1 Die Evolution der Sprachfähigkeit Die Entwicklung der Sprachfähigkeit muss in Kontexten intensiver Wechselwirkungen gesehen werden. Insbesondere die neurobiologische Entwicklung des Gehirns und die Evolution der Sprachfähigkeit hängen eng zusammen. Die neurobiologischen Grundlagen werden eingehend von DUNCKER (2011, 25–40) und NEUWEILER (2008, 97–142) dargestellt. Die Entwicklung der Größe des Gehirns und insbesondere der tertiären Assoziationsareale der Großhirnrinde hatten einen Einfluss auf die Herausbildung der Sprache und umgekehrt. Wir können nicht sagen, ob das größere Gehirn allmählich Sprache ermöglichte, oder ob der Beginn der Sprachentwicklung allmählich eine Zunahme der Gehirngröße erzwang. Alles, was wir wissen, ist, dass sich beide gemeinsam entwickelt haben. (BLACKMORE 2000, 157)
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Als Grundlage der Sprachentwicklung dienten wohl komplexe Zeigegesten und das Gebärdenspiel, wie es auch bei Menschenaffen zu beobachten ist (TOMASELLO 2011, 347–349; RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 161; NEUWEILER 2008, 171).243 Gesten werden von Menschenaffen hauptsächlich verwendet, um die Aufmerksamkeit eines Mitglieds der Gemeinschaft bewusst zu lenken. Aus diesen Gesten und Gebärden entwickelte sich im Laufe der Zeit eine komplexe stimmliche Sprache.244 Die Zeitspanne, in der sich unsere spezifischen Sprachfähigkeiten herausgebildet haben müssten, kann bis heute allerdings nur sehr ungenau bestimmt werden. STORCH / WELSCH / WINK (2007, 434) sehen drei relevante Kriterien zur Bestimmung des Zeitpunktes der Entwicklung der Sprachfähigkeit.245 Ein entscheidender Schritt war die Herausbildung des menschlichen Vokaltraktes. Eine zeitliche Bestimmung durch archäologische Funde ist kaum möglich, da die Weichteile des stimmbildenden Organs nicht erhalten sind. Ein weiterer Hinweis ist die Entwicklung und Differenzierung des Gehirns. Leider kann auch hier nichts Genaues gesagt werden, da es kein morphologisches Merkmal des Gehirns gibt, mit dem sicher auf Sprachfähigkeit geschlossen werden kann. Dem Menschen vergleichbare Gehirnvolumina von 1400 Kubikzentimetern haben sich wohl erst vor 130.000 Jahren herausgebildet. Diese Entwicklung setzte vermutlich beim Homo habilis vor 2 Millionen Jahren ein (STORCH / WELSCH / WINK 2007, 435; CAVALLISFORZA 1999, 188). „Wir können lediglich sagen: Je ähnlicher ein Gehirn dem des rezenten Menschen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sprachfähig ist.“ (STORCH / WELSCH / WINK 2007, 435) Der dritte Punkt bringt Sprache und kulturelle Leistungen in einen Zusammenhang. Die Herausbildung der Sprache kann aber auch unter diesem Gesichtspunkt zeitlich nur sehr grob eingeordnet werden. Erste kulturelle Leistungen, wie die Verwendung von einfachen bearbeiteten Werkzeugen, treten bereits beim Homo habilis vor ca. 2,5 Millionen Jahren auf. Als Terminus ante quem kann die Kolonisierung Australiens vor ca. 50.000 Jahren durch den Homo sapiens gesehen werden (STORCH / WELSCH / WINK 2007, 437; CAVALLI-SFORZA 1999, 159).246 Um den Bau hochseetauglicher Boote zu 243 Dafür, dass Gesten die Grundlage unserer stimmlichen Sprache sind, sprechen nach TOMASELLO (2011, 347–349) folgende Argumente: Kleinkinder beginnen 1. zunächst mit Gesten zu kommunizieren, 2. beginnen gehörlose Kinder ohne Zugang zu Zeichensprachen, Gesten zu benutzen, 3. verwenden auch Menschenaffen Gesten in vielfältiger Weise und 4. erscheint die Entwicklung einer stimmlichen Sprache ohne die Unterstützung durch Gesten wenig plausibel. FITCH (2010, 470–474; 485–507) argumentiert allerdings auch im Sinne DARWINS musical protolanguage Theorie. MUFWENE (2013, 336–337) listet sowohl die Vorteile der stimmlichen Kommunikation als auch die der Zeichensprache auf. 244 Ein ausgeprägtes Gestenspiel mag auch mit der Entwicklung zum aufrechten Gang der Menschen zusammenhängen. Dadurch konnten die Hände intensiver für Gesten genutzt werden (HAESLER 2007, 27). 245 Vom heutigen Forschungsstand ausgehend, sind die Gene ein Indikator für die Herausbildung der Sprachfähigkeit (DEDIU / LEVINSON 2013, 3–7). 246 CAVALLI-SFORZA (1999, 158) leitet aus seinen Überlegungen zum Baskischen ab, dass in Europa mindestens vor 40.000 Jahren gesprochen wurde. Wird der Argumentation von
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koordinieren, wurde Sprache benötigt. Die Anhaltspunkte bewegen sich in einem Zeitraum von 2,5 Millionen bis 50 000 Jahren, in dem die Sprachfähigkeit und Sprache entstanden sein muss.247 Wir können außerdem davon ausgehen, dass die Entwicklung vom Affenlaut zur gesprochenen Sprache, […], ein zigtausend, wenn nicht sogar hunderttausend Jahre dauernder Prozess war. Wie bereits erwähnt, sind Affenlaute stark genetisch bestimmt in ihrer Struktur und ihrer Bedeutungszuordnung. (STORCH / WELSCH / WINK 2007, 437)
In der linguistischen Forschungsliteratur wird hingegen angenommen, dass die Sprachfähigkeit des modernen Menschen noch relativ jung ist und sich in dem Zeitraum vor ca. 100.000 bis 50.000 Jahren herausgebildet hat. Diese Zeitspanne wurde u. a. auch damit begründet, dass der Neandertaler nicht bzw. lediglich über eine Art Protosprache verfügt habe und dem modernen Menschen auch kulturell weit unterlegen gewesen sei. CHOMSKY (2010, 58) stellt sich folgende Frage zur Herausbildung der Sprachfähigkeit, die er dann auch selbst beantwortet: „[W]hy are there any languages at all? […] Roughly 100,000+ years ago, the […] question did not arise, because there were no languages“. Erst als unsere Vorfahren vor ca. 50.000 Jahren begannen, aus Afrika auszuwandern, habe sich die Fähigkeit zur Sprache fest etabliert. Damit ist ein relativ kurzer Zeitraum vorgegeben, der eine graduelle Evolution der Sprachfähigkeit als unwahrscheinlich erscheinen lässt. Eine neue Auswertung aller bekannten Daten aus der Archäologie, Anthropologie, Anatomie und Genetik durch DEDIU / LEVINSON (2013) scheint hingegen zu belegen, dass sich die Sprachfähigkeit des Menschen mindestens vor ca. 500.000 Jahren – also beim unmittelbaren gemeinsamen Vorfahren des modernen Menschen und des Neandertalers – herausgebildet haben muss. Damit sind die kulturellen Leistungen des Neandertalers neu zu bewerten. Auch die Entwicklung der Sprache wird wohl früh durch kulturelle Evolutionsprozesse mitgeprägt worden sein. DEDIU / LEVINSON (2013, 12) schlussfolgern: [W]e have to regard language as a very old cultural evolutionary process in which both vertical and horizontal processes are essential contributors. On this background of shared capacities, understanding the relatively small differences between modern humans, Neandertals […] will help shed more light on the nature and evolution of speech and language.
FOXP2 und Feinmotorik In der jüngsten Zeit haben Forschungsergebnisse in Zusammenhang mit dem sogenannten Sprachgen FOXP2 (Forkhead-Box-Protein P2) einige Aufmerksamkeit CAVALLI-SFORZA gefolgt, kann die Sprache ein Alter von 150.000 bis 70.000 Jahren aufweisen. Archäologische Funde legen die Vermutung nahe, dass der moderne Mensch vor ca. 70.000 Jahren begann, aus Afrika auszuwandern. Unsicher ist allerdings, ob alle Sprachen überhaupt auf eine gemeinsame Ursprache zurückgehen. 247 Auch CAVALLI-SFORZA (1999, 188) zieht die Möglichkeit in Betracht, dass der Homo habilis bereits vor zwei Millionen Jahren sprechen konnte.
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erregt und die Hoffnung aufkeimen lassen, den Zeitpunkt der Sprachentstehung präziser bestimmen zu können. Schnell wurde aber klar, dass nicht von dem einen Sprachgen gesprochen werden kann und die Zusammenhänge wesentlich komplexer sind. Die Entdeckung von FOXP2 ist aber der Startpunkt einer intensiven Erforschung der komplexen Beziehungen zwischen Genen und Sprache. Trotz vieler neuer Ergebnisse ist FISHER (2005, 111) weiterhin zuzustimmen: „[I]t is only now that we are beginning to obtain the first insights into the genetic bases of such traits, and these are just partial glimpses of the complex molecular pathways that are likely to be involved“. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht ist es verwunderlich, dass in einigen Journalen und Zeitungen schon von der Entdeckung des Sprachgens FOXP2 gesprochen wurde. Die Paläogenetik hatte die menschliche Mutation des Gens FOXP2 auf ein Alter von 200.000 bis 100.000 Jahren bestimmt, einen Zeitraum, in dem die Ausdifferenzierung zwischen dem modernen Menschen und dem Neandertaler schon abgeschlossen war. Daraus wurde dann vorschnell geschlussfolgert, dass der Neandertaler vielleicht ausgestorben sei, weil er nicht über diese Genvariante verfügt habe. Jüngste Forschungsarbeiten konnten allerdings belegen, dass sich das FOXP2 des modernen Menschen und das des Neandertalers nur wenig bis gar nicht unterscheiden (DEDIU / LEVINSON 2013, 4; KRAUSE et al. 2007, 1911). Die Mutation des betroffenen Genabschnitts hat sich schon vor ca. 500.000 Jahren bei den gemeinsamen Vorfahren des modernen Menschen und des Neandertalers durchgesetzt (CALLAWAY 2011). Deshalb argumentieren DEDIU / LEVINSON (2013, 1) dafür, dass sich die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten des modernen Menschen und des Neandertalers bereits sehr ähnlich waren. In jedem Fall hat die Entwicklung von FOXP2 die feinmotorischen Fähigkeiten des Menschen und damit seine Imitationsfähigkeiten entscheidend verbessert. Ist die FOXP2Variante des modernen Menschen beschädigt bzw. mutiert, führt dies zu einer erheblichen Sprachstörung, die als developmental verbal dyspraxia (DVD) bezeichnet wird und Anfang der 1990er Jahre bei 15 Mitgliedern einer englischen Familie mit pakistanischer Abstammung festgestellt wurde.248 This was a large three-generation family, usually referred to as KE, in which 15 individuals suffer from developmental impairments in speech and language acquisition. Remarkably, the inheritance of these problems seemed to suggest involvement of a single copy of one mutated gene, transmitted from generation to generation of the family (i.e., a monogenetic dominant pattern of inheritance). (FISHER 2005, 114)
Interessanterweise ermöglicht eine entsprechende FOXP2-Mutation auch bei einigen anderen Tierarten wie Wal, Fledermaus, Delphin sowie mehreren Vogelarten 248 Die betroffenen Mitglieder der Familie, schneiden bei verschiedenen Wort- und Nicht-WortWiederholungstests signifikant schlechter ab als nicht betroffene Vergleichspersonen (MCMAHON / MCMAHON 2013, 184; HAESLER 2007, 8). „Taken together, these findings suggest that the primary deficit in the affected KE family members reflects a disruption of the sensorimotor mechanisms mediating the selection, control, and sequencing of learned fine movements of the mouth and face.“ (HAESLER 2007, 9)
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Lernen durch Imitation (HAESLER 2007, 15). HAESLER (2007, 16) bezeichnet diese als „so-called ‚open-learner‘ species“. Auch wenn FOXP2 eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der menschlichen Sprachfähigkeit gespielt hat (KONOPKA et al. 2009, 213), ist es nicht das einzige Gen, das mit der Sprachfähigkeit in Verbindung gebracht werden kann.249 Daher wäre es verfehlt, die Mutation von FOXP2 isoliert für die menschliche Sprachfähigkeit oder gar die Grammatikkompetenz verantwortlich zu machen (DILLER / CANN 2012, 170–171; FISHER 2005, 119). Die Feststellung, dass FOXP2 bei allen Säugetieren die Motorik mitbeeinflusst, legt den Schluss nahe, dass FOXP2 kein spezifisches Sprachgen ist (NEUWEILER 2008, 147). Vielmehr ist von komplexen Wechselwirkungsprozessen und Koevolution auszugehen (vgl. Kap. 3.1.2.2).250 FOXP2 ist zudem ein sogenanntes Transkriptorgen, das andere Gene (aber auch Proteine) wie CNTNAP2 oder MET aktiviert (RODENASCUADRADO / HO / VERNES 2013, 5; DERIZIOTIS / FISHER 2013, 1).251 MET und CNTNAP2 wiederum beeinflussen die neuronale Entwicklung im Gehirn. „Taken together, the mutation, association, and imaging data suggest that CNTNAP2 has an important role in neurocognitive development […].“ (RODENAS-CUADRADO / HO / VERNES 2013, 4) Probleme können insbesondere dann auftreten, wenn zu wenig oder zu viel FOXP2 bzw. CNTNAP2 in bestimmten Regionen gemessen wird. Beide Gene haben also einen Einfluss auf die Entwicklung des neuronalen Netzwerkes, dessen Beschaffenheit natürlich auch einen Einfluss auf das Verhalten und die Feinmotorik hat.252 249 Wird die menschliche Variante von FOXP2 bei Mäusen eingepflanzt, zeigt sich, dass diese im Gegensatz zu normalen Mäusen schneller lernen (CALLAWAY 2011). CALLAWAY (2011) berichtet in der Online-Ausgabe der „Nature“, dass ein englisches Forscherteam daran arbeitet, weitere Gene, die die Sprachentwicklung steuern, zu lokalisieren. RODENAS-CUADRADO / HO / VERNES (2013, 1) haben herausgearbeitet, dass auch das Gen CNTNAP2 einen Einfluss auf die Sprachentwicklung nehmen könnte bzw. einen Einfluss auf kognitive Dysfunktionen wie Autismus hat. NEWBURY / MONACO (2010) weisen darauf hin, dass die Erforschung der Zusammenhänge zwischen Sprache und Genen in den letzten Jahren eine rasche Entwicklung genommen hat, das Zusammenspiel von mehreren Genen allerdings sehr komplex ist. Auch RIZZOLATTI / SINIGAGLIA (2012, 34) betonen, dass das motorische Verarbeitungssystem des Menschen eine wichtige Rolle bei den höheren kognitiven Leistungen wie der Nachahmung und der gestischen und stimmlichen Kommunikation spielt. 250 Die Idee der Koevolution kann bis auf DARWIN (1871/1908) zurückgeführt werden. Für eine Koevolution zwischen Sprache und Gehirn sprechen sich u. a. auch SZÁMADÓ / SZATHMÁRY (2012, 167) und EVANS / LEVINSON (2009, 446) aus. Vgl. dazu auch DEACON (1997) und BLACKMORE (2000) in Bezug auf kulturelle Leistungen. GERHARDT (2010, 192) betont insbesondere die Koevolution zwischen Werkzeugverwendung und Gehirnentwicklung. 251 Eine wichtige Rolle als Regulator für CNTNAP2 scheint auch FOXP1 zu spielen, das aber noch weit weniger erforscht ist als FOXP2 (RODENAS-CUADRADO / HO / VERNES 2013, 5). 252 „Knockout mice were significantly more active, with better motor coordination and balance […] Given the link between CNTNAP2, autism and social communication, it is intriguing to note that mutant mice displayed increased stereotyped and repetitive behavior, and spent less time engaging in social play.“ (RODENAS-CUADRADO / HO / VERNES 2013, 6)
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Die Feinmotorik ist allerdings einer der wesentlichen Faktoren bei der Herausbildung der spezifischen menschlichen Sprachfähigkeit. NEUWEILER (2008, 153) bezeichnet die spezifische motorische Intelligenz sogar als „Schlüssel zur Menschwerdung“. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, bei dem die Muskeln des Manipulierens und des Sprechens ausschließlich unter die unmittelbare Kontrolle des Neocortex gestellt sind. Zudem steigert sich beim Menschen die „corticale Innervationsdichte der Finger und vor allem der Sprechmuskulatur des Mundes, der Lippen und der Zunge noch einmal um ein Mehrfaches, wie deren überdimensionale Repräsentation auf dem Motorcortex eindrucksvoll belegt“ (NEUWEILER 2008, 160). Die Innervationsdichte ist ein Faktor für differenzierte Feinmotorik und Präzision. „So nehmen die Neurone der Gesichts-, Hand- und Fingermuskeln bei Schimpansen knapp die Hälfte, beim Menschen aber schon zwei Drittel der Motorcortexfläche ein.“ (NEUWEILER 2008, 160) Aus diesem Befund schlussfolgert NEUWEILER (2008, 161), dass der Mensch im Gegensatz zu den Affen ein „Manipulations- und Artikulationstier“ ist. Hinzu kommt, dass Handlungsabsichten des Menschen von Netzwerken gesteuert werden, die unmittelbar vor dem Motorcortex liegen. Dieses sind die prämotorischen Areale, die wiederum mit frontalen Cortexarealen verbunden sind, die das soziale Verhalten und das Sehen steuern. Von Interesse ist hier insbesondere das prämotorische Cortexareal F5 (bei Makaken), das große Ähnlichkeiten mit dem Broca-Areal253 beim Menschen aufweist und die Hand- und Mundbewegungen kontrolliert. Dieses Areal verfügt bei Makaken über eine besondere Art von Neuronen, die erst vor wenigen Jahren von einem Forscherteam der Universität Parma entdeckt wurden, dem u. a. die Neurophysiologen GIACOMO RIZZOLAT254 TI (*1937) und VITTORIO GALLESE (*1959) angehörten. Spiegelneuronen Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat. (ARISTOTELES Poetik 1448b; zitiert nach LAUER 2007, 137)
Die Spiegel-System-Hypothese (Mirror System Hypothesis) geht von sogenannten Spiegelneuronen (mirror neurons) aus, die zum einen für einige Forscher Ausgangspunkt für eine Theorie zur Evolution des menschlichen Geistes sind und zum anderen als wichtige Grundlage des Spracherwerbs und der Evolu 253 Die Brodmann-Areale 44 und 45 werden auch als Broca-Areal zusammengefasst. Bei Makaken ist das entsprechende Hirnareal F5 aktiv (RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 128). 254 Für eine kurze Darstellung über die Entdeckung der Spiegelneuronen vgl. LAUER (2007, 138– 140) und HICKOK (2015, 19–29). Zu der Forschergruppe gehören außerdem LUCIANO FADIGA und LEONARDO FOGASSI.
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tion der menschlichen Sprachfähigkeit gelten. Spiegelneuronen könnten außerdem ein wichtiger Schlüssel zur Beantwortung der Frage sein, wie der Mensch fremdpsychische Zustände und Vorgänge deutet (SCHILBACH et al. 2008, 45–46). Sie sind vielleicht der Schlüssel zur theory of mind. Spiegelneuronen hätten demnach einen wichtigen Anteil daran, dass Menschen sich in andere Menschen hineinversetzen können, dass sie Intentionen antizipieren und Empathie entwickeln. LAUER (2007, 142) mutmaßt sogar: „Die Spiegelneuronen könnten so etwas wie die Brücke zwischen dem biologischen und dem sozialen, vielleicht auch kulturellen Verhalten darstellen“. ECKOLDT (2008, 175) schwärmt, dass „die Spiegelneurone Natur- und Geisteswissenschaften näher zusammenrücken lassen“. Der Neurowissenschaftler IACOBONI (2009, 12–13; zitiert nach HICKOK 2015, 10) ist ebenfalls überschwänglich: Wir verdanken unser äußerst subtiles Verständnis vom Wesen und Handeln anderer Menschen dem Wirken gewisser Ansammlungen von besonderen Zellen in unserem Gehirn, die man als Spiegelneuronen bezeichnet. […] Sie sorgen für unsere – mentale und emotionale – Bindung aneinander. […] Spiegelneuronen liefern zweifellos zum ersten Mal in der Geschichte eine plausible neurophysiologische Erklärung für komplexe Formen der sozialen Wahrnehmung und Interaktion.
Spiegelneuronen wären damit so etwas wie das neuronale Korrelat der Nachahmung und kulturellen Evolution. Das Spiegelneuronensystem feuert sowohl, wenn eine Tätigkeit aktiv ausgeführt wird, als auch bei deren Beobachtung (RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 91). Es besteht eine Übereinstimmung von „dem vom Neuron kodierten motorischen Akt und dem beobachteten motorischen Akt, der bei der Aktivierung des Neurons wirksam ist“ (RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 93).255 Das Wesentliche der Spiegelneuronen ist ihre visuomotorische Kopplung, die allerdings nicht allein der Handlungsvorbereitung dient. Spiegelneuronen lassen sich sogar durch akustische Signale aktivieren (WARREN et al. 2006, 13072–13073).256 Sie haben eine tiefergreifende Funktion, die eng mit unseren kulturellen Lernmechanismen im Zusammenhang steht: „Die Aktivierung der Spiegelneuronen generiert also mit anderen Worten eine ‚innere motorische Repräsentation‘ des beobachteten Aktes, von der dann die Möglichkeit abhängt, durch Nachahmung zu lernen“ (RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 105). Die Spiegelneuronen scheinen eine besondere Bedeutung für die Fähigkeit zur Nachahmung und Imitation zu haben. Diese Lernprozesse sind entscheidend für die kulturelle Evolution im Allgemeinen und den Spracherwerb sowie die Entwicklung der Sprachfähigkeit im Speziellen. ARBIB 255 RIZZOLATTI / SINIGAGLIA (2012, 93–94) unterscheiden zwischen K o n g r u e n z i m e n g e r e n S i n n e und K o n g r u e n z i m w e i t e r e n S i n n e . Kongruenz im engeren Sinne meint die exakte Entsprechung der Neuronenaktivierung bei der aktiv durchgeführten und der beobachteten Handlung. Kongruenz im weiteren Sinne umfasst die Fälle, bei denen ein Zusammenhang des Neuronenpotentials bei aktiver Durchführung und passiver Beobachtung besteht, ohne dass die Muster identisch sind. Diese machen zumindest bei nicht-menschlichen Primaten 70 % der Spiegelneuronenaktivität aus. 256 Vgl. dazu auch LAUER (2007, 139–140).
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(2012, 214) verbindet diese Aspekte und stellt die Unterschiede zu den nichtmenschlichen Primaten heraus: Imitation is essential for language. Mirror neurons are essential for imitation but do not support imitation in and of themselves. The evolution and integration of both mirror systems and systems ‘beyond the mirror’ provided mechanism for complex imitation, supporting a more open-ended style of skill acquisition than the programme level imitation exhibited by the great apes.257
Die Evolution des Spiegelneuronensystems wird von einigen Neurowissenschaftlern für die gute Imitationsfähigkeit des Menschen verantwortlich gemacht. Die Fähigkeit zur Imitation ist wiederum ausschlaggebend beim Sprachenlernen. „[T]he present theory emphasizes that imitation of practical actions opened new possibilities that made language possible“ (ARBIB 2012, 208). Selbst LEISS (2009, 267–274), die sich sehr kritisch gegenüber der Konstruktionsgrammatik äußert, wie sie beispielsweise von CROFT (2001) oder GOLDBERG (2006; 1995) vertreten wird, muss anerkennen, dass das Spiegelneuronensystem eine gewisse Bedeutung für die Imitationsfähigkeit und die Herausbildung sprachlicher Fähigkeiten hat: „Diese Aufwertung von Nachahmung [durch die Entdeckung der Spiegelneuronen; LB] sollte man ernstnehmen und nicht der Konstruktionsgrammatik als Alleinstellungsmerkmal überlassen“ (LEISS 2009, 269).258 NEUWEILER (2008, 164) hebt die Bedeutung der Spiegelneuronen für das Sprachlernen sogar soweit heraus, dass er behauptet, dass Kinder das Sprechen nicht in 257 Der Begriff „programme level imitation“ stammt von BYRNE / RUSSON (1998, 676) und meint: „copying the structural organisation [sic!; LB] of a complex process (including the sequence of stages, subroutine structure, a bimanual coordination), by observation of the behavior of another individual, while furnishing the exact details of actions by individual learning“. Der Mensch hat gegenüber Affen allerdings folgende Vorteile: „(1) we can learn by programme level imitation more quickly than apes can. (2) We can learn deeper hierarchies than apes can. (3) We have greater capacity for action level imitation – depending on circumstances, we may develop our own way of reaching a subgoal or, failing to do so, we may pay more attention to the details of the demonstrator’s actions, and modify our actions accordingly“ (ARBIB 2012, 209–210). 258 Es ist allerdings sehr vereinfachend, von „der Konstruktionsgrammatik“ zu sprechen. Konstruktionsgrammatische Ansätze sind stark ausdifferenziert (MÜLLER 2013, 237–239). ELSEN (2014, 223) unterscheidet beispielsweise grob zwischen „gebrauchsbasierten Ansätzen“ und „formal orientierten Modelle[n]“, die selbst wieder ausdifferenziert werden können. Spiegelneuronen können insbesondere für die gebrauchsbasierten Ansätze interessant werden. Da Konstruktionen als konventionalisierte und holistische Form-Bedeutungs-Verbindungen gedacht sind (ZIEM / LASCH 2013, 28–29; BEHRENS 2009, 431–432), die nicht über angeborene Regeln gelernt werden, ist Imitation ein vielversprechender Mechanismus, um zu erklären, wie Kinder die Form-Bedeutungs-Verbindungen über den sprachlichen Input (Frequenzeffekte) lernen (TOMASELLO 2005, 306–307; BEHRENS 2011, 265). „Das Kind, so Tomasello (2003), ahmt prototypische Konstruktionen nach, wodurch es sukzessive Sprachstrukturen erwirbt, bis schließlich ein umfassendes Inventar an linguistischen [sprachlichen; LB] Konstruktionen aufgebaut ist.“ (ALEXIADOU 2013, 65). Eine der bisher wenigen Arbeiten zum Thema Konstruktionsgrammatik und Sprachwandel hat HILPERT (2013) verfasst. Vgl. auch HILPERT (2011).
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erster Linie durch das Hören, sondern durch das Abschauen von Mundbewegungen lernen.259 Spiegelneuronen sind aber nicht nur für die Imitationsfähigkeit von Bedeutung. Sie helfen auch, die Handlungen von anderen Individuen zu verstehen und ihnen entsprechende Intentionen zu unterstellen: Die Aktivierung desselben neuralen Musters verrät somit, daß das Verstehen der Handlungen anderer beim Beobachter dasselbe motorische Wissen voraussetzt, das die Ausführung der eigenen Handlungen reguliert. (RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 109)
Für RIZZOLATTI / SINIGAGLIA (2012, 131) ist dies sogar die „primäre Rolle […], die mit dem Verstehen der Bedeutung der Handlungen anderer zusammenhängt“. Diese Beobachtungen passen zu den Ergebnissen von TOMASELLO (2005; 2006; 2011), dass die Ursprünge der Sprache in der gestischen Kommunikation zu suchen seien.260 HUTCHISON et al. (2001) konnten beispielsweise zeigen, dass die Spiegelneuronen von Personen auf spezifische Weise auch dann feuern, wenn sie lediglich beobachten, dass andere Personen Schmerzen haben, bzw. wenn sie diese Schmerzen, ohne dass tatsächlich eine Handlung ausgeführt wird, antizipieren.261 Auch das bloße Reden über eine Handlung führt zu einer Resonanz derjenigen Handlungsnervenzellen, die auch feuern würden, wenn die gleiche Handlung selbst vollzogen würde. (LAUER 2007, 150)
Die Spiegelneuronen sind ein Hinweis, warum das menschliche Sozialverhalten größtenteils auf unseren Möglichkeiten basiert, zu antizipieren, was unsere Mitmenschen im Sinn haben und wie darauf reagiert werden kann. Auf diese Weise determinieren der Besitz des Spiegelneuronensystems und die Selektivität der Reaktionen einen gemeinsamen Handlungsraum, in den jede Handlung und jede Handlungskette von uns oder anderen unmittelbar einbeschrieben ist und verstanden wird, ohne daß es einer ausdrücklichen oder absichtlichen ‚kognitiven Operation‘ bedürfte. (RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 137)
Mit Blick auf die Dynamik von kulturellen Handlungsformen ist allerdings auszuschließen, dass das Spiegelneuronensystem als alleinige Erklärung für das Verständnis der Handlungen anderer Menschen in Frage kommt. Verstehen, reflektieren und handeln sind sehr komplexe Vorgänge, an denen viele verschiedene Hirnareale beteiligt sind. HICKOK (2015; 2009) argumentiert, dass die Spiegelneuronen für das Verständnis der menschlichen Kognition überschätzt werden. Seine For 259 NEUWEILER referiert damit auf die äußerst umstrittene Motor-Theorie der Sprachwahrnehmung, die davon ausgeht, dass wir Laute durch motorisch-artikulatorische Gesten erkennen. Kritik an diese Theorie äußert beispielsweise HICKOK (2015, 120–144). 260 Dabei sind die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Modalitäten zu berücksichtigen. Die akustische Sprache wird wohl aus der Interaktion von Gesten und Lauten hervorgegangen sein (RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 161–163). 261 HICKOK (2015, 42–51) bezweifelt allerdings, dass Spiegelneuronen beim Menschen bisher sicher nachgewiesen wurden, auch wenn er glaubt, dass es eine menschliche Entsprechung zu den Spiegelneuronen der Makaken gibt.
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schungen und Analysen stellen die bisherigen Ergebnisse und Interpretationen von RIZZOLATTI, ARBIB und Kollegen deutlich in Frage. HICKOK (2009, 1233) gibt beispielsweise zu bedenken, dass das Handlungsverständnis des Menschen auch gut ohne Spiegelneuronensystem erklärt werden könne, was empirisch auf solideren Füßen stehe als Befunde zu Spiegelneuronen. Folgt man allerdings RIZZOLATTI / SINIGAGLIA (2012), dann sind Spiegelneuronen nach wie vor eine wichtige Grundlage, um die Handlungen anderer Individuen und deren möglichen Folgen zu verstehen und zu antizipieren.262 So werden gegenseitige Interaktionsbeziehungen hergestellt, die „gegenseitige Neuorientierungen“ (RIZZOLATTI / SINIGAGLIA 2012, 157) zur Folge haben. Diese Neuorientierungen können als Synchronisierungsprozesse verstanden werden. Bei der Synchronisierung sind gewisse bewusste und unbewusste Handlungsmaximen maßgeblich, die zu einer Modifizierung oder Stabilisierung des Verhaltens führen. Die Entdeckung der Spiegelneuronen lässt jedenfalls vermuten, dass die Sprache selbst kein angeborener Instinkt ist. Angeboren ist vielmehr die Fähigkeit zum Nachahmen und zur sozialen Interaktion. Universell ist die Fähigkeit zur Nachahmung, relativ der Erwerb der einzelnen Sprachen. Die Sprachen unterscheiden sich, nicht nur historisch, kulturell und sozial, sondern bis auf die Mikroebene individuellen Sprachgebrauchs […]. (LAUER 2007, 151)
Die Nachahmung und die Fähigkeit zur Imitation gehen der Sprache voraus. Nachahmung findet allerdings nicht nur unbewusst statt. Sie wird irgendwann von Kindern auch bewusst als soziales Zeichen eingesetzt. Die Nachahmung wird intentional. Dieser Vorgang kann wiederum als Abduktion263 im Sinne von PEIRCE (vgl. Collected Papers 5.181) verstanden werden (LAUER 2007, 149). Die Kinder beginnen, aus einem überraschenden Ergebnis eine Regel abzuleiten, die sie auf zukünftiges Handeln anwenden. Die intendierte und über sich hinaus verweisende Nachahmung bekommt aber auch einen pragmatischen Mehrwert. Die Nachahmung muss dann in einem kontextuellen Zusammenhang – beispielsweise in Verbindung mit Zeigegesten – interpretiert werden. Scheint sich die Regelableitung zu bewähren, wird der Situationszusammenhang ein konventionales Muster (Schema). Dieser Prozess, der eng an motorisches Lernen geknüpft ist und im Sinne der Embodiment-Theorie bis in unsere feinsten Bewegungsabläufe geerdet ist, geht dem Lernen der stimmlichen Sprache voraus und wird es noch weiter begleiten.264
262 Spiegelneuronen ermöglichen es, „zwischen dem eigenen Bewusstsein und dem vermuteten Bewusstsein eines anderen hin und her zu schalten“ (LAUER 2007, 140). 263 In der Realität wird man Abduktion wohl kaum in Reinform beobachten können. Zum Begriff der Abduktion bei PEIRCE vgl. auch WIRTH (2000, 137–139). 264 Menschliches Sprechen ist jedoch auch neuronal von Menschenaffenlauten zu unterscheiden. Dies stützt wiederum die These, dass die Vorläufer unserer Sprachen nicht die Affenlaute, sondern die Gesten der Affen waren.
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Von der natürlichen zur kulturellen Evolution Der Homo sapiens kristallisierte sich vor ca. 800.000 Jahren heraus. Er verfügte wahrscheinlich bereits über entscheidende Anlagen zur Sprachfähigkeit, auch wenn sich die menschliche Variante von FOXP2 erst zwischen 800.000 und 500.000 Jahren entwickelt haben dürfte. Er ist der einzige der Gattung Homo, der überlebte. Von besonderem Vorteil sind sein hochentwickeltes Sozialverhalten und seine Fähigkeit, mit Werkzeugen umzugehen. Damit kam allerdings auch eine Entwicklung in Gang, die die geistige Entwicklung und damit die Ausbreitung des Homo sapiens extrem beschleunigte.265 Dieser Prozess wird auch als kulturelle Evolution bezeichnet. Sie wird von den Forschern als eine Evolution auf der zweiten Ebene beschrieben. Die natürliche Selektion wird nun auch von Faktoren beeinflusst, die auf Intelligenz und Sozialverhalten beruhen. Genvarianten, die den Menschen nicht mehr nur schneller oder stärker machen, sondern Voraussetzungen für kulturelle Fähigkeiten bieten, gewinnen an Bedeutung. (GANTEN / SPAHL / DEICHMANN 2009, 62)
Man darf mit einiger Sicherheit annehmen, dass die Sprache (und ab 3000 v. Chr. auch die Schriftsprache) ein wichtiger Motor für die kulturelle Evolution war und ist. Die Möglichkeiten einer relativ komplexen Sprache sind wiederum auf die biologischen Entwicklungen des Gehirns und des menschlichen Sprechapparates zurückzuführen (CAVALLI-SFORZA 1999, 187). Die tertiären Assoziationsareale erlauben dem Menschen neue Lernprozesse. Der Mensch ist in der Lage, komplexe Verhaltensmuster unter sozialer Kontrolle nachzuahmen und zu imitieren. Er kann intentionales Verhalten antizipieren und verfügt über eine theory of mind (RÖSKA-HARDY 2011, 132).266 Neueste Erkenntnisse aus der Neurobiologie und der Spracherwerbsforschung (BEHRENS 2011) legen nahe, dass Nachahmen und Imitieren die wesentlichen Voraussetzungen sind, eine Sprache zu erlernen. Die Strukturen der Sprache sind nicht genetisch im Sinne eines Instinktes determiniert (vgl. PINKER 1998), wie es die generative Universalgrammatik annimmt (GUASTI 2009, 105; CHOMSKY 1986, 3), sondern werden in den ersten Lebensjahren gelernt und geprägt (BEHRENS 2011, 269; ELSEN 1999, 207). Vielversprechend erscheint der Ansatz, dass lediglich die grundlegenden Fähigkeiten wie die Möglichkeit zur Nachahmung für den Spracherwerb angeboren sind.267 Entscheidend 265 HOLLOWAY (2012, 226) geht davon aus, dass bei der frühen Werkzeugproduktion ähnliche kognitive Prozesse ablaufen wie bei der Sprachproduktion. Beide Prozesse sind für ihn arbiträre Transformationen einer internen Symbolisierung. Wohingegen die Werkzeuganfertigung bei Menschenaffen als ikonische Transformation aufgefasst werden müsse. 266 RÖSKA-HARDY (2011, 132) unterstreicht den engen Zusammenhang zwischen dem Sprachlernen und der Fähigkeit eine theory of mind auszubilden: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Zusammenhänge und Einflussrichtungen zwischen Sprache und ToM [Theory of Mind; LB] bidirektional sind“. 267 KARMILOFF / KARMILOFF-SMITH (2001, 6) verweisen darauf, dass die „nature versus nurture dichotomy“ nicht besonders hilfreich ist, um den Spracherwerb zu verstehen. Vielmehr muss
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sind die Lernmechanismen, über die der Mensch verfügt und die Fähigkeit, sich und andere als intentionale Subjekte zu denken (MENZEL 2011, 169; TOMASELLO 2006, 121). Diese Argumentation scheint auch aus einer evolutionsbiologischen Perspektive sinnvoller zu sein, weil ausgeprägte Lernmechanismen wesentlich mehr Flexibilität mit Blick auf Anpassungsprozesse versprechen als fest angelegte Strukturen, die den Organismus in seinen Anpassungsmöglichkeiten einschränken (BEHRENS 2011, 254).268 Alle menschlichen Erfahrungen, gewonnenen Einsichten und erfundenen Handlungsmöglichkeiten werden verarbeitet und abgespeichert von den sich neu entwickelnden tertiären Assoziationsarealen ihres Großhirns, die keinerlei genetische Programme für ihre qualitativfunktionelle Ausdifferenzierung besitzen. (DUNCKER 2011, 32)
Die sogenannte kritische Phase für den Spracherwerb ist insoweit genetisch determiniert, als sich die Sprache nur lernen lässt, solange die funktionale Ausdifferenzierung der tertiären Assoziationsareale der Großhirnrinde stattfinden kann.269 Diese Aneignung von Bewegungsabläufen und Handlungen durch Nachahmung gelingt besonders für alle komplizierten und zusammengesetzten Bewegungsabläufe und Handlungen effizient, solange sich der Körper im Wachstum befindet. (DUNCKER 2011, 34)
Der Prozess des Sprachlernens ist ein komplizierter Vorgang, bei dem motorische und kognitive Prozesse intensiv ineinandergreifen.270 Die Hippocampusformation des Gehirns kann Kortexareale zusammenschalten, die ein kortikales Erregungsnetzwerk bilden, das eine Erniedrigung der Erregungsschwelle erfahren kann, je öfter es durch ähnliche Sinneseindrücke aufgerufen wird. Durch die wiederholte Beanspruchung des Netzwerkes wird bei den betroffenen Neuronen ein Protein mit dynamischer Interaktion beider Bereiche gerechnet werden. „Our view is that language is indeed special, but we hypothesize that evolution’s solution has not been to prewire complex linguistic representations into the neonate mind. […] First, evolution has made the period of postnatal brain development in humans extremely long, so that environmental input can shape the structure of the developing brain. But the brain is not in our view a blank homogenous slate, as behaviorists would hold. Our second argument is that evolution has provided us with a number of different learning mechanisms that, although not domain specific, are what we call ‘domain relevant’. It is by interacting with various environmental inputs that each mechanism becomes progressively more domain specific.“ (KARMILOFF / KARMILOFF-SMITH 2001, 6) 268 Dass die natürliche Selektion allgemeine Lernmechanismen begünstigt, legt der BaldwinEffekt nahe. Dieser besagt, dass Merkmale, die zunächst durch Lernen erworben werden, einen Selektionsvorteil bringen, der sich indirekt nach einigen Generationen auf die Vererbung bestimmter Merkmale auswirken kann. „Moderner ausgedrückt: Gene für Lernen und Imitation werden von der natürlichen Selektion befördert.“ (BLACKMORE 2000, 195) 269 In dieser Phase lernt der Mensch, ein vollwertiges Mitglied seiner Kultur zu werden. „Dabei handelt es sich um nichts anderes als die ontogenetischen Wurzeln von VYGOTSKIJS kultureller Linie der kognitiven Entwicklung. Es ist nicht so, daß sechs Monate alte Kinder keine kulturellen Wesen in dem Sinne wären, daß sie nicht in den Habitus ihrer Kultur verstrickt sind. Sie sind solche Wesen, und während der ganzen ersten neun Lebensmonate werden sie auf immer aktivere und teilnehmende Weise allmählich zu Mitgliedern ihrer Kulturen.“ (TOMASELLO 2006, 121) 270 Eine detaillierte Beschreibung dieses Prozesses bietet DUNCKER (2011, 36–40).
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syntheseprozess freigesetzt, der eine Speicherung dieses kortikalen Netzwerkes zunächst ins Tagesgedächtnis und dann ins Langzeitgedächtnis erlaubt. Dabei werden beispielsweise alle nachgeahmten und eingeübten Bewegungen und Handlungsabläufe mit dem Erreichen ihrer harmonischen und perfekten Beherrschung in vergleichbarer Form als Erregungsnetzwerke, die in den motorischen Frontalhirnarealen zusammen mit den Basalganglien lokalisiert sind, fest abgespeichert (DUNCKER 2011, 38).
Zudem erfolgt eine Überführung dieser Informationen ins prozedurale Gedächtnis und eine stetige Ausdifferenzierung der tertiären Assoziationsareale. Das prozedurale Gedächtnis verfügt über eine enge Verknüpfung zum deklarativen Gedächtnis und ist dadurch besonders leistungsfähig. Auf diese Weise werden im menschlichen Gehirn die aus der Verarbeitung der Informationen aus den Sinnesorganen und dem Körperinneren hervorgehenden und für den Organismus bedeutsamen Wahrnehmungen und Reaktionen zusammen mit wichtigen erworbenen Erfahrungen und Kenntnissen im Langzeitgedächtnis gespeichert. Ebenso werden die nachgeahmten und zur Perfektion eingeübten Bewegungen und Handlungsweisen einschließlich aller sozialen, kulturellen und beruflichen Handhabungen und Herstellungsabläufe langzeitig als Erinnerungen abgespeichert. (DUNCKER 2011, 39)
Abspeicherungsorte sind die tertiären Assoziationsareale des Großhirns, die sich in der biologischen Evolution deutlich vergrößert haben. Diese Entwicklung ist das biologische Ergebnis eines Wechselwirkungsprozesses, der wesentlich mit der hohen Soziabilität des Menschen und der Herausbildung der Sprachfähigkeit in Verbindung steht.271 Menschliche Gemeinschaften müssen sich in vielfältiger Weise organisieren; soziale Beziehungen und Hierarchien, die auch dem Nachwuchs vermittelt werden mussten, spielten dabei von Anfang an eine entscheidende Rolle. Die sozialen und kulturellen Errungenschaften, zu denen auch die Sprachfähigkeit zu rechnen ist, werden in der Ontogenese tradiert. Dass der Mensch diese Möglichkeit besitzt, hängt zum einen mit seinen ausgeprägten Lernmechanismen – insbesondere der Imitations- und Nachahmungsfähigkeit – zusammen und ist zum anderen darauf zurückzuführen, dass er in der Lage ist, andere Menschen als intentionale Subjekte zu begreifen. Sprache ist ein wesentlicher Ausdruck dieser geteilten Intentionalität und kooperativen Bemühungen (TOMASELLO 2011, 362– 363). Damit dürften insbesondere das Kooperationsprinzip und die Konversationsmaximen, wie sie GRICE (1979b, 248; vgl. Kap. 2.2.3) herausgearbeitet hat, 271 An dieser Stelle könnte vermutlich von Seiten des Nativismus eingewendet werden, dass bestimmte Hirnareale wie das Broca- oder das Wernickeareal mit der Sprachproduktion und Sprachverarbeitung in Verbindung gebracht werden können. KARMILOFF / KARMILOFF-SMITH (2001, 7) geben auf diesen Einwand folgende Antwort: „[T]he infant brain does not start out with circuits dedicated only for processing language, but it does end up with specialized circuits as a function of experience“. Da deutlich geworden ist, dass an der Sprachverarbeitung wesentlich mehr Gehirnregionen beteiligt sind, die zudem stark vernetzt sind, sprechen RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER (2010, 129) nicht länger von Sprachzentren, sondern von „sprachrelevanten Gehirnregionen“.
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tatsächlich ein wichtiger Bestandteil zur Erklärung der Grundlagen unseres Sprachverständnisses sein. So können komplexe Fähigkeiten wie das Beherrschen einer Sprache „unter strikter sozialer Kontrolle“ (DUNCKER 2011, 40) gelernt werden und müssen nicht als angeboren verstanden werden, wenn auch bestimmte biologische Voraussetzungen notwendig sind. Die Sprachfähigkeit, die sich beim modernen Menschen herausgebildet hat, ist ein wesentlicher Vorteil, sich unter verschiedenen Umweltbedingungen zurechtzufinden und zu organisieren. Diese vielfältigen Organisations- und Sozialformen haben wiederum zu verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaften geführt. DUNCKER (2011, 46) führt dazu Folgendes aus: Deshalb steht jede Sprachkommunikation biologisch in einem deutlichen Gegensatz zu allen angeborenen Vokalisationen und ihrem ebenfalls angeborenen Verständnis. Damit sind auch einige Gründe für die so grundlegenden Unterschiede zwischen den zahlreichen und sehr verschiedenen Sprachen angesprochen, die sich in den getrennt voneinander in sehr unterschiedlichen Lebensräumen unter außerordentlich verschiedenen Gegebenheiten existierenden menschlichen Gemeinschaften ausbildeten. Der zweite wesentliche Faktor für die Ausbildung sehr unterschiedlicher Sprachformen dürfte in den sich mit ihnen ausbildenden unterschiedlichen Denkformen der verschiedenen Gemeinschaften liegen.
Damit wird deutlich, dass der Mensch im Allgemeinen und seine Sprachfähigkeit im Speziellen sowohl biologischen als auch insbesondere kulturellen Entwicklungsmechanismen unterworfen ist. Im nächsten Kapitel wird diskutiert, ob die kulturellen Mechanismen ebenfalls als evolutionär beschrieben werden können. Die rasante Entwicklung des Menschen in den letzten 50.000 bis 40.000 Jahren lässt sich jedenfalls nicht mehr alleine mit biologischen Entwicklungsprozessen erklären (DUNCKER 2011, 54; TOMASELLO 2006, 14–15).
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3.1.2.2 Sprache und kulturelle Evolution Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt, behaart und mit böser Visage. Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt und die Welt asphaltiert und aufgestockt, bis zur dreißigsten Etage. […] So haben sie mit dem Kopf und dem Mund den Fortschritt der Menschheit geschaffen. Doch davon mal abgesehen und bei Lichte betrachtet sind sie im Grund noch immer die alten Affen. (ERICH KÄSTNER 2008, 139–140; „Die Entwicklung der Menschheit“)
Neben der biologischen Evolution des Menschen ist auch die kulturelle Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Letztere wird häufig mit dem Schlagwort kulturelle Evolution gefasst. „Die kulturelle Evolution geht daher – anders als die biologische Evolution – praktisch nicht mit Veränderungen der Erbanlage einher.“ (SPERLING 2011, 218) Um aber überhaupt von kultureller Evolution sprechen zu können, müsste gezeigt werden, dass die kulturelle Entwicklung von Mechanismen getragen wird, die Eigenschaften mit den Mechanismen der biologischen Evolution teilen. Diesen Nachweis führt insbesondere MESOUDI (2011). Er definiert Kultur folgendermaßen: [C]ulture is information that is acquired from other individuals via social transmission mechanisms such as imitation, teaching, or language (MESOUDI 2011, 2).
MESOUDI (2011, 26–40) legt dar, dass kulturelle Entwicklungen ebenfalls die Bedingungen Variation, Wettkampf (competition oder „struggle for existence“) und Vererbung (aber nicht im genetischen Sinne) erfüllen. Weiterhin wird deutlich, dass kulturelle Elemente Charakteristika von Adaption, Maladaption und Konvergenz zeigen können. Kulturelle Evolution ist wie die biologische Evolution nicht teleologisch oder progressiv.272 Neben diesen Parallelen müssen allerdings bedeutsame Unterschiede zwischen der biologischen Evolution und der kulturellen Evolution beachtet werden. Insbesondere neo-darwinistische Dogmen der biologischen Evolutionstheorie lassen sich nicht eins-zu-eins auf kulturelle Entwicklungsprozesse übertragen. Ein zentrales Argument der neo-darwinistischen Evolutionstheorie besagt, dass Mutationen – also die Herausbildung von Variationen – blind und zufällig auftreten. Augenscheinlich werden kulturelle Entwicklungen aber häufig ganz bewusst und mit Intentionen propagiert, auch wenn die Folgen für die Makroebene anders aus 272 Dass kulturelle Evolution progressiv sei und über bestimmte Komplexitätsstufen verlaufe, wurde beispielsweise von Sozialdarwinisten wie HERBERT SPENCER (1820–1903) und EDWARD BURNETT TYLOR (1832–1917) im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert behauptet.
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fallen können. Im folgenden Abschnitt werden zum einen Versuche diskutiert, kulturelle Evolution neo-darwinistisch zu fassen, zum anderen muss überlegt werden, ob kulturelle Evolution nicht zu einem gewissen Grad lamarckistisch ist.273 Mit dem Erstarken des Neo-Darwinismus durch die Synthetische Evolutionstheorie sind auch kulturelle Evolutionstheorien entstanden, die kulturelle Weitergabe als Replikation von diskreten Einheiten betrachten und davon ausgehen, dass die Herausbildung von Variation mit Hinblick auf die Selektion blind ist. Eine der bedeutendsten neo-darwinistischen kulturellen Evolutionstheorien ist unter der Bezeichnung Memetik bekannt geworden. Die Memetik muss in einem engen Zusammenhang mit der menschlichen Fähigkeit zur Imitation gedacht werden. Kulturelle Evolution wird als ein Prozess verstanden, an dem Replikatoren und Interaktoren beteiligt sind. Diese Replikatoren müssen allerdings nicht zwangsläufig Gene sein. „In der Sprache scheint es eine nichtgenetische ‚Evolution‘ zu geben, und diese verläuft um ein Vielfaches schneller als die genetische Evolution.“ (DAWKINS 1976/1994, 304) Evolution im neo-darwinistischen Sinne kann stattfinden, wenn Einheiten Kopien von sich selbst herstellen und bei diesem Kopiervorgang zufällig Fehler auftreten, wodurch abweichende Einheiten (Variationen) entstehen, die sich wiederum kopieren und akkumulieren können. Entscheidend ist nun die Tatsache, dass dieser Vorgang als Evolutionsprozess beschrieben werden kann (DAWKINS 1976/1994, 308).274 Die Entwicklung von Sprachen wird von Linguisten bisher aber kaum als kultureller Evolutionsprozess verstanden. Dieser Umstand ist sicher auch darin begründet, dass die lange Zeit dominierende generative Universalgrammatik davon ausgeht, dass die grundlegenden Sprachstrukturen bereits angeboren sind und nicht zwingend durch kulturelle Lernprozesse vermittelt werden müssen (GUASTI 2009, 105; PINKER 1998; CHOMSKY 1986, 3).275 Andere Wissenschaftsdisziplinen wie die Evolutionsbiologie und die Psychologie sind hier weniger vorbelastet und stellen die Sprachentwicklung deutlich in den Kontext kultureller Evolutionsprozesse (BLACKMORE 2000, 151–152; CAVALLI-SFORZA 1999, 170; DAWKINS 273 Die verschiedenen evolutionären Sprachwandelentwürfe unterscheiden sich beispielsweise in diesem Punkt. Während CROFT (2000) und RITT (2004) einen Ansatz mit Nähe zum NeoDarwinismus modellieren, formuliert MUFWENE (2008; 2001) ganz explizit, dass evolutionärer Sprachwandel auch lamarckistische Tendenzen aufweist. 274 DAWKINS (1976/1994, 308) schreibt: „Das Gen, das Stückchen DNA, ist zufällig die Replikationseinheit, die auf unserem eigenen Planeten überwiegt. Es mag andere geben. Wenn es andere gibt, so werden sie – vorausgesetzt bestimmte zusätzliche Bedingungen sind erfüllt – fast unweigerlich zur Grundlage für einen evolutionären Prozeß werden“. 275 CHOMSKY hat sich zudem gegen die Möglichkeit ausgesprochen, die Entwicklung der Sprachstrukturen durch natürliche Selektion erklären zu können. Auch wenn CHOMSKY davon ausgeht, dass die Universalgrammatik angeboren ist, ist die Sprachfähigkeit als ein „Nebenprodukt von etwas anderem, wie der einer allgemeinen Zunahme der Intelligenz oder der Hirngröße durch irgendeinen anderen Prozess“ (BLACKMORE 2000, 160) zu betrachten. Die Positionen, die eine angeborene Grammatik postulieren, werden unter dem Schlagwort N a t i v i s m u s zusammengefasst. Eine detaillierte Zusammenfassung dieser Ansätze kann bei KLANN-DELIUS (2008, 54–97) nachgeschlagen werden.
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1976/1994, 304).276 Häufig werden auch die Entwicklung des Glaubens und der Religionsgemeinschaften (ASSMANN 2011, 163; BLACKMORE 2000, 299–323), der Wissenschaft (POPPER 1995; KUHN 1976/2012) sowie der Wirtschaft (MESOUDI 2011, 177–188) als kulturelle Evolutionsprozesse analysiert und diskutiert. Als Replikator für diese Systeme wird in der Memetik die Einheit des Mems angegeben, das sich anlog zum Genpool in einem Mempool reproduziert (DAWKINS 1976/1994; 2010; BLACKMORE 2000).277 Der Begriff Mem stammt ursprünglich von Richard DAWKINS (1976/1994, 304–322).278 Ein Mem sollte als Informationseinheit betrachtet werden, die in einem Gehirn existiert […]. Es hat eine bestimmte Struktur, die aus dem besteht, was auch immer an ‚Substanz‘ das Gehirn benutzt, um Informationen zu speichern. […]. Die phänotypischen Auswirkungen eines Mems können auftreten in der Form von Worten, Musik, sichtbaren Bildern, Kleidermoden, Mimik oder Gestik, als Fähigkeiten, wie etwa das Öffnen von Milchflaschen durch Meisen oder das Waschen von Weizen durch Japanmakaken. Dies sind die nach außen gerichteten und sichtbaren (hörbaren usw.) Zeichen der Meme im Gehirn. (DAWKINS 1982/2010, 115– 116)
Dawkinsʼ Memdefinition ist aber nicht unumstritten geblieben. Der Membegriff wurde auf vielfältige Weise weiterentwickelt (BLACKMORE 2000; RITT 2011; SHIFMAN 2014) und wurde sogar ins „Oxford Advanced Learner’s Dictionary“ (2005, 957) aufgenommen279: meme […] a type of behaviour that is passed from one member of a group to another, not in the genes but by another means such as people copying it.280
BLACKMORE (2000, 86) bringt die Definition auf den Punkt: Was auch immer durch Imitation weitergegeben wird, ist ein Mem.
276 Die Vertreter der Memetik argumentieren – wenn es um die Evolution der Sprache geht – durchaus mit generativen Argumenten und berufen sich auf PINKER oder CHOMSKY. 277 F. T. CLOAK (1975, 168), auf den sich DAWKINS (1976/1994, 306) bezieht, nennt die kulturellen Replikatoren „corpuscles of culture“. 278 DAWKINS (1976/1994, 309) hat den Begriff Mem in Anlehnung an eine mögliche altgriechische Ableitung μίμημα ‘that which is imitated’ (Oxford Dictionary of English 2006, 1095) erfunden, orientiert sich aber inhaltlich mit seiner Wortneuschöpfung an der ein Jahr zuvor publizierten Idee der K u l t u r k ö r p e r c h e n von CLOAK (1975, 168). „Ich hoffe, meine klassisch gebildeten Freunde werden mir verzeihen, wenn ich Mimem zu Mem verkürze.“ (DAWKINS 1976/1994, 309) Der Begriff Mneme taucht in diesem Zusammenhang schon bei dem österreichischen Soziologen EWALD HERING und dem deutschen Biologen RICHARD SEMON auf (SHIFMAN 2014, 10). 279 Für die Popularität des Membegriffes spricht, dass er gelegentlich in den Medien aufgegriffen wird, wie beispielsweise in der Fernsehsendung „Frontal 21“ vom 13.09.2013, die einen Beitrag mit dem Titel „Meme machen Politik“ enthielt. Das Mem-Konzept ist auch in der populären Comedyserie „Big Bang Theory“ (Staffel 4 Episode 20) ein zentrales Thema. Hier wird allerdings auch auf das Phänomen der Internet-Meme rekurriert (JOHANN / BÜLOW 2016; SHIFMAN 2014). 280 Das „Oxford Dictionary of English“ (2006, 1095) definiert ein Mem folgendermaßen: „meme […] an element of a culture or system of behavior passed from one individual to another by imitation or other non-genetic means.“
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Den Zusammenhang zwischen der Memetik und der neo-darwinistischen Auslegung der Evolutionstheorie beschreibt MESOUDI (2011, 42): Memetics makes the neo-Darwinian assumption that culture can be divided into discrete units that are inherited in a particulate fashion, like genes. It also assumes that memes are transmitted with high fidelity, this being one of the defining characteristics of a replicator according to Dawkins.
Für sogenannte Internet-Meme schlägt SHIFMAN (2014, 41) eine anwendungsorientierte Definition vor, die nicht zwingend der neo-darwinistischen Logik folgt: I define an Internet meme as: (a) a group of digital items sharing common characteristics of content, form, and/or stance, which (b) were created with awareness of each other, and (c) were circulated, imitated, and/or transformed via the Internet by many users.
Vermutlich hat sich die Fähigkeit zur Memweitergabe oder Imitation schon vor der Sprachfähigkeit herausgebildet. Die frühesten Steinwerkzeugfunde, die ein Alter von bis zu 2,5 Millionen Jahren aufweisen, belegen, dass die Vorfahren des modernen Menschen in der Lage waren zu imitieren. Daraus schlussfolgert DONALD (2012, 183): „any scenario for the evolution of language must assume that an amodal mimetic capacity was already in place“. Die Bedeutung des Lernmechanismus Imitation wird durch die MemTheorien zur kulturellen Evolution weiter verfestigt. Ein Mem wird von BLACKMORE (2000, 66) als ein eigenständiger, vom Gen unabhängiger, Replikator verstanden. Sich replizierende Einheiten sind die Grundvoraussetzung jedes Evolutionsprozesses, denn erst bei der Replikation kann es zu Variation kommen. Der Theorie zufolge werden Meme als Einheiten im Sinne eines Evolutionsprozesses kopiert und können in Memkomplexen auftreten, in denen sich die Meme gegenseitig verstärken. Als Beispiel dient DAWKINS (1976/1994, 310) das sogenannte „GottMem“, das durch Rituale, Vorschriften, Architektur und Musik verstärkt wird. Meme sind in Anlehnung an die neo-darwinistischen Dogmen unabhängige Replikatoren und lassen sich nicht ausschließlich mit einem Vorteil für die Gene erklären (WEGENER 2009, 53). Selbstverständlich brauchen auch die Meme eine entsprechende biologische Grundlage.281 Diese Grundlage passe allerdings gut in das Bild der biologischen Evolution des Menschen. BLACKMORE (2000, 133–134) erklärt das Größenwachstum des menschlichen Gehirns als einen Wechselwirkungsprozess, der ganz entscheidend durch die Fähigkeit zur Imitation vorangetrieben wurde. [D]er selektive (genetische) Vorteil des Nachahmungstriebes ist kein Geheimnis. Imitation mag sehr schwierig sein, ist aber sicherlich ein „guter Trick“, wenn man die Kunst erst einmal beherrscht. Wenn ihr Nachbar irgendetwas wirklich Nützliches gelernt hat – beispielsweise,
281 ROSENBACH (2008, 52) weist darauf hin, dass die Frage nach der materiellen Grundlage für einen kulturellen Replikator nach wie vor nicht befriedigend gelöst ist. LASS (1996, 5) hat festgestellt: „Memes are troublesome because they’re different from ‚classical‘ replicators (genes) in having no immediate canonical physical substrate. I think this is the trap Dawkins (surely unintentionally) laid for non-biologists: being captivated by his own meme (the meme)“.
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess welche Pflanzen man essen kann und welche man besser meiden sollte, oder wie man an das saftige Innere einer stachligen Frucht gelangt –, könnte es sich (in biologischer Hinsicht) auszahlen, ihn zu kopieren. (BLACKMORE 2000, 133)
BLACKMORE versteht das Imitationslernen – ähnlich wie TOMASELLO (2006) – als intentionales Lernen, das vom sozialen Lernen der Tiere unterschieden werden muss, da es eine theory of mind-Fähigkeit voraussetzt.282 Die Verbindung zwischen fortgeschrittenen sozialen Fähigkeiten […] und Imitation ist folgende: Um jemanden zu betrügen, zu täuschen uns sozial zu manipulieren, muss man in der Lage, sich in einen anderen hineinzuversetzen, […], sich vorzustellen, wie es wohl wäre, dieser andere zu sein. Genau dies braucht man, um jemanden zu imitieren. (BLACKMORE 2000, 134)
Das Gehirnwachstum des Menschen erklärt BLACKMORE u. a. mit dem Druck, immer besser und genauer imitieren zu müssen. Zudem fand eine sexuelle Selektion zugunsten derjenigen statt, die gute Imitatoren waren. Dieser Selektionsdruck bevorzugte dann wiederum die Gene, die Gehirne ausbildeten, die besser zur Imitation geeignet waren. Diese Entwicklung von Gehirn und Imitationsfähigkeit kann als Koevolution zweier Replikatoren verstanden werden.283 Sobald sich Sprache herausgebildet hatte, war sie auch der sexuellen Selektion dienlich. Wobei insbesondere die Sprach- und Schriftfähigkeit eine Dynamisierung der kulturellen Evolution gegenüber der biologischen Evolution bewirkte. DAWKINS (1976/1994, 320) schreibt, dass „die Meme automatisch das Ruder übernehmen“, und BLACKMORE (2000, 139) spricht davon, dass die Meme den Genen „ihren Willen aufzwingen“.284 Als mögliche Selektion erzeugende Handlungsmaxime formuliert BLACKMORE (2000, 136) deshalb: „Imitiere den besten Imitator!“ Das Einhalten dieser Hand 282 TENNIE / OVER (2012, 242) zeigen, dass sich die Fähigkeit zum Imitationslernen zwischen Menschen und anderen Primaten grundsätzlich unterscheidet. Beobachtungen aus dem Tierreich lassen allerdings vermuten, dass zumindest einige Vogelarten, Fledermäuse und Wale ihre stimmliche Kommunikation auch durch Imitation erlernen können. Insbesondere die Imitationsfähigkeit einiger Singvögel wie dem Zebrafinken erinnert erstaunlich an menschliche Leistungen (SLATER 2012, 100; HAESLER 2007, 15–16). 283 DENNETT (1991, 210) geht sogar so weit zu behaupten, dass auch unser Bewusstsein das Ergebnis eines koevolutionären Prozesses von Genen und Memen ist. „Die Grundlage der Selbst-Kenntnis sieht er [DENNETT; LB] in der Notwendigkeit einer Kontrolle unserer eigenen Bewegungen im physikalischen Raum. Die einfachste Art, dieses Wissen zu erwerben, liege in der Beobachtung: Tue etwas und beobachte, was sich bewegt. Im Kontakt mit unserer Umwelt entsteht ein Spiegelbild unserer Aktionen: Das Selbst.“ (WEGENER 2009, 62) 284 WEGENER (2009, 66) sieht hingegen eine Symbiose zwischen Genen und Memen. Aus der Perspektive der Epigenetik schildert WEIGEL (2010, 109) die Frage nach dem Verhältnis folgendermaßen: „Da mit dem Beginn der Kulturgeschichte die Menschen den Gesetzen der Evolution partiell entlaufen sind, weil sie durch ihre Interventionen in die Umwelt, durch selbst geschaffene Lebensbedingungen, Kulturtechniken und Artefakte nicht mehr allein Objekte von Gesetzen der Auslese und Anpassung sind, stellt sich die Frage, auf welche Weise kulturelle Phänomene die ‚natürliche Evolution‘ begrenzen, und darüber hinaus, wie sie in diese einwirken, sie regulieren und modifizieren“.
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lungsmaxime dürfte für den sozialen Erfolg eines Individuums nicht abträglich sein. Gene zeichnen sich laut DAWKINS (1976/1994, 49–50) als gute Replikatoren dadurch aus, dass sie die Eigenschaften Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wiedergabetreue besitzen. Die gesprochene und insbesondere die geschriebene Sprache dürften die Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wiedergabetreue von Memen und Memkomplexen erhöhen. Zunächst wurden die großen Ereignisse und Mythen der Kulturen von Generation zu Generation mündlich tradiert, bevor man im ersten Jahrtausend v. Chr. in Europa begann, diese auch niederzuschreiben. So können wir noch fast 2500 Jahre später einen Eindruck der Erzählungen und Mythen gewinnen, die maßgeblich unsere Kultur mitgeprägt haben. Die großen monotheistischen Weltreligionen sind allesamt Buchreligionen. Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert gilt als ein entscheidender kultureller Meilenstein. Die Verbreitung von Informationen durch Fernsehen, Hörfunk und Internet ist eine weitere qualitative Entwicklung in der Geschichte der Fruchtbarkeit der Meme. Wie das Internet als Multiplikator für Hysterien funktioniert, wird eindrucksvoll von WEGENER (2009, 66–70) dargestellt.285 Auch sogenannte InternetMeme verbreiten sich viral (JOHANN / BÜLOW 2016). Mit der Feststellung, dass die Sprache die Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wiedergabetreue von Memen erhöht, könnte auch eine komplexe Grammatik erklärt werden: „In diesem Sinne kann man Grammatik als neue Möglichkeit zur Erhöhung der ‚Fruchtbarkeit‘ (Verbreitungsrate) und der ‚Wiedergabetreue‘ ansehen“ (BLACKMORE 2000, 174). Grammatische Strukturen sind zudem langlebiger als die semantischen Eigenschaften von sprachlichen Strukturen. Sprache wird so zu einem bedeutenden Kulturträger und dient als wichtiges Medium für die Weitergabe von Memem. Vielleicht hat allerdings gerade die Nähe des Mem-Konzepts zum NeoDarwinismus Fragen aufgeworfen, die bis heute nicht befriedigend gelöst sind. ROSENBACH (2008, 27) nennt folgende Probleme: Was genau wird repliziert? Sind sowohl Oberflächenmerkmale als auch tieferliegende Strukturen betroffen? „For example, the whole melody, or only certain parts of it, or even single sounds?“ Was ist die materielle Grundlage der Meme? „(analogous to the molecular material underlying genes, i.e. DNA or RNA)?“ Wie exakt ist die Imitation von Memen? „(analogous to self-replication of genes via sexual reproduction)?“ 285 WEGENER (2009) hat den Prozess einer psychischen Epidemie für das ADD-Syndrom (Attention Deficit Disorder; auch bekannt unter dem Kürzel ADHS) nachgewiesen. „Dennoch ist der rasche Aufbau der inzwischen auch in Deutschland anzutreffenden Infrastruktur von Selbsthilfegruppen, Fachliteratur und Psychologen ohne die Massenmedien nicht denkbar. Wir mussten zu dem Schluss kommen, dass im Prinzip niemand der von uns Interviewten richtig in die Schublade ADD passt. Vieles spricht hier also tatsächlich für einen neuen Memplex, den ADD-Memplex.“ (WEGENER 2009, 70)
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Als Replikatoren auf sprachlicher Ebene identifiziert CROFT (2000, 28) in Anlehnung an die Mem-Theorie von DAWKINS (1976/1994, 304–322) Lingueme.286 CROFT (2000) betont allerdings den sozialen Charakter der Sprache und den Einfluss der sozialen Umweltfaktoren auf deren Entwicklung.287 Die sozialen Umweltfaktoren dominieren nach CROFT die Selektionsprozesse.288 Lingueme sind die sprachlichen Replikatoren, die als konkrete Äußerungen erscheinen. Menschen kopieren demnach sprachstrukturelle Einheiten von anderen Menschen, ein Vorgang, den SCHMIDT / HERRGEN (2011, 29) Mikrosynchronisierung nennen. Bei der Reproduktion (Replikation)289 kann es aus verschiedenen Gründen zu Abweichungen und Modifikationen kommen. Welche Abweichungen selektiert werden, hängt von inner- und außersprachlichen Faktoren ab. Damit ist sprachliche Variation allerdings nicht grundsätzlich blind in Bezug auf die (sozialen) Umweltbedingungen. Der Einfluss von außersprachlichen Faktoren auf die Sprachentwicklung wird in BLACKMORES (2000) und DAWKINSʼ (1976/1994) Konzeptionen keine Beachtung geschenkt, ist aber eine nicht zu vernachlässigende Tatsache für den Sprachwandel. Aus diesem Grund wendet sich MUFWENE (2010, 313; 2008, 20) bewusst gegen eine evolutionäre Sprachwandeltheorie im Sinne der Memetik. Er betont vielmehr den lamarckistischen Charakter des Sprachwandels auf der Mikroebene. As organisms, idiolects are indeed more Lamarckian than Darwinian [präziser wäre wohl neo-Darwinian; LB], since they frequently change their genetics makeups while they adapt to their different hosts, on whose life-style their vitality depends. (MUFWENE 2010, 313)
MUFWENE meint damit nicht, dass Sprachwandel einen Einfluss auf die genetische Evolution hat. Kulturelle Fertigkeiten wie Schreiben oder Lesen, die im Laufe des Lebens gelernt werden, können nicht genetisch vererbt werden. Mit lamarckistisch ist hier gemeint, dass Wissen und Fertigkeiten direkt durch soziale Lernprozesse an die Nachkommen weitergegeben werden. Viel hängt nun davon ab, was als equivalent zur Genotyp-Phänotyp-Unterscheidung der synthetischen Evolutionstheorie für die kulturelle Evolutionstheorie modelliert wird. Im Folgenden 286 MUFWENE (2010, 313) vergleicht linguistic features (vgl. Kap. 6), auf deren Ebene Selektion stattfindet, mit Viren. „This is precisely the reason why I rejected Richard Dawkins’ (1976/1989) memetics as not being the right application of the biological model to cultural evolution […].“ (MUFWENE 2010, 313) RITT (2004) moduliert seinen evolutionären Ansatz hingegen ganz im Sinne der Mem-Theorie. 287 Den Einfluss sozialer Faktoren auf den Sprachwandel haben u. a. LABOV (1980) und MILROY / MILROY (1985) herausgearbeitet. 288 Dazu kritisch ROSENBACH (2008, 44). 289 Variationen können schon bei der kognitiven Sprachverarbeitung auftreten, wenn Einheiten in ein dominantes Schema eingepasst werden (vgl. Kap. 3.3). Auch in diesem Punkt besteht eine Abweichung zur neo-darwinistischen Auffassung. MESOUDI (2011, 42–43) relativiert allerdings: „Given our current lack of understanding of such issues, it is impossible to say with certainty whether cultural transmission, at the neural level, is particulate or nonparticulate. Without this evidence, a cautious working assumption should be that cultural variation may, in some cases, be continuous, and that cultural transmission may, in some cases, be blending“.
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(vgl. Kap. 3.3) wird dafür argumentiert, dass Schematarepräsentationen290 auf der neuronalen Ebene dem Genotyp entsprechen. Die phänotypische Ausprägung ist dann das konkrete sprachliche Verhalten des Individuums. Lamarckistisch ist dieses Verständnis deshalb, weil die Individuen nicht die neuronalen Muster von anderen Personen kopieren, sondern deren Verhalten. If we then modify the acquired beliefs, knowledges, and skills in some way before transmitting them to someone else, we can be said to be engaging in Lamarckian cultural inheritance. (MESOUDI 2011, 44)
Weiterhin kann Sprachwandel insbesondere auf der Mikroebene – im Gegensatz zu den neo-darwinistischen Dogmen, die BLACKMORE und DAWKINS vertreten – intentional induziert sein. Dafür spricht, dass wir unser Sprachverhalten auch an dynamischen Maximen ausrichten (vgl. Kap. 2.2.3). TOMASELLO (2006, 15) versteht kulturelle Weitergabe zunächst als einen „gewöhnlichen Evolutionsprozeß, der einzelnen Organismen hilft, viel Zeit und Mühe und vor allem Risiken einzusparen, indem sie das bereits vorhandene Wissen und die Fertigkeiten ihrer Artgenossen nutzen“, indem sie kulturelle Errungenschaften kopieren bzw. replizieren. Wie gezeigt wurde, nimmt der Mensch in den Bereichen Imitation, Lernen, Lehre und Sprache eine Sonderstellung ein, die ihn von seinen nächsten Verwandten unterscheidet. Die Grundlage der kulturellen Weitergabe besteht in der Möglichkeit, Informationen effektiv und nachhaltig auszutauschen. In diesem Sinne wird die Entwicklung unserer Kommunikationsformen und -plattformen die kulturelle Evolution des Menschen weiter beschleunigen (CAVALLI-SFORZA 1999, 225). Die Lernmechanismen, über die der Mensch verfügt, befähigen ihn dazu, seine Leistungen und wichtigen technischen und sozialen Entwicklungen so zu tradieren, dass sie auf einer kulturellen Entwicklungslinie abgetragen werden können (TOMASELLO 2006, 72; VYGOTSKIJ 1992, 53–54).291 Diese kulturelle Entwicklungslinie wird in der Ontogenese des Menschen weitergegeben. TOMASELLO (2006, 72) spricht auch von „kultureller Vererbung“ bzw. „kulturellem Lernen“.292 Sein Verständnis kultureller Vererbung „konzentriert sich auf intentionale Phänomene, bei denen ein Organismus das Verhalten eines anderen oder dessen Perspektive auf etwas Drittes übernimmt“ (TOMASELLO 2006, 72). Zur kulturellen Entwicklungslinie kommt die individuelle Entwicklungslinie, die diejenigen Entwicklungsprozesse beschreibt, die der Organismus „ohne den direkten Einfluß anderer Personen oder ihrer Artefakte“ (TOMASELLO 2006, 72) vollzieht.293 TO 290 Diese Schemata repräsentieren das bewusste und unbewusste Wissen und die Fertigkeiten und Einstellungen eines Individuums. 291 TOMASELLO (2006, 16) verweist insbesondere darauf, dass der Mensch zur kumulativen kulturellen Evolution fähig ist. Diese wird auch als W a g e n h e b e r e f f e k t bezeichnet. 292 Zu den kulturellen Lernprozessen zählt TOMASELLO (2006, 16–17): Imitationslernen, Lernen durch Unterricht und Lernen durch Zusammenarbeit. 293 Die Unterscheidung zwischen kultureller und individueller Entwicklungslinie geht auf VYGOTSKIJ (1934/1979; 1992) zurück.
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MASELLO meint damit im Wesentlichen die genetische Entwicklung. MESOUDI (2011, 4) unterscheidet zudem zwischen kultureller Weitergabe von Informationen, genetischer Entwicklung und „individual learning, which describes the process of learning on our own with no influence from other individuals“. Die genetische Entwicklungslinie und die kulturelle Entwicklungslinie gehen allerdings sehr früh in der ontogenetischen Entwicklung des Menschen ineinander über und können kaum scharf voneinander getrennt betrachtet werden.294 Die Naturanlagen des Menschen lassen sich wohl kaum gegen das kulturelle Lernen ausspielen. Eine Dichotomie zwischen Natur und Kultur ist hier verfehlt. LORENZ (1967, 386) bringt diese Tatsache auf den Punkt:
Der Erwerbungsvorgang, durch den ein Jugendlicher in den Besitz aller Überlieferungen seiner Kultur kommt, verläuft nach einem phylogenetisch festgelegten Programm wie alle Lernvorgänge überhaupt. Der Mensch ist schon phylogenetisch so konstruiert, daß viele seiner Verhaltensmuster, ja seiner nervlichen Organisationen, gar nicht funktionieren können, ohne durch kulturelle Überlieferungen ergänzt zu werden.295
Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch VYGOTSKIJ (1934/1979, 52): Wollte man versuchen, die Entwicklung des Denkens nur vom biologischen Standpunkt zu schreiben oder – wie es Mode zu werden droht – nur vom sozialen Standpunkt so liefe man Gefahr, die Hälfte der Wirklichkeit im Dunkeln zu lassen.
Als wichtigsten Lernmechanismus hebt TOMASELLO (2006, 72) die Imitation heraus.296 Die Imitationsleistung von Menschen und Tieren unterscheidet sich allerdings in einem wesentlichen Punkt. Der Mensch ist nicht nur in der Lage, die Aufmerksamkeit eines anderen Menschen auf etwas zu lenken, er kann darüberhinaus andere Menschen imitieren und unterstellt ihnen intentionales Verhalten. Dies ist ein Grund, warum Menschenkinder bei kulturellen Intelligenztests deutlich besser abschneiden als Affen (MESOUDI 2011, 16). Die Sprachfähigkeit des Menschen scheint ein wichtiger Ausdruck dieses Sozialverhaltens zu sein.297 Die Spracherwerbsforschung (BEHRENS 2011, 265; KLANN-DELIUS 2008, 191; TOMASELLO 2005, 27; DĄBROWSKA / LIEVEN 2005, 438–439) hat wichtige Evidenzen dafür erbracht, dass die Sprache ganz wesent 294 VYGOTSKIJ (1992, 54) hat diesen Zusammenhang früh erkannt: „Die Problematik der Entwicklung der höheren psychischen Funktionen beim Kinde ist insofern außergewöhnlich und schwierig, als die beiden Linien in der Ontogenese vereinigt sind und einen einheitlichen, wenn auch komplizierten Prozeß bilden“. 295 Wie CHOMSKY (1981), PINKER (1998) und ANDERSON / LIGHTFOOT (2002) geht LORENZ (1967, 386) allerdings davon aus, dass ein Sprachhirn als mentales Organ lokalisiert werden kann. 296 TOMASELLO (2006, 72) beschreibt Kinder sogar etwas unpassend als „Imitationsmaschinen“. Außerdem spricht er von „imitative learning“ als wichtiger Lernstrategie, um symbolische Kommunikation zu lernen (TOMASELLO 2005, 27). 297 DUNBAR (2012, 344–345) behauptet, dass die wesentliche Funktion der Sprache im „social grooming“ bestünde. Mit Sprache würde insbesondere der Gruppenzusammenhalt gestärkt. Dies zeige sich u. a. darin, dass der Mensch ca. zwei Drittel seiner Kommunikation damit verbringe, über soziale Themen zu sprechen.
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lich auch durch Imitation gelernt und somit durch die kulturelle Entwicklungslinie tradiert wird.298 Eine genaue Analyse der Lernprozesse zeigt, dass Kinder anfangs konservative Lerner sind: Sie übernehmen gehörte Strukturen aus dem Input und reproduzieren sie, generalisieren aber zu Beginn nur sehr vorsichtig […]. (BEHRENS 2011, 265)
Neben der erfolgreichen Imitationsleistung muss allerdings auch die Generalisierungsleistung des Menschen in Bezug auf seine Sprachfähigkeit hervorgehoben werden. Diese Fähigkeit zu generalisieren wird auch als pattern finding bezeichnet (KLANN-DELIUS 2008, 188; TOMASELLO 2005, 30). Was angeboren ist, sind generell wirksame Verarbeitungsprinzipien wie etwa das Erkennen von Mustern, deren Analyse, Abstraktion und Generalisierung. Dabei entstehen langsam Kategorien und Strukturen, wobei Schwankungen auftreten. (ELSEN 1999, 207)299
Die interaktionistischen Ansätze gehen grundsätzlich davon aus, dass sprachliche Strukturen durch den Sprachgebrauch vermittelt und gelernt werden. „[L]anguage structure emerges from language use“ (TOMASELLO 2005, 5). Sprachliches Wissen wird kulturell tradiert, wenn auch eine gewisse kognitive Veranlagung zum Lernen von Sprache besteht. Damit wird im Folgenden auch das transition problem (WEINREICH / LABOV / HERZOG 1975, 184–185) angesprochen. Die Tradierung sprachlichen Wissens erfolgt allerdings – und hier besteht ein weiterer Unterschied zur neo-darwinistisch-biologischen Evolution – nicht zwingend vertikal.300 Sie muss also nicht von den biologischen Eltern ausgehen. Die Weitergabe oder Synchronisierung von Sprachwissen findet ebenso horizontal und oblique statt.301 Oblique Diffusion bedeutet in diesem Kontext, dass kulturelle Informationen wie sprachliche Strukturen auch von Personen vermittelt werden können, die nicht die biologischen Eltern sind. Horizontale Diffusion ist ein Prozess des kulturellen Lernens von Personen der gleichen Generation. Interessanterweise vergleicht CAVALLI-SFORZA (1999, 195) die horizontale Übermittlung mit einer viralen Infektionskrankheit.302 Ob kulturelle Erneuerungen horizontal weitergegeben werden, hängt u. a. davon ab, ob sie sozialen Erfolg versprechen. Das ist vergleichbar mit den Verhältnissen bei einer Infektionskrankheit, wo die Fähigkeit des Virus oder Parasiten, sich im Wirtsorganismus festzusetzen und fortzupflanzen, einen be-
298 Diese Forschungsergebnisse unterstützen ganz wesentlich interaktionistische Spracherwerbshypothesen (KLANN-DELIUS 2008, 144–192). 299 BYBEE (2010, 219–220) postuliert auf der Grundlage der Konstruktionsgrammatik allgemeine Verarbeitungsmechanismen, die zu Strukturähnlichkeiten in den sprachlichen Konstruktionen vieler Einzelsprachen führen. 300 Die Begriffe vertikale und horizontale Übertragung stammen aus der Epidemologie. Insbesondere CAVALLI-SFORZA (1999, 218) bemängelt, dass die Linguistik zu wenig über die Übermittlungsprozesse von Sprachwissen weiß. 301 Eine Übersicht über die verschiedenen Möglichkeiten der kulturellen Weitergabe, Variation und Selektion bietet MESOUDI (2011, 57). Vgl. dazu auch CAVALLI-SFORZA (1999, 201). 302 Auch MUFWENE (2008, 23) bemüht für seine evolutionäre Sprachwandeltheorie den Vergleich mit der Entwicklung und Ausbreitung von Viren.
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess stimmten Schwellenwert der Infektiosität übersteigen muß, ehe die Epidemie beginnen und sich ausbreiten kann. (CAVALLI-SFORZA 1999, 195)
Außerdem kann bei der kulturellen Weitergabe unterschieden werden, ob eine Eins-zu-eins-Übertragung stattfindet, oder viele Personen von einer Person lernen. Insbesondere der letztere Mechanismus mag eine Ursache dafür sein, dass kulturelle Evolutionsprozesse so viel schneller verlaufen. „Cultural evolution gets faster as transmission becomes one-to-many, as exemplified by oblique or horizontal transmission via the mass media or mass education.“ (MESOUDI 2011, 59) Konservativer ist hingegen die kulturelle Weitergabe von vielen Personen zu einer Person, insbesondere in Familienverbänden (CAVALLI-SFORZA 1999, 197). CAVALLI-SFORZA (1999, 210–211) stellt zudem fest, dass es gewisse Empfänglichkeitsperioden oder sensible Lebensphasen für die Annahme von kulturell übermittelten Informationen gibt. Was das Sprachlernen betrifft, muss nach wie vor angenommen werden, dass zumindest der Erstspracherwerb in den ersten Lebensjahren besonders durch die Elterngeneration geprägt wird.303 Der schnelle Wandel im Bereich der Jugendsprache ist hingegen vorrangig der horizontalen Weitegabe geschuldet. Die (neo-darwinistisch) biologische Evolution unterscheidet sich in einigen Punkten von kulturellen Evolutionsprozessen. Es lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten feststellen. Einige Isomorphien, die von verschiedenen Autoren aufgeführt werden, können sicher hilfreich sein, um gewisse Prozesse anschaulich zu erklären. Anderen Gleichsetzungen muss allerdings mit großer Vorsicht begegnet werden. Daher muss an dieser Stelle nochmals deutlich unterstrichen werden, dass kulturelle Evolution darwinistisch (und zu einem gewissen Teil auch lamarckistisch) gedacht werden kann und nicht zwingend blind im Sinne des NeoDarwinismus ist.304 Evolution – mehr als eine hilfreiche Metapher, um Sprachwandel zu erklären Kulturelle Evolution zeichnet sich im Gegensatz zur biologischen Evolution dadurch aus, dass Einheiten bzw. Informationen nicht genetisch vererbt werden. Die Weitergabe erfolgt durch verschiedene Lehr- und Lernprozesse. Insbesondere MCMAHON / MCMAHON (2013, 13–18) weisen darauf hin, dass zunächst geklärt werden muss, wie der Evolutionsbegriff dann verwendet wird. Kulturelle Evolutionsprozesse können nicht bedenkenlos mit biologischen Evolutionsprozessen gleichgesetzt werden. Die Mutation eines Gens ist etwas anderes als das Auftreten einer neuen Lautvariante oder eines neuen Begriffes. 303 Kinder lernen daher in der Regel auch die Sprache(n) ihrer biologischen Eltern. 304 Eine ähnliche Auffassung vertritt MESOUDI (2011, 64): „The key point is that a valid and useful Darwinian theory of cultural evolution can be constructed that has Lamarckian-like guided variation as one of several microevolutionary processes, and this should be distinguished from entirely Lamarckian (and invalid) Spencerian notion of cultural evolution […]“.
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However, we must constantly remind ourselves that we are dealing here with evolution as a metaphor: variation and change can be interpreted as analogous to genetic mutation, variation and selection, but in our terms the rise of linguistic variants and their possible embedding in language systems through change are crucially historical rather than evolutionary processes, which therefore do not in fact involve any genetic mutation, variation or selection. (MCMAHON / MCMAHON 2013, 14)
Im Folgenden wird allerdings gezeigt, dass der Evolutionsbegriff mehr als eine Metapher sein kann, um Sprachwandelprozesse zu erklären.305 Dafür werden Isomorphien zwischen kultureller Evolution und Sprachwandel aufgezeigt. Sprachwandelprozesse verlaufen beispielsweise über die (sich teilweise überlappenden) Stufen Replikation, Variation und Selektion. RITT (2004, 89–91) hat eine Liste mit möglichen Isomorphien zwischen biologischer Evolution und Sprachwandel erarbeitet. Neben vielen auf den ersten Blick erstaunlichen Isomorphien verweist RITT allerdings zu Recht auch auf die Grenzen, die mit solchen Übertragungen verbunden sind. So steht beispielsweise die Beobachtung, dass sowohl Sprachen als auch biologische Arten aussterben können, der Feststellung gegenüber, dass bei der biologischen Reproduktion eines Individuums maximal zwei Eltern beteiligt sind, wohingegen sehr viele Sprecher Einfluss auf die sprachliche Entwicklung eines Kindes nehmen. RITT (2004, 91) schlägt daher vor, zunächst die generellen und universellen Prinzipien von Evolutionsprozessen herauszuarbeiten, bevor voreilige Analogien zu Fehlinterpretationen führen. The question is therefore whether evolution of the Darwinian type can occur independently of the DNA substrate in which it happens to be realised in the case of biological life, and under what conditions we may expect to find it. Only later we may ask if such conditions obtain in the domain of language as well. (RITT 2004, 91)
Diese allgemeingültigen Prinzipien werden im Wesentlichen von der Systemtheorie erforscht, deren Grundannahmen schon ausführlich dargestellt und diskutiert wurden (vgl. Kap. 2.3 und 2.4). Die Systemtheorie ist seit den ersten Ansätzen interdisziplinär konzipiert und sucht nach den grundlegendsten Gemeinsamkeiten von Systemen in verschiedenen Forschungsdisziplinen. BERTALANFFY (1972, 21) drückt das Forschungsinteresse der Allgemeinen Systemtheorie folgendermaßen aus: Natürlich müssen Systeme – physikalische, chemische, biologische, soziologische und so fort – in ihren Eigenheiten untersucht werden. Andererseits aber stellt sich heraus, daß für die Systeme gewisse sehr allgemeine Prinzipien gelten – unabhängig davon, was das System als Ganzes, die Natur seiner Komponenten und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen
305 Insbesondere auf der Mikroebene der ‚konkreten Prozesse‘ haben sich diverse Konzeptionen von Evolution herausgebildet. Hier können biologische und kulturelle Evolution nur bedingt verglichen werden. Die auf der Mesoebene abstrahierten Merkmale der Prozesse können aber durchaus als isomorph beschrieben werden. Diese Prozesse sind im Wesentlichen: Replikation, Variation und Selektion. Der ebenfalls abstrakte Begriff Evolution verbindet diese Konzepte und gibt diese als zentrale Kategorien gleichsam vor. Diese Prozesse sind gewissermaßen merkmalstypisch für das Konzept Evolution.
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess oder Kräfte sein mag. Mit anderen Worten: zwischen an sich verschiedenen Systemen bestehen Gleichförmigkeiten oder Isomorphien in gewissen allgemeinen Prinzipien.
Wie bereits erörtert (vgl. Kap. 2.3.1), hat sich die Systemtheorie allerdings in verschiedene erkenntnistheoretische Lager aufgespalten, von denen hier diejenigen Ansätze favorisiert werden, die Systeme für Umwelteinflüsse als offen und lernfähig modellieren und eine gewisse Nähe zur Evolutionären Erkenntnistheorie aufzeigen.306 Eine der wichtigsten Thesen dieser Arbeit lautet, sprachliche Diversität ist das Ergebnis von evolutionärem Sprachwandel. Bisher wurde dargelegt, dass Sprachwandel nicht ausschließlich durch innersprachliche oder außersprachliche Umweltfaktoren erklärt werden kann. Diese Feststellung legt die Vermutung nahe, dass nach Prozessen gesucht werden muss, die Wechselwirkungen zwischen internen und externen Umweltbedingungen eines Systems stärker einbeziehen. Insbesondere die Evolutionstheorie nach darwinistischem Vorbild hat sich bisher bewährt, Systemwandelprozesse mit Bezug zur außersystemischen Umwelt zu erklären. Dabei müssen allerdings die jüngsten Forschungsergebnisse der Epigenetik berücksichtigt werden, die einige der Dogmen des Neo-Darwinismus aufbrechen.307 Variation kann nicht ausschließlich auf blinde Mutationen und Zufallsereignisse zurückgeführt werden. Die Umweltbedingungen wirken, insbesondere was das Verhältnis von Form und Funktion betrifft, viel stärker auf Systemorganisation zurück, als bisher angenommen wurde (NEUWEILER 2008, 83; HO / SAUNDERS 1982, 352).308 Um Sprachwandel als evolutionären Prozess anerkennen zu können, wird es entscheidend sein zu zeigen, auf welcher Ebene Replikation, Variation und Selektion stattfinden. Außerdem ist zu diskutieren, in welcher Weise Sprachwandel einen Anpassungsprozess darstellt. „Die Crux der Evolutionsanalogie im Sprachwandel besteht darin, dass jedwedes solche Modell eine Folie oder Matrix für Fitness und Anpassung benötigt. Ansonsten bleibt die Analogie brüchig.“ (KNOBLOCH 2011, 240) Zunächst wird allerdings diskutiert, mit welcher Berechtigung Sprache als System beschrieben werden kann. Eine Modellierung der Sprache als geschlossenes System im hypostasierten Sinne durch die strukturalistische Linguistik in Anschluss an den „Cours“ wurde schon dahingehend kritisiert, dass diese Konzeption lediglich innersprachliche Faktoren berücksichtigt und mit ihrer synchronen Ausrichtung insgesamt wenig Platz lässt, historische Linguistik zu betreiben. Eine generalisierende und dynamische Sichtweise auf biologische und kulturelle Systemprozesse verspricht der Ansatz der komplexen adaptiven Systeme, der im Folgenden dargestellt wird. 306 Mit der Einschränkung, dass Variation auf kultureller Ebene nicht blind stattfindet, wie CAMPBELL (1965, 46) noch behauptet hatte. 307 Es sind aber insbesondere die Arbeiten von Neo-Darwinisten wie DAWKINS (1976/1994), PLOTKIN (1994) oder CZIKO (1995), die den Weg für eine metaphorische Übertragung des Evolutionskonzepts auf den Sprachwandel geebnet haben. 308 So können lokale Anpassungen des (Sub)Systems an systeminterne und systemexterne Umweltbedingungen Variationen (auch in anderen Subsystemen) verursachen.
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Generalized Darwinism aus einer sprachhistorischen Perspektive In den letzten Jahren wurden mehrere Deutungsangebote erarbeitet, wie Sprachwandel als evolutionärer Wandel zu denken sei. Die Entwürfe von KELLER (2003; 1987), ZEIGE (2011) und CROFT (2000) wurden diesbezüglich schon genauer erläutert. Im Folgenden werden Probleme und Fragen aufgeworfen, zu deren Lösung weitere Autoren wie RITT (2004), MUFWENE (2008; 2001) oder ROSENBACH (2008) einzubeziehen sind. Im Mittelpunkt steht weiterhin die Annahme, dass Replikation, Variation und Selektion die bestimmenden Prozesse sowohl für Evolution im Allgemeinen als auch für Sprachwandel im Speziellen sind. Zunächst muss der Frage nachgegangen werden, wer oder was eigentlich die Replikatoren im Sprachwandel sind. CROFT (2000) und RITT (2004) greifen einen Vorschlag von DAWKINS (1976/1994) auf und verstehen die Replikatoren von kulturellen Einheiten als Meme. CROFT führt, bezogen auf Sprache, den Begriff Lingueme ein. Lingueme sind folglich Sprach-Meme. Was genau wird allerdings repliziert? CROFT unterscheidet zwischen Tokens und Types. Eine Unterscheidung, die auch LASS (1996, 7) für relevant hält: „The nub is whether memedomain replicators are all tokens, or whether there are reasonable candidates for types“. Die Elemente, die physikalisch repliziert werden, sind für CROFT Tokens. Diese Tokens besitzen allerdings Strukturen, die von CROFT als Types charakterisiert werden. Der Begriff Lingueme verweist sowohl auf den Tokencharakter als auch auf den Typecharakter der replizierten sprachlichen Einheit. Lingueme können für CROFT beispielsweise Phoneme, Morpheme, Wörter oder auch syntaktische Konstruktionen sein. Thus, the paradigm replicator in language is the lingueme, parallel to the gene as the basic replicator in biology; an utterance is made up of linguemes, and linguemes possess linguistic structure. (CROFT 2000, 28)
RITT (2004, 157) schlägt hingegen vor, nicht die Äußerung selbst als repliziert zu betrachten, sondern den mentalen Status (‚brain-states‘), der hinter der Äußerung steht.309 Wie könne sonst die Struktur der Äußerungen verstanden und wieder kopiert werden? RITT (2004, 196) stellt passenderweise die Frage: „How can one 309 RITT (2004) vertritt einen generativen Ansatz. Er geht davon aus, dass die Tiefenstruktur (Genotyp) kopiert wird und nicht die fertigen Äußerungen (Phänotyp). RITT folgt damit einem Vorschlag von DAWKINS (2000, 13; Vorwort in BLACKMORE 2000), zwischen Anweisung (Bauplan, Genotyp) und Produkt (Phänotyp) zu unterscheiden. ROSENBACH (2008) weist darauf hin, dass sich generative und funktionalistische Ansätze in der Frage annähern, von welcher Sprechergruppe Sprachwandel ausgeht. Sprachwissen kann sich demnach sowohl bei erwachsenen Sprechern als auch durch den Erstspracherwerb ändern. „It is in this sense that evolutionary models may bridge, or at least reconcile, the gap between formal and functional views on language change, though it should also be noted that the old polarities still persist or may even be highlighted, as e.g. in CROFT’s (2000) functional and Lightfoot’s (1999) generative model.“ (ROSENBACH 2008, 51) Gegen die UG argumentieren aus evolutionstheoretischer Perspektive EVANS / LEVINSON (2009) und CHRISTIANSEN / CHATER (2008; 2007).
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copy what one cannot see?“. Sein Lösungsvorschlag für sprachliche Meme sieht wie folgt aus: A ‚meme‘ represents an assembly of nodes in a network of neurally implemented constituents, which has (a) a definite internal structure, (b) a definable position within a larger network configuration, (c) qualifies as a replicator in Dawkins’ sense. (RITT 2004, 169)
Als mögliche Lösung bietet sich an, eine Entsprechung auf neuronaler Basis zu suchen, ein Vorschlag, dem hier mit Verweis auf die komplexen adaptiven Systeme gefolgt wird (vgl. Kap. 3.2). Replikation ist auch ein mentaler Prozess, der eine neuronale Basis hat. ROSENBACH (2008, 50–51) verweist außerdem auf Prototypenkonzepte und Priming-Effekte.310 Im Zentrum ihres Ansatzes, der die Bedeutung von Priming herausstellt, steht allerdings auch ein konnektionistisches Sprachverarbeitungsmodell (vgl. Kap. 3.3). Under this view, linguistic knowledge is material in the sense that it corresponds to structures within a neuronal network, and language usage represents the actual activation of such structures under specific conditions. (ROSENBACH 2008, 50)
Jede Art von Verhalten – auch Sprachverhalten – kann letztlich auf Gehirnprozesse zurückgeführt werden, auch wenn die Neurowissenschaften aufgrund der Komplexität erst am Anfang sind, die Zusammenhänge zu verstehen. ROSENBACH (2008, 54) stellt weiterhin die Frage: „What is the replicating mechanism?“. Eine wichtige Rolle dürfte die menschliche Fähigkeit zur Imitation spielen, die eng damit verbunden ist, dass wir im Gegensatz zu unseren nächsten Verwandten in der Lage sind, eine theory of mind auszubilden (RÖSKA-HARDY 2011, 132; TOMASELLO 2006, 72; Kap. 3.1.2.1.3). Neuronal kann diese Fähigkeit mit Hilfe der Spiegelneuronen erklärt werden (ARBIB 2012, 208; vgl. Kap. 3.1.2.1.2). Eine Folge von abweichender Replikation (altered replication) ist Variation bzw. sprachliche Innovation (linguistic innovation). Variation ist die Voraussetzung für Sprachwandel. Aber wie und warum entsteht Variation? WEINREICH / LABOV / HERZOG (1975, 101–102) nennen diese Frage das actuation-Problem (vgl. Kap. 2). In der Literatur werden unterschiedliche Prozesse mit der Hervorbringung von sprachlichen Innovationen in Verbindung gebracht.311 LASS (1997, 305–324; 172–214) nennt drei sehr allgemeine Möglichkeiten:
310 Vgl. dazu auch JÄGER (2007, 103–104). 311 „Note that we can only recognize an innovation when it is already spreading. That is, it’s only successful innovations that we register, while one-off innovations go unnoticed.“ (ROSENBACH 2008, 34)
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a) Sprachkontakt (borrowing from other languages)312 b) Erneuerungen aus dem Nichts313 c) Veränderung von bereits bestehenden sprachlichen Strukturen Insbesondere der Einfluss des Sprachkontakts, wie er unter a) zusammengefasst ist, wird nach wie vor unterschätzt (vgl. Kap. 6). MUFWENE (2008, 67) betont hingegen die Bedeutung des Sprachkontakts für den Sprachwandel: „No study of evolution in a language […] is complete without a discussion of speciation and contact-induced change“. Der Begriff altered replication bezieht sich allerdings im engen Sinne lediglich auf c). LASS (1997) betont den Prozess der Nutzbarmachung von bereits bestehendem Sprachmaterial für neue Funktionen. In Anlehnung an ein Konzept der Evolutionsbiologie nennt er diesen Prozess Exaptation. LASS (1997, 316) definiert Exaptation als „a kind of conceptual renovation, as it were, of material that is already there, but either serving some other purpose, or serving no purpose at all“. Damit erweitert LASS (1997) sein Exaptationskonzept von 1990, indem er darauf hinweist, dass das sprachliche Ausgangsmaterial sowohl junk (LASS 1990, 82) als auch funktionstragend sein kann. „Thus perfectly ‚good‘ structures can be exapted, as can junk of various kinds.“ (LASS 1997, 316) Weiterhin fallen unter c) analogischer Wandel und Reanalyseprozesse. Für HOPPER / TRAUGOTT (2003, 69) sind Analogie und Reanalyse „the major mechanisms in language change“. Beide Prozesse werden in Kapitel 4.3 eingehend diskutiert. Unter c) lassen sich allerdings auch sogenannte Natürlichkeitskonflikte subsumieren, etwa solche zwischen Ausspracheökonomie und Konstruktionstransparenz. Wie diese Konflikte Sprachwandel initiieren können, wird in Kapitel 4.2 veranschaulicht, wo es schwerpunktmäßig um die Morphologische Natürlichkeitstheorie geht. An dieser Stelle sei allerdings festgehalten, dass Exaptation, Natürlichkeitskonflikte, Analogie und Reanalyse entscheidend für abweichende Replikation (altered replication) sind. Die Frage, die sich anschließt, ist, ob Innovationen zufällig sind, wie es die neo-darwinistische Lesart der Evolutionstheorie postuliert.314 Der Zufall lässt sich 312 LASS geht hier wohl von einer sehr allgemeinen Vorstellung von Sprachkontakt aus, die im Verlauf der Arbeit noch zu präzisieren ist. Im Folgenden wird der psycholinguistischen Begriffsbestimmung nach WEINREICH (1953) und der soziologischen Begriffsbestimmung von Sprachkontakt nach KREFELD (2004) gefolgt (vgl. auch Kap. 6). 313 JÄGER verdeutlicht, dass diese Quelle für Innovation nicht unterschätzt werden darf, auch wenn ihr auf den ersten Blick kein Prozess aus der biologischen Evolution entsprechen mag. „Every complex linguistic structure that can be grammatically constructed out of several linguemes can be hardened into a new lingueme, as soon as somebody stores it cognitively as an integral unit.“ (JÄGER 2007, 104) Aus dem Zitat wird allerdings auch ersichtlich, dass neue Lingueme immer nur aus anderen Linguemen zusammengesetzt oder von anderen Linguemen affiziert sind und eigentlich nicht aus dem Nichts entstehen. 314 ROSENBACH (2008, 39) macht unabhängig von epigenetischen Ansätzen folgende Einschränkung: „On the one hand, even in biology mutations are not completely random; certain DNA replications are just more likely to occur than others. Mutations are, however, random
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als Erklärung sicher nicht ganz ausschließen und viele Prozesse sind bis zu einem gewissen Grad kontingent, aber eben nur bis zu einem gewissen Grad, da sich die neue Struktur als anschlussfähig erweisen muss. Dennoch können viele Sprachwandelprozesse funktionalistisch mit Bezug auf die Strukturbedingungen der Sprache selbst, den kognitiven Verarbeitungs- und Lernmechanismen und mit Hilfe von soziolinguistischen Faktoren erklärt werden. Daher ist MUFWENE (2010, 313) und HASPELMATH (1999b, 193) in dieser Frage darin zuzustimmen, dass Sprachwandel auch lamarckistisch ist. An diesem Punkt wird deutlich, dass Variation und Selektion nur schwer voneinander getrennt werden können. KELLER (1997, 427) begreift Variation und Selektion als aneinander gekoppelte Prozesse: Variation und Selektion sind keine voneinander unabhängigen Prozesse, wie im Bereich der belebten Natur, sondern sie sind aufeinander bezogen. Der Kodebenutzer antizipiert die zu erwartende Selektion und versucht, den Ausgang durch günstige Wahl für sich zu entscheiden.
ROSENBACH (2008, 40) beschreibt in Anlehnung an KROCH (1994) zwei Entwicklungsmöglichkeiten für in Konkurrenz stehende Varianten: Eine Variante stirbt aus und die andere Variante wird zum alleinigen Ausdruck. Die Varianten werden für spezielle Anwendungsfälle verwendet. Sie werden funktional oder für bestimmte soziale Kontexte spezialisiert. Die Varianten suchen/finden eine kommunikative Nische. Selektion setzt immer dort an, wo Varianten (differential replication) auftreten. „However, selection is present in the process leading to functional/social differentiation or whenever variants come to be associated with new values.“ (ROSENBACH 2008, 40) In Analogie zum evolutionsbiologischen Begriff natürliche Selektion (natural selection) nennen einige Linguisten den Vorgang „functional selection“ (NETTLE 1999, 30–35) oder „linguistic selection“ (KIRBY 1999, 36). Selektion führt schließlich zur Anpassung bzw. zu sprachlichen Strukturen, die einen kommunikativen Vorteil bieten.315 Worin dieser Vorteil oder Anpassungsdruck besteht, kann ganz unterschiedlich aussehen, daher lässt sich Sprachwandel auch nur sehr bedingt vorhersagen (vgl. Kap. 4). Zur Diskussion stehen traditionell innersystemische und außersystemische Umweltfaktoren. Die strukturalistische Linguistik hat mit Blick auf ihren Systembegriff insbesondere einen Schwerpunkt auf die innersystemischen Bedingungen gelegt und soziale Faktoren ausgeklammert, wohingegen die Soziolinguistik die sozialen Faktoren für die Erklärung von Wandel zentral setzte. Insbesondere die funktionalistische Schule hat versucht, beide Ansätze zu verbinden und verweist sowohl auf innersprachliche als in the sense that their probability is causally unconnected to the effect they have on subsequent fitness. […] although their emergence is not completely unconstrained“. 315 Zur Diskussion des Anpassungsbegriffes vgl. Kapitel 3.1.2.2.
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auch auf außersprachliche Faktoren.316 Daher ist es zunächst verwunderlich, dass CROFT (2000, 166) annimmt, dass ausschließlich die sozialen Faktoren den Selektionsprozess beeinflussen.317 ROSENBACH (2008, 44) äußert sich kritisch über CROFTS These:318 Undoubtedly, social factors play an important role in the promotion or demotion of variants, too, as diachronic sociolinguistic research has shown (e.g. LABOV 1994), but the evidence available does not speak for the exclusive role of social factors in the selection process, as far as I can discern.
Folgender Bemerkung von ROSENBACH (2008, 44) ist daher zuzustimmen: A more realistic stance therefore seems to be to allow for the existence of social and functional factors in the selection process.
ROSENBACH (2008, 46) zeigt aber auch, wie uneinheitlich die Begriffe functional und social in der Forschungsliteratur gebraucht werden. So ist bei einigen Autoren (vgl. KELLER 2003) funktionaler Gebrauch von Sprache an den sozialen Erfolg gekoppelt. Ähnlich kann auch CROFT gelesen werden, der die funktionale Passung von sprachlichen Strukturen und insbesondere deren Verbreitung an soziale Variablen bindet. CROFT begründet allerdings die Herausbildung von Innovation kognitiv-funktional.319 Was für JÄGER (2007, 105) im Fall von Sprecher- und Hörerökonomie Selektionsfaktoren sind, sind für CROFT (2000) beispielsweise Faktoren für die Herausbildung von Innovationen (ROSENBACH 2008, 45). Die Selektionsfaktoren für sprachliche Struktur müssen auch in den sozialen Zusammenhängen des menschlichen Miteinanders gesucht werden. Eine funktionale Erklärung, wie sie HASPELMATH (1999b, 187) gibt, ist verlockend, muss für Prozesse der kulturellen Evolution aber um eine soziale Komponente ergänzt werden. [C]onsider the fact that various fish species living in the Arctic and Antarctic regions have antifreeze proteins in their blood. These proteins constitute a structural fact about several unre-
316 Autoren wie HASPELMATH (1999b), JÄGER (2007) oder GIVÓN (2009) nehmen an, dass „grammars code best what speakers do most“ (DU BOIS 1985, 363; zitiert nach ROSENBACH 2008, 42). Oder mit JÄGERS (2007, 74) Worten: „A good case can be made that the systems that are frequent are exactly those that are well-adapted to their function in language use“. Oder mit den Worten von HASPELMATH (1999b, 186): „Grammatical optimality and user optimality are largely parallel. […] Grammatical structures are adapted to the needs of language users“. 317 CROFT (2000, 166) nimmt in Anlehnung an MILROY / MILROY (1985) an, dass die Zugehörigkeit des Sprechers zu sozialen Gruppen und deren (sprachliches) Prestige immensen Einfluss auf die Selektion von sprachlichen Varianten nehmen. 318 Vgl. auch HASPELMATH (1999b, 193). 319 ROSENBACHS (2008, 47) treffendes Fazit fällt folgendermaßen aus: „[T]here appears to be evidence for the presence of functional forces in selection, pace Croft (2000). In the end, however, any labelling [sic!] of the selection process as either ‚social‘ or ‚functional‘ appears to be futile, as in most cases it simply reflects a terminological choice“. So auch JÄGER (2007, 75).
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess lated species living far apart, which is obviously to the benefit of these fish. It would be completely mysterious without assuming […] a historical process of adaptation. 320
Die Begriffe, die uns zur Beschreibung dieser sozialen Faktoren zur Verfügung stehen, sind aber teilweise sehr abstrakt und können z. B. im Fall von (verdecktem) Prestige unterschiedlich gefüllt werden und von Individuum zu Individuum und von Wissenschaftler zu Wissenschaftler variieren. Dieser Umstand macht belastbare Vorhersagen – zusätzlich zur Beachtung der innersprachlichen Bedingungen und Möglichkeiten – so schwierig. Es gilt jeweils, die innersprachlichen Strukturbedingungen und deren Möglichkeiten in Relation zu den sozialen und kognitionspsychologischen321 Faktoren zu setzen. Im Folgenden wird mit Bezugnahme auf die handlungstheoretischen Prämissen des Konzepts der Sprachdynamik und die Konversationsmaximen nach GRICE sowie KELLER die Funktionalität im jeweiligen Kontext als entscheidender Selektionsfaktor betrachtet. In Anlehnung an die Ausführungen dieses Abschnitts ist Funktionalität sensibel für folgende Selektionsfaktoren, die KELLER in seiner Hypermaxime „Rede so, daß Du sozial erfolgreich bist, bei möglichst geringen Kosten“ (KELLER 2003, 143) zusammenfasst: a) Selektionsfaktoren der innersystemischen Zusammenhänge (das Verhältnis der sprachlichen Subsysteme zueinander), b) Selektionsfaktoren der kognitionspsychologischen Sprachverarbeitung und c) Selektionsfaktoren des sozialen Erfolgs. 3.2 KOMPLEXE ADAPTIVE SYSTEME Die Systemtheorie wurde im 20. Jahrhundert von verschiedenen Forschungsdisziplinen weiterentwickelt. Ein erneuter Versuch der interdisziplinären Zusammenführung der verschiedenen Ansätze mündete Anfang der 1990er Jahre in der Gründung der interdisziplinären Forschungseinrichtung des Santa Fe Instituts (SFI) für Grundlagenforschung, das sich schwerpunktmäßig mit der Erforschung komplexer adaptiver Systeme (Complex Adaptive Systems – CAS) beschäftigt. Wichtige Unterstützer und Mitbegründer dieses Projekts sind der PhysikNobelpreisträger MURRAY GELL-MANN (*1929) und der Informatiker und Psychologe JOHN HENRY HOLLAND (*1929). SINGER (1995, 1) bezeichnet die Hinwendung zur Erforschung der komplexen adaptiven Systeme sogar als „paradigmatic shift in science“, mit der die Abwendung von der Beschreibung reduktionistischer linearer Kausalzusammenhänge erfolgt, wie sie die Kybernetik favorisiert, die sich insbesondere mit einfachen adaptiven Systemen wie dem Thermostat oder Tempomat beschäftigt. Komplexe adaptive Systeme werden als evolutionäre Systeme gedacht. RITT (2004, 92) beschreibt den Ansatz komplexer adaptiver Systeme als: „A less bio 320 Zur Problematisierung der Argumentationsfigur von HASPELMATH vgl. Kapitel 3.1.2.2. 321 EVANS / LEVINSON (2009, 446) verdeutlichen mit Blick auf die strukturelle Vielfalt der Sprachen, dass „the biology constrains and canalizes but does not dictate linguitic structures“.
Komplexe adaptive Systeme
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logically biased term for systems with ‚Darwinian‘ characteristics“. Es verwundert daher nicht, dass viele Beispiele für komplexe adaptive Systeme aus der Evolutionsbiologie kommen und HOLLAND einer der Entwickler des Evolutionären Algorithmus (Evolutionary Computing) ist, mit dem in erster Linie biologische Evolutionsprozesse als Computersimulationen modelliert werden können.322 Ein Beispiel aus der biologischen Evolution ist das Immunsystem (CZIKO 1995, 39– 48). Aber auch kulturelle bzw. soziologische Systeme wie die Wirtschaft oder die Sprache können als komplexe adaptive Systeme beschrieben werden.323 Die abstrakten Gemeinsamkeiten der Entwicklungsbedingungen aller komplexen adaptiven Systeme verweisen auf Evolution im darwinistischen Sinne. Dieser Prozess verläuft – wie hinlänglich beschrieben (vgl. Kap. 3.1.1) – über die Stufen Replikation, Variation und Selektion. Entscheidend ist sicherlich, dass komplexe adaptive Systeme in der Lage sind, aus den Informationen der Umwelt Regelmäßigkeiten abzuleiten, um daraus Schemata zu bilden bzw. zu lernen. Dadurch unterscheiden sich komplexe adaptive Systeme auch wesentlich von anderen komplexen Systemen wie Meeresströmungen oder Hoch- und Tiefdrucksystemen. Komplexe adaptive Systeme filtern Regelmäßigkeiten aus Wahrnehmungsdaten und verdichten diese Regelmäßigkeiten zu Schemata, die dazu dienen, zukünftige Ereignisse zu antizipieren bzw. sich auf Umweltbedingungen einzustellen. HOLLAND (2006, 1) betont daher, dass komplexe adaptive Systeme bzw. deren Subsysteme aus Erfahrungen lernen und in der Lage sind, sich in einem Prozess der Selbstorganisation zu (re-)organisieren, indem sich Schemata verändern. Ein Schema „is a highly compressed description of the identified regularities in the observed system, with the random aspects omitted, along with regularities too subtle to recognize“ (GELL-MANN 1992, 11). In Bezug auf die Sprache ist ein Schema beispielsweise eine dynamische kognitive Struktur. Ausdruck dieser kognitiven Struktur ist das bewusste und unbewusste sprachliche Wissen, auf welches das Individuum zurückgreift, um Äußerungen zu produzieren und zu verstehen. Ein sprachliches Schema in diesem übergreifenden Sinne meint also zunächst die Summe aller Möglichkeiten, über die der Sprecher als Individuum mit seinem Idiolekt verfügt. Die Möglichkeiten sind ein Ausdruck der individuellen Sprachbiographie und der sprachlichen Sozialisation des Sprechers und seiner biologischen Anlagen zur Wahrnehmung und Musterbildung, nicht aber die eines virtuelles Sprachsystem im hypostasierten Sinne. Die biologischen Anlagen zur Schemabildung interagieren mit den kulturell tradierten (En)Kodierungsstrategien für Sprache. Mit einer kleinteiligeren Sicht 322 Der Evolutionäre Algorithmus versucht u. a. Schwarmintelligenz und Selbstorganisationsprozesse zu erfassen. 323 GELL-MANN (1992, 8) nennt u. a.: „individual learning and thinking in animals, including human beings; […] human cultural evolution, in which information is transmitted between individuals and to succeeding generations, so that the whole society evolves […] the global economy as a complex, evolving system“. Insbesondere mit Blick auf Wirtschaftssysteme wurden neue Ansätze entwickelt, die das Verhalten der Konsumenten nicht ausschließlich als rational beschreiben (KAHNEMAN 2011; SINGER 1995, 2).
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess
auf das Schemakonzept muss von vielen Schemata für viele Situationen, Funktionen und Anforderungen ausgegangen werden. So könnte beispielsweise in Kontexten der Mehrsprachigkeit (der Äußeren und der Inneren) angenommen werden, dass sich jeweils ein Schema für Kontexte etabliert, in denen die Muttersprache dominiert und eines für fremdsprachliche bzw. mehrsprachige Kontexte. Diese beeinflussen sich wiederum wechselseitig, so dass es zu Interferenzen kommen kann. Weiterhin können sich mit Bezug auf die kommunikativen Anforderungen z. B. auch Schemata für die Pluralbildung (vgl. Kap. 3.3.1), Genuszuweisung oder den gendergerechten Sprachgebrauch entwickeln (vgl. Kap. 5). Das Interagieren der Systeme mit Rückbindung an die Schemata ist ein ständiges Experimentieren. Erfolgreiche Schemata stabilisieren sich mit der Zeit, andere werden verworfen oder wandeln sich. Für unterschiedliche Kontexte können sich auch Varianten eines Schemas herausbilden. Die Schemata sind verschiedenen Selektionsdrücken ausgesetzt. Diese werden von GELL-MANN (1992, 11) als Feedbackschleifen oder „feedback loops“ verstanden. Abbildung 3 verdeutlicht diesen Prozess.
Abb. 3: Funktionsweise komplexer adaptiver Systeme nach GELL-MANN (1992, 11)
Komplexe adaptive Systeme werden als offene Systeme modelliert, die grundsätzlich in einem Informationsaustausch mit ihrer Umwelt stehen (GELL-MANN 1994,
Komplexe adaptive Systeme
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414).324 GELL-MANN (1995, 12–13) fasst die Eigenschaften von komplexen adaptiven Systemen folgendermaßen zusammen: 1. Its experience can be thought of as a set of data, usually input → output data, with the inputs often including systems behavior and the outputs often including effects on the system. 2. The system identifies perceived regularities of certain kinds in the experience, even though sometimes regularities of those kinds are overlooked or random features misidentified as regularities. The remaining information is treated as random, and much of it often is. 3. Experience is not merely recorded in a lookup table; instead, the perceived regularities are compressed into a schema. Mutation processes of various sorts give rise to rival schemata. Each schema provides, in its own way, some combination of description, prediction, and (where behavior is concerned) prescriptions for action. Those may be provided even in cases that have not been encountered before, and then not only by interpolation and extrapolation, but often by much more sophisticated extensions of experience. 4. The result obtained by a schema in the real world then feed back to affect its standing with respect to the other schemata with which it is in competition.
Komplexe adaptive Systeme verfügen durch die Interaktion mit der Umwelt über ein dynamisches und anpassungsfähiges Modell (Theorie) ihrer Umwelt. Dieses Modell hat eine neuronale Basis und operiert nur teilweise auf der Bewusstseinsebene. Letztlich sind es in Bezug auf die Individuen die Neuronen und neuronalen Netzwerke, die lernen (NEUWEILER 2008, 106; Kap. 3.1.2).325 As far as the internal organisation of a CAS [complex adaptive system; LB] is concerned, it is assumed that the ‚learning behaviour’ which such a system displays on the macro-level is not governed by a central agent (such as the ‚self’ in the case of human cognitive development and learning, or ‚God’ in the case of life on earth) but emerges in complex ways from massively parallel activities and the interactions of many simpler constituents, or agents (neurons in learning, or genes in biological evolution). (RITT 2004, 92)326
Schemata enthalten u. a. Informationen über die Umwelt, die das konkrete Handeln leiten.327 Die konkreten Handlungen sind deren phänotypische Ausprägun 324 Dieses Modell ist mit der Complex Dynamic Systems Theory kompatibel, die Sprache ebenfalls als offenes System versteht (DE BOT 2015; LARSEN-FREEMAN / CAMERON 2008). 325 Zugegebenermaßen steht dieses Modell der philosophischen Position des Materialismus sehr nahe. Materialisten unterstellen, dass alles, was im Universum vorkommt (also auch Vorstellungen und Sprache), zumindest eine materielle Grundlage hat (GABRIEL 2013, 42–43). 326 Diese Auffassung erinnert an die philosophische Position des Eliminativen Materialismus, die u. a. von P. S. CHURCHLAND (1995) und P. M. CHURCHLAND (1981) vertreten wird und der Philosophen wie RORTY (1965), FEYERABEND (1963, 295) und DENNETT (1991) nahe stehen. Der Eliminative Materialismus geht davon aus, dass sich Bewusstseinszustände auf der Makroebene auf neuronale Prozesse der Mikroebene zurückführen lassen. Gegen den Eliminativen Materialismus sprechen sich u. a. GABRIEL (2013, 42–47) und PUTNAM (1991) aus. 327 Schemata sind aber nur für bestimmte Informationen sensibel. Der Mensch hat sich so entwickelt, dass er u. a. für vielfältige akustische und visuelle Signale empfänglich ist.
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gen, an denen die Feedback Loops ansetzen. Die Wirkungen, die ein System und seine Schemata auf die Umwelt haben, werden als Feedback wieder ans System zurückgegeben. Diese Informationen führen zu Stabilisierungen oder Modifizierungen der Schemata und damit letztlich des Systems. In such a configuration the apparent learning behaviour of the system comes about, because the effects of a schema’s unfolding under specified conditions are fed back to it and ‚select’ among various competing system states or rivaling schemata. At any time, the state of such a system will reflect its past experiences. Also, its state can be read as incorporating predictions about the feedback which its behavioural ‚unfolding’ is likely to incur. (RITT 2004, 94; Herv. LB)
Der Wandel von Systemstrukturen ist ein ständiger Anpassungsprozess an die systeminternen und systemexternen Umweltbedingungen, für die das System sensibel ist. Diese Konzeption erinnert stark an Grundideen der Evolutionären Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass Organismen Schemata entwickeln, die über einen langen Zeitraum in Interaktion mit der Umwelt erprobt werden und in Hinblick auf bestimmte Umweltbedingungen angepasst sind.328 Der Organismus entwickelt in der Ontogenese ein apriorisches Schema, das durch aposteriorisch geprägte Grundstrukturen begrenzt ist und sich für einen gewissen Bereich der Wahrnehmung evolutionär bewährt hat. GELL-MANN (1994, 507) nennt diesen Bereich quasiklassisch, was der kognitiven Nische, dem Mesokosmos, bei VOLLMER (2010, 241; 2002, 161–165) entspricht. GELL-MANN (1994, 507) betont, dass komplexe adaptive Systeme „am besten in einem Zwischenbereich zwischen Ordnung und Unordnung“ funktionieren. Sie nutzen die durch die annähernde Bestimmtheit des quasiklassischen Bereichs gelieferten Regelmäßigkeiten und profitieren gleichzeitig von den Unbestimmtheiten (die man als Rauschen, Schwankungen, Wärme, Unbestimmtheit usw. beschreiben kann), die bei der Suche nach ‚besseren‘ Schemata sogar hilfreich sein können.
Es liegt auf der Hand, dass diejenigen Systeme einer Population einen Selektionsvorteil haben, deren Phänotypen besser mit der Umwelt interagieren.329 Für kulturelle Evolutionsprozesse ist allerdings davon auszugehen, dass lamarckistische Anpassungstendenzen zum Variantenreichtum vermutlich mehr beitragen als Zufallsmutationen. Was letztlich unter Anpassung im Sinne von Fitness verstanden werden kann, lässt sich nur aus der Retrospektive bestimmen, wenn Kriterien für Fitness definiert worden sind. GELL-MANN (1995, 15–16) ist sich der Problematik der Kriteriensetzung bewusst: 328 Die Konzeption komplexer adaptiver Systeme weist zudem eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der generate-test-regenerate heuristic von PLOTKIN (1994, 138–144), einem der wichtigsten Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie im angloamerikanischen Raum, auf. 329 „In cases where death is very important at the phenotypic level, a crucial measure of success for a schema is phenotypic survival, and reproduction assumes great significance.“ (GELLMANN 1995, 15) Für GELL-MANN findet Selektion auf der Ebene des Phänotyps statt.
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Looking at CAS [complex adaptive systems; LB] overall, we see that fitness is a rather elusive concept when it is endogenous. If an exogenous criterion is supplied, as in a machine that is designed and programmed to win chess, then of course the feedback loop involves a welldefined fitness. But when fitness is emergent, it is not easy to define without a somewhat circular argument in which is fit by definition, and whatever is fit is likely to win.
Nichtsdestotrotz findet ein Lernprozess statt. Dieser lässt sich GELL-MANN zur Folge auch bei sozialen Systemen beobachten, die ebenfalls auf der Grundlage von kondensierten Schemata funktionieren. Die Anpassung von Schemata findet auch in sozialen und kulturellen Kontexten statt. Menschliche Gemeinschaften tradieren Bräuche, Traditionen, Gesetze sowie Rituale – also Gepflogenheiten, die laut WITTGENSTEIN und SEARLE zur Herausbildung von Institutionen führen (vgl. Kap. 2.2.2). Diese Art von Schemata umfasst „prescriptions for collective behavior“ (GELL-MANN 1995, 14). In Anlehnung an SCHMIDT / HERRGEN (2011) kann argumentiert werden, dass sich diese Schemata zunächst durch Mikrosynchronisierungen herausbilden, dann wenn sie weitreichend genug etabliert sind, aber durch Meso- und Makrosynchronisierung auf das Handeln der Mitglieder dieser Gemeinschaft zurückwirken. Es geht um die Aushandlung und Tradierung gemeinsamen kulturellen Wissens, das immer auch Teil des individuellen Wissens ist. GELL-MANN (1995, 14–17) verdeutlicht diesen Prozess anhand eines Beispiels. In the event of attack by outsiders, the inhabitants of all the villages may retire to a fortified site, stocked with food and water, and sustain a siege. What happens at this level is something like direct adaptation. (GELL-MANN 1995, 14)
Die direkte Anpassung, die GELL-MANN beschreibt, ist aber nicht die einzige Lösungsmöglichkeit. Der Rückzug vor einem Feind in eine befestigte Stadt kann als unbefriedigend empfunden werden, da dieser in der Zwischenzeit die Umgebung kontrolliert, Dörfer und Äcker zerstört sowie die Zufuhr von Lebensmitteln blockiert. Deshalb mag eine offensivere Variante mit der Zeit als bessere Variante empfunden werden. Die Entscheidungsträger selektieren letztlich zwischen den Varianten Rückzug und Angriff. Erweist sich der Angriff als erfolgreicher, wird sich dieser als favorisierte Lösungsmöglichkeit für zukünftige Herausforderungen dieser Art durchsetzen. Versagen allerdings beide Lösungsschemata, kann dies zu einer Auflösung der Gemeinschaft und ihrer bis dahin tradierten Schemata führen.330 GELL-MANN (1994, 409) zeigt mit diesem Beispiel, dass Selektion ein universelles Prinzip ist, dass auch auf der Ebene des sozialen Handelns greift.331 330 GELL-MANN (1994, 410) weist darauf hin, dass die von ihm beschriebenen Ebenen der Adaption auf unterschiedlichen Zeitskalen abgetragen werden müssen. „Ein existierendes dominantes Schema kann auf der Stelle, innerhalb von Tagen oder Monaten, in direktes Handeln umgesetzt werden. Eine Veränderung in der Hierarchie der Schemata spielt sich normalerweise in einem größeren Zeitrahmen ab, obwohl sich auf dem Höhepunkt der Entwicklung die Ereignisse überstürzen können. Das Aussterben von Gemeinschaften zieht sich im allgemeinen [sic!] über noch längere Zeiträume hin.“ 331 Diesen Nachweis führen beispielsweise auch HULL (1988), CZIKO (1995) oder BLACKMORE (2000).
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Mit der Möglichkeit, soziale System als komplexe adaptive Systeme zu fassen (vgl. auch ELLIS 2011), muss Sprache in zweifacher Hinsicht als komplexes adaptives System eingeordnet werden. Zum einen ist der Idiolekt mit seiner neuronalen Basis ein komplexes adaptives System, zum anderen kann auch das geteilte Sprachwissen einer sozialer Gruppe, das durch Meso- und Makrosynchronisierungen tradiert wird, als komplexes adaptives System verstanden werden. 3.3 SPRACHE ALS KOMPLEXES ADAPTIVES SYSTEM Die Entwicklung der Sprache kann unter Berücksichtigung verschiedener Zeithorizonte erfasst werden.332 a) Evolution der Sprachfähigkeit b) Die Evolution der verschiedenen Einzelsprachen c) Die Entwicklung des Idiolekts Es wäre allerdings vermessen zu meinen, die drei Bereiche könnten sauber voneinander getrennt werden. Neurobiologische Entwicklungen sind beispielsweise sowohl eine wichtige Vorraussetzung für die allgemeine Sprachfähigkeit als auch für die Entwicklung des konkreten Idiolekts. Der Erwerb einer weiteren Sprache auf Muttersprachniveau fällt den meisten Menschen viel schwerer, wenn die Entwicklung der tertiären Assoziationsareale mit zunehmendem Alter an Plastizität verliert.333 Phylo- und ontogenetische Entwicklungen greifen hier ineinander. Die neurobiologischen Grundlagen der Sprache sind zudem mit der sozialen Funktion der Sprache verschränkt. Die neuronale Ebene der Sprachverarbeitung beeinflusst soziale Interaktion und vice versa. Die Herausbildung von Schemata auf der Meso- und Makroebene erfolgt letztlich durch geteiltes Sprachwissen, das im Individuum auf der neuronalen Ebene verankert ist. Sprachliche Struktur lässt sich vor diesem Hintergrund nur aus dem Zusammenwirken verschiedener komplexer adaptiver Systeme erklären. So wie die biologischen Voraussetzungen der Sprachfähigkeit, z. B. das Spiegelneuronensystem, in komplexen adaptiven Systemen verankert sind (vgl. Kap. 3.1.2.1.2), ist auch die Sprache selbst ein komplexes adaptives System. HAWKINS (1992), KIRBY (1999), KIRBY / CHRISTIANSEN (2003b, 273) und RITT (2004) widmen sich der Frage, wie sich aus der Sprachverwendung in Abhängigkeit von der neuronalen Basis und Lernprozessen sprachliche Strukturen und Muster verfestigen. HAWKINS (1992) und KIRBY (1999) vertreten zunächst einen integrativen 332 Zum Problem der Zeitlichkeit von Systemwandelprozessen vgl. insbesondere DE BOT et al. (2013, 206–207) in Anlehnung an VYGOTSKIJ. 333 Soziolinguistische und psychologische Faktoren spielen für die Ausbildung sprachlicher Kompetenz in der Zweit- oder Fremdsprache ebenfalls eine enorme Rolle. Die Verbundenheit zu Personen, die die Zielsprache als Muttersprache sprechen, hat einen erheblichen Einfluss auf die Motivation und die Möglichkeiten der sprachlernenden Person, was sich wiederum als förderlich für das Kompetenzniveau des Sprechers erweist (SINGLETON 2013).
Sprache als komplexes adaptives System
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Ansatz, der sowohl funktionalistische als auch nativistische Konzepte wie die Universalgrammatik verbindet.334 Insbesondere KIRBY (1999), KIRBY / CHRISTIANSEN (2003b) und SMITH / KIRBY / BRIGHTON (2003) modulieren sprachstrukturelle Entwicklungen in Anlehnung an parallelverarbeitende neuronale Netzwerke335, die ihren Input durch wiederholendes Lernen (Iterated Learning) erhalten (KIRBY / CHRISTIANSEN 2003b, 283–284), was es ihnen erlaubt, die Evolution von Sprachstrukturen mit Computermodellen nachzuvollziehen. Das Iterated Learning Model kann auf der Ebene des Idiolekts schematisch wie folgt dargestellt werden:
Abb. 4: Iterated Learning Model nach KIRBY / CHRISTIANSEN (2003b, 284)
Nach diesem Modell wird sprachlicher Input mental repräsentiert. Diese mentalen Repräsentationen sind wiederum die Grundlage für sprachlichen Output, der wieder auf die mentale Repräsentation zurückwirkt. Weitere Faktoren, die für die mentale Repräsentation der sprachlichen Struktur eine Rolle spielen, sind die Token- und Typefrequenz der Struktur, die Äußerungsbedingungen, soziale Netzwerke und deren Dynamik:
334 In jüngeren Forschungsarbeiten weichen KIRBY und Kollegen vom nativistischen Konzept des Spracherwerbs ab (vgl. CORNISH / TAMARIZ / KIRBY 2009; KIRBY / CORNISH / SMITH 2008). „We started this article by noting that a complex adaptive systems perspective shifts the burden of explanation away from a richly structured domain-specific innate substrate for language in our species. Although we have talked a great deal about linguistic structure as an adaptation, this is adaption by the language itself rather than biological evolution of the faculty of language.“ (CORNISH / TAMARIZ / KIRBY 2009, 201) So auch CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 500), die einen nicht-formalistischen Ansatz zur Erklärung von Universalien bevorzugen: „[U]niversals […] emerge from processes of repeated language acquisition and use“. 335 Eine neuere Einführung in die Grundlagen ‚Künstlicher neuronaler Netze‘ bieten REY / WENDER (2008).
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess If we are right, we cannot infer the nature of learning biases purely through linguistic analysis. In some sense, the learning biases act as the environment within which language themselves adapt […]; and without understanding the process of adaption, we cannot be sure that any particular theory of language acquisition makes the correct predictions. (KIRBY / CHRISTIANSEN 2003b, 290)
Einen ähnlichen Entwurf hat RITT (2004) vorgelegt, der Sprache ebenfalls als komplexes adaptives System versteht. RITT (2004, 98) sieht zwei Möglichkeiten, wie Sprache im Sinne GELL-MANNS als komplexes adaptives System verstanden werden kann. Zum einen kann a) die Entwicklung der Sprachkompetenz eines Individuums – insbesondere sein Spracherwerb – als komplexes adaptives System aufgefasst werden. Zum anderen besteht b) die Möglichkeit, die Sprache einer Population (auf der Makro- oder Mesoebene) – insbesondere mit Blick auf deren Wandel – als ein solches System zu beschreiben.336 Im Folgenden werden einige Evidenzen dafür erbracht, dass Sprache ein dynamisches, komplexes und adaptives System ist. Da kognitive Schemata von Individuen die Grundlage für Synchronisierungprozesse sind, bieten sich Entwicklungen des Spracherwerbs als Beispiele an. 3.3.1 Evidenzen aus dem Erstspracherwerb RITT sieht die Theorie komplexer adaptiver Systeme in Übereinstimmung mit CHOMSKYS Definition von Sprache. „This is perfectly consistent with Chomsky’s definition of language as a system of knowledge instantiated as a brain-state.“ (RITT 2004, 99) Die Parallele, die RITT zwischen den beiden Ansätzen sieht, scheint auf den ersten Blick überzeugend zu sein. Auf den zweiten Blick ist aber festzustellen, dass die Theorie komplexer adaptiver Systeme nicht mit dem nativistischen und modularen Verständnis von CHOMSKY vereinbart werden muss. Sprache kann zwar mit Blick auf komplexe adaptive Systeme als ein aus dem Gehirn generiertes System verstanden werden, die grundlegenden Strukturen sind aber nicht zwangsläufig angeboren oder modular organisiert. Diese Ansicht teilen CORNISH / TAMARIZ / KIRBY (2009, 201): We started this article by noting that a complex adaptive systems perspective shifts the burden of explanation away from a richly structured domain-specific innate substrate for language in our species. Although we have talked a great deal about linguistic structure as an adaptation, this is adaption by the language itself rather than biological evolution of the faculty of language.
Das Gehirn und seine neuronalen Netzwerke sind und bleiben die biologische Grundlage von konkreten sprachlichen Äußerungen. Dies verbietet aber nicht, die Theorie komplexer adaptiver Systeme in Übereinstimmung mit dem usage based approach (TOMASELLO 2005), der CDST (DE BOT 2015; DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2007) oder dem Konnektionismus (RUMELHART 1995; MCCLELLAND / 336 Vgl. dazu auch ELLIS (2011, 660).
Sprache als komplexes adaptives System
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RUMELHART 1988; 1986) zu denken. Der Vorteil der Theorie komplexer adaptiver Systeme besteht darin, dass dieser Ansatz so allgemein gehalten ist, dass sich verschiedene spezifische Erklärungsansätze unter dem Blickwinkel des Evolutionsgedankens in Übereinstimmung bringen lassen. Darauf aufbauend ist dann zu überlegen, wie eine adäquate Theorie von Sprache weiter zu konzipieren ist. Was allerdings deutlich wird, ist, dass sich Sprache in verschiedenen Bereichen im Sinne einer allgemeinen Evolutionstheorie über die Stufen Replikation, Variation und Selektion entwickelt. 3.3.1.1 Konnektionismus und komplexe adaptive Systeme Eine gewisse Nähe zur Theorie komplexer adaptiver Systeme zeigen der Konnektionismus 337 (neural network approach) und das Parallel Distributed Processing (PDP)338, die durch die Forschung von RUMELHART (1995) und MCCLELLAND / RUMELHART (1988; 1986) erheblichen Einfluss auf die Kognitive Psychologie und Linguistik gewonnen haben.339 Einen Zusammenhang dieser Ansätze zur CDST stellt z. B. GELDER (1998, 615) her: „One of the most notable developments has been the rise of connectionism, which models cognition as the behavior of dynamical systems […], and often understands those models from a dynamical perspective“.340 Der Konnektionismus beschäftigt sich mit der „Erforschung und Konstruktion adaptiver informationsverarbeitender Systeme, die sich aus einer großen Zahl uniformer Verarbeitungseinheiten (units) zusammensetzen und deren wesentliches Verarbeitungsprinzip in der Übertragung von Signalen in Form von Aktivierungen über gerichtete Verbindungen (connections) besteht“ (POSPESCHILL 2004, 25– 26). Der Konnektionismus ist mit der Kybernetik verwandt (POSPESCHILL 2004, 16). Allerdings rücken hochgradig vernetzte Systeme wie das Gehirn in den Interessensmittelpunkt. Mit Hilfe von Computermodellen wird simuliert, wie aus scheinbarer Unordnung von Elementen Systeme und systematische Zusammenhänge emergieren. Gerade die zunehmenden Möglichkeiten von Computersimulationen haben zu einer besseren Verbindung von kognitiver Modellierung und empirischer Validierung geführt. Der Konnektionismus ist eine interaktive Modulation und ahmt neuronale Prozesse nach. POSPESCHILL (2004, 17) spricht von einer 337 Durch die hohe Dichte von Milliarden zu einem Netzwerk verknüpfter Nervenzellen hat sich die Bezeichnung Konnektionismus für die Modellierung neuronaler Netze etabliert (RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010, 16). Die Konnektivität von Milliarden von Neuronen ist das grundlegende Bauprinzip des Gehirns. 338 Anfang der 1980er Jahre formierte sich die „PDP Research Group“, zu deren Mitgliedern u. a. J. L. MCCLELLAND, D. E. RUMELHART, J. L. ELMAN und D. ZIPSER gehörten. 339 Einen guten Überblick über die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung des Konnektionismus bieten RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER (2010, 197–205). Eine ausführlichere Darstellung findet sich in POSPESCHILL (2004, 67–86). 340 GELDER (1998) spricht sich damit auch grundsätzlich gegen den Repräsentationalismus aus.
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„neuronal inspirierte[n] Modellierung kognitiver Prozesse“, der es nicht unbedingt um die exakte biologische Abbildung von neuronalen Prozessen geht, sondern die vielmehr um ein Verständnis kognitiver Vorgänge im System bemüht ist.341 So wird erforscht, wie sich etwa neuronale Prozesse (Mikroebene) auf das Verhalten (Makroebene) auswirken. In general, from the PDP point of view, the objects referred to in macrostructural models of cognition processing are seen as approximate descriptions of emergent properties of the microstructure. (MCCLELLAND / RUMELHART / HINTON 1986, 12)
Vorausgesetzt wird, dass die Konnektivität der Neuronen das grundlegendste Bauprinzip des Gehirns darstellt. Es wird erforscht, wie sich Systeme in ihrer Gesamtheit verhalten und entwickeln. Systemverhalten entsteht letztlich aus der Interaktion aller Systemeinheiten. Die konnektionistischen Systeme arbeiten nicht nach festen Algorithmen und sind daher sehr lern- und anpassungsfähig. In this case, we attempt to model the relationship between mind and brain through the development of computational models which, of the one hand, attempt to model important aspects of the way in which brains work, while at the same time behaving in ways consistent with human behavior. (RUMELHART 1995, 146)
Das Standardmodell des Konnektionismus sieht ebenfalls vor, dass bestimmte neuronale Einheiten kondensierte Hypothesen über die Welt enthalten. Diese Hypothesen können als bestätigt gelten, wenn ein bestimmtes positives Aktivierungsniveau erreicht wird, das durch erfolgreiches Handeln induziert wurde. RUMELHART (1995, 146–147) fasst das Standardmodell des Konnektionismus folgendermaßen zusammen: 1. The Units (dots in the figure) represent ‚hypotheses‘ about the world. 2. Each unit has an Activation level which represents the ‚confidence‘ that the hypothesis is true. 3. The connections among units, represented by weights (e.g., Wij) correspond to ‚constraints‘ among the hypotheses. For each pair of units there is a weight which represents the constraints between the units. The weight can be positive or negative, large or small. A large positive weight between two units represents a large constraint between the two units. That is, it represents the idea that when the hypothesis corresponding to one of the units is true, then it is likely that the hypothesis corresponding to the other units is also true. A large negative weight indicates that when one hypothesis is true, it is likely that the other is false. Smaller weights correspond to smaller constraints. 4. The Inputs constitute the external evidence to the network.
341 „Though the appeal of PDP models is definitely enhanced by their physiological plausibility and neural inspiration, these are not the primary bases for their appeal to us. We are, after all, cognitive scientists, and PDP models appeal to us for psychological and computational reasons. They hold out the hope of offering computationally sufficient and psychologically accurate mechanistic accounts of the phenomena of human cognition which have eluded successful explication in conventional computational formalism; […].“ (MCCLELLAND / RUMELHART / HINTON 1986, 11)
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5. The Outputs provide the ‚proposed action‘ of the network. 6. The Final State to which the network settles represents the ‚interpretation‘ of the external events. 7. Each unit has a bias term, (βǀi) which represents the ‚prior‘ or default probability that the hypothesis is true.
Der Netzwerkgedanke kommt nun dadurch zum Tragen, dass als Input fungierende Datenströme bestimmte neuronale Aktivitätsmuster, die für das jeweilige Inputsignal sensibel sind, auslösen. Betroffene Neuronen sind wiederum mit anderen Neuronen vernetzt und bilden Neuronale Netze. Mit Hilfe der Modulierung von Neuronalen Netzen soll im Grunde die neuronale Aktivität von Organismen nachempfunden werden. Das Gehirn ist in gewisser Weise eine Verknüpfungsmaschine, die Neuronen über Synapsen miteinander verbindet (vgl. Kap. 3.1.2). Synapsenverknüpfungen werden als Knoten eines Neuronalen Netzwerkes verstanden. Über die synaptischen Verbindungen können sich die Knoten342 anregend (exzitatorisch) oder hemmend (inhibitorisch) beeinflussen. Zwischen den Neuronen findet ein Informationsaustausch durch elektrische und chemische Vorgänge statt, die auch die Sensitivität der Neuronen für Signale beeinflussen können. Bevor ein gewisses Aktions- oder Aktivationspotenzial ausgelöst wird und die Neuronen feuern, müssen die eingehenden Signale einen Schwellwert erreichen. Werden die Signale häufig und in rascher Folge wiederholt, kann sich der Schwellwert für eingehende Informationen langfristig verändern. Der Schwellwert passt sich an die eingehende Signalstärke an. Es findet ein Lernprozess statt.343 MCCLELLAND / RUMELHART (1986, 267) gehen allerdings davon aus, dass anstatt von klassischen symbolischen Regeln Assoziationen gespeichert werden. Die Gemeinsamkeiten zwischen der Funktionsweise komplexer adaptiver Systeme und dem konnektionistischen Modell bestehen u. a. darin, dass in beiden Ansätzen Datenströme zu Informationen kondensiert und reduziert werden.344 342 „Ein Knoten in einem konnektionistischen Netzwerk ist charakterisiert durch seinen Aktivationswert oder seine Aktivierung. Dieser Wert ist üblicherweise eine Zahl aus einem Intervall I=[m, M] von reellen Zahlen, mit einem kleinsten Wert m und einem größten Wert M.“ (RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010, 212) Zusätzlich haben die Verbindungen zwischen den Knoten ein Gewicht, das angibt, wie stark die Aktivation über eine Vernetzung ist. „Je größer das Gewicht einer Verbindung ist, desto stärker kann sie auf einen Zielknoten einwirken. Wenn also etwa eine Aktivationsmenge von 0,8 durch eine Leitung mit einem Gewicht von 0,2 fließt, sollte am Zielknoten eine proportionale Aktivierung von 0,8 · 0,2 = 0,16 ankommen.“ (RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010, 212) 343 Ein wichtiger Wegbereiter für die Erforschung des neuronalen Lernens ist der Nobelpreisträger ERICH R. KANDEL (*1929), der experimentell bewiesen hat, „dass Lernen in einer Veränderung der relativen Stärke von Synapsenverbindungen besteht und vor allem vom freigesetzten chemischen Transmitter an den Endknöpfchen bestimmt wird“ (POSPESCHILL 2004, 15). 344 Kondensierung ist ein Mechanismus zur Komplexitätsreduktion, die beispielsweise durch Klassenbildung erreicht wird. Schon JESPERSEN (1925/2003, 375) hat den Menschen in Bezug auf Sprache als ein „klassenbildendes wesen“ beschrieben. Für JESPERSEN ist „der ganze sprechvorgang nichts anderes […] als ein verteilen von erscheinungen, wovon nicht zwei ei
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Dadurch werden Hypothesen über die Umwelt gebildet. Die Wirkung des Outputs des Systems wird als Feedbackschleife an das System zurückvermittelt, wodurch sich die Hypothesen bzw. die Schemata als erfolgreich oder nicht erfolgreich erweisen. In beiden Modellen findet ein Anpassungs- und Selektionsprozess statt, der die scheinbar erfolgreichen Hypothesen bevorzugt und die nicht erfolgreichen sanktioniert. Weiterhin muss beachtet werden, dass der Informationsstrom einem Schema vorausgeht. Die Schemata werden aus den Informationen heraus kondensiert und dann auf die neuen Datenströme angewendet, woraufhin sich ein neues Schema ergeben bzw. ein bereits bestehendes Schema wandeln kann. Die beiden Idiolekte in Abbildung 5 verfügen über gemeinsame und abweichende Schemata. Sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Abweichungen ergeben sich durch die beständigen Synchronisierungsvorgänge während der sprachlichen Sozialisation. Auch der Spracherwerb funktioniert gemäß der Funktionsweise eines komplexen adaptiven Systems. Über die zeitliche Entwicklung und Interaktion werden Schemata modifiziert und stabilisiert.
Abb. 5: Spracherwerb als komplexes adaptives System (eigene Darstellung)
Der Schema-Begriff wird durch den Konnektionismus neu interpretiert und wesentlich dynamischer gedacht. Schemata are not ‚things‘. There is no representational object which is a schema. Rather, schemata emerge at the moment they are needed from the interaction of large numbers of much simpler elements all working in concert with one another. Schemata are not explicit entities, but rather are implicit in our knowledge and are created by the very environment that they are trying to interpret – as it is interpreting them. (RUMELHART et al. 1986, 20)
nander in jeder hinsicht gleichen, in verschiedene klassen je nach der stärke der wahrgenommenen ähnlichkeiten und unähnlichkeiten“.
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Schemata bestehen nur implizit in Form von Aktivitätsmustern. Diese sind wiederum dynamisch und können kaum in exakt beschreibbaren Grenzen gefasst werden. Sie sind eher eine „graduelle Bindung zu strukturalen Merkmalen“ (POSPE345 „What is stored is a set of connection strengths which, when SCHILL 2004, 226). activated, have implicitly in them the ability to generate states that correspond to instantiated schemata.“ (RUMELHART et al. 1986, 21) Die Aktivierung von Schemata und der Ansatz von MCCLELLAND / RUMELHART (1986) stehen dem Empirismus viel näher als dem Rationalismus von CHOMSKY, der davon ausgeht, dass die Sprachproduktion aus Regeln abgeleitet wird. PINKER (2000, 113–117) beschreibt die Auseinandersetzung zwischen der generativen Grammatik und dem Konnektionismus als „die letzte Schlacht in einem jahrhundertealten Zwist um zwei äußerst unterschiedliche Ansätze, den menschlichen Geist zu verstehen“ (PINKER 2000, 113). Die Sichtweise von PINKER muss allerdings relativiert werden. Der Konnektionismus steht sicher nicht in der Tradition des radikalen Empirismus. RUMELHART / MCCLELLAND (1986, 140– 141) greifen die Kontroverse zwischen Nativismus und Empirismus auf, vertreten aber keine Extremposition: Like good nativists, we have given the organism a starting point that has been selected by its evolutionary history. We have not, however, strapped the organism with the rigid predeterminism that traditionally goes along with the nativist view. If there are certain patterns of behavior which, in evolutionary time, have proven to be useful (such as sucking, reaching, or whatever) we can build them in, but we leave the organism free to modify or completely reverse any of these behavioral predispositions. At the same time, we have the best of the empiricist view – namely, we place no a priori limitations on how the organism may adapt to its environment. We do, however, throw out the weakest aspect of the empiricist dogma – namely, the idea of the tabula rasa […] as a starting point. The organism could start at whatever initial state its evolutionary history prepared it for.346
Damit wird auch deutlich, dass die konnektionistischen Grundannahmen mit der Evolutionären Erkenntnistheorie und der Epigenetik vereinbar sind. Verhaltensweisen, die sich bewährt haben, können indirekt vererbt werden. Mit Bezug auf die Evolutionstheorie könnte das bedeuten, dass in Systemen, die sich durch natürliche Selektion entwickelt haben, die Merkmale in der Welt, die sowohl biologisch signifikant als auch invariant in der Welt sind, dazu tendieren, genetisch internalisiert zu werden. (POSPESCHILL 2004, 219)
Diese internalisierten Strategien bilden die Rahmenbedingungen innerhalb derer Entwicklungen und Lernprozesse stattfinden können.347 345 Auch in konstruktionsgrammatischen Ansätzen, die der kognitiven Linguistik sehr nahe stehen (ELSEN 2014, 221), sind Schemata von besonderer Bedeutung. Für LANGACKER (2000, 4) ist ein Schema „the commonality that emerges from distinct structures when one abstracts away from their points of difference by portraying them with lesser precision and specificity“. 346 Schemata bilden sich eher abduktiv im Sinne von PEIRCE (vgl. Collected Papers 5.181). Vgl. auch WIRTH (2000). 347 Die genetische Internalisierung ist hier nicht auf die Sprache selbst bezogen, sondern nur auf allgemeine Lernmechanismen.
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess It should also be said that since, in PDP systems, what learned is a product of both the current state of the organism and the current pattern of inputs, the start state will have an important effect on what is learned and the shape of the network following any given set of experiences. However, the greater the amount of experience, the more independent the system should be from its start state and the more dependent it should be on the structure of its environment. (RUMELHART / MCCLELLAND 1986, 142)
Ein wichtiger Prüfstein für Modelle, die Sprachentwicklung dynamisch erklären, sind Computersimulationen (MÜLLER 2013, 28). Erste vielversprechende Versuche wurden von MCCLELLAND / ELMAN (1986) und MCCLELLAND / RUMELHART (1986) durchgeführt.348 MCCLELLAND / ELMAN (1986) haben die Sprachverarbeitung mit Hilfe des Computerprogramms TRACE simuliert, das auf der Grundlage parallelverarbeitender neuronaler Netzwerke funktioniert.349 MCCLELLAND / RUMELHART (1986) wenden den konnektionistischen Ansatz des Parallel Distributed Processing erfolgreich auf den Spracherwerb an. Sie zeigen, dass parallelverarbeitende Netzwerke so trainiert werden können, dass diese das Lernen der englischen Past Tense Verbformen, sowohl der regulären als auch der irregulären Flexionsmuster, nebst den Übergeneralisierungen in ihrem typischen U-förmigen Verlauf sehr gut nachbilden können (MCCLELLAND / RUMELHART 1986, 266).350 348 Die konnektionistischen Modelle werden bis heute weiterentwickelt. Als eine vielversprechende aktuelle Version zur Simulierung der Sprachverarbeitung gilt Shortlist B (NORRIS / MCQUEEN 2008). „First, whereas Shortlist was a connectionist model based on interactiveactivation principles, Shortlist B is based on Bayesian principles. Second, the input to Shortlist B is no longer a sequence of discrete phonemes; it is a sequence of multiple phoneme probabilities over 3 time slices per segment, derived from the performance of listeners in a large-scale gating study. Simulations are presented showing that the model can account for key findings: data on the segmentation of continuous speech, word frequency effects, the effects of mispronunciations on word recognition, and evidence on lexical involvement in phonemic decision making.“ (NORRIS / MCQUEEN 2008, 357) 349 „We describe a model called TRACE model of speech perception. […] Information processing takes place through the excitatory and inhibitory interactions of a large number of simple processing units, each working continuously to update its own activation on the basis of the activations of other units to which it is connected. The model is called TRACE model because the network of units forms a dynamic processing structure called ‘the Trace’, which serves at once as the perceptual processing mechanism and as the system’s working memory.“ (MCCLELLAND / ELMAN 1986, 1) 350 Kritisch äußern sich PINKER / PRINCE (1988), die die Ergebnisse zwar beeindruckend finden, aber herausstellen, dass der Ansatz von MCCLELLAND / RUMELHART (1986) den kindlichen Spracherwerb nicht adäquat modellieren kann. Symbolische Regeln sind für PINKER / PRINCE (1988, 184) weiterhin ein notwendiger Bestandteil der Sprachverarbeitung. FODOR / PYLYSHYN (1988, 68) stimmen PINKER / PRINCE zu und beharren auf symbolischen Regeln. Ihr Hauptargument besteht darin, dass konnektionistische Netzwerke keine kombinatorische Syntax oder Semantik erlauben. Den Einwänden widerspricht SMOLENSKY (1988). Eine umfassende Gegenüberstellung symbolorientierter und konnektionistischer Ansätze bietet POSPESCHILL (2004, 215). Aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass die Symbolverarbeitungstheorie keinen Spielraum für dynamische Lern- und Anpassungsprozesse lässt. Als ein integrativer Ansatz kann der G e n u i n e K o n n e k t i o n i s m u s – wie er von POSPESCHILL (2004, 214) vorgeschlagen wird – verstanden werden: „Nach dieser (neuen) Variante ver
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Damit wurde nachgewiesen, dass die sprachliche Produktivität von Kindern in Bezug auf Wortformen nicht ausschließlich auf Regeln beruhen muss, wie CHOMSKY / HALLE (1968) behauptet hatten.351 We have shown that, for this case, there is no induction problem. The child need not figure out what the rules are, nor even that there are rules. […] Associations are simply stored in the network, but because we have a superpositonal memory, similar patterns blend into one another and reinforce each other. If there were no similar patterns (i.e., if the featural representations of the base forms of verbs were orthogonal to one another) there would be no generalization. The system would be unable to generalize and there would be no regularization. (MCCLELLAND / RUMELHART 1986, 267)
Die morphologischen und phonologischen Eigenschaften der Verbstämme der Präsensform und deren statistische Verhalten determinieren die Eigenschaften der Vergangenheitsform. Die Muster von bekannten Wörtern werden auf die neuen Wörter übertragen, wenn diese strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen (PINKER 2000, 112–113). Diesem Modell liegt ein Lernprozess zugrunde, der gleichzeitig sowohl Bottom-up als auch Top-down verläuft.352 Den Ähnlichkeiten starker Verbmuster liegen Familienähnlichkeiten zugrunde, die über unscharfe Grenzen verfügen. Die Mitglieder einer Familie teilen zwar ein Mindestmaß an gemeinsamen Eigenschaften, sind aber nicht vollständig identisch. Eine unbestimmte Anzahl an Eigenschaften kann variieren, ohne dass die wendet der Konnektionismus eine andere Ebene genuin subsymbolischer und subkonzeptueller Beschreibungen kognitiver Prozesse und begreift diese als distinkt zu einer symbolischen, konzeptuellen Auffassung […]“. 351 CHOMSKY / HALLE (1968) sind davon ausgegangen, dass auch Wörter über eine Tiefenstruktur verfügen, die über phonologische Regeln in eine Oberflächenstruktur überführt wird. Diesen Ansatz haben sich beispielsweise HARNISCH (1987a) und KOCH (2007) teilweise zunutze gemacht, um die Oberflächenstrukturen von Dialektmerkmalen zu verstehen. KOCH (2007, 17) sieht aber auch die Schwächen dieses Ansatzes. Es kann immer auch eine Lexikalisierung einer phonetischen Form eintreten. So beschreibt er assimilierte Infinitive, die sich zu neuen Verbstämmen entwickelt haben. Die Rückführung auf eine Tiefenstruktur ist dann u. a. auch als Kunstgriff zu verstehen, um Entwicklungen zu beschreiben, die dem Sprecher synchron nicht bewusst sind. Welcher Stamm tatsächlich zugrunde liegt, wird oft erst im inner- und interparadigmatischen Vergleich deutlich. Eine vertiefende Diskussion der Problematik ‚konkrete vs. abstrakte Morphologie‘ bieten ROWLEY (1997, 33–36) und HARNISCH (1987b). Die Aussprache eines Wortes kann nach CHOMSKY / HALLE (1968) komplett von der mental repräsentierten Tiefenstruktur abweichen. „Nach der Theorie von Chomsky und Halle sind die mentalen Repräsentationen der Wörter in den verschiedenen Jahrhunderten der letzten tausend Jahre und in allen modernen englischen Dialekten identisch.“ (PINKER 2000, 128) PINKER (2000, 132) übt berechtigte Kritik an dem Modell von CHOMSKY / HALLE: „Sollen die Regeln und zugrunde liegenden Formen bei mentalen Prozessen irgendeine Rolle spielen, so müssen die Kinder den Schwall von Regeln, der die Oberflächenform erzeugt hat, erschließen, ihn rückwärts anwenden und die zugrunde liegende Form herausarbeiten. Und dass englischsprachige Kinder run hören und rin erschließen oder fight hören und das entfernt deutsch klingende fēcht erschließen, ist, offen gesagt, äußerst zweifelhaft“. 352 In Zusammenhang mit der Sprachproduktion wurden Modelle, die Rückkopplungs-, Bottomup- und Top-down-Prozesse berücksichtigen, wesentlich durch den Konnektionismus vorangebracht (RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010, 44).
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Zuschreibung zu einer Klasse verloren geht. Jede Klasse wird allerdings über Prototypen und prototypische Merkmale festgestellt, an denen sich die übrigen Mitglieder messen lassen. Die sich daraus ergebenden Unschärfen – insbesondere bei der irregulären bzw. starken Verbflexion – können nicht alleine durch Regeln erklärt werden. PINKER (2000, 136) formuliert daher treffendes Fazit: „Die irregulären Muster sind eben nicht allzu regulär und verlangen nach etwas ganz Anderem“. 3.3.1.2 Übergeneralisierungen im Spracherwerb als Testfeld für die verschiedenen Modelle mentaler sprachlicher Repräsentation Die Frage, wie Kinder die regulären und irregulären Flexionsformen lernen, ist ein wichtiges Testfeld für die verschiedenen Modelle mentaler sprachlicher Repräsentation. Eine besondere Herausforderung ist der Umgang mit Übergeneralisierungen von sowohl regulären als auch irregulären Formen in den ersten Lebensjahren. Eine Schwierigkeit stellen Belege dar, bei denen Kinder vermeintlich ‚überschüssige‘ Ausdruckssubstanz (re)analysieren und mit Informationsgehalt füllen. In der Literatur sind die Fälle ausgiebig diskutiert, bei denen Kinder übergeneralisieren (ELSEN 1999, 74; BUTZKAMM / BUTZKAMM 1999, 215–216), indem sie zusätzlich Flexionsmarker ergänzen (er/sie will → er/sie will -t; die Igel → die Igel -s). PINKER (2000, 292–293) unterstreicht allerdings, dass Kinder Flexionsmuster nicht nur anwenden, sondern auch analysieren. Er führt Beispiele dafür an, dass Ausdruckssubstanz von den Kindern weggelassen wird, nachdem die Wortausgangsstruktur als Flexionssuffix mit grammatischer Bedeutung analysiert wurde. Kinder sind nicht nur beim Anwenden von Flexion übereifrige Grammatiker, sondern auch bei der Analyse von Flexionen, [...]. Dabei schnipseln sie gelegentlich etwas zu wild herum und heraus kommen merkwürdige Rückbildungen, wie a gra, das als Singular des vermeintlichen Plurals grass analysiert wird und ‚Grashalm‘ bedeuten soll. [...]. Mit ihrer neuen Schnipselmaschine produzierte sie [ein Mädchen, das beobachtet wurde; LB] mik (mix), upstair, downstair, clo (clothes), len (lens), sentent (sentence), bok (box) und sogar Santa Claw, den einzig wahren Weihnachtsmann. (PINKER 2000, 292–293)353
Ähnliche Belege lassen sich auch in der Spracherwerbsliteratur für deutsche Kinder finden (vgl. STERN / STERN 1928/1975; HARNISCH 2007; HARNISCH 2005). Aus einer eigenen Belegsammlung354 stammen Formen wie der Daum (‘Dau 353 Weitere Beispiele, die PINKER (2000, 293) anführt, sind: „Ein anderes Kind, das hörte, wie seine Mutter von booze in the house sprach, fragte, was ein boo sei. Ähnlich erging es einem deutschen Kind, das sich nichts unter einem Ohropack vorstellen konnte, als seine Mutter Ohropax erwähnte“. 354 Die Belegsammlung wurde 2008 im Zuge der Zulassungsarbeit zum Staatsexamen Natürlichkeit im Spracherwerb. Kindersprachliche Reanalyseprozesse in der Numerusdeklination des Substantivs (BÜLOW 2008, unpubliziert) begonnen und seitdem fortgeführt. Die Belege stammen von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten, die mich über die sprachlichen Auffälligkeiten ihrer Kinder informieren. Ein Teil der Daten wurde 2008 selbsttätig erhoben.
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men’), Kük (‘Küken’), Bes (‘Besen’) oder Tropf (‘Tropfen’). Diese Beispiele kindlicher Übergeneralisierung und Analysetätigkeit sind weniger häufig zu beobachten, da bestimmte günstige Bedingungen vorliegen müssen. Es kann nur dort zu (Re)Analysen kommen, wo das sprachliche Material homophon mit anderweitiger, bedeutungstragender Ausdruckssubstanz ist (WURZEL 2002, 59–60). Das Sprungbrett für Innovationen im Sprachwandel sind ebenfalls ambige Strukturen (NÜBLING et al. 2010, 158), die re- oder neu-analysiert werden können. PINKER (2000, 293) verweist darauf, dass solche (Re)Analysen eine wichtige Rolle für den Sprachwandel spielen: Cherry ist eine Rückbildung aus cerise und pea der erfundene Singular der Stoffbezeichnung pease. (Vielleicht wird man irgendwann einmal ein Reiskorn im Englischen – als Rückbildung zu rice – als rouse bezeichnen oder im Deutschen als ein Rei.)
Im Deutschen sind diese Voraussetzungen beispielsweise in der Pluralmorphologie oder im Bereich der Komparation der Adjektive erfüllt. Einige deutsche Pluralmorpheme wie -er oder -en sind homophon mit der Wortausgangsstruktur vieler Substantive, die sowohl im Singular als auch im Plural oberflächenstrukturell auf en und er enden. Im Sinne der Natürlichen Morphologie liegen aber jeweils defizitäre oder intransparente Form-Funktions-Beziehungen vor (MAYERTHALER 1981; WURZEL 1984). Die Daten legen die Vermutung nahe, dass Kinder in einer bestimmten Phase des Erstspracherwerbs, nämlich dann, wenn sie auch mit zusätzlicher Ausdruckssubstanz übergeneralisieren, versuchen, transparente Form-FunktionsBeziehungen herzustellen. Belege, bei denen die homophone Wortausgangsstruktur semantisiert wurde, sind beispielsweise Bildungen wie:
Fad (Sg.) Daum (Sg.) Kük (Sg.) sup (Pos.) saub (Pos.)
Diesen Bildungen könnten rekonstruierte Formen zugrunde liegen, die deutlich machen, dass die Wortausgangsstruktur funktionalisiert wurde. *Fad -en (Pl.) *Daum -en (Pl.) *Kük -en (Pl.) An der Untersuchung haben vier Kinder im Alter von 3;02 bis 5;01 Jahren teilgenommen. Ihnen wurde zunächst ein Bild mit mehreren Daumen gezeigt. Der Explorator stellte die Frage: Was sind das?; anschließend wurde ein Bild mit nur einem Daumen gezeigt und gefragt: Was ist das? Die Auswahl der abgefragten Begriffe war in Hinblick auf die Wortausgangsstrukturen en, er und el pseudorandomisiert. Es wurden nur Begriffe abgefragt, die im Singular und Plural homophon sind (Daumen (Sg.) – Daumen (Pl.)). Alle Begriffe sind Konkreta, zweisilbig, keine Pluraletantums und den Kindern bekannt. Gefragt wurde nach insgesamt 18 Begriffen wie: Daumen, Besen, Küken, Socken, Ritter, Pullover, Messer, Esel, Igel, Löffel.
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*sup -er (Komp.) *saub -er (Komp.) Da das Zusammenspiel zwischen Stamm und Flexiv an der PhonologieMorphologie-Schnittstelle im deutschen Substandard wenig transparent ist, sind Kinder hier bei der Verarbeitung und Anwendung von Strukturen vor besonders schwierige Aufgaben gestellt. Die Frage ist nun, wie die beobachteten Phänomene im Gehirn repräsentiert und verarbeitet werden. Grundsätzlich werden in der Literatur zwei verschiedene Ansätze der grammatischen Repräsentation diskutiert: Regelbasierte Verarbeitungsmodelle und konnektionistische Ansätze. Beide Modelle müssen sich anhand der Flexion bewähren. In Hinblick auf die Verbflexion nahm man lange an, dass die regulären Verben durch symbolische Regeln erzeugt und die irregulären Formen auswendig gelernt werden müssen. Dieser Ansatz ist zunächst in die generative Grammatiktheorie und eine nativistische Spracherwerbshypothese einzuordnen. Diese gehen davon aus, dass der Kern der Grammatik angeboren und universell ist. Eigenständige Gehirnareale mit eigenen kognitiven Prozessen sind für die Sprache zuständig. Des Weiteren wird angenommen, dass die Sprache in relativ geschlossene Module für verschiedene Systeme wie Grammatik oder auch Lexik (mentales Lexikon) unterteilt werden kann. Im Mittelpunkt steht der Begriff der Universalgrammatik (UG). Dieser „impliziert also die Vorstellung, daß der Mensch über ein angeborenes sprachspezifisches System mentaler Strukturen verfügt, die den Erwerb autonom-grammatischer Gesetzmäßigkeiten erst ermöglichen“ (FANSELOW / FELIX 1987, 128). Diese Annahme lässt sich nach Ansicht der generativen Schule mit Beobachtungen aus dem Erstspracherwerb untermauern. Kinder lernen keine einfachen oberflächlichen Reihenfolgebeziehungen. Sie verfügen über ein angeborenes und autonomes Grammatikmodul, das über eigene Prinzipien und Kategorien verfügt. Abstrakte symbolische Regeln wie S → NP + VP sind demnach angeboren. Da bestimmte irreguläre Muster heute noch produktiv sind, kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Muster auf ehemalige Regeln zurückgeführt werden können (PINKER 2000, 107). Entweder werden die irregulären Muster genau wie die regulären von Regeln erzeugt oder die sprachliche Produktivität beruht nicht in erster Linie auf Regeln, sondern kann entstehen, weil man in der Lage ist, die Muster in bekannten Wörtern mit den Mustern in neuen zu assoziieren. (PINKER 2000, 112)
Eine starke Regeltheorie wurde im Wesentlichen von CHOMSKY / HALLE (1968) entwickelt. CHOMSKY / HALLE gehen davon aus, dass sowohl die regulären als auch die irregulären Formen über Regeln gebildet werden. Der Input durch die entsprechende Muttersprache spielt nur eine äußerst marginale Rolle. Nicht die Performanz, sondern die angeborene Kompetenz ist hier ausschlaggebend. Diese Regeln arbeiten bis in die Morpho-Phonologie hinein (PINKER 2000, 123). Auch auf der Wort- und Morphemebene werden aus abstrakten Tiefenstrukturen konkrete Oberflächenstrukturen abgeleitet. Wörter haben demnach im Gedächtnis eine andere Form als in der Aussprache. In der Ontogenese würde sich dann quasi
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die Phylogenese wiederholen. Die Tiefenstruktur entspricht demnach der Form seit dem Entstehen der jeweiligen Sprache. Wie kann man aber davon ausgehen, dass Kinder in der Lage sind, diese Formen zu rekonstruieren? Was aus wissenschaftlicher Perspektive noch sinnvoll erscheint, ist für Erstsprachlerner sehr unökonomisch und unwahrscheinlich. Sollen die Regeln und zugrunde liegenden Formen bei mentalen Prozessen irgendeine Rolle spielen, so müssen die Kinder den Schwall von Regeln, der die Oberflächenform erzeugt hat, erschließen, ihn rückwärts anwenden und die zugrunde liegende Form herausarbeiten. Und das englischsprachige Kinder run hören und rin erschließen oder fight hören und das entfernt deutsch klingende fēcht erschließen, ist, offen gesagt, äußerst zweifelhaft. (PINKER 2000, 132)
Die starke Regelauffassung lässt vollkommen die Sprecher- und Hörerpsychologie aus dem Auge. HARNISCH (1987a, 4) bezeichnet diese Vorstellung der abstrakten, von der Sprecher- und Hörerpsychologie losgelösten Formenbildung als „Hokuspokus“. Als Gegenentwurf zu den regelbasierten Verarbeitungsmodellen wurden die konnektionistischen parallelverarbeitenden Modelle (Parallel Distributed Processing) entwickelt, die zum einen die Performanz in den Vordergrund rücken und zum anderen den Spracherwerb nicht als angeboren betrachten. Außerdem bestreiten die Vertreter dieses Ansatzes, dass Sprache streng modular im Gehirn organisiert ist. „Aus biologisch-evolutionärer Sicht sind angeborene, voneinander unabhängige und deutlich gegeneinander abgegrenzte Bereiche im Gehirn nicht wahrscheinlich.“ (ELSEN 1999, 207) Die grammatische Struktur der Sprache wird in einem aktiven und dynamischen Prozess der Informationsverarbeitung gelernt. Dabei haben die sprachliche Umgebung (Ko-Text) und der Kontext einen Einfluss auf den Lernprozess. TOMASELLO (2005) stellt mit seinem usage-based Ansatz die Bedeutung der Interaktion für den Spracherwerb heraus. Antizipative und probabilistische Faktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. ELSEN (1999, 207) kommt zu folgendem Fazit: Eine Regel ist keine symbolische diskrete Repräsentation mit kategorischer Anwendung, sondern eine mehr oder weniger strikte Regularität als Ergebnis von Informationsverarbeitung über einen gewissen Zeitraum hinweg.
Auch für die Schnittstelle zwischen Morphologie und Phonologie hat ELSEN (2010) nachgewiesen, dass gewisse oberflächenstrukturelle Merkmale einen wichtigen Einfluss auf den Spracherwerb haben. Für das Lernen der Muster sind insbesondere die Anzahl der Silben, die Betonung, das Vokalskelett und die Wortausgangsstruktur von besonderer Bedeutung (ELSEN 2010, 131). Data on phonology, noun and verb morphology, and the lexicon are consistent with predictions of network simulations. The computer system and very probably a child as well are capable of abstracting producing hierarchical and ‚rule‘-dependent information from surface structures without help of explicit, symbolic concepts and rules. (ELSEN 2010, 134; Herv. LB)
Damit greift ELSEN in gewisser Weise auch den kognitiven Schema-Ansatz von KÖPCKE (1993) auf, der wiederum auf BYBEE (1985) rekurriert und nachweist, dass bei der Pluralbildung bestimmte Oberflächenstrukturmerkmale zu Schemata
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zusammengefasst werden können und einen Einfluss auf die Pluralbildung haben. Dabei spielen phonologische, morphologische und semantische Eigenschaften in ihrer Kombination eine wichtige Rolle. Ein zentraler Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache ist das Studium der Beziehung zwischen Form und Bedeutung bzw. zwischen Form und grammatischer Funktion. (KÖPCKE 1993, 205)
Schemata orientieren sich an probabilistischen Prototypenkonzepten und sind output-orientiert. Sie sind auf einer Skala zwischen prototypischen Singularformen und prototypischen Pluralformen angeordnet. Je prototypischer eine Form ist, desto früher sollte sie im Spracherwerb gelernt werden und desto stabiler ist sie in Bezug auf Sprachwandel.
Abb. 6: Schemata der Pluralbildung aus HARNISCH / KOCH (2009, 415) nach KÖPCKE (1993, 88– 89)355
Prototypizität muss im Spracherwerb aber erst über den Input und die eigene Sprachverwendung aufgebaut werden. Nicht alle Merkmale können zur gleichen Zeit erkannt, erlernt und entsprechend gewichtet werden. Unterschiedliche Fehler treten in unterschiedlichen Phasen des Spracherwerbs auf (ELSEN 1999, 65–66). Daher sind speziell für die Pluralbildung verschiedene Übergeneralisierungsmuster zu verschiedenen Zeitpunkten dominierend:356 Offenbar ist bei der Wahl der Endung unterschiedliche Information zu unterschiedlichen Zeiten ausschlaggebend […]. Außerdem ist wohl auch die Erkenntnis, Plurale markieren zu müssen, als nichtverbaler kognitiver Faktor für den Gebrauch von -en verantwortlich. (ELSEN 1999, 74)
355 Die Anordnung erfolgt nach Auslaut; tendenzielle Einrückung nach Artikel-Klasse und Umlaut. 356 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass verschiedene Übergeneralisierungsmuster auch zeitgleich bei verschiedenen Begriffen realisiert werden.
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KÖPCKE (1993, 214) kann sich allerdings nicht wie BYBEE dazu entschließen, IPRegeln vollständig abzulehnen. Im Unterschied zu Bybee (1991), die konsequent postuliert, daß alle Wörter und Wortformen Beziehungen miteinander eingehen und daß für kein einziges Segment des Gesamtlexikons so etwas wie eine zugrunde liegende Form anzunehmen ist, auf der IP-Regeln operieren, gehe ich davon aus, daß man dem mentalen Lexikon am ehesten gerecht wird, wenn man sowohl Verarbeitungsprozeduren, die auf linguistischer Beschreibungsebene auf IP basieren, wie auch Schemata und Suppletion zuläßt.
PINKER (2000) favorisiert mit seiner erweiterten Wort-und-Regel-Theorie ebenfalls ein Mischmodell, in dem reguläre Formen über Regeln erzeugt und irreguläre Formen durch Parallelverarbeitung generiert werden.357 Für ihn sind Übergeneralisierungen und fehlerhafte Formen im Erstspracherwerb wichtige Hinweise darauf, wie Sprache mental repräsentiert wird. „Nichts ist für die Wort-undRegel-Theorie von größerer Bedeutung als die Erklärung, wie Kinder Regeln erwerben und auf Wörter anwenden – und auch übergeneralisieren.“ (PINKER 2000, 289) Sowohl die starke Regeltheorie als auch der Konnektionismus sind für ihn nicht ausreichend erklärungsadäquat. „Ein Phänomen – zwei Modelle. Beide erklären zu viel, um völlig falsch zu sein, und sind zu sehr mit Fehlern behaftet, um völlig richtig zu sein.“ (PINKER 2000, 156) Sein Modell ist wieder stärker nativistisch und generativ orientiert. „Die Verwendung der Regel (wenn auch vielleicht nicht der Zeitpunkt der ersten Verwendung) wird teilweise von ihren Genen gesteuert.“ (PINKER 2000, 318) PINKER hat allerdings auch die Fälle betrachtet, bei denen überschüssige Ausdruckssubstanzen mit Inhalt belegt werden, wie die eingangs zitierte Passage (PINKER 2000, 292–293) und die Belege saub -ø und Daum -ø zeigen. PINKER (2000, 295) erklärt die Fälle damit, dass Muster generalisiert werden, die zudem sehr kommunikativ sind, da sie eindeutige Form-FunktionsBeziehungen herstellen: An der Bedeutung von bleeded oder singed ist nichts unklar. Ja, solange Kinder solche Fehler machen, ist ihre Sprache sogar kommunikativer als die der Erwachsenen. Im Englischen gibt es etwa 25 irreguläre Verben, die ihre Formen im Präteritum nicht verändern, wie cut, set und put. Rein äußerlich lässt sich an diesen Verben kein Unterschied zwischen Vergangenheit und Nicht-Vergangenheit festmachen – On Tuesday I put the trash out kann sich auf letzten Dienstag, nächsten Dienstag oder jeden Dienstag beziehen. Die Kinderform On Tuesday I putted the trash out kann sich nur auf den vergangenen Dienstag beziehen.
Evidenzen für seinen generativen Ansatz versucht PINKER aus der Tatsache abzuleiten, dass Kinder trotz dieser Fehler und mangelnder negativer Evidenz die richtigen Formen erlernen. Irgendwann beginnen die Kinder dann die Regel bzw. Generalisierungen zu blockieren. Diese Art des Sprachlernens ist nach PINKER uni 357 LANGACKER (2000, 57–60) äußert sich kritisch über PINKERS Ansatz. Er nimmt aus einer konstruktionsgrammatischen Perspektive an, dass sprachliche Einheiten gleichzeitig als Regeln und als idiosynkratische Einheiten repräsentiert sein können. Mit dem Konstruktionsbegriff, wie er etwa von LANGACKER (2000) vertreten wird, „lassen sich sowohl induktive bottom up- als auch deduktive, regelbasierte top down-Prozesse fassen“ (BEHRENS 2009, 435).
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versell und angeboren und würde auch den U-förmigen Entwicklungsverlauf von Übergeneralisierungen erklären. „Diese minimalistische Theorie kombiniert eine einfache Idee aus der Linguistik (Blockierung) mit einer einfachen Idee aus der Psychologie (das Gedächtnis profitiert von Wiederholungen).“ (PINKER 2000, 300) Dabei kommt PINKER (2000, 202) aber nicht ohne Schemata aus: Regeln fügen Wörter oder Teile von Wörtern nicht wahllos zusammen; sie bilden ein Schema, in dem sich die Eigenschaften der neuen Kombination aus Eigenschaften der Teile und der Art ihrer Anordnung berechnen lassen.
Nichtsdestoweniger dürften die Belege aus dem Deutschen und dem Englischen gezeigt haben, dass Kinder an der Morphologie-Phonologie-Schnittstelle zwischen Stamm und Flexion insbesondere die Wortausgangsstruktur und Silbenanzahl berechnen und analysieren. Was auf den ersten Blick vielleicht nicht auffallen mag, ist die starke Tendenz zur Herstellung eindeutiger Form-FunktionsBeziehungen, die an Transparenz und Uniformität gekoppelt ist. Bei den angeführten Beispielen ist beachtlich, dass die Kinder hier schon sehr feine Prozesse an der Morphologie-Phonologie-Schnittstelle antizipieren und generalisieren. An Spracherwerbsprozessen, die die Morphologie-Phonologie-Schnittstelle betreffen, wird außerdem deutlich, dass sogenannte Übergeneralisierungen ganz unterschiedlich aussehen können und verschiedene Übergeneralisierungsmuster zu verschiedenen Zeitpunkten dominieren. Der Spracherwerb erfolgt nicht nach festen Algorithmen, sondern ist in gewissen Bereichen kontingent. So hat HARNISCH (2005, 133–134) das gleichzeitige Auftreten gegensätzlicher Übergeneralisierungstendenzen bei seinen Kinden beobachtet.358 In der möglichen kindersprachlichen Äußerung *hamen mir noch was zum eincreben? wird von den Kindern gleichzeitig aus *eincrem ‘eincremen’ > eincreb-en gebildet und damit eine potentielle Assimilation aufgelöst und andererseits mit mir ham-ø (aus wir hab-n ‘wir haben’ > mir ham-ø) > mir ham-en übergeneralisiert, ohne die Assimilation zu erkennen.359 Die Abweichungen sind mit Hilfe des Schema-Ansatzes und durch die sich zu den jeweiligen Zeitpunkten jeweils vordrängenden Muster zu erklären, die im Spracherwerb des Kindes konkurrieren. Welche Muster letztlich selektiert werden, ist von ganz verschiedenen Faktoren wie Frequenzeffekten, Feedback durch die Eltern, Stellung der Wortform im Satz usw. abhängig. Die beobachteten Daten sprechen gegen eine modulare Verarbeitung von Sprache. Sie legen nahe, dass grundsätzliche kognitive Verarbeitungsstrategien die Struktur von Sprache beeinflussen. Dabei spielen für den Sprachenlerner vor allem Transparenz, Uniformität und Ikonizität in Bezug auf gute Form-InhaltsBeziehungen eine wichtige Rolle. Damit ist noch nicht gesagt, dass die Tendenzen 358 Gleichzeitig meint jedoch nicht ‘absolut simultan’. Gleichzeitigkeit ist hier so zu verstehen, dass die Äußerungen, die gegensätzliche Tendenzen offenbaren, sich überlappenden Phasen entspechen. 359 In beiden Fällen erzeugt das Kind allerdings konstruktionell ikonische Strukturen (vgl. Kap. 4.2.1; 4.3).
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zur Transparenz, Uniformität und Ikonizität angeboren sind.360 Sie sind vielmehr kognitionspsychologisch motivierte Prinzipien, die bei der Sprachverarbeitung in einem komplexen Prozess eine Rolle zu spielen scheinen. Vorsichtig formuliert sprechen die Daten aus dem Spracherwerb dafür, Sprache als ein Epiphänomen allgemeiner kognitiver Prinzipien zu sehen. Die Suche nach Mustern ist allgegenwärtig. Die beschriebenen Reanalysen auf der morphosemantischen Ebene setzen allerdings voraus, dass Sprache gleichsam Top-down, Bottom-up und parallel verarbeitet wird.361 Zum einen wird die lautliche Struktur analysiert, zum anderen wird geprüft, ob bestehende Muster erkennbar sind und auf die Lautstruktur projiziert werden können. Reanalysen sind in der Regel nicht zwingend. Sie können, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, eintreten oder eben nicht.362 Auch hier besteht eine erstaunliche Parallele zu den konnektionistischen Modellen, die ebenfalls keine Ja/Nein-Entscheidungen abbilden. Der Output ist ein gradueller Unterschied zwischen verschiedenen Möglichkeiten im Sinne eines Mehr oder Weniger. Anders gesagt: Ein konnektionistisches Netz strebt immer einen Gleichgewichtszustand an, und der ist nicht notwendigerweise immer mit allen vorhandenen Informationen kompatibel. […] Die Hypothesen schaffen es, miteinander zu leben, obwohl sie sich partiell widersprechen. (RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010, 236)
Die Beobachtungen aus dem Spracherwerb sprechen dafür, Sprache als ein dynamisches und komplexes adaptives System zu konzeptualisieren. Dass Kinder relevante Informationen aus dem sprachlichen Input der Bezugspersonen filtern und kondensieren und so ihre Grammatik lernen, haben auch KARMILOFF / KARMILOFF-SMITH (2001, 54) beobachtet: Infants do not move unidirectionally from smaller to larger linguistic units. Rather, they often start by storing the larger prosodic units that they subsequently break down into linguistically relevant parts.
Ein weiteres Testfeld, das zwischen Spracherwerb und Sprachwandel angesiedelt werden kann und bei dem sprachlicher Input zu Schemata kondensiert wird, ist das weit verbreitete Phänomen der Mondegreens.
360 Zur Debatte um den Faktor Ikonizität vgl. HASPELMATH (2008a; 2008b) und HAIMAN (2008). 361 Die gleichzeitige kognitive Verarbeitung von sprachlichen Informationen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen wird als Online-Charakter der Sprachverarbeitung bezeichnet (RICKHEIT / WEISS / EIKMEYER 2010, 240). 362 Dies gilt auch für Remotivierungen. Sie sind „kein sprachliches Naturgesetz“ (EICHINGER 2010, 82). Die anschließende Bemerkung von EICHINGER, dass Remotivierungen „eine zu wählende oder auch nicht zu wählende funktionale Option“ sind, ist problematisch. Eine Remotivierung kann vor dem Hintergrund eines dominierenden Schemas eintreten oder nicht eintreten, als Produkt einer bewussten Entscheidung sind Remotivierungen höchstens in politischen oder werbewirksamen Kontexten relevant.
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Sprachwandel als evolutionärer Prozess
3.3.2 Mondegreens Wie bereits erörtert wurde, wird das Sprachwissen eines Individuums in der Ontogenese durch kulturelle Vermittlung, d. h. durch soziale Interaktion sowie Lernund Lehrmechanismen, tradiert (vgl. Kap. 3.1.2.2). Die speziellen Lernmechanismen ermöglichen, dass beispielsweise dem lautlichen Datenstrom (Bottom-up) Regelmäßigkeiten entnommen werden, die vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Schemata (Top-down) einen Sinn ergeben. Da sich komplexe adaptive Systeme überhaupt erst herausgebildet haben, um Muster zu erkennen, ist die Wahrnehmung eines Musters, ob funktional (adaptiv) oder dysfunktional (dysadaptiv) sei dahingestellt, eine Belohnung für das System (GELL-MANN 1994, 414). So lassen sich die zahlreichen Mondegreens erklären, die die Menschen aus Lied- oder Gedichttexten (re-)analysieren. Ein Mondegreen ist eine „transparente, lautgleiche oder -ähnliche Nachschöpfung von subjektiv undurchsichtigen Textteilen“ (RONNEBERGER-SIBOLD 2010, 91). Mondegreens beruhen auf similiphonen Lautstrukturen, die prinzipiell verschiedenste morphologische Grenzziehungen zulassen. Das homophone sprachliche Ausgangsmaterial ist die Grundlage für neue morphologische Strukturgrenzen, die der Hörer auf der Grundlage der ihm zugängigen Schemata remotiviert.363 HACKE / SOWA (2004) haben eine Reihe dieser Mondegreens gesammelt und in dem Buch „Der weiße Neger Wumbaba: Kleines Handbuch des Verhörens“ zusammengestellt.364 Der Titel selbst geht ebenfalls auf einen Verhörer365 von Matthias Claudiusʼ Verszeile der weiße Nebel wunderbar aus seinem „Abendlied (Der Mond ist aufgegangen)“ von 1778 zurück. Diese Remotivierungen verdeutlichen, dass dem Menschen Fehler beim Decodieren von Daten unterlaufen und dadurch verschiedene Schemata als Varianten nebeneinander existieren können, die wiederum Selektionsdrücken ausgesetzt sind. Mondegreens entstehen häufig dann, wenn der Originaltext zwar akustisch korrekt verstanden wird, unter dem 363 Sprachliche Remotivierungstendenzen beschränken sich nicht allein auf Mondegreens. Eine Übersicht über die verschiedenen Typen semantischer Remotivierungen und deren Abgrenzung gibt HARNISCH (2010). Explizit setzen sich die Beiträge von EICHINGER (2010), WENGELER (2010) und RONNEBERGER-SIBOLD (2010) mit dem Thema auseinander. Unter dem Blickwinkel der Remotivierung können Mondegreens beispielsweise von Volksetymologien oder Malapropismen unterschieden werden (RONNEBERGER-SIBOLD 2010, 91–92). 364 Eine Zusammenstellung von Mondegreens aus dem Englischen bietet WINES (2007). Der Begriff Mondegreen geht ebenfalls auf einen sogenannten Verhörer zurück. Die Verszeile They hae slain the Earl of Murry, / And laid him on the green einer schottischen Ballade mit dem Titel „The Bonny Earl of Murry“ wurde von der amerikanischen Schriftstellerin Sylvia Wright als Kind folgendermaßen gehört: They hae slain the Earl Amurray [sic!], And Lady Mondegreen (WINES 2007, 9). Wright verarbeitete ihr Erlebnis in dem 1954 im Harper’s Magazine erschienenen Artikel „The Death of Lady Mondegreen“. 365 RONNEBERGER-SIBOLD (2010, 87) weist zu Recht darauf hin, dass wohl nur in den wenigsten Fällen von tatsächlichen Verhörern oder Slips of the Ear gesprochen werden kann. Das Gehörte wurde vielmehr in einer dem Original nicht entsprechenden Weise remotiviert oder rekonstruiert.
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Eindruck der eigenen dominanten Schemata aber in einer anderen – dem Original nicht entsprechenden – Weise formal und semantisch zergliedert wird. Intransparenter lautlicher Datenstrom wird unter Verwendung der bekannten und erfolgreichen Schemata transparent gemacht. Kinder sind noch anfälliger für Mondegreens als Erwachsene, da sie semantische oder formallogische Ungereimtheiten wie das Oxymoron weißer Neger noch weniger stören. RONNEBERGER-SIBOLD (2010, 89) erklärt das Phänomen folgendermaßen: Kinder hingegen sind durch ihren beschränkten Erfahrungshorizont dauernd mit Sachverhalten konfrontiert, die sie noch nicht sinnvoll in einen Gesamtzusammenhang einordnen können. Daher geben sie sich leichter zufrieden, wenn sie nur Transparenz, aber keine Motivation geschaffen haben.
Transparenz und Mustererkennung sind für das Kind Belohnung genug. Erwachsenen kann beispielsweise der sprachliche Kontext (Ko-Text) der falschverstandenen Textzeile helfen, die Interpretation des lautlichen Datenstroms zu überdenken und nach einer in den Gesamtkontext passenderen Lösung zu suchen bzw. weitere (konkurrierende) Interpretationsangebote in Betracht zu ziehen. Es wird schließlich die Variante bzw. das Schema gewählt, das sich unter Berücksichtigung aller zugänglichen Informationen als das geeignetste oder passendste erweist.366 RONNEBERGER-SIBOLD (2010, 100–101) verweist als Informationsquelle insbesondere auf die Lautgestalt des eingehenden Datenstroms: Eine beliebte Strategie scheint zu sein, probeweise eine Wortgrenze vor einem möglichen konsonantischen Wortanlaut plus Tonvokal anzusetzen. Diese Strategie ist offenbar sehr effizient, denn meistens stoßen die Hörer auf die Weise tatsächlich auf die Worteinheit des Originals, selbst wenn sie deren Lautgestalten lautlich (und dadurch natürlich auch inhaltlich) abweichend ausfüllen.
Die Elemente der Lautgestalt, denen die Hörer besondere Aufmerksamkeit schenken sind – wie auch von ELSEN (1999) für den Spracherwerb festgestellt – die rhythmische Kontur, der Tonvokal und die anlautenden Konsonantencluster (RONNEBERGER-SIBOLD 2010, 101). RONNEBERGER-SIBOLD (2010, 102) leitet aus den Beobachtungen Konsequenzen für den Sprachwandel ab. Sie vertritt die These, „dass genau dieselben gestaltprägenden Merkmale, die bei solchen individuellen Schöpfungen maßgeblich berücksichtigt werden, auch den langfristigen Sprachwandel geleitet haben“ (RONNEBERGER-SIBOLD 2010, 102). Weiterhin verbindet sie die Ergebnisse mit dem bereits oben besprochenen Schema-Ansatz von KÖPCKE (1993). Die Lautgestalt des Substantivs kodiert demnach die grammatische Funktion sowohl in Hinblick auf die Numerus- als auch die Genuskategorie.367 Diese subtilen Kodie 366 Dass wir dabei kognitive Anstrengung möglichst vermeiden und deshalb auf erprobte Heuristiken zurückgreifen, zeigt KAHNEMAN (2011, 81–94). 367 „Der unveränderliche konsonantische Anlaut garantiert die Konstanz des Lexems, die veränderliche rhythmische Gestalt signalisiert die grammatische Subkategorie Singular oder Plural, der Tonvokal kann dem einen oder dem anderen dienen […]. Als wäre dieses Verfahren der
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rungsschemata haben sich im Laufe der Sprachentwicklung herausgebildet. Sie sind das Ergebnis von Anpassungsprozessen unter Berücksichtigung bestimmter Sprachhandlungsmaximen. Aus der Fülle solcher Varianten wählen Generationen von Sprachbenutzern bei einer sehr großen Zahl von Sprechakten diejenigen aus, die sich zum Ausdruck der grammatischen Kategorien als besonders effizient erweisen. Dies sind besonders solche Varianten, die einerseits die Lautgestalt des Lexems wiedererkennen lassen, andererseits die gewünschte grammatische Modifikation salient kodieren.368 (RONNEBERGER-SIBOLD 2010, 104)
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass komplexe adaptive Systeme wie die Sprache offene Systeme sind, die Selektionsdrücken aus der Umwelt ausgesetzt sind (GELL-MANN 1994, 414). Die schwindende Bedeutung der niederdeutschen Sprache kann kaum allein aus dem Konstrukt Sprachsystem selbst heraus erklärt werden. Vielmehr sind hier soziologische und (sprach)ökonomische Faktoren ausschlaggebend (BÜLOW 2013). Ein weiteres Beispiel ist der Sprachwandel in Jugendgruppen, der oft von den Gruppenmitgliedern ausgeht, die über ein hohes Prestige und Ansehen verfügen. Von ihnen geprägte oder stilisierte Ausdrücke werden eher von den anderen Jugendlichen verwendet und können so diffundieren. Diese Handlungen sind der Maxime des sozialen Erfolgs geschuldet (KELLER 2003, 143). Diese Beispiele verdeutlichen, dass Sprachwandel nicht ausschließlich durch die Betrachtung der Systemstrukturen erklärt werden kann. Die Theorie der komplexen adaptiven Systeme zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie den Menschen zwar als lernfähiges System begreift, aber nicht davon ausgeht, dass er ausschließlich rationale Entscheidungen trifft (GELL-MANN 1994, 447).369 Dieser Ansatz wurde in den letzten Jahren durch die Forschung von Wirtschaftspsychologen bestätigt (KAHNEMAN 2011, 65–67). Der Mensch ist, selbst wenn er scheinbar rationale Entscheidungen trifft, kaum in der Lage, alle Konsequenzen seines Handelns abzuschätzen und die komplexen Wechselwirkungsprozesse zu verstehen. Positive Anreizsysteme wie Belohnungen sind hochgradig effektiv, um Verhaltensveränderungen bei komplexen adaptiven Systemen anzuregen. Diese Überlegungen können bis zu ADAM SMITHS (1776/1978) Theorie der unsichtbaren Hand zurückverfolgt werden, die KELLER (2003, 95–108) auf die Sprache überträgt (vgl. Kap. 2.2.3). Die Erklärungen der unsichtbaren Hand berücksichtigen die Motive und Anreize der handelnden Akteure. GELL-MANN (1994, 448) berichtet exemplarisch einen Fall, bei dem falsche Anreize gesetzt prototypischen deutschen Numerusflexion noch nicht subtil genug, kosignalisiert es darüber hinaus auch noch das Genus: Bei einem prototypischen Femininum ändert sich nämlich weder die rhythmische Gestalt noch der Tonvokal noch der Anlaut: Rose – Rose-n.“ (RONNEBERGER-SIBOLD 2010, 103) 368 Konkurrierende oder auch weiterhin bestehende dysfunktionale (dysadaptive) Schemata sind „oft die Folge zu eng gefaßter Kriterien dafür […], was unter Berücksichtigung aller tatsächlich wirkenden Selektionsdrücke als adaptiv gelten kann“ (GELL-MANN 1994, 415). 369 Der Ökonom FREY hat in den 1970er Jahren noch folgenden Standpunkt vertreten: „Der Agent der volkswirtschaftlichen Theorie ist rational, egoistisch, und seine Präferenzen verändern sich nicht“ (FREY; zitiert nach KAHNEMAN 2011, 331).
Sprache als komplexes adaptives System
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wurden. Nach dem Auffinden der ersten Qumranschriften vom Toten Meer, beschlossen die Archäologen, die Nomaden für jedes weitere Fundstück zu belohnen. Dies führte jedoch dazu, dass die ohnehin schon fragmentierten Texte aus Profitgier noch weiter zerstückelt wurden, bevor sie in die Hände der Archäologen gelangten.370 Ähnlichen Prinzipien folgt das Galanteriespiel, das zu den semantischen Veränderungen im Wortfeld ‚Frau‘ führte (vgl. Kap. 2.2.3).371 Zusammenfassend lässt sich sowohl für die Übergeneralisierungen als auch die Mondegreens feststellen, dass Kinder Schemata aus dem Input kondensieren. Vielfältiger Input (beispielsweise Dialekte und/oder standardnahe Sprache) und Feedback für das eigene Sprachverhalten führen dazu, dass Kinder für gewisse Zeiträume konkurrierende Schemata entwickeln und reproduzieren. Diese sind inner- und außersystemischen Selektionsmechanismen ausgesetzt. Das Sprachwissen der Kinder entwickelt sich damit durch Prozesse der Reproduktion, Variation und Selektion.
370 Als weiteres Negativbeispiel führt DOBELLI (2011, 69) folgende Anekdote an: Während der französischen Kolonialherrschaft herrschte in Hanoi eine Rattenplage. Gegen diese Plage wurde ein Gesetz erlassen, das vorsah, dass jeder, der eine tote Ratte abliefert, Geld bekommt. Die Folge war, dass fortan von einigen Bürgern Ratten gezüchtet wurden. 371 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Galanterieprinzip bietet NÜBLING (2011).
4 SPRACHWANDELTHEORIEN Der Wandel sprachlicher Form-Funktions-Beziehungen spiegelt den dynamischen Charakter des komplexen adaptiven Systems Sprache wider. Sie sind zudem ein Abbild kognitiver Verarbeitungs- und Lernmechanismen (vgl. Kap. 3.1.2.2). CHRISTIANSEN / CHATER (2008; 2007) zeigen in ihren Arbeiten, dass sich insbesondere die sprachliche Struktur an die kognitiven Dispositionen des Menschen anpasst.372 „Language is easy for us to learn and use, not because our brains embody knowledge of language, but because language has adapted to our brains.“ (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 490) Die Dynamik kann aus dem Wechselspiel zwischen systeminternen Prozessen der Selbstregulierung und sich verändernden externen Systemumweltbedingungen verstanden werden. Verschiedene Sprachwandeltheorien versuchen nun a) aus dem Befund der systeminternen Verhältnisse und Strukturbedingungen zu antizipieren, in welche Richtung sich sprachlicher Wandel vollzieht und b) besteht die Hoffnung, ältere Sprachstufen rekonstruieren zu können. Im Folgenden werden insbesondere die Sprachwandeltheorien diskutiert, die sich mit morphologischem Wandel beschäftigen, ohne dass dabei die angrenzenden Ebenen Pragmatik, Semantik373, Syntax und Phonologie374 aus dem Auge verloren werden. Sowohl die Grammatikalisierungstheorie als auch die Morphologische Natürlichkeitstheorie versuchen, sprecher- und hörerpsychologische Aspekte sowie Frequenzargumente in ihren Theorieentwurf zu integrieren. Hier sei darauf hingewiesen, dass Frequenz immer sowohl als ein Faktor als auch als ein Ergebnis von Sprachwandel zu betrachten ist. Im Gegensatz zur Morphologischen Natürlichkeitstheorie, die die Perzeption von Lebenswelt zentral setzt, bindet die Grammatikalisierungstheorie auch die Maximen sprachlichen Handelns nach KELLER und die Implikaturtheorie von GRICE in ihren Entwurf ein.375 Auf die 372 Mit dieser eigentlich wenig überraschenden Beobachtung stellen sich CHRISTIANSEN / CHATER (2008) gegen PINKER (vgl. 2003) und PINKER / BLOOM (1990), die folgende Position vertreten: „In the evolution of the language faculty, many ‚arbitrary‘ constraints may have been selected simply because they defined parts of a standardized communicative code in the brains of some critical mass of speakers“ (PINKER / BLOOM 1990, 718). Eine abweichende Auffassung aus generativer Perspektive vertreten allerdings FITCH / HAUSER / CHOMSKY (2005, 189), die die Herausbildung der spezifisch menschlichen Sprachfähigkeit (faculty of language in the narrow sense) nicht als Anpassungsprozess verstehen. 373 Insbesondere KELLER (2003) arbeitet einen Zusammenhang zwischen semantischem Wandel und Evolution heraus. 374 RITT (2004) beschreibt Lautwandel in Anlehnung an die Theorie komplexer adaptiver Systeme als Wandel im evolutionären Sinne. 375 WURZEL (1997) zeigt allerdings, dass die Theorie der unsichtbaren Hand nach KELLER viele Überschneidungspunkte mit der Morphologischen Natürlichkeitstheorie hat. MROCZYNSKI
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Sprachwandeltheorien
Grammatikalisierungstheorie ist auch deshalb ein genaues Augenmerk zu richten, da sie als „das wichtigste Einfallstor des Neoevolutionismus“ (KNOBLOCH 2011, 208) in die Linguistik gilt.376 Aber auch die Morphologische Natürlichkeitstheorie dürfte sich – ergänzt um eine soziolinguistische Perspektive – mit folgender Aussage anfreunden können: Human language has […] been shaped by selectional pressure from thousands of generations of language users. Linguistic variants which children find easier to learn to understand and produce; variants which are more economical, expressive and generally effective in communication, persuasion, and perhaps signally of status and social group, will be favored (CHRISTIANSEN / CHATER 2007, 25).
Im Folgenden wird gezeigt, dass beide Theorieentwürfe grundsätzlich sowohl mit dem Schemaansatz als auch mit dem evolutionstheoretischen Ansatz kompatibel sind und durch eine evolutionstheoretische Erweiterung an Erklärungskraft gewinnen. 4.1 GRAMMATIKALISIERUNG Auch die Grammatiken von Sprachen sind einerseits dynamisch und andererseits durch ein hohes Maß an sprachstruktureller Variation geprägt. Grammatische Zeichen unterliegen ebenfalls sprachdynamischen Prozessen. Grammatische Zeichen entstehen, verändern sich, existieren nebeneinander und können verschwinden. Während lexikalische Zeichen völlig neu durch die Sprachgemeinschaft erschaffen werden können, entwickeln sich grammatische Zeichen aus bereits vorhandenem sprachlichem Material.377 Auch CROFT (2000, 156–165) bezieht für seinen evolutionären Sprachwandelentwurf die Grammatikalisierungstheorie mit ein, um zu zeigen, dass aktuelle Form-Funktions-Beziehungen von sprachlichen Zeichen, u. a. der Ausgangspunkt für Innovationen mit Stoßrichtung Grammatik sind. CROFT (2000, 165) versteht Grammatikalisierung in erster Linie als Mechanismus oder Prozessrichtung für sprachliche Innovationen gradueller Natur. Grammatikalisierung wird außerdem funktionalistisch und mit Rückbindung an die kognitiven Verarbeitungs- und Lernmechanismen verstanden. Das folgende Zitat beziehen CHRISTIANSEN / CHATER auf die Grammatikalisierungstheorie: „[I]f language has evolved to fit prior cognitive and communicative constraints, then it may be that historical processes of language change provide a model of language evolution; indeed, historical language change may be language evolution in microcosm“ (2012, 83) erweitert die Grammatikalisierungstheorie um den Ansatz der Unsichtbaren-HandErklärung. 376 „Indeed, grammaticalization has become the center of many recent perspectives on the evolution of language as mediated by cultural transmission across hundreds, perhaps thousands, of generations of learners […].” (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 504) 377 Der Quellbereich für das grammatische Zeichen kann ein lexikalisches Zeichen sein oder nicht bedeutungstragende Lautsubstanz, die aus einer größeren Einheit sekretiert wird (JESPERSEN 1925/2003, 370–371).
Grammatikalisierung
201
(CHRISTIANSEN / CHATER 2007, 23). CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 504) verstehen Grammatikalisierung ebenfalls als graduellen Prozess, der wiederkehrenden Mustern folgt, die zunächst auf systematischen Selektionsdruck schließen lassen. Auf dieser Grundlage wird oft argumentiert, dass Grammatikalisierung unidirektional verlaufe. Gegen die Unidirektionalität werden allerdings Degrammatikalisierungs- und Pragmatikalisierungsprozesse angeführt, die im Folgenden noch diskutiert werden.378 Bevor allerdings auf Probleme und Abgrenzungsbestrebungen zur Grammatikalisierungstheorie eingegangen wird, sind die Grammatikalisierungstheorie, die ebenfalls verschiedene Varianten aufweist, und ihre Entwicklungen zunächst überblicksartig darzustellen. Die Herausbildung und Weiterentwicklung von grammatischen Zeichen wird häufig mit dem Begriff der Grammatikalisierung gefasst. In den letzten zwanzig Jahren wurde insbesondere die theoretische Bedeutung der Grammatikalisierungforschung für das Verständnis von Sprachwandel hervorgehoben (HASPELMATH 2004, 22). Es wird gezeigt, dass Grammatikalisierungsprozesse als evolutionäre Prozesse verstanden werden können. Was Linguisten oft als Grammatikalisierungstheorie bezeichnen, ist allerdings keine monolithische Theorie „in the sense of a well-defined system of interconnected falsifiable hyphotheses“ (HASPELMATH 2004, 23). Zum besseren Verständnis dieser Aussage zieht HASPELMATH (2004, 23) einen interessanten Vergleich mit der Evolutionstheorie: Thus, ‚grammaticalization theory‘ is more like ‚evolutionary theory‘, which is not one single monolithic system either, but describes a range of related approaches and basic issues in the area of historical biology.
Demnach würde sich also die Grammatikalisierungstheorie zur historischen Sprachwissenschaft verhalten, wie sich die Evolutionstheorie zur historischen Biologie verhält.379 Auch wenn hier Überschneidungsbereiche beider Theorien aufgezeigt werden, muss beachtet werden, dass historische Wissenschaften, die sich mit so komplexen Systemen wie der Sprache oder dem biologischen Leben auseinandersetzen, immer Probleme haben werden, Vorhersagen für zukünftige Entwicklungen zu treffen und schon deshalb nicht den Ansprüchen einer streng naturwissenschaftlichen Theorie mit gut abgestimmten und falsifizierbaren Hypothesen – wie aus der Physik bekannt – genügen können.380 Dennoch gibt es einige Versuche, Grammatikalisierung zu definieren. Die Bezeichnung Grammatikalisierung (frz. grammaticalisation) stammt ursprünglich von dem französischen Linguisten ANTOINE MEILLET (1912/1982, 131–133), der 378 Zur Problematik der Gleichsetzung von Sprachwandel und Abbau vgl. STOLZ (1992, 20–27). 379 Vielleicht kann sogar eine weitere Parallele gesehen werden. Die verschiedenen Grammatikalisierungstheorieauffassungen sind Individuen einer Population, der man den Namen Grammatikalisierung gibt. Die Eigenheiten aber auch die Gemeinsamkeiten der Ansätze werden wissenschaftskulturell tradiert und müssen sich bewähren sowie anpassen. 380 Der Grammatikalisierungstheorie ist auch daran gelegen, ältere Sprachstufen und die Entwicklung grammatischer Kategorien zu rekonstruieren. Vgl. dazu beispielsweise HEINE / KALTENBÖCK / KUTEVA (2013).
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Sprachwandeltheorien
jene Entwicklungen fassen möchte, bei denen sich lexikalische Einheiten zu morphosyntaktischen Gebilden verfestigen. Er verbindet mit seinem Grammatikalisierungsverständnis bereits zwei Generalisierungen, die die heutige Grammatikalisierungsforschung maßgeblich beeinflussen. Grammatikalisierung verläuft erstens in eine bestimmte Richtung (ist unidirektional) und ist zweitens mit lautlichen Abbauprozessen verbunden (KIPARSKY 2012, 15–16). Eine frühe und noch heute viel zitierte Definition des Grammatikalisierungsbegriffes stammt aus KURYŁOWICZ’ (1965, 69) Aufsatz „The Evolution of Grammatical Categories“: Grammaticalization consists in the increase of range of a morpheme advancing from a lexical to a grammatical or from a less grammatical to a more grammatical status, e.g. from a derivate to an inflectional one.381
KURYŁOWICZ erweitert den Grammatikalisierungsbegriff damit um die Phänomene, bei denen grammatische Elemente noch grammatischer werden. SZCZEPANIAK (2011, 5) begreift Grammatikalisierung als „[d]en Prozess der Entstehung und Weiterentwicklung grammatischer Morpheme bis hin zu ihrem Untergang“. LEHMANN (2005, 2) verbindet Grammatikalisierung damit, dass die sprachlichen Einheiten strukturelle Autonomie einbüßen und der Sprachteilnehmer damit die Freiheit verliert, „sie nach seinen kommunikativen Absichten zu manipulieren, […] und ihm stattdessen die Grammatik diktiert, wie er damit verfahren muss“. „Der von der Grammatikalisierung betroffene Aspekt eines Sprachzeichens ist seine Autonomie; sie nimmt ab.“ (LEHMANN 1995b, 1255) Auch HASPELMATHS Definition stellt heraus, dass bei Grammatikalisierungsvorgängen die internen Abhängigkeiten von sprachlichen Zeichen unidirektional zunehmen: „A grammaticalization is a diachronic change by which the parts of a constructional schema come to have stronger internal dependencies“ (HASPELMATH 2004, 26). KIPARSKY (2012, 18–19) zeigt, dass die Art der Definitionen von einerseits KURYŁOWICZ (1965, 69) und andererseits LEHMANN (1995b, 1255) und HASPELMATH (2004, 26) unterschieden werden müssen, da sie verschiedene Implikationen – insbesondere in Bezug auf die Unidirektionalität und die Einordnung einer sprachlichen Entwicklung als Grammatikalisierungsprozess – hervorrufen. Der Wandel von einer Postposition zu einem Klitikon erhöht beispielsweise die interne Abhängigkeit, muss aber nicht zwingend bedeuten, dass sich auch die grammatische Funktion ändert. Im Sinne von HASPELMATH und LEHMANN könnte von Grammatikalisierung gesprochen werden, nicht aber im Sinne der Definition von KURYŁOWICZ. Um die Grammatizität von sprachlichen Zeichen als Indikator für den Grammatikalisierungszustand bestimmen zu können, hat LEHMANN verschiedene Para-
381 So ähnlich auch HEINE / KUTEVA (2007, 32): „Grammaticalization is defined as the development from lexical to grammatical form, and from grammatical to even more grammatical forms“.
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Grammatikalisierung
meter entwickelt. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Parameter nach LEHMANN (1995b, 1255).382 Grammatizität383
Niedrig
Parameter
→
Hoch
Prozess
Paradigmatizität
Zeichen gehört zu einem losen Wortfeld
Paradigmatisierung
Zeichen gehört zu einem relativ festen und integrierten Paradigma
Wählbarkeit
Zeichen ist mit Blick auf die kommunikative Absicht frei wählbar
Obligatorisierung
Wahl des Zeichens ist stark beschränkt bis obligatorisch
Integrität
Schichtung semantischer Merkmale; ev. mehrsilbig
Erosion
grammatische Bedeutung der sprachlichen Zeichen; obligo- oder monosegmental
Fügungsenge
Zeichen ist unabhängig juxtaponiert
Koaleszenz
Zeichen ist morphologisch gebunden oder bloße phonologische Eigenschaft des Trägers
Stellungsfreiheit
Zeichen kann umgestellt werden
Fixierung
Zeichen kann nicht mehr umgestellt werden
struktureller Skopus
Zeichen hat einen weiten Skopus und bezieht sich auf Syntagmen
Kondensierung
Zeichen modifiziert Wortstamm
Tab. 1: Grammatikalisierungsprozesse nach LEHMANN (1995b, 1255; leicht verändert LB)
Als ein Paradebeispiel für einen Grammatikalisierungsprozess beschreibt MROCZYNSKI (2013, 131) die Entwicklung des germanischen Substantives *lika ‘Gestalt’, ‘toter Körper’ zum gebundenen Derivationssuffix -lich, das heute nicht
382 Zur Erläuterung der einzelnen Parameter vgl. beispielsweise MROCZYNSKI (2012, 42–45) oder SZCZEPANIAK (2011, 21–24). 383 „Die Position eines Zeichens zwischen dem lexikalischen und dem grammatischen Pol bzw. der Grad, zu dem es ein grammatisches Zeichen ist, ist seine Grammatizität.“ (LEHMANN 1995b, 1253)
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mehr als autonom gelten kann und lediglich den Wortstamm modifiziert.384 Grammatikalisierung ist demnach ein Prozess, der über verschiedene Phasen und Konstruktionsebenen verläuft, die die verschiedenen Beschreibungsebenen der Sprache betreffen. LEHMANN (1995a, 13) skizziert, basierend auf GIVÓN (1979, 209), die Phasen eines Grammatikalisierungsprozesses folgendermaßen:
Abb. 7: Grammatikalisierungsphasen nach LEHMANN (1995a, 13)
Diese Grammatikalisierungsphasen werden von LASS (2000, 221) mit folgendem Bonmot beschrieben: „[A]ll today’s morphology is yesterday’s lexis“. LEHMANN (2004, 178–181) und HASPELMATH (1999a, 1062; 2004) betonen, dass Grammatikalisierungsprozesse irreversibel sind und einmal verlorengegangene Bedeutungsaspekte nicht einfach wiederhergestellt werden können.385 Insbesondere HASPELMATH (1999a, 1054–1055) stützt diese These in Anlehnung an die Handlungsmaximen nach KELLER (2003; vgl. Kap. 2.2.3) auf die Maxime der Extravaganz.386 Das Streben nach Aufmerksamkeit ist tief in der menschlichen Natur verwurzelt. „[I]t is likely that expressibility is a powerful selectional constraint, tending to increase linguistic complexity over evolutionary time.“ (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 503) Die konkrete Maxime der Extravaganz lautet: „talk in such a way that you are noticed“387 (HASPELMATH 1999a, 1055). Mit dieser Maxime können sprachliche Innovation und in Ansätzen auch das actuation-Problem (WEINREICH / LABOV / HERZOG 1975, 101–102; vgl. Kap. 2) erklärt werden.388 Um Beachtung zu finden, wählen die Sprecher auf der Mikroebene der konkreten Sprachverwendung innovative und anschlussfähige sprachliche Zeichen. Erfüllt 384 Umstritten ist allerdings, inwiefern die Entwicklung von einem selbständigen Lexem zu einem Derivationssuffix als prototypischer Grammatikalisierungsprozess bewertet werden kann. SZCZEPANIAK (2011, 27) weist darauf hin, dass diese Entwicklung von einigen Forschern auch als Lexikalisierungsprozess beschrieben wird: „Ein Argument dafür, dass es sich hier um zwei recht unterschiedliche Prozesse handelt, liefert die Tatsache, dass sich Derivationsaffixe sehr selten zu Flexiven wandeln“. Als solch ein Fall könnte zumindest die Entwicklung einiger Pluralmarker betrachtet werden. 385 Reversibel sind nach LEHMANN (2004, 179) hingegen Konversionen, analogischer Wandel und Wandel durch Reanalyse. LEHMANN (2004, 179) macht klar: „[G]rammaticalization must be distinguished from lateral conversion, analogy, reanalysis and lexicalization“. 386 Ausdruck von Extravaganz bzw. Expressivität in der Sprache ist ein Impuls für Grammatikalisierungsvorgänge (HOPPER / TRAUGOTT 2003, 73; LEHMANN 1995a, 314–317; MEILLET 1912/1985, 147–148). 387 Die Maxime wird häufig in der deutschen Übersetzung zitiert (SZCZEPANIAK 2011, 24): „Rede so, dass du beachtet wirst“. 388 „But social success can also be achieved by being extravagant, and I propose that this is the reason why some speakers introduce innovations […].“ (HASPELMATH 1999a, 1057)
Grammatikalisierung
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die sprachliche Innovation ihren Zweck, wird sie repliziert und existiert neben den bereits üblichen sprachlichen Varianten. Auch grammatische Zeichen können der Variation unterliegen. „Grammatikalisierung ist eine Erscheinung der sprachlichen Variation. Als solche äußert sie sich sowohl in der Synchronie als auch in der Diachronie.“ (LEHMANN 1995b, 1255) Variation in der Synchronie wird dabei als die Voraussetzung für diachrone Variation betrachtet.389 Die neue Variante kann, wenn sie Verwendung findet, durch die Sprachgemeinschaft diffundieren, womit ein Anstieg der Verwendungsfrequenz verbunden ist, solange die Variante sozialen (und damit auch kommunikativen) Erfolg verspricht. Es findet mit Bezug auf die bisherigen Varianten ein Selektionsprozess statt. „Jedes sprachliche Zeichen unterliegt gleichzeitig der Selektion auf der paradigmatischen und der Kombination auf der syntagmatischen Achse.“ (LEHMANN 1995b, 1253) Wurde die neue Variante häufig genug repliziert, kann sie in den entsprechenden Ko- und Kontexten als erwartbar gelten. Unsere neuronale Sprachverarbeitung hat sich als komplexes adaptives System auf die entsprechende Variante eingestellt. Bei häufiger Verwendung in der Interaktion ist zu vermuten, dass die Variante auf der Meso- oder Makroebene ankommt und zu einem Schema geworden ist, das eine Gruppe von Personen teilt. Die Verwendungen von automatisierten Varianten sind mit den Maximen der Klarheit und Konformität erklärbar. Sind sprachliche Zeichen erwartbar, können Abschleifungsprozesse aus sprachökonomischen Gründen einsetzen. „Dabei kann der Ausdruck immer undeutlicher ausgesprochen werden – man weiß ja, dass er kommt. Schließlich kommt es zu Verschleifungen und Verschmelzungen mit den Nachbarwörtern und zu weiterem formalem Abbau.“ (SZCZEPANIAK 2011, 25) Konventionen, wie grammatische Zeichen, haben Anteil an den Automatismen der Sprachtätigkeit, die uns den sprachlichen Alltag erleichtern. Daher wird oft betont, dass Grammatik eine Entlastungsfunktion hat (LEHMANN 1995b, 1265). Die inflationäre Verwendung des sprachlichen Zeichens führt allerdings auch dazu, dass das Zeichen sein Aufmerksamkeitspotential verliert. Um beispielsweise in expressiven Sprechsituationen erneut Aufmerksamkeit zu erzeugen, bedarf es dann einer weiteren Innovation. FILL (2003) formuliert, basierend auf dieser Beobachtung, das Prinzip Spannung. LEHMANN sieht ebenfalls das Spannungsfeld der Sprachtätigkeit zwischen Freiheit und Regelgebundenheit. Die zielorientierte Kreativität des Sprechers setzt freilich an den oberen grammatischen Ebenen an, wo er die Freiheit zum Manipulieren hat. Des Sprechers unmittelbares Ziel ist es expressiv zu sein. Dadurch überlagert er immer wieder schon vorhandene Ausdrucksmittel, deren Einsatz sich automatisiert. Dadurch entsteht Grammatik. (LEHMANN 1995b, 1265)
Dies würde allerdings auch bedeuten, dass Grammatik nur aus einer Richtung entsteht – von den höheren zu den niedrigeren Konstruktionsebenen. Lange wurde die Grammatikalisierungstheorie durch das Unidirektionalitätspostulat390 geprägt, 389 Zur Kritik an der methodischen Trennung zwischen Synchronie und Diachronie vgl. Kap. 2.4.2. 390 LEHMANN (2004, 178) macht keine Unterscheidung zwischen Unidirektionalität und Irreversibilität: „unidirectional and irreversible are synonymous“.
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Sprachwandeltheorien
das besagt, dass grammatischer Wandel nur entsprechend der Grammatikalisierungsskala (Diskurs > Syntax > Morphologie > Morphophonologie > Schwund) ‚down the cline‘ verlaufen kann. Der Prozeß ist gerichtet (unidirektional), also nicht umkehrbar. Dies hat mehrere Konsequenzen. Es gibt keinen systematischen Prozess der Degrammatikalisierung, der als das gerade Spiegelbild von Grammatikalisierung zu fassen wäre. (LEHMANN 1995b, 1256)
HASPELMATH (1999a; 2004) verteidigt dieses Postulat als wichtigste Vorgabe des morphosyntaktischen Wandels.391 KIPARSKY (2012, 19) hält fest, dass die neuere Sichtweise auf Grammatikalisierung Unidirektionalität „as the essential property of grammaticalization“ betrachtet. Diesem Postulat wurde in den letzten Jahren allerdings auch häufig widersprochen (LASS 2000; JOSEPH 2001; HARNISCH 2004a, 229–230). Die empirische Evidenz dafür, dass sich entgegen der Grammatikalisierungsskala aus grammatischen Einheiten auch wieder lexikalische Einheiten entwickeln können (NORDE 2009, 213–220) oder dass aus lautlicher Substanz grammatische Einheiten erwachsen (HARNISCH 2007), nimmt stetig zu. Wie die entgegengesetzte Prozessrichtung allerdings terminologisch gefasst werden soll, ist noch unklar. Begriffe wie Degrammatikalisierung, Regrammatikalisierung, Antigrammatikalisierung oder Pragmatikalisierung werden aktuell diskutiert (NORDE 2009; MROCZYNSKI 2012; MROCZYNSKI 2013). Die Beobachtung, dass grammatischer Wandel nicht unidirektional verlaufen muss, ist von Interesse, da sich adäquate Theorien auch an den Phänomenen messen lassen müssen, die weniger häufig auftreten. LASS (2000, 213) bemerkt kritisch: At least it’s clear that no argumentative framework in which positive examples count and negative ones don’t can really be more than a set of inductive generalizations. It is certainly not a theory in the strong sense.392
HARNISCH (2004a, 211) skizziert in Anlehnung an LEHMANN (2004, 168; 2002, 14–15) einen modellhaften Entwurf, der De-Grammatikalisierung berücksichtigt, aber auch verschiedene andere Prozessrichtungen des sprachlichen Wandels wie Lexikalisierung und De-Lexikalisierung aufgreift.
391 HASPELMATH (2004, 22) muss allerdings zugeben, dass es Ausnahmen gibt, die dem Unidirektionalitätspostulat entgegenlaufen. 392 Zur Spezifizierung dieser Kritik vgl. LASS (2000, 213–221).
Grammatikalisierung
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Abb. 8: Prozesse und Gegenprozesse auf den (De-)Lexikalisierungs- und (De-)Grammatikalisierungs-Achsen nach HARNISCH (2004a, 211)
Lexikalisierung bezeichnet einen Vorgang, bei dem Zeichen ihre Kompositionalität verlieren und holistischer werden. Die ehemaligen Teilbedeutungen werden demotiviert (vorahd. *hiu tagu ‘an diesem Tag’ > ahd. hiutu > nhd. heute). Auch wenn Lexikalisierung ebenfalls ein reduktiver Prozess sein kann, darf er nicht mit Grammatikalisierung verwechselt werden. „Lexikalisierung steht also im Dienste des ganzheitlichen Zugriffs auf Zeichen, Grammatikalisierung dagegen im Dienste der analytischen Bildung von Zeichen.“ (LEHMANN 1995b, 1263) LEHMANN (1995b, 1263–1264) zeigt, dass Lexikalisierung mit den frühen Stadien der Grammatikalisierung zusammenfallen kann bzw. „geradezu der Regelfall“ ist. SZCZEPANIAK (2011, 51–52) greift die Argumentation von LEHMANN beispielsweise als Erklärung für die Entstehung nominaler Negationswörter wie niemals oder niemanden auf. De-Lexikalisierungen sind Entwicklungen, die nicht mit Desegmentierung und Demotivierung, sondern mit (Re-)Segmentierung und (Re-)Motivierung verbunden sind und ähnlich wie Grammatikalisierungen zu mehr Analyzität führen (vgl. HARNISCH 2004a, 212). Zudem ist mit De-Lexikalisierung auch ein Anstieg an Transparenz zu verzeichnen. LEHMANN (2002, 14) und HARNISCH (2004a, 212) nennen Volksetymologien als Beispiel für De-Lexikalisierungsprozesse (ungar. Talpas > dt. Toll-patsch). Hierunter wären sicher auch die Bildungen von Mondegreens zu zählen (der weiße Neger Wumbaba < der weiße Nebel wunderbar). Grammatikalisierung ist in jedem Fall eine „Erscheinung der sprachlichen Variation“ (LEHMANN 1995b, 1255), die sich durch Selektionen auf der paradig-
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Sprachwandeltheorien
matischen und der syntagmatischen Ebene weiterentwickelt. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Selektionen nicht immer in eine Entwicklungsrichtung wirken. Im Folgenden wird daher näher auf die Entwicklungstendenzen eingegangen, die nur schwer mit dem Konzept der Grammatikalisierung gefasst werden können, da sie entweder ‚up the cline‘ verlaufen oder nicht mit den Parametern von LEHMANN (1995b) in Übereinstimmung zu bringen sind. NORDE (2009) versucht, die Parameter von LEHMANN nutzbar zu machen, muss aber die Prozessrichtung für Degrammatikalisierung umkehren. MROCZYNSKI (2012; 2013) erarbeitet neue Parameter für Prozesse, bei denen sprachliche Zeichen eine diskursive Funktion übernehmen und daher von ihm als Pragmatikalisierungsprozesse bezeichnet werden. 4.1.1 Degrammatikalisierung Erst innerhalb der letzten Jahre sind Sprachwandelprozesse in den Fokus der Linguisten gerückt, die das Unidirektionalitätspostulat der Grammatikalisierungstheorie in Frage stellen.393 Auch LEHMANN (2004; 2002) erweitert sein ursprüngliches Modell von 1989 und benennt die Prozesse, die der Grammatikalisierung entgegenlaufen mit dem Terminus De-Grammatikalisierung. Diese Prozesse, die ‚up the cline‘ verlaufen, werden allerdings mit verschiedenen Begriffen gefasst. NORDE (2009, 109) zeigt in ihrer Monographie „Degrammaticalization“, dass selbst der Begriff Degrammatikalisierung auf unterschiedlichste Weise gebraucht wird.394 NORDE (2012, 73) definiert Degrammatikalisierung in Umkehrung zum Grammatikalisierungsbegriff folgendermaßen: [T]he term ‚degrammaticalization‘ may refer to changes from a grammatical item to a lexical item (‚primary degrammaticalization‘), and from a ‚more grammatical‘ to a ‚less grammatical‘ item (‚secondary degrammaticalization‘), as well as to a number of other types of changes.
Zudem muss Degrammatikalisierung von Konzepten wie Regrammatikalisierung und Antigrammatikalisierung abgegrenzt werden (NORDE 2009, 107–109). HASPELMATH (2004, 28) meint mit dem Begriff Antigrammatikalisierung beispielsweise „any type of change that goes against the general direction of grammaticalization (i.e. discourse > syntax > morphology)“. Degrammatikalisierungsprozesse 393 Einen Überblick über verschiedene Prozesse, die in der Literatur als Degrammatikalisierungsprozesse verstanden werden, geben u. a. KIPARSKY (2012) und NORDE (2009). 394 Auch HASPELMATH (2004, 36) weist auf einen ambigen Gebrauch des Wortes Degrammatikalisierung hin. Da unter dem Begriff so heterogene Entwicklungen beschrieben werden, ist es seiner Ansicht nach besser, Subklassifikationen wie antigrammaticalization oder delocutive word-formation vorzunehmen und den Begriff Degrammatikalisierung am besten nicht zu verwenden. „So when encountering the term ‚degrammaticalization‘, one should first make sure to understand what exactly the author means by it before drawing conclusions from it. My own practice is to avoid the term entirely, and to use it only in scare quotes when talking about others’ terminological usage.“
Grammatikalisierung
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verlaufen dann vereinfacht gesagt von den niedrigeren zu den höheren Konstruktionsebenen (Lautsubstanz > Submorphem > Morphem > Affix > Wort > Phrase). Degrammatikalisierung umfasst nach NORDE drei Typen von Wandelprozessen: „degrammation“, „deinflectionalization“ und „debonding“. I have retained the term ‚degrammaticalization‘ as a hypernym for all changes subsumed under the labels of degrammation, deinflectionalization, and debonding, but I wish to stress once more that there exist no diachronic links between these three types. (NORDE 2009, 238)
Unter degrammation versteht NORDE einen komplexen Wandel, bei dem ein Funktionswort in einem bestimmten Kontext395 als ein Wort aus einer übergeordneten Wortart reanalysiert wird, die morphosyntaktischen Eigenschaften dieser Wortart erhält und dadurch auch semantische Substanz gewinnt (NORDE 2009, 135). NORDE würde beispielsweise den Wandel von einem Hilfsverb zu einem Vollverb unter degrammation subsumieren. Unter dem Begriff deinflectionalization versteht sie einen Wandel, bei dem ein Flexionsaffix in bestimmten Kontexten eine neue Funktion bekommt und sich der Grad der Bindung zum Wort reduziert (NORDE 2009, 152). Als Paradebeispiel kann u. a. die Entwicklung des sGenitivs im Schwedischen angeführt werden (NORDE 2009, 162–172; NORDE 2006; HASPELMATH 2004, 29).396 Das Flexionsmorphem hat sich hier zu einem Klitikon entwickelt. Der Begriff debonding fasst Prozesse, bei denen gebundene Morpheme zu freien Morphemen werden (NORDE 2009, 186). Diese freien Morpheme können – müssen aber nicht – zusätzliche Bedeutung erlangen. NORDE (2009, 204–207) beschreibt ein Beispiel aus dem Irischen. Das Verbsuffix -muid (1. Ps. Pl.) hat sich dort zu einem unabhängigen Pronomen muid (1. Ps. Pl.) entwickelt. Im Niederländischen, Friesischen und Deutschen hat sich das Suffix -tig/tich/-zig (vier -zig; fünf -zig) zu einem eigenständigen quantifizierenden Ausdruck entwickelt wie in mit zig Sachen in die Kurve (http://www.duden.de/rechtschreibung/zig).397 NORDE zeigt, dass das Unidirektionalitätspostulat aufgrund der Datenlage nicht unangefochten bleiben kann. „Unidirectionality has been identified as both a principle and a hypothesis“ (NORDE 2009, 49). Für NORDE ist Unidirektionalität ein Prinzip, das seine Berechtigung hat, aber eben keine absolute und universelle Berechtigung. „To sum up the discussion thus far, I think it would be fair to dismiss unidirectionality as an absolute principle.“ (NORDE 2009, 53) Insgesamt lässt sich Wandel nicht auf eine bestimmte Richtung festgelegen, auch wenn die meisten Prozesse down the cline verlaufen.398 395 Im Folgenden wird mit Kontext auch auf den Ko-Text, das ist der sprachliche Kontext, Bezug genommen. 396 Zur Diskussion um den s-Genitiv im Englischen vgl. auch ROSENBACH (2004). 397 Zur Diskussion, ob ein Degrammatikalisierungsprozess vorliegt, vgl. LEHMANN (2004, 171– 172) und NORDE (2009, 213–220). 398 Nach HASPELMATHS Einschätzung sind Grammatikalisierungsprozesse hundertmal häufiger als Degrammatikalisierungsprozesse, auch wenn es natürlich methodisch unheimlich schwer ist, dazu eine verlässliche Aussage zu machen (vgl. HASPELMATH 2004, 37).
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Sprachwandeltheorien
Als wichtiges Instrumentarium zur Bestimmung eines Degrammatikalisierungsprozesses dienen NORDE LEHMANNS sechs Parameter: Paradigmatizität, Wählbarkeit, Integrität, Fügungsenge, Stellungsfreiheit und Struktureller Skopus. NORDE (2012; 2009) überprüft an verschiedenen Beispielen die Tauglichkeit der Parameter, um Degrammatikalisierungsprozesse zu klassifizieren. Dabei beleuchtet sie zunächst die Parameter auf ihre Nützlichkeit hin, Grammatikalisierungsprozesse nachzuweisen. „Lehmann’s taxonomy is not perfect.“ (NORDE 2012, 105) Besonders kritisch geht NORDE (2012, 102–103) zu Recht mit dem Parameter Struktureller Skopus um. Der Skopus sollte laut LEHMANN bei zunehmender Grammatikalisierung abnehmen. Es wurden in der Forschungsliteratur schon viele Prozesse als Grammatikalisierung klassifiziert, obwohl der Skopus zunahm (SZCZEPANIAK 2009, 24; DIEWALD 1997, 75). Trotz einiger Bedenken nutzt NORDE die Parameter von LEHMANN für die Beurteilung und Klassifizierung von Degrammatikalisierung. Die Prozessrichtung sollte allerdings in die entgegengesetzte Richtung verlaufen. Dabei nimmt sie in Anspruch, was auch bei der Bewertung von Grammatikalisierungsprozessen in Anspruch genommen wird. Nicht jeder Parameter muss auf Degrammatikalisierung hindeuten, damit letztendlich von Degrammatikalisierung gesprochen werden kann (NORDE 2009, 232). NORDE überprüft folgende Prozesse: resemanticization, phonological strengthening, recategorialization, deparadigmaticization, deobligatorification, scope expansion, severance, flexibilization. In keinem der von NORDE diskutierten Beispiele kann sie allerdings alle Prozesse einwandfrei nachweisen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht alle Prozesse für jeden der drei Degrammatikalisierungstypen als relevant gesetzt werden. NORDE stellt außerdem die Bedeutung der Mechanismen der Analogie und der Reanalyse für die Degrammatikalisierung heraus. NORDE betrachtet Degrammatikalisierung allerdings nicht als Epiphänomen der Analogie. Sie schreibt in Auseinandersetzung mit KIPARSKY (2012, 20–21), der einen sehr weiten Analogiebegriff vertritt, Folgendes: „In any event, where it seems reasonable to invoke analogy in some cases of debonding, it is certainly not the case that degrammaticalization in general ‚is ordinary exemplar-based analogical change‘“ (NORDE 2009, 234).399 NORDE legt ein enges Verständnis von Analogie zugrunde, bei dem Unterschiede zwischen Reanalyse und Analogie bestehen (vgl. Kap. 4.3). Reanalyseprozesse sind der Analogie damit nicht grundsätzlich untergeordnet, sondern als gleichwertig zu verstehen. Analogie und Reanalyse haben für die unterschiedlichen Typen von Degrammatikalisierung unterschiedliche Bedeutung. Für degrammation und deinflectionalization ist die Reanalyse der wichtigere Mechanismus. Bei debonding scheint 399 DIEWALD (2010, 186) nimmt an, dass Prozesse, die auf rekonstruktionellen Ikonismus hinauslaufen und von HARNISCH (2004a, 211) u. a. auf der Degrammatikalisierungsachse abgetragen werden, eine Spielart des analogischen Wandels sind. Auch KIPARSKY (2012, 20–22) vertritt die Ansicht, dass die typischen Beispiele für Degrammatikalisierung als Wandel im Sinne der Analogie beschrieben werden müssen. KIPARSKY (2012, 22) ist allerdings auch der Meinung, dass Grammatikalisierung als „UG-driven analogy“ zu verstehen ist. Sein Konzept der Analogie „unifies grammaticalization with ordinary analogy“ (KIPARSKY 2012, 49).
Grammatikalisierung
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für NORDE das Verhältnis zwischen Analogie und Reanalyse ausgeglichen zu sein. Für NORDE sind Analogie und Reanalyse nicht die motivierenden Prinzipien für Degrammatikalisierung und können schon gar nicht mit ihr gleichgesetzt werden. „Reanalysis and analogy are mechanism of change, but I do not regard them as motivating forces.“ (NORDE 2009, 234) Vielmehr nennt die Autorin sehr unterschiedliche, aber ausschließlich innersprachliche Prozesse, die jeweils den Degrammatikalisierungsprozess motivieren. Dazu zählen unter anderem syntaktischer und phonologischer Wandel. Für deinflectionalization kann beispielsweise der Verlust des Kasussystems der auslösende Faktor für eine Kettenreaktion gewesen sein. Das noch vorhandene aber zu junk gewordene sprachliche Material wird dann reanalysiert und neu motiviert, so dass man von Exaptation sprechen kann (SIMON 2010, 52–53).400 Auch NORDE wendet den Begriff Exaptation auf einige ihrer Beispiele an, wie bei der Entwicklung von irisch muid (1. Ps. Pl.) zum Pronomen. Degrammatikalisierung kann als ein eigenständiger Prozess betrachtet werden, der nur sehr schwer prognostizierbar ist, da bestimmte Bedingungen wie funktionsloses sprachliches Ausgangsmaterial, homophone Sprachstruktur oder konzeptionelle Schnittstellen für Reanalyseprozesse vorliegen müssen. Daher lässt sich Degrammatikalisierung viel seltener als Grammatikalisierung nachweisen. Dennoch wird deutlich, dass Wandel nicht bis ins letzte Detail vorhersagbar ist und von mehrdimensionalen und in Wechselwirkung stehenden Strukturbedingungen beeinflusst ist.401 Abschließend muss noch erwähnt werden, dass auch ein einsetzender Degrammatikalisierungsprozess wieder in einen Grammatikalisierungsprozess umschlagen kann. NORDE (2009, S. 238) spricht im Falle des Beispiels zig von einem „u-turn“. Einige der Prozesse, die NORDE (2009) beschreibt, passen zu dem, was HARNISCH (2010; 2004a) mit dem Begriff Verstärkung bezeichnet, der u. a. auch den Sekretionsansatz von JESPERSEN (1925/2003, 370–371) mit einschließt: Unter ausscheidung [Sekretion; LB] verstehe ich die erscheinung, daß ein ursprünglich unselbständiger bestandteil eines eigentlich unteilbaren wortes zu einer grammatischen bedeutung kommt, die er anfänglich nicht hatte und die dann als etwas zu dem wort selbst erst beigefügtes empfunden wird. […]; sie zeigt sich in ihrer vollen kraft, wenn der auf diese art abgetrennte bestandteil an andere wörter angesetzt wird, die ihn ursprünglich nicht besaßen.
Diese Sekretionen können vorgenommen werden, weil der Mensch für JESPERSEN (1925/2003, 375) in Bezug auf Sprache ein „klassenbildendes wesen“ ist, das Regelmäßigkeiten aus dem Datenstrom Sprache entnimmt.
400 SIMON (2010, 50) würde von Exaptation sprechen, wenn sich aus einer alten Form eine für das System neue Funktion entwickelt. Mit Bezug auf die Herausbildung von Sprache(n) schlussfolgert MUFWENE (2013, 353): „Exaptation was thus a key strategy in the phylogenetic emergence of language(s)“. 401 HASPELMATH (2004, 17) bezeichnet die Unidirektionalität als „most important constraint on morphosyntactic change“.
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Im Sprachwandel findet „nicht nur ein mächtiger Zyklus von ‚Schrumpfung – Anreicherung – Verschmelzung – Schrumpfung‘ [statt], sondern auch Kräfte der ‚Entschmelzung‘, wenngleich weniger mächtig“ (HARNISCH 2004a, 214). Entschmelzung bzw. Sekretion bedeutet Schaffung von Struktur durch Abtrennung. HARNISCH (2004a, 221) erweitert das – ebenfalls nur auf Verschmelzung und semantaktischen Zuwachs ausgelegte – Modell grammatischen Wandels von LÜDTKE (1988, 1634) um Entschmelzungsprozesse, die HARNISCH allerdings nicht ausschließlich auf grammatische Zeichen bezieht.402
Abb. 9: Grammatischer Wandel nach LÜDTKE (1988, 1634)403
Abb. 10: Partiell erweitertes Modell des grammatischen Wandels von LÜDTKE (1988, 1634) nach HARNISCH (2004a, 221)
HARNISCH (2004a, 222) weist allerdings darauf hin, dass eine Sekretions- oder Verstärkungstheorie nie systematisch ausgearbeitet worden ist, auch wenn einige vielversprechende Ansätze in HARNISCH (2010) versammelt sind, die darauf hin 402 Die Prinzipien der quantitativen Kompensation und Verschmelzung erzeugen einen zyklischen Drift „nach dem Muster hoc die > hodie > hui > au jour d’hui > aujourd’hui > …“ (KELLER 1997, 425). 403 Die dargestellten Prozesse verlaufen irreversibel.
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deuten, dass es ein Bedürfnis der Sprachgemeinschaft gibt, „ausdrucksseitigen Überschuss (‚junk‘) semantisch (wieder und anders als ursprünglich) zu nutzen (zu ‚exaptieren‘)“ (HARNISCH 2004a, 222). Diese Nutzung von ausdrucksseitigem Sprachmaterial konnte hier bereits für Entwicklungen im Spracherwerb (Kap. 3.3.1) und bei den Mondegreens (Kap. 3.3.2) nachgewiesen werden. In der sprachlichen Ontogenese werden Schemata gelernt, die auch an der sprachlichen Ausdrucksseite festgemacht werden können. Ist nun formale sprachliche Substanz vorhanden, die beispielsweise aufgrund von Homonymie in das Schema passt, kann diese Substanz im Rahmen der Vorgaben durch das Schema semantisch interpretiert werden. Dieser Prozess wird auch als Reanalyse bezeichnet. HARNISCH (2004a, 223) differenziert zwischen rein morphologischen Reanalysen (Daumen > *Daum -en (Pl.) > Daum (Sg.)),404 morpho-phonologischen Reanalysen (crem > *creb -en (Inf.) > creb (1. Ps. Sg. Präs.))405 und morpho-syntaktischen Reanalysen (Kompott > guten Pott)406. In allen Fällen liegt eine „Semantisierung formaler Substanz“ (HARNISCH 2004a, 227) vor. Als sprecher-hörer-psychologische Gründe werden von HARNISCH markiertheitstheoretische Prinzipien der Morphologischen Natürlichkeit wie Transparenz und Ikonizität vorgeschlagen (HARNISCH 2004a, 214; Kap. 4.2). Was deutlich wird, ist, dass den Prozessen, die der prototypischen Grammatikalisierungsrichtung entgegenlaufen, mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Dies gilt gleichfalls für Entwicklungen, die der Lexikalisierung entgegenstehen oder zu einer erhöhten Diskursivierung führen. Aber nicht nur der Degrammatikalisierungsbegriff ist ein konfuses und unübersichtliches Konzept, auch der Grammatikalisierungsbegriff ist weit davon entfernt, einheitlich gebraucht zu werden. An dieser Stelle sei nochmals an HASPELMATH (2004, 23) erinnert, der davor warnt, Grammatikalisierung als eine einheitliche und monolithische Theorie zu betrachten. Dennoch wird der uneinheitliche Gebrauch des Grammatikalisierungskonzeptes beklagt:407 „Grammaticalization is a broad and fuzzy concept which enables us to describe any kind of syntactic or semantic/pragmatic change or variation“ (AIJMER 1997, 6). MROCZYNSKI (2012, 42–83) diskutiert gleich vier verschiedenen Ansätze408 zur Grammatikalisierung in Hinblick auf die Erklärungskraft für die Herausbildung von Diskursmarkern. MROCZYNSKI (2012, 83) stellt fest, „dass die Grammatikalisierungsauffassung nach LEHMANN als einzige einerseits hinreichend differenziert ist, um nicht allgemein Sprachwandelphänomene zu beschreiben, und andererseits genügend Allgemeinheit aufweist, um alle Grammatikalisierungsphänomene erfassen zu können“. Der strukturalistische Ansatz von LEHMANN entbehre zwar noch einiger pragmatischer Komponenten, könnte allerdings durch den Ansatz von KEL 404 405 406 407 408
Beispiel aus BÜLOW (2012, 60). Beispiel aus HARNISCH (2004a, 224; 2005, 135). Beispiel aus HARNISCH (2004a, 224). Vgl. dazu auch MROCZYNSKI (2013, 135) und LEHMANN (2005, 1). MROCZYNSKI (2012, 42–83) diskutiert die Ansätze von LEHMANN, HOPPER, HEINE / KUTEVA und TRAUGOTT.
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Sprachwandeltheorien
LER und seine kommunikativen Strategien entsprechend ergänzt werden (MROCZYNSKI 2012, 83). Auf diesem Fazit aufbauend, möchte MROCZYNSKI (2013; 2012) die Herausbildung von Diskursmarkern nicht als einen Fall von Grammatikalisierung, sondern von Pragmatikalisierung verstanden wissen.
4.1.2 Pragmatikalisierung MROCZYNSKI (2013; 2012) setzt mit seiner Kritik daran an, dass es Sprachwandelprozesse gibt, die zwar als Grammatikalisierung bezeichnet werden, aber nicht mit den Grammatikalisierungsparametern von LEHMANN (1995b; 1255) in Einklang zu bringen sind. Dazu gehört beispielsweise die Herausbildung von Diskursmarkern, mit denen sich MROCZYNSKI intensiv auseinandersetzt. Schwierig ist beispielsweise die Bewertung des Wandels von der Antwortpartikel ja zum Diskursmarker ja. MROCZYNSKI (2013, 132) zeigt, dass der Diskursmarker ja im Gegensatz zur Antwortpartikel ja an Autonomie gewinnt. Sowohl der Skopus als auch die Stellungsfreiheit sind für den Diskursmarker erweitert. Diese Beobachtung steht den Grammatikalisierungsparametern von LEHMANN (1995b, 1255) entgegen. Dennoch wurde die Entwicklung zu Diskursmarkern häufig als ein Beispiel für Grammatikalisierung angeführt, auch wenn die Parameter nach LEHMANN nur sehr bedingt für die Entwicklung der Diskursmarker zutreffen (TRAUGOTT 2007, 150–151; AUER / GÜNTHNER 2005). Dafür haben die Autoren entsprechend den Grammatikalisierungsbegriff erweitert und die Bewertung der Parameter nach LEHMANN angepasst.409 Im Folgenden werden zunächst in Anlehnung an MROCZYNSKI (2012) verschiedene Grammatikalisierungsansätze in Bezug auf ihre Erklärungskraft diskutiert. LEHMANNS Parameter versagen mit Blick auf die Diskursmarker im Bereich der Paradigmatisierung, Obligatorisierung und Kondensierung. „Für die anderen drei Prozesse (Erosion, Koaleszenz und Fixierung) lassen sich entweder überhaupt keine oder nur sehr schwache Anzeichen für einen Grammatikalisierungsprozess feststellen.“ (MROCZYNSKI 2012, 53) HOPPERS (1991) Grammatikalisierungsprinzipien Layering, Divergence, Specialization, Persistence und De-categorization würden die Entwicklung von Diskursmarkern zwar ganz gut erfassen410, können allerdings nach MROCZYNSKI (2012, 61) „nicht als alleiniger Beweis für die Grammatikalisierung gelten, denn sie erhalten erst vor dem Hintergrund der LEHMANN’schen Parameter ihre deskriptive Kraft“. HOPPERS Prinzipien können zwar Sprachwandel erklären und die Parameter von LEHMANN ergänzen, müssen aber nicht als Indikator für Grammatikalisierung gelten. Mit Bezug auf das Prinzip der De-Kategorialisierung schreibt MROCZYNSKI (2012, 64): „Deshalb muss […] ein Wandel, der in der Entstehung 409 Zur Diskussion vgl. TRAUGOTT (2007, 150–152). 410 Vgl. auch AUER / GÜNTHNER (2005), die sich für die Einordnung der Entwicklung von Diskursmarkern am Grammatikbegriff von PETER HARTMANN orientiert haben.
Grammatikalisierung
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einer Nebenkategorie endet, nicht zwangsläufig eine Grammatikalisierung sein. Es kann sich ebenso um einen Fall von Pragmatikalisierung handeln“. Auch die Grammatikalisierungsparameter Extension, Desemantiserung, Dekategorisierung und Erosion411 von HEINE / KUTEVA (2007, 33–44; 2005, 15) beschreiben zwar Sprachwandel, sind aber nicht speziell auf Grammatikalisierung beschränkt. MROCZYNSKI (2012, 69) bemängelt die „geringe explanative Kraft, denn die meisten Fälle des Bedeutungs- und Strukturwandels entstehen auf diese Art und Weise“. Das Wandelmuster, das HEINE / KUTEVA mit dem Parameter der Extension beschreiben, verläuft folgendermaßen: At1 > A/Bt2 > Bt3 (SZCZEPANIAK 2011, 12).412 Bt3 kann dann eine grammatische Bedeutung ausgebildet haben. Die Kritik von MROCZYNSKI, dass der Parameter eine zu geringe explanative Kraft hat, wird hier nicht geteilt. Die Allgemeingültigkeit des Parameters verdeutlicht vielmehr seine sehr hohe explanative Kraft, unter der sehr viele Wandelphänomene subsumiert werden können. Variation zu einem Zeitpunkt t1 ist die Voraussetzung für Sprachwandel. Die Parameter und deren zeitliche Abfolge weisen zudem eine hohe Ähnlichkeit zu einem Evolutionsprozess auf, wenn auch deutlicher berücksichtigt werden müsste, dass Sprachwandel häufig bei individuellen Sprechhandlungen beginnt, denen maximengeleitetes Sprechhandeln zugrunde liegt. Durch Replikation und sprachliche Bedürfnisse (innersprachlich und außersprachlich) entsteht eine leicht veränderte Variante, die in neuen Kontexten verwendet werden kann und kommunikative Bedürfnisse, wie beispielsweise das Streben nach Extravaganz/Aufmerksamkeit/Spannung zunächst befriedigt. Die sprachlichen Innovationen treten nun in Konkurrenz zu den sprachlichen Zeichen, die eine ähnliche kommunikative Funktion erfüllt haben. Es wird sich die Variante durchsetzen bzw. einen Selektionsvorteil haben, die in den entsprechenden Kontexten geeigneter ist und daher von den Sprechern häufiger verwendet wird. Damit ist der Parameter Extension zwar kein reiner Grammatikalisierungsparameter, erfasst aber auf einer allgemeineren Ebene eine große Bandbreite von Sprachwandelphänomenen, darunter auch die Entstehung von Diskursmarkern. Die Parameter der Desemantisierung, Dekategorialisierung und Erosion sind zwar mit Abstrichen für Grammatikalisierung spezifischer, beschreiben aber nicht annähernd die Vorgänge, die für die Herausbildung der Diskursmarker relevant sind. MROCZYNSKI (2012, 71–83; 2013, 133–135) diskutiert einen weiteren, vielbeachteten Ansatz zur Bestimmung von adäquaten Grammatikalisierungsparametern, der auch den Anspruch erhebt, die Entwicklung von Diskursmarkern als einen Fall von Grammatikalisierung betrachten zu können. TRAUGOTT / KÖNIG (1991, 212–213) beziehen die pragmatische Komponente sprachlichen Handelns mit ein und betrachten Grammatikalisierung zunächst als ein Ergebnis von kommunikativen Problemlösungsstrategien. Sie nehmen entscheidend auf die Implika 411 Zur Erläuterung der Parameter vgl. MROCZYNSKI (2012, 66–69) und SZCZEPANIAK (2011, 11–13). 412 Eine wichtige Rolle für diesen Ansatz spielen sogenannte Brückenkontexte (bridging stage), die durch ambige Ko- und Kontexte entstehen können (TRAUGOTT 2012, 563).
216
Sprachwandeltheorien
turtheorie nach GRICE (1979b) Bezug, die an anderer Stelle in dieser Arbeit schon prominent diskutiert wurde (Kap. 2.2.3). Sowohl Metonymie, der die Reanalyse zugeordnet wird, als auch die Metapher, die in Verbindung mit der Analogie gesehen wird, sind Mechanismen, die hörerseitig konversationale Implikaturen auslösen und damit analogische oder metonymische Schlussverfahren einleiten.413 Die Erweiterung des Grammatikbegriffes durch die Pragmatik hat zur Folge, dass TRAUGOTT die Parameter Stellungsfreiheit und Struktureller Skopus von LEHMANN für die Klassifizierung von Grammatikalisierung als weniger relevant setzt. Dafür erweitert TRAUGOTT die Grammatikalisierung um die Prozesse der pragmatischen Verstärkung und der Subjektivierung, die für Grammatikalisierung als besonders salient herausgestellt werden (MROCZYNSKI 2013, 133). „Unter Subjektivierung subsumiert Traugott insbesondere solche Wandelphänomene, in denen die Bedeutung des jeweiligen Ausdrucks subjektive Bedeutungsaspekte erlangt.“ (MROCZYNSKI 2013, 133–134) Pragmatische Verstärkung ist nach TRAUGOTT die Konventionalisierung einer Implikatur. Sie bezieht sich damit auf eine Andeutung von GRICE (1989a, 39) „it may not be impossible for what starts life, so to speak, as a conversational implicature to become conventionalized“.414 Die Entwicklung von konversationalen zu konventionalen Implikaturen wurde auch in dieser Arbeit schon mehrfach als ein zentraler Prozess für Sprachwandel herausgestellt. Dass Subjektivierung und pragmatische Verstärkung eng zusammenhängen, ist noch an einigen Sprachwandelprozessen deutlich herauszuarbeiten (Kap. 5 und 6). MROCZYNSKI (2013, 134–135) hält die von TRAUGOTT für salient gesetzten Grammatikalisierungsparameter „auf der einen Seite [für; LB] zu spezifisch (schließen viele eindeutige Grammatikalisierungsphänomene aus) und auf der anderen Seite [für; LB] zu allgemein“, da sie auch auf Fälle lexikalischen Bedeutungswandels anwendbar sind. Zumindest dem ersten Punkt kann nicht widerspruchslos gefolgt werden. MROCZYNSKI (2013, 134) meint, dass die Parameter zu spezifisch seien, da sich beispielsweise bei der Herausbildung des Affixes -lich aus *lika „weder Subjektivierungsprozesse noch pragmatische Verstärkung erkennen lassen“. Der Behauptung von MROCZYNSKI, die nicht weiter belegt wird, kann entgegengehalten werden, dass sich durchaus vorstellen lässt, dass hier in den Anfangsstadien des Grammatikalisierungsprozesses eine Entwicklung von 413 MROCZYNSKI (2012, 77–79) weist zu Recht auf ein problematisches Verständnis TRAUGOTTS hinsichtlich der Abgrenzung der „konversationellen, metonymisch basierten Implikaturen von den auf Analogie basierenden Metaphern“ (MROCZYNSKI 2012, 77) hin. Konversationelle Implikaturen bzw. die Erkenntnis, dass Maximen verletzt worden sind, sind die Voraussetzung für metonymische oder metaphorische Schlussprozesse. 414 TRAUGOTT (2012, 565) hebt allerdings auch hervor, dass nicht jeder semantische Wandel Ausdruck der Entwicklung von einer konversationalen zu einer konventionalen Implikatur ist. „Some changes are mandated (e.g. definition of harassment), some are self-selected and ‚reclaimed‘ (e.g. gay, Yankee). Others occur because the referent changes (car, plane), there are socio-cultural changes (e.g. changes in habits or meal times, in distinguishing kin, and above all politeness) or because a term is borrowed (this will have socially pragmatic effects)“.
Grammatikalisierung
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einer konversationalen zu einer konventionalen Implikatur vorliegt, die dann in einen Verschmelzungsprozess mündet, da die Stellung von *lika bzw. auch die desemantisierte Bedeutung des Wortes durch häufigen Gebrauch konventionalisiert wurden. Auch diese Vermutung kann hier nicht weiter belegt werden. Dass die Parameter auf der anderen Seite zu allgemein sind, sollte eigentlich kein Problem sein, da Grammatikalisierungsphänomene in jedem Fall mit eingeschlossen sind. Außerdem können nun weitere präzisierende Parameter hinzukommen, die Grammatikalisierung von anderen Phänomenen abgrenzen. Die Allgemeinheit der Parameter lässt sich vielleicht auch damit erklären, dass sie große Ähnlichkeit mit dem aufweisen, was hier unter Evolution verstanden wird (Kap. 3.1.1). Die Parameter erfassen Variation und Selektion. Ob die Parameter als zu weit oder zu eng gefasst werden, hängt auch mit der Folie zusammen, vor deren Hintergrund die Parameter bewertet werden. MROCZYNSKI (2013; 2012) bewertet Grammatikalisierung stets vor der Folie der Aussage von LEHMANN, dass Grammatikalisierung mit Autonomieverlust einhergehen muss. LEHMANN (2005, 1) ist zwar zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der Terminus hat eine enorme Inflation erfahren, und wie immer in solchen Fällen ist der Begriff ausgeweitet und dabei immer unklarer geworden“.415 LEHMANN kann wohl kaum – auch wenn er den Begriff maßgeblich geprägt hat – die Deutungshoheit für Grammatikalisierung im Allgemeinen zugesprochen werden. Dennoch muss anerkannt werden, dass Grammatikalisierung in Bezug auf Diskursmarker nur schwerlich attestiert werden kann. Keiner der von MROCZYNSKI (2012, 42–84) diskutierten Grammatikalisierungsansätze kann die Herausbildung von Diskursmarkern adäquat erfassen. Deshalb schlägt MROCZYNSKI (2012; 2013) vor, mit Bezug auf die Entwicklung von Diskursmarkern besser von Pragmatikalisierung zu sprechen. Dazu führt er in Analogie zu den Begriffen Lexem und Grammem den Begriff des Pragmems ein, den er für Zeichen reserviert, die „primär eine pragmatische Funktion übernehmen“ (MROCZYNSKI 2013, 140). Der Begriff Pragmatikalisierung wurde maßgeblich durch ERMAN / KOTSINAS (1993) geprägt. In Bezug auf Diskursmarker bemerkt AIJMER (1997, 2): „Discourse markers such as you know, you see, etc., are typically ‚pragmaticalized‘, since they involve speakers’s attitude to the hearer […] Pragmaticalization can be described pragmatically, syntactically, semantically, and prosodically“. AIJMER (1997, 2) berücksichtigt bei ihrer Bestimmung von Pragmatikalisierung auch die Parameter von TRAUGOTT: „[I]t has however been claimed that the beginning of grammaticalization is associated with the development of new pragmatic meanings, strengthening of conversational implicatures“.416 Damit scheinen Grammatikalisierungsprozesse auch Pragmatikalisierungsprozesse mit zu umfassen. Da 415 Man könnte fast meinen, der Terminus Grammatikalisierung unterliegt ebenfalls einem Desemantisierungsprozess. 416 Vgl. auch AIJMER (2007, 54): „Pragmaticalization […] focusses on processes such as ‚pragmatic strengthening‘ and the role of conversational implicature to convey new meanings“.
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Sprachwandeltheorien
MROCZYNSKI (2013, 136) annimmt, dass die „Parameter der Subjektivierung und der pragmatischen Verstärkung keine adäquate Differenzierung zwischen Grammatikalisierung und Pragmatikalisierung“ zulassen, schlägt er ein alternatives Verständnis von Pragmatikalisierung vor und entwickelt für die Pragmatikalisierung eigene Parameter. Unter der Prämisse „Wenn ein Ausdruck in die Pragmatik gelangt, ist er pragmatikalisiert“417 (MROCZYNSKI 2013, 138; 2012, 112) definiert MROCZYNSKI (2013, 141) Pragmatikalisierung als einen Prozess „in dem ein sprachliches Zeichen eine diskursive Funktion übernimmt. Dieser Prozess wird in der Regel von semantischer Entleerung und syntaktischer und phonologischer Selbständigkeit flankiert“. Pragmatikalisierung spielt sich weiterhin auf allen linguistischen Ebenen ab, daher bietet es sich für MROCZYNSKI an, eigene Pragmatikalisierungsparameter aufzustellen. MROCZYNSKI (2013, 13) gibt aber zu bedenken, dass „der Prozess der Pragmatikalisierung ein spiegelverkehrtes Bild der Grammatikalisierung darstellt: Ein gebundenes Zeichen wird mit der Zeit autonom“. Dass diese Bestimmung auch auf die Degrammatikalisierung zutrifft, erwähnt MROCZYNSKI mit keinem Wort. Müsste doch dann die Bestimmung von Pragmatikalisierung schon zu weit gefasst sein. Zwischen dem, was nun unter Pragmatikalisierung (MROCZYNSKI 2013), Degrammatikalisierung (NORDE 2009; HARNISCH 2004a) oder Verstärkung (HARNISCH 2010; 2004a) verstanden wird, scheinen sich einige Gemeinsamkeiten abzuzeichnen. Unter allen Begriffen wird Wandel beschrieben, der eine entgegengesetzte Prozessrichtung zur Grammatikalisierung einschlägt, bei dem sich der Skopus erweitert oder die Fügungsenge abnimmt; die Zeichen also an Autonomie gewinnen. MROCZYNSKIS Pragmatikalisierungsparameter und Prozesse sind zumindest teilweise typisch für diese Entwicklung.
417 MROCZYNSKI (2012, 112–114) bezieht sich nach der Unterscheidung von HIMMELMANN (2004) zwischen „process approach“ und „box approach“ auf den Ort des Wandels. Ort des Wandels ist dann für MROCZYNSKI die Pragmatik. „Eine Bestimmung der Pragmatikalisierung nach der Art des Verfahrens ist insbesondere aus einem Grund inadäquat: Verfahren des Wandels – wie beispielsweise der metaphorische oder der metonymische Prozess – spielen sowohl in der Lexikalisierung, Grammatikalisierung als auch in der Pragmatikalisierung eine Rolle.“ (MROCZYNSKI 2013. 138) Diese Aussage ist dann korrekt, wenn bereits angenommen wird, dass Pragmatikalisierung ein eigenes Verfahren ist. Dies würde TRAUGOTT aber beispielsweise abstreiten (2007, 151–152).
219
Grammatikalisierung
Parameter
Prozesse
1.
Konfiguration
:
Diskursivierung
2.
Bedeutungsgehalt
:
Polysemisierung
3.
Fügungsenge
:
Entkopplung
4.
Prosodie
:
Emanzipation
Tab. 2: Pragmatikalisierungsparameter und -prozesse nach MROCZYNSKI (2013, 139)
Den Parameter Konfiguration unterteilt MROCZYNSKI (2013, 139–140) in die drei Subparameter a) Grad der metakommunikativen Funktion, b) Grad der diskursiven Reichweite und c) Grad der diskursiven Multirelationalität. a) Je stärker der propositionale Bezug für einen metakommunikativen Bezug aufgehoben wird, desto höher sind die metakommunikative Kraft und der Grad der Pragmatikalisierung. b) Je weiter sprachliche Zeichen über satzinterne Relationen herausreichen und beispielsweise Bezüge zu etwaigen Handlungen oder Schlussfolgerungen ermöglichen, desto höher sind der Grad der diskursiven Reichweite und der Grad der Pragmatikalisierung. c) Je mehr Bezugsherstellungen ein sprachliches Zeichen gleichzeitig leisten kann, desto höher sind sein Grad der diskursiven Multirelationalität und der Grad der Pragmatikalisierung. Bei allen drei Subparametern erfährt das sprachliche Zeichen jeweils eine diskursive Erweiterung seiner relationalen Möglichkeiten, was einer pragmatischen Skopuserweiterung gleichkommt. Der Prozess der Pragmatikalisierung als Konfiguration kann als Diskursivierung bezeichnet werden. Es ist auch der einzige obligatorische Parameter. Mit anderen Worten: ohne Diskursivierung keine Pragmatikalisierung. (MROCZYNSKI 2013, 140)
Daher weist MROCZYNSKI (2013, 141) darauf hin, dass die folgenden drei Parameter erst zur Geltung kommen, wenn Diskursivierung vorliegt. Der Parameter Bedeutungsgehalt bezieht sich auf die sprachliche Ebene der Semantik. Pragmatikalisierung hat zur Folge, dass die Zeichen einen Bedeutungswandel erfahren. Je weiter sich ein Zeichen von der Ausgangsbedeutung entfernt hat, desto höher ist der Grad der Pragmatikalisierung. Der Parameter Fügungsenge operiert wie bei LEHMANN auf der Ebene der Syntax. Entgegen der Grammatikalisierung gewinnt das Zeichen bei der Entkopplung allerdings an Autonomie und damit an Stellungsfreiheit, eine Entwicklung, die auch bei Degrammatikalisierungsprozessen beobachtet werden kann. Darunter können beispielsweise die Prozesse subsumiert werden, die NORDE (2009) als debonding bezeichnet, worunter die Entwicklung von dt. zig und ir. muid fallen, wobei für diese Ausdrücke syntaktische Variabili-
220
Sprachwandeltheorien
tät entsteht. Die Prosodie betrifft die lautliche Ebene. Je stärker sich ein sprachlicher Ausdruck prosodisch von seiner Umgebung abhebt bzw. emanzipiert, desto höher ist der Grad der Pragmatikalisierung. Auch der Prozess der Emanzipierung trifft auf debonding zu bzw. ist eng damit verbunden, wenn sprachliche Zeichen an Autonomie gewinnen und auf der Konstruktionsebenenleiter aufsteigen. MROCZYNSKIS Pragmatikalisierungsbegriff und seine Parameter scheinen zu sehr auf die Herausbildung von Diskursmarkern zugeschnitten zu sein, wo sie zugegebenermaßen gut passen. Auch die Forderung nach einer „LexikonGrammatik-Pragmatik-Trichotomie“ (MROCZYNSKI 2013, 148) ist nachvollziehbar, wenn auch fraglich ist, ob überhaupt eine gute und adäquate Trennung von Grammatik und Pragmatik bzw. von Lexik und Pragmatik möglich ist. 4.1.3 Zwischenfazit Grammatischer Wandel ist zwar durch wesentliche innersprachliche, sozio-ökonomische und kognitive Strukturbedingungen geprägt, er ist aber nicht vollständig zielgerichtet und vorhersagbar. Einige Sprachwandelprozesse, die bisher als Grammatikalisierungsprozesse verstanden worden sind, sollten besser anders kategorisiert werden, da sie dem Unidirektionalitätspostulat zuwiderlaufen, auch wenn aus Lautsubstanz grammatische Marker reanalysiert werden. Grammatischer Wandel kann nicht mit Abbau von Ausdruck und morphologischer Strukturiertheit gleichgesetzt werden, wenn es auch eine gewisse Tendenz dazu gibt. Diese Tendenz findet sicherlich eine Begründung in der Sprecherpsychologie, unseren allgmeinen kognitiven Lernmechanismen und der Ausbildung von erwartbaren Schemata, die aus Gründen der Sprachökonomie konventionalisiert und grammatikalisiert werden.418 Bei häufigem Gebrauch geraten „[a]nalytische, transparente, motivierte Bildungen […] alle in die ‚Mühle‘ der inhaltichen und formalen Abschleifung. Morphosemantische Undurchsichtigkeit und holistische Gebilde sind die Folge“ (HARNISCH 2004a, 228). Der Sprecherpsychologie wird von der Grammatikalisierungstheorie durch die Formulierung und Einbeziehung der Maximen nach GRICE (1979b), KELLER (2003) und HASPELMATH (1999a) Rechnung getragen. Diese Maximen sind allerdings sehr stark sprecherzentriert und lassen die Hörer-/Rezipientenpsychologie für die Bildung von Schemata aus dem Auge. Die Analysen zu Übergeneralisierungen und Reanalysen in der Kindersprache und bei Mondegreens zeigen, dass die rezipientenseitige Sprachverarbeitung bei der Herausbildung von Mustern nicht vernachlässigt werden darf. So sind auch die Phänomene zu verstehen, die HARNISCH (2010; 2004) als Verstärkungsprozesse beschreibt und eine Theorie der
418 Gemeint sind hier auch die antizipatorischen Fähigkeiten des Menschen, die u. a. auf die Informationsweitergabe und Lernfähigkeit der Synapsen zurückgeführt werden können (Kap. 3.1.2).
Morphologische Natürlichkeitstheorie
221
Sekretion begründen könnten. Auch die Degrammatikalisierungsphänomene können hörerpsychologisch erklärt werden. „Da Sprachteilhaber aber immer beides – Sprecher und Hörer – zugleich sind, kommen auch immer beide gegeneinander gerichteten Prozesse (Ab- und [Wieder-]Aufbau) gleichzeitig vor.“ (HARNISCH 2004a, 228) Dabei gilt, dass bestimmte sprachliche Strukturen eher grammatikalisiert bzw. degrammatikalisiert werden als andere. Die Strukturen der Zeichen bestimmen also ihre Möglichkeiten, die wiederum vielfältiger ausfallen können, als die Grammatikalisierungstheorie bisher annimmt. Das Vorhandensein geeigneter Muster stellt mithin nicht nur […] eine Beschränkung für die (Re-)Segmentierung/Semantisierung dar, sondern – in eben jenen Grenzen – gewissermaßen auch eine Einladung zur (Re-)Segmentierung/Semantisierung und formalen (Re-)Substanziierung (HARNISCH 2004a, 229).
Die Entwicklungen spielen sich in dem Bereich ab, der durch die Antinomie aus Freiheit (apriorischer Sprecher- und Hörerpsychologie) und Strukturvoraussetzungen (bisherige Entwicklung) vorgegeben ist. Dennoch liegen den verschiedenen Ab- und Aufbauprozessen gewisse allgemeine Prinzipien wie Variation und Selektion zugrunde, die mit dem Konzept der Evolution gefasst werden können. Sprecher und Hörer generieren sprachstrukturelle Variationen, die beispielsweise Prozessen der Sprachverarbeitung und/oder der Sprecher- und Hörerpsychologie sowie dem Streben nach Prestige (Extravaganz) geschuldet sind. Diese Variationen werden in Bezug auf ihren kommunikativen Erfolg selektiert. Sie diffundieren durch die Sprachgemeinschaft und werden durch den Gebrauch als Schema oder als gemeinsames Sprachwissen einer Gruppe konventionalisiert. Auch hier gilt, dass Replikation und Variation notwendige Bedingungen für Sprachwandel sind. 4.2 MORPHOLOGISCHE NATÜRLICHKEITSTHEORIE Die Morphologische Natürlichkeitstheorie oder Natürliche Morphologie (NM) basiert auf der erkenntnisleitenden Hypothese, dass sprachliche Entwicklungen im Sprachwandel und im Spracherwerb natürlichen und universellen Tendenzen folgen. Auf dieser Idee aufbauend, entwickelt STAMPE (1969; 1979) zunächst die Natürliche Phonologie. Aber auch für andere Beschreibungsebenen der Sprache wurden Natürlichkeitskonzepte entwickelt, die mehr oder weniger aufeinander Bezug nehmen. Sprachliche Natürlichkeitstheorien wurden bisher ganz wesentlich aus dem Sprachwandel heraus begründet.419 RONNEBERGER-SIBOLD (1987, 517) 419 Eine semiotische Begründung des Natürlichkeitsbegriffes nach PEIRCE leistet AUER (1989, 31–34). Dabei betont AUER die Dichotomie zwischen Natürlichkeit und Konventionalisierung. Ikonische und indexikalische Zeichen sind, da sie weniger abstrakt und weniger konventionalisiert sind als Symbole, natürlicher. Es ist aber nicht für alle Ebenen klar, „welches von zwei oder mehr alternativen Strukturmerkmalen das natürlich-ikonischere bzw. natürlichindexikalischere, bzw. welche das kulturell überformtere (symbolischere) ist“ (AUER 1989,
222
Sprachwandeltheorien
spricht sogar von einer „natural theory of linguistic change“. Entscheidend für die Idee einer natürlichen Sprachwandeltheorie ist weiterhin „that languages do not change randomly or due to certain entirely system-inherent evaluation criteria, but that languages are changed by their users in order to facilitate communication“ (RONNEBERGER-SIBOLD 1987, 517). Interessant ist außerdem, dass sie Sprachwandel als Anpassungsprozess beschreibt: „[T]he language users are constantly adapting their ‚communicative instrument‘, i.e. their language, to their needs of production, e.g. the need for ease of pronunciation, and perception, e.g. the need for unambiguity“ (RONNEBERGER-SIBOLD 1987, 517). Dieser Anpassungsprozess ist zudem sprecher- und hörerseitig bedingt (RONNEBERGER-SIBOLD 1987, 518). Sprachliche Strukturen sollen u. a. auch mit der Sprecher- und Hörerpsychologie erklärt werden. Dazu werden „Grade der Einfachheit, dem entspricht Unmarkiertheit bzw. Natürlichkeit“ (ELSEN 2011, 17) ermittelt. Als natürlicher und einfacher werden insbesondere die Strukturen angesehen, die im Spracherwerb zuerst gelernt werden. Natürlichkeit bzw. Kriterien der Markiertheit werden somit zu entscheidenden Selektionsfaktoren erhoben. DEACON verbindet diese Idee – auch wenn er sich nicht auf die Morphologische Natürlichkeitstheorie bezieht – mit einem evolutionstheoretischen Ansatz: Language structures may have preferentially adapted to children’s learning biases and limitations because languages that are more easily acquired at an early age will tend to replicate more rapidly and with greater fidelity from generation to generation than those that take more time or neurological maturity to be mastered. (DEACON 1997, 137)
Zudem werden die Strukturen als natürlicher erachtet, die sich im Sprachwandel längerfristig durchsetzen. Die grammatische Sprachwandelforschung wurde und wird neben der Grammatikalisierungstheorie auch durch die Morphologische Natürlichkeitstheorie geprägt, die ganz wesentlich durch MAYERTHALERS (1981) Werk „Morphologische Natürlichkeit“ und WURZELS (1984) „Flexionsmorphologie und Natürlichkeit“ beeinflusst ist.420 AUER (1989, 40) bemerkt, dass der Natürlichkeitsansatz „am besten“ für die Morphologie „ausgearbeitet“ wurde. 4.2.1 Die universelle Fassung der Morphologischen Natürlichkeitstheorie Natürlichkeit in der Morphologie bedeutet für MAYERTHALER (1981, 2) zunächst Folgendes: Ein morphologischer Prozeß bzw. eine morphologische Struktur ist natürlich, wenn er/ sie a) weit verbreitet ist und/ oder b) relativ früh erworben wird und/ oder c) gegenüber Sprachwandel relativ konstant ist oder durch Sprachwandel häufig entsteht etc.
35). Indexikalität ist eher emittentenseitig (Artikulationserleichterung) und Ikonizität eher rezipientenseitig (Perzeptionserleichterung) von Vorteil: „Indexikalität erleichtert meist die Sache des Sprechers, Ikonizität die des Rezipienten“ (AUER 1989, 33). 420 Als Wegbereiter für die Theoriebildung wäre auch noch DRESSLER (1987) zu nennen.
Morphologische Natürlichkeitstheorie
223
Um Natürlichkeit bestimmen zu können, wird sie umgekehrt proportional einem Konzept der Markiertheit zugeordnet (BAILEY 1977, 22–23). Ein morphologisches Phänomen ist umso weniger markiert, je natürlicher es ist, und um so mehr markiert, je weniger natürlich es ist. Markiertheit/Natürlichkeit bilden eine Skala von maximal markiert/minimal natürlich bis zu minimal markiert/maximal natürlich. (WURZEL 1984, 21)
Dabei bleibt das Markiertheitskonzept nicht unkritisiert. HASPELMATH (2006) beklagt die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Markiertheitsbegriffes.421 MAYERTHALER versteht Markiertheitswerte allerdings nicht als innergrammatisch gegeben. Sie sind vielmehr als eine unbewusste Bewertung von Kategorien durch die Sprachgemeinschaft zu verstehen, die teilweise durch die Gegebenheiten der außersprachlichen Wirklichkeit strukturiert sind und teilweise kulturell tradiert werden. Bei der Bewertung spielen Kriterien eine Rolle, die nicht aus der Sprache selbst kommen. Sie sind sowohl allgemeinen kognitiven Konzepten der Sprachproduktion und Sprachverarbeitung als auch den Erfahrungsmöglichkeiten des Menschen in seiner Umwelt geschuldet. Die Bewertung morphologischer Strukturen ist immer in Bezug zur Funktion zu setzen (WURZEL 1984, 21). FormFunktions-Beziehungen – so die Annahme – spielen für die Sprachverarbeitung eine wichtige Rolle. Bezogen auf die Flexionsmorphologie formuliert HARNISCH (1987a, 34) den Anspruch der Morphologischen Natürlichkeit folgendermaßen: „Zum einen beurteilt sie das Verhältnis der semantischen Markiertheit flexivischer Merkmale zu ihrer morphologischen Symbolisierung/Kodierung nach ‚ikonischen‘ Prinzipien“. Die Markiertheitswerte werden von MAYERTHALER in drei Kategorien differenziert. Für die Morphologie relevant sind die semantische Kategorienmarkiertheit (sem-Werte), die Symbolisierungsmarkiertheit (sym-Werte) und die daraus abgeleitete Markiertheit für symbolisierte Kategorien (m-Werte). Über die Bestimmung der sem-Werte und der sym-Werte sind die m-Werte zu ermitteln (MAYERTHALER 1981, 10–11). Insbesondere die semantische Kategorienmarkiertheit orientiert sich nach MAYERTHALER an den prototypischen Sprechereigenschaften. Eine semantische Kategorie ist umso weniger markiert, je prototypischer die Sprechereigenschaft ist. Die prototypischen Sprechereigenschaften sind sozial-pragmatisch, biologisch-psychologisch und kulturkreisabhängig (MAYERTHALER 1981, 21).422 Die Symbolisierungsmarkiertheit ist mit Bezug auf die semantische Kategorienmarkiertheit dann „optimal bzw. maximal natürlich, […], wenn sie konstruktionell 421 Auch AUER äußert sich unzufrieden über die Verwendung des Begriffes Natürlichkeit: Dieser „ist nicht ungefährlich und durch inflationären Gebrauch abgenutzt“ (AUER 1989, 31). 422 MAYERTHALER (1981, 21) geht von einem Zwiebelmodell aus: „Den harten Kern prototypischer Sprechereigenschaften konstituieren arteigene Eigenschaften der Sprecherperzeption. Hierum lagert sich eine zweite Schicht von Eigenschaften, […]: Es sind dies die universalpragmatischen Sprechereigenschaften. Eine dritte Schicht […] stellen schließlich die kulturkreisspezifischen und eventuell einzelsprachlichen Eigenschaften dar“.
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Sprachwandeltheorien
ikonisch, uniform und transparent ist, andernfalls mehr oder wenig unnatürlich“ (MAYERTHALER 1981, 22). Durchsichtige morphologische Strukturen sind demnach natürlicher. Auflösungen von Morphemgrenzen wie bei der Fusion oder Klitisierungen führen zu weniger natürlichen morphologischen Strukturen. Damit wird auch klar, dass die Natürlichkeit von Morphologie in erster Linie über die kommunikativen Bedürfnisse der Rezipienten definiert wird. Optimal durchsichtig sind Strukturen dann, wenn jedem Inhalt auch ein Ausdruck bzw. eine Symbolisierung entspricht. Die Symbolisierung wird im Folgenden auch als Kodierung bezeichnet. Bei der Kodierung lässt sich zwischen additiven (Mensch -en (Pl.)), modulatorischen (Mütter -Ø (Pl.)) und modulatorisch-additiven (Bäll -e (Pl.)) Mechanismen unterscheiden (MAYERTHALER 1981, 24). Die Kategorien sind desto unmarkierter, je mehr sie die prototypischen Sprechereigenschaften spiegeln. So sind die Kategorien Singular und Präsens gegenüber Plural und Präteritum unmarkiert, da sie für die Perzeption leichter zugänglich sind. Morphologischer Sprachwandel sollte laut der Morphologischen Natürlichkeitstheorie in der Regel mit dem Abbau von Markiertheit einhergehen. Markiertheit wird abgebaut, wenn die morphologischen Kategorien optimal symbolisiert werden. Optimal symbolisiert sind die Kategorien dann, wenn konstruktioneller Ikonismus, Uniformität und Transparenz vorliegen. „Von konstruktionellem Ikonismus wird gesprochen, wenn eine Kodierungsasymmetrie auf eine tieferliegende Asymmetrie verweist.“ (MAYERTHALER 1980b, 20) Das, was semantisch komplexer (mehr) ist, sollte auch auf der Ausdrucksseite, also der Kodierung merkmalhafter (mehr) sein. Die Kategorien Plural und Präteritum sind semantisch komplexer gegenüber dem Singular und Präsens, daher sind Plural und Präteritum in der Regel auch ausdrucksseitig merkmalhafter. Psychologisch wird die Beobachtung, die sich in vielen Sprachen nachweisen lässt, damit begründet, dass die Humanperzeption ikonische Züge aufweist.423 Transparent ist sprachliche Struktur, wenn sie sich durch monofunktionale Operationen konstituiert (MAYERTHALER 1981, 35). Sie ist uniform, wenn einer Funktion genau eine Form zugeordnet werden kann. Uniformität bedeutet folglich Allomorphiefreiheit des Paradigmas (MAYERTHALER 1981, 34–35). Wird die Symbolisierungsmarkiertheit auf das Konzept des konstruktionellen Ikonismus angewendet, ergibt sich laut MAYERTHALER (1981, 24–25) folgende Hierarchie der Ikonizität:
423 Ob die folgende Aussage von MAYERTHALER mit dem heutigen neurowissenschaftlichen Kentnisstand noch verträglich ist, darf allerdings bezweifelt werden. „Man kann sich hierunter vorstellen, dass die Großhirnrinde eine Tendenz aufweist, sich topographisch zu organisieren, das heißt so, daß sich Sender und Empfänger einer Information einander Punkt für Punkt (wenngleich mit Verzerrungen und Informationsfilterung) entsprechen. Insbesondere das Neenephalon scheint das neutrale Substrat für ikonische Wahrnehmung abzugeben. Diese Schicht des Cortex bildet ikonische Perzepte, indem sie ‚scanned images’ mit Gedächtnisbildern amalgiert.“ (MAYERTHALER 1980b, 35)
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maximal ikonisch (wenn konstruktioneller Ikonismus und segmental-additiv) weniger maximal ikonisch (wenn konstruktioneller Ikonismus und modulatorisch-additiv) minimal ikonisch (wenn konstruktioneller Ikonismus durch ein modulatorisches Verfahren enkodiert wird) nichtikonisch (wenn kein konstruktioneller Ikonismus vorliegt) kontraikonisch (wenn die Asymmetrie der semantischen Markiertheitswerte auf eine inverse Asymmetrie der Symbolisierung abgebildet wird) Da sich die Prinzipien der Natürlichen Phonologie und der Natürlichen Morphologie allerdings in vielen Punkten entgegenstehen, werden maximal ikonische Strukturen in der Morphologie oft nicht erreicht. Natürlichkeit in der Phonologie wird häufig mit Sprecherbedürfnissen (Artikulationserleichterung) gleichgesetzt, wohingegen Natürlichkeit in der Morphologie mit den Bedürfnissen der Hörer (Perzeptionserleichterung) korreliert (WURZEL 1984, 33). Der Ausdruck Mütter ist beispielsweise phonologisch einfacher, weil modulatorische Verfahren die lautliche Ausdruckskette nicht verlängern; auch „übler ist phonologisch besser als übeler“ (ELSEN 2011, 18). Natürlichkeit in der Phonologie wird häufig mit Energieersparnis in der Aussprache gleichgesetzt. Aus den gegenläufigen Tendenzen schlussfolgert AUER (1989, 43): „Bekanntlich interagieren die Natürlichkeitstendenzen in der Phonologie oft mit denen in der Morphologie, so daß die beiden Ebenen immer zusammen betrachtet werden sollten“. 4.2.2 Von der universellen Morphologischen Natürlichkeit zur systembezogenen Morphologischen Natürlichkeit WURZEL hat das von MAYERTHALER (1981) vorgeschlagene Konzept der morphologischen Natürlichkeit geprüft und „als zu eng und einseitig“ (WURZEL 1984, 77) empfunden. An mehreren Beispielen macht er deutlich, dass die morphologische Natürlichkeit im Sinne MAYERTHALERS eher als eine systemunabhängige oder „supersystemare“ (HARNISCH 1987a, 34) Natürlichkeit beschrieben werden müsste. WURZEL führt hingegen den Begriff der systembezogenen Natürlichkeit ein. HARNISCH (1987a, 35) weist allerdings mit Nachdruck darauf hin, dass „beide Arten von Natürlichkeitsprinzipien integraler Bestandteil der ‚Natürlichen Morphologie‘ sind und nicht gegeneinander ausgespielt werden können“, wenn WURZEL den Anspruch von MAYERTHALER auch deutlich relativiert. Auch MUFWENE (2008, 131) weist darauf hin, dass die Faktoren, die die Markiertheit von sprachlichen Strukturen bestimmen, sowohl an innersprachliche als auch an außersprachliche Umweltbedingungen gebunden sind. WURZEL kritisiert die Idealisierung des agglutinierenden Sprachbautypus mit seiner Eins-zu-eins-Setzung von Inhalt und Ausdruck zum natürlichsten Sprachbautyp. WURZEL (1984, 72) arbeitet heraus, dass Flexionsklassen innerhalb der Einzelsprachen für den Sprecher nicht unbedingt den gleichen Status haben. Eine Flexionsklasse wird als Klasse von Wörtern definiert, die morphologische Kate-
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Sprachwandeltheorien
gorien und Kategorienbündel in formal einheitlicher Weise symbolisieren, also über einheitliche, von der Einzelsprache abhängige Marker verfügen (WURZEL 1984, 79). Der Normalitätsgrad von Flexionsklassen kann abweichen. „Miteinander konkurrierende Flexionsklassen unterscheiden sich in der Regel in ihrem Normalitätsgrad.“ (WURZEL 1984, 73) Ein Verständnis von Normalität wird hier also zum Kriterium erhoben, um morphologischen Wandel zu erklären. Offenbar kann eine Flexionsklasse FKi gegenüber einer Flexionsklasse FKj bevorzugt werden, obwohl sie im Natürlichkeitsgrad gleichwertig sind. Die Flexionsklassen unterscheiden sich nur hinsichtlich ihres Normalitätsgrades (WURZEL 1984, 77). Bezogen auf die Typefrequenz scheinen sich größere Flexionsklassen auf Kosten der kleineren auszudehnen. Wenn man den Begriff der Normalität zugrunde legt, hieße das für den morphologischen Sprachwandel, dass die Wörter einer weniger normalen Flexionsklasse in eine normalere Flexionsklasse übertreten. Damit wurde MAYERTHALERS Konzept der Morphologischen Natürlichkeit nicht grundsätzlich widersprochen, sondern der Rahmen erweitert, indem nun von systembezogener Natürlichkeit gesprochen wird. Während die Prinzipien der systemunabhängigen morphologischen Natürlichkeit, also beispielsweise die des konstruktionellen Ikonismus, universell vorgegeben und damit unabhängig vom einzelsprachlichen System sind, existieren die systemdefinierenden Struktureigenschaften immer nur durch das einzelsprachliche System und mit dem einzelsprachlichen System. […]. Die systemdefinierenden Struktureigenschaften sind – […] – diejenigen morphologischen Struktureigenschaften, die das Flexionssystem als Ganzes typologisch charakterisieren, die Strukturzüge, die sein Wesen, seine Qualität, bestimmen. (WURZEL 1984, 86)
Nun lässt sich für den Morphologen die Systemangemessenheit bestimmen, die den Übereinstimmungsgrad eines Paradigmas/einer Flexionsklasse mit den systemdefinierenden Struktureigenschaften widerspiegelt. Die Systemangemessenheit kann als Messwert betrachtet werden, der gegenüber dem konstruktionellen Ikonismus den Vorteil aufweist, eine Form-Form-Beziehung und nicht eine FormFunktions-Beziehung zu messen (WURZEL 1984, 87). Damit ist aber nicht der grundsätzliche Wert des konstruktionellen Ikonismus widerlegt. Vielmehr spielen hier zwei Wege für morphologischen Wandel zusammen. Der eine orientiert sich eher an einem kognitionspsychologischen Konzept, wohingegen der andere sich an der sprachlichen Vorlage im System, also an der Typenfrequenz und damit an der Klassenstärke von Paradigmen orientiert. Psycholinguistisch gesehen, sind die systemdefinierenden Struktureigenschaften in morphologisch uneinheitlich aufgebauten Sprachen wohl am angemessensten als eingeschliffene Muster zu interpretieren, nach denen im Normalfall Flexionsformen gebildet werden. (WURZEL 1984, 88)
4.2.3 Kritik an der Morphologischen Natürlichkeitstheorie Kritik am Konzept der Natürlichen Morphologie äußern insbesondere STOLZ, KELLER und die Schule um WERNER. WERNER und seine Schüler vertreten die
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Auffassung, dass im Gegensatz zur Typefrequenz – also dem Vorschlag von WURZEL – die Tokenfrequenz sprachlichen Ausdrucks stärker berücksichtigt werden sollte, um morphologischen Wandel zu erklären (RONNEBERGER-SIBOLD 1988; WERNER 1987b; NÜBLING 2000). STOLZ (1992, 20–27) kritisiert, dass die Natürliche Morphologie einen zu starken Akzent auf die sprachlichen Abbautendenzen von der Morphologie zur Phonologie lege und die Kontaktbereiche Morpho-Syntax und Morphophonologie beim Aufbau von Morphologie zu wenig einbeziehe. Die Natürliche Morphologie ist beim gegenwärtigen Ausbaustand der Theorie und ihres Instrumentariums eher ein getreues Abbild der gängigen Abbautheorien als eine Grundlage für die Entwicklung einer ‚natürlichen‘ Sprachwandeltheorie; Innovationen zum Problembereich Flexionsbildung durch Morphologisierung von Syntax liegen nicht vor […]. (STOLZ 1992, 24)
KELLER (2003, 155–156) gibt zu bedenken, dass die Natürlichkeitstheoretiker lediglich tautologische Trendextrapolationen herausgearbeitet haben, die als Prognosen zu lesen sind, aber nicht als explanatives Wissen. KELLER lehnt sich zunächst an der fundamentalen Kritik von LASS (1980) an. LASS (1980, 15–44) widmet der Natürlichkeitstheorie ein eigenes Kapitel mit dem Titel: „Why ‚naturalness‘ does not explain anything“. KELLER geht es aber um konstruktive Lösungsvorschläge für Probleme, die er mit der Morphologischen Natürlichkeitstheorie verbunden sieht. KELLER gibt zu bedenken, dass statistische Gesetze keine Gesetze sind, die absolute Schlussfolgerungen erlauben, sondern Generalisierungen sind, die nicht den Einzelfall erklären (KELLER 2003, 162). Ähnliches müsste auch mit Blick auf das Unidirektionalitätspostulat der Grammatikalisierungstheorie festgestellt werden. Die Natürlichkeitstheoretiker sollten jedenfalls nach Möglichkeit ihren Erklärungsanspruch präzisieren. Adäquater wäre beispielsweise: „Die Natürlichkeitstheorie erklärt den Trend; der Trend aber erklärt aus den genannten Gründen nicht den Einzelfall“ (KELLER 2003, 162). Die Schule um WERNER (RONNEBERGER-SIBOLD 1988; WERNER 1987a; NÜBLING 2005; 2000) kritisiert insbesondere an WURZELS Auslegung der systemangemessenen Natürlichkeit, die sich stark an Typefrequenzen orientiert, dass morphologischer Wandel vernachlässigt wird, der zur Irregularität oder Suppletion führt.424 Eine hohe Tokenfrequenz ist insbesondere sprecherseitig ein Ausdruck für die Relevanz des jeweiligen Ausdrucks. Es besteht ein ökonomisches Bedürfnis nach Konventionalisierung des Zeichens, um schnell darauf zugreifen zu kön-
424 Anders AUER (1989, 41): „Daß sich Suppletionsparadigmen bei hochfrequenten Lexemen entgegen natürlichen Voraussagen trotzdem halten können […], scheint mir (entgegen Werner 1987) der Natürlichen Morphologie keinen Abbruch zu tun. Meist entsteht Suppletion ja nicht um ihrer selbst willen, sondern als Folge phonologischer Lenisierungsprozesse oder als Folge lexikalischen Wandels“. Die Gründe für Suppletion sind für AUER (1989, 41–42) durchaus natürlich, müssen aber außerhalb der Morphologie gesucht werden.
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nen.425 Die Kritik ist in ihren wesentlichen Grundsätzen berechtigt, so dass HARNISCH (1988; 1990) einen integrativen Ansatz vorschlägt, der morphologischen Wandel besser in seiner Tendenz erklären soll. HARNISCH (1988, 428) ist der Meinung, „daß es verschiedene Wege der Optimierung von Morphologie gibt, von denen jeder spezifische Vor- und Nachteile hat, wobei die Vorteile des einen Wegs sich aus der Perspektive des anderen als Nachteil erweisen und umgekehrt“. HARNISCH berücksichtigt auch für die natürliche Entwicklung der Morphologie, dass die Morphologie gleichermaßen durch Hörer- und Sprecherbedürfnisse geprägt wird. Er beschreibt den einen Weg als durch die Prinzipien des „Homomorphismus“ (HARNISCH 1988, 428) gekennzeichnet, was den Prinzipien der universellen Morphologischen Natürlichkeit entspricht und zu morphologischer Regularität führt. HARNISCH (1988, 429) nimmt aber auch den Weg des „Heteromorphismus“ wahr, der zu morphologischer Irregularität führt und nicht nur durch phonologischen Wandel bedingt ist, wie beispielsweise RONNEBERGER-SIBOLD (1988, 460) und NÜBLING (2000) darlegen. Sie plädieren ähnlich wie HARNISCH dafür, Tokenfrequenzargumente in die Beweisführung für morphologischen Wandel aufzunehmen. Dadurch kann Suppletion erklärt werden. Als Korrelate für Irregularität führen sie die Gebrauchshäufigkeit und die psychische Nähe an. Alle aufgezählten Wörter, die sich morphologisch irregulär verhalten haben (und, wie man jetzt hinzufügen kann, so häufig im Gebrauch waren), sind im ‚unmittelbaren Erfahrungsbereich‘ der Sprecher angesiedelt, liegen also in deren psychischen ‚Nahbereich‘ (...) und gehören somit, [...], ganz bestimmten semantischen Gruppen an. (HARNISCH 1990, 57)
Diese Ausführungen machen deutlich, dass natürlicher morphologischer Wandel nicht immer mit dem Abbau von Markiertheit gleichgesetzt werden kann. Will die Morphologische Natürlichkeitstheorie den Anspruch erfüllen, eine möglichst komplette Sprachwandeltheorie zu sein, muss sie auch Prozesse als natürlichen Wandel anerkennen, bei denen aus sprecher- und hörerpsychologischen Gründen, die sich zudem ändern können, Markiertheit aufgebaut wird. In der neueren Forschungsliteratur wird, durchaus losgelöst von der Morphologie, Kritik am Konzept des konstruktionellen Ikonismus als Prinzip für Sprachwandel geübt. HASPELMATH (2008a) bestreitet zwar nicht, dass sprachliche Formen ikonisch aufgebaut sein können, dahinter verbirgt sich aber kein motivierendes Prinzip, da konstruktioneller Ikonismus zu falschen Voraussagen führt. No appeal to iconicity is necessary. Worse, iconicity often makes wrong predictions, whereas frequency consistently makes the correct predictions. (HASPELMATH 2008a, 2) The final result may look iconic to the linguist in some cases, but iconicity is not the decisive causal factor. (HASPELMATH 2008a, 25)
Grammatische Asymmetrien (z. B. Sg. vs. Pl.) ergeben sich danach eher durch Frequenzen. Häufiger gebrauchte Formen sind demnach weniger konstruktionell 425 Diese Argumentation widerspricht dem semiotischen Natürlichkeitskonzept von AUER (1989, 30–34), der ikonische und indexikalische Zeichen eben deshalb als natürlicher einstuft, weil sie weniger konventionalisiert sind.
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und damit ausdrucksseitig weniger kodiert. HAIMAN (2008) verteidigt die Ikoniziät als sprecher- und hörerpsychologisches Prinzip. Er kritisiert den reduktionistischen frequenzbasierten Ansatz von HASPELMATH und zeigt zum einen, dass es Fälle gibt, in denen Frequenzargumente nicht zutreffen, dafür aber Ikonizität als Motivationsfaktor gelten kann, zum anderen ist HAIMAN darin zuzustimmen, dass nicht nur nach einem, sondern nach mehreren Prinzipien, die den Sprachwandel beeinflussen, gesucht werden sollte. [...] It is probably misconceived to look for only one motivating factor to account for most observed grammatical facts, although the motivating factors are more easily identified when they operate alone. (HAIMAN 2008, 35) Doubtless there are also others. (HAIMAN 2008, 44)
Ergebnisse der Soziolinguistik scheinen außerdem zu belegen, dass Markiertheitswerte und deren Selektion auch sehr stark von außersprachlichen Umweltbedingungen abzuhängen scheinen (MUFWENE 2008, 130). Diese Einflüsse werden insbesondere in Kapitel 5 und 6 noch genauer diskutiert. 4.2.4 Zwischenfazit Die Morphologische Natürlichkeitstheorie wurde insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren diskutiert. Sie konnte aber – sehr stark an den deutschsprachigen Raum gebunden – nicht so ein erfolgreiches Forschungsparadigma wie die Grammatikalisierungstheorie ausbilden. Die Grammatikalisierungstheorie hat außerdem den verlockenden Anspruch, Sprachwandel über verschiedene sprachliche Beschreibungsebenen generalisierend zu erklären, wohingegen die verschiedenen Natürlichkeitskonzepte nur auf die jeweilige Beschreibungsebene wirklich gut angewendet werden können. Die Morphologische Natürlichkeitstheorie macht aber notwendig deutlich, dass rezipientenseitige Bedürfnisse in eine Sprachwandeltheorie integriert werden müssen.426 Hier hat die Grammatikalisierungstheorie mit dem Unidirektionalitätspostulat und dem relativ einseitigen Bezug auf sprecherseitige Maximen noch großen Nachholbedarf. Prozesse der Degrammatikalisierung oder Verstärkung, die besonders durch die Bedürfnisse der Hörer und deren Reanalysen motiviert sind, müssen für eine adäquatere Sprachwandeltheorie noch stärker berücksichtigt werden. (Re)Konstruktioneller Ikonismus ist zudem ein hilfreiches, wenn auch nicht notwendiges Prinzip, um Reanalysen und Analogien insbesondere für flexionsmorphologischen Wandel zu erklären.427 Der indi 426 NÜBLING (2005, 175) weist darauf hin, dass MAYERTHALER (1981) die Sprecherbedürfnisse zu stark vernachlässigt, aus denen sich morphologische Irregularität erklären lässt. NÜBLING (2005, 186) kommt allerdings zu dem Schluss, dass auch die Irregularisierung „festen Regularitäten“ folgt und daher als quasi natürlich angesehen werden müsste. 427 Die Erklärungskraft des konstruktionellen Ikonismus für die Entwicklung der Verbalmorphologie wird allerdings durch hochfrequente Suppletivformen in Frage gestellt. Diese sind meist verhältnismäßig kurz und opak (NÜBLING 1999, 88–89). „Das Auftreten von Suppletion
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Sprachwandeltheorien
viduelle Sprecher und Hörer zeigt, wie auch durch die Schemata für den Erstspracherwerb und die Mondegreens erwiesen wurde, ein Bedürfnis danach, ausdrucksseitiges Sprachmaterial mit Inhalt zu belegen oder angenommene Inhalte ausdrucksseitig zu ergänzen. Damit werden perzeptionspsychologische Aspekte von der Morphologischen Natürlichkeitstheorie für den Sprachwandel berücksichtigt, die von der Grammatikalisierungstheorie mit der universellen Ausrichtung auf Abbautendenzen vernachlässigt werden. Die Grammatikalisierungstheorie setzt vielmehr die sprecherpsychologischen Maximen in Anlehnung an GRICE (1979b) zentral. Es wäre sicherlich sinnvoll, beide Aspekte, die der Sprachwahrnehmung und die der Sprachproduktion, auf der Mikroebene als Ausgangsbasis für Sprachwandel auf der Meso- und Makroebene zu betrachten. Weiterhin dürfen aber sprachexterne Faktoren und das kreative Ausdruckspotential (Maxime der Extravaganz) nicht unberücksichtigt bleiben, die Anlass für Innovation und Gradmesser für Diffusion sind. Die Bedeutung dieser Prozesse für eine evolutionäre Sprachwandeltheorie hebt ROSENBACH (2008, 32) hervor: „These two processes essentially mirror the evolutionary processes of variation and selection: new variants come into use, and selectional pressures lead to their differential replication“. Insbesondere das Aufdecken von systemabhängigen Natürlichkeitskriterien (WURZEL 1984) bietet aber auch Chancen für eine evolutionäre Sprachwandeltheorie. Die systemabhängigen Natürlichkeitskriterien können, wie schon angedeutet wurde, innersystemische Anpassungsprozesse erklären (Kap. 4.2.2). Wenn etwa für Phonologie oder Morphologie ‚Natürlichkeitsbedingungen‘ formuliert werden (z. B. Wurzel 1984), dann ist das stets der Versuch, die Kraftfelder zu bestimmen, in denen sich bestimmte features festsetzen, halten, durchsetzen, verändern, weil sie entweder ‚besser‘ sind als andere oder konkurrierenden Optionen besser trotzen als andere etc. Dabei dürfte die Pfadabhängigkeit der Nischenbedingungen im Kern der Grammatik (Morphologie, Syntax) höher sein als an den (sensomotorischen und sozialkommunikativen) Rändern. (KNOBLOCH 2011, 264)
Weiterhin ist zu beachten, dass die Morphologie zwischen syntaktischen Fügungen und phonologischen Alternationen anzusiedeln ist. Somit kann insbesondere die Morphologie „exaptativen ‚Zuzug‘ sowohl von der Phonologie als auch von der Syntax bekommen“ (KNOBLOCH 2011, 264). Die Exaptation wird in Kapitel 5 noch eine wichtige Rolle spielen und ist Ausdruck der Tatsache, dass grammatischer Wandel nicht zwingend unidirektional verläuft. Sowohl der Grammatikalisierungstheorie als auch der Morphologischen Natürlichkeitstheorie ist vorzuwerfen, dass sie Sprachwandel nicht nur erklären, sondern auch voraussagen wollen. Aus der hier vorgeschlagenen evolutionstheoretischen Sichtweise auf Sprache als komplexes adaptives System muss dieser prog hängt direkt zusammen mit dem Relevanzgrad der grammatischen Kategorie und der Tokenfrequenz des jeweiligen Verbs.“ (NÜBLING 1999, 96) Außerdem hat die Frequenz der Flexionskategorie (z. B. bestimmte Verben werden im Sg. Häufiger verwendet als im Pl.) einen Einfluss.
Analogie und Reanalyse als Motoren des Sprachwandels
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nostische Anspruch beider Theorien stark relativiert werden. Zwei Konzepte, die in der Sprachwandeltheorie eine große Rolle spielen, sich ebenfalls nur sehr schwer prognostizieren lassen bzw. kaum helfen Prognosen zu erstellen, sind die Analogie und die Reanalyse. 4.3 ANALOGIE UND REANALYSE ALS MOTOREN DES SPRACHWANDELS Es dürfte kaum einen aus dem 19. Jahrhundert tradierten Fachausdruck geben, der so viele Widersprüche und Paradoxien transportiert wie der Ausdruck ‚Analogie‘ – ‚Reanalyse‘ vielleicht ausgenommen. (KNOBLOCH 2011, 225)
Das Zitat macht bereits deutlich, dass die Konzepte Analogie und Reanalyse nicht ganz einfach zu fassen sind und es daher nicht verwundern darf, dass sie teilweise höchst unterschiedlich in der Forschungsliteratur verwendet werden. Eine Zusammenschau und Kritik aller Verwendungsweisen der Begriffe Analogie und Reanalyse kann in dieser Arbeit allerdings nicht geleistet werden. Für einen vertiefenden Einblick zum Thema Analogie seien beispielsweise die Arbeiten von FERTIG (2013), BECKER (1990) und ANTTILA (1977) empfohlen.428 „Uralt“ ist in der Linguistik immerhin „die Gleichsetzung von ‚Analogie‘ und ‚Bildung nach einer Regel‘“ (BECKER 1990, 14), die auch unter dem Begriff Proportionalanalogie bekannt ist und schon für HERMANN PAUL oder den „Cours“ eine zentrale Bedeutung besaß. Für BECKER (1990, 12–13) ist Proportionalanalogie „die Bildung eines morphologisch möglichen Wortes, das mit einem usuellen Wort morphologisch verwandt ist“. PAUL (1880/1975, 110) drückt dies folgendermaßen aus: Die Kombination besteht dabei gewissermassen in der Auflösung einer Proportionsgleichung, indem nach dem Muster von schon geläufig gewordenen analogen Proportionen zu einem gleichfalls geläufigen Worte ein zweites Proportionsglied frei geschaffen wird. Diesen Vorgang nennen wir Analogiebildung.
Proportionalanalogie entspricht dem, was STRIK (2015, 105) als „dynamic analogy“ definiert: „If two concepts are similar in one way, I may assume that they are similar in another way, too“.429 Die Auflösung einer Proportionsgleichung durch einen Sprachlerner könnte beispielsweise wie folgt aussehen (ELSEN 1991, 206): das Ohr (Sg.) : die Ohr -en (Pl.) = das Haar (Sg.) : X (Pl.) X = die *Haar -en (Pl.) 428 Eine besondere Form der Analogie ist die Metapher. „Metaphorical change can be related to analogy. It is a type of paradigmatic change, whereby a word-sign used for a particular object or concept comes to be used for another concept because of some element that these two concepts have in common.“ (FISCHER / ROSENBACH 2000, 15) 429 STRIK (2015, 104–105) unterscheidet zwischen dynamic analogy und static analogy: „Static analogy is static in the sense that our attention remains focused on known aspects of the concepts in question“.
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Sprachwandeltheorien
Ein Beispiel für die Auflösung einer Proportionsgleichung, die auch auf lautlicher Ähnlichkeit beruht und zur Übertragung morphologischer Merkmale führt, findet sich bei NÜBLING et al. (2010, 44)430: „Der Mensch denkt, Gott lenkt. Der Mensch dachte, Gott …“ denkt (Präs.) : dachte (Prät.) = lenkt (Präs.) : X (Prät.) X = lachte (Prät.) NÜBLING et al. (2010, 46) bewerten das Analogiekonzept für den grammatischen Wandel wie folgt: Das Analogiekonzept beschreibt plausibel, wie flexionsmorphologischer Wandel vonstatten gehen kann. Ein großes Problem ist dabei aber, dass es allein weder Vorhersagen erlaubt, in welche Richtung analogischer Ausgleich erfolgt, noch im Nachhinein erklären kann, warum gerade diese Richtung eingeschlagen wurde.
NÜBLING ist darin zuzustimmen, dass Analogie zwar beschrieben werden kann, aber kaum prognostischen Wert dahingehend besitzt, in welche Richtung Wandel stattfindet. BECKER (1990, 24) gibt allerdings zu bedenken, dass die Proportionsformel noch nicht die ganze Analogietheorie ist.431 Diese müsste durch eine Präferenztheorie ergänzt werden, was den Wert der Proportionsformel als Teil der Analogietheorie allerdings nicht schmälert. Analogie hat zwar selbst keinen erklärenden Wert, kann aber durchaus erklärt werden. Analogiebildung ist ein kognitiver Prozess. „Analogy is one of the most important cognitive tools available to us. […] Without it, we would be unable to abstract our daily experience into mental categories.“ (STRIK 2015, 103) Die Bildung von Form-Form-Beziehungen und/oder Form-Funktions-Beziehungen kann mit Hilfe von Analogie erklärt werden. Produktiv sind rein sprachsystemisch betrachtet insbesondere die Proportionen, die im Sprachwissen der Individuen eine hohe Type- und Tokenfrequenz haben (NÜBLING et al. 2010, 44).432 Die in Kapitel 3.3.1 angeführten Beispiele aus dem Spracherwerb zeigen, dass auch die systemunabhängigen morphologischen Natürlichkeitsparameter wie Transparenz, Uniformität und konstruktioneller Ikonismus wichtige kognitionspsychologische Indikatoren für dynamische Analogiebildungen sind.433 Das Analogiekonzept lässt sich ebenfalls mit der Theorie der dynamischen und komplexen adaptiven Systeme und dem Schemaansatz verbinden.434 Je häufi 430 NÜBLING et al. (2010, 44) schreiben zugleich, dass diese Analogie aus verschiedenen Gründen sehr unwahrscheinlich ist. 431 Zur Kritik an der Proportionsformel vgl. BECKER (1990, 15–28) und MAYERTHALER (1980a). 432 LEHMANN (1995b, 1261) schlussfolgert: „Analogie dehnt die Anwendung des Musters, dem das Vorbild folgt, im Sprachsystem aus“. 433 DAHL (2004) führt weitere Belege für Analogiebildungen an, die sich nicht allein aus der Typefrequenz erklären lassen. 434 „Zur terminologischen Vagheit von ‚Analogie‘ gehört im Übrigen auch […], dass darunter Tatbestände fallen können, die entweder sehr konkret (d. h. an bestimmte Items gebunden) oder sehr abstrakt (d. h. an allgemeinen Schemaeigenschaften haftend) sein können:“ (KNOBLOCH 2011, 229)
Analogie und Reanalyse als Motoren des Sprachwandels
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ger bestimmte Proportionen im Sprachgebrauch (in der Mikrosynchronisierung) verwendet werden, desto stabiler und systemangemessener sind sie. Häufig wiederkehrende Proportionen bilden Muster, die Schemata für sprachliches Handeln werden. Bereits bestehende Proportionen sind häufig richtungsweisend für die Herausbildung von Variation an anderer Stelle.435 Analoger Wandel kann dann festgestellt werden, wenn eine Struktur in das Muster einer anderen Struktur überführt wird. „So gesehen ist Analogie in der Dynamik des Sprechens zugleich Wächter und Begrenzer der Replikation von Mustern und Motor der Erzeugung von Variation!“ (KNOBLOCH 2011, 226) Variation im Sprachgebrauch hat Variation und Konkurrenz von Schemata zur Folge. Welches Schema von zwei konkurrierenden Schemata letztlich abgerufen wird, hängt zum einen von den innersystemischen Strukturbedingungen und zum anderen von diversen Umweltbedingungen ab. Welches Schema bei schwacher Konventionalisierung der strukturellen Varianten aktiviert wird, ist stark von den kontextuellen Gegebenheiten der Gesprächssituation abhängig. Das Analogiekonzept setzt voraus, dass Schemata auf neue Sachverhalte übertragen werden können.436 Beispiele von analoger Übertragung kognitiv dominanter Schemata auf neue Bereiche lassen sich mit den Übergeneralisierungsfehlern von Kindern belegen.
Mit der Bildung der Form will-t wird ein scheinbar ausdrucksseitiger Mangel behoben. Das Kind hat ein dominantes Schema zum Ausdruck gebracht, das die Kategorie 3.Ps.Sg.Präs. additiv mit dem Suffix -t ausdrückt. Das nächste Beispiel
435 STRIK (2015, 115) unterscheidet zwischen „analogical innovation“ und „analogical change“. Analoge Innovationen finden auf der individuellen Ebene statt, während analoger Wandel die Meso- oder Makroebene betrifft. FERTIG (2013, 12) gibt folgende Definitionen: „analogical innovation is an analogical formation and/or a product of associative interference that deviates from current norms of usage […] analogical change is a difference over time in prevailing usage within (a significant portion of) a speech community that corresponds to an analogical innovation“. 436 „Was Psychologen und Spracherwerbsforscher stets fasziniert hat, ist der Umstand, dass ‚falsche‘ oder ‚neue‘ Analogie die im aktuellen Sprechen realen und operativen Kräfte und Modelle anzeigen.“ (KNOBLOCH 2011, 227)
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Sprachwandeltheorien
zeigt einen Prozess, bei dem ein scheinbar inhaltsseitiger Mangel durch das Kind behoben wurde.437
Diese Übertragungsprozesse haben entsprechend ihrem Charakter verschiedene Namen. Beim Beispiel Daum (Sg.) werden Resegmentierung und Remotivierung stattgefunden haben. Am schillerndsten und populärsten ist aber vermutlich der Begriff Reanalyse. LEHMANN definiert den Begriff Reanalyse wie folgt: The reanalysis of a construction is the assignment of a different grammatical structure to it. Expressions instantiating the construction are thereby not changed. The reanalysis is therefore not observable. Its accomplishment can only be diagnosed ex post when the construction behaves in ways that presuppose its new structure (LEHMANN 2004, 162).
HARNISCH (2010, 19) versteht unter Reanalyse im engeren Sinne die gleichzeitig stattfindende formale Resegmentierung und semantische Remotivierung. Prozesse, die übrigens auch von der Morphologischen Natürlichkeitstheorie lange vernachlässigt wurden (HARNISCH 2010, 7). Wie beide Prozesse gemeinsam ablaufen können, verdeutlicht HARNISCH (2010, 7) an einem Beispiel aus dem Sprachwandel.
HARNISCH (2010, 7) gibt folgende Erklärung zu dem Beispiel:
Die […] Reanalyse besteht aus einer semantischen Remotivierung der ursprünglichen amorphischen, bestenfalls die flexivische Klasse kennzeichnenden lautlichen Substanz er und einer mit der Remotivierung unausweichlich verbundenen formalen Resegmentierung dieses er, das im Status zu einer nun bedeutungstragenden (affix-)morphologischen Einheit -er mit dem kategorialsemantischen Wert PLURAL erhoben (‚verstärkt‘) wird.
Diese Form der Reanalyse kann mit JESPERSEN (1925/2003, 370–371; Kap. 4.1.1) auch als Sekretion verstanden werden.438 KOCH (2010, 107) führt ein Sprachspiel aus dem Bairischen an, bei dem ebenfalls ein Sekretionsprozess stattfindet. 437 Der Beleg stammt aus BÜLOW (2008, unpubliziert). 438 HARNISCH (2010, 7) sieht bei diesem Beispiel außerdem einen Zusammenhang zwischen Sekretion und Exaptation. Er spricht von „Um-Nutzung von Vorhandenem mit ursprünglich anderem Zweck“. SIMON (2010) würde dieses Verständnis des Exaptationsbegriffes allerdings als zu weit betrachten (vgl. Kap. 5.3).
Analogie und Reanalyse als Motoren des Sprachwandels
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schod hod da Abraham zon Bebraham gsogt, daß mia koan Cebra ham
KOCHS terminologische Fassung des Vorgangs macht allerdings deutlich, wie uneinheitlich die begriffliche Zuordnung für diese Phänomene sein kann. Anstatt von Reanalyse und Resegmentierung spricht KOCH von „Analogiebildung“ und „segmentiert werden“. Die Idee dieses Wortspiels beruht auf einer paradigmatischen Analogiebildung nach der Reihenfolge der Buchstaben des Alphabets. Der opake, holistische, nicht segmentierbare Eigenname Abraham wird im paradigmatischen Vergleich mit B-braham segmentierbar, indem der erste Buchstabe abgetrennt wird. Ebenso kann C-braham segmentiert werden, doch im Syntagma muss – rückwirkend – die assimilierte Form von haben [ham] aus der Lautsubstanz ausgegliedert werden, so dass die Lautfolge [tseːbra] verbleibt. Diese kann nun ohne weiteres mit dem Lexem Zebra in Zusammenhang gebracht werden. (KOCH 2010, 107)
Wie die Beispiele zeigen, ist die Reanalyse zum einen ein wichtiger kognitiver Prozess für den grammatischen Sprachwandel, zum anderen wird deutlich, dass Reanalyseprozesse nicht gerichtet sind, obwohl sie eine wichtige Rolle in der Grammatikalisierungstheorie einnehmen. LEHMANN (2004, 162) gesteht beispielsweise ein: „More generally, reanalysis is not directional, as grammaticalization is“. Zudem ist fraglich, ob Reanalyse überhaupt ohne Analogie gedacht werden kann.439 Reanalysen, dies haben auch die oben angeführten Beispiele gezeigt, setzen analoge oder homophone Strukturen voraus, die in ein Schema passen, über das der Sprecher verfügt. KIPARSKY (2012) sieht beispielsweise in der Hauptsache für die Grammatikalisierung nur analogen Wandel.440 KIPARSKY (2012, 21) schreibt: „analogical change is grammar optimization, the elimination of unmotivated grammatical complexity or idiosyncrasy“. CROFT (2000, 117–143) hingegen sieht evolutionären Grammatikwandel grundsätzlich in Zusammenhang mit einer Form-Funktions-Reanalyse, die die wichtigste Quelle für Innovationen ist und als zentraler Prozess zum Verständnis des actuation-Problems gesehen wird, auch wenn er betont, dass Form-Funktions-Reanalysen nicht zwangsläufig zu mehr Ikonizität führen.441 „Form-function analysis can explain all examples of 439 LEHMANN (1995b, 1262) möchte diesen Fall allerdings nicht ausschließen, auch wenn er kein passendes Beispiel anführt. LEHMANNS Definition von Analogie ist dem, was CROFT (2000) teilweise unter Reanalyse versteht, jedenfalls zum Verwechseln ähnlich, zumal sich auch Analogien auf allen Ebenen der Sprachbeschreibung feststellen lassen. „Analogie ist eine konzeptuelle Beziehung zwischen einem Vorbild A, das als verstanden vorausgesetzt wird, und einem Operanden B, den es kognitiv zu bewältigen gilt. Auf der vorausgesetzten Ähnlichkeit von A und B werden B weitere Eigenschaften von A zugeschrieben.“ (LEHMANN 1995b, 1260) Für HOPPER / TRAUGOTT (2003, 68) sind Analogien entscheidend, um Reanalysen sichtbar zu machen. 440 „A related problem with Meillet’s view is that it treats analogy and grammaticalization as radically disjoint classes of change.“ (KIPARSKY 2012, 17) 441 CROFT (2000, 117–143) differenziert allerdings zwischen vier verschiedenen Formen der Reanalyse: Hyperanalyse, Hypoanalyse, Metanalyse und Cryptanalyse.
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Sprachwandeltheorien
grammatical change.“ (CROFT 2000, 140) ROSENBACH (2008, 37) unterscheidet folgendermaßen zwischen Analogie und Reanalyse: „[A]nalogy refers to the generalisation of the same form, while it is only reanalysis that involves the formation of some new category, form or rule“. KNOBLOCH (2011, 229) wendet gegen den Begriff der Reanalyse, wie er von CROFT und ROSENBACH verwendet wird, ein, dass Analysen und Reanalysen von Linguisten vorgenommen werden, nicht von Sprechern. Diese letzteren erzeugen günstigenfalls Symptome oder Anhaltspunkte dafür, dass eine Konstruktion ihren Stellenwert verändert hat. Der Ausdruck Reanalyse suggeriert eine Art Gestaltumschlag, vergleichbar dem Effekt, der bei der Betrachtung eines Neckerwürfels oder einer anderen optischen Täuschung entsteht.
Statt eines plötzlichen Umschlagens der Sichtweise befürwortet KNOBLOCH (2011, 230) eine Analyse, die die „Kontinuität in der Diskontinuität des Wandels“ fassbar macht. Um Kontinuitäten in der Diskontinuität des Wandels zu fassen, dürften sich allerdings dynamische und evolutionstheoretische Ansätze eignen, da diese Variation innerhalb einer Population voraussetzen. Die Variationsbreite innerhalb der Population ist als dynamisches Kontinuum zu betrachten, das an den Rändern zwar unscharf ist, im Kern aber relativ stabile (und identitätsstiftende) Elemente aufweist. Nicht bei allen Sprechern wird gleichzeitig die Reanalyse von sprachlichen Elementen stattgefunden haben. Reanalysen müssen sich erst durch Synchronisierungsprozesse im Sprachgebrauch durchsetzen. Über einen gewissen Zeitraum ist deshalb davon auszugehen, dass alte und neue Varianten sowohl auf der Ebene des Idiolekts als auch auf der Meso- und Makroebene nebeneinander existieren. Es wurde beispielsweise verschiedentlich im Sprachwandel und im Spracherwerb beobachtet, dass die neuen Verwendungsweisen zunächst sehr stark kontextgebunden auftreten. Ist die neue Struktur dort sehr frequent (erfolgreich), ist dies ein gutes Indiz dafür, dass sie sich auf neue Kontexte ausdehnen wird.442 Es ist festzuhalten, dass Analogie und Reanalyse wichtig für den Sprachwandel sind und Variation durch Innovation erzeugen. Sprecher- und hörerseitige (Re-)Analysen gehen Analogiebildungen in aller Regel als kognitive Prozesse voraus. Sie sind zwar nicht hinreichend aber doch notwendig, um Sprachwandel evolutionär zu erklären. Analogiebildungen und Reanalysen machen allerdings auch deutlich, dass Sprachwandel nur schwer prognostiziert werden kann, obwohl die bestehende und bis dahin replizierte sprachliche Struktur als Grundlage dient. „Analogy doesn’t deal in certainties, only in likelihoods.“ (STRIK 2015, 105)
442 Vgl. beispielsweise die Grammatikalisierungsmechanismen nach HEINE / KUTEVA (2005, 15). Der Mechanismus Extension spielt in diesem Modell eine wichtige Rolle, auch wenn er ein sehr allgemeiner Mechanismus des Sprachwandels ist (vgl. SZCZEPANIAK 2011, 12; Kap. 4.1.2).
TEIL III: EXEMPLARISCHE FELDER DER ANWENDUNG AUF SPRACHWANDEL – VOM SPRACHGEBRAUCH ZUM SPRACHSYSTEM UND WIEDER ZURÜCK 5 ASPEKTE DER ENTWICKLUNG VON GENUS IM DEUTSCHEN Ein evolutionäres und integratives Sprachwandelmodell muss auch von Menschen bewusst beeinflussten Sprachwandel erklären können. Daher setzt sich dieses Kapitel mit politisch motiviertem Sprachwandel auseinander. Die Einflussnahme der Politik auf die Sprache und deren Konsequenzen werden am Beispiel aktueller Entwicklungen zum Gebrauch des generischen Maskulinums diskutiert. Dabei zeigt sich, dass intendiertes Sprachhandeln auf der Mikroebene zu nichtintendierten Ordnungen auf der Makroebene führt. Um den im Folgenden illustrierten Sprachwandel zu erklären, ist ein komplexes Zusammenspiel aus sozialen, kognitiven und sprachsystemischen Faktoren sichtbar zu machen. Der Feststellung von BÄR (2004, 173), dass „alles in der Sprache, so auch das Genussystem einem permanenten Wandel“ unterliegt, ist unter den Prämissen eines dynamischen Sprachverständnisses, wie es hier vertreten wird, vorbehaltlos zuzustimmen. Derzeit werden Wandelerscheinungen im Genusgebrauch insbesondere sprachpolitisch beeinflusst. Damit wird feministischen und genderlinguistischen443 Forderungen Rechnung getragen, die durch das generische Maskulinum444 mitverschuldete Ungleichbehandlung der Frauen zu beenden. Die Feministische Linguistik fordert die Vermeidung des generischen Maskulinums im Sprachgebrauch, wenn nicht sogar die Einführung der „Totalen Feminisierung“ durch den Wandel hin zum generischen Femininum in allen Lebensbereichen 443 SPIESS / GÜNTHNER / HÜPPER (2012, 13) schlagen vor, den Begriff Feministische Linguistik durch den Begriff Genderlinguistik zu ersetzen. Damit sei insbesondere eine Verlagerung der Fragestellungen und Methoden verbunden. Der Genderlinguistik geht es nicht länger nur um die sprachliche Repräsentation von Geschlecht, sondern auch darum, wie Geschlecht sprachlich konstruiert wird (SPIESS / GÜNTHNER / HÜPPER 2012, 9). Da sich Genderlinguistik „immer schon auf spezifische Theorien von Gender“ (SPIESS / GÜNTHNER / HÜPPER 2012, 2) bezieht, denen hier nicht vorbehaltlos gefolgt wird, werden im Folgenden weiterhin die Begriffe feministische Sprachwissenschaft (SAMEL 1995, 42–43), feministische Sprachkritik (SAMEL 1995, 52–56) und feministische Sprachpolitik (WETSCHANOW / DOLESCHAL 2013, 308) verwendet. Zur Entwicklung des Begriffes Feminismus vgl. WALTERS (2005, 1–5). 444 Der Begriff g e n e r i s c h e s M a s k u l i n u m bezeichnet Nomen und Pronomen, deren grammatisches Geschlecht maskulin ist, aber auf Gruppen von Lebewesen (Personen, Tiere) verweisen, deren natürliche Geschlechter unbekannt, gleichgültig oder gemischt sind. Einige Autoren sprechen auch von geschlechtsneutralem oder geschlechtsindifferentem Gebrauch. Die feministische Sprachkritik verengt das Konzept allerdings auf Personenbezeichnungen (so z. B. KLANN-DELIUS 2005, 26; BRAUN et al. 1998, 265).
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
(PUSCH 1990, 93). Ihre sprachpolitischen Forderungen haben konkrete Folgen für den Sprachgebrauch und den Sprachwandel. Der Sprachwandel, den die Frauen in den letzten zwanzig Jahren in Gang gesetzt haben, ist die bedeutendste und tiefgreifendste sprachliche Neuerung dieses Jahrhunderts. Nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern weltweit. Tiefgreifend, weil die Frauen sich nicht lange mit dem Wortschatz aufhielten (dem gewöhnlichen Schauplatz des Sprachwandels), sondern gleich ‚ans Eingemachte‘ gingen, an die patriarchale Grammatik selbst. (PUSCH 1998, 7)
SCHIEWE (1998, 10) sieht in der feministischen Sprachpolitik „das bisher wohl wirksamste sprachkritische Konzept“, das unseren Sprachgebrauch nachhaltig beeinflusst. Diese Einflussnahme und deren Folgen für die Makroebene werden in Kap. 5.3 am Beispiel der Umformulierung von Studien- und Prüfungsordnungen sowie der gendergerechten Anpassung der Straßenverkehrsordnung von 2013 diskutiert. Da in vielen Lehrbüchern zu lesen ist, dass Genus eine feste Wortkategorie ist, wird aber zunächst herausgearbeitet, dass sich auch die ungesteuerte Dynamik der individuellen Genusverwendung – unabhängig vom Genus für Personenbezeichnungen – nur durch ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren erklären lässt. Die Sprecher/innen bauen im Laufe ihrer sprachlichen Sozialisation dynamische und situationssensitive kognitive Schemata auf, die die Genuszuweisung445 steuern. KÖPCKE / ZUBIN (2009; 1984) zeigen, dass Genus keine fest im mentalen Lexikon der Sprecher/innen verankerte Kategorie ist. Vielmehr nehmen beispielsweise phonologische, morphologische, semantische, pragmatische und kontextuelle Faktoren einen großen Einfluss. Auf die GenusSexus-Assoziation wird mit Bezugnahme auf die Entwicklung des generischen Maskulinums in Kap. 5.2 und 5.3 genauer eingegangen. 5.1 FAKTOREN DER GENUSZUWEISUNG Die strukturalistische Linguistik hatte die Zuordnung von Genus zunächst in Übereinstimmung mit dem Arbitraritätspostulat des „Cours“ als chaotisch und beliebig beschrieben. JESPERSEN (1924/1975, 228) kann jedenfalls kein übergeordnetes Prinzip erkennen: „It is certainly impossible to find any single governing-principle in this chaos“. BLOOMFIELD (1933/1984, 271, 280) bemerkt dazu: The gender-categories of most Indo-European languages, such as the two of French or the three of German […], do not agree with anything in the practical world, and this is true of most such classes.
445 Der Begriff Genuszuweisung soll hier nicht ausschließlich auf die Zuweisung von Genus durch DaF-Lerner beschränkt sein. Der Begriff wird vielmehr in Anlehnung an KÖPCKE / ZUBIN (1984, 28) auch in Bezug auf Muttersprachler verwendet: „Im Deutschen existieren zwischen Nomen und ihrer jeweiligen Genuszuweisung Korrelationen, die stark genug sind, um für den Sprecher des Deutschen als Basis für seine Hypothesenbildung bezüglich der korrekten Genuszuweisung dienen zu können“.
239
Faktoren der Genuszuweisung
There seems to be no practical criterion by which the gender of a noun in German, French or Latin could be determined.
Neuere Forschungsergebnisse der kognitiven Linguistik relativieren allerdings die Einschätzungen von JESPERSEN und BLOOMFIELD. Die Genuszuweisung erfolgt jedenfalls nicht vollständig arbiträr (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 136; 1984, 47 f.). Es können zwar keine festen Regeln, aber doch starke Tendenzen und Regelmäßigkeiten ausgemacht werden.446 So spielt die Lautgestalt des Wortes eine entscheidende Rolle für die Genuszuweisung. Bei einsilbigen Substantiven, die auf /kn-/ anlauten, liegt beispielsweise maskulines Genus vor (der Knauf, der Knopf, der Knall, der Knuff); „einzige Ausnahme ist das hochfrequente Substantiv Knie“ (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 136). KÖPCKE / ZUBIN (1983, 174–175; 1984, 31) können außerdem nachweisen, dass die Vergabe der Genuskategorie bei Kunstwörtern ebenfalls durch die Lautstruktur des Nomens beeinflusst wird. Die Ergebnisse sind mit dem Konnektionismus und dem Schemaansatz, wie er in Kapitel 3.3 vorgestellt wurde, vereinbar: Die hier vorgestellten ‚Prinzipien‘ vertragen sich problemlos mit einer Netzwerktheorie über das phonologische Lexikon, in der die Wortform entweder durch spezifische Aktivierungswege oder mehr oder weniger enge Nachbarschaft in Beziehung zu anderen Wörtern und Wortformen steht (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 137).
SCHWICHTENBERG / SCHILLER (2004, 334–336) zeigen ebenfalls anhand von Pseudowörtern, dass semantische Eigenschaften und Beziehungen der Substantive in einem Wortfeld einen großen Einfluss auf die Genusselektion ausüben. Dies deckt sich mit den Beobachtungen von ZUBIN / KÖPCKE (1986) und KÖPCKE / ZU447 BIN (1984, 36 f.). Oberbegriffe sind häufiger Neutra (Wasser, Auto, Getränk), so auch für domestizierte Tiere (KÖPCKE / ZUBIN 1983, 171): Oberbegriff
Grundbegriff (männlich)
Grundbegriff (weiblich)
das Pferd
der Hengst
die Stute
das Huhn
der Hahn
die Henne
das Rind
der Bulle
die Kuh
Grundbegriffe sind im semantischen Feld oft deutlich durch ein Genus bestimmt. Obstsorten sind in der Regel Feminina (Birne, Erdbeere, Banane). Unterbegriffe stehen häufig im Genus des Grundbegriffes. Bezeichnungen für Biersorten wie
446 Das bedeutet nicht, dass Genus mit Sexus gleichgesetzt werden darf (LEISS 1994, 297). 447 Die Untergliederung in Oberbegriffe („superordinate“), Grundbegriffe („basic-level“) und Unterbegriffe („subordinate“) geht auf ROSCH (1977, 31–32) zurück.
240
Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
Becks, Radeberger oder Augustiner sind Unterbegriffe und in der Regel Neutra wie auch der Grundbegriff Bier (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 138). Oberbegriff
Grundbegriff
Unterbegriff
das Getränk
das Bier
das Becks, das Augustiner, das Radeberger, das Rostocker
Entscheidend für die Genusentwicklung sind zudem die morphologischen Eigenschaften des Nomens. Von den schwach deklinierenden Substantiven aller Genera sind nur die Maskulina bei dieser Flexionsweise geblieben. Dabei ist der Einfluss der Semantik zu beachten. Die schwachen Maskulina verfügen sehr häufig über die semantischen Eigenschaften [+menschlich] oder zumindest [+belebt] (Prinz, Mensch, Bär).448 Zudem steht der nominalisierte Infinitiv immer im Neutrum (das Laufen, das Springen). Weitere morphologische Eigenschaften, die die Genuszuweisung beeinflussen, sind Pluralmorpheme (KÖPCKE / ZUBIN 1983, 171–172), Affixe und Konfixe (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 139). Genusbestimmend können auch Diminutivbildungen bei Eigennamen oder Personenbezeichnungen mit -chen oder -lein sein (der Fritz > das Fritzchen; die Schwester > das Schwesterchen). Im Folgenden sind einige Affixe aufgelistet, die ein bestimmtes Genus evozieren (Duden-Grammatik 2005, 165–167): Substantive mit den Suffixen -el, -er, -ant, -asmus, -ich, -ig, -ling sind Maskulina Substantive mit den Suffixen -ei, -enz, -ion, -in, -heit, -keit, -schaft sind Feminina Substantive mit den Affixen -chen, -ing, -ment, Ge-, -lein, -nis sind tendenziell Neutra Die sprachsystemischen Zusammenhänge der Genusentwicklung werden durch die Morphologie dominiert. Derivationssuffixe oder die Bestimmungswörter in substantivischen Komposita setzten sich gegenüber Anlautmustern oder der Einordnung eines Nomens als Unterbegriff durch. KÖPCKE / ZUBIN (1984, 28) sprechen vom „Letzt-Glied-Prinzip“, das sowohl „Kompositabildungen als auch Derivationssuffixe“ einschließt. „Die Dominanz der Morphologie verdunkelt in vielen Fällen die Wirkung semantischer Faktoren.“ (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 139) Für monomorphematische Nomina haben KÖPCKE / ZUBIN allerdings nachgewiesen, dass diese hochgradig phonologisch und semantisch motiviert sind. Die Häufigkeit, mit der Obstbezeichnungen auf -e auslauten (Aprikose, Banane, Feige, Kirsche usw.), kann als Musterbeispiel für die weitreichende Übereinstimmung zwischen phonologischer und semantischer Motivierung gelten. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse muss gefragt werden, warum die Arbitraritätsthese immer wieder so vehement vertreten wird. (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 139–140)
448 Vgl. zum Verhältnis von Genus und Deklinationsklassen auch KÖPCKE (2000).
Genus und seine Bedeutung
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Die Kategorie Genus erfüllt für die Sprecher/innen vermutlich vielfältige Funktionen. Welche Funktionen überwiegen, ist allerdings umstritten. KÖPCKE / ZUBIN (2009, 150–151) reihen eine Liste von Funktionen auf, die sie durch psycholinguistische Forschungen untermauert sehen: Die Kategorie Genus hilft beim Auffinden von Lexemen im mentalen Lexikon. Genus unterstützt den Disambiguierungsprozess für den Rezipienten. Für den Emittenten wird es einfacher, anaphorische und kataphorische Referenzen herzustellen. Genus hilft bei der Disambiguierung komplexer Nominalphrasen. Genus unterstützt die Klammerstruktur einer Phrase. Genus enthält auch Informationen für den Rezipienten, wie Komposita zu lesen sind (die Arbeit, der Arbeitsmarkt, das Arbeitsmarktgesetz). Genus hilf den Rezipienten, den „linken und rechten Rand der Phrase“ (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 151) zu identifizieren. Als eine populäre Fehlannahme wird hingegen in der deutschen Grammatikschreibung die laienlinguistisch etablierte und von der Feministischen Linguistik unterstützte Meinung angesehen, dass Genus als genuiner Sexusanzeiger fungiere bzw. Genus sogar aus Sexus abgeleitet worden wäre (LEISS 1994, 283). Im Folgenden wird das Verhältnis zwischen Genus und Sexus daher genauer untersucht. 5.2 GENUS UND SEINE BEDEUTUNG Sprachpolitische Maßnahmen, die sich gegen die Verwendung des generischen Maskulinums richten, sind durch die Annahme motiviert, dass Genus unsere Sexus- bzw. Genderassoziationen beeinflusst. „Der Zusammenhang von grammatischem Geschlecht und Bedeutung wird meist als Verhältnis von Genus und Sexus begriffen.“ (EISENBERG 2006b, 153) Das Deutsche verfügt über ein nominales grammatisches Geschlecht (Genus) mit der kategorialen Differenzierung in Neutrum, Femininum und Maskulinum, die auch auf Lebewesen angewendet werden (das Kind, der Mann, die Frau). Lebewesen verfügen über ein biologisches Geschlecht (Sexus).449 Sie sind in der Regel weiblich oder männlich. Die Gendertheorie geht zudem von variablen sozialen Geschlechtern aus, die sich in unserer Sozialisation herausbilden. Das soziale Geschlecht stimmt in den meisten Fällen allerdings mit Sexus überein, wenn man denn überhaupt die Existenz eines biologischen Geschlechts anerkennt.450 Nomina und Namen, die auf Lebewesen ver-
449 Von einigen Autor/inn/en – insbesondere denen der Genderlinguistik und feministischen Sprachkritik – wird Sexus längst nicht mehr rein biologisch gedeutet, sondern ebenfalls kulturspezifisch (vgl. hierzu auch KÖPCKE / ZUBIN 2012, 382). 450 Gegen die Existenz eines biologischen Geschlechts spricht sich beispielsweise die Philosophin BUTLER (2012a; 2012b) aus.
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
weisen, konvergieren451 häufig in Sexus und Genus (der Mann, die Frau, der Stier, die Kuh), die Korrelation trifft allerdings nicht in allen Fällen zu (die Wache, der Groupie, das Mädchen). 5.2.1 Kongruenz oder Konvergenz Im Falle von das Mädchen liegt eine Genus-Sexus-Divergenz vor. Das biologische bzw. soziale Geschlecht von Mädchen ist weiblich, das grammatische Geschlecht allerdings Neutrum. Das Genus steht in Abhängigkeit zum Ableitungssuffix -chen (EISENBERG 2006b, 154; DAHL 1999, 111).452 Genus, Sexus und Gender lassen sich nur bedingt systematisch aufeinander beziehen (EISENBERG 2006b, 156; BÄR 2004, 156–157; ENGEL 2004, 272). Die Duden-Grammatik (2005, 155–156) unterscheidet im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Genus und Sexus bei Personenbezeichnungen drei Klassen. In der Klasse A sind Utra, die sich unabhängig von ihrem Genus auf beide Sexuskategorien beziehen können: der Mensch, das Kind, die Person. Die Klasse B setzt sich aus Substantiven zusammen, die immer sexusspezifisch sind: der Mann, die Frau, der Herr, der Junge, die Dame, die Amme. In der Klasse C stehen Maskulina und aus Maskulina movierte feminine Ableitungen: Student und Studentin, Schüler und Schülerin, Freund und Freundin. Die abgeleiteten Feminina können sich aus markiertheitstheoretischen Gründen bisher nur auf weibliche Personen beziehen, wohingegen die Maskulina spezifisch für männliche Personen sowie generisch – also für weibliche als auch für männliche Personen – gebraucht werden können (ULRICH 1988).453 Die Genuskategorie der Substantive sollte in der Regel kongruent auf die Flexion der (attributiven) Adjektive, Artikel und Pronomen übertragen werden. FRITZ (1998, 258) unterscheidet drei Arten von Kongruenz: a) attributive Kongruenz, b) prädikative Kongruenz und c) anaphorische Kongruenz. Der Zwang zu einer von der Grammatik gesteuerten Kongruenz verliert allerdings an Wirkmächtigkeit, je weiter das Bezugsnomen von seinem Kongruenten entfernt steht. Insbesondere bei 451 Die Begriffe Genus-Sexus-Konvergenz und Genus-Sexus-Divergenz werden hier in Anlehnung an THURMAIR (2006) verwendet. Konvergenz und Divergenz bezeichnen demnach die Übereinstimmung und Nicht-Übereinstimmung zwischen Genus und Sexus. Der Begriff Kongruenz wird nur für die Übereinstimmung grammatischer Kategorien verwendet. 452 Vgl. auch Formen wie das Frauchen oder das Herrchen bzw. Ableitungen mit -lein, -le oder -el wie das Männlein, das Mädel, das Spatzel. 453 In den letzten Jahren hat sich ein durch die feministische Sprachkritik initiierter Wandel vollzogen. In der Grundordnung der Universität Leipzig, die am 6. August 2013 in Kraft getreten ist, werden nun beispielsweise sogenannte generische Feminina (SAMEL 1995, 74–76) wie Professorin kreiert, die sich sowohl auf weibliche als auch auf männliche Professoren beziehen (Pressemeldung der Universität Leipzig 2013/178). In einer Fußnote der Grundordnung wird darauf verwiesen, dass mit dem Femininum auch Männer gemeint sind.
Genus und seine Bedeutung
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der anaphorischen Kongruenz können Abstände auch über die Nominalphrase oder die Satzgrenze hinaus bestehen. Die Entfernung zwischen Kongruent und Bezugsnomen ist ein wichtiger Faktor für die Zuverlässigkeit der grammatischen Bindung der beiden Bezugselemente. Semantische und pragmatische Einflüsse nehmen bei größerer Entfernung zu. Die Kongruenz wird dann nicht über die grammatische Ebene, sondern über die begriffliche Ebene als Konvergenz hergestellt. „Ein Pronomen etwa kann, außer anaphorisch auf sein Bezugsnomen zu verweisen, auch auf sein Designatum referieren, indem es deiktisch auf dessen wirklich anwesendes Gegenstück hinweist.“ (FRITZ 1998, 258) Wie schon bei der Genuszuweisung treten hier mehrere Einflussfaktoren in Konkurrenz zueinander. Insbesondere bei anaphorischer Kongruenz kann sich häufig Sexus bzw. Gender als semantische Eigenschaft gegenüber Genus durchsetzen. Das Weib macht mich noch verrückt. Sie hat mal wieder den Klodeckel nicht runtergeklappt. Das Weib macht mich noch verrückt. Es hat mal wieder den Klodeckel nicht runtergeklappt. Diesem Befund trägt beispielsweise CORBETT (2006, 35–70) Rechnung, indem er zwischen Controller und Target unterscheidet. Target ist das Element, das eine Kongruenzmarkierung verlangt. Controller ist das Element, das die Kongruenzbeziehung kontrolliert. Im Beispiel ist das zu wählende Pronomen das Target, das in a) durch den pragmatischen Controller [+weiblich] und in b) durch den grammatischen Controller [+neutrum] ausgelöst wurde. Im Fall von a) sprechen KÖPCKE / ZUBIN (2009, 141) von pragmatischer Kongruenz, im Fall von b) von grammatischer Kongruenz. Konflikte zwischen pragmatischer und grammatischer Kongruenz können bei allen drei Genera auftreten. Sofern das Target unmittelbar neben dem kontrollierenden Nomen steht, erscheint pragmatische Kongruenz selten […] Die relativen Häufigkeiten verändern sich jedoch in Abhängigkeit von der Komplexität der Phrase und der linearen Distanz zwischen Auslöser [Controller; LB] und Target. (KÖPCKE / ZUBIN 2009, 141)
Diese Ergebnisse werden auch durch THURMAIR (2006) und OELKERS (1996) bestätigt. Ihre empirischen Untersuchungen zeigen, dass die Sprecher/innen insbesondere bei der anaphorischen Wiederaufnahme von Nomina in Form von Pronomen vom grammatischen Geschlecht der Bezugsnomina abweichen (THURMAIR 2006; OELKERS 1996).454 Diese Beobachtungen sprechen durchaus für eine dem Schema-Ansatz und dem Konnektionismus entsprechende Sprachverarbeitung. Je 454 OELKERS (1996) geht von einem direkten Zusammenhang zwischen Genus und Sexus aus. Der Rezipient assoziiert, je öfter anaphorisch verwiesen werden muss, das natürliche Geschlecht. OELKERS (1996, 4) formuliert und überprüft folgende Regel: „Die Genusmarkierung anaphorischer Pronomen korrespondiert mit dem Geschlecht der bezeichneten Person“. Ihre Ergebnisse legen nahe, dass die Konvergenz dominiert. Es bestehen allerdings erhebliche Unterschiede, wenn die Nah- und Fernkongruenz in Bezug auf verschiedene Pronomenkategorien (Relativ-, Personal- und Possessivpronomen) berücksichtigt werden.
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
nach Kontext konkurrieren Kongruenz, nämlich die grammatische Kongruenz nach Genus, und Konvergenz, die pragmatische (semantische) Kongruenz nach Sexus. Von verschiedenen Einflussfaktoren ist abhängig, welches Muster in welcher Situation dominant ist und damit aktiviert wird. Die Zuweisung und Reproduktion ist nicht fest, unterliegt aber doch gewissen Bedingungen. Die Kongruenz- oder Konvergenzsetzung nach Genus oder Sexus erfolgt somit dynamisch und ist von verschiedenen Selektionsfaktoren wie der Entfernung zwischen Controller und Target, der Äußerungssituation, der Textsorte, Frequenzeffekten usw. abhängig.455 Die Vergabe von Genus ist somit viel stärker durch pragmatische Faktoren bestimmt, als insbesondere von der strukturalistischen Linguistik bisher eingestanden wurde.456 5.2.2 Genus-Sexus-Reanalyse In der Grammatikschreibung des 20. Jahrhunderts hat sich ferner die Lehrmeinung durchgesetzt, dass – außer bei Menschen- und Tierbezeichnungen – kein historischer Zusammenhang zwischen Genus und Sexus bestünde. Diese Meinung wurde aber nicht immer vertreten. Viele berühmte Sprachwissenschaftler, darunter u. a. auch JACOB GRIMM und HERMANN PAUL, haben die Entstehung und Entwicklung des Genus aus dem Sexus heraus begründen wollen. IRMEN / STEIGER (2005, 223) charakterisieren die Genus-Sexus-Debatte daher als Dichotomie: „formales vs. sexusbezogenes Genus“. Die Gleichsetzung von Genus und Sexus bzw. Gender – also die Verknüpfung von grammatischen und semantischen Eigenschaften – lässt sich bis zu ADELUNG, WILHELM VON HUMBOLDT und JACOB GRIMM zurückverfolgen.457 Exemplarisch sei hier GRIMM zitiert, den IRMEN / STEIGER (2005, 220) „zum Hauptvertreter einer androzentrischen Grammatiktheorie“ erklären: Das grammatische Genus ist eine in der phantasie der menschlichen sprache entsprungene ausdehnung des natürlichen auf alle und jede gegenstände. Durch diese wunderbare operation haben eine menge von ausdrücken, die sonst todte und abgezogene begriffe enthalten, gleichsam leben und empfindung empfangen, und indem sie von dem wahren geschlecht formen, bildungen, flexionen entlehnen, wird über sie ein die ganze sprache durchziehender reiz von bewegung und zugleich bindender verknüpfung der redeglieder unvermerkt ausgegoßen (GRIMM 1831, 346).
455 Es spielt vermutlich auch eine Rolle, ob ein morphosyntaktischer oder lexikosyntaktischer Bezug besteht (BÄR 2004, 153). 456 THURMAIR (2006, 218) sieht sogar „eine starke Tendenz zu sexuskonvergenten Pronominalformen“, wovon Artikel und Relativpronomen ausgenommen sind. 457 BÄR (2004, 160–162) zeigt, dass auch JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744–1803) und die deutschen Romantiker wie z. B. AUGUST WILHELM VON SCHLEGEL (1767–1845) oder der Idealist FRIEDRICH W. J. VON SCHELLING (1775–1854) eine ähnliche Position vertraten.
Genus und seine Bedeutung
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GRIMM postuliert weiterhin, dass die Struktur der Sprache die Ordnung der natürlichen Dinge und damit die Subordination der Frau unter den Mann widerspiegele.458 Wenn man auch hierin keine bestärkung der mythe, daß die frau aus dem mann geschaffen worden ist, finden mag, so läßt sich doch selbst aus diesem zug der sprache die abhängigkeit des weibes von dem mann folgern. (GRIMM 1831, 347–348)
GRIMM (1831, 358–359) beschreibt die Genera des Deutschen daran anschließend folgendermaßen, wohlwissend, dass die Unterscheidung nicht auf alle Fälle zutreffen wird: Es darf folgender grundsatz gestellt werden, der aber seiner allgemeinheit wegen zur entscheidung einzelnen fälle nur behutsam gebraucht werden kann: das masculinum scheint das frühere, größere, festere, sprödere, raschere, das thätige, bewegliche, zeugende; das femininum das spätere, kleinere, weichere, stillere, das leidende, empfangende; das neutrum das erzeugte, gewirkte, stoffartige, generelle, unterentwickelte, collective.
Aber nicht nur GRIMM hat die Kategorie Genus sexualisiert. PAUL (1880/1975, 263–264) schreibt beispielsweise: Die Basis für die Entstehung des grammatischen Geschlechts bildet der natürliche Geschlechtsunterschied der menschlichen und tierischen Wesen. Wenn außerdem noch andere Wesen, auch Eigenschafts- und Tätigkeitsbezeichnungen ein männliches oder weibliches Geschlecht beigelegt wird, so ist das eine Wirkung der Phantasie, welche diese Wesen nach Analogie der menschlichen Persönlichkeit auffasst. Aber weder das natürliche Geschlecht noch das der Phantasie ist an und für sich etwas Grammatisches.
Diese Sexualisierung der Grammatik durch GRIMM und PAUL ist genauso dem Zeitgeist des 19. Jahrhundert geschuldet (LEISS 1994, 294), wie sie aus dem heutigen Zeitgeist und den Forderungen der Feministischen Linguistik abgeleitet werden kann. „Die Feministische Linguistik hat in Deutschland von Anfang an die Position bezogen, daß Genus sehr viel mit Sexus zu tun habe. Die gegenteilige Behauptung oder der Versuch, diese Gleichsetzung zu relativieren, wurde vehement abgelehnt.“ (LEISS 1994, 282) LEISS (1994, 282) warnt die feministische Sprachkritik davor, die Argumentationsmuster der chauvinistischen Linguistik des 18. und 19. Jahrhunderts zu übernehmen. Sowohl JACOB GRIMM als auch die Feministische Linguistik behaupten, dass Genus im Laufe der Sprachgeschichte aus Sexus abgeleitet wurde; Genus also dazu diene, die Kategorien [+männlich], [+weiblich] und [ungeschlechtlich] abzubilden. Dieser Auffassung hat schon der Indogermanist und Junggrammatiker KARL BRUGMANN widersprochen, der vielmehr die These vertritt, dass Sexus von den Sprecher/inne/n aus Genus abgeleitet wurde und Genus zunächst eine rein grammatische Kategorie war (LEISS 1994, 289).459 LEISS (1994, 291) formuliert in Anlehnung an die vergessenen Ergebnisse
458 Beispiele für diesen Zirkelschluss auch bei anderen Autoren des 19. Jahrhunderts finden sich bei IRMEN / STEIGER (2005, 222). 459 Zur Kategorie Genus im Althochdeutschen vgl. FROSCHAUER (2003) und HAJNAL (2002).
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
von Brugmann einen Hinweis, welche Funktion die Kategorie Genus Femininum zunächst erfüllte: Untersucht man all die Wörter in den indoeuropäischen Sprachen, die auf die ‚femininum‘ -abzw. -ie- (-i)-Suffixe enden, läßt sich als ursprüngliche Funktion dieser Suffixe die Bildung von Kollektiva und Abstrakta ermitteln.460
Genus diente zunächst zur Unterscheidung von [+belebt] und [-belebt]. Diese Vermutung wird auch durch die Arbeiten von FRITZ (1998, 261) und DAHL (1999, 113) gestützt. EISENBERG (2006b, 154) zieht daher die Schlussfolgerung, dass in der linguistischen Forschung vielfach die Auffassung vertreten wird, „dass die Grundklassifikation bei der Entstehung des Genus die nach Belebtheit ist. In unseren Genuskategorien ausgedrückt, führt dies zur Unterscheidung von Maskulinum und Neutrum. Ein drittes Genus, also das Femininum, etabliert sich dann unterhalb dieser Grundklassifikation zur Bezeichnung von Kollektiva und Abstrakta“.461 Die möglichen Zusammenhänge zwischen Genus und Sexus werden also a) einerseits – wie im Fall von GRIMM und PAUL – aus der angenommenen zeitlich früheren Kategorie Sexus motiviert oder b) andererseits – wie die strukturalistische Grammatik in der Tradition von BRUGMANN – aus grammatischen Markern abgeleitet, die dann von der Sprachgemeinschaft reanalysiert wurden: a) Sexus führt zur Herausbildung der Kategorie Genus b) Die Kategorie Genus wird als Sexusanzeiger reanalysiert Die Übersetzung des Begriffes Genus durch den Ausdruck Grammatisches Geschlecht mag die Reanalyse unterstützt haben. Die Implikation einer sexusorientierten Zuordnung durch den Begriff Geschlecht liegt nahe (IRMEN / STEIGER 2005, 217). LEISS (1994, 289) stellt die Etymologie des Begriffes richtig: „Genus bedeutet ‚Art‘ oder ‚Gattung‘ und hat nichts mit Geschlecht im Sinne von Sexus zu tun“.462 Die Übersetzung des lateinischen Begriffes ‚genus‘ mit ‚Geschlecht‘ im 17. Jahrhundert beinhaltet noch nicht die Bedeutung von Sexus, wie NAUMANN (1986, 185) feststellt:
460 LEISS (1994, 293) verweist darauf, dass die Beziehungen zwischen Kollektiva, Abstrakta und Genus Femininum auch den Vertretern der Sexualisierungsthese bekannt waren, diese aber wiederum für die eigenen Annahmen funktionalisiert wurden. Wie LEISS zeigt, werden beispielsweise Abstrakta einfach weibliche Eigenschaften zugesprochen. 461 FRITZ (1998, 256–262) stellt den Zusammenhang anders und differenzierter dar. Ein dezidiertes Genus Maskulinum bildet sich erst nach der Entstehung von Genus Femininum heraus. Auch die Gleichsetzung von [+belebt] = maskulin und [–belebt] = neutrum erscheint problematisch. Die Bezeichnung weiblicher Lebewesen spielt bei der Entstehung Genus Femininum durchaus eine entscheidende Rolle. Die Entstehung von Genus Femininum kann durchaus als Reanalyseprozess gedeutet werden. 462 DOLESCHAL (2002, 44) hat in ihrer Untersuchung von Grammatiken aus der Zeit der Renaissance festgestellt, dass Genus in dieser Zeit durchaus mehr als nur ‘Art’ oder ‘Gattung’ bezeichnen konnte. Die Lesart von Genus als ‚Art‘ bzw. ‚Gattung‘ „hat sich in der BasisTerminologie der Zoologie und Botanik erhalten“ (BUSSMANN 2005, 486).
Genus und seine Bedeutung
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Die Übersetzung ‚Geschlecht‘ aus Genus bedeutet bei Schottel noch so etwas wie ‚Art‘ oder ‚Gattung‘, aber nicht Sexus. Noch deutlicher wird das bei Gueintz, der trotz seiner fünf Genera ebenfalls die Übersetzung ‚Geschlecht‘ für Genus gewählt hatte […]. Bei diesem Ansatz kann der Terminus ‚Geschlecht‘ keine Sexuskonnotationen haben.
Wie bereits angedeutet wurde, geht die Grammatikschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg wieder davon aus, dass Genus und Sexus zunächst ganz unterschiedliche Kategorien sind, die in keinem Eins-zu-eins-Verhältnis stehen und auch nicht übertragen werden sollten (LEISS 1994, 297; DOLESCHAL 2002, 59).463 Dennoch kann eine Sexualisierung der Kategorie Genus – sowohl durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Denker des 17. und 18. Jahrhunderts als auch durch die Kritik der Feministischen Linguistik – durch die Sprachgemeinschaft nicht gänzlich von der Hand gewiesen werden. Obwohl die starke Sapir-WhorfHypothese heute von den meisten Linguisten abgelehnt wird, sprechen einige Evidenzen dafür, das Sprechen und Denken einen wechselseitigen Einfluss aufeinander haben. 5.2.3 Sexus- bzw. Genderassoziationen Die empirische Beweisführung, dass ein direkter Einfluss der Sprachstruktur auf das menschliche Denken und seine Assoziationen besteht, ist für die Feministische Linguistik und Genderlinguistik deswegen von so großer Bedeutung, weil dies ihre Behauptung stützen würde, dass generischen Maskulina mehr an Frauen denken lassen als an Männer. BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS (2003) haben in diesem Zusammenhang eine vielbeachtete Assoziationsstudie durchgeführt. Sie haben herausgefunden, dass das Genus von unbelebten Objekten die Assoziationen der Probanden beeinflusst. Deutsche Teilnehmer/innen wurden beispielsweise gebeten, die ersten drei Adjektive, die ihnen zu einem Objekt einfallen, auf Englisch (einer genusneutralen Sprache) niederzuschreiben (BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS 2003, 69). Die Befragten haben einen Schlüssel zum Beispiel als „hard, heavy, metal, and serrated“ (BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS 2003, 70) beschrieben. Anschließend bewerteten englische Muttersprachler die Adjektive danach, ob sie feminine oder maskuline Eigenschaften des Objekts erfassen. Das Ergebnis zeigte: „adjectives that were rated more masculine for items whose names [in German; LB] were grammatically masculine“ (BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS 2003, 70). Die Studie wurde auch mit spanischen Probanden durchgeführt. Es wurden allerdings Objekte gewählt, deren Bezeichnungen im Spanischen ein maskulines Genus aufweisen und im Deutschen ein feminines Genus und vice versa. Das gleiche Objekt, das beispielsweise von den Deutschen mit maskulinen Adjektiven beschrieben wurde, bekam von den Spaniern feminine Adjektive zugeordnet. 463 Diese Tendenz findet sich auch in der Grammatikschreibung der DDR. Für einen kurzen Überblick vgl. DOLESCHAL (2002, 59).
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen [O]ne possibility is that, depending on grammatical gender, different (stereotypically masculine or feminine) aspects of objects may become more or less salient in the representation of those objects. For example, if the noun that names a toaster is masculine, then perhaps its metallic and technological properties may become more salient; but if the noun is feminine, then perhaps its warmth, domesticity, and ability to provide nourishment are given more importance. (BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS 2003, 69)
Die Studie von BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS (2003) unterstützt die von der feministischen Sprachkritik behauptete Ansicht, dass generische Maskulina eher auf Männer verweisen würden. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass Genus als Sexus bzw. Genderanzeiger reanalysiert wird. KÖPCKE / ZUBIN (2012, 405) haben anhand von Personifizierungen von eigentlich unbelebten Referenzobjekten in der Kunst und in Werbetexten gezeigt, dass Genus häufig post hoc sexualisiert wird, um im Kontext einen bestimmten Effekt wie Affektreaktionen zu erzielen.464 Mit den Ergebnissen von KÖPCKE / ZUBIN (2012) müssen die Ergebnisse von BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS (2003) zumindest relativiert werden. Nicht alle unbelebten Referenzobjekte werden zwingend konzeptuell sexualisiert. Auch wurden in der Studie von BORODITSKY / SCHMIDT / PHILLIPS (2003) keine generischen Maskulina untersucht. Zudem ziehen KÖPCKE / ZUBIN (2012, 408) das Fazit, dass die „Lexikalisierung alltäglicher Konzepte“ scheinbar „nicht durch eine sexusbasierte Alltagsmythologie ausgelöst“ wurde. Die empirische Erforschung des Einflusses des generischen Maskulinums auf unsere Assoziationen begann in den 1980er Jahren. STAHLBERG et al. (2007, 171– 180) bieten einen guten Forschungsüberblick. Im Folgenden wird insbesondere auf die Assoziationsstudie von BRAUN et al. (1998) eingegangen, da BÜLOW / HARNISCH (im Erscheinen) auf der Grundlage dieser Methode eine ähnliche Assoziationsstudie durchgeführt haben. BRAUN et al. berücksichtigen im Gegensatz zu vorherigen Studien (IRMEN / KÖHNCKE 1996; SCHEELE / GAULER 1993) Ko(n)textfaktoren. Zunächst wurden Tests durchgeführt, um herauszufinden, welche Domänen innerhalb unserer Gesellschaft als typisch weiblich oder männlich gelten. So konnten typisch männliche und typisch weibliche Kontexte erzeugt werden. „In beiden Experimenten wurden den Vpn Texte, die wie Zeitungsartikel gestaltet waren, über einen wissenschaftlichen Kongreß (Experiment I) bzw. ein Sportverbandstreffen (Experiment II) in den verschiedenen Formulierungsvarianten vorgelegt.“ (BRAUN et al. 1998, 271) Insgesamt wurde zwischen drei Formulierungsvarianten unterschieden (BRAUN et al. 1998, 270): generisches Maskulinum (z. B. Student, Sportler) Neutralform (z. B. Studierende, sportlich Aktive) Beidnennung (z. B. Studentinnen und Studenten, Sportlerinnen und Sportler) 464 Ein aktuelles Beispiel für die post hoc Sexualisierung von Genus findet sich in der Werbung von Land Rover (2013 „Familiengeschichten“). Die Automarke Land Rover hat Genus Maskulinum. Die Sprecherstimme aus dem Off wirbt mit folgender Botschaft: „Wie der Vater so die Söhne“.
Genus und seine Bedeutung
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Nachdem die Versuchspersonen die Zeitungsartikel gelesen hatten, sollten sie bewerten, wie hoch der Frauen- und Männeranteil jeweils sei. Prognostiziert worden war ein kontinuierlicher Anstieg des geschätzten Frauenanteils über die Sprachbedingungen hinweg vom Maskulinum über Neutralformen bis zur Beidnennung. (BRAUN et al. 1998, 274)
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass der Kontext einen deutlichen Einfluss auf die Antworten der Versuchspersonen hatte. Weiterhin wurde festgestellt, dass Beidnennungen mehr Frauen assoziieren als generische Maskulina oder Neutralformen.465 Die Rolle des generischen Maskulinums darf dabei aber nicht überbewertet werden. Zum einen zeigen die Ergebnisse große Schwankungen im geschätzten Frauenanteil. Dies führen BRAUN et al. (1998, 281) selbstkritisch darauf zurück, dass sich „mit der Wahl eines wissenschaftlichen Kongresses bzw. eines Sportverbandstreffens ein weiterer Kontexteffekt ‚eingeschlichen‘ [hat], der die Assoziation ‚männlich‘ verstärkt haben könnte“. Zum anderen wurde in Experiment I in der Variante mit dem generischen Maskulinum ein höherer Frauenanteil assoziiert als bei der Neutralform. Aus diesem Befund ziehen BRAUN et al. (1998, 281) den Schluss: Eine neutrale Formulierung stellt dagegen keine Alternative zum generischen Maskulinum dar, da sie kaum eine Steigerung der Assoziation ‚weiblich‘ bewirkt. Wenn Sprache als Mittel der Gleichstellung genutzt werden soll, bietet sich demnach die Beidnennung als geeignete Strategie an.
Da die Splitting-Syntagmen allerdings in Texten „schwerfällig“ und „schwer verständlich“ wirken, empfehlen die Autorinnen auf Schreibungen wie SportlerInnen zurückzugreifen. BÜLOW / HARNISCH (im Erscheinen) haben in ihrer breit angelegten Assoziationsstudie, die sich an der von BRAUN et al. (1998) orientiert (aber nominalisierte Partizipien wie die Studierenden und der Studierende getestet), gezeigt, dass das generische Maskulinum – mit und ohne Partizipialsuffix (der Studierende, die Studenten) – kaum einen Einfluss auf die Assoziationen hat. Relevant ist vielmehr der Ko(n)text, in dem die Stimuli präsentiert wurden. Es wurde letztlich kein signifikanter Unterschied zwischen genusindifferenten nominalisierten Partizipien im Plural (die Studierenden), generisch-maskulinen nominalisierten Partizipien im Singular (der Studierende) und traditionellen generischen Maskulina (die Studenten, der Student) gefunden. Die Befunde weisen vielmehr darauf hin, dass Männer und Frauen in neutralen Kontexten durch alle drei Formvarianten gleichermaßen (also zu ca. 50 %) assoziiert werden. In männlichen Kontexten werden hingegen mehr Männer (ca. 64 %) als Frauen (ca. 36 %) assoziiert. Der Anteil an assoziierten Männern und Frauen weicht aber bei den genusindifferenten (35,7 % Frauen / 64,3 % Männer) und den generisch-maskulinen nominalisierten Partizipien (37 % Frauen / 63 % Männer) nicht signifikant voneinander ab. 465 Ähnliche Ergebnisse haben SCHEELE / GAULER (1993, 70–72) erzielt.
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
Im Folgenden wird erläutert, warum BÜLOW / HARNISCH (im Erscheinen) eine Assoziationsstudie zu nominalisierten Partizipien durchgeführt haben. Vorausgegangen war die Beobachtung, dass das Partizipialsuffix -end von den Sprecher/inne/n als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch reanalysiert wurde. Der Funktionszugewinn des Partizipialsuffixes ist ein Exaptationsprozess im evolutionären Sinne. 5.3 WANDEL UND BEHARRLICHKEIT IM GEBRAUCH DES GENERISCHEN MASKULINUMS Die Feministische Linguistik stützt sich auf die These, dass Sprache die soziale Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern auch mitkonstruiert.466 Daher möchte sie „über eine Veränderung der Sprache auf Änderungen in gesellschaftlichen Strukturen hinwirken (z. B. durch die Nennung weiblicher Formen wie Studentinnen und Studenten)“ (MONDORF 2005, 5).467 Da sich im Sprachgebrauch aber bisher das generische Maskulinum als ökonomische Lösungsstrategie durchgesetzt hat,468 soll durch sprachpolitische Maßnahmen und Anreizsysteme der Sprachgebrauch und damit auch das Denken der Menschen beeinflusst werden. HORNSCHEIDT (2006, 288) versteht dies als „eine Form des geplanten, strategischen und beabsichtigten Sprachwandels“, der „unter Sprachplanungsbemühungen subsumiert werden“ muss. Dass Anreizsysteme auf der sprachlichen Ebene funktionieren, zeigen verschiedene sprachpolitische Initiativen. Seit den 1980er Jahren werden von öffentlichen und nicht-öffentlichen Institutionen Richtlinien für gendergerechtes Sprechen und Schreiben erarbeitet, die mehr oder weniger in diesen Institutionen durchgesetzt werden. Dazu gehört in der Regel die Empfehlung, auf generische
466 Auch BUSSMANN (2005, 484) verweist auf die doppelte Funktion von Sprache. Einerseits spiegle die Sprache soziale Verhältnisse wider, andererseits sei sie ein zentrales Medium zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit, „ein diskursives Instrument gesellschaftlichen Handelns“ (HELLINGER 2004, 276). 467 Ziel der Kritik ist insbesondere die öffentliche Schriftsprache. „Gleichwohl erhoffen sich die Verfasserinnen von Empfehlungen auch Auswirkungen auf den privaten Sprachgebrauch.“ (HELLINGER 2004, 275) 468 Zur Verwendung und Vorkommen des generischen Maskulinums im Mhd. und Frnhd. gibt es bisher keine aussagekräftigen quantitativen sprachhistorischen Untersuchungen (IRMEN / STEIGER 2005, 230). Belege für eine Existenz des generischen Maskulinums in dieser Zeit zeigt beispielsweise DOLESCHAL (2002, 65). HARNISCH (2009) exemplifiziert anhand der generischen Verwendung des Maskulinums und Singulars wer, dass generische Maskulina durchaus sprachökonomisch und mit pragmatischem Sprachverhalten erklärt werden können. Eine andere Position vertreten IRMEN / STEIGER (2005, 213), die aus den Ergebnissen von psycholinguistischen Untersuchungen in Bezug auf Personenbezeichnungen schlussfolgern, dass das generische Maskulinum nicht sprachökonomisch verstanden werden könne.
Wandel und Beharrlichkeit im Gebrauch des generischen Maskulinums
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Maskulina zu verzichten. Die feministische Sprachkritik469 unterstellt, dass generische Maskulina eher auf Männer als auf Frauen verweisen. Das generische Maskulinum sei zudem ein Ausdruck von Sexismus (HELLINGER 2004, 282). Es wird postuliert: Bei diesen Formulierungen kämen Frauen sprachlich nicht vor, sie seien ‚nicht erwähnt, einfach nicht genannt, nicht beachtet, übersehen und ignoriert‘, auch wenn man behauptet, sie seien selbstverständlich mitgemeint, da ‚die maskuline Bezeichnung sowohl für Frauen als auch für Männer zutreffend, also neutral‘ [statt neutral wäre generisch wohl die passendere Bezeichnung; LB] sei. (ULRICH 1988, 384)
Die Befürworter der Auffassung, dass das generische Maskulinum neutral – weil eben generisch – wäre, verweisen auf das Markiertheitskonzept, wie es in Kapitel 4.2 vorgestellt wurde. ULRICH (1988, 385) kommt beispielsweise zu dem Schluss, dass die Vorwürfe der feministischen Sprachkritik „empirisch und theoretisch“ nicht „stimmen“, „eine Benachteiligung (von wem auch immer) durch die Sprache als solche ist kaum vorstellbar“. Sie zeigt beispielsweise, dass die Sprache auch in anderen Bereichen als der Personenbezeichnung generisch sein kann.470 So referiert eine Singularform Türke wie in der Türke steht vor Wien nicht nur auf einen Türken. „Das gleiche gilt nun mutatis mutandis für die Opposition männlich/weiblich in Fällen wie Student-Studentin, Lehrer-Lehrerin, Bauer-Bäuerin“ (ULRICH 1988, 391). In sprachlichen Gegenüberstellungen kann die unmarkierte Form generisch sein (Jurist kann sowohl für ‘Jurist’ [-weiblich] als auch ‘Juristin’ [+weiblich] und für beides gleichzeitig stehen). Die markierte Form (Juristin) ist hingegen positiv und ausschließlich „Terminus der Opposition“ (ULRICH 1988, 391).471 „Am wenigsten aber dürften Frauen sich durch den Gebrauch des Maskulinums in Neutralisierungsfällen benachteiligt […] fühlen. Denn in solchen Fällen ist eben der feminine Terminus der Opposition markiert, […], das heißt sprachlich positiv, […].“ (ULRICH 1988, 398) Die Bildungen mit dem Movierungssuffix -in für [+weiblich] sind zudem Ableitungen des in der Regel maskulinen Archilexems. ULRICH (1988, 399) ist grundsätzlich darin zuzustimmen, dass die generische Verwendung von Sprache „ein allgemeines Strukturierungsprinzip logischer Natur“ ist und dass das „Maskulinum, das aufgrund dieses allgemeinen Prinzips auch auf weibliche Wesen bezogen wird, […] nicht geschlechtsspezifisch, son-
469 MONDORF (2005, 5) bemerkt selbstkritisch: „Trotz ihres großen Einflusses liegt ein Forschungsdesiderat dieser Disziplin nach wie vor darin, mittels unabhängiger Evidenz nachzuweisen, dass die Verwendung weiblicher Formen einen Einfluss auf die Wahrnehmung oder das Gemeintsein von Frau hat. Auch hier wird dieser Nachweis nicht erbracht“. 470 Einen Überblick über verschiedene Aspekte der Generizität in der Sprache gibt ein Sammelband von MARI / BEYSSADE / PRETE (2013). 471 In mehrgliedrigen Oppositionen wie in der Student/die Studentin ist in der Regel ein Oppositionsglied weniger ausdrucksseitig markiert „und daher extensiv, die übrigen sind in der Regel alle markiert und intensiv […]. Der merkmallose Terminus solcher Oppositionen kann folglich auch die unmarkierten Termini vertreten, nicht aber umgekehrt“ (ULRICH 1988, 392).
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
dern geschlechtsneutral“ verwendet werden kann.472 Die generische Verwendung des Maskulinums findet sich immerhin in fast allen bekannten Genussprachen (BUSSMANN 2005, 503). Diese Sichtweise hat sich in der sprachpolitischen Diskussion zum generischen Maskulinum allerdings nicht durchsetzen können. Die Befürchtung der Feministischen Linguistik, Frauen könnten durch das generische Maskulinum im Gegensatz zu femininen Formen weniger assoziiert sein, hat sich in psycholinguistischen Untersuchungen bestätigt.473 Seither wird empfohlen, maskuline Berufs-, Personen- und Funktionsbezeichnungen zu vermeiden, insbesondere wenn eine Frau gemeint ist. Um die sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern sicherzustellen, soll vor allem bei der Verwendung von Personenbezeichnungen darauf geachtet werden, Frauen in der Sprache sichtbar zu machen. (Universität Passau 2013, 1)
Dabei sollen die Kommunizierenden darauf achten, die verschiedenen Möglichkeiten der Umsetzung gendergerechter Sprache so einzusetzen, dass die Texte verständlich und lesbar bleiben. „‚Verständlich und lesbar‘ heißt, dass sich die gewählten Formulierungen so wenig wie möglich vom allgemeinen Sprachempfinden und vom bisherigen Sprachgebrauch entfernen, weil sich sonst Lesewiderstände aufbauen.“ (Universität Passau 2013, 1) Es wird von den Verfasser/inne/n ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das generische Maskulinum als Lösung abgelehnt wird, da diese „wie wissenschaftlich erwiesen wurde – faktisch nicht als geschlechtsunabhängig interpretiert“ (Universität Passau 2013, 1) werden. Von einer generellen Verwendung von sogenannten Sparschreibungen, die sowohl auf Frauen als auch auf Männer rekurrieren, wird ebenfalls abgeraten, da Formen wie der/die Schüler/in, der/die Schüler/-in, der/die SchülerIn, der/die Schüler*in, der/die Schüler_in oder der/die Schüler(in) „der Barrierefreiheit widersprechen: Texte müssen z. B. im Internet von einem Vorleseprogramm automatisch gesprochen werden können. Generell werden in fortlaufenden Textpassagen keine Kurzformen verwendet“ (Universität Passau 2013, 2). Eine Möglichkeit den Schwierigkeiten mit dem generischen Maskulinum aus dem Weg zu gehen, ist es, substantivierte Partizipialausdrücke474 zu wählen (studier-end > Studier-end-e), die sich flexivisch wie Adjektive verhalten und im Plural genusneutral sind und generisch für Frauen und Männer gebraucht werden (ein studierend-er Mann vs. eine studierend-e Frau / viele studierend-e Männer/Frauen)475. Im Singular weisen 472 Dies wird außerdem durch neuere empirische Studien gestützt (BÜLOW / HERZ 2015; BÜLOW / HARNISCH im Erscheinen). 473 Interessanterweise haben die Untersuchungen von BRAUN et al. (1998, 281) und BÜLOW / HARNISCH (im Erscheinen) ergeben, dass neutrale Formulierungen keine Alternative zum generischen Maskulinum darstellen, um den assoziierten Frauenanteil zu erhöhen. 474 Substantivierte Partizipialausdrücke wie auch substantivierte Adjektive und einige echte Substantive wie Geisel verfügen über das sogenannte Genus commune. Dieses unterscheidet sich dadurch, dass die Formen des Substantivs „in beiden Genera identisch sind und nur die syntaktisch verknüpften Formen (Artikel und/oder Adjektive) sich ändern“ (BÄR 2004, 159). 475 Die Genusneutralität wird auch für die substantivierten Formen beibehalten (der/die (das) Frömmelnd-e).
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substantivierte Partizipien allerdings auch Genus Maskulinum oder Femininum auf (der Studierende (Mask.), die Studierende (Fem.)). Die Konversion von Partizipien zu Substantiven ist ein produktives Wortbildungsverfahren des Deutschen (ELSEN 2011, 105). Da das Partizip Präsens nicht als Verb genutzt werden kann, ist „der Status des Morphems {-(e)nd} nicht eindeutig als Flexionsform des Verbs und damit auch nicht als irrelevant für die Wortbildung zu sehen“ (ELSEN 2011, 105).476 Daher ist als Ausgangsbasis für die Konversion zum Substantiv zunächst das Produkt der Konversion vom Partizip zum Adjektiv anzunehmen. Hätten die Verantwortlichen der Universität Passau die wissenschaftliche Studie von BRAUN et al. (1998) rezipiert, müssten sie allerdings auch neutrale Formulierungen ablehnen, da die Neutralformen wie wissenschaftlich Tätige oder Studierende in manchen Fällen noch weniger an Frauen denken lassen als generische Maskulina. Es könnte – wie von BRAUN et al. (1998, 282) – ebenfalls auf die oben angeführten Schreibweisen (die Schüler/innen, die SchülerInnen, die Schüler*innen) oder sogenannte Splitting-Syntagmen (Schülerinnen und Schüler) zurückgegriffen werden. Diese letztgenannten Sprech- bzw. Schreibweisen stehen offensichtlich dem Ökonomieprinzip und dem Postulat der Barrierefreiheit entgegen. Dennoch wird durch negative Anreizsysteme und sprachpolitischen Druck erreicht, dass die Sprechenden/Schreibenden auf die Formen zurückgreifen. Wer nicht gendergerecht spricht/schreibt muss damit rechnen, einen negativen Eindruck zu hinterlassen, was dazu führen kann, dass beispielsweise nichtgendergerechte Forschungsanträge abgelehnt, d. h. selektiert werden, und sich nicht gegenüber der gendergerechten Konkurrenz durchsetzen. Wie hoch der gesellschaftliche Druck zur Verwendung solcher Formen geworden ist, spiegelt sich beispielsweise in den Bemühungen, verschiedene Rechtstexte wie die Straßenverkehrsordnung oder Studien- und Prüfungsordnungen nach Maßstäben der Gendergerechtigkeit umzuschreiben. Eine Strategie vieler Autor/inn/en ist es, möglichst genderneutrale Ausdrücke zu verwenden. Hierzu eignen sich zumindest im Plural die Partizipialkonstruktionen. Diese haben den Vorteil, dass aufwändigere Splitting-Syntagmen (Studentinnen und Studenten) oder nur schwer lesbare Formen, die zudem der Barrierefreiheit widersprechen, wie Fußgänger/Innen vermieden werden können. Aus sprachökonomischer Sicht erscheint die genusvermeidende Partizipialkonstruktion das effektivste Muster für die Sprechenden/Schreibenden zu sein, Bewusstsein für gendergerechtes Sprachhandeln auszudrücken.
476 ELSEN (2011, 106) hält die Einordnung von -(e)nd als Flexiv aber für annehmbar, da -(e)nd wie alle Flexive eine regelmäßige Bedeutungsänderung zu ‘dabei sein, etwas zu tun’ verursacht.
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
5.3.1 Die Reanalyse des Partizipialsuffixes -end als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch477 HARNISCH (2016) illustriert anhand von geänderten Studien- und Prüfungsordnungen, wie frequent die Vermeidungsstrategie ist. „In den letzten Jahren wurden solche Textpassagen durch Änderungssatzungen den Maßgaben der sogenannten ‚Geschlechtergerechtigkeit‘ angepasst.“ (HARNISCH 2016, 160) Die Schreibenden handeln nach dem Schema: Ersetze das generische Maskulinum x (die Studenten) durch die Partizipialkonstruktion y (die Studierenden). Dieses Schema haben die Schreibenden nun aber auch auf die Singularformen angewendet (der Student > der Studierende478). In einem Belegkorpus, das Anfang der 1990er Jahre von RÜDIGER HARNISCH begonnen wurde und mittlerweile bis ins Jahr 2015 reicht, lassen sich diverse Belege für die Form der Studierende (Mask. Sg.) in Neufassungen von Studien- und Prüfungsordnungen finden. Aus einer älteren Version (Stand vom 08.03.2005) einer Studien- und Prüfungsordnung eines Studiengangs der Universität Passau sei folgender Beleg zitiert: „In der Fächergruppe 1 […] wählt der Studierende einen der folgenden Kulturräume“. HARNISCH (2016, 160) vermutet folgendes Vorgehen479: Vorher: Auf Anfrage erhält der Student Auskunft über den Stand seiner Leistungspunkte. Aktuell: Auf Anfrage erhält der Studierende Auskunft über den Stand seiner Leistungspunkte. Die Schreibenden haben in solchen Fällen ein scheinbar ‚diskriminierendes‘ generisches Maskulinum in ein scheinbar ‚gendergerechtes‘ generisches Maskulinum umgewandelt.480 Ganz offensichtlich ist für die Schreibenden/Sprechenden die Markierung der Form durch das Partizipialsuffix -end ein Ausdruck gendergerechten Sprachhandelns. HARNISCH (2016) vermutet einen Reanalyseprozess, bei dem -end als Marker für genderbewusstes Sprachverhalten remotiviert wird. Der Reanalyseprozess setzt allerdings die Annahme voraus, dass sich die Schreibenden/Sprechenden entweder des eigenen Sprachgebrauchs und/oder der sprachpolitischen Problematik nicht vollkommen bewusst sind. Einen Beleg dafür liefert der Spiegel-Journalist MATTHIAS SCHULZ (2014), der in seinem Beitrag „Die Polizei, deine Freundin“ in der Rubrik „Wissenschaft“ folgende Ausweichstrategie für 477 Ergebnisse dieses Kapitels wurden bereits teilweise in BÜLOW / HARNISCH (2015) veröffentlicht. 478 Die Form der Studierende wird schon von ULRICH (1988, 384) deutlich als generisches Maskulinum gekennzeichnet. 479 HARNISCH (2016) bezieht sich mit seinen Beispielen auf die „Satzungen zur Änderung von Studien- und Prüfungsordnungen modularisierter Studiengänge, die am 28. Februar 2007 im Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät der Universität Passau beschlossen werden sollten“. 480 Für die *Angehörenden der Universität Passau gilt seit der neusten Regelung: „Im Singular sind solche Substantive durchaus geschlechtsspezifisch. Es kann gleich die geschlechtsspezifische Personenbezeichnung verwendet werden. Für geschlechtsneutral gemeinte Formulierungen eignen sich daher Singularformen substantivierter Adjektive oder Partizipien nicht“ (Universität Passau 2013, 4).
Wandel und Beharrlichkeit im Gebrauch des generischen Maskulinums
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Splitting-Syntagmen beschreibt: „Kein Wunder, dass sich viele Gender-Freunde in den Unisex retten. Sie flüchten ins Partizip. Statt ‚der Läufer‘ sagen sie einfach der oder die Laufende, das passt immer. Der Bläser wird so zum Blasenden, der Täter zum Tuenden“ (SCHULZ 2014, 125). Dass wieder (generische) Maskulina entstehen, reflektiert SCHULZ nicht. Das Partizipialsuffix scheint ihm als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch zu genügen. SCHULZ (2014, 124) bezieht sich auch auf die Änderungen in der StVO und berichtet, dass in § 26 ein „Fahrender von Rollstühlen“ auftaucht, ohne zu bemerken, dass sowohl die alte Form Rollstuhlfahrer als auch die neue Form Fahrender von Rollstühlen Maskulina sind, eine Änderung in Fahrender von Rollstühlen also nicht hätte vorgenommen werden müssen, um das generische Maskulinum zu vermeiden. Dass die Autoren der StVO diese Strategie tatsächlich angewendet haben, wird in Kapitel 5.3.2 genauer untersucht. In der StVO erscheint beispielsweise die Form als zu Fuß Gehender (StVO § 49 (1)). Bei dem von SCHULZ zitierten Beispiel zeigt ein Blick in die StVO allerdings, dass dort im Plural von Fahrenden von Krankenfahrstühlen oder Rollstühlen (StVO § 26 (1)) zu lesen ist. Die StVO verwendet hier also eine gendergerechte Form. Das Beispiel von SCHULZ ist aber gleichsam ein guter Beleg dafür, dass Partizipialbildungen vielfach nicht reflektiert werden. Die Strategie wird auch aus sprachökonomischen Gründen ungenau kopiert. Der Beleg von SCHULZ wie auch die zitierten Belege aus der StVO sind Ausdruck einer semantischen Verstärkung und Reanalyse des Partizipialsuffixes durch die Sprachgemeinschaft. Diejenigen, die diese Strategie anwenden, folgen vermutlich einer Maxime wie: Sprich/Schreib in bestimmten Kontexten gendergerecht, um sozial erfolgreich zu sein. Dieses intentionale Verhalten auf der Mikroebene hat im Sinne KELLERS Unsichtbarer-Hand-Erklärung nicht intendierte Konsequenzen für die übergeordneten Ebenen. Für die Makroebene zeichnet sich ein Reanalyseprozess ab. Der frequente, ökonomische und sozial erfolgversprechende Gebrauch des Partizipialsuffixes führt dazu, dass -end (unbemerkt) auf weitere Kontexte angewendet wird, für die das Suffix ursprünglich nicht funktionell war, nun aber die Funktion zu erfüllen scheint, gendergerechten Sprachgebrauch anzuzeigen. Die neue – nun aber scheinbar gendergerechte – Variante des generischen Maskulinums besitzt durch das Partizipialsuffix -end und seine Implikation einen Selektionsvorteil gegenüber Formen wie der Student oder der Dozent. Die Reanalyse des Partizipialsuffix als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch ist aber auch ein Beleg dafür, dass generischer Sprachgebrauch sprachökonomische Vorteile hat. Im Sinne von CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 490) kann argumentiert werden, dass sich die Sprachstruktur in gewisser Weise auch an unseren kognitiven Dispositionen ausrichtet (Kap. 4). Ökonomische Strukturen wie das generische Maskulinum, die sich kognitiv bewährt haben und dadurch starke Schemata ausbilden, lassen sich durch sprachpolitische Maßnahmen nicht so einfach verdrängen. Das generische Maskulinum hat einen Weg zurück in den Sprachgebrauch gefunden.
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen Die ursprüngliche grammatische Bedingung, dass die gewünschte Genusneutralisierung nur im Plural funktioniert, gerät in Vergessenheit, und das generische Maskulinum schleicht sich, für die Verwender unbemerkt, ins Sprachsystem zurück. Zu unterstellendes Sprachbewusstsein und tatsächlicher Sprachgebrauch stimmen nicht (mehr) überein. (HARNISCH 2016, 159– 160)
Auffällig ist wieder, welche Rolle die lautliche Umgebung und pragmatische Aspekte für die Reanalyse spielen. Es werden insbesondere Substantive transformiert, die auf die Wortausgangsstruktur/das Derivationsmorphem -ent (Student > Studierender, Dozent > Dozierender, Assistent > Assistierender) oder -er (Lerner > Lernender, Lehrer > Lehrender, Verfasser > Verfassender) enden.481 Ein weiterer Aspekt, der der Reanalyse zugrunde liegen dürfte, ist pragmatisch-semantischer Natur. Die Mehrzahl der Belege kann auf Nomina Agentis zurückgeführt werden, die beispielsweise über die Derivationssuffixe -ent und -er erzeugt werden und im universitären und/oder schulischen Sektor gebraucht werden. Insbesondere Akademiker/innen an öffentlichen Bildungseinrichtungen sind durch Gendersensibilisierungsseminare und Anreizsysteme angehalten, sich sprachlich anzupassen.482 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Partizipialsuffix -end eine zusätzliche Funktion und Bedeutung übernimmt. Zugrunde liegt ein zweifacher Verstärkungsprozess.483 Die erste Verstärkung besteht in der durchaus auch politisch motivierten semantischen Aufwertung (Verstärkung) der grammatischen Kategorie Genus zu einem Sexus- bzw. Genderanzeiger durch die feministische Sprachkritik. Die zweite Verstärkung ist die Semantisierung und Remotivierung (Verstärkung) des Partizipialsuffixes -end zu einem Marker für gendergerechten Sprachgebrauch, selbst wenn das zunächst kritisierte generische Maskulinum wieder Eingang in die Sprache findet.484 Der erste Verstärkungsprozess ist zumindest teilweise sprachpolitisch motiviert und sozialem Wandel geschuldet. Der zweite Verstärkungsprozess entspricht einem Degrammatikalisierungsprozess (vgl. Kap. 4.1.1). Er zeigt, wie gleichgerichtete individuelle Sprachhandlungen Folgen auf der Meso- und Makroebene haben können, die von den handelnden Subjekten nicht intendiert waren. Hier sei an HAIMAN (1994, 3) erinnert: „In particular, languages and grammars change because over time utterances are repeated.“ Zumindest auf der Mikroebene kann allerdings maximengeleitetes Sprachhandeln unterstellt werden, das sich mit KEL-
481 Eine Fülle an weiteren Belegen bietet HARNISCH (2016). 482 Teilnehmer/innen von DFG-Graduiertenkollegs sind beispielsweise mit Nachdruck dazu aufgefordert, an Gendersensibilisierungsseminaren teilzunehmen. 483 Zum Verstärkungsbegriff vgl. HARNISCH (2010), BÜLOW (2012) und BÜLOW / KRIEG-HOLZ (2013). Zur Zweistufigkeit der Verstärkung vgl. HARNISCH (2016) und BÜLOW / HARNISCH (2015, 91). 484 Interessanterweise argumentiert gerade die feministische Sprachkritik, dass die Gleichsetzung von Genus und Sexus auf der Sprachgebrauchsebene relevant ist. Kritik an der Gleichsetzung wird mit der vermeintlich falschen Betonung der Sprachsystemebene durch einige Sprachwissenschaftler/innen abgetan (KLANN-DELIUS 2005, 30–31; OELKERS 1996, 3).
Wandel und Beharrlichkeit im Gebrauch des generischen Maskulinums
257
LERS (2003, 143) Hypermaxime in Einklang bringen lässt: „Rede so, daß du sozial erfolgreich bist, bei möglichst geringen Kosten“. Der Funktionszugewinn des Partizipialsuffixes zeigt zudem Isomorphien mit evolutionären Exaptationsprozessen (Kap. 3.1.2.2; SIMON 2010; LASS 1997; 1990). Die Übertragung des Exaptations-Begriffes beruht auf Strukturähnlichkeiten der jeweiligen sprachlichen und biologischen Anpassungsprozesse, die durch Replikation, Variation und Selektion gekennzeichnet sind. Die ursprüngliche Funktion des Partizipialsuffixes, die Bedeutung ‘dabei sein, etwas zu tun’ (ELSEN 2011, 106) auszudrücken, wird in den hier dargestellten Kontexten zunächst abgeschwächt bzw. geht gänzlich verloren. Das Suffix -end impliziert nun vielmehr in bestimmten Kontexten gendergerechten Sprachgebrauch. Nimmt man an, dass die Struktur funktionslos geworden ist, könnte sie im Sinne von LASS (1990, 81–82) und HARNISCH (2004, 222) als ‚junk‘ bezeichnet werden, der das Ausgangsmaterial für eine Exaptation bildet. SIMON (2010, 50) weist aber zu Recht darauf hin, dass der evolutionsbiologische Exaptationsbegriff unabhängig vom Verlust der alten Funktion gedacht wird. Es handelt sich nicht zwingend um eine (Re)Morphologisierung rein phonologischer Substanz, wie für den Spracherwerb gezeigt wurde (Kap. 3.3.1.2). SIMON (2010, 52) schlägt vor, den Begriff Exaptation für die Fälle zu verwenden, „bei denen bereits vorhandenes grammatisches Material wiederverwendet wird, um eine kategoriell neuartige Funktion zum Ausdruck zu bringen“. Für den evolutionsbiologischen Exaptationsbegriffes nach GOULD / VRBA (1982, 6) ist also entscheidend, dass sich eine kategoriell neue Funktion auf der Grundlage einer alten Form herausbildet (SIMON 2010, 52–53). Die Markierung gendergerechten Sprachgebrauchs mit Hilfe des Partizipialsuffixes -end wäre eine neue grammatische Kategorie, die bisher nicht im (kodifizierten) Sprachsystem auf der Makroebene vorhanden ist (BÜLOW / HARNISCH 2015, 92). Insofern lässt sich die Herausbildung eines Markers für gendergerechten Sprachgebrauch mit der Herausbildung einer grammatischen Kategorie Respekt vergleichen (SIMON 2003).
5.3.2 Zum Gebrauch des generischen Maskulinums in der Straßenverkehrsordnung485 Die Kritik der Feministischen Linguistik am Sprachgebrauch hat dazu geführt, dass auch die Rechtssprache, die als Fachsprache eingeordnet werden kann (RATHERT 2006, 7), kritisch geprüft und für änderungsbedürftig befunden wurde.486 Der Wunsch nach einer gendersensiblen Rechtssprache findet seinen Ausdruck beispielsweise in der Umformulierung der Straßenverkehrsordnung (StVO). Die StVO ist eine Rechtsverordnung (im Sinne von Art. 80 Abs. 1 GG), die für 485 Einige Passagen dieses Kapitels decken sich mit Passagen aus BÜLOW / HERZ (2014). 486 Kritik an der Rechtssprache äußern von juristischer Seite beispielsweise GRABRUCKER (1993) und SACKSOFSKY (2005).
258
Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
alle Teilnehmenden am Straßenverkehr – egal welchen Geschlechts – verbindlich ist.487 Im Folgenden wird die Sprache der neuen vermeintlich gendergerechten Straßenverkehrsordnung vom 06.03.2013 (Verordnung v. 6.3.2013 Bundesgesetzblatt I 367–427), die am 01.04.2013 in Kraft getreten ist, mit der Sprache der davor gültigen Straßenverkehrsordnung, die auf der im Bundesgesetzblatt veröffentlichten StVO von 1970 basiert und zuletzt durch eine Novelle von 2010 geändert wurde (Verordnung v. 1.12.2010 Bundesgesetzblatt I 1737), verglichen. Beide Fassungen bestehen aus drei Teilen: I. Allgemeine Verkehrsregeln (§1–§35), II. Zeichen und Verkehrseinrichtungen (§36–§43) und III. Durchführungs-, Bußgeldund Schlussvorschriften (§44–§53). In die Untersuchung sind zudem die Anlagen 1–4 eingeflossen. Die Verfasser/innen der gendergerechten StVO haben ebenfalls vornehmlich auf substantivierte Partizipien zurückgegriffen, um generische Maskulina zu vermeiden. Auch hier lässt sich vermuten, dass die Schreibenden primär nach folgendem Schema gehandelt haben: Ersetze das generische Maskulinum x (Fußgänger) durch die Partizipialkonstruktion y (zu Fuß Gehende (Pl.)). Die Formen zu Fuß Gehende oder zu Fuß Gehenden erscheinen beispielsweise vierzehnmal in der aktuellen Straßenverkehrsordnung. Insgesamt wurden 34 generische Maskulina in Partizipialkonstruktionen umgewandelt. Das Vorgehen der Verfasser/innen wird deutlich, wenn man Paragraph 5 Absatz 4 der neuen und der alten Version der Straßenverkehrsordnung vergleicht. In der alten Fassung heißt es: (4) Wer zum Überholen ausscheren will, muß sich so verhalten, daß eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Beim Überholen muß ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere zu Fußgängern und Radfahrern, eingehalten werden. Der Überholende muß sich sobald wie möglich wieder nach rechts einordnen. Er darf dabei den Überholten nicht behindern. (StVO § 5 (4) gültig bis zum 31.03.2013)
Der Wortlaut der neuen Fassung ist nun folgender: (4) Wer zum Überholen ausscheren will, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Beim Überholen muss ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere zu den zu Fuß Gehenden und zu den Rad Fahrenden, eingehalten werden. Wer überholt, muss sich so bald wie möglich wieder nach rechts einordnen. Wer überholt, darf dabei denjenigen, der überholt wird, nicht behindern. (StVO § 5 (4) gültig seit dem 01.04.2013)
Der erste Satz ist identisch. Im zweiten Satz werden die Formen Fußgänger (Pl.) und Radfahrer (Pl.) durch die gendergerechten Partizipialbildungen den zu Fuß Gehenden (Pl.) und den Rad Fahrenden (Pl.) ersetzt. Die Wortform Verkehrsteilnehmern bleibt ein generisches Maskulinum. Das generische Maskulinum der 487 Rechtsgrundlage für den Erlass der StVO, die im Zuständigkeitsbereich des Bundesverkehrsministeriums liegt, ist u. a. § 6 Abs. 1 des Straßenverkehrsgesetzes. Der Bundesrat muss Änderungen der StVO zustimmen. Zusammen mit dem Straßenverkehrsgesetz (StVG), der Fahrerlaubnisverordnung (FeV), der Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV) und der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) bildet die Straßenverkehrsordnung im Wesentlichen das Straßenverkehrsrecht ab.
Wandel und Beharrlichkeit im Gebrauch des generischen Maskulinums
259
Überholende (Sg.) wird im dritten Satz allerdings trotz Partizipialsuffix erkannt und scheinbar gendergerecht in Wer überholt (Sg.) geändert. Den Autor/inn/en ist aber offensichtlich entgangen, dass die Konstruktionen weiterhin generische Maskulina mit dem Pronomen wer (Sg. Mask. Nom.) als auch mit denjenigen, der (Sg. Mask. Akk.) enthalten.488 Interessanterweise ist auch die Umformung in gendergerechte Partizipialausdrücke zweimal missglückt: als Fußgänger > als zu Fuß Gehender (Sg.) (StVO § 49 (1)) als Veranstalter > als Veranstaltender (Sg.) (StVO § 49 (2)) Vorher heißt es beispielsweise in der StVO (§ 49 (1); gültig bis zum 31.03.2013; Herv. LB): Ordnungswidrig im Sinne des § 24 des Straßenverkehrsgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen eine Vorschrift über […] 24. das Verhalten a) als Fußgänger nach § 25 Abs. 1 bis 4, […] verstößt.
Aktuell ist in der StVO (§ 49 (1); gültig seit dem 01.04.2013; Herv. LB) zu lesen: Ordnungswidrig im Sinne des § 24 des Straßenverkehrsgesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen eine Vorschrift über […] 24. das Verhalten a) als zu Fuß Gehender nach § 25 Absatz 1 bis 4, […] verstößt.
Nur in „wenn man sich mit dem oder der Verzichtenden verständigt hat“ (StVO § 11 (3); vorher: „wenn er sich mit dem Verzichtenden verständigt hat“) ist über eine Beidnennung eine gendergerechte Anpassung erfolgt. Bei „der zu Überholende“ (StVO § 5 (2); „der zu Überholende“ steht sowohl in der alten wie in der neuen Fassung) wurde für die Neufassung übersehen, dass ein generisches Maskulinum vorliegt.
488 Dieser Umstand mag zumindest in Bezug auf wer darin begründet sein, dass das Genus Maskulinum aus dem Pronomen alleine für den Laien nicht ersichtlich ist und erst durch die Wiederaufnahme durch ein Possessivpronomen wie in Wer seine Absicht, nach links abzubiegen, ankündigt transparent wird. Darauf, dass wer-Periphrasen aus Sicht der Feministischen Linguistik Frauen benachteiligen, weisen beispielsweise SCHEELE / GAULER (1993, 59) hin. „Wie das Personalpronomen hat das Possessivum die Differenzierung hinsichtlich Person und hinsichtlich Genus in der 3.Ps, wie die übrigen Pronomina hat es die Differenzierung im Genus danach, ob das Bezeichnete maskulin, feminin oder neutral benennbar ist […].“ (EISENBERG 2006b, 184)
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Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
Typ
StVO ab dem 01.04.2013
Anzahl
Gendergerechte Bildungen mit Partizipalsuffix für Pluralformen
zu Fuß Gehende
13
Rad Fahrende
8
Fahrzeugführende
3
Mofa Fahrende
1
am Verkehr Teilnehmende
4
Teilnehmende
1
Veranstaltende
1 Gesamt: 31
Scheinbar gendergerechte Formen mit Partizipialsuffix im Singular
als zu Fuß Gehender
1
als Veranstaltender
1
der zu Überholende
1 Gesamt: 3
Gendergerechte Formen mit Partizipialsuffix im Singular
wenn man sich mit dem oder der Verzichtenden verständigt hat
1 Gesamt: 1
Tab. 3: Formen mit Partizipialsuffix in der aktuellen StVO
Es ist davon auszugehen, dass das Partizipialsuffix -end von den Autor/inn/en zumindest teilweise als Anzeiger für gendergerechtes Schreiben reanalysiert wurde. Dies würde erklären, warum einige generische Maskulina mit Partizipialsuffix im Singular in der neuen Fassung der StVO zu finden sind. Auch die Belege aus der StVO sind Ausdruck einer semantischen Verstärkung und Reanalyse des Partizipialsuffixes. Die Beharrlichkeit des generischen Maskulinums in der StVO ist ebenfalls beachtlich. Viele generische Maskulina, die Personen bezeichnen, sind nicht umgeändert worden. In der Straßenverkehrsordnung ist weiterhin zu lesen „wer […] ein Haltgebot oder eine Anweisung eines Polizeibeamten nicht befolgt“ (StVO § 49 (3)) oder „wer […] als Führer eines geschlossenen Verbandes“ (StVO § 49 (2)). Die Formen eines Polizeibeamten oder Beamte (Pl.) könnten aus mehreren
Wandel und Beharrlichkeit im Gebrauch des generischen Maskulinums
261
Gründen nicht in eine gendergerechte Schreibweise überführt worden sein. Zum einen verfügt der Beamte (Nom. Sg. Mask.) mit einem bestimmten Artikel489 nicht über – für Nomina Agentis typische – Suffixe wie -er oder -ent und entspricht damit keiner prototypischen maskulinen Personenbezeichnung. Die Wortausgangsstruktur passt eher in das Schema eines Femininums (die Biene, die Liege; HARNISCH / KOCH 2009, 415). Zum anderen könnte der Polizeibeamte auch in Analogie zu der/die Angestellte (Sg.) oder die/der Jugendliche (Sg.) (die Angestellten (Pl.), die Jugendlichen (Pl.)) als der/die Beamte (Sg.) (die Beamten) verstanden worden sein (HARNISCH 2016, 172; EISENBERG 2006b, 155).490 Wenn aber ein Maskulinum zugrundeliegen sollte, kann das als Beleg dafür angesehen werden, dass generische Maskulina trotz großer Anstrengungen zu ihrer Vermeidung bei der Texterstellung doch immer wieder übersehen werden. (HARNISCH 2016, 172)
Dass personenbezogene generische Maskulina in der Neufassung der StVO übersehen worden sind, zeigen auch HARNISCH (2016) und BÜLOW / HERZ (2014). Generische Maskulina wie Führer (Sg./Pl.), Verkehrsteilnehmer(n) (Sg./Pl.) und Antragsteller (Sg./Pl.) lassen sich weiterhin finden. Dabei könnte angenommen werden, dass den Verfasser/inne/n das generische Maskulinum Führer aufgefallen ist. In der neuen StVO wird Führer nur noch viermal verwendet, obwohl in der alten StVO immerhin acht Belege zu finden waren. Das Determinativkompositum Fahrzeugführer, das in der alten StVO noch mit 80 Fundstellen belegt werden kann, ist zudem in der neuen StVO nur noch dreimal vertreten und erscheint nun mit Partizipialsuffix (Fahrzeugführenden (Pl.), dem Fahrzeugführenden (Sg.)). Die Wortformen Antragsteller (Sg./Pl.) oder Antragstellers (Gen. Sg.) werden immerhin neunmal verwendet, ohne dass die feminine Personenbezeichnung (Antragstellerin) zusätzlich aufgeführt wird. Die Wortformen Verkehrsteilnehmer (Sg./Pl.) und Verkehrsteilnehmern (Pl.) finden sogar noch sechzehnmal Verwendung. Dass die Formen zumindest teilweise als sprachpolitisch bedenklich empfunden worden sein müssen, wird daran deutlich, dass Verkehrsteilnehmer (Sg./Pl.) in der alten StVO noch mit 32 Belegen zu finden ist.
489 Anders verhält sich das Substantiv im Nominativ mit einem unbestimmten Artikel: ein Beamter. 490 Laut dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) kommen Formen wie die Angestellte oder die Beamte häufig im Sprachgebrauch vor (HARNISCH 2016, 172).
262
Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
StVO bis zum 31.03.2013
Typ
StVO ab dem 01.04.2013
Übersehene generische Maskulina bei Personenbezeichnungen
Fußgänger (Pl.)
3
Fußgänger (Sg./Pl.)
33
Radfahrer (Pl.)
1
Radfahrer (Sg./Pl.)
23
als Führer (Sg./Pl.)
4
Führer (Sg./Pl.)
8
Verkehrsteilnehmer (Sg./Pl.)
16
Verkehrsteilnehmer (Sg./Pl.)
32
Antragsteller (Sg./Pl.)
9
Kraftfahrzeugführer (Sg./Pl.)
2
Kraftfahrzeugführer (Sg./Pl.)
4
des Fahrzeugführers
1
Fahrzeugführer (Sg./Pl.)
80
Anzahl
Anzahl
Antragsteller (Sg./Pl.)
7
Tab. 4: Generische Maskulina in der aktuellen und der alten StVO
Weiterhin zeigt das generische Maskulinum seine Beharrlichkeit in Form von Konstruktionen wie „derjenige, der“ (StVO § 51), „denjenigen, der“ (StVO § 5 (4)) oder Possessivpronomina wie der dritten Person sein/seine/seiner/seinen, die insgesamt zwanzigmal in der gendergerechten StVO verwendet werden. Typ
Anzahl
Anzahl
StVO ab dem 31.03.2013
StVO bis zum 01.04.2013
sein
4
6
seines
0
2
seinem
0
0
seinen
10
13
seine
4
12
seiner
2
3
Possessivpronomen 3. Ps. Sg. Mask.
Possesivpronomen sein 3. Ps. Sg.
Tab. 5: Possessivpronomen 3. Ps. Sg. in der aktuellen und der alten StVO
Wandel und Beharrlichkeit im Gebrauch des generischen Maskulinums
263
Im letzteren Fall gehen einige der maskulinen Pronomen auf eine andere vermeintlich gendergerechte Ausweichstrategie der Verfasser/innen zurück. In der Meinung durch wer-Periphrasen wie „wer zu Fuß geht“ (StVO § 25 (1)) das generische Maskulinum zu vermeiden, haben sich Konstruktionen wie „Wer auf der Autobahn mit Abblendlicht fährt, braucht seine Geschwindigkeit nicht der Reichweite des Abblendlichts anzupassen“ (StVO § 18 (6)) eingeschlichen. Dass das Pronomen wer maskulin ist491, blieb ebenfalls unbemerkt, ist aber am Pronomen selbst nicht ersichtlich (HARNISCH 2016, 172).492 Die grammatische Kongruenz fordert dann auch konsequent ein Possessivpronomen im Singular, das das Genus von wer anzeigt. Die Anzahl der wer-Konstruktionen hat sich in der neuen StVO mehr als verdoppelt. Auch die Verbindung zwischen einer wer-Konstruktion und den Pronomen sein/seine/seiner/seinen ist von sechs auf neun angestiegen, obwohl die Anzahl der Possessivpronomen von 34 auf 20 gesunken ist. Dieser Befund spricht dafür, dass maskuline Possessivpronomen grundsätzlich vermieden werden sollten. In Verbindung mit wer-Konstruktionen wurde die auf ein Maskulinum verweisende Kongruenz von Possessivpronomen allerdings nicht wahrgenommen. wer-Konstruktionen
Der Form:
Anzahl
Anzahl
StVO ab dem 31.03.2013
StVO bis zum 01.04.2013
37
79
6
9
wer zu Fuß geht wer ein Fahrzeug führt wer-Konstruktionen + sein Der Form: wer sein wer überholt wird, darf sein Tab. 6: wer-Konstruktionen in der aktuellen und der alten StVO
491 Dazu ausführlich HARNISCH (2009). „It is just the confusion of ‚sex‘ and ‚gender‘ that makes the pronoun wer often wrongly conceived as ‚neutral‘ or ‚bisexual‘ (‚androgynous‘).“ (HARNISCH 2009, 71) Zur morphologischen Defektivität des Paradigmas von wer vgl. auch PITTNER (1996). Zur möglichen Feminisierung von wer vgl. SAMEL (1995, 93–94). 492 Einen Hinweis auf das Genus Maskulinum könnte die Ausgangsstruktur -er in wer liefern.
264
Aspekte der Entwicklung von Genus im Deutschen
5.4 ZWISCHENFAZIT Sowohl die strenge Arbitraritätsauffassung als auch die Gleichsetzung von Genus und Sexus (bzw. Gender) sind abzulehnen. Die Genuszuweisung ist teilweise motiviert und wird durch verschiedene Faktoren wie die Lautgestalt, die Morphologie oder den Kontext beeinflusst. Auch die Wahl zwischen grammatischer Kongruenz und semantisch-pragmatischer Konvergenz erfolgt in Abhängigkeit von bestimmten Parametern (Entfernung zwischen Controller und Target, Frequenz usw.) und kann nie exakt vorhergesagt werden. Diese Ergebnisse passen zum konnektionistischen Theorieangebot und dem kognitiven Schema-Ansatz, die sich wiederum mit der Theorie komplexer adaptiver Systeme vereinbaren lassen (Kap. 3.3). Im Hinblick auf die Behauptung der feministischen Sprachkritik, dass Frauen durch generische Maskulina nicht bzw. nicht genügend mitassoziiert würden, zeigen die Untersuchungen von BÜLOW / HARNISCH (im Erscheinen) und BRAUN et al. (1998), dass der Kontext für die Assoziation von Männern und Frauen eine deutlich wichtigere Rolle spielt als das grammatische Geschlecht der verwendeten Personenbezeichnungen. BÜLOW / HERZ (2015) zeigen in ihrer Studie zudem, dass insbesondere junge Frauen unter 27 Jahren das generische Maskulinum akzeptabel und üblich finden. Auch der Befund, dass generische Maskulina unter bestimmten Bedingungen durch sexus- bzw. genderkonvergente weibliche Pronominalformen aufgegriffen werden, zeigt, dass generische Maskulina nicht nur männliche Personen evozieren. Dadurch wird deutlich, dass das generische Maskulinum das Potenzial hat, mehrere Funktionen zu erfüllen. Es kann ausschließlich auf männliche Personen, auf weibliche und männliche Personen sowie ausschließlich weibliche Personen verweisen, wenn es der Kontext zulässt. Das generische Maskulinum durch ein sogenanntes generisches Femininum zu ersetzen, ist auch keine adäquate Lösung, um beide Geschlechter gleichverteilt zu assoziieren, zumal eine generische Lesart des Femininums aus markiertheitstheoretischen Gründen abzulehnen ist. Im Grunde ist BRAUN et al. (1998, 280) zuzustimmen: Eine ideale generische Form, die für eine Beurteilung dieser Befunde als Orientierungspunkt dienen könnte, müsste grundsätzlich zu gleichen Teilen an Frauen und Männer denken lassen und somit in jedem Fall Schätzungen von 50% auslösen. Hierbei handelt es sich allerdings um ein theoretisches Konstrukt, da in realen Sprechsituationen das Alltagswissen um ungleiche Geschlechterverteilung immer eine Rolle spielt.
Dieses Zitat spiegelt die Rückkopplungseffekte wider, die zwischen der Sprachstruktur und der sozialen Lebenswirklichkeit angenommen werden müssen. Differenziert erscheint insbesondere das Fazit von BÄR (2004, 172): Der semantische Aspekt ‚Geschlecht‘ wurde ursprünglich punktuell, durch einzelne Wörter zum Ausdruck gebracht. In bestimmten Zusammenhängen interferierte der semantische Aspekt ‚Sexus‘ mit der grammatischen Kategorie des Genus, durch die ursprünglich ganz andere Aspekte unterschieden wurden, sodass das Genus partiell sexualisiert wurde. […] Sie ist aber nicht so erfolgt, dass ein semantisches Maskulinum ausnahmslos als grammatisches Maskulinum und ein semantisches Femininum ausnahmslos als grammatisches Femininum erscheint.
Zwischenfazit
265
Genus wird von der Feministischen Linguistik allerdings unabhängig vom Kontext als Sexus- bzw. Genderanzeiger reanalysiert. Daraus leitet sie sprachpolitische Forderungen, wie die Vermeidung des generischen Maskulinums ab. Die Umsetzung dieser Forderungen hat einen immensen Einfluss auf den aktuellen Sprachwandel. Intendierter Sprachwandel führt im oben illustrierten Beispiel allerdings auch zu nicht intendierten Veränderungen der Sprachstruktur. Als Beispiel dient die Exaptation des Partizipialsuffixes -end zum Marker für gendergerechten Sprachgebrauch. Dies zeigt, dass Sprachwandel evolutionären Prinzipien folgt. Im Sinne von KELLER (2003, 61; Kap. 2.2.3) wird deutlich, dass die Reanalyse des Partizipialsuffixes -end als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch zwar das Ergebnis menschlichen Handelns aber nicht das Ergebnis menschlicher Intentionen war.493 Der Sprachwandel, der auf der Makroebene stattfindet, ergibt sich aus der Kumulation und Konzentration von Selektionen, die von Individuen auf der Mikroebene vorgenommen werden. Das Sprachwissen des Individuums kann als adaptives Schema (Teil des Idiolekts) beschrieben werden, um kommunikative Situationen zu lösen und zwar bestimmten Maximen folgend, wie der des sozial erfolgreichen Handelns, des genderbewussten Formulierens etc. So etabliert und stabilisiert sich im Sprachwissen der Individuen, dass das Partizipialsuffix (unabhängig vom Numerus) gendergerechtes Sprechen signalisiert.
493 In diesem Sinne muss die Sprache in Anlehnung an KELLER (1995, 216) eher als ein Zerrspiegel der Kultur aufgefasst werden.
6 KONTAKTINDUZIERTER SPRACHWANDEL AM BEISPIEL DER HERAUSBILDUNG UND ENTWICKLUNG EINER (MULTI)ETHNOLEKTALEN SPRECHWEISE VON JUGENDLICHEN Die Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Sprachstruktur sind vielfältig und mehrdimensional. Ein wesentlicher Faktor, den eine evolutionäre Sprachwandeltheorie in seinen verschiedenen Facetten berücksichtigen muss, ist allerdings Sprachkontakt. „No study of evolution in a language […] is complete without a discussion of speciation and contact-induced change.“ (MUFWENE 2008, 67) Das folgende Kapitel erörtert zunächst MUFWENES (2008; 2001) Ansatz, kontaktinduzierten Sprachwandel als evolutionären Wandel zu verstehen. Anschließend wird das Verhältnis von Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Spracherwerb diskutiert. Abschließend erfolgen Überlegungen zur Herausbildung und Entwicklung einer multiethnolektal geprägten Sprechweise, die WIESE (2012) als Kiezdeutsch bezeichnet. An diesem Beispiel wird zum einen konkret demonstriert, wie Sprachwandel durch Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt beeinflusst wird.494 Zum anderen kann anhand von Kiezdeutsch exemplarisch gezeigt werden, wie sprachliche Strukturen auf der Mesoebene mit sozial-symbolischem Potential belegt sind. Variationsangebote, wie sie Kiezdeutsch anbietet, sind die Grundbedingung für soziosemiotische Aufladungen und Indexikalisierungsprozesse, die wiederum die Selektionsentscheidungen der Sprecher mitbeeinflussen. Darüber hinaus sind Kiezdeutschsprecher in der Lage, das Strukturangebot aktiv zu nutzen, um Bedeutung in der Interaktion zu konstruieren. Sprachkontakt kann Wandel auf allen linguistischen Strukturebenen sowie auch der Wahrnehmung dieser Strukturen verursachen. Beide sind interdependent miteinander verwoben. Um Sprachwandel und deren Verbreitung erklären zu können, müssen damit sowohl die strukturellen Bedingungen der beteiligten Kontaktsprachen beachtet werden als auch Selektionsfaktoren wie Prestige und Identitätsstiftung. Die mehrdimensionalen Einflüsse des Kommunikationsraumes (KREFELD 2004, 21–26) tragen in Verbindung mit den sprachstrukturellen Voraussetzungen dazu bei, dass sich situations-, alters- und kommunikationsraumgebundene Sprechweisen wie Kiezdeutsch entwickeln.495
494 Wobei Mehrsprachigkeit schon Sprachkontakt auf der Ebene des Idiolekts bedeutet. 495 Dem Bonmot von NELDE (1995, 65), Sprachkontakt bedeute Sprachkonflikt, ist eine gewisse Berechtigung aber nicht abzusprechen.
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Kontaktinduzierter Sprachwandel
6.1 KONTAKTINDUZIERTER SPRACHWANDEL ALS EVOLUTIONSPROZESS MUFWENE (2008; 2001) untersucht den Einfluss und die Bedingungen von Sprachkontakt bei der Herausbildung von Kreolsprachen und neuen Varietäten. Er beschreibt diesen Sprachwandel, bei dem Sprachkontakt eine wichtige Voraussetzung ist, als Evolutionsprozess. MUFWENES (2008, 15; 2001, 14) Ansatz ist ebenfalls sprecherzentriert (vgl. CROFT 2000; KELLER 2003).496 Sprachwandel geht grundsätzlich von Individuen und ihren kommunikativen Bedürfnissen aus. Die verschiedenen Idiolekte sind die Individuen der Population einer Spezies, die sich synchronisieren.497 Ein Idiolekt „is to a language what an individual is to a species in population genetics“ (MUFWENE 2001, 2) und weiter: „Like a biological species defined by the potential of its members to interbreed and procreate offspring of the same kind, a language can be defined as ‚a population of idiolects that enable their hosts to communicate with and understand one another‘“ (MUFWENE 2001, 150). MUFWENE versteht Sprachen im Sinne des population genetics approach als Spezies. Diese ist eine Abstraktion der Gemeinsamkeiten der Idiolekte durch Beobachter, ganz gleich ob durch Laien oder durch Linguisten.498 Diesen Gedankengang entlehnt schon PAUL (1880/1975, 37; vgl. Kap. 1.1) der damaligen Evolutionsbiologie. Die Annahme einer übergeordneten Sprache auf der Makroebene rechtfertigt MUFWENE (2001, 2) wie folgt: „[W]e cannot speak of language change or evolution, which is identified at the population level, without accepting the existence of a communal language“. Diese als gemeinsame Sprache wahrgenommene Extrapolation ist die Ebene, auf der in abstrakter Weise von Wandel
496 MUFWENE (2008, 131; 2001, 157) spricht sich außerdem dafür aus, Sprache bzw. einen Idiolekt als komplexes adaptives System zu verstehen. Seine Ausführungen dazu bleiben aber ungenau und äußerst knapp. 497 MUFWENE (2008, 15) spricht von Akkommodation: „The bottom line is that every individual speaks or signs in a way that is internally systematic. Communication with other individuals triggers mutual accommodation, which make the individual systems converge and thus become similar both in the ways individual sounds or signs are produced and in how they combine together into more complex interpretable units“. Den Zusammenhang zwischen Akkommodation und Idiolekten als Viren stellt MUFWENE (2008, 27) folgendermaßen dar: „Idiolects are more likely to be influenced by those of speakers that their hosts/makers have interacted the most frequently with. Speakers accommodate each other, minimizing chances of being misunderstood. Likewise, viruses in a population are more likely to share a lot of genetic materials when their hosts socialize with each other than when they do not“. 498 MUFWENE (2001, 141) zieht die Parallele zur biologischen Spezies und verweist auf das Definitionskriterium, dass Mitglieder einer Spezies fortpflanzungsfähige Nachkommen zeugen können (Kap. 3.1.1.3): „like a species is extrapolated from the existence of individuals who are successful in reproducing their kind or at least show such a potential“. Dass Abstraktionen durch Laien eine wichtige Rolle spielen, zeigt die perzeptuelle Dialektologie (PURSCHKE 2010; 2008).
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und Evolution gesprochen werden kann.499 Dennoch stellt MUFWENE (2001, 148) klar: To begin with, it is not necessary for speakers to share a system in order to communicate with each other. All they need is familiarity with, and some ability to interpret expressions generated by, each other’s system, more or less like the algorithms of our computers and word processors.
Trotzdem verweist MUFWENE (2001, 148) auch auf die Bedeutung von Systemen: Systems are needed by individuals, and in idiolects for consistency in individual behaviors. It is all right when they translated into the communal system, but it is not necessary that they do.
Dieser Ansatz lässt sich mit der Idee in Einklang bringen, dass Idiolekte komplexe adaptive Systeme auf der Basis neuronaler Informationsverarbeitung sind, die sich permanent synchronisieren (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29–30). Da Idiolekte per Definition nie vollständig deckungsgleich sein können, kommt es in der Interaktion zu permanenten Anpassungs- bzw. Synchronisierungsprozessen.500 „Linguistic change is inadvertent, a consequence of ‚imperfect replication‘ in the interactions of individual speakers as they adapt their communicative strategies to one another or to new needs.“ (MUFWENE 2001, 11) Diese Art von Wandel durch abweichende Replikation, die zu Variationen führt, die dann wiederum selektiert werden, entspricht evolutionärem Wandel. MUFWENE (2001, 11) gebraucht den Begriff Evolution, ohne damit Fortschritt oder Gerichtetheit zu implizieren. Evolution kennt kein Ziel, weder von einfacheren zu komplexeren Systemen, noch andersherum.501 Diese Isomorphie zwischen biologischer Evolution und Sprachwandel sehen auch CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 499): „To spell out the parallel, the idiolect of an individual speaker is analogous to an individual organism; a language […] is akin to a species“. CHRISTIANSEN / CHATER nehmen an, dass sich die sprachliche Struktur an die Möglichkeiten der kognitiven Verarbeitungsmechanismen anpasst. Sie verfolgen diese Isomorphie weiter, indem sie ähnlich wie RITT (2004) vorschlagen, dass der Genotyp sprachlicher Strukturen den neuronalen Repräsentationen entspricht. Diese neuronalen Zustände führen letztlich zum konkreten sprachlichen Ausdruck, der als sprachlicher Phänotyp zu verstehen sei. Wie auch die Fitness von Genen von der Interaktion mit anderen Genen abhängt, „so the fitness of an individual construction is intertwined with those of other constructions; that is, constructions are part of a (linguistic) system“ (CHRISTIANSEN / 499 Evolution in Bezug auf Sprache ist für MUFWENE (2001, 145) „the long-term changes undergone by a language (variety) over a period of time“. 500 „They [linguistic features; LB] are typically copied with modification, under competition with similar inputs, by the learners, and they are recombined into new ‚systems‘ with some inter-idiolectal variation. Thus, no two speakers produce the same sound in physically and acoustically identical ways and no two speakers have exactly the same range of denotative and connotative meanings, as well as pragmatic constraints, associated with the same words.“ (MUFWENE 2008, 27) 501 Einen teleologischen Ansatz vertritt beispielsweise NAGEL (2013, 133).
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CHATER 2008, 499). Was in der Biologie der Weitergabe von Genen beispielsweise durch sexuelle Fortpflanzung entspricht, ist für die Übermittlung von Sprachwissen und sprachstrukturellen Merkmalen die Mikrosynchronisierung auf neuronaler Ebene. Diese sprachlichen Strukturmerkmale eines Idiolekts besitzen weiterhin eine systemimmanente Umwelt; „just as the selection of individual genes are tied to the survival of the other genes“ (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 500). Ob eine sprachliche Struktur evolutionär stabil und erfolgreich ist, hängt aber auch vom Verhältnis ihrer phänotypischen Eigenschaften zu den Umweltbedingungen ab. In einigen Textsorten und Kontexten wird das generische Maskulinum beispielsweise nach wie vor sehr stabil verwendet, in anderen wie z. B. in der öffentlichen Kommunikation von Universitäten ist es bereits weitestgehend durch die Form Studierenden oder Beidnennungen ersetzt worden. Die Stabilität und der Erfolg sprachlicher Strukturen sind darüber hinaus letztlich in verschiedenen Spannungsverhältnissen begründet. Dazu gehören u. a. die Beziehungen der Beschreibungsebenen (Phonologie, Morphologie, Semantik, Pragmatik usw.), die systemdefinierenden Parameter einer Sprache, soziolinguistische Konstellationen (Prestige, Alter, Geschlecht) und die Type- und Token-Frequenz. Die Konkurrenz von Strukturmerkmalen beschreibt MUFWENE (2001, 4‒6) mit seinem feature pool-Modell. Einerseits bringen die Sprecher eines Kommunikationsraums Merkmale ihres Idiolekts in den „feature pool“ ein, andererseits übernehmen sie Merkmale von anderen Sprechern. „While interacting with one other, speaker contribute features to a pool from which they make their selections […].“ (MUFWENE 2001, 18) Die Idiolekte synchronisieren sich so permanent. Mikro-, Meso- und Makrosynchronisierungen sind der Grund für die Herausbildung neuen gemeinsamen sprachlichen Wissens. The mutual accommodations that speakers make to each other and their nonidentical creative innovations set in motion constant competition-and-selection processes that bring about changes of all kind. […] They are like those microevolutionary processes that become significant at the macroevolutionary level when they justify positing speciation. (MUFWENE 2001, 12)
In Sprachkontaktsituationen, also in Umwelten, in denen Mehrsprachigkeit und Spracherwerbsprozesse eine Rolle spielen, treffen Schemata aufeinander, die sehr stark voneinander abweichen können. Durch diese Differenz können durch Mesound Makrosynchronisierungsprozesse neue Sprechweisen oder sogar Varietäten entstehen.502 Tiefergreifende Restrukturierungen können so auf der Meso- und 502 MUFWENE (2001, 12) versteht eine sprachliche Spezies als „Lamarckian species“. Sprecher können die Spreche intentional verändern. Sie passen ihren Sprachgebrauch bspw. in Folge von veränderten Umweltbedingungen bzw. Kontextbedingungen an. Außerdem kann sprachliche Struktur auch horizontal, also innerhalb einer Generation oder gleichaltrigen Peergroup, und nicht nur vertikal von älteren zu jüngeren Sprechern weitergegeben werden. Daher legt MUFWENE (2008, 18) Wert darauf, Sprache bzw. Idiolekte mit Viren zu vergleichen, die ihren Genotyp noch während ihrer Lebenszeit ändern können. „One way of accounting for the piecemeal way in which a language is ‚acquired‘ is the fact that its features are copied (typi
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Makroebene zur Herausbildung von neuen Sprechweisen, Varietäten oder Sprachen führen.503 Ähnlich wie SCHMIDT / HERRGEN unterscheidet MUFWENE (2001, 147) zwischen Selektion auf der Ebene des Individuums (Mikrosynchronisierung) und der Ebene der Gruppe (Meso- und Makrosynchronisierung). Der Selektion auf der Ebene der Gruppe muss Selektion auf der Ebene des Individuums vorausgehen (individual vs. group selection). Mit diesem Verständnis von Sprachkontakt formuliert MUFWENE (2001, 137)504: „Contact at the interidiolectal level is a critical factor in almost any case of language evolution“. Die graduelle Herausbildung einer neuen Sprache bzw. Varietät vergleicht MUFWENE mit der Entwicklung einer neuen Spezies oder Subspezies. MUFWENE (2001, 143) verweist in diesem Zusammenhang auf sein feature pool-Modell: „The new species that emerges out of competition and selection of features in the contact setting is typically a transformed state of one or more species that came in contact with another“. Dabei kann die neue Varietät Elemente (features), die sie vorher noch nicht hatte, gewinnen und/oder es werden Elemente wichtiger (verstärkt), die vorher nicht so wichtig waren und/oder für die Varietät gehen Elemente verloren und/oder werden marginalisiert. Welche Elemente sich aus dem feature pool durchsetzen (gewählt werden), ist für MUFWENE (2001, 146–147) eine Frage der natürlichen Selektion in Bezug auf die innere und äußere sprachliche Umwelt und die sich ändernden kommunikativen Bedürfnisse.
cally with modification) in ways that are closer to horizontal transmission in biology, as in epidemiology, than to vertical, generational transmission.“ (MUFWENE 2008, 18) 503 Dass der Statusunterschied zwischen Dialekten und Sprachen (oder auch Regionalsprachen) wie beispielsweise fürs Niederdeutsche auf linguistischer Ebene häufig nur unzureichend begründet werden kann, belegt, dass die Statuszusprechung auch vom Urteil der Sprecher und sprachpolitischen Entscheidungen abhängt (BÜLOW 2013, 190–192). 504 „Contact is everywhere, starting at the level of idiolects; the coexistence of these encourages the natural selection approach“ (MUFWENE 2001, 146).
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Abb. 11: Feature pool-Modell nach MUFWENE (2001, 6)
Das feature pool-Modell hilft zwar im Nachhinein zu erklären, wo strukturelle Eigenschaften von neuen Varietäten oder Sprachen herkommen. Mit Hilfe linguistischer Kriterien alleine lässt sich aber nicht plausibel erklären, warum bestimmte Features gegenüber anderen Features bevorzugt werden oder warum völlig neue Features entstanden sind. Dazu ist auf soziolinguistische Erklärungsmuster wie (verdecktes) Prestige und Identität zurückzugreifen. Denn sprachstrukturelle Selektionen lassen sich häufig nicht ohne die Umweltbedingen verstehen, in denen sie stattfinden. 6.2 MEHRSPRACHIGKEIT, SPRACHERWERB, SPRACHKONTAKT UND SPRACHWANDEL Die Konzepte Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit sind kaum voneinander zu trennen. „‚Sprachkontakt‘ rückt die beteiligten Sprachen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, ‚Mehrsprachigkeit‘ dagegen die Eigenschaft der Menschen, die diese Sprachen sprechen, oder der Gruppen, in denen diese Sprachen gesprochen werden.“ (RIEHL 2014, 12) Statt von Mehrsprachigkeit als Folge von Sprachkontakt zu sprechen, ist für RIEHL (2014, 12) vielmehr Sprachkontakt ein Ergebnis von Mehrsprachigkeit. Mehrsprachigkeit bezieht sich in diesem Kontext allerdings nicht ausschließlich auf das Sprechen von mehreren Einzelsprachen, sondern auch auf das Beherrschen verschiedener Varietäten einer Sprache, was mit den Begriffen Innere Mehrsprachigkeit505 (HOCHHOLZER 2013; 2010; GLAUNINGER 505 HOCHHOLZER definiert den Begriff Innere Mehrsprachigkeit folgendermaßen: „Der Terminus ‚Innere Mehrsprachigkeit‘ zielt ab auf eine individualisierte, sprecherbezogene und bewusste Fähigkeit, mehrere Sprachsysteme innerhalb der eigenen Muttersprache produktiv und rezep
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2010) und Varietätenkontakt506 (RIEHL 2014, 13) bezeichnet wird.507 Sprach- und Varietätenkontakt sind strukturell ähnliche Prozesse (MUFWENE 2001, 107–108). Auch neuronal gibt es bei der Verarbeitung von Fremdsprachen und Varietäten kaum Unterschiede (DE BOT / JAENSCH 2015, 136–137). Im Folgenden rückt aufgrund der Sprecherzentrierung insbesondere die psycholinguistische Begriffsbestimmung von Sprachkontakt von WEINREICH (1953) in den Mittelpunkt. „Die Plattform, auf der die Begegnung verschiedener Sprachen stattfindet, ist das sprachverarbeitende Gehirn und der kontextabhängige Sprachgebrauch des mehrsprachigen Sprechers.“ (HANS-BIANCHI 2013, 195) Zum Spracherwerbsprozess gehört in der Regel, dass die Sprecher verschiedene Varietäten wie einen Dialekt und den Standard lernen. Zudem ist es üblich, dass mindestens eine weitere Fremdsprache in der Schule gelernt wird.508 Im Sinne der Complex Dynamic Systems Theory entwickeln sich für die unterschiedlichen Sprachen bzw. Varietäten verschiedene kognitive Schemata, die sich wechselseitig beeinflussen können. Demnach stehen Sprachen „miteinander in Kontakt, wenn sie von ein und demselben Individuum abwechselnd gebraucht werden“ tiv verwenden zu können“. GLAUNINGER (2010, 190; Anmerkung 2) definiert Innere Mehrsprachigkeit als „hinreichend ausgeprägte – produktive und rezeptive – Kompetenz im Kommunikationsverhalten ‚innerhalb‘ eines diasystemisch interagierenden Gesamtkomplexes an natürlichsprachlichen Varietäten“. Er stellt weiterhin klar, dass Innere Mehrsprachigkeit „zweifelsfrei nicht als individuell-idiolektales Phänomen betrachtet werden“ (GLAUNINGER 2010, 182) kann. Hier wird unter Innerer Mehrsprachigkeit die Fähigkeit verstanden, zwischen verschiedenen Varietäten einer Sprache (horizontal) situationsangemessen (vertikal) wechseln zu können. 506 Unter Varietätenkontakt wird in der Literatur vorrangig der Kontakt zwischen Dialekten einer Sprache verstanden (RIEHL 2014, 141). Hier soll aber der Kontakt zwischen Dialekten mit anderen Varietäten wie der Standardvarietät ebenfalls berücksichtigt werden. Akkommodations- und Konvergenzprozesse durch Varietätenkontakt finden in erster Linie auf der phonologischen und morphologischen Ebene statt, da das Lexikon in der Regel sehr ähnlich ist. Der Varietätenkontakt und seine Folgen sind besonders in deutschen Sprachinseln zu beobachten. Obwohl Siedler mit niederdeutschen Mundarten einen Teil der Erstsiedler darstellten, wurde das Niederdeutsche von der Sprachgemeinschaft weitgehend eingeebnet (RIEHL 2014, 144). Das feature pool-Modell von MUFWENE (2001, 6) könnte den Prozess sehr gut veranschaulichen. MUFWENE (2001) spricht in diesen Fällen, in denen Varietätenkontakt zu Reduzierung von Varietätenvielfalt führt, von Koineisierung. Ein typisches Beispiel für die Koineisierung ist die Entwicklung des Englischen in Neuseeland und Australien. 507 Ein Beispiel für Sprachwandel durch Varietätenkontakt ist die Herausbildung der englischen Umgangssprache der weißen Amerikaner (White American English Vernaculars) (MUFWENE 2001, 81–86). Zu Varietätenkontakt kommt es auch zwischen Dialekten und der Standardvarietät. Dialekt ist in diesen Fällen häufig die Erstvarietät – wird also zuerst gelernt – und der Standard die Zweitvarietät (BÜLOW / KRIEG-HOLZ 2013, 149; WEISS 1998, 3). WEISS (1998, 3) spricht in diesem Kontext sogar von natürlichen Sprachen erster Ordnung (N1 Sprachen, die das L1-Kriterium erfüllen) und natürlichen Sprachen zweiter Ordnung (N2 Sprachen, die das L1-Kriterium nicht erfüllen). 508 TRACY (2006, 89–90) kommt zu dem Schluss, dass der doppelte Erstspracherwerb von typologisch verwandten Sprachen wie dem Deutschen und dem Englischen keine negativen Konsequenzen für den Spracherwerbsprozess der Kinder hat.
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(RIEHL 2014, 12). Dass die Schemata in Kontakt stehen, bedeutet in verschiedenen Kontexten auch, dass sie in Konflikt stehen, soll heißen; welches Schema letztlich neuronal aktiviert wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren wie dem sprachlichen Kotext, dem lebensweltlichen Kontext oder auch einfach von der körperlichen Verfassung des Sprechers ab.509 Ein enges Verständnis von Sprachkontakt bedeutet, dass sich mindestens zwei Schemata zweier Varietäten innerhalb des individuellen Sprachwissens wechselseitig beeinflussen. Mit RIEHL (2014, 12) kann Sprachkontakt allerdings auch weiter verstanden werden: „Unter Sprachkontakt versteht man daher die wechselseitige Beeinflussung von zwei oder mehreren Sprachen“. Dabei gehen dem Sprachkontakt Sprachlernprozesse und Mehrsprachigkeit voraus. Aktuell erfährt Mehrsprachigkeit eine deutliche Aufwertung durch die Wissenschaft (HOCHHOLZER 2013, 50; HINRICHS 2013, 58; WIESE 2012, 231; TRACY 2011, 91; KREFELD 2004, 91).510 Hoch im wissenschaftlichen Diskurs liegt momentan das Schlagwort Bilingual Advantage (DE BOT 2015). Wer zwei- oder mehrsprachig aufwächst, hat demnach kognitive Vorteile gegenüber einsprachigen Personen.511 Weiterhin stärkt Mehrsprachigkeit das Sprach- und insbesondere das Sprachdifferenzbewusstsein (HOCHHOLZER 2013, 50; TRACY 2011, 86; KREFELD 2004, 91). Mehrsprachigkeit fördere darüber hinaus das Lernen weiterer Sprachen und die Kreativität (HINRICHS 2013, 58; ANSTATT 2008, 69–70).512 Wenn zwei oder mehrere Sprachen innerhalb einer sozialen Gruppe verwendet werden, spricht man von der sogenannten soziolinguistischen Begriffsbestimmung von Sprachkontakt (RIEHL 2014, 12–13). Nicht jeder der Sprecher dieser Gruppe muss die verschiedenen Sprachen gleichermaßen beherrschen. Sprachkontaktphänomene werden besonders da deutlich, wo verschiedene Sprachen bzw. 509 „Wie sich der Sprachkontakt innerhalb von mehrsprachigen Sprechergemeinschaften in den beteiligten Sprachsystemen niederschlägt, d. h. welche Elemente einer Sprache bleibenden Eingang in das andere Sprachsystem finden, hängt maßgeblich, aber nicht alleine von sozialen Faktoren ab.“ (HANS-BIANCHI 2013, 196) 510 Damit ist allerdings zumindest eine implizite Abwertung der Einsprachigkeit verbunden. Mehrsprachigkeit wird zum Wert an sich. Etwas undifferenziert erscheinen dann Äußerungen wie: „Stets ist ein Mehrwert für das Individuum und die Gesellschaft damit [mit Mehrsprachigkeit; LB] verbunden. Die festgestellten Probleme mit der Mehrsprachigkeit sind in den allermeisten Fällen nämlich nicht der Tatsache mehrerer Sprachen, sondern vielmehr der negativen Einstellung gegenüber Mehrsprachigkeit geschuldet“ (HOCHHOLZER 2013, 50). Ideologisch ist außerdem die nachfolgende Aussage zu werten: „Jedem Menschen muss das Recht auf seine eigene Sprache zugestanden werden, ganz gleichgültig, ob es sich um innere oder äußere Mehrsprachigkeit handelt“ (HOCHHOLZER 2013, 51). Andererseits wurde auch die Einsprachigkeit lange aus ideologischen Gründen verfochten. Zur Zeit der Nationalstaatswerdung war das Konzept der Kulturnation ein wichtiger Katalysator für das Konzept einer einheitlichen, überdachenden Sprache. 511 Mehrsprachige Personen schneiden beispielsweise beim sogenannten Stroop Task besser ab (BIALYSTOK / CRAIK 2010). 512 „Interessant mag in diesem Zusammenhang sein, dass neue erfolgreiche Literaten in Deutschland oft Mehrsprachige mit Migrationshintergrund sind, z. B. Herta Müller (Rumänien), Sibylle Lewitscharoff (Bulgarien) oder Rafiq Schami (Syrien), […].“ (HINRICHS 2013, 58)
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Varietäten nebeneinander und abwechselnd gebraucht werden. Wie am Beispiel der Sprechweise Kiezdeutsch noch gezeigt wird, „diffundieren dann bestimmte Elemente auch in den Sprachgebrauch einsprachiger Sprecher“ (RIEHL 2014, 13).513 Zur soziologischen Begriffsbestimmung von Sprachkontakt gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Kommunikationsraum. KREFELD (2004, 22) unterscheidet auf der Basis des Kommunikationsmodells von ROMAN JAKOBSON (1960/1979, 88) zwischen drei Dimensionen: 1. die Räumlichkeit der Sprache (im Sinn der Arealität und der Territorialität), 2. die Räumlichkeit des Sprechers (im Sinn der Provenienz und Mobilität), 3. die situative Räumlichkeit des Sprechens (im Sinn der Positionalität der Kommunikanten und ihrer Interaktion).514
Die Herausforderung besteht darin, die drei Dimensionen methodologisch zu verknüpfen. Gelingt diese Verknüpfung, können Muster für die Typisierung von Kommunikationsräumen abstrahiert werden. Die Kommunikationsräume bezeichnet KREFELD (2004, 25) in Analogie zum Begriff Biotop als Glossotope. Der Ausdruck [Glossotop; LB] meint also die Gesamtheit der Regularitäten (und damit der kommunikativen Reichweiten), die den lokalen Gebrauch der sprachlichen Varietäten in einer bestimmten lebensweltlichen Gruppe (zum Beispiel einer Familie, einer Nachbarschaft, einer peergroup etc.) steuern; […]. (KREFELD 2004, 26).
Der Vorschlag von KREFELD ist somit weniger Sprach- als Sprechergruppen bezogen. Er umfasst die Mikro- und Mesoebene und damit auch die Prozesse der Mikro- und Mesosynchronisierung. Dreidimensional wird der Kommunikationsraum somit sowohl horizontal als auch vertikal und situativ greifbar.515 „Glossotope bilden die kleinstmöglichen und deshalb grundlegenden Einheiten des kommunikativen Raums überhaupt.“ (KREFELD 2004, 26) Das Konzept der Glossotope erfasst nicht nur Innere Mehrsprachigkeit, sondern Mehrsprachigkeit im Allgemeinen. Damit „ermöglicht das Konzept gewissermaßen eine mehrsprachige Varietätenlinguistik“ (KREFELD 2004, 28). Diese Form der Varietätenlinguistik kann in besonderer Weise Mehrsprachigkeit, Sprachkontaktphänomene und spezifische
513 Beim sprachlernenden Individuum überwiegt der Einfluss der Erst- auf die Zweitsprache. In multilingualen Gesellschaften ist auf der Makroebene allerdings häufig zu beobachten, dass die Minderheitensprachen einen Einfluss auf die Mehrheitssprache ausüben. 514 Ausführlich zur Räumlichkeit der Sprache, des Sprechers und des Sprechens (KREFELD 2004, 23–25). 515 KREFELD (2004, 26) übt in Bezug auf die eindimensionale Sprachbetrachtung insbesondere Kritik an den traditionellen Sprachatlanten. Diese „sind in höchstem Maße reduktionistisch und idealisierend“. Kritik an der methodisch falschen Darstellung von Homogenität äußert auch SCHMIDT (2005b, 62–63). Zum einen sollte vermieden werden, die Dialektologie mit einer rein arealen Sprachgeographie gleichzusetzen. Auch Dialektologen beschäftigen sich mit der Situativität der dialektalen Sprachverwendung. Zum anderen haben die Atlanten trotz der genannten Defizite durchaus einen Wert für die Varietätenlinguistik. Entscheidend sind die Fragen, die mit Hilfe der Atlanten beantwortet werden sollen.
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Ausdrucksformen wie Codeswitching und Codemixing fassbar machen.516 Um Kiezdeutsch später adäquat einordnen zu können, ist es weiterhin hilfreich, zwischen Diglossie und Dilalie zu differenzieren. Die Unterscheidung erscheint auch bei KREFELD (2004, 34) und geht auf BERRUTO (1991) zurück. Der Begriff Dilalie macht deutlich, dass nicht nur zwischen höheren und niederen Varietäten (Sprachen) unterschieden werden kann, sondern, dass es auch im Bereich der niederen, in der Regel gesprochen-sprachlichen, nicht kodifizierten und im Nahbereich angesiedelten Varietäten ein breites Spektrum gibt. Insbesondere die mesokosmische Ebene der Dilalie ist Ausgangspunkt für Variation, Selektion und damit auch für Sprachwandel.517 Abbildung 12 erfasst Deutschland schematisch als migratorischen Sprachkontaktraum.
Abb. 12: Deutschland als migratorischer Sprachkontaktraum nach KREFELD (2004, 35; leicht verändert LB)
RIEHL (2014, 116) listet generalisierend einige Sprachwandeltendenzen auf, die durch Sprachkontakt hervorgerufen werden und in Einklang mit dem feature poolModell stehen: a) „Beschleunigung von in der Sprache bereits angelegten Entwicklungstendenzen in eine bestimmte typologische Richtung“, b) „Wirkung bestimmter kognitiver Prinzipien“, c) „nur durch Kontakt bedingte Entwicklungen“,
516 Die Begriffe Codeswitching und Codemixing werden in der Linguistik sehr heterogen gebraucht. KREFELD (2004, 91) spricht von Codeswitching, wenn der Wechsel funktional ist, und von Codemixing, wenn der Wechsel nicht funktional ist. 517 In Migrationssituationen ist Sprachdynamik durch Sprachkontakt ein universelles Phänomen (KREFELD 2004, 39). Migration bedeutet allerdings für extraterritoriale Varietäten in der Regel auch, dass sich Isolationsphänomene einstellen, die einen bewahrenden Charakter haben. Wie sich Isolation auf eine sprachliche Varietät auswirken kann, wird eindrucksvoll von SCHREIER (2003) am Beispiel des Englischen von Tristan da Cunah beschrieben, das insbesondere aus der Kontaktsituation verschiedener englischer Dialekte entstanden ist (SCHREIER 2003, 71) und über Jahrzehnte völliger Isolation ausgesetzt war. Tristan da Cunah ist eine kleine Insel im Atlantischen Ozean, die knapp 2300 Kilometer von St. Helena, 2800 Kilometer von Kapstadt und 3400 Kilometer von Uruguay entfernt liegt. Tristan da Cunah ist wohl die abgelegendste Insel der Welt. Die Insel wurde um 1506 entdeckt und ist seit ca. 1816 durchgehend besiedelt und gehört zum britischen Überseegebiet. Heute leben weniger als 300 Menschen auf der Insel (SCHREIER 2003, 41).
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d) „Ausbau latenter Kategorien unter Sprachkontaktbedingungen“ und e) das „Ökonomieprinzip“.518 Ein Beispiel, das auch für die deutsche Standardvarietät Relevanz hat, ist der Abbau der Kasusmorphologie. Wie RIEHL (2014, 116–117) zeigt, wird diese Tendenz, die in den deutschen Varietäten angelegt ist, durch den Sprachkontakt noch beschleunigt. Der Umbau zu einem analytischeren Sprachbautypus findet dann beispielsweise auch im Kontakt mit dem Russischen statt, das über ein gut ausgebautes Kasussystem verfügt. „Kontaktphänomene zeigen also Simplifizierung und Beschleunigung von sprachlichen Entwicklungen.“ (RIEHL 2014, 117) Kognitive Prinzipien, die auch in Sprachkontaktsituationen zum Tragen kommen, sind konstruktioneller Ikonismus, Transparenz und Uniformität (HARNISCH 2004b, 528; Kap. 4.2.1). So sind beispielsweise typische Interferenzfehler wie Übergeneralisierungen durch diese kognitiven Prinzipien geprägt. Ein gutes Beispiel beschreiben BÜLOW / KRIEG-HOLZ (2013, 155–157). Die Gewährsperson, ein fünfjähriges Mädchen, das im familiären Nahbereich an die Standardvarietät gewöhnt ist, im Kindergarten aber mit einer Variante des mittelbairischen Dialekts konfrontiert ist, produzierte beispielsweise die Partizipialform gekhopt519 aus Standarddeutsch gehabt und bairisch khobt. Im Bairischen wird der Schwa-Laut im Präfix häufig getilgt und der Anlaut assimiliert (KOCH 2007).520 Durch das (Wieder)Anfügen des Partizipialpräfixes ge- wurde die nicht mehr durchsichtige Verschmelzung des Präfixes mit dem Verbstamm von mhd. gehabet zu mittelbairisch khobd wieder durchsichtig gemacht.521 Form und Funktion wurden so durch die Gewährsperson wieder in Einklang gebracht. Gute Form-FunktionsBeziehungen scheinen gerade im Spracherwerb eine wichtige Rolle zu spielen, wo es in bestimmten Phasen häufig zu Übergeneralisierungsfehlern kommt (Kap. 3.3.1.2). Bestimmte Formen und Konstruktionen sind nicht in allen Sprachen vorhanden bzw. gleich grammatikalisiert, können aber durch Sprachkontakt entscheidend ausgebaut werden. Im Namibiadeutschen wird beispielsweise die um…zuKonstruktion von den Sprechern für zusätzliche Kontexte gebraucht, wohingegen 518 Die Tendenzen sind in verschiedenen Sprachkontaktsituationen unterschiedlich ausgeprägt und teilweise sogar gegenläufig. Tendenzen zur Vereinfachung und Komplexitätsentwicklung eines Sprachbautypus können häufig sehr nahe beieinander liegen. Komplexitätsreduktion und der Abbau markierter sprachlicher Ausdrucksformen sind beispielsweise typisch bei der Herausbildung von sogenannten Pidgins (HARNISCH 2004b, 527). 519 Die Form war in den Satz Das hab ich gekhopt als ich ein kleines Baby war eingebettet (BÜLOW / KRIEG-HOLZ 2013, 155). 520 Für das Mittelbairische sind folgende nicht kontrahierten Formen charakteristisch: khobd, khapt. Für Passau ist die Variante khobd im Niederbayrischen Sprachatlas belegt (KOCH 2007, 120–121). 521 „Im Falle von khobt ist davon auszugehen, dass es durch die Synkope des e- im ge-Präfix zu einer Kontaktstellung von g und h kommt. Infolgedessen wird nicht behauchtes g durch Kontakt mit behauchtem h zu k aspiriert. Es kommt zu einer Fortisierung, einer Verhärtung von g zu k. Das k stellt somit ein besonderes Ergebnis der partiellen Assimilation des ge-Präfixes dar.“ (BÜLOW / KRIEG-HOLZ 2013, 157)
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Kontaktinduzierter Sprachwandel
die um…zu-Konstruktion im Sprachkontakt mit dem Russischen, das über den präpositionslosen Infinitiv verfügt, abgebaut wird (RIEHL 2014, 118). Kategorien, die in einer der Kontaktsprachen schon grammatikalisiert sind, können auch in der anderen Kontaktsprache in den Grammatikalisierungskanal geraten. Dafür werden allerdings Strukturen genutzt, die schon in der Sprache vorhanden sind. Durch den Sprachkontakt mit dem Englischen ist es beispielsweise denkbar, dass die Rheinische Verlaufsform ich bin am Kochen als Marker für die Kategorie Aspekt genutzt wird. Im Englischen ist die Kategorie Aspekt vollgrammatikalisiert und wird durch eine Form von be und einem Verb mit -ingSuffix wie in I’m cooking ausgedrückt. HEINE / KUTEVA (2005, 92) nennen diesen Vorgang „Replica grammaticalization“.522 a. Speakers notice that in language M there is a grammatical category Mx. b. They create an equivalent category Rx in language R, using material available in R. c. To this end, they replicate a grammaticalization process they assume to have taken place in language M, using an analogical formula of the kind [My > Mx] : [Ry > Rx]. d. They grammaticalize Ry to Rx. (HEINE / KUTEVA 2005, 92)
Häufig gehen den Grammatikalisierungsprozessen in Varietäten allerdings Entwicklungen voraus, die als Abbau von struktureller Komplexität aufgefasst werden können. Interessanterweise liegen sowohl dem Komplexitätsabbau als auch dem Komplexitätsaufbau Ökonomisierungsbestrebungen der Sprecher zu Grunde. Sie sind bemüht, „die unterschiedlichen Sprachsysteme so zu organisieren, dass sie viele der Strukturen möglichst ökonomisch nutzen können“ (RIEHL 2014, 119). Sprecherökonomie ist allerdings, wie die Natürlichkeitsforschung gezeigt hat, ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite reduzieren die Sprecher den Artikulationsaufwand, wodurch beispielsweise Verschmelzungsprozesse in Gang gesetzt werden und morphologische Grenzen undurchsichtig werden. Auf der anderen Seite sind sie im Interesse der Hörer bestrebt, morphologische FormFunktions-Beziehungen möglichst transparent zu gestalten. Weil das Erlernen weiterer Sprachen ein anstrengender und den kognitiven Apparat belastender Prozess ist, kann Ökonomie im Kontext des ungesteuerten Zweitspracherwerbs zudem bedeuten, dass Formenreichtum und Komplexität abgebaut werden, so dass die einfachsten kommunikativen Bedürfnisse befriedigt werden können. Viele Pidginsprachen und Ethnolekte sind beispielsweise zunächst weniger komplex als gut ausgebaute Sprachen oder Dialekte (HARNISCH 2004b, 527–528). Im Umgang mit Migranten lässt sich häufig der strukturell reduzierte sogenannte Foreigner Talk (auch Ausländerregister) beobachten, der wohl aber nur bedingt zur 522 Ein weiteres Beispiel für einen sprachkontakt-induzierten Grammatikalisierungsprozess ist die Entwicklung des Indefinitartikels ein/eine aus dem Zahlwort eins in vielen europäischen Sprachen (ROBBEETS / CUYCKENS 2013, 5–6). Interessanterweise hat das Isländische, das über einen langen Zeitraum nur wenig mit anderen Sprachen in Kontakt stand, bis heute keinen Indefinitartikel ausgebildet (SZCZEPANIAK 2011, 79).
Migration und Sprachwandel
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Herausbildung des sogenannten Gastarbeiterdeutschs beigetragen haben dürfte (MEISEL 1975, 46–48). Bei sprachlich ausgereiften Erwachsenen haben wir es zu tun mit einer unbewussten, aber trotzdem gezielten Bewegung von einer komplexeren Stufe der grammatischen Organisation auf eine einfachere Stufe, die für neue Kommunikationsarten in einem mehrsprachigen Milieu geeigneter ist. (HINRICHS 2013, 228)
Dass die einzelnen Entwicklungen in verschiedene, sogar entgegengesetzte Richtungen verlaufen können, zeigt, dass Evolution grundsätzlich nicht gerichtet ist, auch wenn bestimmte historische und kognitive Strukturbedingungen (constraints) gewisse Entwicklungsgrenzen setzen. Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt können Tendenzen, die sich abzuzeichnen scheinen, wieder durchbrechen oder auch verstärken. Sprachwandel kann zu Komplexitätsaufbau, aber auch zu Komplexitätsreduzierungen führen. Welche Einheiten (features) selektiert werden, hängt zudem maßgeblich von soziolinguistischen Variablen ab. Sprechweisen können sich in bestimmten Glossotopen durch Mikro- und Mesosynchronisierung stabilisieren. Die psycholinguistische und die soziolinguistische Begriffsbestimmung zusammengenommen, treten Sprachkontaktphänomene dort auf, „wo verschiedene Sprachen oder Varietäten einer Sprache aufeinander treffen, entweder im Kopf eines mehrsprachigen Sprechers oder in mehrsprachigen Gruppen“ (RIEHL 2014, 14). Beiden Ebenen ist Rechnung zu tragen, um kontaktinduzierten Sprachwandel angemessen erklären zu können. 6.3 MIGRATION UND SPRACHWANDEL Migration ist eine häufige Ursache für Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt. Immerhin ist die Geschichte des Homo sapiens auch die Geschichte von Migration, vom Auszug aus Afrika vor hunderttausenden von Jahren über die Ausbreitung der Indogermanen […] über die Kolonialgeschichte bis zu den heutigen Arbeitsmigrationen und Flüchtlingsströmen (LÜDI 2011, 15).
Migration bedeutet Sprechermobilität. Diese wiederum führt zu Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt und sprachlicher Dynamik. Migration sollte daher „zu den konstantesten Parametern der Varietätenlinguistik und des Sprachwandels gezählt werden“ (KREFELD 2004, 147). Die „stark angewachsenen Migrationsbewegungen in die ökonomisch prosperierenden Gebiete der Welt, besonders in die Großstädte in Europa“ zeigt „sprachliche Konsequenzen“ (AUER 2013b, 9), die zunehmend in den Fokus der Linguistik rücken. Insbesondere Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der wichtigsten Einwanderungsländer Europas avanciert (HINRICHS 2013, 42).523 Durch die Migrationsbewegungen524 seit den 1960er Jah 523 „Kein Land hat, absolut wie relativ, mehr Migranten aufgenommen. Im Jahr 2012 lebten im Lande etwa 16 bis 17 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, etwa ein Fünftel der
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Kontaktinduzierter Sprachwandel
ren ist die deutsche Gesellschaft in vielen Bereichen mit Mehrsprachigkeit konfrontiert.525 Die Konfrontation mit der Anderssprachigkeit ist in vielen Kommunikationsräumen allgegenwärtig, sei es in der Schule, den Sportvereinen oder am Arbeitsplatz. Die Migration nach Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten allerdings verändert. Die Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren kamen hauptsächlich aus der Türkei und Italien. Migration ist gegenwärtig durch Diversifizierung gekennzeichnet und weniger statisch als vielmehr fließend: Die migrationsbedingte Vielfalt nimmt zu, d. h. Migranten kommen nicht mehr nur aus einigen wenigen Herkunftsländern. Das hat zur Folge, dass nicht mehr Großgruppen dominieren, sondern viele kleinere Gruppen aus vielen verschiedenen Ländern einwandern. (REERSHEMIUS / ZIEGLER 2015, 244)
Migration, Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt sind für die Sprecher aber auch mit Herausforderungen verbunden. HOCHHOLZER (2013, 47) betont beispielsweise, dass die PISA-Studie 2000 gezeigt hat, „dass ein viel zu hoher Prozentsatz von Migrantenkindern nicht über die deutschsprachigen Kompetenzen verfügte, die für schulisches und berufliches Weiterkommen unerlässlich sind“. Häufig wird die (Standard-)Varietät des Gastlandes nicht so gelernt, dass sie ein entsprechendes und akzeptables Niveau für die standardsprachlichen Kommunikationsräume bzw. Glossotope erreicht, in denen in der Regel auch eine entsprechend ausgeprägte Schriftlichkeit relevant ist. Die Gründe für die alarmierenden Zahlen dürfen aus ideologischen Gründen nicht einseitig gesucht werden. Dorothea Siems nimmt in „Die Welt“ (vom 25.06.2012) eine differenzierte Haltung ein. Integration ist kein Selbstläufer. Was alles schief gehen kann, wenn Zuwanderung ungesteuert erfolgt […], hat Deutschland in den vergangenen Jahren schmerzhaft erfahren. Die Folgen der Fehler, die auf beiden Seiten gemacht wurden – mangelnder Wille zur Eingliederung bei vielen Zuwanderern und eine in Abwehrhaltung verharrende einheimische Gesellschaft – sind bis heute spürbar.
In Deutschland leben ca. 16 bis 17 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, von denen die meisten Wurzeln in der Türkei, Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken haben (Statistisches Bundesamt).526 Derzeit steigt die Zahl der Asylsuchenden aus Syrien und Afghanistan rasant an. Allein für 2015 rechnet die Bundesregierung mit über einer Million Flüchtlingen. Bevölkerung.“ (HINRICHS 2013, 42) Auch in der aktuellen Flüchtlingskrise 2015 nimmt Deutschland die meisten Flüchtlinge auf (REIMANN 2015). 524 HINRICHS (2013, 44) unterscheidet für den Zeitraum seit den 1960er Jahren chronologisch zwischen Arbeitsmigration, Familienmigration und Fluchtmigration. 2015 hält in Deutschland insbesondere die Fluchtmigration aus Krisengebieten wie Afghanistan und Syrien an. Zur Migrationssituation in Deutschland aus sprachwissenschaftlicher Perspektive vgl. REERSHEMIUS / ZIEGLER (2015, 243–245). 525 HINRICHS (2013, 50) verweist darauf, dass noch ein Unterschied zwischen den alten und den neuen Bundesländern besteht. 526 In den amtlichen Statistiken wird die ethnische und sprachliche Zugehörigkeit leider nur ungenügend bis gar nicht erfasst.
Migration und Sprachwandel
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Viele der Personen mit Migrationshintergrund leben heute jedoch schon seit der zweiten, dritten und vierten Generation in Deutschland. In großstädtischen Vierteln mit hohem Migrantenanteil greift die Drei-Generationen-Regel allerdings nur bedingt. Laut dieser Regel erlernt die erste Generation die Sprache des aufnehmenden Landes nur unvollständig, die zweite Generation wächst zweisprachig auf und lernt die Sprache des Einwanderlandes verhältnismäßig früh als Zweitsprache und die dritte Generation erwirbt die Sprache des Gastlandes schon häufig als Erstsprache (ANSTATT 2008, 69; MATTHEIER 2003, 22). Die DreiGenerationen-Regel trifft auf bestimmte Einwanderergruppen nur bedingt zu, da sich diese in einzelnen Vierteln der Großstädte kompakt organisieren und „es zu einer ähnlichen Situation wie bei den Sprachinselminderheiten“ (RIEHL 2014, 72) kommt.527 Viele türkische Migranten haben Türkisch – zumindest eine Varietät davon – als Erstsprache über die dritte Generation hinaus erhalten. Dazu tragen maßgeblich anhaltende Neueinwanderung, Endogamie, enge soziale Netzwerke, Austausch mit dem Mutterland und Zugänglichkeit von Medien aus dem Mutterland bei (RIEHL 2014, 73; MATTHEIER 2003, 26–29). Auch die Möglichkeiten der Telefonie und das Internet (Gespräche über Skype; Chat) tragen maßgeblich zu einer nicht zu unterschätzenden transnationalen Verknüpfung der Kommunikationsräume bei (KREFELD 2004, 44).528 Nichtsdestotrotz sprechen die Migranten neben ihrer Herkunftssprache auch Deutsch, wodurch Sprachkontakt entsteht, der sich im Varietätenspektrum des Deutschen niederschlägt. Dabei sind viele der Termini, die Linguisten verwenden, um die neuen sprachlichen Strukturen zu beschreiben, „problematisch und diskussionsbedürftig“ (AUER 2013b, 9). Dazu zählen beispielsweise auch die Begriffe Ethnolekt oder Multiethnolekt, die dynamische und variantenreiche Sprechweisen mit einer strukturalistisch geprägten Terminologie zu fassen versuchen. Die Begriffe verschleiern die Heterogenität und Vielschichtigkeit, die sich hinter den Sprechweisen verbirgt. Da diese Arbeit ein dynamisches Sprachverständnis vorschlägt, wird im Folgenden in der Regel der neutralere Begriff (multi)ethnolektal geprägte Sprechweise(n) verwendet.529 Im nächsten Abschnitt wird ein Vorschlag unterbreitet, wie sich das sogenannte Kiezdeutsch als (multi)ethnolektal geprägte Sprechweise entwickelt und herausgebildet haben könnte.
527 „In den türkischen Vierteln der Großstädte gibt es Kinder, die bis zum Schuleintritt nur in ihrer Muttersprache aufwachsen, und viele sprechen bei ihrer Einschulung kaum Deutsch.“ (RIEHL 2014, 73) 528 Die Sprachinselsituation führt aber auch dazu, dass sich auch das Türkische der in Deutschland lebenden Migranten auf spezifische Weise verändert. 529 REERSHEMIUS / ZIEGLER (2015, 249) halten auch die Ableitung ethnolektal für problematisch. Sie sprechen von „sprachkontaktinduzierten jugendkulturellen Stilen“.
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Kontaktinduzierter Sprachwandel
6.4 DIE EVOLUTION EINER (MULTI)ETHNOLEKTAL GEPRÄGTEN SPRECHWEISE Kiezdeutsch530 bezeichnet eine primär mündlich realisiert Sprechweise, die insbesondere unter denjenigen Jugendlichen über ein hohes verdecktes Prestige verfügt, die im multiethnisch geprägten urbanen Raum leben. Typische Ausdrucksformen sind zum Beispiel:531
Lassma Kino gehen. Isch bin Schule. Danach isch muss zu mein Vater. Teilweise so für Bikinifigur und so, weißt doch so.
Kiezdeutsch verändert mit strukturellen Innovationen wie neuen Wortstellungsoptionen (Danach ich muss zu mein Vater) oder Partikeln (Musstu mal PärschenDate mit Sascha machen) die deutsche Sprachlandschaft.532 Die Lexikongebersprache dieser Sprechweise ist das Deutsche, auch wenn Begriffe aus anderen Sprachen wie dem Türkischen oder Arabischen vorkommen. Weiterhin ist „in sehr vereinfachter Form auch die grammatische Struktur des Codes“ deutsch (DEPPERMANN 2007, 43), wobei auch hier Einflüsse aus anderen Sprachen eine Rolle spielen (Kap. 6.5.1). Die die Sprechweise prägenden Einflüsse sind äußerst vielfältig und nicht allein aus dem Varietätenspektrum des Deutschen ableitbar. Zu den wichtigsten Faktoren zählen: Migration, Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit, verdecktes Prestige und mediale Inszenierung. Träger und Replikatoren sind heute vorrangig Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund. Die Sprechweise ist aber nicht einfach vom Himmel gefallen. Sie ist der Ausdruck eines längeren Prozesses, der mit der Migrationsbewegung in den 1960er und 1970er Jahren begonnen hat. Das folgende Modell von AUER (2013b, 12) dient als Grundlage, um die Entwicklung einer ethnolektal geprägten Sprechweise darzustellen.
530 Kiezdeutsch wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich bezeichnet, wobei die Bezeichnungen verschiedene Bedeutungsaspekte im Sinne von FELDERS (2006; 2010) semantischen Kämpfen betonen können. Gebräuchlich sind bzw. waren Türkenslang (AUER 2003, 255), Ghettodeutsch (KEIM 2004, 97), Kanak Sprak (ZIMMERMANN 2012, 247; ZAIMOGLU 1995), Türkendeutsch (KERN 2011; SELTING 2011). Zur Begriffsentwicklung vgl. auch ANDROUTSOPOULOS (2011, 94–97). 531 Einen Überblick über die Charakteristika geben REERSHEMIUS / ZIEGLER (2015, 252). 532 Viele weitere Beispiele lassen sich den Publikationen von WIESE (2012; 2010; 2006) entnehmen. WIESE argumentiert, dass die Sprecher Tendenzen aufgreifen und systematisieren, die in den deutschen Dialekten und der gesprochenen Umgangssprache angelegt sind. WIESE versteht Kiezdeutsch daher als Turbodialekt und damit als eigenständige Varietät des Deutschen, in der „uns Entwicklungen im Deutschen quasi auf dem Silbertablett serviert werden“ (WIESE 2012, 104). Multiethnolektal geprägte Sprechweisen mit Dialekten gleichzusetzen, ist bisher insbesondere aus der skandinavischen Forschungstradition bekannt (QUIST 2008, 46; KOTSINAS 1988, 135–136).
Die Evolution einer (multi)ethnolektal geprägten Sprechweise
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Abb. 13: Entwicklung in der Verwendung ethnischer Merkmale nach AUER (2013b, 12)
Zunächst muss geklärt werden, wie sich erste ethnische Merkmale mit der Arbeitsmigration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausbilden konnten. RIEHL (2014, 71) spricht in diesem Zusammenhang von städtischen Immigranten, die eine allochthone Minderheit darstellen. Zu dieser Migrantengruppe sind in der deutschen Nachkriegsgeschichte vor allem die sogenannten Gastarbeiter aus Italien und der Türkei zu zählen. Für diese Sprachminderheiten ist in der ersten Generation zunächst charakteristisch, dass sie (Standard-)Deutsch als Zweit- bzw. Fremdsprache nur sehr unzureichend beherrschen. In der Forschungsliteratur werden nicht selten Parallelen zwischen dem sogenannten Gastarbeiterdeutsch der 1960er und 1970er Jahre und Pidginsprachen gezogen (HINRICHS 2013, 222; RIEHL 2014, 130–131; CLYNE 1968, 139). RIEHL (2014, 130) listet in Anlehnung an CLYNE (1968) einige sprachstrukturelle Charakteristika für Pidginsprachen auf:
Einwortsätze (Blume statt Das ist eine Blume) Ausfall von Verben (jetzt Pause) Fehlen des bestimmten und unbestimmten Artikels (mit Zug) Ausfall von Flexionsformen (vielleicht morgen niks arbeit) Verwendung des Infinitivs (Hier alles sauber machen) Generalisierung des femininen Artikels533 (mit die Kind kommen) Verwendung von viel als Gradpartikel (viel kalt) niks als Wort- und Satznegation (niks Arbeit; niks mehr zurück)
Die Bezeichnung des sogenannten Gastarbeiterdeutschs als Pidgin muss aber insofern relativiert werden, als in den 1980er Jahren festgestellt wurde, dass zwischen verschiedenen Niveaustufen unterschieden werden müsse, die als verschieden fortgeschrittene Lernervarietäten aufgefasst werden können.534 Das Konzept 533 Die Gründe für die Übergeneralisierungen können frequenz- und/oder ökonomiebasiert sein. Die CV-Silbenstruktur des femininen Artikels ist phonotaktisch ökonomischer als die CVCSilbenstruktur des maskulinen und des neutralen Artikels. 534 Weiterhin ist zu beachten, dass sich ethnolektales Sprechen gegenüber dem sogenannten Gastarbeiterdeutsch durch eine flüssige Artikulation unterscheidet (RIEHL 2014, 136).
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Kontaktinduzierter Sprachwandel
der Lernervarietät ist im Grunde ein dynamisches Modell. „Eine Interlanguage (Lernervarietät) ist aufzufassen als eigenes System auf dem Weg zu einer Zielsprache.“ (RIEHL 2014, 87) Lernervarietäten sind insbesondere im gesteuerten Zweitspracherwerb äußerst dynamische Gebilde. „Sie kann sich von einem Tag auf den anderen ändern, wenn neue Regeln dazukommen.“ (RIEHL 2014, 87). Lernervarietäten können allerdings auch fossilieren und dann die Grundlage für ethnische Sprechweisen bilden.535 Die Ursachen für eine derartige Fossilierung einer Lernervarietät sind bisher nicht vollständig erforscht, hängen aber wohl mit den kognitiven und zeitlichen Ressourcen im Sinne von VAN GEERT (1995, 314) zusammen. Sie könnten in Überforderung oder schlicht im ökonomischen Verhalten der Individuen bestehen. Als mögliche Folge kann es zur Generalisierung bestehender Regeln, zu Übernahmen aus der Muttersprache oder anderen Sprachen, zu Vermeidung und Ausweichhandlungen, zur Anwendung nicht ausreichender Regeln oder (Misch)Regeln kommen (ROCHE 2013, 57). Von einer endgültigen Fossilierung zu einem absolut stabilen Idiolekt kann im Sinne der CDST aber nicht gesprochen werden, da sich das individuelle Sprachwissen permanent verändert (VERSPOOR / LOWIE / VAN DIJK 2008, 215). Wesentliche Strukturen scheinen sich aber im individuellen Sprachgebrauch als relativ stabile Muster zu etablieren, selbst dann, wenn sie nicht den zielsprachlichen Strukturen entsprechen. Tritt innerhalb einer Gemeinschaft eine derartige Fossilierung bei vielen Individuen auf, können sich Ethnolekte bzw. ethnische Sprechweisen im Sinne der Mesosynchronisierung entwickeln. Die Sprecher synchronisieren sich und bauen geteiltes Sprachwissen auf der Basis von fossilierten Lernervarietäten auf. Geteilte Praktiken in einem gemeinsamen Sozialraum, die über die Sprache hinausgehen, scheinen für diese Form der Mesosynchronisierung sehr förderlich zu sein. Bestimmte Merkmale und Strukturen treten dann in den Sprechweisen der Migrantenpopulation sehr regelmäßig auf.536 CLYNE (2000, 86) verweist darauf, dass ethnolektal geprägte Sprechweisen insbesondere innerhalb der zweiten Generation der Migrantenpopulation eine Systematik entwickeln und zudem sozio-symbolisches Potential als Identitätsmarker zugesprochen bekommen. Diese Sprecher können in der Regel sehr gut switchen. Die soziolinguistische und semiotische Dimension primärer ethnischer Merkmale im Sinne von AUER (2013b; 2003) werden zunehmend relevant. Für die Jugendlichen dieser Generationen ist ethnolektales Sprechen häufig eine stilistische Ent 535 Fossilierung bedeutet im Sinne der CDST, dass sich die Interlanguage einem relativ stabilen Attraktor-Zustand nähert. 536 Der maßgebliche Einfluss deutsch-türkischer Jugendlicher für die Herausbildung der multiethnolektalen Sprechweise wird auch von ZIMMERMANN (2012, 247) hervorgehoben: „Es handelt sich hier um eine vorwiegend unter türkischen Jugendlichen herausgebildete Kontaktvarietät, die durch die kommunikativen Netze unter Jugendlichen auch bei anderen Einwanderjugendlichen Fuß gefasst haben und von diesen mitgestaltet wurden und wegen der kommunikativen Netze mit autochthonen deutschen Jugendlichen auch dort entweder passiv bekannt oder sogar aktiv in Gebrauch sind“.
Die Evolution einer (multi)ethnolektal geprägten Sprechweise
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scheidung, um das sozio-symbolische Potential dieser Sprechweise bzw. deren Merkmale abzurufen. Insbesondere wenn Sprachstruktur auf ethnische Zugehörigkeit verweist, ist der Zusammenhang zwischen Sprache und Identität stark ausgeprägt (EDWARDS 2003, 33). Die Sprechweise wird aktiv zur Identitätskonstruktion genutzt. ECKERT (2001) spricht in diesen Zusammenhängen von „stylistic practice“. Auch AUER (2003, 256) verbindet ethnolektales Sprechen folgerichtig mit dem Stilbegriff:537 Ein Ethnolekt ist eine Sprechweise (Stil), die von den Sprechern selbst und/oder von anderen mit einer oder mehreren nicht-deutschen ethnischen Gruppe assoziiert wird. Anders als im Falle der bekannten lexikalischen Innovationen der sog. Jugendsprache betrifft er im vorliegenden Fall (auch) die Grammatik.
In einer weiteren Entwicklungsstufe wird das sozio-symbolische Potenzial von den Medien ausgebeutet und stilisiert bzw. zu einem „sekundären ethnischen Stil“ kodiert, zunächst beispielsweise im Zusammenhang mit ethnischer Comedy. Die Sprechweise wird dadurch, wie ANDROUTSOPOULOS (2001, 334) schon feststellt, auch propagiert, sichtbar und verfügbar gemacht. Die ursprünglich ethnolektalen Merkmale werden zu einer allgemein zugänglichen kommunikativen Ressource. Kiezdeutsch wird damit zum Identitätsmarker und Träger soziosymbolischen Potentials für Jugendliche generell, denn durch die Medien wird der Eindruck verstärkt, dass von der sprachlichen Struktur auf die soziale Einbettung der Sprecher geschlossen werden kann. Unter dem Einfluss ethnischer Sprechweisen bauen deutsche und drittethnische Jugendliche in bestimmten Kommunikationsräumen bzw. Glossotopen ethnolektale Merkmale in ihre Sprechweise ein, was als sog. crossing (RAMPTON 1995) bezeichnet wird. Die Sprecher verwenden die Strategie des Crossings zur sozialen Positionierung und Identitätsarbeit. Wenn ursprünglich ethnolektale Merkmale auch von drittethnischen Sprechern verwendet werden, ist es sinnvoll, dem Rechnung zu tragen, indem von multiethnischen Sprechweisen die Rede ist. QUIST (2008, 48–49) nennt eine urbane Sprechweise des Dänischen beispielsweise Copenhagen multiethnolect: First of all, multiethnolect indicates that the variety is not linked to just one ethnic group. It is a result of a multiethnic situation in which speakers have different ethnic backgrounds (including Danish ethnic background) and different first languages (e.g., Turkish, Somali, Danish, Arab, Serbian). […] Secondly, the use of a ‚lect‘ term signals that this is a parallel phenomenon to other ‚lects’ like sociolects, dialects, chronolects, and so forth, and it ought to be regarded as such, that is, as something mundane and not ‘exotic’. […] this is arguably strategically and politically important. (QUIST 2008, 48–49)
537 Ethnolektales Sprechen ist aber in erster Linie auch Stilisierung von Ethnizität (HINNENKAMP 1989). AUER lehnt es in aktuelleren Publikationen aufgrund der schon angesprochenen terminologischen Schwierigkeiten jedoch ab, von Ethno- oder Multiethnolekten zu sprechen. Vielmehr verwendet er die Begriffe „ethnische Sprechweise“ und „ethnische Marker“ (AUER 2013b, 12). REERSHEMIUS / ZIEGLER (2015, 252) sprechen in Anlehnung an RAMPTONS (2011) Bezeichnung „contemporary urban vernaculars“ von „sprachkontaktinduzierten jugendkulturellen Stilen“.
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Kontaktinduzierter Sprachwandel
Auch CLYNE (2000) nimmt eine innere Differenzierung der Ethnolekte in Ethnolekte im engeren Sinne und Multiethnolekte vor. Sprechweisen werden von CLYNE (2000, 87) als Multiethnolekte bezeichnet, wenn „several minority groups use it collectively to express their minority status and/or as a reaction to that status to upgrade it“. In einer letzten Entwicklungsstufe ist zu beobachten, dass die Sprechweise durch die mediale Inszenierung letztlich zu einer allgemein zugänglichen kommunikativen Ressource geworden ist und nur mehr bedingt auf Ethnizität verweist. AUER (2013b, 12) nimmt daher eine mögliche De-Ethnisierung der Sprechweise an. DEPPERMANN (2007, 43–45) unterscheidet an diesem Punkt zwischen Türkendeutsch als Basiscode multiethnischer Ghetto-Identität und stilisiertem Türkendeutsch (language crossing) von deutschen Jugendlichen.538 Unter deutschen Jugendlichen ist es verbreitet, stilisierte Elemente der Sprechweise in ihre Redebeiträge einzubauen (DEPPERMANN 2007, 45). Dass mittlerweile auch Sprecher mit nicht-türkischem Migrationshintergrund einer bestimmten sozialen Schicht mit Hilfe ethnischer Merkmale medial stilisiert werden, zeigt der Film „Fack ju Göhte“ (November 2013) (BÜLOW / HERZ im Erscheinen; REERSHEMIUS / ZIEGLER 2015, 249–250).539 Mit dem Konzept der ‚De-Ethnisierung‘ von Sprachmerkmalen wird eine Form von Sprachvariation erfasst, die sich darauf bezieht, dass spezifische Sprachmerkmale, die anfänglich von einer bestimmten jugendkulturellen Sprechergruppe verwendet wurden, d. h. von solchen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, nun von Jugendlichen allgemein verwendet werden und so nicht mehr ausschließlich ethnische, sondern auch soziale Marker sind. (REERSHEMIUS / ZIEGLER 2015, 265)
Die De-Ethnisierung und Systematisierung der Sprechweise sind für WIESE (2012) wichtige Argumente, um Kiezdeutsch als Dialekt des Deutschen zu verorten, was im Folgenden genauer in den Blick genommen wird. 6.5 KIEZDEUTSCH – SPRACHKONTAKT UND SOZIOSYMBOLISCHE AUFLADUNG WIESE (2012; 2010) behauptet, dass Kiezdeutsch ein neuer urbaner (Turbo)Dialekt des Deutschen sei. Sie begründet dies wie folgt: Entgegen einer verbreiteten öffentlichen Wahrnehmung ist es jedoch kein gebrochenes Deutsch, sondern begründet einen neuen, urbanen Dialekt des Deutschen, der – ebenso wie
538 DEPPERMANN (2007, 45) bezeichnet stilisiertes Türkendeutsch als „eine besondere Form von code-switching, die RAMPTON (1995; 1998) ‚crossing‘ nennt: Eine kulturelle Gruppe […] benutzt einen Code, der einer anderen ethnischen oder kulturellen Gruppe gehört und der sprachlicher Marker ihrer Identität ist“. 539 REERSHEMIUS / ZIEGLER (2015) und ANDROUTSOPOULOS (2014) unterstreichen die Bedeutung der Mediatisierung und Stilisierung von sprachlichen Merkmalen in den Medien für den Sprachwandel.
Kiezdeutsch – Sprachkontakt und soziosymbolische Aufladung
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andere deutsche Dialekte auch – systematische sprachliche Besonderheiten in Bereichen wie Aussprache, Wortwahl und Grammatik aufweist. (WIESE 2010, 33; Herv. LB)
HINRICHS fasst WIESES Ideen pointiert folgendermaßen zusammen: Kiezdeutsch ist original deutsch; es gibt praktisch keinen Einfluss von Migrantensprachen; es ist auf seine Weise vollkommen grammatisch, nicht defizitär, sondern kreativ. Dieser Dialekt ist eine Bereicherung der deutschen Sprachlandschaft, wird aber leider oft abgelehnt (HINRICHS 2013, 202).
HINRICHS kritisiert vor allem, dass WIESE den Einfluss der Migrantensprachen auf Kiezdeutsch nicht entsprechend gewichtet, um Kiezdeutsch als typisch deutsch aufzuwerten.540 GLÜCK (2012, N3) kritisiert, dass Kiezdeutsch die historische Tiefe vermissen lässt und das Lebensalter der Sprecher für die Einordnung als Dialekt nicht berücksichtigt wird.541 AUER (2013b, 20) bemängelt: Kiezdeutsch ist „nicht diatopisch definiert, sondern ethnisch oder sozial“. Kiezdeutsch passt im Übrigen auch nicht zur Dialektdefinition der Sprachdynamiktheorie (Kap. 2.4.2). Welche Argumente führt WIESE ins Feld, um die Gleichsetzung von Kiezdeutsch mit etablierten Dialekten wie dem Bairischen oder Sächsischen zu rechtfertigen? Sie argumentiert, dass phonologische Einflüsse der Sprachen der Migranten vernachlässigt werden könnten (WIESE 2012, 38–39). Lexikalische Übernahmen aus dem Türkischen und Arabischen wie lan (‘Kerl, Typ, Mann’), moruk (‘Alter’), yallah (‘los’), hadi çüş (‘mach’s gut’) seien bereits in die deutsche Grammatik integriert. WIESE (2012, 39; Herv. LB) weist allerdings darauf hin, dass sich die türkischen und arabischen Fremdwörter und Wendungen „typischerweise in Bereichen wie Anrede, Redebeginn und Redeabschluss, Bekräftigung“ befinden, was „ganz typisch für Jugendsprache, als zum Teil ritualisierte Flüche und Beleidigungen“ ist.542 Auffällige grammatische Konstruktionen, die von sogenannten Sprachschützern und Laien als Fehler und Sprachverrohung kritisiert werden, seien tendenziell Weiterentwicklungen der deutschen Grammatik. WIESE zieht insbesondere Parallelen zu Phänomenen der gesprochenen Sprache 540 HINRICHS (2013, 202) unterstellt WIESE, eine „Linguistik der Political Correctness“ zu betreiben. Der Grund dafür sei „[d]iesen ‚neuen Dialekt‘ von allen Seiten zu schützen und gegen alle mögliche Kritik in Schutz zu nehmen“, um „Kiezdeutsch aus der Schmuddelecke der angeblichen Sprachverrohung herauszuholen“ (HINRICHS 2013, 203). Auch GLÜCK vermutet, dass WIESE ein sprachpolitisches Ziel verfolgt. „Es geht ihr um Krawall. Sie möchte ‚Kiezdeutsch‘ sozial aufwerten, aus der Schmuddelecke holen. In den einschlägigen Kiezen mag man das als sozialpädagogische Maßnahme schätzen. […] Sie möchte dem Fortschritt dienen, die Wissenschaft politisieren, die Bildungsbürger erschrecken.“ (GLÜCK 2012, N3) 541 „‚Kiezdeutsch‘ aber ist weder ein Dialekt noch ein Soziolekt, sondern eine transitorische Sondersprache, die auf Einflüssen anderer Sprachen und auf Fehlern im Deutschen beruht.“ (GLÜCK 2012, N3) Des Weiteren kritisiert GLÜCK (2012, N3) WIESES Korpus: „Wiese hat ihre Daten an zwei Berliner Schulen bei 24 Jugendlichen erhoben. Das ist nicht viel, für Verallgemeinerungen reicht es nicht aus. Die Daten hat sie von ungeschulten Jugendlichen sammeln lassen, was methodisch bedenklich ist. […] Wieses Hypothesen stehen im Empirischen auf schwachen Beinchen“. Informationen zum KiezDeutsch-Korpus (KiDKo) können bei WIESE et al. (2012) nachgelesen werden. 542 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch DIRIM (2005).
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und Dialektkonstruktionen. Einige Entwicklungen wähnt WIESE sogar bereits in einem Grammatikalisierungsprozess. WIESE (2012, 48–106) führt folgende grammatische Auffälligkeiten als Beleg für ihre (Turbo)Dialekthypothese an: neue Wortstellungsoptionen (Danach ich muss zu mein Vater) veränderter Gebrauch von Artikeln und Präpositionen (Ich werde 2. Mai fünfzehn) neue Aufforderungswörter und Partikeln (Musstu mal Pärschen-Date mit Sascha machen) neue Fokuspartikeln (Teilweise so für Bikinifigur und so, weist doch so) neue Ortsangaben (Wir sind gleich Alexanderplatz) Sie schlussfolgert aus den Argumenten, dass Kiezdeutsch ein neuer Dialekt des Deutschen sei. Eine explizite Dialektdefinition sucht man im Fließtext allerdings vergebens. In einer Endnote bezieht sich WIESE auf das Dialektverständnis des Soziolinguisten TRUDGILL. Ein Dialekt sei demnach a variety of language which differs grammatically, phonologically and lexically from other varieties, and which is associated with a particular geographical area and/or a particular social class or status group (TRUDGILL 1992, 23).
Mit dieser Definition verschwimmen nicht nur die Ränder, sondern auch die Kernbereiche verschiedener Konzepte wie Dialekt, Soziolekt, Jugendsprache, Ethnolekt etc. Ein Dialekt könnte nach dieser Bestimmung alles sein, was von der Standardvarietät abweicht; also auch ein (Multi)Ethnolekt oder Sprechweisen von Jugendlichen, die ebenfalls von verschiedener sozialer Herkunft und verschiedenem Prestige oder Status zeugen. Eine wie auch immer geartete Abgrenzung zwischen Dialekt, jugendlichen Sprechweisen und Multiethnolekt wird so selbst in den semantischen Kernbereichen der Begriffe unmöglich. Die Konsequenz dieser problematischen definitorischen Vorannahme zeigt sich darin, dass WIESE alle drei Begriffe abwechselnd und fast synonym verwendet. Eine in der germanistischen Forschungstradition etablierte Dialektdefinition wie die von SOWINSKI verdeutlicht, warum WIESE von anderen Linguisten für ihre Dialekthypothese kritisiert wird: Mundart ist stets eine der Schriftsprache vorangehende, örtlich gebundene, auf mündliche Realisierung bedachte und vor allem die natürlichen, alltäglichen Lebensbereiche einbeziehende Redeweise, die nach eigenen, im Verlauf der Geschichte durch nachbarmundartliche und hochsprachliche Einflüsse entwickelten Sprachnormen von einem großen heimatgebundenen Personenkreis in bestimmten Sprechsituationen gesprochen wird. (SOWINSKI 1994, 180)
Kiezdeutsch geht wohl kaum der Schriftsprache voran, da die historische Tiefe fehlt. Die örtliche Gebundenheit ist äußerst problematisch, da bisher überhaupt nicht untersucht wurde, ob sich diese Sprechgebrauchsweise nur auf den multiethnischen urbanen Raum konzentriert. Warum sollten nicht auch Jugendliche in Kleinstädten diese Sprechgebrauchsweise verwenden? Kiezdeutsch wird auch nicht in allen alltäglichen Lebensbereichen oder im familiären Nahbereich gesprochen (WIESE 2012, 216–217). Dass die historische Tiefe fehlt, ist schon mehrfach
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angeklungen. WIESE ist auch durchaus bereit, von Kiezdeutsch als Multiethnolekt zu sprechen. Aber auch dieses Konzept ist eng an Jugendsprachlichkeit geknüpft. Die Bezeichnung Multiethnolekt soll bei WIESE (2012, 114) zum Ausdruck bringen, dass Jugendsprachen […] nicht auf Sprecher/innen einer einzelnen Herkunftssprache (etwa Türkisch) beschränkt sind und auch nicht nur auf Jugendliche mit Migrationshintergrund generell, sondern sich im gemeinsamen Alltag junger Menschen unterschiedlicher Herkunft entwickelt haben. Diese ethnische Vielfalt der Sprecher/innen spiegelt sich in dem Begriff ‚Multiethnolekt‘ wider […].
Kiezdeutsch einen multiethnolektalen Charakter zuzusprechen, ist durchaus nachvollziehbar. Die gleichzeitige Relativierung der multiethnolektalen Einflüsse lässt sich nur unter der Annahme verstehen, dass WIESES Argumentation „zu einem guten Teil ideologisch motiviert“ ist, um „den Anteil der Migrantensprachen am deutschen Sprachwandel auszublenden“ (HINRICHS 2013, 205). Dabei muss berücksichtigt werden, dass diese Sprechweise zunächst in einer Sprachkontaktsituation entstanden ist und sich dann zu einer Sprechweise von Jugendlichen mit hohem stilistischem Potential entwickelt hat. Im nächsten Abschnitt wird gezeigt, dass Features aus den Migrantensprachen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Sprachkontaktsituation in den feature pool einfließen, eine größere Rolle bei der Herausbildung der Sprechweise gespielt haben, als WIESE aus den oben genannten Gründen zugeben mag. 6.5.1 Sprachkontakteinflüsse Im Folgenden werden zum einen anhand neuer Wortstellungsoptionen, die die Jugendlichen in der linken Satzperipherie nutzen, und zum anderen anhand des Artikel- und Präpositionsgebrauchs die türkischen und arabischen Einflüsse auf die Sprechweise Kiezdeutsch herausgearbeitet. Diese müssen unbedingt bei der Erklärung von Entwicklungstendenzen berücksichtigt werden. Sprachkontakt darf schon insofern nicht ausgeklammert werden, als die meisten Sprecher mit Migrationshintergrund mehrsprachig sind. In der Literatur finden sich Beispiele für deklarative Hauptsätze, in denen das Verb voran gestellt ist: Guckst du =n bisschen TRAUrisch (WIESE et al. 2012, 114) Gesehen hab‘ ich mein‘ Kumpel gestern (HINRICHS 2013, 219)
Außerdem sind Konstruktionen häufig, die sich dadurch auszeichnen, dass zwei Konstituenten, meist ein Adverbial und ein Pronomen als Subjekt, vor dem finiten Verb stehen. Die typische Satzfolge dieser deklarativen Hauptsätze ist somit Adv SVO. GEStern isch war KUdamm (WIESE et al. 2012, 114) Danach wir ham uns so: TOTgelacht (WIESE et al. 2012, 115)
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Mit HINRICHS (2013, 219) kann nun erstens argumentiert werden, dass die Verbvoranstellung als Feature u. a. aus dem arabischen Einfluss zustande gekommen ist: „Dort ist die Wortfolge VSO das Normale und in jedem beliebigen Durchschnittssatz realisiert“.543 Für den Typ Danach ich muss zu mein Vater (Adv SVO) ziehen WIESE et al. (2012, 117) folgendes Fazit: „Die bisherigen Befunde weisen damit auf ein produktives neues Muster Adv SVO in Kiezdeutsch hin, das die im Deutschen angelegten Möglichkeiten ausbaut“. Erkannt, aber für das Fazit nicht berücksichtigt, wird zweitens die Tatsache, dass die „Linearisierung der Form Adv SVO […] auch aus dem Fremdspracherwerb bekannt“ (WIESE et al. 2012, 115) ist. Dies wird aber nur am Rande erwähnt. Es ist durchaus plausibel, dass sich die Adv SVO-Abfolge zunächst deshalb verfestigt hat, weil die SVO Stellung in deutschen Varietäten unmarkiert ist und häufig gebraucht wird, also ein prominentes Feature darstellt.544 Der Einsatz von Adverbialen am Satzanfang mag für Sprecher, die Deutsch als Zweitsprache gelernt haben, nun ein Problem sein, da sich normalerweise die Satzabfolge durch die Voranstellung des Adverbials in Adv-VSO ändert (Danach gehe ich zu meinem Vater). Die Adv-VSO-Abfolge mag auch Schwierigkeiten bereiten, weil Adverbien im Deutschen nicht flektierbar sind, wohingegen sie beispielsweise im Türkischen oft als adverbiale Adjektive erscheinen. So lässt sich plausibel begründen, warum der Einsatz deutscher Adverbialien türkische Muttersprachler vor Probleme stellt – eine Tendenz, die sich generell für Lerner von Deutsch als Zweitsprache feststellen lässt (CLAHSEN / MEISEL / PIENEMANN 1983, 128–136). Die Inversion wird allgemein erst spät im Zweitspracherwerb gelernt (KNIFFKA / SIEBERT-OTT 2007, 53). Da die SVOSatzstellung als unmarkiertes Feature in der Regel früher gelernt wird, ist anzunehmen, dass die Tendenz zu Adv-SVO zunächst dem Ökonomieprinzip in der Sprachkontaktsituation geschuldet ist.545 Lerner von Deutsch als Zweitsprache gehen davon aus, Fehler zu vermeiden, wenn sie die SVO Abfolge auch bei einem Adverbial am Satzanfang beibehalten. Dass durch Sprachkontakt entstandene Konstruktionen mit der Zeit konventionalisiert und weiter ausdifferenziert werden, soll an dieser Stelle nicht bestritten werden. Dass die Adv-SVO-Abfolge, wenn sie sich etabliert hat, mit Blick auf die Informationsstruktur genutzt wird, wie WIESE et al. (2012, 116–117) vorschlagen, liegt natürlich im Bereich des Erwartbaren. Aus dem feature pool wird die Adv-SVO-Abfolge selektiert, da sie für das Individuum den größten kommunikativen Erfolg (hier eine Verbindung aus 543 Diese Aussage trifft zumindest für das Hocharabische zu. In den verschiedenen Dialekten können allerdings auch andere Realisierungsformen dominant sein. 544 Die deutsche Satzstruktur ist allerdings im Gegensatz zur türkischen Satzstruktur relativ variabel. Die deutsche Satzstruktur ändert sich mit dem Satztyp. Das Türkische behält in der Regel die Satzreihenfolge SOV bei (DUMAN 2013, 334). Vgl. zum Verlauf des Lernens der Wortstellung auch PIENEMANN (1998, 118–122). 545 Im Kontext von Spracherwerb und Sprachkontakt weist RIEHL (2014, 119–120) darauf hin, dass Ökonomie auch bedeuten kann, dass Komplexität abgebaut wird, so dass zumindest die einfachsten kommunikativen Bedürfnisse befriedigt werden können.
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hinreichender Verständigung und Lernökonomie) verspricht. Diese Struktur wird entsprechend oft repliziert und konventionalisiert. Bei der Replikation entstehen aber wieder Abweichungen durch konversationale Implikaturen, die strukturelle Reanalysen verursachen, die wiederum durch die Sprecher verbreitet werden. Durch die wieder zunehmende funktionale und pragmatische Ausdifferenzierung546 der neuen sprachlichen Möglichkeiten, die sowohl durch die Migrantensprachen als auch durch die deutsche Sprache geprägt sind, entsteht neue Komplexität. Ein ähnliches Bild zeichnet sich für den Gebrauch von Artikeln und Präpositionen ab, der ebenfalls durch Sprachkontakt beeinflusst ist. Folgende Sätze aus dem KiezDeutsch-Korpus (WIESE 2012, 56–57) dienen als Ausgangspunkt für die anschließenden Überlegungen: Gehst du heute auch Viktoriapark? Ich bin Schule. Ey, wir sollen Fahrstuhl gehen! Ich werde zweiter Mai fünfzehn.
WIESES (2012, 57) Fazit fällt wiederum wie folgt aus: Kiezdeutsch verallgemeinert und baut hier also etwas weiter aus, das es im Deutschen sonst auch gibt, das aber dort stärker beschränkt ist. Mit anderen Worten: Wir finden eine Innovation in Kiezdeutsch, die entsteht, indem eine grammatische Möglichkeit des Deutschen in ihrem Anwendungsbereich generalisiert wird.
An dieser Stelle ist es aber nicht nur so, dass WIESE den Einfluss von Sprachkontakt marginalisiert; sie bestreitet sogar ganz explizit, dass das Türkische einen Anteil an dieser Struktur haben könnte. Es ist allerdings auffällig, dass das Türkische weder bestimmte Artikel noch Präpositionen besitzt. Türkisch ist eine agglutinierende Sprache, bei der suffixähnliche Äquivalente von Präpositionen an das Bezugsnomen angehängt werden. Dass Sätze wie Ich werde zweiter Mai fünfzehn oder Ich bin Schule nicht auch türkischem Einfluss geschuldet sind, erklärt WIESE (2012, 57) damit, dass der türkische Einfluss erwarten ließe, dass Lerner von Deutsch als Zweitsprache Sätze wie Ich werde zweiter Mai-am fünfzehn oder Ich bin Schule-in-der bilden. Durch den agglutinierenden Sprachbautypus der Erstsprache Türkisch müssten die Präpositionen an das Nomen angehängt werden. Das ist jedoch nicht der Fall, weshalb WIESE (2012, 57–58) türkischen Einfluss ausschließt. Plausibler wäre hingegen im Kontext von Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt zunächst davon auszugehen, dass diese Strukturen durch fossilierte Lernervarietäten entstanden sind. Lerner von Deutsch als Zweitsprache mit türkischem Migrationshintergrund haben Schwierigkeiten mit Präpositionen und einem ausdifferenzierten Artikelsystem, da sie diese Features nicht aus ihrer Erstsprache 546 Diese funktionale und pragmatische Ausdifferenzierung kann auch mit den Begriffen Grammatikalisierung und Pragmatikalisierung gefasst werden (Kap. 4.1).
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kennen.547 HINRICHS (2013, 211) weist beispielsweise darauf hin, „dass keine Migrantensprache von Hause aus auch nur annähernd auf den deutschen Artikel eingestellt ist“.548 DUMAN (2013, 334–335) bemerkt: „Die Artikel stellen einen weiteren Bereich der sich differenzierenden Merkmale dar, die den türkischen DaF-Lerner/innen fremd sind“. Was das Weglassen von Präpositionen bei Ortsangaben betrifft, zieht WIESE eine Parallele zu Äußerungen aus der gesprochenen Umgangssprache. Auch in der gesprochenen Umgangssprache würden die deutschen Sprecher keine Präpositionen verwenden, wenn sie sich auf Bahn- und Busstationen beziehen (Wir sind gleich Alexanderplatz).549 Kiezdeutschsprecher, so WIESE, würden nun genau dieses Merkmal der gesprochenen Umgangssprache generalisieren. Dass auch diese Äußerungen aus der deutschen Umgangssprache im Sinne des Varietätenkontakts in den feature pool eingehen, wird nicht bestritten. Es ist aber zudem sehr wahrscheinlich, dass Deutschlerner mit Migrationshintergrund die Präpositionen im Sinne des Ökonomieprinzips vermeiden – ein Verhalten, das durch Synchronisierungen zweifelsohne wieder zu Konventionalisierungen und Rückkopplungseffekten für deutsche Varietäten führt. Das Ökonomieprinzip ist allerdings auch in Zusammenhang mit dem Sprecherbedürfnis zu sehen, potentielle Fehlerquellen zu umgehen. Unsicherheiten führen so zu Vereinfachungen unter Bedingungen asymmetrischen Sprachwissens. Für die oben zitierten Beispiele müssen folglich die Besonderheiten, die sich aus der Sprachkontaktsituation ergeben, und der Einfluss der Migrantensprachen berücksichtigt werden. So kennt das Türkische keine Präpositionen. Auch in anderen „orientalischen Sprachen“ sind Ortsangaben ohne Präpositionen verbreitet (HINRICHS 2013, 209). HINRICHS legt außerdem Wert darauf zu betonen, dass das Auslassen der Präpositionen bei Ortsangaben hier nicht ausschließlich mit Parallelen aus der deutschen Umgangssprache erklärt werden kann. Er nennt diese Konstruktionen Telegrammstil. Dieser universale Telegrammstil ist aber kein Merkmal des Deutschen, sondern in jeder Sprache möglich und ganz besonders in solchen der europäischen Umgebung. (HINRICHS 2013, 208)
547 Eine Rolle dürfte auch der Statusunterschied zwischen Präpositionen (selbständige Funktionswörter) und Suffixen (gebundene Morpheme) spielen. Aus ihrem türkischen Sprachwissen dürften die Sprecher kaum Postpositionen von Funktionswörtern wie Präpositionen kennen. Die Postposition türk. ile ‚mit‘ kann beispielsweise zwar selbständig stehen, kommt „häufiger jedoch als Suffix vor“ (ERSEN-RASCH 2005, 101). Deshalb kann nicht damit gerechnet werden, dass Sätze wie Ich bin Schule-in-der gebildet werden. 548 So auch RIEHL für den deutsch-slawischen Sprachkontakt. Die Unsicherheit beim Artikelgebrauch sei „eine indirekte Auswirkung des Sprachkontakts mit den slawischen Sprachen, in denen es ja keinen bestimmten oder unbestimmten Artikel gibt“ (RIEHL 2014, 92). 549 Eventuell werden von deutschen Sprechern aufgrund der funktionalen Ähnlichkeit Angaben für Haltestellen wie in Wir sind gleich Alexanderplatz oder Ich bin gerade erst Zoo als deiktische Adverbien wie dort und hier interpretiert, die ohne Präpositionen verwendet werden. Solche Konstruktionen können in der Folge in spezifischen Kontexten auch konventionalisiert werden. Auch hier wäre wieder eine strukturelle Reanalyse anzunehmen, die durch eine konversationale Implikatur ausgelöst wurde.
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Die Konventionalisierung und einsetzende grammatische und pragmatische Ausdifferenzierung steht in Wechselwirkung mit dem stilistischen und soziosymbolischen Potential der Konstruktionen, die von den meist jugendlichen Sprechern bewusst eingesetzt werden können. Die sprachlichen Strukturen sind dann in bestimmten Kommunikationsräumen wiederum Zeichen für zunächst soziale und ethnische Zugehörigkeit. Alle rezipierten Autoren deuten zumindest an, dass diese Sprechweise aber in besonderem Maße von Jugendlichen genutzt wird und unter Jugendlichen ein hohes (verdecktes) Prestige besitzt. Im folgenden Abschnitt wird dargelegt, warum einige Gründe dafür sprechen, diese Sprechweise heute besser als Jugendsprache oder jugendlichen Sprechstil zu bezeichnen. 6.5.2 Indexikalisierung und soziosymbolische Aufladung Obwohl sich Kiezdeutsch nach der Einschätzung von WIESE et al. (2012, 99) immerhin schon seit 20 bis 30 Jahren systematisch entwickelt, wird in allen Veröffentlichungen der letzten fünf Jahre zu diesem Thema darauf hingewiesen, dass die Sprecher von Kiezdeutsch Jugendliche sind. Die besondere Rolle, die Jugendliche für Sprachwandel und dessen Verbreitung spielen, wird beispielsweise von AUER (2003, 255–256) und ZIMMERMANN (2012, 232–236) hervorgehoben. In den entsprechenden Glossotopen, in denen diese Sprechweise genutzt wird, führt nicht nur Sprachkontakt zu dynamischen Strukturen, sondern auch das Bewusstsein der Sprecher für ihre Generationenidentität. Konstruktion von Identität über Sprache findet durch Mikro- und Mesosynchronisierung statt. Das soziosymbolische Potential der Sprache wird von den Jugendlichen allerdings auch genutzt, um sich untereinander abzugrenzen. Auch wenn in Verbindung mit dem bestimmten Artikel häufig von der Jugendsprache gesprochen wird, ist klar, dass es die eine Jugendsprache nicht gibt (KOCH 2013; NEULAND 2008). Der Terminus Jugendsprache bezeichnet vielmehr ein heterogenes Konzept. Jugendsprache ist zumindest teilweise eine Konstruktion (ZIMMERMANN 2004, 488) bzw. Extrapolation von auffälligen Strukturmerkmalen der Idiolekte von Sprechern einer bestimmten Altersgruppe, die als Jugendliche gefasst werden. Das Konzept der Jugendsprache wirkt wiederum auf Konzepte von Jugend zurück, die ihrerseits in hohem Maße historisch und kulturkreisabhängig sind. Insbesondere an den Rändern, also bei der Frage, wann Jugend beginnt und wann sie endet, sind Konzepte von Jugend äußerst unscharf. Diese Unschärfe stellt natürlich ein methodologisches Problem dar. Es reicht nicht aus, Strukturmerkmale der Sprache von Sprechern einer bestimmten Alterskohorte zu ermitteln. Vielmehr muss auch ein „identitäres Verhältnis zu diesen Merkmalen“ (ZIMMERMANN 2004, 492) untersucht werden. Damit sind jugendliche Sprechweisen sehr viel stärker als ein Aus-
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druck von Stil anzusehen.550 Diese Auffassung setzt sich auch in der interaktionalen Soziolinguistik und Jugendsprachforschung durch (ECKERT 2000). In Einklang mit ZIMMERMANN (2004) geht auch NEULAND (2008, 69) davon aus, dass eine strukturalistische sprachsystemorientierte Varietätenlinguistik Jugendsprache und ihre „spezifischen Sprachunterschiede nur sehr unzureichend erfassen und keinesfalls erschöpfend beschreiben oder gar erklären“ kann. NEULAND (2008, 69) schlägt daher vor, besser von „Sprachgebrauchsweisen in einem multidimensionalen Varietätenraum“ zu sprechen, die unterhalb der Standardsprache angesiedelt sind und von verschiedenen soziolinguistischen Faktoren wie Bildung, Situation, Medium, subkulturelle Zugehörigkeit usw. abhängen. In dem hier vorgestellten Kontext müssten die Aspekte Mehrsprachigkeit und Migrationshintergrund ergänzt werden. Auch AUGENSTEIN (1998) kritisiert eine sprachsystemische Auffassung von Jugendsprache. Sie plädiert ebenfalls für einen kritischen Blickwechsel von einer hypostasierenden Sprache der Jugend hin zu den verschiedenen Sprechgebrauchsweisen von verschiedenen Jugendgruppen. „Im Gegensatz zu dem Konzept der Sprachvarietät auf der Langue-Ebene soll in diesem Zusammenhang der Begriff ‚Sprechstil‘ eingeführt werden.“ (AUGENSTEIN 1998, 106–107) Diesem Vorschlag schließt sich auch NEULAND (2008, 71) an, die ebenfalls von jugendlichen Sprechstilen spricht. Mit dem Stilbegriff wird deutlich, dass sprachliche Ausdrucksmittel in vielen Fällen ein Phänomen der Wahl sind. Die Entscheidung für ein sprachliches Zeichen kann über den propositionalen Gehalt des Gesagten hinaus verweisen. Wie etwas gesagt wird, kann Informationen über das Alter, die ethnische Zugehörigkeit, die Peergroup usw. verraten. Jugendliche sind in der Regel in der Lage, abhängig vom situativen und sprachlichen Kontext, zwischen verschiedenen Varianten auf allen linguistischen Ebenen zu wählen. Im Bereich der Lexik und des Diskurses könnte der Jugendliche im multiethnischen Kontext also das türkische Lan anstatt Alter oder Mann gebrauchen (BÜLOW / KERSCHENSTEINER 2014). Einen Einblick in die Pragmatik der Verwendung türkischer Routinen in Gesprächen unter Jugendlichen vermittelt DIRIM (2005).551 Sie zeigt, wie der Diskurs weiterhin (un)bewusst über türkische Routinen (Anredeformen abi; Diskursmarker biliyon mu; Rezipientensignale vallahi) gesteuert werden kann (DIRIM 2005, 20–43). Stil ist hier sozial-funktional verstanden. „Das heißt, Stile sind Mittel zum Ausdruck von sozial-kultureller Zugehörigkeit und sozial-kultureller Abgrenzung, und Sprecher setzen Stilformen zur sozialen Positionierung in Relation zu relevanten Anderen ein.“ (KEIM 2006, 90–91) Dies erkennt auch QUIST (2008, 58) für den multiethnischen Kontext: 550 Zu der Frage, ob von Varietät oder Stil gesprochen werden sollte, vgl. auch KERSWILL (2013, 129–130). 551 DIRIM (2005, 47) verweist aber auch darauf, dass das Beherrschen von türkischen Routinen nicht nur sozial-funktional verstanden werden darf: „Viele unserer Informanten weisen darauf hin, dass es in den stark türkisch dominierten Stadtvierteln Hamburgs […] notwendig ist, Türkisch zu verstehen und nützlich sein kann, es zu sprechen: das Türkische hat hier nicht nur identifikatorische, sondern auch verständnissichernde Funktion“.
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„multiethnolect combines as a stylistic resource with a series of other signs and resources“.552 Um das stilistische und identifikatorische Potential von sprachlicher Variation angemessener untersuchen zu können, wurden in der Soziolinguistik vermehrt radikal-sprecherorientierte Ansätze gewählt, die Variation als Mittel zur Konstruktion von Identitäten begreifen (KEIM 2008; ECKERT 2005; 2000; BUCHOLTZ 1999).553 Mit Hilfe der interaktionalen Soziolinguistik und deren Bezugnahme auf das Konzept der Community of Practice (CofP) lassen sich insbesondere Mikround Mesosynchronisationsprozesse gut nachvollziehen (BÜLOW / KRIEG-HOLZ 2015).554 Das Konzept der CofP bezieht sich auf kleine soziale Gruppen. Es setzt persönlichen Austausch und gemeinsame kommunikative Handlungen voraus. „Mit Hilfe des CofP-Ansatzes lassen sich Stilphänomene und Angemessenheitsaushandlungen erfassen, die extrem dynamisch und hochgradig kontextabhängig sind.“ (BÜLOW / KRIEG-HOLZ 2015, 114) Deshalb definiert ECKERT (2000) Sprechen in diesem Zusammenhang als stylistic practice. Analysen, wie sie die interaktionale Soziolinguistik durchführt, sind wichtig, „to capture in context-sensitive detail the linguistic behaviour and social characteristics of […] communities“ (EHRENREICH 2009, 146). Dennoch müssen auch die auffälligen Gemeinsamkeiten im Sprachgebrauch von Jugendlichen erklärt werden, die nicht über ein soziales Netzwerk miteinander verbunden sind. Eine wichtige Rolle kommt hier sicherlich den Medien zu. Die Rückkoppelung durch das Doing Youth (NEULAND 2003) der Medien darf nicht unterschätzt werden.555 Es bestehen übergreifende Tendenzen, die ZIMMERMANN (2012, 244) mit dem „Faktor Generationenidentität“ erklärt. Die Jugendsprachforschung hat einige Charakteristika aufgedeckt, die typisch für jugendliche Sprecher sind und entsprechend als Extrapolation von den Medien konzeptualisiert und inszeniert werden. Eines dieser Merkmale ist beständige Variation auf allen linguistischen Beschreibungsebenen wie Hyperbolisierungen, Abtönungen, Intensivierungen, Diskursstrukturierungen (BÜLOW / MORA 2013; AUGENSTEIN 1998, 257; ANDROUTSOPOULOS 1998). Variationen insbesondere in Abgrenzung zur Standardvarietät finden sich auf der lexikalischen, phonologischen, morphologischen und syntaktischen Ebene. NEULAND (2008, 77–78) bezeichnet dieses durchaus bewusste und auf Extravaganz abzielende Sprachverhalten der Jugendlichen als Destandardisierung. Die abweichenden Strukturmerkmale können dann 552 QUIST (2008, 51) erklärt, wie die stilistischen Ressourcen von den Sprechern genutzt werden können: „[S]tylistic practice is the process through which signs and differences become meaningful resources in daily enterprises and activities […]. Stylistic practice covers the processes that connect different resources (linguistic and nonlinguistic ones) in meaningful relationships in association with the participants’ identity negotiations“. 553 Dieser Shift zur konstruktivistischen Sprecherzentrierung ist auch als dritte Welle der Soziolinguistik bekannt (ECKERT 2005, 1). 554 MEYERHOFF / STRYCHARZ (2013, 432) betonen die konzeptuellen Überschneidungen mit der Sozialen Netzwerktheorie (MILROY / LLAMAS 2013). 555 Vgl. dazu auch REERSHEMIUS / ZIEGLER (2015) und ANDROUTSOPOULOS (2014).
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aber auch durch häufigen Gebrauch restandardisiert werden, ein Kreislauf, der an das Implikatur-Konzept von GRICE (1979b, 262; Kap. 2.2.3) und den Übergang von einer konversationalen zu einer konventionalen Implikatur erinnert. Die auffälligen Gemeinsamkeiten lassen es vernünftig erscheinen, den sprecherzentrierten Ansatz weniger radikal zu verfechten. ANDROUTSOPOULOS (2006, 116) bemerkt zu Recht: Aus einer radikalen sprecherorientierten Perspektive sind Verallgemeinerungen über Jugendsprache weder möglich noch nötig, und Fragen nach dem Zusammenhang von Jugendsprache, Gegenwartssprache und Sprachwandel können weder gestellt noch beantwortet werden.
Weitere Charakteristika bzw. Funktionsdomänen von Jugendsprache sind: Identitätsstiftung, Abgrenzung, Prestige und Protest (NEULAND 2008). Dass Sprache für diese sozialen Aufgaben genutzt wird, gibt KELLER (2003, 137) durch die Maximen „Rede so, daß Du als nicht zu der Gruppe gehörig erkennbar bist“ und „Rede so, daß Du als Gruppenzugehöriger zu erkennen bist“ wieder. Hier sei nochmal an den Faktor Generationenidentität von ZIMMERMANN (2012, 244) erinnert. Die Jugendlichen versuchen, sich durch (un)bewusste sprachliche Variation von ihrer Elterngeneration, der nachfolgenden Generation und anderen Jugendgruppen abzusetzen. „Der Mischcode als eigene Sprache wird zum Mittel und zum Symbol für die Abgrenzung gegenüber den türkischsprachigen Eltern und Familien einerseits und gegenüber der deutsch sprechenden Mehrheitsgesellschaft andererseits.“ (KEIM / CINDARK 2003, 390) KEIM / CINDARK (2003, 390) verstehen Mischcode in diesem Kontext als „eine Form von Jugendsprache“. Vermittelt durch gemeinsame Kommunikationsräume und die Medien, hat die hier diskutierte Sprechweise in den letzten zehn Jahren auch bei monolingualen deutschsprachigen Jugendlichen an (verdecktem) Prestige gewonnen. Sie bietet ein hohes Abgrenzungspotential gegenüber Kindern, anderen Jugendgruppen, Erwachsenen und weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft (MEISE 2011, 38). Dazu passt auch die Beobachtung von WIESE (2012, 116): Ein wichtiger Grund dafür, dass Jugendliche im Gespräch mit meinen Doktorand/inn/en und mir kein Kiezdeutsch sprechen, ist, dass wir zu alt sind: Kiezdeutsch und seine Pendants in anderen europäischen Ländern haben den Status von Jugendsprachen.556
Die Jugendlichen aktivieren das sozial-symbolische Potential, das mit dieser Sprechweise und seiner Wahrnehmung in der breiten Öffentlichkeit verbunden ist (ANDROUTSOPOULOS 2006, 111). „[S]ogenanntes verdecktes Prestige“ (WIESE 2012, 139) kennzeichnet die Zugehörigkeit zu einer bestimmten In-group eines bestimmten Wohngebiets. Auch AUGENSTEIN hebt hervor, dass die Sprache und ihr stilistisches Potential eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer eigenen Gruppenidentität spielen. 556 Umso erstaunlicher erscheint WIESES Einordnung von Kiezdeutsch als Dialekt des Deutschen, zumal sie eingesteht, dass sich Kiezdeutsch auf „sogenannte In-group-Situationen beschränkt“ (WIESE 2012, 116).
Zwischenfazit
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[D]ie Peer-Group hat auch sozialisatorische Aufgaben, indem sie bei der jugendlichen Identitätssuche ein erstes, wichtiges Wir-Muster bereitstellt. Deshalb ist es gerade in diesem potentiell beziehungsunsicheren Umfeld von Bedeutung, Gemeinsamkeiten, auch über den Sprachgebrauch, herzustellen. […] Wir-Gemeinschaft kann sich nur entfalten, wenn ein spezifischer Sprechstil zugrunde liegt, der die Gruppe von anderen unterscheidet. (AUGENSTEIN 1998, 87)
Zu einem spezifischen Sprechstil einer Jugendgruppe gehören dann sicherlich auch neue sprachliche Formen und Strukturen, wie sie Kiezdeutsch anbietet. 6.6 ZWISCHENFAZIT Die Analyse hat gezeigt, dass kontaktinduzierter Sprachwandel in Migrationskontexten ein wechselseitiger Prozess ist. Zum einen lernen die Migranten die Sprache des sie aufnehmenden Landes, zum anderen können sie „ihrerseits auch die sprachlichen Praktiken und Stile dieses Landes mitgestalten“ (REERSHEMIUS / ZIEGLER 2015, 268) Der Sprachwandel, der die hier diskutierte Sprechweise Kiezdeutsch betrifft, ist hochgradig kontaktinduziert. In Anlehnung an das feature pool-Modell von MUFWENE (2001) ist die Herausbildung der Sprechweise als Evolutionsprozess zu verstehen. Aus Merkmalen fossilierter Lernervarietäten hat sich ein jugendlicher Sprechstil auf der Mesoebene entwickelt. In den ‚featurepool‘ sind sowohl Strukturen deutscher Varietäten als auch verschiedener Migrantensprachen eingeflossen.557 Allerdings haben auch die Medien einen Einfluss bei der Salientsetzung und Selektion bestimmter ethnischer Merkmale und deren Verbreitung. Die mediale Stilisierung der ethnischen Merkmale trägt weiterhin zu deren Indexikalisierung bei. Insbesondere Jugendliche nutzen das soziosymbolische Potential der Sprechweise, um Identität, Prestige und Zugehörigkeit zu konstruieren.558 Sprechergruppen konstruieren Prestige, indem sie ihr Sprachverhalten und ihren Status ins Verhältnis zu anderen Sprechergruppen, deren Sprachverhalten und Status setzen, „d. h. die vermeintliche Bindung an außersprachliche Parameter“ (KREFELD 2004, 149). Das spezielle Gruppenidentitätsbewusstsein und die sprachliche Kreativität, über die Jugendliche verfügen, sowie Mehrsprachigkeit, asymmetrisches Sprachwissen und Sprachkontakt sind letztlich stark dynamisierende Faktoren für Sprachwandel. Der spezielle Kommunikationsraum bzw. die Glossotope müssen dann jeweils für die Erklärung des Wandels berücksichtigt werden. Sprachwandel ist immer auch ein Ausdruck der Geschichte des kommunikativen Raums (KREFELD 2004, 137). Die Analyse verdeutlicht außerdem, dass Sprachwandel in Anlehnung an KELLERS Theorie der unsichtbaren Hand selbst 557 Die sprachstrukturellen Voraussetzungen und deren Verfügbarkeit für die Sprecher sind zugleich aber auch systeminternen Selektionsmechanismen unterworfen. 558 In Bezug auf Sprachwandel spielen die soziolinguistischen Variablen Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund sicher eine zentrale Rolle bei der Genese von Sprechweisen auf der Mesoebene (ZIMMERMANN 2012, 251), wenn sie auch niemals alleine als Erklärung für alle sprachlichen Wandelerscheinungen dienen können.
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nicht Ziel der Sprecher ist. MUFWENE (2008, 73) drückt diese Tatsache mit den folgenden Worten aus: [I]ndividual actions of […] speakers in a language community cumulate to produce what is later identified as evolution, i.e., the long-term changes that are observable in the behavior or characteristics of a species or, more generally, a population.
Ferner ist das Sprachverhalten ein Ausdruck der kommunikativen Bedürfnisse der Sprecher, d. h. in Bezug auf die Sprechweise beispielsweise einerseits, dass die Sprecher mit der Wahl ihrer Sprachstruktur Zugehörigkeit bzw. Abgrenzung signalisieren können, andererseits aber auch sprachökonomische Faktoren eine Rolle spielen. Hat ein Sprecher – gemessen an den kommunikativen Bedürfnissen – kommunikativen Erfolg, steigt die Chance, dass seine Äußerungen, vermittelt auf der Mikroebene, kopiert und verbreitet werden. Diese „Verbreitung ist bereits innerhalb der jugendsprachlichen Varietät nicht linear, sondern nach sozialen und situationellen Parametern ausdifferenziert“ (ZIMMERMANN 2012, 242).
TEIL IV: MODELLBILDUNG 7 SPRACHDYNAMIK IM LICHTE DER EVOLUTIONSTHEORIE – FÜR EIN INTEGRATIVES SPRACHWANDELMODELL In den vorangegangenen Kapiteln wurde dargestellt, dass die evolutionären Prozesse Replikation, Variation und Selektion maßgeblich für Sprachwandel sind. Viele Autoren wie CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 498) oder MCMAHON / MCMAHON (2013, 14) sehen zwar Parallelen zwischen evolutionärem Wandel und Sprachwandel, identifizieren diese aber nicht miteinander. Sie ziehen sich auf die Aussage zurück, dass Evolution eine gute Metapher für Sprachwandel sei, womit aber zumindest eine Merkmalsidentität eingeräumt wird.559 Hence, we suggest that it is a productive metaphor to view languages as analogous to biological species, adapted through natural selection to fit a particular ecological niche: the human brain. (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 498; Herv. LB)
Der Rückzug auf den Begriff der Metapher mag der Tatsache geschuldet sein, dass im Detail – insbesondere bei den Prozessen der Replikation und Variation – tatsächlich Unterschiede zwischen biologischer und kultureller Evolution bestehen. Kulturelle Vererbung ist zum Beispiel teilweise lamarckistisch, wohingegen die biologische Vererbung nicht lamarckistisch ist, auch wenn epigenetische Faktoren mittlerweile stärker in das Forschungsinteresse der Biologen und Genetiker rücken (JABLONKA / RAZ 2009, 132; KEGEL 2009, 171; NEUWEILER 2008, 94). Wenn allerdings die allgemeinen Prinzipien von Evolution wie Replikation, Variation und Selektion zugrunde gelegt werden, wie dies auch der Ansatz des Generalized Darwinism tut (RITT 2004), an der sich auch die Theorie komplexer adaptiver Systeme orientiert, ist der Begriff Evolution mehr als nur eine Metapher für Sprachwandel. Neben den allgemeinen Prinzipien Replikation, Variation und Selektion sind aber auch tiefergehende Isomorphismen zwischen biologischen Evolutionsprozessen und Sprachwandel für die Erklärung von Sprachwandel gewinnbringend. Ein wesentlicher Isomorphismus, der in dieser Arbeit herausgearbeitet wurde, besteht darin, dass Idiolekte die Individuen einer Population einer Spezies560 sind (vgl. MUFWENE 2001, 150; CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 499; Kap. 6.1). „To spell out the parallel, the idiolect of an individual speaker is analogous to an individual 559 Hier werden die abstrakten evolutionären Pozesse Replikation, Variation und Selektion als isomorph betrachtet. 560 Es muss immer berücksichtigt werden, dass eine Art oder eine Spezies nur ungenügend über typologische Merkmale beschrieben werden kann. CROFT (1996, 103) weist auf die Parallelen und Probleme hin, die auftreten, wenn man versucht, Arten und Sprachen zu definieren.
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organism; a language […] is akin to a species“ (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 499). Ein Verständnis von idiolektalem Sprachwissen als System verträgt sich mit dem Systemverständnis der Theorie komplexer adaptiver Systeme (Kap. 3.2) und der Complex Dynamics Systems Theory (Kap. 2.4.1), die Idiolekte ebenfalls als komplexe adaptive Systeme betrachtet. Systems are groups of entities or parts that function together. Any system is inclusive of embedded sub-systems, all of which dynamically interrelate with one another. The term dynamic […] has a fairly straightforward meaning and refers to the change that a system undergoes due to internal forces and to energy from outside itself. (DE BOT et al. 2013, 200)
Mit CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 498) wird weiterhin angenommen, dass sich die sprachliche Struktur in Folge sprachlicher Interaktion an die kognitiven Verarbeitungsmechanismen anpasst, Strukturregeln aber nicht grundsätzlich angeboren sind.561 „[L]anguage is best viewed as a linguistic system adapted to the human brain.“ (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 500) Das individuelle Sprachwissen wird erst im Verlauf der Ontogenese gelernt. Gegen eine durch Selektion entstandene und angeborene UG spricht beispielsweise, dass sprachliche Strukturen in Raum und Zeit erhebliche Variationen aufweisen. Als ein weiterer Isomorphismus wurde in dieser Arbeit herausgearbeitet, dass der Genotyp sprachlicher Strukturen den neuronalen Repräsentationen entspricht (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 498; RITT 2004, 169). Diese neuronalen Zustände sind prinzipiell dynamisch und die biologische Grundlage für den konkreten sprachlichen Ausdruck, der als sprachlicher Phänotyp zu verstehen ist. Das neuronale System zeichnet sich durch Interaktionen auf allen Ebenen aus. Hier lässt sich ebenfalls ein Isomorphismus feststellen. CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 499) übertragen das Prinzip der Interaktion auf die Fitness von sprachlichen Strukturen: „[T]he fitness of an individual construction is intertwined with those of other constructions; that is, constructions are part of a (linguistic) system“.562 Das idiolektale System entspricht dem individuellen Sprachwissen, das neuronal repräsentiert ist. Entscheidend für das Verständnis von kultureller Evolution und Sprachwandel ist die Akzeptanz von lamarckistischem Wandel (MUFWENE 2010, 313; HASPELMATH 1999b, 193). Die Individuen kopieren während ihrer Synchronisierungsprozesse nicht die neuronalen Muster von anderen Personen, sondern deren Verhalten bzw. deren sprachlichen Ausdruck, der allerdings auf die neuronale Repräsentation zurückwirkt. Der phänotypische sprachliche Ausdruck der Mitmenschen ist immer auch Feedback für das eigene Sprachverhalten, das entspre 561 „The key to understand the fit between language and the brain is to understand how language has been shaped by the brain, not the reverse.“ (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 498) 562 Sprachspezifisch hat STOLZ (1992, 36) das Verhältnis zwischen System und Subsystem folgendermaßen modelliert, auch wenn er seine Aussage nicht auf den Idiolekt als System bezieht: „An Stelle eines geschlossenen, statischen und unveränderlichen Systems erkenne ich in Sprache ein offenes, vernetztes und dynamisches System (von Systemen (von Systemen)). Jede Sprachwandeltheorie muß wenigstens diesen konstruktivistisch-synergetischen Leitsatz übernehmen“.
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chend modifiziert werden muss oder sich stabilisiert. „If we then modify the acquired beliefs, knowledges, and skills in some way before transmitting them to someone else, we can be said to be engaging in Lamarckian cultural inheritance.“ (MESOUDI 2011, 44) Die Frage, die sich anschließt, ist, ob sprachliche Innovationen ausschließlich zufällig sind, wie es die neo-darwinistische Lesart der Evolutionstheorie postuliert.563 Der Zufall lässt sich als Erklärung sicher nicht ausschließen und viele Prozesse sind bis zu einem gewissen Grad kontingent, aber eben nur bis zu einem gewissen Grad, da sich neue Strukturen als anschlussfähig erweisen müssen. Viele Sprachwandelprozesse sind funktionalistisch mit Bezug auf die komplexen Strukturbedingungen (constraints) zu erklären. Diese Strukturbedingungen sind in erster Linie die aktuellen phänotypischen Strukturen der Sprache selbst und die kognitiven Verarbeitungs- und Lernmechanismen. Hinzu kommen soziolinguistische Faktoren. Was Funktionalität für den Sprecher bedeutet, wird in der Hypermaxime „Rede so, daß Du sozial erfolgreich bist, bei möglichst geringen Kosten“ (KELLER 2003, 143) zum Ausdruck gebracht. Handeln nach dieser Maxime ist in den meisten Fällen allerdings ein ratiomorpher Prozess. Der Selektionsprozess der sprachstrukturellen Varianten erfolgt auf der Grundlage der aktuellen Strukturbedingungen in folgendem Spannungsdreieck: nach innersystemischen Zusammenhängen (das Verhältnis der sprachlichen Subsysteme zueinander), nach Faktoren der kognitionspsychologischen Sprachverarbeitung und nach Faktoren des sozialen Erfolgs. Die Ausgangsbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Raum sind wesentliche Gestaltungsbeschränkungen von Sprachwandel. „That is, the explanation of any given aspect of language is likely to require the inclusion of multiple overlapping constraints deriving from thought, perceptual-motor factors, cognition, and pragmatics.“ (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 503) Diese Beschränkungen greifen aber nicht nur harmonisch ineinander, wie Gegensätze zwischen ökonomischem Sprachverhalten der Sprecher und Bedürfnissen der Hörer nach morphologischer Transparenz zeigen (Kap. 4.2). Morphologische Struktur wird oftmals aus sprecherökonomischen Gründen ab- und aus hörerspezifischen Bedürfnissen nach Transparenz aufgebaut. Morphologische Aufbauprozesse aus (eigentlich) opaker Lautstruktur sind in aller Regel ein Ausdruck von Reanalysen (vor-ahd. rinder (Sg.) > ahd. rind-er (Pl.); HARNISCH 2010, 7). Die Reanalysen auf der morphosemantischen Ebene setzen allerdings voraus, dass Sprache gleichsam top-down, bottom-up und parallel verarbeitet wird (Kap. 3.3.1.2). Zum einen wird die lautliche Struktur analysiert, zum anderen wird ge 563 ROSENBACH (2008, 39) macht unabhängig von epigenetischen Ansätzen folgende Einschränkung: „On the one hand, even in biology mutations are not completely random; certain DNA replications are just more likely to occur than others. Mutations are, however, random in the sense that their probability is causally unconnected to the effect they have on subsequent fitness. […] although their emergence is not completely unconstrained“.
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prüft, ob bestehende Muster erkennbar sind und auf die Lautstruktur projiziert werden können. Reanalysen sind in der Regel nicht zwingend. Sie können bei den entsprechenden Voraussetzungen eintreten oder eben nicht.564 Dies ist in erster Linie eine Frage von Wahrscheinlichkeiten. Dabei muss auch das Streben der Sprecher nach Extravaganz und bewusster Erzeugung neuer und damit auffälliger sprachlicher Struktur im Sinne bestimmter dynamischer Sprechhandlungsmaximen nach KELLER (2003, 139) wie „Rede so, daß du beachtet wirst“ berücksichtigt werden. Sprachliche Evolution ist wie jede Evolution komplexer adaptiver Systeme immer auch als das Zusammenwirken verschiedenartiger Strukturbedingungen zu betrachten (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 504).565 Insbesondere darf nicht vergessen werden, dass die externen Umweltbedingungen ebenfalls einen maßgeblichen Einfluss auf den Sprachwandel haben und sehr variabel sind. Sie bestimmen beispielsweise die Bedingungen, unter denen Synchronisierung stattfindet. Wie mit der Anlehnung an das Modell der Sprachdynamik von SCHMIDT / HERRGEN (2011) gezeigt wurde, sind sprachliche Synchronisierungen das Äquivalent zu dem, was in der Biologie der Weitergabe von Genen etwa durch sexuelle Fortpflanzung entspricht. Hier ist nun allerdings zu berücksichtigen, dass die Übermittlung von Sprachwissen und sprachstrukturellen Merkmalen strukturell von der sexuellen Fortpflanzung abweicht. Daher schlägt CROFT (2000, 230) eine Anlehnung an die pflanzliche Evolution vor, die sprachlichen Hybridbildungen, wie sie durch Sprachkontakt entstehen, gerechter würde. Diese Arbeit folgt aber dem Vorschlag von MUFWENE (2008, 27), der einen Vergleich zur viralen Evolution zieht: Idiolects are more likely to be influenced by those of speakers that their hosts/makers have interacted the most frequently with. Speakers accommodate each other, minimizing chances of being misunderstood. Likewise, viruses in a population are more likely to share a lot of genetic materials when their hosts socialize with each other than when they do not.
Auch CAVALLI-SFORZA (1999, 195) vergleicht die horizontale Übermittlung von sprachlichen Informationen, wie sie auch bei sprachlichen Synchronisierungen vorkommen, mit der Art und Weise, wie Viren genetische Informationen übertra 564 Grammatikalisierung ist beispielsweise eine „Erscheinung der sprachlichen Variation“ (LEHMANN 1995b, 1255), die sich durch Selektionen auf der paradigmatischen und der syntagmatischen Ebene weiterentwickelt. Entgegen dem Unidirektionalitätspostulat darf aber nicht vergessen werden, dass die Selektionen nicht zwingend in eine Entwicklungsrichtung wirken. 565 GELL-MANN (1994, 507) betont, dass komplexe adaptive Systeme „am besten in einem Zwischenbereich zwischen Ordnung und Unordnung“ funktionieren. „Sie nutzen die durch die annähernde Bestimmtheit des quasiklassischen Bereichs gelieferten Regelmäßigkeiten und profitieren gleichzeitig von den Unbestimmtheiten (die man als Rauschen, Schwankungen, Wärme, Unbestimmtheit usw. beschreiben kann), die bei der Suche nach ‚besseren‘ Schemata sogar hilfreich sein können.“ GELL-MANN (1994, 507) nennt diesen Bereich quasiklassisch, was der kognitiven Nische, dem Mesokosmos, bei VOLLMER (2010, 241; 2002, 161–165) entspricht.
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gen. Er zieht auch eine Parallele zu den Bedingungen, die einen evolutionären Vorteil für Viren versprechen. Das ist vergleichbar mit den Verhältnissen bei einer Infektionskrankheit, wo die Fähigkeit des Virus oder Parasiten, sich im Wirtsorganismus festzusetzen und fortzupflanzen, einen bestimmten Schwellenwert der Infektiosität übersteigen muß, ehe die Epidemie beginnen und sich ausbreiten kann. (CAVALLI-SFORZA 1999, 195)
Ob eine sprachliche Struktur evolutionär stabil und erfolgreich ist, hängt von ihren strukturellen Eigenschaften, deren Beziehungen zu den anderen Beschreibungsebenen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik usw.) und deren Beschaffenheit in Bezug auf Sprachverarbeitung (ist die Struktur konstruktionell ikonisch, transparent, uniform), den systemdefinierenden Eigenschaften, soziolinguistischen Konstellationen (Prestige, Alter, Geschlecht) und der Type- und Token-Frequenz ab. Wie in Kap. 6.1 beschrieben wurde, interagieren die einzelnen Faktoren wie systemdefinierende Eigenschaften und die Type- und Token-Frequenz sehr stark miteinander. Sehr frequente Verben des Deutschen sind beispielsweise relativ kurz und irregulär (NÜBLING 2000). Sie sind morphologisch weniger transparent und stärker konventionalisiert. Verben mit einer geringeren Token-Frequenz sind tendenziell länger und regulär. Sie verfügen über eine innere morphologische Strukturiertheit und weisen einen schwächeren Konventionalisierungsgrad auf. Obwohl die Klasse der regulären Verben wächst und die der irregulären Verben abnimmt, können sich auch Verben mit einer geringen Token-Frequenz in der Klasse der irregulären Verben behaupten, wenn ihre Type-Frequenz relativ hoch ist (springe (1. Ps. Sg. Präs.) – sprang (1. Ps. Sg. Prät.); singen – sang; klingen – klang). [W]e suggest that similar interactions between frequency and pattern overlap are likely to play an important role in language evolution. Individual constructions may survive through frequent usage or because they participate in usage-based generalizations through syntactic, semantic, or pragmatic overlap with other similar constructions. (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 499)
Es ist für die Verständigung zwar notwendig, dass Idiolekte strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen. Diese sind allerdings keineswegs völlig identisch (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29–30). Ein evolutionstheoretisches Verständnis von Sprachwandel verlangt auch, dass Sprache nicht als abstraktes Organ verstanden werden darf, sondern in Anlehnung an den Populationsbegriff der Synthetischen Evolutionstheorie (MAYR 2005a, 104) als Spezies (vgl. MUFWENE 2008; 2001) verstanden werden muss, deren individuelle Organismen die Idiolekte sind. Sprachliche Struktur kann nicht ohne das menschliche Individuum als Akteur bzw. Interaktor566 (CROFT 2000, 22) gedacht werden. Sprachstruktur ist zwar, wie die Reanalyse des Partizipialsuffixes -end als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch zeigt, immer auch eine 566 Ein Interaktor ist: „an entity that interacts as a cohesive whole with its environment in such a way that this interactions causes replication to be differential“ (HULL 1988, 408).
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spontane Ordnung, Sprache ändert sich aber nicht von allein; Menschen verändern die Sprache durch ihr Verhalten (CROFT 2000, 4). Der hier erarbeitete Ansatz ist sprecher- bzw. hörerzentriert567, indem davon ausgegangen wird, dass jedwede Dynamik – egal für welche Ebene (Mikro-, Meso- oder Makroebene) – vom individuellen sprachlichen Verhalten ausgeht (vgl. auch KELLER 2003; MUFWENE 2008). Im Mittelpunkt stehen die einzelnen Sprecher, ihr sprachliches Wissen und ihre kommunikativen Herausforderungen und Bedürfnisse. Zentral ist, dass jeder Sprecher im Laufe seines Lebens und seiner Sprachbiographie (Spracherwerb und Sprachlernen)568 in der jeweiligen Konstellation einzigartiges sprachliches Wissen erwirbt und/oder lernt. Ausgehend von der Tatsache, dass Idiolekte niemals gänzlich deckungsgleich sind, sind permanente Synchronisierungen569 der Motor für sprachliche Dynamik (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29–30). Der sprecherzentrierte Ansatz setzt voraus, dass Mikrosynchronisierungen der Ausgangspunkt für Mesound Makrosynchronisierungen sind. Die verschiedenen Idiolekte sind die Individuen, die zusammen die Population einer Spezies bilden. Wie schon bei CHRISTIANSEN / CHATER (2008, 499) angedeutet wurde, ist der Idiolekt „to a language what an individual is to a species in population genetics“ (MUFWENE 2001, 2). Was als Einzelsprache oder Varietät einer Einzelsprache beschrieben wird, ist allerdings eine Abstraktion der Gemeinsamkeiten der Idiolekte. Die Sprachsysteme auf der Makro- und Mesoebene sind folglich als Konstrukte zu betrachten, die aus den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der konkreten Äußerungen der Individuen extrapoliert werden. Der Idiolekt selbst ist mit seiner neuronalen Basis als konkretes komplexes und dynamisches System zu verstehen. Kommunikation und Interaktion findet allerdings auf der Basis des idiolektalen Sprachwissens statt. Daher ist eine weitere Parallele zur Evolutionsbiologie zu ziehen, die MUFWENE (2001, 150) folgendermaßen ausdrückt: Like a biological species defined by the potential of its members to interbreed and procreate offspring of the same kind, a language can be defined as ‚a population of idiolects that enable their hosts to communicate with and understand one another‘.
Idiolekte sind im Gegensatz zu den abstrahierten Varietäten insofern konkrete Systeme, als ihnen eine biologische neuronale Basis zugrunde liegt. In diesem Sinne ist ein Idiolekt ein komplexes adaptives System. Komplexe adaptive Systeme entwickeln und generalisieren Schemata. Komplexe adaptive Systeme reagieren auf Feedback aus der Umwelt. Wie gezeigt wurde, entsprechen Schemata bewusstem und unbewusstem Sprachmusterwissen, auf deren Grundlage Individuen bewusste und unbewusste sprachliche Entscheidungen treffen bzw. Sprache verarbeiten. 567 Im Folgenden nur noch sprecherzentriert. 568 Mit Spracherwerb meine ich den Erstspracherwerb. Unter Sprachlernen verstehe ich das mehr oder minder bewusste Lernen einer Fremdsprache oder einer Schriftsprache in der Schule. 569 Synchronisierungen sind Anpassungs- bzw. Akkommodationsprozesse. Akkommodation bedeutet Anpassung durch Veränderung des inneren Wahrnehmungsschemas (PURSCHKE 2014a; Kap. 2.4.2).
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Wie die sprachpolitischen Vorgaben zum generischen Maskulinum und die daraus resultierende Entwicklung des Partizipialsuffixes -end als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch gezeigt haben, sind einerseits Normen bzw. Regeln auf der Meso- und Makroebene dem konkreten Sprachgebrauch nachgeordnet570 (können sich durch den Sprachgebrauch ändern), andererseits werden kodifizierte bzw. sanktionierte Muster maßgeblich für den einzelnen Sprecher und sein Sprachverhalten. Zum einen etabliert sich also eine neue Norm, die besagt, dass das Sprachverhalten gendergerecht ist, wenn das Partizipialsuffix vorhanden ist, zum anderen werden Sprecher eben dafür sanktioniert, wenn sie nicht gendergerecht sprechen oder schreiben. Die Reaktionen der Mitmenschen auf das jeweilige Sprachverhalten sowie das Sprachverhalten der Mitmenschen selbst sind Feedback und Input für das komplexe adaptive System Idiolekt. Besondere Systemdynamik erfahren Idiolekte zudem durch Sprachkontakt, d. h. durch sogenannte ‚Äußere‘ und ‚Innere Mehrsprachigkeit‘. „Another, very different source of differential replication is interference in bilingualism, as it is presented by Weinreich (1953).“ (CROFT 1996, 113) Diese zunächst psycholinguistische Begriffsbestimmung von Sprachkontakt ist maßgeblich durch die soziolinguistische Begriffsbestimmung von Sprachkontakt beeinflusst. Sprachverhalten ist immer zugleich Sprachverhalten im Raum.571 Sprachwandel ist kaum ohne die Geschichte des Raums zu erklären, in dem kommuniziert wird und soziale Interaktion stattfindet. Diese soziale Bestimmung von Sprache ist in Übereinstimmung mit dem Populationsbegriff zu sehen.572 Zu einer Population werden diejenigen Organismen bzw. Idiolekte gezählt, die sich fortpflanzen bzw. verständigen oder synchronisieren können. Zu einer sprachlichen Population können alle Idiolekte gezählt werden, die über Mikrosynchronisierungen Strukturen auf einer Mesooder Makroebene ausprägen. Die Entwicklung verläuft allerdings nicht-linear. Das Wissen um die Extrapolationen, die sich zu Normen und Konventionen entwickelt haben, nimmt wiederum einen Einfluss auf das konkrete Sprachverhalten. Allgemein lässt sich aber festhalten, dass die Grundlage für Sprachwandel Variationen sind, die durch abweichende Replikationen entstehen und anschließend selektiert und kumuliert werden. Die Gründe für abweichende Replikationen sind vielfältig573, aber in erster Linie im bewussten und unbewussten maximengeleiteten Sprachhandeln der Individuen zu suchen (GRICE 1979b; KELLER 2003; HASPELMATH 1999a; Kap. 2.2.3). Diejenigen Maximen, die KELLER (2003, 135– 137) als statisch bezeichnet, sind zudem eine der Bedingungen für Stabilität und 570 Getreu dem Postulat: Language structure emerges from language use. 571 Gemeint sind hier in Anlehnung an KREFELD (2004, 22) und JAKOBSON (1960/1979, 88) d i e R ä u m l i c h k e i t d e r S p r a c h e (im Sinn der Arealität), d i e R ä u m l i c h k e i t d e s S p r e c h e r s (im Sinn der Provenienz und Mobilität) und d i e s i t u a t i v e R ä u m l i c h k e i t d e s S p r e c h e n s (im sozialen Verhältnis zu seinen Kommunikationspartnern). 572 Der sozialen Bestimmung von Sprache wurde insbesondere von der strukturalistischen Linguistik lange zu wenig Beachtung geschenkt (vgl. Kap. 2.1). 573 Dazu zählen beispielsweise Analogiebildungen, Reanalysen, sogenannte Natürlichkeitskonflikte sowie Exaptationen.
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nicht abweichende Replikation. KELLERS Maximen berücksichtigen zudem Faktoren wie Identität, Prestige und Gruppendynamik. Auch TRAUGOTT (2012, 562) hebt KELLERS Ansatz für das Verständnis von Sprachwandel hervor: Such an integrated informational and interactional perspective promises to give us a better understanding of (inter)subjectification, and indeed of most issues in pragmatics and language change.
Die komplexen Zusammenhänge zwischen externen und internen Umweltfaktoren sind letztlich ausschlaggebend für die Selektion bestimmter sprachlicher Strukturen. Selektion bedeutet Modifikation (Anpassung) oder Stabilisierung des jeweiligen Schemas bzw. Sprachverhaltens. Wie auch in dieser Arbeit gezeigt wurde, sind externe Umweltfaktoren u. a. sozioökonomische Bedingungen, sprachpolitische Vorgaben, die Positionierung des Sprechers im Raum sowie (verdecktes) Prestige. Das Verhältnis zwischen sprachlicher Struktur und deren Bewertung durch die Zeichenbenutzer ist entscheidend, um viele Aspekte des Sprachwandels angemessen zu verstehen. Interne Faktoren sind die aktuellen strukturellen Bedingungen des Systems574 (Schemas) und seine kognitiven Beschränkungen. Jedes System, sei es auf der Ebene des Idiolekts oder der abstrahierten Varietät bzw. Einzelsprache, besitzt eine historische Tiefe575 und ist auch ein Ergebnis sozialer Interaktion. In der jeweiligen Umwelt erfolgreiche Varianten können durch Interaktion und Synchronisierung durch die Sprechergemeinschaft (Population) diffundieren und kumuliert werden. In diesem Sinne kann, wenn sich neue Muster stabilisieren, auch von Konventionalisierung und unter bestimmten Voraussetzungen eben auch von Grammatikalisierung (Lexikalisierung; Degrammatikalisierung; Pragmatikalisierung) gesprochen werden. Sprachwandel im Sinne der Evolutionstheorie bedeutet aber nicht zwingend, dass Strukturen mit der Zeit immer komplexer werden. Am Beispiel der Herausbildung einer (multi)ethnolektal geprägte Sprechweise wurde dafür argumentiert, dass insbesondere durch Sprachkontakt und asymmetrisches Sprachwissen Strukturen selektiert werden, die – dem Ökonomieprinzip geschuldet – zunächst weniger komplex sind. Mit Blick auf die Vereinfachungstendenzen in Sprachkontaktsituationen wird aus der Lernerperspektive Folgendes deutlich: [R]ather, innate cognitive and pragmatic constraints on learning and processing, existing prior to the emergence of language, provided a niche within which cultural transmission could take place. These constraints subsequently became ‚fossilized‘ in the structure of language be-
574 Eingeschlossen ist hier die Möglichkeit von Subsystemen (Subschemata). „Es mag hier ein Mißverständnis der Art vorliegen, daß man Selbstreferentialität von Systemen unbedingt mit absoluter operationaler Geschlossenheit gleichsetzt und einfach darüber hinwegsieht, daß Sprachebenen und ihre Komponenten vor allen Dingen als Teilsysteme bzw. Systemteile fungieren! Sie konstituieren gemeinsam das Gesamt der Sprache als verwendbares Kommunikationsmittel – und existieren nicht allein um ihrer selbst willen.“ (STOLZ 1992, 36–37) 575 Diese Tiefe muss in erster Linie ontogenetisch verstanden werden. Da Sprache aber durch soziale und kulturelle Praktiken über Generationen hinweg tradiert wird, ist immer auch eine phylogenetische Dimension zu beachten.
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cause linguistic forms that fit these constraints were more readily learned, and hence propagated more effectively from speaker to speaker. (CHRISTIANSEN / CHATER 2007, 25)
Sowohl an der Herausbildung der sprachkontaktinduzierten Sprechweise als auch am Beispiel der Entwicklung des Partizipialsuffixes -end als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch ist deutlich geworden, dass evolutionäre Prozesse wie Sprachwandel nicht teleologisch und nicht völlig blind sind. Es werden allerdings die Varianten selektiert, die eine gewisse Zweckmäßigkeit oder Funktionalität in Anbetracht der innersystemischen und außersystemischen Bedingungen bewiesen haben. Dass sich Partizipialkonstruktionen gegenüber Splitting-Syntagmen durchsetzen, ist genauso sprachökonomisch zu begründen, wie die Tatsache, dass die Sprecher nicht mehr darauf achten, ob die Partizipialkonstruktion im Plural oder im Singular steht. Eine weitere Rolle spielt sicher auch das fehlende Sprachwissen und Sprachbewusstsein darüber, dass die Partizipialkonstruktionen im Singular weiterhin aus der Perspektive der Feministischen Linguistik und Genderlinguistik problematisch sind. Wie das Beispiel „Fahrender von Rollstühlen“ des Spiegel-Autors SCHULZ (2014, 124) zeigt (Kap. 5.3.1), werden die auffälligen Partizipialformen ohne Problembewusstsein einfach abweichend kopiert. KNOBLOCH (2011, 238) fasst das Zusammenspiel von Variation und Selektion für die Biologie wie auch Sprachwandel folgendermaßen zusammen: Sehr suggestiv und handgreiflich ist die Analogie zwischen Naturevolution und Sprachgeschichte darin, dass beide qua loser Kopplung von Variation und Selektion, keine Detailvoraussagen erlauben, dass sie nicht deterministisch und nicht teleologisch und dass sie in hohem Maße pfadabhängig sind, d. h. dass künftige Möglichkeiten des Wandels von kumulierten vergangenen Selektionen abhängen.
Diese Sichtweise ist zwar nicht frei von Paradoxien, kann aber einerseits die hohe Variabilität sprachlicher Strukturen erklären und andererseits die Phänomene erfassen, in denen Sprachstrukturen funktionalisiert werden. Eine hohe Variationsbreite in einem System kann eine funktionale Anpassungsleistung sein.576 „Um einer hoch dynamischen Umwelt Rechnung tragen zu können, braucht es ein hohes Maß an verfügbarer Variation.“ (KNOBLOCH 2011, 242) Zudem ist deutlich geworden, dass sich die Sprachteilnehmer in ganz verschiedenen ‚Sprachräumen‘ bewähren müssen. Die Kapitel 5 und 6 zeigen nicht zuletzt, dass „was im Kontext 576 „Vorerst macht die Evolutionsanalogie uns unmissverständlich deutlich, dass von ‚Fortschritt‘ oder Höherentwicklung weder in der Natur noch auch [sic!] in der sprachlichen Darstellungstechnik gesprochen werden kann, wenn man nicht die ‚Pfadabhängigkeit‘ des Wandels und die (selbst hoch variable) Nische, an deren Bedingungen die Anpassung erfolgt, in alle Rechnungen einstellt.“ (KNOBLOCH 2011, 243) KNOBLOCH (2011, 238) spekuliert weiterhin: „Ebenfalls mit Paradoxien belastet, aber potentiell fruchtbar scheint es mir, den Evolutionismus als Heuristik zur Entdeckung von latenter Funktionalität im Sprachbau einzusetzen. An die Stelle der umstandslosen Gleichsetzung von Realität und Funktionalität tritt dann die Annahme, dass es in natürlichen Sprachen ein Wechselspiel geben könnte zwischen Rückbildung funktional nicht ausgenutzter Variation und der prozessualen Neufunktionalisierung und ‚Umverteilung‘ der vorhandenen und verfügbaren Variation“.
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A funktional angepasst ist, […] im Kontext B schon zutiefst hinderlich sein“ (KNOBLOCH 2011, 242) kann. Die (multi)ethnolektal geprägte Sprechweise verfügt innerhalb von Jugendgruppen im Umfeld des sogenannten Kiezes über ein hohes Prestige, wohingegen diese Sprechgebrauchsweise in der Schule mit negativem Feedback sanktioniert wird (WIESE 2012, 235), was innerhalb der Jugendgruppe wiederum das Prestige der Sprechgebrauchsweise erhöht. Das feature pool-Modell von MUFWENE (2001, 6) berücksichtigt zwar nicht explizit die verschiedenen Kommunikationsräume, in denen sich die Sprecher bewegen, zeigt aber schön, wie neue Varianten durch Synchronisierung in einen Idiolekt kommen, ohne exakt voraussagen zu können, welche Elemente sich durchsetzen werden. Hier mag auch der Zufall eine Rolle spielen, „nichtzufällig ist die Eliminierung der unangepassten Varianten. Was nicht ausgesprochen schädlich ist, kann aber auch zufällig überleben und weitergegeben werden“ (KNOBLOCH 2011, 242). Evolutionärer Sprachwandel lässt sich zudem (re-)kodieren als (KNOBLOCH 2011, 243): Rekontextualisierung/Funktionswandel bestehender Strukturen (‚Exaptation‘) Sieg in einem ‚Rüstungswettlauf‘ um Expressivität Ringen um Vorherrschaft in einem Kommunikationsraum577 Abschließend lässt sich sagen, dass eine evolutionäre Sprachwandeltheorie eine Gruppe von verschiedenen etablierten aber inkommensurablen Theorieentwürfen, die verschiedene Aspekte wie soziale, sprachsystemische oder kognitive Faktoren besonders betonen, vereinen und integrieren kann. Wie gezeigt wurde, sind Grundgedanken der Grammatikalisierungstheorie und der Morphologischen Natürlichkeitstheorie grundsätzlich mit den evolutionären Prinzipien Replikation, Variation und Selektion vereinbar, wenn es im Lichte eines evolutionären Ansatzes auch nötig ist, die eine oder andere Theorie im Detail zu überdenken. Ein starkes Unidirektionalitätspostulat grammatischen Wandels ist beispielsweise auch mit einem evolutionstheoretischen Blickwinkel auf Sprachwandel nicht zu verteidigen. Die hier vorgestellte evolutionäre Sprachwandeltheorie betrachtet Sprachwandel und Sprachdynamik mit einer weitreichenden Perspektive, die sozialen Wandel, kulturelle Einflüsse, Aspekte zwischenmenschlicher Interaktion, kognitive Mechanismen der Sprachverarbeitung und die Bedingungen des idiolektalen 577 Hier kann auf das Konzept der semantischen Kämpfe von FELDER (2010; 2006) verwiesen werden. FELDER (2010, 544) versteht unter semantischen Kämpfen den Versuch, „in einer Wissensdomäne bestimmte sprachliche Formen als Ausdruck spezifischer, interessensgeleiteter und handlungsleitender Denkmuster durchzusetzen“. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang FELDERS (2010, 546) Verständnis von Bedeutung „nicht als Entität, sondern als ein Bedeutungspostulat bzw. eine interpretative Hypothese aufzufassen, die sich aus Text- und Situationsdeutungen zusammensetzt und im Diskurs als Handlungskomponente erscheint“. Die semantischen Kämpfe können nach FELDER (2010, 547–548) auf drei Ebenen erfolgen: erstens im Rahmen von „Benennungs- und Bezeichnungsproblematiken“, zweitens durch „Bedeutungsfixierungsversuche“ und drittens mittels „Sachverhaltsfixierungsversuchen“. Das Konzept FELDERS kann KELLERS Modell evolutionären semantischen Wandels gewinnbringend ergänzen. Dies müsste allerdings in einer eigenen Arbeit dargestellt werden.
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Sprachsystems selbst und deren komplexe Wechselwirkungen und Verschränkungen berücksichtigt. Der Schlüssel zu einem adäquaten Verständnis von Sprachwandel ist ein ganzheitlicher Ansatz, der Sprache sowohl auf der Mikro- als auch auf der Meso- und Makroebene als evolutionäres und damit als dynamisches und komplexes adaptives System begreift.
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Z E I T S C H R I F T F Ü R D I A L E K T O L O G I E U N D L I NG U I S T I K
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BEIHEFTE
In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0838
154. Simon Pickl Probabilistische Geolinguistik Geostatistische Analysen lexikalischer Variation in Bayerisch-Schwaben 2013. 269 S. mit 63 Abb. und 45 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10463-0 155. Dominique Huck (Hg.) Alemannische Dialektologie: Dialekte im Kontakt Beiträge zur 17. Arbeitstagung für alemannische Dialektologie in Straßburg vom 26.–28.10.2011 2014. 300 S. mit 39 s/w- und 4 Farbabb., 29 Tab., 16 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-10343-5 156. Magnus Breder Birkenes Subtraktive Nominalmorphologie in den Dialekten des Deutschen Ein Beitrag zur Interaktion von Phonologie und Morphologie 2014. 256 S. mit 12 Abb. und 52 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10785-3 157. Thomas Krefeld / Elissa Pustka (Hg.) Perzeptive Linguistik: Phonetik, Semantik, Varietäten 2014. 216 S. mit 39 Abb. und 10 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10314-5 158. Michael Elmentaler / Markus Hundt / Jürgen Erich Schmidt (Hg.) Deutsche Dialekte. Konzepte, Probleme, Handlungsfelder Akten des 4. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) 2015. 516 S. mit 57 Abb. und 55 Tab., 40 Farbabb. auf 20 Tafeln, kt. ISBN 978-3-515-10984-0 159. Christian Schwarz Phonologischer Dialektwandel in den alemannischen Basisdialekten Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert Eine empirische Untersuchung zum Vokalismus 2015. 584 S. mit 213 s/w- und 14 Farbabb.,
160.
161.
162.
163.
164.
165.
90 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10295-7 Simon Pröll Raumvariation zwischen Muster und Zufall Geostatistische Analysen am Beispiel des Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben 2015. 215 S. mit 78 s/w- und 22 Farbabb., 13 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11055-6 Ursula Stangel Form und Funktion der Reflexiva in österreichischen Varietäten des Bairischen 2015. 212 S. mit 27 Abb. und 28 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11002-0 Oscar Eckhardt Alemannisch im Churer Rheintal Von der lokalen Variante zum Regionaldialekt 2016. 424 S. mit zahlreichen s/w- und Farbabb., kt. ISBN 978-3-515-11264-2 Filippo Nereo The Dynamics of Language Obsolescence in a Divided Speech Community The Case of the German Wischau / Vyškov Enclave (Czech Republic) 2016. 145 S. mit 2 Abb. und 2 Graf., kt. ISBN 978-3-515-10102-8 Marlies Koch Geschichte der gesprochenen Sprache von Bayerisch-Schwaben Phonologische Untersuchungen mittels diatopisch orientierter Rekonstruktion 2016. 521 S. mit 63 s/w-Abb. und 137 Farbkarten, kt. ISBN 978-3-515-11401-1 Augustin Speyer / Philipp Rauth (Hg.) Syntax aus Saarbrücker Sicht 1 Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax 2016. 219 S. mit 15 Abb. und 50 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11445-5
Angesichts der Fülle von existierenden Sprachwandeltheorien entwickelt Lars Bülow in diesem Band ein allgemeines und integratives Sprachwandelmodell auf der Grundlage der Evolutionstheorie. Bülow versteht sowohl den Idiolekt als auch die abstrakten Varietäten als dynamische und komplexe adaptive Systeme: Auf dieser Grundlage kann er zeigen, dass sich die zentralen Konzepte der Evolution – Replikation, Variation und Selektion – als hilfreich erweisen, um Sprachwandel im Spannungsfeld zwischen Sprachgebrauch, Sprachstruktur, kognitiver Sprachverarbeitung und -politik adäquat zu erklären.
ISBN 978-3-515-11531-5
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7835 1 5 1 1 53 1 5
Was es für die Analyse von Sprachwandel bedeutet, komplexe adaptive Systeme als evolutionäre Systeme zu verstehen, wird anhand zweier Fallstudien verdeutlicht: Zum einen am Beispiel der Exaptation des Partizipialsuffixes -end als Marker für gendergerechten Sprachgebrauch und zum anderen anhand der Herausbildung multiethnolektal geprägter Sprechweisen. Hier zeigt sich, dass das konkrete Sprachhandeln der Individuen zu nicht intendierten Strukturen auf der abstrakten Varietätenebene führen kann.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag