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German Pages 700 [702] Year 2002
Speyerer Sozialrechtsgespräche 1991-2000
Sozialpolitische Schriften
Heft 85
Speyerer Sozialrechtsgespräche der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz in Zusammenarbeit mit der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
1991-2000
Wissenschaftliche Redaktion
Prof. Dr. Dr. Detlef Merten
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Speyerer Sozialrechtsgespräch (1, 1991- 10, 2000): Speyerer Sozialrechtsgespräche der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz: 1991-2000 I in Zusammenarbeit mit der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Red. : Detlef Merten. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 ISBN 3-428-10441-2
Alle Rechte, auch die de~. auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-5998 ISBN 3-428-10441-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Inhalt
Deutsche Rentenversicherung im Europa 1992
-1. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 21.122. März 1991Roman Herzog Sozialgesetzgebung zwischen Verfassungsrecht und EG-Gemeinschaftsrecht
3
Franz Ruland Binnenmarkt in Europa und Binnenwanderung - Konsequenzen für die gesetzliche Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Detlef Merten Soziale Grundrechte in Europa- Bilanz und Perspektive
30
Hans Henning Axthelm Aufbau und Entwicklung der Sozialversicherung in den fünf neuen Bundesländern . .
42
Soziale Sicherung in den neuen Bundesländern
- 2. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 9./10. März 1992Heinrich Reiter Der sozialrechtliche Rechtsschutz
55
Detlef Merten Zugriff auf Renten als strafähnliche Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
Hans Geister Soziale Sicherung in den neuen Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Helmut Stahl Arbeitsmarkt- und sozialpolitische Flankierung der Transformationsprozesse Osteuropas in marktwirtschaftliche Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
VI
Inhalt Soziale Sicherung der Frauen in Deutschland -3. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 11. I 12. März 1993-
Vlrike Mascher
Eigenständige Alterssicherung der Frauen. Überlegungen der Projektgruppe der SPD-Bundestagsfraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Angela Merkel
Soziale Sicherung der Frauen- Aufgaben nach der Deutschen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . 118 Franz Ruland
Soziale Sicherung der Frauen- Bedarf, Ziele und Elemente einer Reform . . . . . . . . . . . 127 Winfried Schmähl
Kinder, Frauen, Familie und Alterssicherung. Anmerkungen zur aktuellen sozialpolitischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Regionalisierung der Rentenversicherung - 4. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 21.122. Aprill994 Detlef Merten
Föderalisierung der Sozialversicherung aus rechtshistorischer und rechtsdogmatischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Rainer Pitschas
Regionalisierung der Rentenversicherung - optimale Verwaltungsgrößen aus wissenschaftlicher Sicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 ThiloRamm
Arbeiter und Angestellte: Bestandsaufnahme im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Harmonisierung der Alterssicherungssysteme - 5. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 23.124. März 1995-
Franz Ruland
Harmonisierung der Alterssicherungssysteme - zur Funktion der gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Boy-Jürgen Andresen
Betriebliche Altersversorgung im Umbruch - Die zweite Säule auf verändertem sozialen und wirtschaftlichen Fundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Inhalt
VII
Detlef Merten Die Sonderrolle der Beamtenversorgung...................................... .. .. . .. 241
Herbert Mai Hat die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
Frühverrentung - Arbeitslosigkeit und Bevölkerungentwicklung Hat die Rentenversicherung noch Zukunft?
- 6. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 18.119. Apri/1996Detlef Merten Verfassung und Zukunft. Einführung in das Tagungsthema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Wolfgang Klauder Längerfristige Arbeitsmarktperspektiven und Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
Hans J. Barth Bevölkerungsentwicklung und Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
Wemer Tegtmeier Friihverrentung- Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Ursula Engelen-Kefer Stellungnahmen der Sozialpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Jürgen Husmann Stellungnahmen der Sozialpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
Sozialversicherung im Spannungsfeld von Beitrags- und Steuerfinanzierung - 7. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 17.118. Apri/1997-
Franz Ruland Rentenversicherung zwischen Steuer- und Beitragsfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Detlef Merten Die versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Diether Döring Finanzierbarkeil und Finanzierung der deutschen Sozialversicherung unter Einbeziehung europäisch-vergleichender Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
Inhalt
VIII
Norbert Andel
Die einkommensteuerliche Behandlung der Beiträge und der Rentenzahlungen in der Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Werner Tegtmeier
Finanzierung und Finanzierbarkeil sozialer Sicherung vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht? - 8. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 2. I 3. April 1998Klaus Jensen
Zurück zur Solidargemeinschaft: Ausweitung der Versicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . 437 Gerhard Kleinhenz
Arbeitsmarktkrise und soziale Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Bert Rürup
Zukunft der Arbeit - Zukunft des Rentensystems: Zur Ausweitung des Versichertenkreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Detlef Merten
Verfassungsprobleme bei Ausweitung der Sozialversicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . 474 Werner Tegtmeier
Konzept Sozialstaat und Sozialversicherungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
Reform der Hinterbliebenenrenten - 9. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 29. I 30. März 1999Florian Gerster
Demographische Entwicklung, eigenständige Alterssicherung: Wie reformfähig ist die Sozialrente? 513 Udo Steiner
Das Sozialversicherungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 525 Franz Ruland
Soziale Sicherung der Frau - Möglichkeiten einer Reform im Bereich der Alterssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540
Inhalt
IX
Kurt Lüscher
Zwischen Zerrbild und Wunschbild: Familien heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Detlef Merten
Ehe, Familie und Partnerschaften im Lichte des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
Altersversorgung am Wendepunkt
- 10. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 20.121. März 2000Detlef Merten
Verfassungsauftrag Altersversorgung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Johann Hahlen
Zur Entwicklung der Altersstruktur in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Hans-Joachim Reinhard
Modelle obligatorischer oder freiwilliger zusätzlicher Alterssicherung in Europa . . . . 640 Franz Ruland
Neugestaltung der Rentenforrnel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
Deutsche Rentenversicherung im Europa 1992 1. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 21. /22. März 1991
Sozialgesetzgebung zwischen Verfassungsrecht und EG-Gemeinschaftsrecht Von Prof. Dr. Roman Herzog Präsident des Bundesverfassungsgerichts
Das Thema, so wie es hier gestellt ist, mag auf den ersten Blick überraschen. Zwar gibt es zwischen dem europäischen Gemeinschaftsrecht und dem nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland eine Menge von Berührungspunkten, ja zum Teil sogar von potentiellen Konfliktpunkten. Aber man war es doch bisher gewöhnt, solche Berührungen eher im Wirtschafts- und Währungsrecht und den damit zusammenhängenden obrigkeitlichen Materien zu suchen als im Sozialrecht Es stellt sich daher zunächst einmal die Frage, ob bei der Abfassung meines Themas nicht gewissermaßen am Bedarf vorbei geplant worden ist. Aber das glaube ich nicht. Natürlich hat schon das deutsche Sozialrecht nur relativ wenig mit dem deutschen Verfassungsrecht zu tun -von der Selbstverständlichkeit abgesehen, daß das Sozialrecht Millionen Bürgern die wirtschaftlichen Grundlagen für die Ausübung und den Genuß ihrer verfassungsmäßigen Rechte schafft. Und ebenso selbstverständlich ist es, daß die Europäische Gemeinschaft ihre Arbeitsschwerpunkte auf ganz anderen Feldern als auf dem sozialen sucht, wofür schon ihre begrenzten finanziellen Möglichkeiten sprechen. Aber das ist doch wohl auch kaum zu bestreiten: daß sie neben der Wirtschafts- und Währungsunion auf lange Sicht auch eine Art Sozialunion anstrebt und wahrscheinlich auch gar nicht anders kann, als sie anzustreben. Man braucht sich nur das magische Viereck der Wirtschaftspolitik genauer anzusehen, wie es in § I unseres Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes niedergelegt ist, um den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Wirtschafts-, Währungs-, Außenhandelspolitik und Arbeitsmarktpolitik - und in deren logischem Gefolge der Sozialpolitik - zu begreifen. Man kann, um es einfacher zu sagen, nicht Wirtschaftspolitik treiben, ohne sich auch um die zu kümmern, die sie eigentlich exekutieren. Daß dies alles auch im Recht der EG angelegt ist, ergibt sich aus keiner anderen Bestimmung besser als aus Artikel 130 a des EG-Vertrages, der 1986 durch die Einheitliche Europäische Akte dort aufgenommen worden ist und der in seinem ersten Absatz lautet: "Die Gemeinschaft entwickelt und verfolgt weiterhin ihre Politik zur Stärkung ihres wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes zu fördern." Es konnte deshalb auch keine Überraschung sein, daß am 8. Dezember 1989 dann eine Sozial-
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1. Speyerer Sozialrechtsgespräch
charta der EG zustandekam, die sogenannte Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Gewiß enthalten alle diese Instrumente noch nicht sehr viel Konkretes und vor allem Verbindliches, am wenigsten für die begünstigte Nation der Deutschen, denen es zuhause natürlich sehr viel besser geht, als es eine beliebige Festlegung der EG mit sich bringen könnte. Aber die große Richtung ist damit angegeben, und man braucht nicht nur an die unversiegbare Bereitschaft der Kommission und ihrer Bürokratie zur Erzeugung von Normen zu denken, um zu erkennen, daß sie auch in Zukunft eingehalten werden wird. Es gibt genug sachliche Griinde für diese Annahme. Es ist übrigens, wenn ich recht sehe, auch sinnvoll, bei der Frage nach den Konsequenzen dieser absehbaren Entwicklung für das deutsche Sozialrecht nicht mit diesem oder gar mit seinen spärlichen verfassungsrechtlichen Wurzeln zu beginnen. Die deutsche Verfassung, das Bonner Grundgesetz, mag die bisherige Sozialpolitik zwar da oder dort ermutigt und angespornt haben. Man kann aber weder sagen, daß die Sozialpolitik der letzten vierzig Jahre im Grundgesetz substantiell vorgezeichnet sei, noch daß grundlegende Veränderungen in ihrer Struktur von vomherein und evident verfassungswidrig wären. An dieser Feststellung ändert weder das verfassungsrechtliche Sozialstaatsgebot etwas noch die Absicherung des "sozialen Netzes" durch Artikel 14 des Grundgesetzes, die das Bundesverfassungsgericht in den vergangeneo Jahren ganz bewußt vorgenommen hat; denn beide Verbürgungen lassen dem Gesetzgeber immer noch einen ungewöhnlich weiten Freiraum für politische Gestaltung. Weder der eine noch der andere Verfassungssatz hat wohl auch geistig an der Wiege unseres Sozialsystems gestanden. Da waren ganz andere Kräfte wirksam: das soziale Gewissen der führenden Politiker in allen Lagern, die. primitive Erkenntnis, daß eine freiheitliche Demokratie in der schwierigen geopolitischen Lage der Deutschen ohne die integratorische Kraft sozialer Befriedung keinen Bestand hat, und wahrscheinlich auch etwas der in Artikel 38 GG niedergelegte Grundsatz der allgemeinen Wahl, der den sozial Schwachen am Wahltag genausogut eine Stimme gibt wie denen, die sich besser stellen. Es hat also wenig Sinn, mit dem Bekannten, bereits Vorhandenen zu beginnen ganz abgesehen davon, daß Sie dieses ja auch bestens kennen und auf eine prinzipielle Darstellung unseres eigenen, deutschen Sozialsystems also gut verzichten können. Ausgangspunkt muß das sein, was sich in der EG zwar noch lange nicht als stringentes Programm, wohl aber als Ziel und Marschweg abzeichnet. An welchen Stellen, auf welche Weise und vor allem von welchem Punkt an es Konflikte mit deutschen Interessen und gar mit deutschen Rechtspositionen geben kann, ist so am leichtesten zu eruieren.
Deutsche Rentenversicherung im Europa 1992
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I.
Die europäische Sozialpolitik und das europäische Sozialrecht, die sich erst allmählich am Horizont abzeichnen, haben es - grob gesprochen - mit zwei großen Problemen zu tun. Zunächst umfaßt die Gemeinschaft Staaten von höchst unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklung oder, um es genau zu sagen, von höchst unterschiedlichem Wohlstand, und das schlägt natürlich auch auf das Niveau der sozialen Sicherung des Einzelnen durch. Zum andern aber sind diese Einzelnen gerade wegen dieser Unterschiede im Niveau außerordentlich mobil geworden, sie wandern also von der einen Wirtschaft zur anderen, was zugleich bedeutet: sie wandern vom einen Sozialsystem zum anderen, und die EG billigt und erleichtert diesen Vorgang, indem sie die Freizügigkeit auch der Arbeitnehmer geschaffen hat und in praxi -mit Recht- bitter ernst nimmt. Damit sind die großen Akkorde, die die europäische Sozialpolitik zu unseren Lebzeiten ausmachen werden, auch schon angeschlagen: Es wird zunächst einmal darum gehen, daß die Hunderttausende von Wanderarbeitnehmern, die es im Gebiet der Gemeinschaft gibt, vor jeder Art von Diskriminierung geschützt werden, was nach deutscher verfassungsrechtlicher Terminologie eine spezifische Anwendung des Gleichheitssatzes bedeutet, und es wird weiterhin darum gehen, daß auch die Einwohner der verschiedenen EG-Mitgliedstaaten sowie der verschiedenen europäischen Regionen auf die Dauer nicht nur in den Genuß gleicher Lebenschancen, sondern auch in den Genuß gleicher sozialer Sicherheiten gelangen. Man wird die erste Aufgabe nicht als besonders einfach qualifizieren müssen, um zuzugeben, daß die zweite eine der eigentlichen, um nicht zu sagen, zentralen Aufgaben Europas ist. Die gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen zur Lösung der Gleichbehandlung der Wanderarbeitnehmer sind bereits im EWG-Vertrag - und zwar in seiner Urfassung von 1956 I 57- gelegt. Ich erwähne nur die Artikel 7, 48 und 51 des EWG-Vertrages. Artikel 48 legt die grundsätzliche Freizügigkeit aller Arbeitnehmer im gesamten EG-Raum fest und macht damit das Gleichstellungsproblem überhaupt erst zum Gegenstand gemeinschaftsrechtlichen Interesses. Artikel 7 spricht das grundsätzliche Diskriminierungsverbot - in deutscher Rechtssprache: das Verbot jeglicher Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit - aus, wofür seit der Einheitlichen Europäischen Akte Normen des Rates mit lediglich qualifizierter Mehrheit erlassen werden können, und Artikel 51 verpflichtet den Rat zum Erlaß besonders wichtiger flankierender Maßnahmen, die im wesentlichen darauf hinauslaufen, daß bei der Berechnung sozialer Leistungen die nach den jeweils beteiligten Rechtsordnungen zu berücksichtigenden Zeiten addiert werden müssen und daß soziale Leistungen, die in einem Mitgliedstaat der EG verdient worden sind, auch in jeden anderen transferiert werden können. Ich kann und will die Detailbestimmungen, die im Gefolge der genannten EGVorschriften erlassen worden sind, hier nicht im einzelnen darstellen. Erwähnen möchte ich aber doch wenigstens zwei grundlegende EG-Verordnungen:
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1. S peyerer Sozialrechtsgespräch
- Die Verordnung Nr. 1408 I 71, die das Diskriminierungsverbot für eine Reihe höchst bedeutsamer Sozialleistungen konkretisiert, nämlich für die Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Alter, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie bei Arbeitslosigkeit, und die sich ferner noch auf Fragenkreise wie die Hinterbliebenenversorgung, das Sterbegeld und bestimme familienbezogene Leistungen erstreckt; Sozialhilfeleistungen, Kriegsopferleistungen und Versorgungsleistungen im öffentlichen Dienst sind dagegen ausdrücklich aus dem Geltungsbereich der Verordnung ausgeklammert. Daneben ist zu erwähnen die Verordnung Nr. 1390 I 81, die die sozialrechtlichen Bestimmungen der EG auf Selbständige ausgedehnt hat. Beide Verordnungen sind für den Zweck unserer Darstellung weniger wegen ihres konkreten Inhalts interessant als vielmehr deswegen, weil sich aus ihnen klarer als aus mancher anderen EG-Norm ablesen läßt, wie weitgespannt das Blickfeld der europäischen Sozialpolitik einerseits tatsächlich ist und andererseits wohl auch sein muß, wenn die Funktionen erfüllt werden sollen, die wir dieser Politik eingangs zugeschrieben haben. Noch eines ist mit aller Deutlichkeit hinzuzufügen: Sieht man von den Wirkungen des Artikels 51 - Zusammenrechnungsprinzip und Entterritorialisierung - einmal ab, so trifft das EG-Recht hier mit keiner Silbe materiellrechtliche Entscheidungen über Voraussetzungen, Art und Höhe der von ihm erfaßten Sozialleistungen. Es läßt die Frage des jeweiligen nationalen Leistungsstandards vielmehr unberührt, beläßt ihn m. a. W. vollständig im Souveränitätsbereich der nationalen Sozialgesetzgeber und trägt nur dafür Sorge, daß keine Ungleichbehandlungen im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit stattfinden und die unterschiedlichen nationalen Regelungen keine unübersteigbaren Barrieren gegen die Freizügigkeit des Produktionsfaktors Arbeit auftürmen. Alle diese Regelungen folgen also gewissermaßen dem Wenn-dann-Prinzip: Wenn (und soweit) das jeweilige nationale Recht die in der Verordnung Nr. 1408 I 71 genannten Leistungen vorsieht, dann (und nur dann) gelten sie für alle Arbeitnehmer, ungeachtet ihrer nationalen Herkunft und ihres jetzigen oder auch späteren Aufenthalts im Marktbereich. Für die Bundesrepublik Deutschland mögen darausfinanzielle Lasten entstehen, sozialrechtliche Probleme erwachsen daraus, soweit ich sehe, nicht. Es tritt auch nicht jene - immerhin mögliche - mittelbare Rückwirkung ein, mit der man es gelegentlich im Berufsrecht zu tun bekommt: daß nämlich Berufsangehörige aus anderen Mitgliedstaaten der EG ihren Beruf auch in Deutschland ausüben dürfen, obwohl sie die hierzulande für Deutsche geltenden Anforderungen nicht erfüllen und daß dann die deutschen Berufsbewerber kommen und ihrerseits Gleichstellung mit ihren ausländischen Konkurrenten verlangen. Beim Sozialrecht mit seinen überwiegend nur auf Geldleistungen bezogenen Rechtsnormen kann dieses Problem im allgemeinen nicht auftreten, während es in zahlreichen anderen Rechtsgebieten zu dem beherrschenden Gleichheitsproblem der Zukunft zu werden droht. Die Rückwirkungen des Gemeinschaftsrechts können, soweit es um das Sozialrecht geht, allenfalls faktischer Natur sein. Das kann zumindest dann eintreten,
Deutsche Rentenversicherung im Europa 1992
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wenn die Folgen des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots für die Bundesrepublik Deutschland einmal so teuer werden, daß sie nicht mehr bezahlt werden können. Normalerweise stünde jeder nationale Gesetzgeber in einem solchen Falle vor der Alternative, ob er die von ihm beabsichtigten Verbesserungen unterläßt oder zumindest begrenzt oder ob er sie nur seinen eigenen Staatsangehörigen reserviert. Die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, die ich in den letzten zehn Minuten vor Ihnen ausgebreitet habe, haben ihm diese Entscheidung aber aus der Hand genommen. Die Beschränkung auf deutsche Sozialleistungsempfänger kommt jedenfalls im Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408 I 71 nicht mehr in Betracht. Es muß also bei der Reduzierung an sich vorgesehener Leistungen bleiben. Aber das ist, wie gesagt, nur eine faktische, keine rechtliche Konsequenz aus dem Diskriminierungsverbot des EG-Rechts. Wahrend der Kampf gegen die Diskriminierung aus nationalen Gründen, wie sich gezeigt hat, schon verhältnismäßig weit gediehen ist, kann man das von der wirklich sozialgestaltenden Politik der EG, also von einer wirklich aktiven Sozialpolitik der Gemeinschaft, nicht so ohne weiteres sagen. In dieser Beziehung sind zwar die allgemeinen Ziele klar; ich erinnere etwa an Artikel 117 des EWG-Vertrages, nach welchem sich die Mitgliedstaaten u. a. über die Notwendigkeit einig sind, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken. Aber wir wissen ja aus dem nationalen Verfassungsrecht, was solche Programmsätze, um nicht zu sagen Absichtserklärungen in der politischen Praxis wert sind, zumal es hier ja nicht nur um das politische Wollen, sondern vor allem um das ökonomische und finanzielle Können geht. Kaum größeres Gewicht haben EG-Normen, die sich auf Tätigkeiten der bloßen Koordinierung und Beratung beschränken. Ich erinnere in diesem Zusammenhang etwa an Artikel 118 b des EWG-Vertrages, der die Kommission verpflichtet, den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu fördern, und an Artikel 118 selbst, nach welchem die Kommission auf zahlreichen Gebieten die Aufgabe hat, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in sozialen Fragen zu fördern. Zu den Sachgebieten, auf denen das zu geschehen hat, gehören u. a. die Beschäftigungspolitik, das Arbeitsschutzrecht, die berufliche Aus- und Fortbildung und insbesondere die soziale Sicherheit. Man soll solche Kompetenzen des Beratens und Gutzuredens nicht unbedingt geringschätzen, man tut ihnen aber wohl nicht unrecht, wenn man von ihnen den ganz großen Durchbruch auch nicht erwartet. Um den zu erreichen oder ihm wenigstens näher zu kommen, bedarf es entweder einer einseitigen Regelungskompetenz der Gemeinschaft, mit der verbindliche Normen für die Mitgliedstaaten geschaffen werden können, oder zumindest finanzieller Mittel, die zum Teil selbst gestaltend, zum Teil als "goldene Zügel" eingesetzt werden können. Beides gibt es im europäischen Sozialrecht denn auch, bisher freilich in sehr bescheidenen Ansätzen. Den Versuch, mit dem "goldenen Zügel" auch gestaltend zu wirken, stellt der Europäische Sozialfonds dar, der in den Artikeln 123 ff. des EWG-Vertrages gere2 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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1. Speyerer Sozialrechtsgespräch
gelt ist und der ein echtes, wenn auch noch keineswegs sehr starkes Finanzierungsinstrument ist. Aus diesem Fonds können Mitgliedstaaten 50%ige Zuschüsse zu Maßnahmen erhalten, die sie zur Förderung der beruflichen Verwendbarkeit und der räumlichen Mobilität von EG-Arbeitnehmern veranstalten; es geht also vor allem um Maßnahmen der Betriebsumstellung und der Arbeitnehmerumschulung, um Übersiedlungshilfen und dergleichen. Damit fördert die EG aus eigenen Mitteln die Verhütung von Langzeitarbeitslosigkeit und die Wiedereingliederung ins Arbeitsleben. Zugleich bietet sie den Mitgliedstaaten selbst aber einen wesentlichen Anreiz dazu, mit dieser Zielrichtung von sich aus aktiv zu werden. Der Ausdruck "goldener Zügel", den man für diese Herrschaftsmethode in Deutschland geprägt hat, paßt also auch für den Gemeinschaftsbereich, und jeder Bürgermeister kann bekunden, wie straff solch ein Zügel angezogen werden kann. So wird es sich auch aufEG-Ebene verhalten: Wenn der Fonds erst einmal ausreichend mit Mitteln ausgestattet ist, wird er ein herrliches Instrument der GängeJung bieten. Den Weg der einseitigen, d. h. von der Gemeinschaft ausgehenden rechtlichen Verpflichtung beschreitet, wenn auch noch sehr vorsichtig, der schon einmal erwähnte Artikel 118 a des EWG-Vertrages, der im Jahre 1986 durch die Einheitliche Europäische Akte in dieses Vertragswerk aufgenommen worden ist. Absatz 1 ist zwar eine ganz gewöhnliche völkerrechtliche Verpflichtung. Die Mitgliedstaaten begrunden nämlich untereinander die Pflicht, daß jeder für sich die Verbesserung der Arbeitsumwelt fördert, um, wie es wörtlich heißt, die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, und sie setzen sich zugleich die Harmonisierung der einschlägigen Bedingungen "bei gleichzeitigem Fortschritt" zum Ziel. Absatz 2 aber bringt dann die Gemeinschaft ins Spiel. Nach dieser Vorschrift kann nämlich der Rat der EG auf Vorschlag der Kommission und in Zusammenarbeit mit etlichen Gremien Richtlinien erlassen, die Mindestvorschriften enthalten, und das kann er, wie ausdrucklieh vorgesehen ist, nicht nur einstimmig, sondern auch mit qualifizierter Mehrheit, d. h. auch gegen die Stimmen eines Mitgliedstaates, der durch eine solche Richtlinie zum Handeln - möglicherweise zu einem sehr teueren Handeln - gezwungen wird. Die Vorschrift ist, so wichtig sie sein mag, in sich ambivalent. Gewiß wird man einem Staat, der sein Sozialprodukt einseitig für Prestigebauten und Beamtenbesoldung ausgibt und dabei seine selbstverständlichen sozialen Pflichten versäumt, einen solchen Eingriff von hoher europäischer Hand gönnen; dagegen ist in einem solchen Falle denn auch wenig zu sagen. Ist das Sozialprodukt aber, um nunmehr den anderen Extremfall zu nennen, prozentual richtig verteilt, nur eben insgesamt gesehen zu klein, so ist auf dem Wege der Mindestbedingungen nur sehr begrenzt voranzukommen, sondern es hängt alles an der allgemeinen Wirtschaftspolitik, europäisch gesehen auch an der Regionalpolitik der Gemeinschaft. Ein allzu munteres Vorpreschen des Rates auf dem Wege des Artikels 118 a Absatz 2 könnte eher auch noch die Verteilung des Sozialprodukts, die in unserem angenommenen Fall ja nicht zu beanstanden war, durcheinanderbringen.
Deutsche Rentenversicherung im Europa 1992
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Für Deutschland dürfte Artikel 118 a übrigens auf lange Sicht keine Probleme mit sich bringen. Das soziale System ist hierzulande so ausgebaut, daß eine Nivellierung auf europäischer Ebene nur nach unten weisen könnte, und genau das schließt die Bestimmung zweifach aus: einmal gerade durch die Verwendung des Terminus "Mindestvorschriften", und zum andem durch ihren Absatz 3, in dem noch einmal ausdrücklich betont wird, daß arbeitnehmerfreundlichere Regelungen selbstverständlich erlaubt sind. Ich gehe davon aus, daß Artikel 118 a des EWG-Vertrages auf die Dauer nicht die einzige Vorschrift bleiben wird, in der die EG auch auf sozialem Gebiet zum Instrument der Mindestbedingungen greift, und das ist auch völlig in Ordnung. Betrachtet man die Frage unter dem Blickwinkel der nationalen Unabhängigkeit, so wird man allerdings einräumen müssen, daß der Reichste dann auch in dieser Beziehung der Unabhängigste bleibt. Aber das ist im menschlichen Leben ja nichts Neues. Ob die Gemeinschaft einmal reich genug sein wird, Mindestvorschriften und "goldene Zügel" auf breiter Front miteinander zu kombinieren und damit zu einer wirklich konzentrischen Sozialpolitik vorzustoßen, weiß im Augenblick niemand. Wenn es aber dazu kommen sollte, so wird das nicht ohne erhebliche finanzielle Belastungen für die reicheren Mitgliedstaaten der EG abgehen, an ihrer Spitze natürlich für die Bundesrepublik Deutschland. Und damit sind wir nun bei den wenigen Fragen des deutschen Verfassungsrechts, die in unsere Thematik hereinspielen könnten.
II.
Betrachtet man das Banner Grundgesetz etwas genauer als üblich, so stellt man selbstverständlich eine große Anzahl von Vorschriften fest, die sich direkt oder indirekt mit Sozialpolitik beschäftigen; ich erinnere insoweit nur an die zahlreichen Bestimmungen, durch die dem Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz für Sachgebiete wie die öffentliche Fürsorge, das Kriegsopferrecht, die Sozialversicherung und die Krankenhausfinanzierung zugeschrieben wird. Aber sehr viel mehr als diese Kompetenzzuweisungen wird man den Vorschriften nicht entnehmen können, allenfalls noch, daß dem Verfassungsgeber, wie sich aus der weiten Umschreibung der Sachgebiete ergibt, eine außerordentlich breitangelegte und daher auch systematische Sozialpolitik vor Augen stand. Aber auch dieses Auslegungsergebnis wäre natürlich keine Sensation angesichts der Tatsache, daß sich das Grundgesetz an zwei ganz zentralen Stellen, nämlich in Artikel 20 Absatz I und Artikel 28 Absatz 1, ohnehin für den Sozialstaat ausspricht. Nun hat es mit dieser Sozialstaatsdeklaration, wie jeder weiß, gute Wege. Das Bundesverfassungsgericht jedenfalls hat sich stets geweigert, aus ihm allzu weitreichende und allzu konkrete Forderungen herzuleiten. Vielmehr hat es sich darauf 2*
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beschränkt, evident unsoziale Verhaltensweisen des Staates mit dem Verdikt verfassungsgerichtlicher Beanstandung zu bedrohen, im übrigen aber die Verantwortung für die konkrete Ausgestaltung des Sozialstaates dem Gesetzgeber zu überschreiben. Das hat auch nichts mit Herzlosigkeit oder ähnlichen Defiziten auf seiten der Verfassungsrichter zu tun, wie gelegentlich angedeutet zu werden beliebt, sondern mit der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Staat. Unter Berufung auf die Sozialstaatlichkeit und den damit nah verwandten Gleichbehandlungsgrundsatz könnte das Gericht nämlich die gesamte Bonner Politik aushebein und an sich ziehen, was ihm ohnehin oft vorgeworfen wird. Grundsätze dieser Art müssen also sehr restriktiv ausgelegt und angewandt werden, wenn nicht die Gewichteverteilung zwischen den Staatsgewalten aus den Fugen geraten soll. Dennoch fügt die europäische Integration dem Fragenkreis der Sozialstaatlichkeit auch von Verfassungs wegen eine neue Facette hinzu. Artikel 28 Absatz 1 GG legt die Sozialstaatlichkeit ja expressis verbis nur für den Bereich der Länder fest, und Artikel 20 Absatz 1 GG bewirkt dasselbe - ungleich wichtiger- für den Bundesbereich. Die Frage ist aber, ob beide miteinander so umfassend wirken, daß sie den Bonner Regierungsorganen auch die Pflicht zu sozialstaatlichem Verhalten auf EG-Ebene, konkret: zur Mitfinanzierung einer aktiven und wirklich breitgefächerten EG-Sozialpolitik, auferlegen. Wohlgemerkt: Ich sage nicht, daß das nicht wenigstens im Grundsatz vernünftig und sowohl aus politischer Klugheit als auch aus moralischen Gründen sinnvoll sei. Verfassungsrechtlich ist es auch nicht verboten; vorgeschrieben dürfte es aber schwerlich sein. Eine Erstreckung auf die Gemeinschaftsebene läßt sich, wie gezeigt, weder Artikel 20 noch Artikel 28 GG entnehmen, und Artikel 24 GG, auf dem die europäische Integration verfassungsrechtlich beruht, ermächtigt die Bundesregierung zwar zur Integration, verpflichtet sie aber nicht dazu, und beide zusammen können nach Adam Riese nicht mehr Verpflichtungen erzeugen als jede einzelne für sich. Das ist, um es noch einmal zu sagen, kein Veto gegen eine Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an einer aktiven europäischen Sozialpolitik. Aber es ist die Feststellung, daß diese politisch verantwortet werden muß und nicht einfach zum Verfassungsvollzug hochstilisiert werden kann. Verfassungsrechtliche Probleme könnte es eines Tages übrigens auch noch auf einer ganz anderen, nämlich einer grundrechtliehen Ebene geben. Dabei gehe ich davon aus, daß Deutschland beim Übergang zu einer großangelegten Sozialpolitik der Gemeinschaft selbstverständlich erhebliche finanzielle Lasten zu übernehmen hätte. Wie gesagt: daß es solche Lasten innerhalb bestimmter Grenzen schon aus Gründen der europäischen Solidarität, um nicht zu sagen des menschlichen Anstands zu tragen gilt, sollte außer Zweifel stehen. Wie verhält es sich aber, wenn sie den deutschen Staat zu einer grundsätzlichen Neuverteilung seines Bruttosozialprodukts zwingen, von dem ja heute schon gut ein Drittel alljährlich in die Sozialausgaben fließt? Ich Jasse Einsparungen und Umschichtungen einmal außer Betracht, weil es insoweit wohl kaum verfassungsrechtliche Fragen gibt, und steuere gleich auf den eigentlichen Konfliktsfall zu, der ja wohl so aussehen wür-
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de, daß die deutschen Arbeitnehmer Abstriche auch an ihrer sozialen Sicherung hinnehmen müßten, um an einer Besserstellung ihrer europäischen Kollegen mitzuwirken. Wie wären in diesem Konfliktsfall die Karten verfassungsrechtlich verteilt? Denn immerhin stellt das Bundesverfassungsgericht in einer jetzt schon ziemlich festgefügten Rechtsprechung die Rechtsanspruche aus der Sozialversicherung unter den Schutz des verfassungsrechtlichen Eigentumsartikels, also des Artikels 14 GG. Nun ist mir natürlich auch bekannt, daß durch die Solange II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Vorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts vor den Grundrechten des Grundgesetzes zumindest verfahrensrechtlich gesichert worden ist, so daß man die verfassungsrechtliche Untersuchung schon deshalb unterlassen könnte. Aber der Solange li-Beschluß ist im Schrifttum noch keineswegs unumstritten, und auch das Bundesverfassungsgericht kann sich korrigieren. Es ist also vielleicht doch ganz zweckmäßig, die Frage auch materiell-rechtlich zu untersuchen. Steht Artikel 14 GG, so ist dann zu fragen, politischen Entscheidungen im Wege, die - aus welchen Griinden auch immer - zu einer entscheidenden Verschlechterung der sozialen Leistungen in der Bundesrepublik Deutschland führen? Man muß sich hier zunächst klarrnachen, was Artikel 14 im Bereich des Sozialversicherungsrechts - und nur um dieses geht es hier - überhaupt schützt. Wie groß der Teil des Sozialprodukts sein muß, der auf das sogenannte soziale Netz verwendet wird, besagt er eigentlich nicht. Dafür ist genau genommen das Sozialstaatsprinzip "zuständig", das aber, wie schon gesagt, keine allzu dichten Antworten ergibt. Artikel 14 richtet sich dagegen eher auf die Verteilung dieses "Kuchens" zwischen den einzelnen Sozialversicherten. Das wird in der Rentenversicherung am klarsten, wo entschieden ist, daß der Anteil jedes Einzelnen von seinen Einzahlungen abhängig sein soll; es ließe sich zur Not aber auch bei den anderen Zweigen der Sozialversicherung nachweisen. Das hat seine Konsequenzen zunächst einmal im Verhältnis zwischen den Generationen. Bei der Entscheidung dariiber, ob Artikel 14 GG überhaupt auf Sozialversicherungsanspruche angewandt werden sollte, mußte sich das Bundesverfassungsgericht u. a. mit dem Gegenargument auseinandersetzen, daß eine zu weitgehende Absicherung der gegenwärtig lebenden Generation letztlich auf Kosten der folgenden gehen müßte und deren sozialversicherungsrechtliches Eigentum dann möglicherweise fast nichts mehr wert sein würde. Das Gericht hat demgegenüber darauf hingewiesen, daß die Wirkung des Artikels 14 in der Sozialversicherung natürlich nicht stärker sein könne als auch ein Sacheigentum, wo Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 ja ebenfalls sehr intensive Eingriffe des Gesetzgebers zuläßt. Die Folgen zeigt am deutlichsten das folgende Zitat: "Auch ist nicht zu besorgen, daß die Erstreckung der Eigentumsgarantie auf Positionen der in Rede stehenden Art die Gesetzgebung in einem für die gesellschaftliche Entwicklung so maßgeblichen Bereich wie dem der Sozialpolitik weitgehend blockieren und eine Anpassung des Rechts an die Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhält-
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nisse unzumutbar erschweren könnte (vgl. BVerfGE 2, 380 [402]). Insbesondere ist der Gesetzgeber nicht durch einmal begründete Leistungsansprüche daran gehindert, den Belangen derjenigen, die noch keine Ansprüche erworben haben, zukünftig in einer dem Sozialstaatsgebot entsprechenden Weise Rechnung zu tragen."
Nun wiederholt sich allerdings die Fragestellung, die wir schon beim Soziaistaatsprinzip hatten. Es mag ja sein, daß bei einer generellen Verschlechterung des öffentlichen Wohlstands im Verhältnis zwischen den Generationen des deutschen Volkes Opfer gebracht werden müssen. Gilt dasselbe aber auch im Verhältnis zwischen den verschiedenen Volkern der EG? Die verfassungsrechtliche Antwort kann eigentlich nur ähnlich wie bei der Sozialstaatlichkeit lauten. Eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, seinen Bürgern solche Opfer aufzuerlegen, gibt es mit Sicherheit nicht. Ebenso sicher ist aber, daß eine wirkliche soziale Enteignung der Deutschen zugunsten anderer Völker mit dem Grundgesetz nur vereinbar wäre, wenn man sich wirklich auf Dauer auf den Standpunkt des Solange II-Beschlusses stellte. Aber auch hier läßt die Verfassung natürlich ausreichenden Spielraum für "pragmatische Entscheidungen". Dieser Spielraum besteht vor allem dort, wo über die Größe des sozialen Anteils am Sozialprodukt entschieden werden muß. In einem überschaubaren Rahmen kann dabei auch die Notwendigkeit eine Rolle spielen, auf dem Altar einer europäischen Sozialpolitik zu opfern, so wie ja auch die Bedürfnisse der Verteidigungspolitik, der Bildungspolitik, der Verkehrspolitik usw. bei diesem Verteilungsvorgang ihre Rolle spielen. Das Sozialstaatsprinzip setzt hier zwar keine sehr präzise, aber doch eine äußerste Grenze, ähnlich wie übrigens auch der Grundsatz der Menschenwürde, der ja, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach ausgesprochen hat, dem Bürger wenigstens sein Existenzminimum garantiert, wie immer sich dieses errechnen mag. Erst wenn diese äußerste Grenze erreicht wäre, wäre auch der Verfassungskonflikt unausweichlich und müßte die Position von Solange II aus sozialrechtlichen Gründen noch einmal aufgerollt werden. Alles übrige bewegt sich im Rahmen der Politik, die dort getrieben werden muß, wo sie hingehört: In Bonn - oder meinetwegen auch in Berlin.
Binnenmarkt in Europa und Binnenwanderung Konsequenzen für die gesetzliche Rentenversicherung Von Prof. Dr. Franz Ruland Stellv. Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt I Main
I. Europäische Binnenwanderung und europäischer Binnenmarkt
Europa hat sich in der Einheitlichen Europäischen Akte, die am 1. Juli 1987 in Kraft getreten ist, ein großes Ziel gesetzt. Bis Ende 1992 soll der europäische Binnenmarkt schrittweise verwirklicht sein. Er soll einen Raum ohne Binnengrenzen umfassen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Die materiellen, technischen und steuerlichen Schranken, die noch immer den freien Warenverkehr behindern und einem Wettbewerb im europäischen Maßstab im Wege stehen, sollen beseitigt werden. Spätestens bis zum Ende der Übergangszeit soll innerhalb der Gemeinschaft auch die volle Freizügigkeit der Arbeitnehmer hergestellt sein. Jede auf der Staatszugehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer von Mitgliedstaaten bei der Beschäftigung, Entlohnung und bei sonstigen Arbeitsbedingungen soll abgeschafft werden. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der europäischen Gemeinschaften ist seit ihrer Gründung ein zentrales Anliegen der Verträge und im europäischen Bereich das Arbeitnehmergrundrecht schlechthin. Es beruht auf Artikel 48 und 49 des EWG-Vertrages und ist vor allem durch die Verordnung Nr. 1612 I 68 konkretisiert worden. Die Freizügigkeit schließt das Recht ein, zur Arbeitssuche in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen, sich dort zur Ausübung einer Beschäftigung aufzuhalten und sich frei zu bewegen und nach dem Ende der Beschäftigung auch dort zu bleiben. EG-Ausländer dürfen in den Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht schlechter als inländische Arbeitnehmer gestellt werden. Ihnen stehen die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen zu wie inländischen Arbeitnehmern. Freizügigkeit genießen aber auch selbständig Berufstätige, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen. Allerdings gibt es bei der Realisierung dieses Rechts für einzelne Berufsgruppen noch größere Schwierigkeiten, die aber bis Ende der Übergangszeit abgebaut werden sollen. Von dieser Freizügigkeit wird auch Gebrauch gemacht. So sind 1988 in das Bundesgebiet über 120 000 EG-Bürger aus anderen Mitgliedstaaten zugezogen, über 40 000 alleine aus Italien.
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Rund 22 000 Deutsche sind in das EG-Ausland verzogen, über 83 000 EG-Bürger in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Diesen Wanderungsprozeß zu intensivieren und vor allem störungsfreier zu gestalten, ist ein Ziel des europäischen Binnenmarktes. Das Freizügigkeitsrecht ist inzwischen erweitert worden. Durch Richtlinie des Rats vom 28. Juni 1990 ist es auch den aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmern und selbständig Erwerbstätigen eingeräumt worden. Allerdings steht ihr Aufenthaltsrecht unter der Bedingung, daß sie eine Invaliditäts-, Vorruhestands- oder Altersrente oder eine Rente wegen Arbeitsunfall oder Berufskrankheit in einer solchen Höhe beziehen, daß sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und einen Krankenversicherungsschutz genießen, der im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt. Ausgedehnt wurde dieses Freizügigkeitsrecht auf den Ehegatten und die Verwandten in absteigender und aufsteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird. Die Wanderungsbewegung deutscher Rentner in Regionen mit angenehmeren klimatischen Bedingungen ist schon heute - auch an den Rentenzahlungen - vor allem in Richtung Italien, Holland und Österreich zu beobachten. 1990 erhielten 31 600 Deutsche im EG-Ausland Rente aus der Bundesrepublik. An EG-Ausländer wurden knapp 337 000 deutsche Renten gezahlt. 2,3 % ihrer Ausgaben exportiert die Rentenversicherung in das Ausland, etwa zur Hälfte an Empfänger in den EG-Mitgliedstaaten. Zwischen den europäischen Gemeinschaften und den EFTA-Ländern werden zur Zeit sehr intensive Verhandlungen geführt, die, um einen einheitlichen Europäischen Wirtschaftsraum zu schaffen, eine weitgehende Erstreckung des EG-Rechts auch auf die EFTA-Länder vorsehen. Dies betrifft- soweit hier von Interesse- vor allem das Recht auf Freizügigkeit und das europäische Sozialrecht Die Erwartung, daß die entsprechenden Verträge schon im Juli dieses Jahres paraphiert werden können, scheint sich nicht realisieren zu lassen. Die Wanderungsbewegungen in Europa bedürfen einer sozialrechtlichen Flankierung. Sie war von Anfang an im EWG-Vertrag vorgesehen (Art. 51). Von seiner Zielsetzung her ist das europäische Sozialrecht auf diese Aufgabe beschränkt. Durch immer feinere Regelungen, die das europäische Sozialrecht in einem hohen Maße haben kompliziert werden lassen, ist man diesem Ziel auch nahegekommen. Erreicht ist es jedoch noch nicht. Das Ziel des europäischen Binnenmarktes wirft die Frage auf, ob sich auch in Zukunft das europäische Sozialrecht darauf beschränken kann, die Freizügigkeit sozialrechtlich abzusichern. Alle Schranken, die einem freien Wettbewerb entgegenstehen, sollen beseitigt werden. Gehören zu diesen Wettbewerbsverzerrungen nicht auch die in den einzelnen Mitgliedstaaten in Beitrag und Leistung sehr unterschiedlich ausgestalteten sozialen Sicherungssysteme? Zwingt- das ist die Fragedie Vollendung des europäischen Binnenmarktes zu einer Harmonisierung der sozialen Sicherungssysteme? Die "Gegenfrage" ist aber auch sehr rasch gestellt. Wird der europäische Binnenmarkt, wenn er mit einer Harmonisierung der sozialen
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Sicherungssysteme befrachtet wird, nicht bis hin zur Unrealisierbarkeit überbelastet? Läuft eine Harmonisierung der Alterssicherungssysteme angesichts der in den Mitgliedstaaten bestehenden strukturellen Unterschiede nicht der Zielsetzung des Binnenmarktes zuwider, diese Unterschiede zwischen den Regionen abzubauen? Ist daher die Beschränkung des europäischen Sozialrechts auf freizügigkeitsflankierende Regelungen nicht ein vernünftiges Weniger, um in anderen Bereichen ein Mehr zu erreichen? Nach den Fragen der Versuch, Antworten zu finden.
II. Das "freizügigkeitsflankierende" EG-Rentenrecht 1. Allgemeines
Die europäischen Verträge besagen zur Politik der Alterssicherung nur wenig. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer soll - so Art. 51 EWG-Vertrag- durch ein System sozialer Sicherung flankiert werden, das für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen die nach allen verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften zurückgelegten Zeiten zusammenrechnet und die Zahlung der Leistung an Personen sichert, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen. Artikel 117 des EWG-Vertrages bringt die Notwendigkeit zum Ausdruck, die Sozialordnungen besser aufeinander abzustimmen. Als Vorgabe ist auch Artikel 119 des EWG-Vertrages relevant, der für Männerund Frauen gleiches Entgelt vorschreibt. Konkreter wird das sekundäre Gemeinschaftsrecht Das europäische Rentenversicherungsrecht ist vor allem Verordnungsrecht Die Verordnung Nr. 1408 I 71 enthält die materiell-rechtlichen Regelungen, während die Verordnung Nr. 574 I 72 das Verfahren behandelt. Diesen Verordnungen kommt gemäß Artikel 189 Abs. 2 EWG-Vertrag allgemeine Geltung zu. Sie sind in allen ihren Teilen verbindlich, gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat, somit auch in der Bundesrepublik. Das europäische Rentenversicherungsrecht schützt grundsätzlich alle Arbeitnehmer und Selbständige, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen. Es erfaßt alle Rechtsvorschriften, die Leistungen bei Invalidität, im Alter und an Hinterbliebene vorsehen. Nicht einbezogen sind Leistungen der Sozialhilfe, Entschädigungssysteme für Opfer des Krieges und seiner Folgen oder Sondersysteme für Beamte. Allerdings bereitet die Abgrenzung im Einzelfall Schwierigkeiten. So hat der Europäische Gerichtshof die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung in den Regelungsbereich der EG-Verordnung einbezogen. Gleiches gilt grundsätzlich auch für das Fremdrentenrecht Aufgabe des EG-Sozialrechts ist es zunächst, das jeweils maßgebliche nationale Recht in Kollisionsfällen zu bestimmen. Maßgeblich ist für Arbeitnehmer und Selbständige das Recht des Mitgliedstaates, in dem sie beschäftigt oder tätig sind, unabhängig davon, ob sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnen. Son-
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derregelungen gelten - weitgehend in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht - in den Fällen der Aus- und Einstrahlung.
2. Die Gleichstellung der Personen und der Staatsgebiete
Ein wesentliches Ziel des europäischen Sozialrechts ist zum einen die Gleichstellung der Personen und zum anderen die Gleichstellung der Staatsgebiete. Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie dessen Staatsangehörige. Zahlreiche Assoziierungs- und Kooperationsabkommen haben diese Grundsätze auch auf Angehörige von Drittstaaten erweitert. Diese "Inländerbehandlung" bewirkt, daß z. B. Spanier oder Engländer, die in der Bundesrepublik leben und arbeiten, nach den gleichen Grundsätzen behandelt werden wie deutsche Staatsangehörige. Die Regelungen, die für Deutsche im Ausland gelten, müssen daher in gleicher Weise auch für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten Anwendung finden, vorausgesetzt, sie wohnen im Bereich der EG. Die Gleichstellung der Personen gilt grundsätzlich nicht bei gewöhnlichem Aufenthalt in einem Drittstaat. Ein Belgier z. B., der sich in den USA aufhält, erhält dort nicht die Rente wie ein Deutscher, sondern nur die Ausländer-Auslandsrente aus Bundesgebietsbeitragszeiten zu 70 %. Dies gilt jedoch nicht für britische, französische, griechische, italienische, niederländische, portugiesische und spanische Staatsangehörige. Diese sind aufgrund der gern. Art. 7 Abs. 2 lit. c Verordnung Nr. 1408 I 71 insoweit weiterhin geltenden Bestimmungen der entsprechenden bilateralen Abkommen selbst bei einem Aufenthalt in einem Drittstaat wie ein Deutscher rentenberechtigt Das EG-Recht hebt Wohnortklauseln auf. Grundsätzlich soll der gewöhnliche Aufenthalt des Berechtigten in einem anderen Mitgliedstaat die Zahlung von Renten nicht einschränken. Die Aufhebung der Wohnortklauseln führt z. B. auch dazu, daß die im Auslandsrentenrecht vorgesehenen Einschränkungen bei der Gewährung von Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten nicht greifen, wenn sich der Berechtigte gewöhnlich in einem EG-Mitgliedstaat aufhält. Kinderzuschüsse und Beitragszuschüsse für eine Krankenversicherung müssen - entgegen der allgemeinen Regelung - an Berechtigte im EG-Ausland gezahlt werden. Die Gleichstellung der Staatsgebiete erfährt jedoch dadurch eine erhebliche Einschränkung, daß sie im Anhang VI zur Verordnung Nr. 1408 I 71 nach wie vor insoweit aufgehoben ist, als es um Leistungen aus Zeiten geht, die außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt worden sind. Das betrifft insbesondere - ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können - die sog. reichsgesetzlichen Zeiten, FRG-Zeiten und beitragslose Zeiten, die aufgrund solcher Zeiten anrechenbar sind. Dieser Vorbehalt betrifft aber nur die territoriale Gleichstellung. Die personelle Gleichstellung ist gewahrt: Bei gewöhnlichem Aufenthalt im Aus-
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land steht aus diesen Zeiten weder einem Deutschen noch einem gleichgestellten Ausländer Rente zu, wenn keine Bundesgebietsbeiträge vorhanden sind. Die Aufbebung der Wohnortklauseln betrifft aber nur die Gewährung von Leistungen, die nach den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten geschuldet werden. Der Rentenanspruch hingegen ist allein nach innerstaatlichem Recht zu prüfen. Daher kann z. B. ein schwerbehinderter Versicherter, der seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, die Voraussetzungen für das vorgezogene Altersruhegeld nicht erfüllen. Denn als Schwerbehinderter wird er nur dann anerkannt, wenn er seinen Wohnsitz, seinen Aufenthalt oder seine Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Bundesgebiet hat. Die letztgenannte Voraussetzung können jedoch Grenzgänger aus einem anderen Mitgliedstaat der EG erfüllen, soweit sie in der Bundesrepublik eine Beschäftigung ausüben. Aus diesen Gründen sind Zeiten der Arbeitslosigkeit eines Grenzgängers in allen Teilbereichen in der Rentenversicherung des letzten Beschäftigungsstaates als relevanter Tatbestand zu berücksichtigen. Dies gilt nicht nur für die Anrechnung von Ausfallzeiten, sondern auch für die Anspruchsvoraussetzungen beim Altersruhegeld. Allerdings kann dieses Ergebnis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs von der Verwaltung nur schwer umgesetzt werden. Außerdem gewährleistet es keinen lückenlosen Schutz der Wanderarbeitnehmer. Daher hat die Verwaltungskommission der EG für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer eine Änderung der Verordnung vorgeschlagen, wonach bei Grenzgängern Zeiten der Vollarbeitslosigkeit von dem zuständigen Träger des Mitgliedstaates berücksichtigt werden sollen, in dessen Gebiet der Arbeitnehmer wohnt.
3. Der Einfluß des europäischen Rechts auf die Anspruchsvoraussetzungen und auf die Rentenberechnung
Um Nachteile für Wanderarbeitnehmer zu verhindern, berührt das europäische Rentenrecht die Ansprüche der von ihm erfaßten Personen in mehrerer Weise: - Es nimmt Einfluß auf die Anspruchsvoraussetzungen, dies vor allem dadurch, daß die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs- und Wohnzeiten wie eigene Zeiten berücksichtigt werden, soweit sie nicht auf denselben Zeitraum entfallen. - Die Rentenberechnung wird modifiziert, wenn deutsche Zeiten und Zeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt sind, berücksichtigt werden. Für den Wanderarbeitnehmer ist wesentlich, daß die Zeiten, die er in verschiedenen EG-Mitgliedstaaten zurückgelegt hat, bei der Prüfung des Rentenanspruchs nicht verlorengehen. So ist eine der wichtigsten Regelungen der Verordnung Nr. 1408 I 71, daß - beispielhaft auf das deutsche Recht bezogen - Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates zurückgelegt worden sind, bei der Ermittlung von Wartezeiten berücksichtigt werden, als handele es sich um
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deutsche Zeiten. Das gilt in gleicher Weise für die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Altersrenten und für die zeitlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente nach Mindesteinkommen. Für die Zusammenrechnung dieser Zeiten ist allein entscheidend, ob sie ihrer Art nach anspruchsbegründend wirken. Ob sie im anderen Mitgliedstaat im Einzelfall schon zu einem Anspruch führen, ist dagegen unerheblich. Daher kommt es grundsätzlich auch nicht darauf an, ob der Versicherungsfall bereits eingetreten ist und ob die Anwartschaftsvorschriften dort gewahrt sind. So müssen z. B. dänische Zeiten bei der deutschen Wartezeit auch dann berücksichtigt werden, wenn der betreffende Versicherte die höhere Altersgrenze des dänischen Rechts - 67 Jahre- noch nicht erfüllt hat. Die Zusammenrechnung wirkt sich jedoch auf Tatbestandsmerkmale nicht aus, die keine Anspruchsvoraussetzungen sind. Dies gilt insbesondere für die Halbbelegung als Voraussetzung für die Anrechnung von Ausfall- und Ersatzzeiten. Die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten nach EG-Recht kann mit einer Zusammenrechnung von Versicherungszeiten aufgrund eines Abkommens mit einem Drittstaat zu einer multilateralen Zusammenrechnung von Versicherungszeiten werden. Das BSG hält trotz vielfacher Kritik an diesem, von ihm aufgestellten Grundsatz fest. Im Streit ist vor allem die "völkerrechtliche Bilateralität" der Zustimmungsgesetze. Ich will auf diese Diskussion nicht näher eingehen, denn die Rechtsprechung hat trotz ihrer grundsätzlichen theoretischen Bedeutung kaum praktische Relevanz erlangt. Die Bundesregierung hat ihre Bemühungen verstärkt, in die Sozialversicherungsabkommen Klauseln einzubauen, die eine multilaterale Zusammenrechnung von Versicherungszeiten ausdrücklich ausschließen. Vom Europäischen Gerichtshof hat das BSG nur wenig Schützenhilfe erhalten. Er hat lediglich entschieden, daß die Verordnung Nr. 1408 I 71 einer multilateralen Zusammenrechnung nicht entgegensteht. Die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten aus verschiedenen EG-Mitgliedstaaten soll - was die Anspruchsvoraussetzungen angeht - möglichst zu einer "einheitlichen sozialen Biographie" führen. Das aber wirft - soweit es über die bloße Anrechnung der Zeiten hinausgeht - Probleme auf. Sie stellen sich z. B. bei der Ermittlung des für die Gewährung von Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten wichtigen Hauptberufs in den Fällen, in denen der Versicherte erst in der Bundesrepublik Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt hat und danach z. B. in Frankreich pflichtversichert war. Das BSG hatte zunächst entschieden, daß bei dieser Prüfung auch in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübte Beschäftigungen zu berücksichtigen sind, soweit sie nach EG-Recht für die Erfüllung der Wartezeit einzubeziehen sind. Um diese Rechtsprechung zu korrigieren, ist durch die EG-Verordnung Nr. 2000 I 83 ein Vorbehalt eingefügt worden, der jedoch von dem Europäischen Gerichtshof 1988 für nichtig erklärt wurde. Dementsprechend hält das BSG an seiner früheren Rechtsprechung fest. Infolgedessen kann der "bisherige Beruf' auch ein in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübter Beruf sein. Dies gilt sowohl für den positiven Fall, in dem durch
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eine berufliche Tatigkeit in einem anderen Mitgliedstaat eine höhere Qualifikation erworben worden ist, als auch für den negativen Fall. Ein rechtserheblicher Berufswechsel von einer höher qualifizierten Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat hat nicht nur die Ablehnung des Anspruchs auf eine zwischenstaatliche Rente, sondern auch des Anspruchs auf eine nationale Rente zur Folge. Es ist dies eine logische Konsequenz einer einheitlichen "europäischen" Berufslaufbahn. Für die qualitative Einordnung der somit nicht einheitlich zu ermittelnden beruflichen Qualifikation gelten die gleichen Kriterien wie für eine im Inland ausgeübte Beschäftigung. Konsequenz dieser Rechtsprechung ist allerdings auch, daß eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem anderen EG-Mitgliedstaat zu für die Versicherten schädlicheren Konsequenzen führen kann als eine Beschäftigung in einem Nicht-Mitgliedstaat. Beschäftigungen, die in einem der EG nicht angehörenden Staat ausgeübt werden, sind nach wie vor für die Bestimmung des bisherigen Berufs unbeachtlich. Sie bewirken keinen Berufsschutz, umgekehrt geht aber auch ein im Inland erworbener Berufsschutz durch eine solche Tätigkeit nicht verloren. Diese Konsequenz ist hinzunehmen, weil die in den anderen Staaten ausgeübten Beschäftigungen nicht einmal für die Wartezeit berücksichtigt werden und daher zugunsten wie zuungunsten des Betreffenden außerhalb des Schutzbereichs des deutschen und europäischen Rentenversicherungsrechts liegen. Nach europäischem Recht sind bei der Rentenberechnung zwei Fälle zu unterscheiden: Sind die Voraussetzungen des Rentenanspruchs auch ohne die Zusammenrechnung mit mitgliedstaatliehen Versicherungszeiten allein aufgrund der deutschen Zeiten erfüllt, ist die Rente zunächst ausschließlich nach deutschen Vorschriften zu berechnen. Ergänzend tritt jedoch eine zwischenstaatliche Berechnung hinzu. Bei ihr wird im ersten Schritt der theoretische Betrag ermittelt, der sich nach innerstaatlichen Vorschriften ergeben würde, wenn alle mitgliedstaatliehen Zeiten im jeweiligen Staat zurückgelegt worden wären. Dieser theoretische Betrag wird dann im zweiten Schritt in dem Verhältnis aufgeteilt, in dem die eigenen Zeiten zu sämtlichen mitgliedstaatliehen Versicherungszeiten stehen. Ist diese Teilrente höher als die eigene innerstaatliche Rente, wird die Teilrente gezahlt. Ist der Rentenanspruch nicht innerstaatlich, sondern nur durch Zusammenrechnung aller mitgliedstaatliehen Versicherungszeiten gegeben, erfolgt die Rentenberechnung ausschließlich nach der zuletzt dargestellten zwischenstaatlichen Methode unter Zugrundelegung der Proratisierung des theoretischen Betrages. Die innerstaatliche Vergleichsberechnung entfällt. Bei allen Rentenarten führt die Berechnung dazu, daß jedes nationale System für die Zeiten aufzukommen hat, die in ihm zurückgelegt worden sind. Davon gibt es jedoch zwei wesentliche Ausnahmen. Um Mindestrenten zu verhindern, werden Leistungen aus Versicherungs- und Wohnzeiten von weniger als einem Jahr von dem Träger des anderen Mitgliedstaates mitvergütet, der die Leistungen festzustel-
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Jen hat. Die zweite Ausnahme betrifft die Waisenrenten und Kinderzuschüsse. Hier ist grundsätzlich nur ein Versicherungsträger zuständig, zumeist der des Wohnsitzes.
4. Das Verbot ,.offensichtlicher Diskriminierung"
Aus dieser - zwangsläufig kursorischen - Schilderung des in der Bundesrepublik unmittelbar geltenden europäischen Rentenrechts wird schon deutlich, daß dieses das nationale Recht nicht nur ergänzt, sondern auch verdrängt. Es ist dies eine zwangsläufige Konsequenz des Vorrangs des europäischen Rechts. Wesentlich ist aber, daß nicht nur "offensichtliche" Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern auch "alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen", unzulässig sind. Eine "versteckte Diskriminierung" setzt voraus, daß die zu prüfende Regelung wesensmäßig in verstärktem Maße Personen trifft, die nicht die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaates besitzen, der die in Frage stehende Norm erlassen hat. Mit dieser Rechtsprechung ist den Europäischen Institutionen ein Mittel an die Hand gegeben worden, dem nationalen Gesetzgeber die Berufung auf das Territorialitätsprinzip nochmals wesentlich zu erschweren. Das Rentenversicherungsrecht liefert dazu aus jüngster Zeit einen Streitfall. Die Anrechnung der Kindererziehungszeiten setzt voraus, daß Mütter oder Vater ihr Kind im Bundesgebiet erziehen und sich in ihm gewöhnlich aufhalten. Gleiches gilt für die Kindererziehungsleistung. Diese - nach deutschem Recht, so das BSG, verfassungsmäßige - Begrenzung führt dazu, daß sowohl Deutsche als auch Ausländer, die ihr Kind entweder im Ausland erzogen haben oder sich gewöhnlich dort aufhalten, grundsätzlich keinen Anspruch auf die Berücksichtigung von Kindecerziehungszeiten oder auf die Zahlung der Kindererziehungsleistung haben. Dies gilt - von Entsendungsfällen abgesehen - auch, wenn vorher oder nachher deutsche Rentenanwartschaften erworben worden sind. Darin, daß selbst in diesen Fällen Kindererziehungszeiten nicht angerechnet oder die Kindererziehungsleistung nicht gewährt wird, sieht die EG-Kommission eine "verschleierte Diskriminierung". Die betroffenen Personen hätten aufgrund ihrer vorangegangenen und I oder nachfolgenden Beschäftigung eine derart enge Bindung zum Sozialversicherungssystem der Bundesrepublik, daß unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung als Parallele zu den Entsendungsfällen eine Ausnahme vom Territorialitätsprinzip notwendig sei. Auch hier kann die Frage, wer recht hat, dahin stehen. Zwischen der Bundesrepublik und der EG-Kommission ist ein Kompromiß erzielt worden, wonach in den Fällen, in denen Erziehungsgeld an Angehörige eines EG-Mitgliedstaats gezahlt wird, auch Kindererziehungszeiten anerkannt werden. Eine entsprechende rückwirkende Änderung der Verordnung Nr. 1408 I 71 ist in Vorbereitung. Eine Zwischenlösung ist ebenfalls gefunden.
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5. Der Einfluß von Richtlinien auf das nationale Recht
Das europäische Recht übt auch über Richtlinien starken Einfluß auf das nationale Recht aus. Sie sind für die Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet sind, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überlassen ihnen jedoch die Wahl der Form und der Mittel (Art. 189 Abs. 3 EWG-Vertrag). Durch die Einheitliche Europäische Akte ist zwar die Richtlinienkompetenz der Gemeinschaft auch verfahrensrechtlich dadurch erweitert worden, daß Richtlinien für bestimmte Bereiche mit qualifizierter Mehrheit erlassen werden können (Art. 100 a EWG-Vertrag). Dies gilt jedoch nicht für die Bestimmungen über die Steuern, die Freizügigkeit und über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer. Damit sind - sieht man von dem Arbeitsschutz ab - die zentralen Bereiche der Sozialpolitik, insbesondere das Recht der sozialen Sicherheit, von dem Grundsatz der qualifizierten Mehrheit ausgenommen worden. Von der Richtlinienkompetenz ist im Bereich der Sozialpolitik bislang vor allem Gebrauch gemacht worden, um den EG-rechtlichen Grundsatz des gleichen Entgelts für gleiche Arbeit fürMännerund Frauen (Art. 119 EWG-Vertrag) durchzusetzen. Eine der Richtlinien - 79 I 7 - bezieht sich auf den Anwendungsbereich der Systeme sozialer Sicherung und auf den Zugang zu ihnen, auf die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge und der Leistungen einschließlich evtl. Zuschläge. In diesen Bereichen haben jegliche unmittelbare oder mittelbare Diskriminierungen des Geschlechts zu unterbleiben, selbst wenn auf den Ehe- oder Familienstand Bezug genommen wird. Die Richtlinie steht jedoch den Bestimmungen zum Schutze der Frau wegen Mutterschaft nicht entgegen. Ausgenommen von dem Diskriminierungsverbot sind jedoch Bestimmungen der Mitgliedstaaten, die das Rentenalter festsetzen, die Vergünstigungen im Bereich der Alterssicherung für Personen vorsehen, die Kinder aufgezogen haben, oder die abgeleitete Leistungen an Witwer betreffen. Die Kommission hat 1987 bereits den Entwurf einer weiteren Richtlinie unterbreitet, mit der vor allem die Leistungen für Hinterbliebene und die Altersgrenzen dem Gleichheitsgebot unterstellt werden sollen. Da dieser Entwurf neuralgische Punkte in den nationalen Alterssicherungssystemen berührte, ist er im Ministerrat "hängengeblieben". Die Zeit war noch nicht reif. Allerdings bleibt abzuwarten, wie sich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Mai 1990 auswirkt, wonach die Festsetzung eines je nach dem Geschlecht unterschiedlichen Rentenalters für die Zahlung von Renten im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung gegen Art. 119 EWG-Vertrag verstößt, selbst wenn dieser Unterschied im Rentenalter von Männem und Frauen der insoweit für das nationale gesetzliche System geltenden Regelung entspricht. Es kann gut sein, daß diese Entscheidung, mit der - so selbst der Europäische Gerichtshof- die Mitgliedstaaten und die Betroffenen "vernünftigerweise" nicht rechnen konnten, Druck auf den Erlaß dieser weiteren Richtlinie ausübt.
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Ihm kann nach der Rentenreform 1992 der bundesdeutsche Gesetzgeber relativ gelassen entgegensehen. Die Gleichstellung im Bereich der Hinterbliebenensicherung ist 1986 erreicht worden. Die unterschiedlichen Altersgrenzen für Männer und Frauen werden ab 2001 schrittweise angenähert. Ein Problem könnte allenfalls die Länge der vorgesehenen Übergangsfrist- bis 2012- sein. Das deutsche Rentenrecht hat (von ihr abgesehen) - zumindest formal - den Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männem verwirklicht, auch ohne dazu durch eine EGRichtlinie verpflichtet zu sein. Das nationale Verfassungsrecht war Druck genug, obwohl das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei den Altersgrenzen Spielraum gelassen hatte. Die sozialrechtliche Richtlinienkompetenz der EG ist aber nicht auf die Durchsetzung des Art. 119 EWG-Vertrag beschränkt. Mit Richtlinien sollen diejenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten angeglichen werden, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken (Art. 100 Abs. 1, 100 a EWG-Vertrag). Diese Richtlinienkompetenz wird auch in Anspruch genommen, wenn sich aus sozialrechtlichen Regelungen Wettbewerbsverzerrungen zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten ergeben und wenn nationale Koordinierungsregelungen keine insgesamt befriedigende Lösung ermöglichen. Das ist nicht unbestritten, weil mit dieser Begrundung Richtlinien auch im Bereich der Sozialpolitik schon mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden könnten. Auf diese allgemeine Kompetenz ist jüngst auch der Richtlinienentwurf zur Einbeziehung der "atypischen Beschäftigungen" in die Versicherungspflicht gestützt worden. Gemeint sind mit "atypischer Beschäftigung" vor allem die Teilzeit-, die Zeit- und die Heimarbeit. Um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, hat die Kommission vorgeschlagen, daß diese atypischen Arbeitsverhältnisse in gleicher Weise in gesetzliche und betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit wie Vollzeitarbeitsverhältnisse einbezogen werden sollen. Ob es jedoch zu dieser Richtlinie kommen wird, ist derzeit sehr zweifelhaft. Die Bundesregierung z. B. hat heftigen Widerstand dagegen angekündigt, daß - abweichend zum geltenden Recht - geringfügige Beschäftigungsverhältnisse in allen Zweigen der Sozialversicherung versicherungspflichtig werden sollen.
III. Längerfristige Perspektiven für die Alterssicherung im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt
Diese beiden z. Zt. diskutierten Richtlinienentwürfe zeigen, daß das europäische Sozialrecht schon dabei ist, seinen Ansatz, die Freizügigkeit lediglich zu flankieren, punktuell aufzugeben. Es drängt auf Vereinheitlichung. Gerade deshalb gibt es auch zu den beiden Entwürfen den heftigen Widerstand der Mitgliedstaaten. Die "Harmonisierung" der sozialen Sicherungssysteme war und ist ein politisches Reizwort. Bereits in den 60er Jahren ist diese Frage sehr intensiv diskutiert wor-
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den. Ansätze, die die EG-Kommission seinerzeit unternommen hatte, sind schon damals auf eine deutliche Ablehnung gestoßen. Das Vorhaben, einen europäischen Binnenmarkt zu schaffen, hat daran nichts Wesentliches geändert. Der europäische Binnenmarkt soll allen Schichten der Bevölkerung und allen Regionen zugute kommen. Schon diese Zielsetzung macht deutlich, daß mit ihr auch eine- wenn auch relativ spät entdeckte- "soziale Dimension" verbunden ist. Die Themenvielfalt, die sie abdeckt, ist zwar groß, doch wird die Alterssicherung nur am Rande berührt. Das Europäische Parlament hat im März 1989 "eine vollständige Harmonisierung" aufgrund der Unterschiedlichkeit der Sozialsysteme, des Leistungsstandards der Volkswirtschaften und der Finanzierungsprobleme in den meisten Fällen gegenwärtig nicht für sinnvoll und möglich gehalten. Es hat jedoch eine allmähliche Angleichung der unterschiedlichen Systeme durch das Gemeinschaftsrecht gefordert. Ziel sei eine fortschrittsorientierte, allmähliche Harmonisierung der Normen und Systeme der sozialen Sicherheit in den einzelnen Mitgliedstaaten auf höchstem Niveau, so daß ein optimaler Entwicklungsstand gewährleistet und jede Diskriminierung, vor allem die der Frauen, abgebaut werde. In der Sache kommt man allerdings - wie die beiden Richtlinienentwürfe zeigen nicht wesentlich weiter. Um dennoch "Fortschritte" präsentieren zu können, ist Ende 1989 eine "Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer" verabschiedet worden. Sie soll dazu beitragen, daß sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Gemeinschaft durch die Absicherung grundlegender sozialer Rechte verbessern. Zu den in die Charta aufgenommenen Rechten gehört - für die Rentenversicherung zentral-, daß jeder Arbeitnehmer in der europäischen Gemeinschaft, wenn er in den Ruhestand geht, über Mittel verfügen können muß, die ihm einen angemessenen Lebensstandard sichern, und - daß jeder, der das Rentenalter erreicht hat, aber keinen Rentenanspruch besitzt oder über keine sonstigen ausreichenden Unterhaltsmittel verfügt, ausreichende Zuwendungen, Sozialhilfeleistungen und Sachleistungen bei Krankheit erhalten können muß, die seinen spezifischen Bedürfnissen angemessen sind. Rechtlich ist die Gemeinschaftscharta nicht von durchschlagender Bedeutung. Ihr Charakter als "soft-law" sollte ursprünglich dadurch aufgebessert werden, daß sie als "feierliche Erklärung" der Mitgliedstaaten verkündet werden sollte. Das ist an der Ablehnung Großbritanniens gescheitert. Die Charta enthält somit für die Bürger der Mitgliedstaaten zunächst unverbindliche, nicht einklagbare Programmsätze. Politisch und rechtlich müssen sie erst in konkrete Einzelmaßnahmen umgesetzt werden. Allerdings liegt in der Aufgabe, diese Charta umzusetzen, deren eigentliche Bedeutung. Die Kommission hat aufgrund ihres Initiativrechts ein breites Aktionsprogramm vorgelegt, mit dem zwar keine Harmonisierung der sozialen Sicherungs3 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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systeme angestrebt wird, wohl aber eine Annäherung der Sozialpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Ziele. Mit dieser Annäherungsstrategie soll die Koexistenz verschiedener einzelstaatlicher Systeme dazu genutzt werden, diese sowohl im Einklang miteinander als auch in Übereinstimmung mit den grundlegenden Zielsetzungen der Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Diese Annäherung soll außerdem im Zuge der Vollendung des Binnenmarktes den Bestand des sozialen Schutzes wahren und seine Weiterentwicklung anregen. Die Kommission definiert in ihrem Entwurf für eine "Empfehlung des Rates über die Ziele und die Annäherung der Politik im Bereich des sozialen Schutzes" auch solche Ziele für den Bereich der Alterssicherung. So seien die Altersversorgungssysteme an die derzeitigen oder künftigen Veränderungen des demographischen Verhältnisses zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen anzupassen, wobei darauf zu achten ist, daß die zentrale Rolle der öffentlichen Altersversorgungssysteme gewahrt bleibe. Renten seien an den Index der Lebenshaltungskosten zu binden und die Rentner seien weitestmöglich am wirtschaftlichen Fortschritt zu beteiligen. Altersgrenzen seien zu flexibilisieren. Außerdem seien die Benachteiligungen zu verringern, die sich aus einer längeren Arbeitslosigkeit oder aus einer vorübergehenden Unterbrechung der Erwerbstätigkeit wegen Kindererziehung oder Behindertenbetreuung ergeben. Die eheähnliche Gemeinschaft sei in den Schutz der sozialen Sicherungssysteme einzubeziehen.
1. Die Unterschiede zwischen den Alterssicherungssystemen in den Mitgliedstaaten
Die Vorsicht, mit der die EG-Kommission und das Europäische Parlament das Thema der Harmonisierung der Alterssicherungssysteme angehen, wird zurecht damit erklärt, daß die unterschiedlichen Systeme sozialer Sicherung Ausdruck von Entwicklungen, Traditionen sowie von sozialen und kulturellen Eigenschaften eines jeden Staates seien, die nicht in Frage gestellt werden könnten. Die grundsätzliche Schwierigkeit besteht in der Tat in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Systeme sozialer Sicherung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Sie werden mit am deutlichsten im Bereich der Alterssicherung. Es konkurrieren Sozialversicherungs- und Versorgungssysteme. Es handelt sich im wesentlichen um zwei Rechtsfamilien, die eine gegründet 1880- 1890 durch die Bismarck'sche Sozialversicherungsgesetzgebung in Deutschland, die andere ausgehend von der "Erfindung" der Volksrente in Dänemark 1890 und später ideologisch untermauert durch Beveridge (1943). Zu den Ländern mit Sozialversicherung gehören Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Spanien, Portugal, Griechenland und Luxemburg. Trotz der gemeinsamen Grundkonzeption bestehen aber auch zwischen den Alterssicherungssyste-
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men dieser Länder noch erhebliche Unterschiede im Detail. Dies gilt sowohl für die Finanzierung, die Umschreibung der Risiken als auch für die Bestimmung der Leistungen. Hinzu kommt, daß in den meisten dieser Länder verschiedene Alterssicherungssysteme für unterschiedliche Personengruppen bestehen. Sondersysteme existieren zumeist für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes. In den Volksrentensystemen ist demgegenüber bei Eintritt des gesicherten Risikos für alle Bürger eine Grundsicherung vorgesehen. Deren Ausmaß orientiert sich weitgehend unabhängig von der Höhe eventuell gezahlter Beiträge zumeist an Mindestlöhnen. Solche Volksrentensysteme finden sich in Großbritannien, Irland, den Niederlanden und Dänemark. In ihren "Ideologien" haben sich die zwei Rechtsfamilien angenähert: Die Unterschiede sind durch ergänzende Systeme sozialer Sicherung weitgehend ausgeglichen worden. Alle Mitgliedstaaten mit einer Sozialversicherung kennen subsidiäre, steuerfinanzierte Grundsicherungssysteme, in Deutschland die Sozialhilfe. Diese sind in der Regel außerhalb der Sozialversicherung angesiedelt. Z. T. sind aber auch (zusätzlich) in den Sozialversicherungssystemen Mindesteenten für Versicherte mit langjähriger Zugehörigkeit vorgesehen. Dies gilt, wobei auch hier wieder Unterschiede im Detail bestehen, z. B. für Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal. Außerdem sind in den Ländern mit Volksrentensystemen Zusatzsicherungssysteme geschaffen worden, die die Differenz zwischen der Grund- und der Lebensstandardsicherung z. T. jedenfalls abdecken sollen. Trotzdem bestehen im Detail gravierende Unterschiede: Sie betreffen zunächst die Finanzierung. Der Steueranteil ist - mit Ausnahme der Niederlande - in den Ländern mit Volksrentensystemen wesentlich höher als in denen, die eine Sozialversicherung eingeführt haben. Der Staatsanteil ist in Dänemark mit fast 80 % am höchsten. In Irland macht er 2/3 der Ausgaben, in Großbritannien und in Griechenland knapp die Hälfte, in Belgien und in Luxemburg mehr als ein Drittel und in den Niederlanden knapp ein Fünftel aus. Obwohl sich diese Zahlen nicht nur auf die Alterssicherung, sondern auf das gesamte Sozialbudget beziehen, sind sie was die grundsätzliche Finanzierungsweise anbetrifft - doch recht aufschlußreich. Sozialversicherungsbeiträge werden "EG-weit" von den Arbeitgebern mitgetragen. Ihr Anteil ist unterschiedlich hoch und beläuft sich im EG-Durchschnitt auf zwei Drittel der Beiträge. Auch die Beitragsbemessungsgrundlagen werden unterschiedlich definiert. So unterliegt in Belgien, Italien und Portugal das gesamte Einkommen der Versicherungspflicht. Die meisten Staaten kennen jedoch Beitragsbemessungsgrenzen, die für Beiträge und damit zugleich auch für das versicherte Einkommen bestimmte Höchstwerte festsetzen. Unterschiedliche Regelungen finden sich auch bei der Definition der Risiken. Dies gilt für die Invalidität, aber auch für die Altersgrenzen. In Dänemark können Altersrenten erst vom 67. Lebensjahr an bezogen werden. In den Niederlanden, in Spanien und in Deutschland liegt die Altersgrenze sowohl für Männer als auch für Frauen bei der Vollendung des 65. Lebensjahres. Für langjährig Versicherte, für 3*
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1. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Schwerbehinderte, Langzeitarbeitslose und für Frauen gelten in der Bundesrepublik allerdings vorgezogene Altersgrenzen von 60 bzw. 63 Jahren. Diese werdenmit Ausnahme der Altersgrenze für Schwerbehinderte, Berufs- und Erwerbsunfähige- im Zuge der Rentenreform ab dem Jahre 2001 schrittweise auf das 65. Lebensjahr heraufgesetzt. Bei der Berechnung der Leistungen ist die nationale Vielfalt noch größer. In Volksrentensystemen sind Einheitsleistungen vorgesehen, deren Höhe aber mitbestimmt wird von der Dauer der Versicherungszugehörigkeit bzw. des Aufenthalts in dem jeweiligen Land. In den Sozialversicherungssystemen und in den Zusatzrentensystemen ist die Leistung zumeist abhängig von der Höhe des versicherten Einkommens und von der Versicherungsdauer. Diese beiden Grundabhängigkeiten werden sehr unterschiedlich variiert. Unterschiede bestehen - um einen letzten Beispielsbereich herauszugreifen - auch in der Hinterbliebenensicherung. Es gibt sie in den meisten, aber nicht in allen Sicherungssystemen. In Deutschland, Spanien und Italien sind die unterschiedlichen Anspruchsvoraussetzungen für Witwen und Witwer für verfassungswidrig erklärt worden. Die jeweiligen Gesetzgeber haben inzwischen reagiert. In anderen Mitgliedstaaten wird nach wie vor zwischen Witwen und Witwern differenziert. So gibt es in Frankreich, Luxemburg, Griechenland und Portugal Witwerrenten nur unter erschwerten Voraussetzungen. In den Niederlanden oder Großbritannien sind Witwerrenten nach wie vor nicht vorgesehen.
2. Harmonisierung der Sozialsysteme -keine Notwendigkeit europäischen Zusammenwachsens
Eine Harmonisierung der sozialen Sicherungssysteme ist derzeit weder wünschenswert noch erreichbar. Darüber besteht allgemeiner Konsens. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Sicherungssystemen sind zu groß und mit der nationalen Rechts- und Wirtschaftsordnung, aber auch mit der jeweiligen Tradition so eng verknüpft, daß eine entsprechende Forderung den Prozeß der europäischen Einigung nachhaltig behindern würde. Hinzu kommt, daß gerade die Alterssicherungssysteme Kontinuität brauchen, weil sie in der Lebensplanung der Versicherten als wesentliche Bestandteile einkalkuliert sind. Das gibt den erworbenen Anwartschaften einen festen Vertrauensschutz, der wegen der Beitragsfinanzierung nicht nur in Deutschland unter die Eigentumsgarantie der Verfassung fällt. Harmonisierung braucht Zeit, sehr viel Zeit, damit sich mit den Systemen auch die Betroffenen darauf einstellen können. Alterssicherung ist im übrigen - betrachtet man die nationalen Gesamtsysteme sozialer Sicherung - ein sehr komplexes Zusammenwirken zwischen gesetzlicher, betrieblicher und privater Vorsorge und Sicherung. Auch die Kombination dieser Sicherungselemente hat in den einzelnen Ländern Tradition und vielfältige wirtschaftliche, steuerliche und soziale Konsequenzen. Es würde also nicht reichen,
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nur die allgemeinen Alterssicherungssysteme zu harmonisieren. Die notwendige Einbeziehung der übrigen Teilbereiche ließe die Aufgabe noch unlösbarer werden. Im übrigen scheint eine Harmonisierung der Alterssicherungssysteme derzeit utopisch. Die EG-Kommission hat auf der Basis eines Kaufkraftstandards den ProKopf-Betrag der Alters- und Hinterbliebenenleistungen des Jahres 1984 ermittelt. Er liegt in Luxemburg mit 12 293 Punkten am höchsten und in Portugal mit 2 333 Punkten am niedrigsten. Für die Bundesrepublik ergibt sich der zweithöchste Betrag mit 10 512 Punkten. Diese Zahlen machen deutlich, daß eine Angleichung des Kaufkraftstandards der Altersrenten die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zahlreicher Mitgliedstaaten überfordern, eine Anpassung nach unten in anderen Staaten aber die Rentner verarmen lassen würde. Somit würde eine Harmonisierung der sozialen Sicherungssysteme das Ziel des Binnenmarktes, strukturschwachen Regionen zu helfen und zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu führen, konterkarieren.
3. Teilharmonisierung - notwendige Zwischenlösung
Eine andere Frage ist, ob sich nicht wenigstens in Teilbereichen eine Harmonisierung erreichen läßt. So würden sich denn die nationalen Systeme schrittweise einander annähern. Eine Chance für eine solche Teilharmonisierung besteht an sich grundsätzlich, weil nahezu alle Alterssicherungssysteme der EG sich an gravierende demographische Strukturveränderungen anpassen müssen. Buropaweit - Irland ausgenommen - nimmt die Geburtenhäufigkeit ab und die Lebenserwartung steigt. Hinzu kommt, daß sich in einigen Ländern strukturelle Mängel der bestehenden Systeme zeigen. Die Diskussion, die bei uns in den letzten Jahren geführt worden ist und mit der Rentenreform 1992 einen vorläufigen Abschluß gefunden hat, wird nun mit gleicher Vehemenz auch in anderen Ländern, z. B. gerade in Frankreich, geführt. Die notwendigen Anpassungen könnten auch zu einer Teilharmonisierung der nationalen Sicherungssysteme im Sinne einer - von der Kommission vorgeschlagenen - Annäherung der Ziele genutzt werden. Eine solche Teilharmonisierung wäre auch in der Lage, bestehende Defizite des gegenwärtigen EG-Sozialrechts im Bereich der Rentenversicherung abzubauen. Solche Lücken ergeben sich vor allem aus der in den einzelnen Alterssicherungssystemen unterschiedlichen Definition der Risiken. Mindert sich z. B. die Erwerbsfähigkeit eines Arbeitnehmers, der in Deutschland und Italien gearbeitet hat, kann er nach italienischem Recht früher als nach deutschem Recht Leistungen wegen Invalidität beanspruchen. Das gleiche Problem stellt sich wegen der unterschiedlichen Altersgrenzen bei den Altersrenten. Die Versicherte, die in Deutschland mit Vollendung des 60. Lebensjahres den deutschen Teil ihrer Rente beanspruchen kann, muß - wenn sie auch in den Niederlanden gearbeitet hat - auf die niederländische Teilrente 5 Jahre warten, weil dort auch für Frauen die Altersgrenze bei 65 Jahren liegt. Ähnliche Probleme stellen sich im Bereich der Hinterbliebenensiche-
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rung. Aus der deutschen Teilrente ergeben sich unter Umständen Witwerrenten, aus der holländischen oder englischen nicht. Ziel einer Teilharmonisierung könnte daher zunächst die Umschreibung der Risiken sein. Der deutsche Gesetzgeber hat sich für eine Anhebung der Altersgrenze ab 2001 entschieden. Ähnliche Überlegungen gibt es auch in anderen Ländern, Griechenland hat bereits entsprechende Gesetze verabschiedet. Einheitliche Altersgrenzen in Europa wären daher eine der möglichen Teilharmonisierungen. Bei der Umschreibung des Risikos der Invalidität sind die Probleme differenzierter. Das deutsche Recht führt schon national zu sehr unbefriedigenden Ergebnissen. Zu einer Korrektur im Rahmen der Rentenreform 1992 hat sich der Gesetzgeber nicht aufraffen können. Ist schon national eine befriedigende Lösung nicht erreichbar, um wieviel schwieriger ist es dann, eine supranationale Lösung zu finden, die den Besonderheiten aller Mitgliedstaaten Rechnung tragen soll. Letztlich geht es bei dieser Frage überall um die Risikoabgrenzung zwischen der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Eine einheitliche Lösung wäre zwar erstrebenswert, ob sie sich aber in absehbarer Zeit erreichen läßt, erscheint mehr als fraglich. Gleiches gilt auch für die Finanzierung. In vielen EG-Staaten werden die gleichen Probleme diskutiert - erinnert sei nur an den Wertschöpfungsbeitrag. Doch ist die Finanzierung der Sozialversicherung in den einzelnen Ländern so unterschiedlich geregelt und so eng mit dem jeweiligen Steuerrecht verknüpft, daß in vielen Ländern eine Harmonisierung der Finanzierung der Alterssicherung zugleich auch eine Reform des gesamten Steuerrechts nach sich ziehen müßte. Das wiederum ließe EG-weit eine Reform des Steuerrechts notwendig werden. Die Schwierigkeiten mit der Harmonisierung der Umsatzsteuer sind Beweis genug, wie realitätsfern derzeit eine Forderung nach einer EG-weiten Harmonisierung der Finanzvorschriften in der Rentenversicherung wäre. Wegen all dieser Schwierigkeiten konzentriert sich die "Harmonisierungs"-Diskussion derzeit auf das Thema Mindestsicherung. Aktualität hat diese Diskussion dadurch erlangt, daß die "Gemeinschaftscharta" für Personen im Rentenalter eine Mindestsicherung vorsieht. Einigkeit scheint aber auch insoweit nur in der grundsätzlichen Aussage erzielbar, daß jedem Bürger der EG im Falle des Alters ein bestimmtes Mindesteinkommen zustehen soll. Schon bei der Frage, ob dieses Recht vom Einkommen des Begünstigten unabhängig oder - wie in der Gemeinschaftscharta beschrieben und durch die deutsche Sozialhilfe realisiert - nur subsidiär eingeräumt werden soll, wird der Konsens ein Ende finden. Die Einschnitte in die einzelnen nationalen Sozialrechtsordnungen wären zu tief. Gegenüber der Intention, EG-weit Altersarmut zu begrenzen, ist dieses an sich wichtige Problem der Ausgestaltung der Mindestsicherung nur zweitrangig, wenn sie als solche gewährleistet ist. Angemerkt sei noch, daß es eine andere Frage ist, ob dieses Recht auf Mindestsicherung jedem EG-Bürger in allen Mitgliedstaaten oder nur in seinem Heimatland zustehen soll. Es geht dabei um die
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Probleme der Freizügigkeit auch für Rentner und um Probleme des europäischen Sozialhilferechts.
IV. Schlußbemerkung "Freizügigkeitsflankierendes" europäisches Sozialrecht und "Harrnonisierung" der Alterssicherungssysteme sind keine sich ausschließenden Alternativen europäischer Sozialpolitik. Sie greifen ineinander. Die Lücken im Bereich der sozialen Sicherung der Wanderarbeitnehmer können nur dann geschlossen werden, wenn es gelingt, in wichtigen Bereichen der nationalen Alterssicherungssysteme zu mehr konzeptioneller Übereinstimmung zu kommen. Das setzt bei allen Mitgliedstaaten eine große Bereitschaft zum Komprorniß voraus. Die europäischen Institutionen tun aber gut daran, diese Komprornißbereitschaft nicht zu überfordern. Selbst die Teilharrnonisierungen werden jeweils ein langer, mühsamer Schritt sein. Wir sollten aber die Hoffnung, daß sich diese Schritte realisieren lassen, nicht aufgeben. Gerade die deutschdeutsche Entwicklung hat gezeigt, daß es doch möglich ist, unterschiedliche Alterssicherungssysteme einander anzupassen. Gewiß, die politischen Rahmenbedingungen lassen sich auf den europäischen Bereich nicht übertragen. Doch wird es sich lohnen, die deutschen Erfahrungen bei dem Zusammenführen der beiden so unterschiedlichen Alterssicherungssysteme daraufhin zu untersuchen, ob sie sich auf europäischer Ebene nutzen lassen.
Soziale Grundrechte in Europa - Bilanz und Perspektive Von Prof. Dr. Dr. Detlef Merten Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
I. Einleitung
Die ursprünglich als ökonomische Zweckverbände gegründeten Europäischen Gemeinschaften sollen sich zu einer Wirtschafts- und Währungsunion und am Ende gar zu einer politischen Union entwickeln. Diese Metamorphose kann die soziale Dimension nicht ausklammern. Wandelt sich der Markt-Bürger zum EuropaBürger, dann muß er auch Sozial-Bürger sein. Von einem "einheitlichen Sozialraum" wurde erstmals Mitte 1988 unter der Ratspräsidentschaft Griechenlands gesprochen. Im Januar 1991 verkündete der Präsident der EG-Kommission, Delors, in der europäischen Sozialpolitik habe nun die "Stunde der Wahrheit" geschlagen. Diese Stunde der Wahrheit muß aber auch eine Stunde der Klarheit sein. Daher bedarf es zunächst einer Bilanz und Analyse, bevor auf soziale Perspektiven eingegangen werden kann.
II. Bilanz und Analyse
Eine Bestandsaufnahme der sozialen Grundrechte innerhalb der Europäischen Gemeinschaften muß die Ebenen der Mitgliedstaaten einerseits, die internationale und supranationale Ebene andererseits auseinanderhalten.
1. Soziale Grundrechte in den Mitgliedstaaten
Die sozialen Grundrechte in den Mitgliedstaaten sind rechtspolitisch für Anstöße und Impulse zur Schaffung eines einheitlichen Sozialraums bedeutsam. Darüber hinaus sind sie aber auch rechtsdogmatisch für das Gemeinschaftsrecht von Interesse. Denn der Europäische Gerichtshof rechnet das Vorhandensein von "Grundrechten der Person" zu den ungeschriebenen allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung und gewinnt diese Grundrechte aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten, so daß der "allgemeine" Grund-
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rechtsstatus zu einem "gemeinen" und gemeinschaftsrechtlichen wird. Ein hoher und wirksamer Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht ist wiederum aus Gründen der Autonomie erforderlich, denn nur soweit und "solange" dieser durch die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung seines Gerichtshofs gewährleistet ist, sieht das Bundesverfassungsgericht nach seinem "Solange li-Beschluß" davon ab, sekundäres Gemeinschaftsrecht bei Anwendung durch deutsche Gerichte und Behörden am Maßstab der grundgesetzliehen Grundrechte zu messen. Formal handelt es sich bei den sozialen Grundrechten in den Mitgliedstaaten um subjektiv-öffentliche Rechte im Verfassungsrang. Diese Rangstufe war nicht immer grundrechtliches Essentiale. So wurden im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich zahlreiche Grundrechte durch einfaches Bundes- bzw. Reichsgesetz verbürgt, z. B. durch das Freizügigkeitsgesetz, die Gewerbeordnung, das Reichsgesetz über die Presse u. a. Da die Schutzrichtung der Grundrechte damals vor allem auf die Exekutive zielte, reichte der Gesetzesrang wegen des rechtsstaatliehen Prinzips des Vorrangs des Gesetzes aus. Deshalb und aus Gründen föderalistischer Rücksichtnahme enthielt auch die Reichsverfassung von 1871 keinen Grundrechtskatalog. Seitdem die Legislative die Grundrechte aber nicht nur behütet, sondern auch beschränkt, bedarf es der Grundrechtsgewährleistung auf Verfassungsebene, um auch die erste Gewalt an die Grundrechte zu binden. Historisch sind die sozialen Grundrechte als Reaktion auf die "soziale Frage" des 19. Jahrhunderts entstanden. Sie finden sich also nicht in den frühen Menschenrechtserklärungen, sondern sind im wesentlichen "Kinder" des 20. Jahrhunderts und in das deutsche Verfassungsrecht seit der Weimarer Reichsverfassung eingegangen. Diese proklamierte beispielsweise in Art. 157 Abs. 1: "Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs". Dabei ist die Reichsverfassung nach dem gerade beendeten Wilhelminischen Imperialismus nicht frei von sozialem Imperialismus. So soll nach Art. 162 WRV das Reich für eine zwischenstaatliche Regelung der Rechtsverhältnisse der Arbeiter eintreten, "die für die gesamte arbeitende Klasse der Menschheit ein allgemeines Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt". Wenn nicht schon anders, so sollte die Welt wenigstens am deutschen Sozialwesen genesen. Inhaltlich ist der Begriff der sozialen Grundrechte weiter als der des deutschen "Sozialrechts". Er umschließt auch das "Arbeitsrecht" und ist daher eher im Sinne der anglo-amerikanischen "social security" zu verstehen. Ziel der sozialen Grundrechte ist insbesondere der Schutz der abhängig Beschäftigten vor Fundamentalrisiken, z. B. Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit. Eine inhaltliche Treffgenauigkeit ist schwer zu erreichen. In der Praxis schießt man gleichsam mit einer Schrotflinte, mit der auch Politiker umgehen können, und erzielt dank der Streubreite Einschüsse, aber auch Querschläger. So gehören ein Recht auf Umwelt, gar auf Abrüstung, ein Recht auf Mitbestimmung und die Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht zu den eigentlichen sozialen Grundrechten. Klassische soziale Grund-
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rechte sind das Recht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit (in den Fällen von Invalidität, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit) und auf Wohnung. Soziale Grundrechte unterscheiden sich fundamental von den liberalen Freiheitsrechten, die Individualrechtsgüter wie Leib und Leben, Glauben und Gewissen, Haus und Hof, Ehe und Familie schützen. Diese negatorischen Grundrechte grenzen Freiräume aus und können vom einzelnen, wie Meinungsäußerungsfreiheit oder Religionsfreiheit belegen, ohne staatliche Einmischung ausgeübt werden, ja sie wollen diese Einmischung gerade femhalten. Sie sind also "self-executing" und verleihen dem einzelnen sog. "Darf-Rechte" und Abwehrrechte, wenn der Staat rechtswidrig in die individuellen Freiheitsräume eingreift. Soziale Grundrechte bedürfen dagegen staatlicher Leistungen oder zumindest der Inpflichtnahme Privater, wie im Falle des Kündigungsschutzes oder der Lohnfortzahlung. Wegen des strukturellen Unterschieds von negatorischen und sozialen Grundrechten müssen beide Gruppen auch im Ausmaß ihrer rechtlichen Verbindlichkeit differieren. Denn Freiheitsrechte begnügen sich mit Selbstverwirklichung, soziale Grundrechte bedürfen der Fremdverwirklichung. Ein "Recht auf Wohnraum" läuft bei zerbombten Städten leer; ein "Recht auf Arbeit" bleibt im Falle einer Weltwirtschaftskrise papiem. Wahrend Freiheit voraussetzungslos ist, bleibt es das Los sozialer Grundrechte, materieller Voraussetzungen zu bedürfen. Ungeachtet des Wortlauts richtet sich die Rechtsverbindlichkeit sozialer Grundrechte nach der Aktualisierbarkeit, da auch im Kapitalismus Manna nicht vom Hirrunel fällt. Soziale Grundrechte können daher keine unmittelbaren Leistungsanspruche verbürgen, sondern sind Rechte nach Maßgabe des jeweils Verfügbaren. Da diese Rechte zudem noch miteinander konkurrieren, weil Mittel für die Arbeitsbeschaffung nicht mehr für den Wohnungsbau zur Verfügung stehen und vice versa, muß letztlich das Parlament kraft seiner Haushaltssouveränität und darf nicht ein Verfassungsgericht durch Überinterpretation von Grundrechten das Verfügbare verteilen.
a) Soziale Grundrechte in Deutschland Diese dogmatische Struktur der sozialen Grundrechte macht auch deutlich, weshalb der Parlamentarische Rat angesichts der Nachkriegssituation, des provisorischen Charakters des Grundgesetzes und politischer Gegensätze auf soziale Grundrechte im wesentlichen verzichtet hat, wenn man von Bestimmungen über illegitime Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG), legitime Beamte (Art. 33 GG) und der Privilegierung der Mutter (Art. 6 Abs. 4 GG) absieht. Diese Abstinenz hat dem Grundgesetz nicht zum Schaden gereicht, da es auf diese Weise statt eines bloßen Verfassungspragrarruns ein echtes Verfassungsgesetz geworden ist. Aber ähnlich wie unter der Reichsverfassung von 1871 enthalten auch unter dem Grundgesetz die Länderverfassungen zusätzliche grundrechtliche Gewährleistungen, die in Kraft bleiben. So findet sich ein "Recht auf Arbeit" beispielsweise
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in den Verfassungen von Berlin (Art. 12), Hessen (Art. 28 Abs. 2), NordrheinWestfalen (Art. 24 Abs. 1 Satz 3) und Rheinland-Pfalz (Art. 53 Abs. 2), das dem einzelnen allerdings teilweise nur ,.nach seinen Fähigkeiten" zugebilligt wird (Hessen, Rheinland-Pfalz). Das eigentliche Problem jeder Beschäftigungspolitik, auf welche Arbeit, zu welchem Lohn und an welchem Ort ein Anspruch bestehen soll, wird offengelassen. Hier hilft auch die bayerische Verfassung nicht entscheidend weiter, wenn sie in Art. 168 Abs. 1 statuiert: ,,Jede ehrliche Arbeit hat Anspruch auf angemessenes Entgelt." An inhaltlicher Bestimmtheit ist man damit über den Stand des Neuen Testaments nicht hinausgelangt. Denn schon bei Lukas (10,7) und Matthäus (10,10) heißt es, daß ein Arbeiter seines Lohnes (seiner Speise) wert ist. Hier offenbart sich eine Unbestimmtheit und Vagheit, die vielen sozialen Grundrechten eigen ist. So bleibt auch bei einem "Recht auf Wohnraum" offen, zu welchem Preis die Wohnung verfügbar sein soll und welcher Anteil am Arbeitseinkommen hierfür aufzuwenden ist. Wenn die Miete nicht einmal die Erhaltungskosten deckt, ist die Wohnungsmisere vorprogrammiert, die zu jenen "Errungenschaften" zählt, die der sozialistische Staatsbankrott Deutschland hinterlassen hat. Der mangelnden Präzision sozialer Grundrechte steht andererseits mitunter eine dogmenhafte Rigorosität gegenüber, wenn z. B. Art. 30 Abs. 3 der hessischen Verfassung dekretiert: "Kinderarbeit ist verboten". Hielte man diese Bestimmung für wirksam, müßten Kinderchöre und Kinderstars aus Hessen auswandern. Mit der Unflexibilität ist auch eine rasche Verfallzeit sozialer Grundrechte verbunden. So mutet Art. 42 Abs. 4 der hessischen Verfassung nur noch anachronistisch an. Danach wird Grundbesitz eingezogen, der nicht ordnungsgemäß bewirtschaftet wird. Demgegenüber wird heutzutage die Anbaumenge, z. B. beim Wein, staatlich reguliert, und zahlt die Europäische Gemeinschaft Stillegungsprämien für ordnungsgemäße Nichtbewirtschaftung. Nur noch von sozialhistorischem Interesse ist auch Art. 55 der brernischen Verfassung, wonach der Achtstundentag der gesetzliche Arbeitstag ist. Einen Urlaubsanspruch von mindestens zwölf Arbeitstagen im Jahr garantieren die bremische Verfassung (Art. 56 Abs. I) und die hessische Verfassung (Art. 34). Die Europäische Sozialcharta von 1961 hat dann den Mindeststandard immerhin auf zwei Wochen erhöht (Art. 2 Abs. 3). Ein Vergleich mit diesem Sollund dem heutigen Ist-Zustand zeigt, wie herrlich weit wir es zumindest auf sozialem Gebiet gebracht haben. Während Freiheitsrechte immer gleich aktuell sind, weil es zu jeder Zeit und unter jeder Regierungsform wichtig ist, z. B. seine Meinung frei äußern zu dürfen, sind soziale Grundrechte von Zeitgeist und Tagesmode abhängig. Das spricht gegen ihre Verankerung im Verfassungsgesetz. Denn die Verfassung als Quelle sozialer Rechte kann dann leicht zum "Quelle-Katalog" werden, der jährlich aktualisiert und modernisiert werden muß.
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I. Speyerer Sozialrechtsgespräch
b) Soziale Grundrechte in anderen Mitgliedstaaten Da ein gemeinsames Grundrechtsniveau in den Europäischen Gemeinschaften nicht durch den Standard eines einzelnen Mitgliedstaates bestimmt, sondern nur als "Summa" aller Einzelverfassungen gewonnen werden kann, bedarf es eines Blicks über nationale Grenzen. Frankreich bezieht sich im Vorspruch seiner Verfassung von 1958 auf die Verfassungspräambel von 1946. Dort wird ein Recht auf Beschäftigung, auf Gesundheitsschutz, materielle Sicherheit, auf angemessene Mittel der Gemeinschaft für den individuellen Unterhalt und auf Freizeit proklamiert. Die italienische Republik schützt gemäß ihrer Verfassung von 1947 die Gesundheit und begünstigt den Erwerb von Wohnungseigentum (Art. 32, 47). Nach der niederländischen Verfassung von 1963 fördert der Staat die Volksgesundheit und sorgt für hinreichenden Wohnraum. In Luxemburg gewährleistet das Gesetz das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit und Vorsorge für die Gesundheit, wie es in der Verfassung von 1868, zuletzt geändert 1983, heißt. In Griechenland sorgt der Staat gemäß der Verfassung von 1975 für die Gesundheit der Bürger und die Verschaffung von Wohnungen für Obdachlose. Nach der spanischen Verfassung von 1978 haben alle Spanier das Recht auf eine würdige und angemessene Wohnung (Art. 47). Die öffentliche Gewalt gewährleistet angemessene und periodisch angepaßte Renten und ein System sozialer Leistungen (Art. 50). Portugal kennt in seiner Verfassung von 1976 ein Recht auf soziale Sicherheit, den Schutz der Gesundheit und eine angemessene Wohnung (Art. 63 ff.). Der grobe Überblick zeigt nun, daß auch den Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten das "Soziale" als Dimension nicht fremd ist und der Staat generell oder speziell für bestimmte Bereiche zu sozialem Handeln angehalten wird, wie dies für Deutschland aus Art. 20 und 28 GG entnommen wird. Übereinstimmende soziale Grundrechte im Sinne allgemeinen Rechts, das zwar in jedem Mitgliedstaat gesondert normiert wird, inhaltlich aber für den gesamten Bereich der Europäischen Gemeinschaften gilt, lassen sich jedoch nicht ermitteln. Zu unterschiedlich sind die teilweise enumerativ geregelten sozialen Bereiche, wenn beispielsweise Italien den Erwerb von Wohnungseigentum begünstigen, Griechenland dagegen Wohnungen für Obdachlose (wohl nicht als Wohnungseigentum) schaffen will. Zu sehr differiert die Verbindlichkeit der sozialen Verheißungen in den einzelnen Staaten. So verweist Luxemburg von vornherein auf das Gesetz als Umsetzungsmechanismus für soziale Sicherheit. Aber auch in den Staaten, in denen die Verfassung soziale Rechte proklamiert, handelt es sich vielfach nur um ein soziales Verfassungsprogramm, nicht um ein soziales Verfassungsgesetz. Denn das Recht der Franzosen auf angemessene Mittel der Gemeinschaft für den individuellen Unterhalt kann schon aus logischen Gründen nicht mehr als ein Ziel sein, weil der Gesetzgeber vor das Inkasso Restriktionen, z. B. hinsichtlich der Bedürftigkeit und der Höhe der Mittel setzen muß, wenn Frankreich nicht zu einer "grande nation" der Sozialhilfeempfänger entarten soll.
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Kann somit durch den Rückgriff auf die Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten kein gemeinsamer Sozialstandard in den Europäischen Gemeinschaften gewonnen werden, so verbleibt ein Ausblick auf internationale Regelungen, die auch der Europäische Gerichtshof im Rahmen seiner "Grundrechtsfindung" für den EGBereich heranzieht.
2. Internationale und europäische Abkommen über soziale Rechte
Die UN-Charta will gemäß ihrem Art. 55 "die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg fördern. Ebenso wie die Charta wendet sich auch der internationale Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 von vornherein nur an die Vertragsstaaten. Diese erkennen das Recht auf Arbeit (Art. 6), auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen (Art. 7), auf soziale Sicherheit einschließlich der Sozialversicherung (Art. 9), auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11) und auf das jeweils erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit (Art. 12) an. Dieses Anerkenntnis ist indessen rechtlich sehr vage, weil die Mitgliedstaaten erst die geeigneten Schritte zum Schutze der betreffenden Rechte unternehmen und damit die volle Verwirklichung dieses Rechts erst herbeiführen sollen. Darüber hinaus ergeben sich für die Angehörigen der einzelnen Vertragsstaaten allenfalls Reflexe, aber keine unmittelbaren Rechte aus dem Pakt. Auch die Europäische Sozialcharta von 1961, die von Mitgliedern des Europarates abgeschlossen wurde, bindet nur die Vertragsparteien, ohne dem einzelnen Staatsangehörigen Rechte zu verschaffen. Insgesamt ist die Sozialcharta nicht sehr stringent, weil sich die Vertragsparteien lediglich verpflichten, "mit allen zweckdienlichen Mitteln staatlicher und zwischenstaatlicher Art eine Politik zu verfolgen", die die Voraussetzungen für die Ausübung bestimmter Rechte und Grundsätze gewährleisten soll. Dazu gehören die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen, das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen und ein gerechtes Arbeitsentgelt, das Recht auf soziale Sicherheit und auf Fürsorge, das Recht, alle Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, um sich des besten Gesundheitszustandes zu erfreuen (Art. I). Darüber hinaus verpflichten sich die Vertragsparteien, mindestens fünf von sieben genannten Artikeln des Teils II der Charta als für sich bindend anzusehen. Deutschland hat alle sieben Artikel angenommen und sich damit zu folgenden Rechten bekannt: dem Recht auf Arbeit (Art. 1), dem Vereinigungsrecht (Art. 5), dem Recht auf Kollektivverhandlungen (Art. 6), dem Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12), dem Recht auf Fürsorge (Art. 13), dem Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz (Art. 16) sowie dem Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19). Bei genauerem Hinsehen enthalten jedoch auch Teil II und III der Sozialcharta keine Pflicht zur Rechtssetzung, sondern nur zur
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Rechtspolitik. Dann die Staaten verpflichten sich nicht, z. B. ein Recht auf Arbeit zu statuieren, sondern nur, die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsstandes zwecks Verwirklichung der Vollbeschäftigung zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben zu machen. 3. Soziale Grundrechte im Gemeinschaftsrecht
a) Primärrecht Die völkerrechtlichen Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften, die heutzutage schon vielfach als Verfassung der Europäischen Gemeinschaft angesehen werden, bezweckten eine wirtschaftliche Integration, so daß die soziale Dimension nicht im Vordergrund steht. Dennoch finden sich auch im Primärrecht soziale Aussagen. So ist es nach Art. 2 EWGV Aufgabe der Gemeinschaft, u. a. "eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung" zu fördern. Nach Art. 117 Abs. 1 EWGV wollen die Mitgliedstaaten "auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte" hinwirken und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung ermöglichen. Nach Art. 118 des Vertrages hat die Kommission die Aufgabe, eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in sozialen Fragen zu fördern, insbesondere auf dem Gebiet der Beschäftigung, der sozialen Sicherheit, des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit u. a. Nach Art. 18 a bemühen sich die Mitgliedstaaten, die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zu fördern, um die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen. Art. 119 verpflichtet die Mitgliedstaaten auf den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit. Alle diese Bestimmungen enthalten allerdings keine sozialen Grundrechte, sondern nur Pflichten für die Gemeinschaft oder deren Organe bzw. die Mitgliedstaaten. Anders verhält es sich allerdings mit dem Recht der Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 48 EWG, das Grundlage der Gemeinschaft und inzwischen unmittelbar anwendbares Recht geworden ist. Wegen des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit eröffnet diese Grundfreiheit das Recht, in den Staat mit den besten sozialen Bedingungen zu ziehen und dort tätig zu werden. Es hat damit eine soziale Komponente, auch wenn es nicht zu den sozialen Grundrechten zählt. Der Überblick über das Primärrecht ergibt somit, daß die soziale Dimension für das Gemeinschaftsrecht keine fundamentale Zielbestimmung ist, wie das Soziaistaatsprinzip für das Grundgesetz. Das Soziale findet sich im primären Gemeinschaftsrecht eher punktuell, gleichsam als Verblendung.
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b) Sekundärrecht Eine Suche nach sozialen Grundrechten auf der Ebene des Sekundärrechts begegnet schon terminologischen Bedenken. Denn das Grundrecht als subjektiv-öffentliches Fundamentalrecht kann nach heutigem Verständnis nur durch die jeweils höchste Rechtsquelle innerhalb eines geschlossenen Rechtsquellensystems gewährleistet werden, weil nur diese Iex superior den von ihr ermächtigten Rechtssetzer binden kann. Für das deutsche Grundgesetz ist dies durch Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich festgelegt. Soziale Rechte auf unterer, einfach-gesetzlicher Ebene, wie sie sich beispielsweise - allerdings ohne echten Rechtscharakter - im Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuchs finden, sind nur schlichte soziale Rechte, weil sie auf Grund der lex-posterior-Regel jederzeit von demselben Rechtssetzer aufgehoben oder abgeändert werden können. Auf der Ebene des Sekundärrechts sind eine Reihe von Verordnungen und Richtlinien sozialrechtlichen Inhalts ergangen, so eine Verordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer; Richtlinien über Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie über Massenentlassungen und die Gleichbehandlung von Mann und Frau. Für das Rentenversicherungsrecht ist vor allem die Verordnung Nr. 1408 I 71 zu nennen. Seitdem Mitte 1988 der "Sozialraum Europa" ins Gespräch kam, werden Pläne für einen Katalog sozialer Grundrechte verfolgt. Im Juni 1989 traten elf Regierungschefs (gegen die Stimme Großbritanniens) für einen Katalog verbindlicher sozialer Rechte ein. Im September 1989 legte die Kommission den Entwurf einer "Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte" vor, der unverbindliche Regelungen enthielt, dafür aber feierlich erklärt werden sollte. Auf der Tagung des Europäischen Rates im Dezember 1989 haben die Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens dann eine "Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer" angenommen, die allerdings weder unterzeichnet noch feierlich erklärt wurde. Es handelt sich hierbei im wesentlichen um ein Aktionsprogramm von 45 Punkten, die u. a. folgende Bereiche betreffen: Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen; Recht auf angemessene Bezahlung; Recht auf Koalitionsfreiheit, Tarifverhandlungen und Streik; Recht auf Schutz von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz; Recht auf Information, Unterrichtung und Mitwirkung der Arbeitnehmer; Recht auf Berufsausbildung, Bildungsurlaub; Recht auf Gleichbehandlung von Mann und Frau; Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer; Kinder- und Jugendschutz; Mindesteinkommen und soziale Sicherheit im Alter. Auch hier offenbart eine nähere Betrachtung, daß es sich wie so oft bei den Europäischen Gemeinschaften nur um ein politisches Dekorationsstück, nicht aber um ein Meisterstück handelt. Soweit nicht bereits bestehende Rechte, wie z. B. die Freizügigkeit, wiederholt werden, enthält die Charta rechtlich unverbindliche Proklamationen, für die die Kommission Berichte, Stellungnahmen und Richtlinien-
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1. Speyerer Sozialrechtsgespräch
vorschläge erarbeiten soll. Zehn der insgesamt fünfundvierzig Punkte betreffen allein den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. So hat auch, wie der Präsident der EG-Kommission, Delors, einräumen mußte, die Sozialcharta nicht den erwarteten Dynamisierungseffekt ausgelöst. Hinsichtlich der Regelung der atypischen Arbeitsverhältnisse, der Gestaltung der Arbeitszeit sowie der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer ist es bisher nicht gelungen, geplante Beschlüsse im Ministerrat durchzusetzen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde will die Kommission nun eine Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen im Sozialbereich vorschlagen.
111. Perspektiven
1. Korrelation von Normrang und Normbeständigkeit
Bei der Schaffung eines europäischen Sozialraums und der Konzipierung sozialer Grundrechte für Europa ist zunächst darauf zu achten, daß die Normierung auf der geeigneten Rangebene erfolgt. Denn dem unterschiedlichen Normenrang entspricht idealtypisch auch ein bestimmter Norminhalt Fundamentalentscheidungen sollten in der Verfassung, dauerhafte Vorschriften im förmlichen Gesetz und Maßnahmeentscheidungen in der Verordnung geregelt werden. So sind die unabänderlichen Staatsstrukturen in der "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG enthalten, stehen die Fundamentalentscheidungen wie z. B. das Sozialstaatsprinzip als Staatszielbestimmung im Verfassungsrang, sind die Prinzipien der sozialen Sicherheit in den Sozialgesetzen normiert, während bestimmte, sich fortwährend ändernde sozialrechtliche Bezugsgrößen durch Rechtsverordnung festgelegt werden. Wegen ihrer bereits geschilderten raschen Verfallzeit gehören soziale Rechte nicht in den EWG-Vertrag, der nach seinem Art. 236 nur sehr schwer, nämlich nur durch Ratifizierung aller Mitgliedstaaten gemäß deren verfassungsrechtlichen Vorschriften geändert werden kann. So mußte England beispielsweise wegen seines Sex Discrimination Act von 1986 Art. 8 Nr. 4 der Sozialcharta von 1961 kündigen, weil diese Bestimmung Regelungen über die Nachtarbeit von Arbeitnehmerinnen in gewerblichen Betrieben vorsieht. So unmodern wie heute die brernische Verfassung mit ihrer Proklamation des Achtstundentages als gesetzlichen Arbeitstages ist, würde in einiger Zeit auch das Primärrecht im Falle der Regelung sozialer Rechte werden. Denn was heute noch als sozialer Fortschritt erscheint, kann schon bald in die soziale Mottenkiste gehören. Es empfiehlt sich daher, von einer Statuierung kurzatmiger Detailregelungen abzusehen. Die geeignete Ebene für sozialrechtliche Regelungen ist das Sekundär- und nicht das Primärrecht Den EG-Verordnungen und Richtlinien mangelt zwar die Eigenschaft einer Iex superior. Ihrer bedarf es jedoch auch nicht, weil die Abänderung von Sekundärrecht nur einstimmig bzw. mit qualifizierter Mehrheit (vgl. Art. 118 a
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EWGV) möglich ist, unabhängig davon, daß die Absenkung eines einmal geschaffenen sozialen Standards zwar rechtlich, kaum aber politisch durchsetzbar ist.
2. Eindeutigkeit und Genauigkeit beim Kompetenztransfer
Müssen um eines "Sozialraums Europa" willen neue Kompetenzen übertragen werden, so ist auf Eindeutigkeit und Genauigkeit zu achten. Denn sobald die rationale Zuständigkeit zu Gunsten einer Gemeinschaftszuständigkeit aufgegeben wird, sind die Mitgliedstaaten auch nicht mehr "Herren der Interpretation". Sie können dann nur noch Einfluß auf die Willensbildung im Rat nehmen, was jedoch bei einer Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip zunehmend schwieriger wird. Unklarheiten und Unachtsamkeilen gehen zu Lasten des einzelnen Mitgliedstaates, der nicht davon ausgehen kann, daß bei einer letztverbindlichen Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof Richter anderer Rechts- und Kulturkreise nationale Besonderheiten respektieren werden. So ist beispielsweise die Interpretation des Art. 48 Abs. 4 EWG, wonach die Freizügigkeit der Arbeitnehmer keine Anwendung "auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" findet, aus deutscher Sicht sicherlich weit zu interpretieren und muß auch die Lehrer umfassen, welche Auffassung von der Kommission nicht geteilt wird. Unpräzise Kompetenzregelungen sind wegen der Systematik des EWG-Vertrages auch deshalb gefährlich, weil den EGOrganen in Gestalt des Art. 235 EWGV eine Blankettnorm zur Verfügung steht, die sie- allerdings nur im Falle der Einstimmigkeit - in Stand setzt, zur Verwirklichung von Zielen des Primärrechts geeignete Vorschriften zu erlassen, auch wenn die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind.
3. Antinomie von Vertiefung und Erweiterung
Will man nicht bei einem "Europa der Zwölr' verharren und ein vereintes Europa nicht auf Westeuropa reduzieren, muß man bei einer Ausgestaltung des europäischen Sozialraums auch die Situation der beitrittswilligen Staaten Mittel- und Osteuropas bedenken. Werden die sozialen Hürden zu hoch errichtet, so wird der Beitritt wirtschaftlich schwacher Staaten wegen des dann erreichten "Aquis communautaire" erschwert. Der soziale Ausbau für die einen könnte sich dann als soziale Aussperrung für die anderen erweisen. Aber auch innerhalb der Mitgliedstaaten könnte ein einheitliches Sozialniveau bisherige Standortvorteile infolge niedrigerer Lohn- und vor allem Lohnnebenkosten abschwächen und so zu unerwünschter Rezession beitragen.
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4. Die Einheit von Sozialunion und Wirtschafts- sowie Währungsunion
Eine Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften zur Sozialunion darf deren Interdependenz zur wirtschafts- und Sozialunion nicht außer Acht lassen. Jede einseitige Betonung sozialer Rechte könnte das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht stören. Will man ein "Recht auf Arbeit" nicht nur als Programmsatz, sondern als subjektives Recht statuieren, so muß man die Auswirkungen einer Vollbeschäftigung auf die Stabilität des Preisniveaus und das außenwirtschaftliche Gleichgewicht im Sinne eines "magischen Dreiecks" bedenken. Die Wechselwirkungen noch dazu im Falle von Tarifautonomie - dürfen nicht vernachlässigt und nicht einseitig zu Gunsten eines hohen Beschäftigungsstandes verschoben werden. Würde die Vereinheitlichung der sozialen Sicherungssysteme in einigen Mitgliedstaaten zu Defiziten führen und staatliche Transferleistungen erfordern, so könnte dies die angestrebte einheitliche europäische Währung gefährden und Ausgleichszahlungen anderer Mitgliedstaaten bedingen. Staatliche Transferleistungen könnten zudem wegen des europarechtlichen Beihilfeverbots (Art. 92 EWGV) auf Bedenken stoßen. Diese Gesichtspunkte sprechen im übrigen dafür, den bestehenden öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherungen nicht zusätzliche Aufgaben aufzubürden, sondern neue Risiken (z. B. den Pflegefall) der eigenverantwortlichen Vorsorge mit der Möglichkeit des Versicherungszwangs, wie sie aus der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung bekannt ist, zu überlassen.
5. Soziale Rechte und Subsidiaritätsprinzip
Bei der Schaffung einheitlicher sozialer Rechte in Europa ist auf das Subsidiaritätsprinzip zu achten. Danach sollen die Europäischen Gemeinschaften nur tätig werden, wenn eine europaweite einheitliche Regelung erforderlich ist und derselbe oder ein besserer Erfolg nicht auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten, der Bundesländer sowie anderer unterstaatlicher Gliederungen oder der Gemeinden erreichbar ist. Dieses Erforderlichkeitsprinzip ist im EWG-Vertrag schon jetzt angelegt (vgl. Art. 130 r Abs. 4), wird aber nicht immer hinreichend beachtet. Viele soziale Probleme stellen sich nicht in allen Mitgliedstaaten in derselben Intensität. So ist das sogenannte Pflegefallrisiko eine typische Begleiterscheinung hochindustrialisierter Staaten, während in Agrarstaaten oder in ländlichen Gebieten von Industriestaaten infolge des Erhalts der Großfamilie die Pflegebedürftigkeit älterer Menschen weniger Schwierigkeiten verursacht. Hier wäre es nun sozialpolitisch verfehlt, von Süditalien bis Dänemark einheitliche Richtlinien und Verordnungen über das Pflegefallrisiko zu erlassen, weil diejenigen Mitgliedstaaten, für die das Problem besonders brisant ist, die Regelungen selber treffen können.
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Es besteht auch kein Anlaß, die unterschiedlichen Alterssicherungssysteme und die verschiedenen Sozialleistungsarten zu vereinheitlichen. Die deutsche Wiedervereinigung hat gezeigt, wie schwierig infolge erworbener Anwartschaften, des Vertrauensschutzes etc. die Angleichung von Alterssicherungssystemen ist. Es kann daher nicht darum gehen, europaeinheitliche Sozialleistungssysteme zu schaffen, sondern es muß nur ein Mindestmaß sozialen Schutzes nach den Gegebenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten geschaffen werden. So überläßt es auch die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer den einzelnen Staaten, wie sie den angemessenen Lebensstandard im Alter sichern. Es muß dem einzelnen Staat freistehen, ob er im Falle der Bedürftigkeit Mindesteenten oder Sozialhilfe vorsieht, weshalb auch die Gemeinschaftscharta ausdrücklich von "ausreichenden Zuwendungen, sozialen Hilfeleistungen und Sachleistungen bei Krankheit" spricht. Darüber hinaus würde eine Unitarisierung die Gefahr einer Kumulierung statt einer Harmonisierung der Sozialleistungen mit sich bringen. Kann z. B. in Griechenland eine Rente teilweise schon mit 35 Jahren, in Italien mit 55 Jahren, in Dänemark aber erst mit 67 Jahren bezogen werden, so könnten europaeinheitliche Lösungen schon wegen des politischen Prinzips des "sozialen Besitzstands" dazu führen, daß man sich hinsichtlich des Rentenbeginns auf ein niedriges Lebensalter, hinsichtlich der Rentenhöhe jedoch auf einen hohen Standard einigt. Sicherlich muß der Binnenmarkt, wenn Europa zu einer politischen Union zusammenwachsen soll, auch eine soziale Dimension haben. Dabei sollten die Europäischen Gemeinschaften jedoch nur das regeln, was einer unitarischen Festlegung zwingend bedarf. Eine "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" ist angesichts der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten ohnehin nicht erreichbar. Bei der Gewährleistung sozialer Rechte muß klar zwischen dem aktuell Machbaren und dem erst künftig Möglichen unterschieden werden. Wichtiger als soziale Solidarität ist soziale Solidität. "Rechte" sollte man nur verleihen, wenn der Bürger auch die Rechtsmacht hat, etwas zu fordern und dies notfalls gerichtlich durchzusetzen. Anderenfalls handelt es sich um bloße politische Absichtserklärungen, die man auch so benennen sollte. Denn zur Klarheit in der europäischen Sozialpolitik gehört auch der Verzicht auf eine hochgestochene Terminologie, wenn man nicht am Ende in des "Kaisers neuen Kleidern" dastehen will. Der Bürger am Ende des 20. Jahrhunderts ist mündiger, als viele Politiker glauben.
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Aufbau und Entwicklung der Sozialversicherung in den fünf neuen Bundesländern Von Dr. Hans Henning Axthelm Arbeits- und Sozialminister des Landes Thüringen
Über die Einladung zu dem ersten Speyerer Sozialrechtsgespräch habe ich mich sehr gefreut. Es ist für mich eine besondere Ehre, als Vertreter der neuen Bundesländer hier in diesem Kreis zu Ihnen sprechen zu können. Der Gedankenaustausch zwischen den Deutschen in Ost und West ist trotz der anfänglichen Euphorie über die Wiedervereinigung nicht auf allen gesellschaftlichen Ebenen gleich schnell erfolgt. Ich bin dankbar für die Anregungen, die ich den Ausführungen meiner Vorredner entnehmen konnte. In diesem Sinne möchte auch ich dazu beitragen, daß diese Vortragsreihe ihrem hohen Anspruch gerecht wird und Ihnen nun die Schwierigkeiten und Erfolge beim Aufbau der Sozialverwaltung in Thüringen darstellen. Der Aufbau der Sozialverwaltung in Thüringen begann für mich am (9.) 11. November des vergangenen Jahres, also vor gut vier Monaten. An diesem Tag wurde ich als Minister für Soziales und Gesundheit im Landtag in Erfurt vereidigt. Als ich zuvor gefragt worden war, ob ich bereit sei, dieses Amt zu übernehmen, konnte ich mir kaum den Umfang, geschweige denn Einzelheiten einer solchen Aufgabe vorstellen. Über eines aber war ich mir im klaren: Es ist nicht damit getan, ein überkommenes politisches System zu beseitigen. Ein neues funktionierendes politisches System, das persönliche Freiheiten und materiellen Wohlstand für alle gewähren und obendrein auch noch sozial sein sollte, brauchte Bürger, die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen. Sie sehen, ich stelle mich dieser Verantwortung. Als Sozial- und Gesundheitsminister von Thüringen übernahm ich den Verwaltungsapparat der früheren Bezirksärztin von Erfurt. In den ersten Tagen meiner Tätigkeit versuchte ich mir einen Eindruck von der bestehenden Verwaltung zu verschaffen, ohne auch nur ein Ministerium nach westdeutschem Vorbild von innen zu kennen. Um die Anliegen der Bevölkerung einerseits und den Behördenbetrieb andererseits kennenzulernen, versuchte ich in der ersten Woche, die gesamte eingehende Post zu lesen. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, denn nach wenigen
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Tagen schon konnte ich kaum noch hinter einem Berg von Post hervorsehen: Man hat es ja auch nicht gelernt, Minister zu sein. Die Verwaltungshilfe von Hessen für Türingen setzte zum Glück schnell und unbürokratisch ein: Aus dem Wiesbadener Sozialministerium standen mir von Anfang an bestens ausgebildete Leihbeamte zur Verfügung, die mich mit Rat und Tat unterstützten. Es dauerte nicht lange, bis diese Leihbeamten alle Mitarbeiter mit Bürobedarf aus Wiesbaden versorgt hatten, bis die alten Schreibmaschinen aus den 60iger Jahren durch moderne Schreibmaschinen ersetzt waren, bis wir über eine Telefon-Westleitung und ein Telefaxgerät verfügten. Meine Mitarbeiter waren nicht nur damit beschäftigt, eine Organisation für das Sozialministerium aufzubauen, sondern auch den Vollzug, der eigentlich bei den nachgeordneten Behörden angesiedelt ist, durchzuführen. Ich selbst führte in dieser Zeit zahllose Einzelgespräche mit Landräten, Bürgermeistem, Sozialdezementen, Vertretern von Krankenhäusem, Krankenkassen und Organisationen, die in die Zuständigkeit meines Ministeriums fallen. Diese Zuständigkeiten meines Ministeriums waren zu Beginn noch nicht endgültig festgelegt. In den ersten Kabinettssitzungen wurden deshalb Zuständigkeitsfragen geregelt. Als Ergebnis dieser Verhandlungen fällt nun neben dem Gesundheitswesen auch das Sozialwesen mit den Bereichen Frauen, Familie, Jugend und Sport in meinen Verantwortungsbereich sowie die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die Arbeitssicherheit, das Aussiedler- und Asylwesen, die Lebensmittelüberwachung und das Veterinärwesen. Abgesehen vom Bereich des Gesundheitswesens waren mir die anderen Gebiete bis dahin weitgehend fremd. Ich mußte mich also in diese Themenkreise völlig neu einarbeiten. Die Leihbeamten aus Wiesbaden und aus Rheinland-Pfalz haben mich hierbei unterstützt.
I. Abwicklung
Ein Thema, das mir in den ersten sechs Wochen bis Weihnachten erhebliches Kopfzerbrechen bereitet hatte, war die sogenannte "Abwicklung". "Abwicklung" bedeutet Überführung der bisher staatlich geleiteten Einrichtungen in neue Trägerschatten, die kommunal, gemeinnützig oder privat sein können. Nach dem Einigungsvertrag war ich zu dieser Abwicklung verpflichtet. Die Auflösung der Polikliniken ging dabei sehr viel schneller voran als erwartet. Mehr als 50 % aller Ärzte sind in die freie Niederlassung gegangen, indem sie in den Räumen der Kliniken selbständig praktizieren. Allerdings ist für die Ausbildungsassistenten bis heute noch nicht genügend gesorgt. Sie verloren z. T. ihre Ausbildungsstelle an den Polikliniken mit deren Auflösung. Inzwischen aber haben sowohl Rheinland-Pfalz als auch Bayern zugesagt, jeweils einige Ausbildungsassi-
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stenten bei sich aufzunehmen, damit den jungen Ärzten die Möglichkeit gegeben wird, ihre Ausbildung zu beenden. Danach können sie sich niederlassen. In manchen Fällen trägt das Land Thüringen weiterhin die Verantwortung, gerade wenn es um die Überführung von großen Kliniken geht, für die es eine Vielzahl von Bewerbern gibt. Die Klinik von Bad Berka ist ein Beispiel dafür. Mehr als 1 000 Mitarbeiter sind von der richtigen Auswahl unter den Interessenten betroffen. In zahlreichen Gesprächen konnte ich feststellen, daß hinter so manchem Bewerber, der auf den ersten Blick durchaus solide schien, ein Blender war und nicht die geringste Erfahrung beim Aufbau oder einer Umstrukturierung eines Krankenhauskomplexes mitbrachte. Hier galt es also besonders vorsichtig zu sein. Inzwischen laufen konstruktive und gezielte Verhandlungen eines bestimmten Unternehmens mit der Klinikleitung von Bad Berka, den Krankenkassen, der Kommune und dem Ministerium. Ein Kabinettsbeschluß gibt hierbei den nötigen Rükkenwind. Abwicklung bedeutete in anderen Fällen, in denen eine uneingeschränkte Weiterführung wie bisher nicht möglich war, Personalabbau und Kurzarbeit Null für viele Mitarbeiter. Ziel dieser Maßnahme war es, für die verschiedenen Einrichtungen leichter neue Träger zu finden, auch wenn diese Einrichtungen weniger interessant zu sein schienen. Nicht verschweigen will ich an dieser Stelle, daß manche Einrichtungen auch geschlossen werden mußten. Eine Fortführung war in diesen Fällen unter keinem Gesichtspunkt tragbar. Hier zeigte sich die Fehlorganisation des Sozialismus besonders deutlich. Insgesamt ist festzustellen, daß das Interesse westlicher Investoren und zum Teil auch alter Träger, wie z. B. der Landesversicherungsanstalt, an Kureinrichtungen in Thüringen groß ist. Die Chancen, hier neue Kliniken zu eröffnen, sind viel besser als in den alten Bundesländern. Die BfA rechnet in den neuen Bundesländern mit einem Gesamtbedarf von mindestens 12 000 Reha-Betten. Im Augenblick sind etwa 6 000 bis 7 000 Betten unter Vertrag genommen. Entsprechend der Nachfrage wird die BfA, die in Erfurt, Suhl und Gera Außenstellen unterhält, sofort die Verträge erweitern. Als Problem bei den Kureinrichtungen zeigte sich, daß viele Häuser mit weniger als 100 Betten viel zu klein sind. Dies ermöglicht keine wirtschaftliche Klinikführung. Die Rentenversicherungsträger beispielsweise drängen deshalb auf Vergrößerung bestehender Einrichtungen. Es wird also zur Zusammenlegung von Standorten kommen müssen, bzw. bei Ausbau eines Standortes wird die Aufgabe eines anderen Standortes notwendig sein. Für Krankenhäuser und Kureinrichtungen ist inzwischen eine vorläufige Förderliste erstellt worden. Es sind 70 Krankenhäuser mit insgesamt mehr als 20 000 Betten und 9 Rehabilitationseinrichtungen mit 550 Betten sowie 30 geförderte Kureinrichtungen mit 2 600 Betten. Dafür sind rund 200 Millionen DM in den Haushaltsplan des Landes Thüringen einzustellen. Hinzu kommen Fördermittel auf Einzel-
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antrag für bereits begonnene Baumaßnahmen der Jahre 1989 und 1990, für die rund 130 Millionen DM erforderlich sind. Ob darüber hinaus für Einzelförderung weitere Mittel in größerem Umfang, wie es dringend erforderlich wäre, bereitgestellt werden können, ist offen. Ohne massive Hilfe des Bundes wird dies nicht möglich sein. Neben den Bereichen Krankenhauswesen, Polikliniken und Kureinrichtungen seien noch zwei weitere Einrichtungen genannt: Anstelle der bisherigen Bezirkshygieneinspektionen soll ein Landesmedizinaluntersuchungsamt mit Außenstellen geschaffen werden. Die Blutspendedienste der drei ehemaligen Bezirke Erfurt, Gera und Suhl werden dem Deutschen Roten Kreuz übertragen. Dies bedeutet aber keine Monopolstellung. Andere Krankenhäuser können gleichfalls Blutspendedienste einrichten. Bei allen diesen Schwierigkeiten ist doch hervorzuheben, daß die Gesundheitsversorgung in Thüringen, allen Unkenrufen und schlimmen Befürchtungen zum Trotz, nicht zusammengebrochen ist, sondern aufrechterhalten werden konnte.
II. Sozialversicherung Der Aufbau der Thüringer Sozialversicherung ging zügig voran. Inzwischen existiert die Landesversicherungsanstalt Thüringen mit Sitz in Erfurt. Die LVA Thüringen ist zuständig für 650 000 Versicherte und 340 000 Rentner. Sie verwaltet ein Haushaltsvolumen von rund 2,5 Milliarden DM. Davon entfallen 2 Milliarden DM auf Ausgaben für Rentenleistungen. 57 Millionen DM sind für Maßnahmen der Rehabilitation eingeplant und auf 50 Mio. DM belaufen sich die Verwaltungskosten, bei geplanten 962 Beschäftigten in der "Endausbauphase". Eine Innungskrankenkasse besteht für den Bereich West-Thüringen. Sechs Betriebskrankenkassen haben ihre Arbeit aufgenommen bzw. sie sind in Gründung. Auch die Betriebskrankenkassen werden mehrere tausend Versicherte haben und auch eine größere Zahl von sicheren Arbeitsplätzen bieten. Darüber hinaus ist ein Landesverband der Betriebskrankenkassen in Gründung. Schließlich ist noch die Gründung eines Thüringer Gemeindeunfallversicherungsverbandes als gesetzlicher Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand zu nennen. Alle Versicherungsträger haben ein flächendeckendes Netz von Geschäftsstellen eingerichtet.
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111. Versorgungsverwaltung Unter tatkräftiger Mithilfe hessischer und rheinland-pfälzischer Beamter ist es gelungen, unter teilweise widrigen Umständen eine funktionstüchtige Versorgungsverwaltung zu errichten. Die Ämter für Soziales und Familie in Erfurt, Gera und Suhl sind zur Zeit mit mehr als 200 Beschäftigten besetzt. Wir gehen davon aus, daß sich die Anzahl der Mitarbeiter bis zum Jahresende verdoppeln wird, um die gesetzlichen Aufgaben der Kriegsopferversorgung, des Schwerbehindertengesetzes, des Bundeserziehungsgeldgesetzes und des Heimgesetzes erfüllen zu können. Die Ämter sehen sich- verständlicherweise - mit einer Antragsflut konfrontiert. So liegen beispielsweise rund 36 000 Anträge nach dem Bundesversorgungsgesetz und 18 000 Anträge nach dem Schwerbehindertengesetz vor. Die Thüringer Versorgungsverwaltung gehört jedoch zu den wenigen in den neuen Bundesländern, die bereits Bescheide nach dem Bundesversorgungsgesetz erlassen und die Zahlung von Kriegsopferrenten - in überwiegender Zahl Witwenrenten - aufgenommen hat. Um den Behinderten, die im Besitz des bisherigen Schwerbeschädigtenausweises III und IV sind, wenigstens für eine Übergangszeit eine vergünstigte Regelung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu ermöglichen, hat die Thüringer Landesregierung auf Betreiben meines Hauses im Bundesrat die Initiative ergriffen und eine Gesetzesänderung bei der diesjährigen KOV-Anpassungsnovelle mit Mehrheit im Bundesrat angeregt. Demnach würde es bis 31. Dezember 1991 möglich sein, daß Schwerbehinderte der Stufe III und IV auch ohne das für Gehbehinderte notwendige "G" in Schwerbehindertenausweisen vergünstigt die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen können. Die Versorgungsverwaltung könnte somit ohne Zeitdruck bis Ende des Jahres prüfen, ob ein berechtigtes Anliegen bei dem einzelnen Schwerbehinderten auf Anerkennung einer Gehbehinderung vorliegt.
IV. Sozialstationen Das Land Thüringen unterstützt zur Verbesserung der Situation des ambulanten gesundheits- und sozialpflegerischen Dienstes ein bedarfsgerechtes Angebot an Sozialstationen. Gegenwärtig befindet sich eine Verwaltungsvorschrift in der Abstimmung mit der Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und den kommunalen Spitzenverbänden in Thüringen im Entwurf. Eine weitere Abstimmung ist mit dem Finanzminister, dem Innenminister und Justizminister erforderlich. Der Entwurf der Verwaltungsvorschrift geht von einem Festbetragsfinanzierungssystem aus, das einen besonders geringen Verwaltungsaufwand nach sich zieht. Die Festbeträge
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orientieren sich an den Personalkosten der Pflegefachberufe und sind zur Abdekkung der Betriebskosten gedacht, soweit diese nicht durch Einnahmen abgedeckt sind. Ich gehe davon aus, daß es im Land Thüringen etwa 80 bis 100 Sozialstationen geben wird. In diesen Sozialstationen werden jeweils 5 bis 12 Pflegefachkräfte und sonstige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beschäftigt sein. Ein günstiger Aspekt beim Aufbau der Sozialstationen ist die geringe finanzielle Belastung des Landes Thüringen in den Jahren 1991 und 1992. Ca. 80 % der Beschäftigten in den Sozialstationen werden als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bis zu 100 % von der Arbeitsverwaltung finanziert.
V. Kinderkrippen
Während die Kindergärten in die Zuständigkeit des Kultusministerium fallen, sind die Kinderkrippen dem Sozialministerium zugeordnet. Nach intensiven Verhandlungen mit dem Bundesfinanzminister konnten die Vertreter aller neuen Bundesländer jetzt erreichen, daß für den Zeitraum der ersten 6 Monate des Jahres 1991 der Bund sich an den Kosten der Kindertagesstätten mit 30 % beteiligt. Die Landesregierung ist sich bewußt, daß allein mit dem 30%igen Bundesanteil die Finanzierung der Kindertagesstätten nicht gesichert werden kann. Wir bemühen uns deshalb um zusätzliche Landesmittel, um die Kommunen entsprechend entlasten zu können. Allerdings müssen sich nunmehr auch die Eltern, die Plätze im Bereich der Kindertagesstätten in Anspruch nehmen, angemessen an den Kosten beteiligen. Diese Kostenbeteiligung wird bei etwa 100 DM liegen. Diesen Betrag können die Eltern aus dem Kindergeld für das erste Kind und den Zuschlag für Geringverdienende leisten. Sollten Eltern aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht in der Lage sein, diesen Eigenanteil zu tragen, dann besteht für die Eltern die Möglichkeit, Hilfe im Rahmen der Jugendhilfe zu beanspruchen.
VI. Alten- und Behinderteneinrichtungen
Die Sicherung der Alten- und Behinderteneinrichtungen hat einen hohen Stellenwert. Bereits Ende Dezember des letzten Jahres wurden für alle Altenpflegeheime landesweit Pflegesätze festgesetzt, die so bemessen sind, daß ein wirtschaftlich geführtes Altenpflegeheim in der Lage ist, die damit verbundenen Kosten zu decken. In den Monaten Januar und Februar mußten sich die Rentner mit 395 DM an den Kosten der stationären Versorgung beteiligen. Seit dem 1. März dieses Jahres wird das gesamte Sozialhilferecht angewandt, mit der Folge, daß jeder Heimbewohner
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im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit sich an den Kosten beteiligt. Auch dann hat jeder Heimbewohner einen Barbetrag von 120 bis 180 DM zur persönlichen Verfügung. Ebenso werden für den Bereich der Werkstätten für Behinderte und für den Bereich der Behinderteneinrichtungen pauschale Tagessätze und Pflegesätze festgesetzt, die sich an dem besonderen Bedarf dieser Einrichtungen orientieren.
VII. Aussiedler und Asylbewerber Im Rahmen der Sozialverwaltung fällt auch der Bereich Aussiedler und Asylbewerber in mein Ressort. Thüringen darf für sich in Anspruch nehmen, als erstes der neuen Bundesländer sowohl für Aussiedler als auch für Asylbewerber eine zentrale Aufnahmestelle geschaffen zu haben und auch mehrere Gemeinschaftsunterkünfte vorzuhalten. Dies war möglich, weil Thüringen von vielen Seiten, besonders aber auch durch das Bundesamt in Zirndorf sowie das Bundesministerium des Inneren unterstützt worden ist. Nach dem Einigungsvertrag sind die neuen Bundesländer verpflichtet, etwa 20% der Aussiedler und Asylbewerber aufzunehmen. Das sind für Thüringen etwa 12 000 Aussiedler und etwa 6 000 Asylbewerber. Zunächst bestanden erhebliche Schwierigkeiten, Unterkünfte für die jeweiligen Personenkreise einzurichten. Es fehlte an geeigneten Objekten und es mußten viele Vorbehalte in der Bevölkerung abgebaut werden. Durch intensive Gesprächskontakte und den Austausch von vielen sachlichen Argumenten konnte ein günstigeres Klima geschaffen werden. Den Aussiedlern steht seit Ende des letzten Jahres die Landesaufnahmestelle Eisenberg I Saasa zur Verfügung. Von dort werden Aussiedler in Übergangswohnheime weiterverteilt Insgesamt gibt es Unterbringungsmöglichkeiten für ca. 300 Personen. Weitere Objekte sollen hinzukommen, damit auch weiterhin eine menschenwürdige Unterbringung im Lande Thüringen gesichert ist. Asylbewerber werden in der zentralen Aufnahmestelle Tambach-Dietharz registriert und dabei unterstützt, die für das Asylverfahren notwendigen Erklärungen und Maßnahmen durchzuführen.
VIII. Arbeitsmarktpolitik Die Ergebnisse einer 40jährigen sozialistischen Kommandowirtschaft, mit all ihren offensichtlichen Schwächen und Fehlplanungen, machen eine ausgesprochen tiefgreifende Umstrukturierung der Wirtschaft erforderlich.
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Eine Umstrukturierung, von der eigentlich kein Wirtschaftszweig auszunehmen ist und die überall die gleichen Anforderungen stellt. Umwandlung von Teilen des ehemaligen Gesamtplanes in eigenverantwortliche Wirtschaftseinheiten, in betriebswirtschaftlich geführte ergebnisorientiert handelnde Unternehmen. Gegenwärtig befinden wir uns mitten in diesem notwendigen Umstrukturierungsprozeß, und die ebenfalls unvermeidbaren Begleiterscheinungen sind uns nur allzu deutlich vor Augen. Viele der friiher produzierten Güter finden keine Abnehmer mehr, weil sie nach modernen Maßstäben nicht wettbewerbsfähig sind und weil traditionelle Abnehmerländer in Osteuropa ausfallen. Selbst wenn die Produktion den jetzt geltenden Weltmaßstäben genügt, wird sie allzu oft nur unter übermäßig hohem Mitteleinsatz, vor allem auch zu hohem Arbeitseinsatz zustande gebracht. Die Folgen sind in der Tendenz gleich: Es muß modernisiert, es muß rationalisiert werden und das, wie gesagt, in nahezu allen Wirtschaftszweigen und fast zur gleichen Zeit. Ergebnisse sind die beschäftigungspolitischen Katastrophenmeldungen der letzten Zeit: Stillegungen, Schließungen von Betriebsteilen, Umwandlungen, Übernahmen durch westliche Unternehmen - jeweils verbunden mit der Nachricht, daß mehrere hundert oder tausend Arbeitskräfte in Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit entlassen werden müssen. Das Ganze summiert sich. Es gibt in Thüringen inzwischen 787 000 Arbeitslose und 1,9 Millionen Kurzarbeiter im Februar dieses Jahres. Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen im Monat Februar ist noch relativ zuriickhaltend ausgefallen. Die Kündigungstermine, auslaufende Kurzarbeitszeiten und Warteschleiferegelungen stehen uns für Mitte des Jahres noch bevor. Hier ist es unser Bestreben, Lösungsmöglichkeiten zu suchen, zu benennen und Hilfen unsererseits anzubieten. Wir wissen, daß Fehlentwicklungen aus vierzig Jahren nicht in wenigen Monaten wieder gutzumachen sind. In der Überbriickung dieser zeitlichen Differenz zwischen Überwinden des Alten und Aufbau des Neuen liegt unsere eigentliche Aufgabe. Die Phase des Übergangs ist möglichst sozialverträglich auszugestalten. Das Arbeitsförderungsgesetz in Verbindung mit den zusätzlichen finanziellen Hilfen, die der Bund und auch wir als Länder zur Verfügung stellen, geben uns ein wirksames Instrumentarium in die Hand, um eine Roßkur so weit wie möglich zu vermeiden. Die Schwerpunkte liegen eindeutig bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Maßnahmen zur Fortbildung und Umschulung. Weitere Instrumente sind Verlängerung des Kurzarbeitergeldbezuges, Vereinfachung der Verwaltungsabläufe zur schnelleren Umsetzung aller Maßnahmen, der Aufbau einer pluralistischen Trägerlandschaft, die Verbesserung der Leistungen für Selbständige und Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Frauen. Ich begriiße auch ausdrucklieh die Schritte, die die Bundesregierung in dieser Hinsicht bereits eingeleitet hat. Das Ge-
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meinschaftswerk "Aufschwung Ost" kommt unseren Wünschen sehr entgegen. Die Verzahnung von Programm- und Fördermöglichkeiten beinhaltet einen zusätzlichen Wunsch für alle neuen Bundesländer: Ich meine die Förderung durch die Europäischen Strukturfonds. Ebenfalls von großer Bedeutung ist der weitere forcierte Aufbau der Arbeitsverwaltung, vor allem auch der Landesarbeitsämter. Natürlich haben wir in den neuen Bundesländern und damit freilich auch in Thüringen die erklärte Absicht, mit eigenen Anstrengungen und eigenen Programmen den Sonderproblemen unseres Arbeitsmarktes zu Leibe zu rücken. Erfolgreich werden wir jedoch damit nur dann sein, wenn wir auf die tatkräftige Unterstützung durch die Arbeitsverwaltung rechnen können. Ein weiterer Punkt, der gerade in den letzten Wochen virulent geworden ist, ist folgender: Es gibt eine Reihe von Personen, die in der ehemaligen DDR politisch mißliebig waren und die neben anderen Verfolgungen auch den Verlust des Arbeitsplatzes zu erleiden hatten - zum Teil sogar recht lange ohne Beschäftigung waren. Sie müssen heute in vielen Fällen feststellen, daß ihnen nun auch die Förderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz versagt bleibt; einfach weil ihnen aufgrund ihrer politischen Vergangenheit die notwendigen Beschäftigungszeiten fehlen. Sie fallen nahezu durch alle Maschen des AfG-Netzes. Dieser Personenkreis soll nicht unberücksichtigt bleiben bei unseren arbeitsmarktpolitischen Bemühungen. Spezielle arbeitsmarktpolitische Maßnahmen der Landesregierung sind beispielsweise die Errichtung des Berufsförderungswerkes Thüringen in Seelingstädt bei Gera, die Förderung von Arbeitsloseninitiativen unter Beteiligung von Kirchen und Gewerkschaften sowie zahlreiche Landesprogramme für Berufsanfänger, ältere Arbeitnehmer, arbeitslose Sozialhilfeempfänger, arbeitslose Frauen und ausländische Arbeitnehmer.
IX. Allgemeine Schwierigkeiten Beim Aufbau der Thüringer Sozialverwaltung hatten wir uns mit dem ganz spezifischen Problem der Altlasten auseinanderzusetzen. In regelmäßigen Abständen erreichten uns Briefe, Anfragen und anonyme Schreiben, in denen unsere Glaubwürdigkeit angezweifelt wurde, insoweit, als moniert wurde, daß immer noch die Mitarbeiter aus der SED-Zeit im Amt waren. Es war ein schwieriges Unterfangen, über die Zukunft der verbliebenen Führungskräfte, also Abteilungsleiter und Referatsleiter, die bereits vor der Wende hier tätig waren, zu entscheiden und dies in einem Untersuchungsausschuß des Landtages zu vertreten. Wir stellen uns dieser Aufgabe. Mit jedem einzelnen Mitarbeiter der früheren Verwaltung werden Gespräche geführt. In vielen Fällen mußten wir erkennen, daß ein Mitarbeiter, der zwar fachlich qualifiziert und anerkannt
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war, als alter SED-Parteigenosse für ein demokratisches Rechtssystem nicht mehr tragbar war. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der Bewältigung unserer eigenen Vergangenheit werden wir noch eine ganze Zeitlang beschäftigt sein. Bei aller Unsicherheit in der Bevölkerung, Zukunftsangst und auch einer gewissen Unselbständigkeit im Denken -bisher hatte ja der Staat für alle gleichermaßen gesorgt - liegt der Weg und unser Ziel klar vor uns: Persönliche Freiheit und soziale Sicherheit vermitteln das Gefühl menschlicher Geborgenheit. Das leistungsfähige soziale Sicherungssystem der alten Bundesrepublik, das in vielen Jahren gewachsen ist, soll auch für die Bürger der neuen Bundesländer Ansporn sein, die nunmehr vor uns liegende schwierige Zeit der Umstrukturierung durchzusetzen. Die Thüringer Landesregierung hat den festen Entschluß, das Mögliche zu tun, das Unmögliche zu versuchen, um auch die Bürger der neuen Bundesländer von diesem Sozialsystem zu überzeugen, ihnen Hilfestellungen zu geben und so zu einer Angleichung der beiden Teile Deutschlands in materieller und sozialer Hinsicht beizutragen. Gerade in den vor uns liegenden schwierigen Monaten wird sich das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland bewähren. Der Aufbau des geeinten "Sozialstaates Bundesrepublik Deutschland" muß, ja, ich bin sicher, wird gelingen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Soziale Sicherung in den neuen Bundesländern 2. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 9./10. März 1992
Der sozialrechtliche Rechtsschutz Von Prof. Dr. Heinrich Reiter Präsident des Bundessozialgerichts, Kassel
Für Ihre freundliche Einladung zu einem Referat beim 2. Speyerer Sozialrechtsgespräch, das sich den Problemen der sozialen Sicherung in den neuen Bundesländern im wesentlichen widmet, danke ich Ihnen verbindlich. Ich bin gerne Ihrer Einladung gefolgt und nach Speyer gekommen, weil Ihre Initiative zur Durchführung solcher Veranstaltungen als eine willkommene und notwendige Bereicherung unserer sozialrechtlichen Diskussion außerordentlich zu begrüßen ist. Ich hoffe und wünsche, daß nach dem erfolgreichen 1. Speyerer Sozialrechtsgespräch auch diesem wieder großes Interesse entgegengebracht wird und weitere derartige Veranstaltungen folgen mögen. Das glückliche Zusammenfinden einer Hochschule, der Hochschule für Verwaltungswissenschaften, mit einem Rentenversicherungsträger, der LVA Rheinland-Pfalz, schafft hervorragende Voraussetzungen für ihre wissenschaftliche und organisatorische Durchführung. Es sei unumwunden zugegeben, daß das Sozialrecht nach wie vor im Bereich der wissenschaftlichen Durchdringung und Diskussion einen beachtlichen Nachholbedarf aufweist. Zwar haben wir in den letzten Jahren viel hinsichtlich der Durchführung von akademischen Lehrveranstaltungen an den Hochschulen im Sozialrecht erreichen können - quasi das Sozialrecht an den Juristischen Fakultäten "hoffähig" machen können -; im Hinblick auf die finanzielle Bedeutung des Sozialrechts - rund 11 000,- DM gaben wir im Jahre 1990 pro Kopf der Wohnbevölkerung, insgesamt 1/3 unseres Sozialprodukts für den Gesamtbereich der sozialen Sicherheit aus - und im Hinblick auf die Tatsache, daß über 90 % der Bevölkerung vom Sozialrecht unmittelbar erfaßt werden, bleibt aber auch in Zukunft noch viel im Rahmen der juristischen Ausbildung und wissenschaftlichen Bearbeitung zu tun. Als wertvolle Bausteine in diesem Bemühen um den weiteren Ausbau der Sozialrechtswissenschaft betrachte ich die Durchführung solcher Tagungen wie Ihr Speyerer Sozialrechtsgespräch. Ich kann Sie nur ermuntern, diese auch in Zukunft fortzusetzen. Nun zu meinem Thema: "Der sozialrechtliche Rechtsschutz". Mein Referat gliedert sich in zwei Teile, nämlich einmal Ausführungen zum Rechtsschutz im Sozialrecht ganz allgemein, im zweiten Teil werde ich entsprechend Ihrem generellen Tagungsthema spezielle Probleme und den Stand des Aufbaus eines sozialrechtlichen Rechtsschutzes in den fünf neuen Bundesländern darlegen. 5 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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Ausgangspunkt für Überlegungen zum sozialrechtlichen Rechtsschutz im allgemeinen muß wie immer unsere Verfassung sein. Das Grundgesetz bezeichnet in Art. 20 Abs. l die Bundesrepublik Deutschland als "sozialen Bundesstaat", und nach Art. 28 Abs. l Satz 1 Grundgesetz muß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des ... u. a. "sozialen Rechtsstaates" entsprechen. Art. 20 Grundgesetz hat nach Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz quasi "Ewigkeitscharakter", ist also unantastbar und auch der Dispositionsbefugnis des Verfassungsgebers entzogen. Während der Begriff des Rechtsstaates schon in früheren Verfassungen als Folge schlechter Erfahrungen zu finden ist, ist das Sozialstaatsgebot erst in den Verfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg verankert. Zuerst finden wir es in Länderverfassungen (z. B. in der Bayerischen Verfassung vom 2. 12. 1946, Art. 3: "Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat"). Das Bonner Grundgesetz hat den Begriff des Sozialstaates expressis verbis wie eben geschildert aufgenommen. Den Begriff des Sozialstaates inhaltlich festzulegen, war eine neue Aufgabe, welche der Grundgesetzgeber vornehmlich der Politik, aber auch den Gerichten und der Verwaltung auferlegt hatte. Die großen Auslegungsschwierigkeiten sind bis jetzt nicht überwunden. Gleichwohl steht soviel fest, daß die "Sozialstaatsklausel eine alle Staatsgewalten verpflichtende Staatsleitlinie mit normativer Verbindlichkeit darstellt", wie es Herzog in seinem Kommentar bei Maunz I Dürig ausdrückt. Das Sozialstaatsprinzip ist keineswegs ein statisches, sondern ein in höchstem Maße dynamisches Prinzip, das darin besteht, den äußerst wechselvollen, jeweils aktuellen sozialen Problemen entsprechend zu begegnen. Zu Recht bezeichnet deshalb Scholz das "Sozialstaatsprinzip als permanenten Konkretisierungsauftrag". Das Sozialstaatsgebot verwirklicht sich einmal im materiellen Sozialrecht, das in der Hauptsache der Gesetzgeber auf der Ebene des Bundes oder, in der Praxis weniger bedeutsam, der Länder beschließt. Materielles Sozialrecht kann aber auch auf dem autonomen Recht der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung beruhen. Der Sozialstaat, besser in diesem Zusammenhang der soziale Rechtsstaat, verwirklicht sich aber nicht nur im materiellen Sozialrecht, sondern auch im Rechtsschutz durch unabhängige Sozialgerichte bzw. in einigen Bereichen die allgemeinen Verwaltungsgerichte. Ursprünglich war eine Art Rechtsschutz seit Einführung der Sozialversicherung in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zunächst Schiedsgerichten und später dann durch die RVO von 1911 staatlichen Verwaltungsbehörden übertragen. Höchste rechtsprechende Instanz war bis 1954 das 1884 errichtete Reichsversicherungsamt, das aber zugleich oberste Verwaltungsbehörde war. Der vom Grundgesetz streng befolgte Grundsatz der Gewaltenteilung bedeutete für den Bereich des Sozialrechts die Abkehr von diesem früheren Modell der Verklammerung von rechtsprechender und verwaltender Tätigkeit. Entsprechend dem Auftrag des Grundgesetzes wurde
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mit dem am 1. 1. 1954 in Kraft getretenen Sozialgerichtsgesetz die Sozialgerichtsbarkeit ins Leben gerufen. Sie wird seit dieser Zeit durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte, besondere Verwaltungsgerichte ausgeübt. Selbstverständlich gelten für die Richter der Sozialgerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten die gleichen Regelungen wie für alle anderen Gerichte auch. Trotzdem gilt es für diesen verhältnismäßig doch noch jungen Zweig unserer Judikatur spezielle Gesichtspunkte aufzuzeigen, welche die Aufgabe der Sozialgerichtsbarkeit im sozialen Rechtsstaat besonders kennzeichnen: 1. Zunächst muß ein manchmal feststellbarer Irrtum korrigiert werden, daß sich aus dem Wort "sozial", das in unserer Gerichtsbarkeit enthalten ist, keine besondere soziale Verpflichtung für die Rechtsprechung herleiten läßt. Einen Grundsatz "in dubio pro petitore", also eine Klausel, in Zweifelsfällen zugunsten des Versicherten zu entscheiden, gibt es nicht. Dies muß schon aus dem einfachen Grunde ausscheiden, weil es eine dem Sozialrecht nicht angemessene, zu schematische Auslegung des Gesetzes zur Folge haben würde. Es bleibt also festzuhalten, daß die Sozialgerichte, wie auch alle anderen Gerichte, an die üblichen Regeln der Gesetzesanwendung, -auslegung und -fortbildung gebunden sind. 2. Die materielle Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips obliegt in erster Linie, wie oben ausgeführt, der Gesetzgebung. Die gesetzliche Regelung sozialer Problemstellungen, also einer Vielfalt von Lebensverhältnissen, einer Pluralität an Erscheinungsformen, wie sie von vornherein gar nicht vorhersehbar und vorstellbar sind, die sich gerade im sozialen Bereich aber immer wieder ergeben und ergeben können, verlangt häufig eine Generalisierung und Typisierung in Form allgemeiner Vorschriften (insbesondere allgemeiner Rechtsbegriffe). Oft bewußt oder unbewußt werden vom Gesetzgeber Spielräume und Freiräume bestimmt und gelassen (Blüm nennt sie "Luftlöcher, durch die ein Gesetz atmen kann"), die der Rechtsprechung zur Auslegung und Fortentwicklung überlassen bleiben. Viele enorm grundlegende Begriffe des Sozialversicherungsrechts, wie z. B. der Krankheit, des Arbeitsunfalls, der Berufs- und Erwerbsunfahigkeit, die im Gesetz nur allgemein umschrieben sind, haben ihren eigentlichen Inhalt und ihre Ausprägung erst durch die meist höchstrichterliche Rechtsprechung erhalten. Besonders schwierig wird die Auslegung dann von unbestimmten Rechtsbegriffen, wie besondere Härtefälle, Zumutbarkeit, Bedürftigkeit, wichtiger Grund, angemessene Höhe, die in unseren Gesetzestexten keine Seltenheit sind. Ich will hier nicht auf die vielschichtige Problematik der Judikatur als Rechtsquelle, also das Problem des Richterrechts näher eingehen. An eigenständigem Denken und Selbstbewußtsein in Form der Interpretationsfreiheit hat es auch bei der Sozialverwaltung nie gefehlt. So betrachten es die Sozialversicherungsträger als ihr legitimes selbstverständliches Recht, z. B. Urteile des Bundessozialgerichts dahin zu priifen, ob sie ihnen in der Praxis "folgen" oder "nicht folgen" können und wollen. Also es gibt nicht schlechthin ein "Kassel locuta, caus•
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sa finita". Abgesehen von § 48 Abs. 2 SGB X kann natürlich die Verwaltung die Rechtsprechung nicht einfach ignorieren, die Sozialgerichtsbarkeit kann die heutigen Strukturen der Sozialverwaltung als moderne Massendienstleistungsunternehmen nicht einfach unberücksichtigt lassen. Dieses vielschichtige Geflecht der Interdependenzen zwischen sozialrechtlicher Judikatur und Verwaltung läßt sich vielleicht wie folgt zusammenfassen: Selbstverständlich bindet zunächst einmal die rechtskräftige sozialgerichtliche Entscheidung die am Verfahren Beteiligten, also auch damit die beteiligten Sozialverwaltungen im Einzelfall. Diese Bindungswirkung "inter partes" ist in § 141 SGG ausdrücklich geregelt. Über den konkreten Rechtsstreit hinaus haben die von der Rechtsprechung aufgestellten und geprägten Grundsätze aber natürlich große Bedeutung und Wirkung. Es entsteht zwar keine im echten Sinne normative und deshalb unüberwindliche Bindung an solche Präjudizien. Die Entscheidungen z. B. des Bundessozialgerichts dienen aber als Maßstäbe und wirken auf Verwaltungspraxis und Rechtsprechung der Instanzgerichte ein. Die Beachtung dieser Präjudizien hat deshalb auch in gewisser Weise eine befriedigende Wirkung, weil damit die Kontinuität der Rechtsanwendung und -auslegung gewahrt wird und gewahrt bleibt. Vielfach erweist sich die Rechtsprechung erst als Erkenntnisquelle für das Handeln der Verwaltung, die im Regelfall für jede klärende richterliche Grundsatzentscheidung dankbar ist, weil sie den meist für alle Beteiligten unerfreulichen Zustand der Rechtsunsicherheit beendet. Dabei sind wir hinsichtlich der Auswirkungen unserer Entscheidungen auf die Verwaltung durchaus bereit, uns sehr wohl die Frage zu stellen, wie wird sich wohl diese oder jene Entscheidung in der Praxis auswirken? Wird die Verwaltung damit "leben" können? Zu den Überlegungen über die ratio legis werdenuns quasi oft selbst in ein vor allem juristisches Dilemma stürzend - solche zur ratio administrationis, um bei diesem lateinischen Sprachgebrauch zu bleiben, angestellt. Auch die Rechtsprechung muß die verwaltungsökonomische Auswirkung bedenken und ggf. berücksichtigen und kann und darf nicht im "Wolkenkuckucksheim" völlig praxisfremd judizieren. Dabei muß die sozialgerichtliche Rechtsprechung die in zunehmendem Maße notwendige Rationalisierung und Automatisierung in den Verwaltungen der Sozialversicherungsträger bei ihren Entscheidungen angemessen mitwürdigen, will man das Verhältnis von Judikatur und Verwaltung nicht zu einer Dauerzerreißprobe werden lassen. Dabei sehe ich nicht die Gefahr, daß es letztlich zu einer "automationsgerechten" und automationsbezogenen Rechtsprechung kommen wird. Wir akzeptieren die Notwendigkeit, Massenentscheidungen möglichst einfach und praktikabel zu gestalten. Ungeachtet dieser grundsätzlichen Zulässigkeit einer in dieser Weise rationalisierten Verwaltungsarbeit mag sich bei fortschreitender Einführung der elektronischen Datenverarbeitung vielleicht sogar in Zukunft eine verstärkte Kontrollfunktion der sozialrechtlichen
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Judikatur gegenüber der Verwaltung ergeben. Die Rechtsprechung wird also nicht losgelöst von der Realität der modernen Massenverwaltung judizieren können. Dabei nutzt sicher der fachliche Dialog zwischen Rechtsprechung und Verwaltung beiden Seiten, gerechte Lösungen in einem Rechtsgebiet zu finden, das sich zunehmend verkompliziert. 3. Im Sozialrecht ist als Besonderheit zusätzlich zu beachten, daß der Gesetzgeber mit dem Sozialgesetzbuch X, also den Verfahrensvorschriften, eine außergewöhnliche Bindungswirkung einer gefestigten Rechtsprechung manifestiert hat. Nach § 48 Abs. 2 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlaß des Verwaltungsakts und sich dies zugunsten des Berechtigten auswirkt. Damit hat der Gesetzgeber im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren klargestellt, daß eine Änderung der Rechtsprechung eine Änderung der "rechtlichen Verhältnisse" i. S. des § 48 Abs. l SGB X darstellt. Allerdings kann der Verwaltungsakt nur zugunsten des Versicherten und grundsätzlich nur für die Zukunft der neuen Rechtsprechung angepaßt werden. Hier haben wir also einen ganz konkreten Fall, wo die Judikatur unmittelbar in eine Bindungswirkung für den Verwaltungshereich einmündet. 4. In jüngster Zeit ergeben sich hinsichtlich der Bedeutung der sozialrechtlichen Rechtsprechung völlig neue Gesichtspunkte dahingehend, daß die Rechtsprechung die Politik, also den Gesetzgeber, zum Handeln zwingt. Dies gab es zwar schon immer, wenn der Gesetzgeber die Rechtsprechung, insbesondere die höchstrichterliche, korrigieren wollte. Dafür gibt es aber jetzt auf EG-Ebene völlig neue Erscheinungsformen. Dabei denke ich an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof vom 23. April 1991, mit dem der EuGH das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit jedenfalls im Führungskräftebereich als mit dem EWG-Vertrag nicht vereinbar erklärt hat. Dabei hat der EuGH in seiner Kernaussage festgestellt, daß die Vermittlung von Führungskräften eine wirtschaftliche Tatigkeit sei und damit in vollem Umfang den Regeln des Wettbewerbs unterliege. Dieses Urteil hat zwar zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf unser innerstaatliches Recht, allerdings ist nach Art. 171 EWGVertrag die Bundesrepublik verpflichtet, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus diesem Urteil ergeben, also hinsichtlich des Vermittlungsmonopols für Führungskräfte Neuregelungen unter Wettbewerbsgesichtspunkten zu treffen. Im BMA wird deshalb zur Zeit u. a. gepriift, inwieweit das AFG hinsichtlich der Vermittlung von Führungskräften zu ändern ist. Dazu wird um so mehr Veranlassung bestehen, als auch der BGH seine bisherige Rechtsprechung zu den zivilrechtliehen Auswirkungen des Vermittlungsmonopols jedenfalls teilweise aufgegeben und dariiber hinaus zumindest in Frage gestellt hat. Mit einem Vorlagebeschluß des 4. Zivilsenats des BGH vom 25. September 1991 an das Bundesverfassungsgericht nach Art. IOO Grundgesetz
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kam der BGH erstmals zu der Überzeugung, daß das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit, soweit es auch die Vermittlung von Führungskräften der Wirtschaft umfaßt, gegen das Grundrecht auf freie Berufswahl gemäß Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz verstoße und damit verfassungswidrig sei. Seit der bekannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1967, mit dem das Vermittlungsmonopol für verfassungsmäßig erklärt wurde, hätten sich die Verhältnisse erheblich geändert und deshalb sei die erneute Vorlage gerechtfertigt. Es bleibt abzuwarten, wie und in welcher Weise die Politik auf diese Entscheidungen der Gerichte reagieren wird. 5. Lassen Sie mich schließlich noch auf einen nur aus der historischen Entwicklung überhaupt erklärbaren Tatbestand im sozialrechtlichen Rechtsschutz hinweisen, nämlich die Aufsplittung des Rechtsweges: Bekanntlich sind neben der Sozialgerichtsbarkeit auch die allgemeinen Verwaltungsgerichte für bestimmte Bereiche des Sozialrechts, wie insbesondere die Sozialhilfe, zuständig. Diese Trennung ist auf die Dauer keine rechts- und sozialpolitisch vernünftige Lösung. Lassen Sie mich dies mit ein paar Sätzen kurz begründen: Im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts überläßt das Bundessozialgericht der Verwaltung bei der Auslegung vor allem unbestimmter Rechtsbegriffe, wie oben schon erwähnt, z. B. "angemessene Höhe", einen größeren und eigenen Beurteilungsspielraum (z. B. BSGE 55, 245 ff.). Hinzu kommen viele Akzente richterlicher Rechtsfortbildung, welche nur die Rechtsprechung in der Sozialgerichtsbarkeit anwendet. Das beste Beispiel ist für mich hier immer der vom Bundessozialgericht entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch. Wenn also einem Versicherten aufgrund mangelhafter oder falscher Beratung und Auskunft Nachteile hinsichtlich seiner Ansprüche entstanden sind, hat er einen Anspruch gegenüber dem Sozialleistungsträger auf Herstellung des Zustandes, der bestanden hätte, wenn der Betreuungsfehler unterblieben wäre. Dieser Anspruch wird aus den schon vom Reichsversicherungsamt entwickelten, dem Sozialrechtsverhältnis entspringenden Nebenpflichten "zur verständnisvollen Förderung" des Versicherten entnommen. Dieser sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist bisher nur im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit anerkannt. Die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit hat ihn auch nicht übernommen, soweit sie über in ihren Zuständigkeitsbereich fallende sozialrechtliche Ansprüche zu entscheiden hatte. Ich vermag aber einen einleuchtenden Grund für eine unterschiedliche Behandlung gleichgelagerter Fälle, z. B. in bezug auf Ansprüche auf Sozialhilfe einerseits (zuständig Verwaltungsgerichte) und Arbeitslosenhilfe andererseits (zuständig Sozialgerichte) nicht zu erkennen. Kaum mehr erklärbare Ungereimtheiten gibt es nach wie vor im Gesundheitswesen: Wir sind zuständig für die Rechtsstreitigkeiten mit allen Leistungserbringern in der gesetzlichen Krankenversicherung, also Ärzten, Zahnärzten, med. Bademei-
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stem usw., nur im Krankenhausbereich sind für die Krankenhausplanung und die Pflegesatzfestsetzung die Verwaltungsgerichte zuständig. Eine Änderung im Gesundheitsreformgesetz scheiterte am Widerstand der Länder. Die rechtspolitische Konsequenz daraus kann nur die Forderung sein, für einheitliche Rechtsgebiete einheitliche Zuständigkeiten richterlicher Kontrolle zu schaffen. Wir brauchen uns bei unserer Arbeitsbelastung nicht um weitere Zuständigkeiten zu bemühen; auch haben die Kollegen der Verwaltungsgerichte die ihnen zugewiesenen Sozialrechtsstreitsachen tadellos erledigt. Aber der Sachzusanunenhang aller Gebiete des Sozialrechts legt doch auch, nicht nur wegen der Begriffe Sozialrecht I Sozialgerichtsbarkeit, die einheitliche Zuständigkeit der Sozialgerichte nahe. Ein einheitliches Verwaltungsverfahrensrecht gilt mit dem SGB X schon jetzt auch für die Sozialhilfe, die Ausbildungsförderung, das Wohngeld und die Jugendhilfe, also Bereiche, die im Sozialgesetzbuch noch kodifiziert werden sollen. Es ist für mich kein Grund ersichtlich, nun für das gerichtliche Verfahren verschiedene Zuständigkeiten zu schaffen. Ich wiederhole deshalb, die Einheit des Sozialrechts gebietet auch die Einheit richterlicher Kontrolle. Lassen Sie mich nun zum zweiten Teil meiner Ausführungen, nämlich zu den Problemen beim Aufbau einer eigenständigen Sozialgerichtsbarkeit in den fünf neuen Bundesländern konunen: Es ist erklärtes Ziel deutscher Politik, gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu schaffen. Dazu gehört im Bereich des Sozialrechts in erster Linie natürlich die weitgehend realisierte Sozialunion, die sicher noch eine Fülle von Rechtsfragen aufwirft, deren Erörterung ja zum Teil diese Tagung dienen soll. Dazu gehört aber auch der nach dem Einigungsvertrag notwendige Aufbau einer eigenständigen Sozialgerichtsbarkeit erster und zweiter Instanz; als Revisionsinstanz sind ja wir, wie alle obersten Bundesgerichte auch, bereits seit lokrafttreten des Einigungsvertrages zuständig. Für das Verständnis der Entwicklung seit dem 3. Oktober 1990 in den fünf Beitrittsländern ist der Hinweis voranzuschicken, daß es praktisch in der ehemaligen DDR einen sozialrechtlichen Rechtsschutz überhaupt nicht gab. 1961 wurde der durch Arbeitsgerichte gewährte Rechtsschutz in Sozialversicherungsangelegenheiten beseitigt, 1966 auch die Klagemöglichkeit für Selbständige gegen die staatliche Versicherung. Die Betroffenen konnten sich nur an die sog. Beschwerdekommissionen, die beim FDGB auf Kreis-, Bezirks- und Bundesvorstandsebene angesiedelt waren, wenden. Diese mußte über Fragen der Rentengewährung, Krankengeld, Anerkennung von Arbeitsunfällen und dergleichen entscheiden. Für die Gewährung von Kuren, Einsprüche gegen ärztliche Behandlung, Feststellung der Arbeitsunfähigkeit oder auch die Beitragsstreitigkeiten waren andere Gremien zuständig: Kurkonunissionen, Ärzteberatungskommissionen und anderes. Selbst nach DDRVerständnis übten diese Beschwerdekommissionen keine Rechtsprechung aus. Die
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Mitglieder waren auch keine Juristen, sie waren lediglich ehrenamtlich tätig und genossen nicht einmal auf dem Papier persönliche Unabhängigkeit; sie wurden von den jeweiligen Vorständen des FDGB für die Dauer einer Wahlperiode bestimmt. Man betrachtete ihre Tätigkeit als Ausdruck der verfassungsrechtlich geregelten Befugnis zu gewerkschaftlicher Interessenvertretung, auch im Bereich der Sozialversicherung. Es fand also keine echte Rechtskontrolle der Entscheidungsträger durch unabhängige Instanzen statt, sondern eher "eine Art VerbandsSchiedsgerichtsbarkeit oder eine Art Widerspruchsverfahren über drei Instanzen mit klaren ideologischen und staatspolitischen Vorgaben", wie es die Präsidentin des LSG Berlin nannte. Was allerdings stark verbreitet war, war das Eingabewesen, was wir bis heute noch spüren. Beim BSG ist bisher zwar nur eine Revision eingegangen -wann der Fall Honecker kommt, weiß ich nicht -, aber eine ganze Reihe von Eingaben. Man betrachtet teilweise die Gerichte eher als Auskunftsstellen denn als Entscheidungsinstanzen gegenüber den Sozialverwaltungen. Allerdings wurde über diese Petitionen im wesentlichen nach politischer Opportunität und nicht nach Rechtsgrundsätzen entschieden. Erst der Einigungsvertrag hat auch einen vollen sozialrechtlichen Rechtsschutz in den fünf neuen Bundesländern gebracht. Mit Inkrafttreten des Einigungsvertrages gilt das Sozialgerichtsgesetz auch dort mit zwei wesentlichen Neuerungen, nämlich der Schaffung eines obligatorischen Widerspruchsverfahrens für alle sozialgerichtlichen Streitigkeiten (gilt übrigens auch auf dem Gebiet der alten Bundesländer) und die sog. Berufungszulassung, die auch Inhalt von Novellierungsbestrebungen im gesamten Geltungsbereich des SGG ist. Da es aber eine funktionierende Gerichtsbarkeit, insbesondere eine Sozialgerichtsbarkeit in den fünf Beitrittsländern nicht gab, wurde den Ländern zunächst nur aufgegeben, eine solche Gerichtsbarkeit "baldmöglichst" durch Gesetz "einzurichten", allerdings unter dem Vorbehalt "soweit hierfür unter Berücksichtigung der Bedürfnisse einer geordneten Rechtspflege jeweils die personellen und sachlichen Voraussetzungen geschaffen werden können". So Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Buchstabe t) Absatz 4 Satz I . Bis zur Errichtung einer selbständigen eigenen Sozialgerichtsbarkeit wurden bei 14 Kreisgerichten als erste Instanz und 5 Bezirksgerichten als zweite Instanz Kammern bzw. Senate für Sozialrecht eingerichtet. In Berlin haben das Sozialgericht und Landessozialgericht ihre Zuständigkeit auch auf den früheren Ostteil der Stadt erweitert. Ohne Rücksicht auf die Inhalte der Rechtsstreitigkeiten sind die einzelnen Spruchkörper auf der Seite der ehrenamtlichen Richter lediglich mit Vertretern der Versicherten und Arbeitgebern besetzt. Bezüglich der Berufsrichter gilt die gleiche Regelung wie für alle anderen Gerichtsbarkeiten auch: nämlich bis zur Entscheidung der Richterwahlausschüsse können im Amt befindliche friihere DDRRichter weitere Rechtsprechungstätigkeit ausüben.
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Dies war natürlich für den Bereich des Sozialrechts eine mehr oder minder theoretische Lösung, denn es gab ja niemanden, der auch nur annähernd diese Materie beherrschte. Für die Aufgabe der Berufsrichter in diesen Kammern bzw. Senaten für Sozialrecht mußten daher Richter aus der Sozialgerichtsbarkeit aus den alten Bundesländern gewonnen werden. Diese haben in der Zwischenzeit in wirklich anerkennenswerter Weise, unter schwierigsten äußeren Bedingungen, wertvolle Aufbauarbeit geleistet. Kaum glaubliche Umstände, daß die notwendigen Arbeitsmittel, wie Gesetzestexte, Schreibmaschinen, Kopiergeräte und dergleichen fehlten und die Büros sich in primitivstem Zustand befanden, haben die Tätigkeit dieser Damen und Herren wahrlich zu einer Pionierleistung für die Sozialgerichtsbarkeit werden lassen. Wie schon jetzt aus den schriftlich vorliegenden Urteilen ersichtlich ist, haben diese Kolleginnen und Kollegen unter diesen Umständen über äußerst problematische und meist grundsätzliche Rechtsfragen, insbesondere aus dem Einigungsvertrag zu entscheiden. Wir haben uns auf der letzten Richterwoche mit den Kolleginnen und Kollegen unterhalten können und einen Eindruck davon gewonnen, wie schwerwiegend ihre Aufgabe ist. Mit solchen persönlichen Kontakten und mit dem von uns veranlaßten und vorgenommenen Austausch aller bisher ergangenen Urteile, glaubten wir wenigstens einen kleinen Teil an Unterstützung beitragen zu können. Auf den uns zugeteilten Hospitantenstellen sitzen inzwischen auch Kolleginnen und Kollegen, darunter zwei aus den fünf Beitrittsländem, nur mit dem Abschluß dieser dort noch gültigen Diplompriifung, die auf eine Tätigkeit als Richter in der Sozialgerichtsbarkeit in den Beitrittsländern bei uns vorbereitet werden. Von der Bevölkerungszahl her werden auf weite Sicht gesehen etwa 150 bis 180 Richter in der Sozialgerichtsbarkeit dort benötigt werden. Eine für unsere jungen Juristen durchaus empfehlenswerte Aufgabe mit guten Zukunftschancen! Wie steht es nun konkret mit dem Aufbau einer selbständigen Sozialgerichtsbarkeit in den fünf Beitrittsländem? Im Lande Brandenburg hat der Landtag ein Gesetz zur Errichtung der Sozialgerichtsbarkeit im Februar dieses Jahres verabschiedet, das voraussichtlich im März 1992 verkündet wird und am Tage danach in Kraft tritt. Darin wird die Errichtung von fünf Sozialgerichten und eines Landessozialgerichts für das Land Brandenburg bestimmt. Strittig war bei diesem Gesetz nur, ob für das Land Brandenburg ein selbständiges Landessozialgericht oder gleich von vomherein ein gemeinsames Landessozialgericht Brandenburg I Berlin errichtet werden soll. Man hat sich jedenfalls für die nächste Zeit in Brandenburg für ein eigenständiges Landessozialgericht, entgegen dem Widerstand, vor allen Dingen der Arbeitgeber, entschieden. Soweit ich informiert bin, befindet sich eine eigenständige Sozialgerichtsbarkeit auch im Lande Sachsen-Anhalt bereits im Aufbau. In Mecklenburg-Vorpommem hat der Landtag am 30. 1. 1991 schon ein Gerichts-Strukturgesetz verabschiedet, das die Errichtung eines Landessoziaigerichts in Neu-Brandenburgsowie von vier Sozialgerichten in Neu-Brandenburg, Rostock, Schwerin und Stralsund vorsieht. Die Umsetzung dieses Gerichts-Strukturgesetzes und somit der Beginn der Tätigkeit der genannten Gerichte ist für
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die erste Hälfte dieses Jahres geplant. In Sachsen soll die Sozialgerichtsbarkeit spätestens zum I. I 0. 1992, möglicherweise auch schon eher, verselbständigt werden. Dagegen sind in Thüringen die personellen und räumlichen Gegebenheiten für eine eigenständige Sozialgerichtsbarkeit noch nicht erfüllt. Gleichwohl ist man auch dort bestrebt, die Ausgliederung voranzutreiben und baldmöglichst zu realisieren. Beim Bundessozialgericht sind wir mit den vom Gesetzgeber bewilligten zwei zusätzlichen Senaten samt Unterbau für die ohne Zweifel zu erwartende Flut von Prozessen gewappnet. Allerdings ist bisher nur eine Revision bei uns anhängig. Wie wurde nun die Einführung dieses vollkommenen Sozialrechtsschutzes in den fünf Beitrittsländern angenommen? Aufgrund der vorher geschilderten Verhältnisse früher in der DDR, ohne irgendeinen Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte im Sozialrecht jahrzehntelang gelebt zu haben, wurden zunächst die Sozialgerichte nur verhältnismäßig wenig angerufen. Die Bürger betrachteten zunächst, ähnlich wie früher, auch die Gerichte als Auskunfts- und Beratungsstellen und trugen als Petitionen ihre Anliegen vor. Die Bürger der früheren DDR müssen sich erst also an diese Einrichtung gewöhnen. Dies ist das, was ich gemeinhin als geistige Integration bezeichne, nämlich eine Bewußtseinsbildung, daß man der Sozialverwaltung und ihren Entscheidungen nicht hilflos gegenübersteht, sondern Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte in Anspruch nehmen kann. Vielleicht liegt ein weiterer Grund für die ursprünglich doch verhältnismäßig geringe Inanspruchnahme der Gerichte auch darin, daß die Verwaltung anfänglich hauptsächlich die positiven Bescheide erließ und bei negativen Entscheidungen die Widersprüche lange unbearbeitet liegen ließ. Dies hat sich aber doch, nach meinen Informationen, in der letzten Zeit stark geändert. Fast alle Gerichte berichten über eine starke Zunahme von Klagen im Sozialrechtsbereich, insbesondere im Bereich der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Bei der BfA alleine sollen etwa 50 000 Widersprüche gegen neue Rentenbescheide eingegangen sein. Es ist zu erwarten, daß ein angemessener Prozentsatz davon auch in das sozialgerichtliche Verfahren kommt. Vor allen Dingen die beiden Gerichte in Berlin stellen eine starke Inanspruchnahme fest. Nach einer Weile vergangenheitsbedingter Zurückhaltung ist also verstärkt das Beschreiten des Gerichtsweges auch im Sozialrechtsbereich feststellbar. Eine Entwicklung, die sich in Zukunft sicher noch beachtlich verstärken wird. Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Der Auf- und Ausbau des sozialen Rechtsstaates der früheren Bundesrepublik Deutschland war für uns sicher mit ein wesentlicher Grund für einen, verglichen mit anderen europäischen Industrienationen, letztlich doch einmaligen sozialen Frieden in unserem Lande. Es ist zu hoffen und zu wünschen, daß dieses gleichermaßen nach einer sicher leidvollen Übergangszeit auch für die fünf neuen Bundesländer in nicht allzu ferner Zukunft gesagt werden kann. Dabei brauchen wir in Zukunft ganz besonders und verstärkt die Zuwendung an diejenigen, die unserer Hilfe bedürfen. Wichtig erscheint mir,
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eine Neubelebung der Bereitschaft zum Dienst am Nächsten, eine neue Kultur des Helfens und Teilens im Verhältnis zum notleidenden Menschen anzustreben. Dies kann aber weder durch Gesetz noch durch sozialrechtlichen Rechtsschutz, also Richterspruch, erreicht werden. Dies ist ein zutiefst humanes Problem.
ZugritT auf Renten als strafähnliche Sanktion Von Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
I. Gerechtigkeit im Rechtsstaat
Von der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley stammt der bittere Satz, die Deutschen in den neuen Bundesländern hätten Gerechtigkeit gewollt, aber den Rechtsstaat bekommen. Daß Gerechtigkeit ein Volk erhöht, gehört zu den bekannten "Sprüchen" 1• Auch das Grundgesetz bekennt sich in seinem Art. 1 Abs. 2 auf der Grundlage unverletzlicher und unveräußerlicher Menschenrechte zu Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Der Begriff kann jedoch trotz einer mehr als zweitausendjährigen "Suche nach der Gerechtigkeit" 2 bisher weder befriedigend umschrieben 3 noch gar zur unmittelbaren Lösung einzelner Rechtsprobleme oder Rechtsfälle herangezogen werden4. Allenfalls Kriterien der Gerechtigkeit sind mit dem "suum cuique tribuere", der objektiven Vernünftigkeit, dem größten Glück der größten Zahl oder dem Gleichbehandlungspostulat gefunden worden. Die christlich-naturrechtliche Maxime, irdisches Recht und irdische Rechtspflege müßten Spiegelbild der göttlichen Schöpfungsordnung sein, ist nach der Säkularisation nur jakobinisch-verbissener geworden, weil ohne Hoffnung auf Gerechtigkeit in einem Jenseits das "fiat justitia" im Diesseits noch unerbittlicher gerät. Trotzig hatte auch die ehemalige DDR proklamiert, ihren (aussichtslosen) Weg "der sozialen Gerechtigkeit ... unbeirrt weiterzugehen" 5 . In der pluralistischen Demokratie ist mangels Wertekonsenses das Postulat absoluter Gerechtigkeit Credo von Puristen und Idealisten oder rhetorisches Passepar14, 34. Hierzu Kar/ Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, Hauptthemen der Rechtsphilosophie, 1971. 3 Nach Herbert Krüger; Allgemeine Staatslehre, S. 718, ist Gerechtigkeit "wahrscheinlich gar nicht definierbar". 4 Vgl. Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977, S. 416 f. 5 Verfassung vom 9. 4. 1968. In der Fassung vom 7. 10. 1974 fehlt dann die "soziale Gerechtigkeit". Vgl.lngo v. Münch (Hrsg.), Dokumente des geteilten Deutschland, Bd. li, 1974, S. 463. I
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tout, das den Zugang zu beliebigen Ideologien ermöglicht. Ohne nähere verfassungsgesetzliche Konkretisierung bleibt Gerechtigkeit eine Gerechtigkeit durch Verfahren. Falls und soweit die Verfassung nicht selbst Elemente der Gerechtigkeit, wie z. B. den Gleichheitssatz, vorgibt, verabschiedet der Gesetzgeber im Rahmen seiner legislatorischen Entscheidungsfreiheit mit Mehrheit die Gesetze, die er für gerecht hält. Deswegen muß sie aber nicht auch der Normunterworfene als gerecht empfinden oder müssen sie gar objektiv (quis iudicabit?) gerecht sein. Im Rechtsstaat der Bundesrepublik ist Gerechtigkeit nicht Klassen- oder Parteigerechtigkeit, auch keine demoskopische, sondern eine demokratische, weil gesetzliche Gerechtigkeit. Dieses in der Gerechtigkeitslehre vernachlässigte Element6 hat schon Aristoteles7 mit den Worten umschrieben: "Was nämlich von der gesetzgebenden Gewalt vorgeschrieben ist, ist gesetzlich, und jede gesetzliche Vorschrift bezeichnen wir als gerecht oder Recht." Statt einer vollkommenen diesseitigen Gerechtigkeit als ewiger Utopie, statt einer unerreichbaren Gerechtigkeit zu jedermanns Zufriedenheit kann Deutschland auch seinen neuen Bürgern nur Rechtsstaatlichkeil gewähren. Dabei sind Härtefälle schon um der Notwendigkeit generalisierender und typisierender Regelungen willen unvermeidlich. Gleichgültig, ob sich der Gesetzgeber hinsichtlich des Grundeigentums in der ehemaligen DDR für Rückgabe oder Entschädigung ausspricht, sind Unbilligkeiten unausbleiblich. Aufs Ganze gesehen gibt aber der Rechtsstaat wegen seiner Berechenbarkeil und gleichmäßigen Gesetzesanwendung besseres Recht als eine voluntaristische Kasuistik, mag er auch wegen seiner Rationalität distanzierter erscheinen als eine so recht zu Herzen gehende emotionale Gerechtigkeit. Allerdings müssen die rechtsstaatliehen Prinzipien auch bei der Aufarbeitung einer vor-rechtsstaatliehen Vergangenheit8 streng beachtet werden, weil der grundgesetzlich verfaßte Staat Rechtsgemeinschaft und keine "Gefühlsgemeinsehaft" (Fromme) ist. Am Rechtsstaatsprinzip und an den übrigen grundgesetzliehen Vorgaben ist daher auch das Renten-Überleitungsgesetz 9 zu messen.
Vgl. Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 403, FN 23. Nikomachische Ethik V, 3. 8 Hierzu Christian Starck I Wilfried Berg I Bodo Pieroth, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatliehen Vergangenheit, VVDStRL 51 , 1992, S. 9 ff. 9 Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz - RÜG) vorn 25. 7. 1991 (BGBI. I S. 1606). 6 7
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II. Die vereinbarte Überleitung des Rentenversicherungsrechts der ehemaligen DDR 1. Ziel der Rentenüberleitung
Ziel des Renten-Überleitungsgesetzes ist es, die Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung in ganz Deutschland herzustellen, wie dies im Staatsvertrag und im Einigungsvertrag vorgesehen ist. Schon im Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 10 hatten die Vertragsparteien vereinbart, daß die DDR ihr Renten- und Unfallversicherungsrecht an das der Bundesrepublik Deutschland angleicht. Dabei sollten gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 3 StaatsV "bisher erworbene Ansprüche und Anwartschaften" in die Rentenversicherung überführt werden, "wobei Leistungen auf Grund von Sonderregelungen mit dem Ziel überprüft werden (sollten), ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen". Art. 30 Abs. 5 des Einigungsvertrags 11 bestimmt, daß die Einzelheiten der Überleitung des Rentenund Unfallversicherungsrechts in einem Bundesgesetz geregelt werden. Die Rentenüberleitung erwies sich als schwierig, weil die Rentensysteme in beiden Teilen Deutschlands nicht kompatibel waren.
2. Das Rentenversicherungsrecht der ehemaligen DDR a) In der ehemaligen DDR bestand eine umfassende Sozialversicherungspflicht mit einer Beitragsbemessungsgrenze von 600,- M im Monat. Altersrenten aus dieser Pflichtversicherung wurden nach Erreichen der Altersgrenze und einer mindestens fünfzehnjährigen versicherungspflichtigen Tätigkeit gezahlt. Sie betrugen als Mindestrente je nach Arbeitsjahren zuletzt 330,- bis 470,- M und konnten höchstens 510,- M erreichen. Diese Grundversorgung wurde durch eine Freiwillige Zusatzrentenversicherung (FZR) für Bezieher eines Einkommens oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze ergänzt. Von der Möglichkeit einer Zusatzversicherung machten etwa 85 v. H. aller Berechtigten Gebrauch, so daß 1989 mehr als ein Drittel aller Altersrentner sowie die Hälfte aller Invalidenrentner eine Zusatzrente bezogen, die durchschnittlich jedoch nur ca. 70,- M 12 ausmachte. Vom 18. 5. 1990 (BGBL II S. 537). Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands- Einigungsvertrag- vom 31. 8. 1990 (BGBL II S. 889). 12 Vgl. im einzelnen Schulin, Sozialrecht, 4. Aufl., 1991, RN 963 ff.; Andreas Polster, Grundzüge des Rentenversicherungssystems der Deutschen Demokratischen Republik, in: Deutsche Rentenversicherung 1990, S. 154 ff.; Hans-Jörg Bonz, Die Sozialversicherung in der DDR und die "Politik der Wende", in: Zeitschrift für Sozialreform 1990, S. 11 ff.; Volker 10 11
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b) Neben der Pflichtversicherung und der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung gab es Zusatz- und Sonderversorgungssysteme für bestimmte Gruppen. aa) Die im einzelnen unübersichtlichen Zusatzversorgungssysteme ähneln der Zusatzversorgung für Arbeiter und Angestellte des öffentliches Dienstes in der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder sowie der betrieblichen Altersversorgung in den alten Bundesländern. Sie bestanden nicht nur für Mitglieder des Staatsapparates sowie gesellschaftlicher Organisationen und des FDGB, sondern auch für die wissenschaftliche und technische Intelligenz, für Ärzte, Künstler, Mitglieder des Schriftstellerverbandes bis zu Ballettmitgliedern. Das Renten-Überleitungsgesetz zählt im einzelnen 27 verschiedene Zusatzversorgungssysteme auf13 . Sinn der Zusatzversorgung war es, den Berechtigten einen prozentualen Teil ihres letzten Erwerbseinkommens (in der Regel 90 v. H. des Nettolohns) unter Anrechnung der Rente aus der Sozialpflichtversicherung zu sichern. Die Einbeziehung war für manche Berufsgruppen (z. B. Hochschullehrer, Pädagogen, Mediziner in bestimmten Funktionen) obligatorisch, konnte im Einzelfall aber auch durch Ministerentscheidung erfolgen. Erst ab 1971 entrichteten die Versorgungsberechtigten Beiträge an die Freiwillige Zusatzrentenversicherung, wobei die Beitragshöhe jedoch anstelle des üblichen Satzes von 10 v. H. oftmals nur 5 oder 3 v. H. des maßgeblichen Verdienstes betrug 14• Leistungen aus Zusatzversorgungssystemen bezogen rd. 200 000 bis 225 000 15 Versorgungsberechtigte. Die Zusatzversorgungsrenten betrugen zum Zeitpunkt der Umstellung in etwa der Hälfte aller Fälle nicht mehr als 200,- DM, in etwa 800 Fällen mehr als 2 000,- DM 16 . bb) Die Sonderversorgungssysteme stellten eine eigenständige Sicherung für Staatsbedienstete außerhalb der Sozialpflichtversicherung dar. Sonderversorgungen bestanden nicht nur für Angehörige der Nationalen Volksarmee, des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit I Amtes für Nationale Sicherheit, sondern auch für Angehörige der Zollverwaltung, der Deutschen Volkspolizei, der Organe Meinhardt I Heinz Vortmann, Vereinheitlichung des Rentenrechts, in: Deutschland-Archiv 1991, s. 1254 ff. 13 Art. 3 An!. 1 RÜG. 14 Vgl. A.xel Reimann, Überführung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der ehemaligen DDR in die gesetzliche Rentenversicherung, in: Die Angestellten-Versicherung 1991, S. 281 ff.; auch Meinhardt I Vortmann, Deutschland-Archiv 1991, S. 1254 ff. 15 Die Zahlenangaben schwanken. Vgl. die Ausführungen des seinerzeiligen Präsidenten der Bundesversicherungsanstalt für Angestelle, Dr. Kaltenbach, bei seiner Anhörung vor dem Bundestagsausschuß Nr. 11 (Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung) in der 15. Sitzung vom 16. 5. 1991, Sten. Prot. S. 15 I 146; Reimann, DAngVers 1991, S. 282; dens. , DAngVers. 1992, S. 283. Dagegen sind die von Ammermüller (Die Sozialgerichtsbarkeit 1991, S. 502) genannten Zahlen deutlich zu niedrig. Nach ihnen wäre nur jeder 15. Rentner im Beitrittsgebiet von den Regelungen über die Versorgungssysteme betroffen, während es in Wirklichkeit eher jeder 11. Rentner ist. 16 Die Zahlen beruhen auf den Angaben des Sachverständigen Dr. Kaltenbach, a. a. 0., Sten. Prot. S. 15 I 155.
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der Feuerwehr und des Strafvollzugs 17 , so daß es insgesamt rd. 120 000 Empfänger von Sonderversorgungen 18 gab. Dieser Personenkreis erhielt seine Altersversorgung ausschließlich aus den Sonderversorgungssystemen. Dafür hatten die Versorgungsberechtigten 10 v. H. ihres Einkommens als Beitrag zu entrichten 19•
111. Die Durchführung der Rentenüberleitung
Durch das Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) wird das westdeutsche Rentenversicherungsrecht, wie es nunmehr im Sozialgesetzbuch VI niedergelegt ist, auf die neuen Bundesländer übertragen. Für die Versorgungssysteme enthält das Gesetz Sonderregelungen, die erhebliche und grundsätzliche Probleme aufwerfen. Äußeres Zeichen für die Kompliziertheit der Materie einerseits und die Hektik des Gesetzgebers andererseits ist der Umstand, daß das Renten-Überleitungsgesetz bereits vor seinem Inkrafttreten 20 durch ein Änderungsgesetz2 1 novelliert wurde. 1. Das Versorgungsruhensgesetz
a) Art. 4 RÜG umfaßt das "Gesetz über das Ruhen von Anspriichen aus Sonderund Zusatzversorgungssystemen (Versorgungsruhensgesetz)", das als individuelle Maßnahme das Ruhen von Rentenleistungen vorsieht. In ausdriicklichem Gegensatz zur Gesetzesüberschrift beschränken sich die Regelungen jedoch nicht auf Anspruche aus Versorgungssystemen, da gemäß § I Abs. 3 auch ein Anspruch aus der Rentenversicherung und der freiwilligen Zusatzrentenversicherung des Beitrittsgebiets zum Ruhen gebracht werden kann. Dariiber hinaus wird Art. 4 der Überschrift des Artikelgesetzes nicht gerecht, das ein "Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung" sein soll, mit dem Versorgungsruhensgesetz aber eine neue Rechtsuneinheitlichkeit schafft. Denn die Leistungsruhe beschränkt sich auf Anspruche aus den Versorgungssystemen sowie aus der Rentenversicherung und der freiwilligen Zusatzrentenversicherung des Beitrittsgebietes sowie auf Versicherungszeiten zwischen dem 7. Oktober 1949 und dem 30. Juni 1990. Das Gesetz führt also nicht allgemein und einheitlich das Ruhen von Rentenleistungen als Sanktion in das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ein, sondern ist Sonderrecht für das Beitrittsgebiet. Vgl. Art. 3 An!. 2 RÜG. Diese Angabe machte der seinerzeitige Präsident der Bundesversicherungsanstalt vor dem zuständigen Bundestagsausschuß (vgl. FN 15), S. 15 I 146. 19 Hierzu Reimann, DAngVers 1991, S. 281 ff. 20 Gemäß seinem Art. 42 Abs. 1 trat das Gesetz grundsätzlich am 1. 1. 1992 in Kraft. 21 Gesetz zur Änderung des Renten-Überleitungsgesetzes (RÜG-ÄndG) vom 18. 12. 1991 (BGBI. I S. 2207). 17 18
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Gemäß § 1 können Leistungen "zum Ruhen gebracht werden, wenn gegen den Berechtigten ein Strafverfahren wegen einer als Träger eines Staatsamtes oder Inhaber einer politischen oder gesellschaftlichen Funktion begangenen Straftat gegen das Leben oder einer anderen schwerwiegenden Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit betrieben wird und der Berechtigte sich dem Strafverfahren durch Aufenthalt im Ausland entzieht". b) Im Laufe der Gesetzesberatungen sind dem Art. 4 RÜG die schlimmsten Drachenzähne gezogen worden. Ursprunglieh war eine Versorgungskürzung oder -aberkennung vorgesehen, wenn der Berechtigte gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer mißbraucht hatte22. Der Gesetzesentwurf war wegen der unerträglichen Unbestimmtheit seiner Begriffe und dem völlig offen gelassenen Sanktionsrahmen zwischen geringfügiger Kürzung und völliger Aberkennung der Versorgung rechtsstaatlich in hohem Maße bedenklich. Auf Grund massiver Einwände der Sachverständigen im zuständigen Bundestagsausschuß wurde er eingehend überarbeitet und stellt nunmehr eine Art "Iex Honecker" dar. c) Aber selbst in seiner jetzigen Form ist Art. 4 RÜG rechtsstaatlich problematisch. So ist der soziologische Begriff des "Inhabers einer gesellschaftlichen Funktion" juristisch unbrauchbar. Auch Sanktionen gegen Versorgungsberechtigte, die sich einem Strafverfahren durch Aufenthalt im Ausland entziehen, sind bedenklich. Wegen des überkommenen Freiheitsprinzips, daß niemand sich selbst belasten muß, ist zum einen kein Täter gehalten, sich einem Strafverfahren zu stellen. Zum anderen kann ein Deutscher im Ausland grundsätzlich nicht zur Rückkehr nach Deutschland verpflichtet werden, weil der Gesetzesvorbehalt der Freizügigkeit hierfür nicht ausreicht. Gemäß Art. 11 Abs. 2 GG kann die Freizügigkeit nämlich u. a. nur beschränkt werden, "um strafbaren Handlungen vorzubeugen", nicht aber um strafbare Handlungen zu ahnden 23 . Ist aber ein unmittelbarer Grundrechtseingriff verfassungswidrig, so darf derselbe Zweck nicht durch mittelbare Maßnahmen (z. B. Entziehung der Staatsangehörigkeit, Konfiskation des Vermögens, "Verwirkung" der Rente) bezweckt oder im Ergebnis erreicht werden. Zumindest für den unbemittelten Straftäter ohne Einkünfte im Ausland stellt das Ruhen der Rente eine empfindliche Sanktion dar. Auch rechtspolitisch sollte das "Neue Deutschland" von dem anriichigen Tatbestand der "Republikflucht", selbst als bloßer sozialversicherungsrechtlicher Sanktion, absehen.
22 Art. 4 § 2 Abs. I des Entwurfs eines Renten-Überleitungsgesetzes vorn II. 4. 1991, BRDrs. 197 I 91. 23 Vgl. in diesem Zusammenhang Merlen, Zur Verfassungsmäßigkeit eines Rückrufgesetzes, MDR 1964, S. 806 ff. 6 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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2. Das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz
Art. 3 RÜG enthält das "Gesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebietes (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz AAÜG)", das kollektive, typisierende und pauschalierende Regelungen für bestimmte Personengruppen als Angehörige der Versorgungssysteme vorsieht. In einer kaum überschaubaren Kasuistik mit Ausnahmen und Ausnahmen von diesen Ausnahmen stellt das Gesetz bestimmte Gruppen kollektiv und ohne Rücksicht auf individuelles Verhalten sozialversicherungsrechtlich schlechter als vergleichbare Beschäftigte im Beitrittsgebiet, weil es von einer spezifischen "Staatsund Systemnähe" dieser Versorgungsberechtigten24 ausgeht. a) So wird nach § 7 AAÜG das während der Zugehörigkeit zu dem Versorgungssystem des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit I Amtes für Nationale Sicherheit maßgebende Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen bei der Rentenberechnung höchstens bis 70 v. H. des Durchschnittsentgelts25 zugrunde gelegt, so daß alle Mitarbeiter dieser Behörde ohne Rücksicht auf ihre individuelle Funktion oder ihr effektiv erzieltes Entgelt nur mit einem Verdienst berücksichtigt werden, der noch 5 v. H. unter dem sog. Mindesteinkommen liegt. Denn die Rente nach Mindesteinkommen geht von einem Mindestjahresarbeitsentgelt aus, das einem Betrag von bis zu 75 v. H. des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten entspricht26. Selbst diese Rente nach Mindesteinkommen wird den betroffenen Versorgungsberechtigten vom Gesetz versagt27 . Darüber hinaus werden die Zahlbeträge der Leistungen aus dem genannten Sonderversorgungssystem gemäß § l 0 Abs. 2 Satz l für Versichertenrenten vorläufig auf 802,- DM begrenzt. b) Im Falle der Zugehörigkeit zu bestimmten Versorgungssystemen oder der Ausübung bestimmter Funktionen, z. B. als Richter oder Staatsanwalt, aber auch als Leiter einer pädagogischen Einrichtung, wird das erzielte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen nur bis zur Höhe des Durchschnittsentgelts berücksichtigt28 . So wird einem Schulleiter allein wegen seines Amtes nur das Durchschnittsentgelt für die Versorgung angerechnet, während für einen Lehrer derselben Schule, selbst wenn er systemtreuer und eifriger agitierte, das effektiv erzielte Gehalt (bis zu den Höchstbeträgen nach An!. 3 AAÜG) maßgebend ist, so daß die Versorgung des Lehrers die des Schulleiters um das l ,8-fache übersteigen kann. Darüber hinaus werden kraft unwiderlegbarer Vermutungen des § 6 Abs. 2 Satz 3 AAÜG in diesen Versorgungssystemen alle Funktionen als leitend angesehen, 24
Vgl. hierzu die Amtliche Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung sub B
III 5, BR-Drs. 197 I 91 vom II. 4. 1991, S. III. 25 26 27
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Vgl. An!. 6 AAÜG. Vgl. Schulin, Sozialrecht, RN 588. Arg. § 7 Abs. 1 Satz 2 AAÜG. § 6 Abs. 2 und 3 i. V. m. An!. 5 AAÜG.
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wenn das erzielte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen 140 v. H. des Durchschnittsentgelts überstieg. Auf diese Weise kommt es zu dem sonderbaren Ergebnis, daß bei der Versorgung Verdienste bis zu 140 v. H. des Durchschnittsentgelts in voller Höhe, darüber hinaus jedoch nur in Höhe des Durchschnittsentgelts berücksichtigt werden. c) Ohnehin wird bei der Überführung der Versorgungssysteme in die Rentenversicherung das erzielte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen nur bis zur Höhe der in den alten Bundesländern geltenden Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt. Dieses Ergebnis wird dadurch erreicht, daß der für§ 6 Abs. 1 Satz 1 AAÜG maßgebliche und in Anl. 3 aufgeführte Jahreshöchstverdienst so bemessen wurde, daß sich nach Umrechnung der Höchstbeträge nach Maßgabe der Faktoren der Anl. 10 SGB VI die westdeutsche Beitragsbemessungsgrenze ergibt29.
IV. Die Abhängigkeit der Strafe von Schuld als rechtsstaatliche Maxime Das politische Leitmotiv für die wichtigsten sozialversicherungsrechtlichen Regelungen in Art. 3 und 4 RÜG, man könne den Opfern nicht zumuten, daß die Täter eine höhere Rente als sie erhielten30, hält rechtsstaatlicher Überprüfung nicht stand. Zunächst vergleicht diese These rechtlich Unvergleichbares. Strafbare Handlungen werden mit Strafen geahndet, zu denen zwar auch die Geldstrafe, nicht jedoch eine Konfiskation des Vermögens oder .,Verwirkung" der Rente gehören. Daher kann und will es die Rechtsordnung nicht ausschließen, daß ein Täter nach Strafverbüßung über ein höheres Vermögen als seine Opfer verfügt, wie er auch eine wesentlich höhere Rente als diese beziehen mag. Wegen einer .,Schlechterstellung der Gefangenen gegenüber der sonstigen arbeitenden Bevölkerung"31 (!) wollte man früher sogar die Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Rechtsstaatlich bedenklicher ist es vor allem, daß auf Grund einer bloßen .,Staats- oder Systemnähe", die teilweise allein aus der Höhe des erzielten Einkommens abgeleitet wird, ganzen Gruppen von Versorgungsberechtigten das Täter-Mal aufgedrückt wird. Denn der Rechtsstaat verbietet jede Form der Kollektiv-, Gruppen- oder Sippenschuld. Schuld setzt immer voraus, daß ein einzelner mit der Verantwortung für ein rechtswidriges Verhalten belastet ist32, daß ihm sein Verhalten Hierzu auch Reimann, DAngVers 1991, S. 288 sub 4.4.2. Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen der Abg. Frau Dr. Babel (FDP) und Gilges (SPD) in der 15. Sitzung des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 17. 5. 1991, Sten. Prot. 15 I 220 und 15 I !92. 31 So die Amt!. Begründung im Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Fortentwicklung des Strafvollzugs (BT-Drs. 9 I 566 vom 11 . 6. 1981, S. 6 sub A 1). 32 Hierzu Dreher /Tröndle, StGB, 45. Aufl., 1991, RN 28 vor§ 13. 29
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vorgeworfen werden kann 33 . Die für das "moderne Strafrecht selbstverständliche"34 Maxime, daß Strafe (im weiteren Sinne) individuelle Schuld voraussetzt, hat Verfassungsrang. Das Bundesverfassungsgericht leitet sie aus dem Rechtsstaatsprinzip (i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) ab35 . Gerade deshalb ist jede Form der Sippen- oder Gruppenhaft rechtsstaatswidrig und zutiefst inhuman. Die leider häufig überstrapazierte Menschenwürde wird verletzt, wenn der einzelne ohne den Nachweis individueller Schuld mit einer Strafe oder strafähnlichen Sanktion belegt wird, damit der Abschreckung, der Rache oder dem "Volkswillen" Genüge getan wird, wie dies beispielsweise im Falle Krupp durch ein amerikanisches Militärgericht geschehen ist, als der Sohn für den nicht haftfähigen Vater eine Freiheitsstrafe verbüßen mußte. Soweit begründete Anhaltspunkte für individuelle Schuld vorhanden sind, hat eine Strafverfolgung schon wegen des Legalitätsprinzips zu erfolgen, wobei in den neuen Bundesländern die Schwierigkeiten wegen des Verbots der Rückwirkung von Strafgesetzen nicht verkannt werden sollen. Mit aller Entschiedenheit gebietet die Rechtsstaatlichkeit ein Strafverfahren gegen Honecker, denn nichts ist für das Rechtsbewußtsein schädlicher als der fatale Satz, daß man die Kleinen hängt und die Großen laufen läßt. Der Rechtsstaat wäre ad absurdum geführt, wenn man Mauerschützen-Prozesse durchführte, aber von Verfahren gegen die Verantwortlichen für den Schieß-Befehl absähe. Selbst mögliche Freisprüche mangels Beweises wären keine Niederlage, sondern ein Sieg des Rechtsstaats. Sie würden demonstrieren, daß Staatlichkeit im Zeichen des Gesetzes jedem Gesinnungsstrafrecht abhold ist und nur ein Tatstrafrecht kennt, das den Täter für das, was er getan hat, nicht für das, was er ist oder was er denkt, mit einer Sanktion belege6 . Darüber hinaus müßte eine Amnestie für Befehlsempfänger bedacht werden, wenn die Befehlenden aus rechtsstaatliehen Gründen strafrechtlich nicht zu belangen sind. Die Feststellung individueller Schuld und die Verhängung von Strafen oder strafähnlichen Sanktionen bedarf in jedem Fall eines strafgerichtliehen oder strafgerichtsähnlichen Verfahrens, das mit besonderen Kautelen (z. B. Art. 103 Abs. 2 und 3 GG) ausgestattet ist. Aus diesem Grunde begegnete das in dem Entwurf des RÜG als Art. 4 enthaltene Versorgungskürzungsgesetz Bedenken, weil es das für die Aberkennung der Renten oder das Ausmaß ihrer Kürzung maßgebliche "persönliche schuldhafte Verhalten" der Entscheidung des zuständigen Versorgungsträgers auf Vorschlag einer Kommission überlassen wollte 37. 33 Vgl. BGHSt (Gr. S.) 2, 200; hierzu auch Lenckner, in: Schönke I Schröder, StGB, Vorbem. ll4 ff. vor§§ 13 ff. 34 BVerfGE 9, 167 (169); vgl. auch BGHSt (Gr. 2) 2, 194 (200). 35 Vgl. BVerfGE 25, 269 (285); 45, 187 (228); 50, 125 (133); 50, 205 (214); 57, 250 (275); 63, 343 (353); 80, 244 (255). 36 Lenckner, in: Schönke I Schröder, StGB, 24. Aufl., 1991, Vorbem. 105 vor§§ 13 ff. 37 Vgl. Art. 4 §§ 2 bis 4 des Entwurfs eines Renten-Überleitungsgesetzes vom 11. 4. 1991, BR-Drs. 197191.
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Ein Zugriff auf die Sozialversicherungsrente als strafähnliche Sanktion für eine besondere "Staats- oder Systemnähe" oder wegen eines laufenden Strafverfahrens ist verfassungsrechtlich bedenklich, weil Rentenansprüche und Rentenanwartschaften als öffentlich-rechtliche Rechtspositionen eigentumsrechtlich geschützt sind38 . "Eigentum" im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG darf gesetzlich nur beschränkt, im übrigen aber nur durch Enteignung oder Vergesellschaftung - und auch dann nur gegen Entschädigung -entzogen werden. Deshalb wäre die früher übliche Kriminalstrafe der Konfiskation unter dem Grundgesetz verfassungswidrig. Lediglich die herkömmliche Sanktion der Einziehung (§ 74 StGB) wird als von der Verfassung vorausgesetzt und stillschweigend anerkannt akzeptiert39, jedoch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Wahrung verfahrensrechtlicher Garantien unterworfen. Verletzt aber die Konfiskation selbst als Kriminalstrafe die Eigentumsgarantie der Verfassung, so kann sie erst recht nicht als strafähnliche Sanktion ohne Feststellung individueller Schuld im Sozialrecht verhängt werden. Es ist im Rechtsstaat ein Fehlschluß zu meinen, wenn man schon nicht strafen dürfe, könne man wenigstens etwas "quälen", d. h. zur Vergeltung auf das Eigentum oder die Sozialversicherungsrente des Betroffenen zurückgreifen.
V. Die Wertneutralität des Sozialversicherungsrechts Quasi-poenale Sanktionen sind dem geltenden System des Sozialversicherungsrechts fremd und daher im Hinblick auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bedenklich, weil Durchbrechungen der Systemgerechtigkeit zumindest Indiz für eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung sein können. Gemäß seinem Schutzzweck der Sicherung abhängiger Arbeitnehmer vor elementaren Lebensrisiken ist das Sozialversicherungsrecht wertneutraL Es ist für den Versicherungsschutz grundsätzlich unbeachtlich, ob der abhängig Beschäftigte während oder außerhalb der Arbeitszeit gegen Gesetze verstößt. Selbst schwere und schwerste Kriminalität kann nicht zu einem Ausschluß aus der Versichertengemeinschaft führen, weil das Sozialversicherungsrecht keinen derartigen Verwirkungstatbestand kennt.
1. Ausnahmenfür Rechtsmißbrauch Von dem Grundsatz, daß strafbare Handlungen des Versicherten nicht zu sozialversicherungsrechtlichen Sanktionen führen, kennt das Sozialversicherungsrecht allerdings Ausnahmen. 38 Vgl. BVerfGE 14, 288 (293); 22, 241 (253); 24, 220 (226); 53, 257 (289 ff.); 55, 114 (131); 58, 81 (109). 39 Hans Peter lpsen, VVDStRL 10, 1952, S. 88; E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. II, 1954, S. 40; Papier, in: Maunz I Dürig, GG, Art. 14 RN 576, S. 257.
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a) So versagt § 105 SGB VI im Falle der Tötung eines Angehörigen den Anspruch auf Rente wegen Todes für diejenigen Personen, die den Tod vorsätzlich herbeigeführt haben. § 103 SGB VI schließt den Anspruch auf bestimmte Renten für diejenigen Personen aus, "die die für die Rentenleistung erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung absichtlich herbeigeführt haben". Eine gänzliche oder teilweise Versagung dieser Renten ist gemäß § 104 Abs. 1 SGB VI ferner möglich, "wenn die Berechtigten sich die für die Rentenleistung erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung bei einer Handlung zugezogen haben, die nach Strafgerichtlichern Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist". b) In ähnlicher Weise sieht das Krankenversicherungsrecht in § 52 SGB V Leistungsbeschränkungen vor, wenn sich Versicherte "eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen" haben. Im Unfallversicherungsrecht schließen §§ 553 f. RVO Leistungen bei absichtlicher oder vorsätzlicher Verursachung des Arbeitsunfalls aus. In der Arbeitslosenversicherung tritt gemäߧ 119 Abs. I AFG eine Sperrzeit von acht Wochen ein, wenn der Arbeitslose vorsätzlich oder grob fahrlässig durch Lösung des Beschäftigungsverhältnisses oder durch ein vertragswidriges Verhalten die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat. c) Insoweit stimmt das Sozialversicherungsrecht mit dem Privatversicherungsrecht überein, das den Versicherer nach § 61 VVG von der Verpflichtung zur Leistung befreit, "wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt". Hinter diesen Regelungen steht der allgemeine Rechtsgedanke von Treu und Glauben, wie auch nach § 162 Abs. 2 BGB der Eintritt einer Bedingung dann als nicht erfolgt gilt, wenn er von der Partei, zu deren Vorteil er gereicht, wider Treu und Glauben herbeigeführt wird. Seine besondere Ausprägung findet der Grundsatz von Treu und Glauben in dem Verbot des Rechtsmißbrauchs. Wer von einem Recht zu einem anderen Zweck Gebrauch macht, als wozu es ihm verliehen ist, handelt rechtsmißbräuchlich und rechtswidrig40 • Aus diesem Grunde wollen die Ausnahmeregelungen im Sozialversicherungsrecht und im Privatversicherungsrecht verhindern, daß jemand durch strafbare Handlungen Rechte zu Lasten des Versicherers oder der Versichertengemeinschaft erwirbt, die ihm bei gesetzmäßigem Verhalten nicht zugestanden hätten. Die Ausschluß- und Versagungsgriinde sind also Instrumente des Selbstschutzes, nicht der Vergeltung, weshalb auch in den genannten Fällen die Leistungsverweigerung der Sozialversicherungsträger nicht zu Vergeltungszwecken erfolgen darf.
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So Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1968, S. II.
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2. Entwurf einer "Iex Tiedge" Versuche in der Vergangenheit, bei schweren Straftaten gegen die Bundesrepublik und in Fällen, in denen Täter ins Ausland flüchteten, von der "Wertneutralität" abzugehen und gleichsam anstelle und als Ersatz für strafrechtliche Sanktionen auf die Renten zuzugreifen, sind fehlgeschlagen. Als der ehemalige Gruppenleiter der Abteilung IV des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Tiedge, im August 1985 in die DDR flüchtete41 , wurde ein Gesetzentwurf zur Änderung des Rentenversicherungsrechts42 mit der Begründung eingebracht, der Solidargemeinschaft sei es in diesen Fällen unzumutbar, "eine Rente zu zahlen und dadurch möglicherweise zur Vereitelung der Bestrafung" (?) beizutragen. Da dieser Entwurf im zuständigen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung auf einhellige und massive Ablehnung aller Sachverständigen stieß43 , wurde weder ein Ausschußbericht erstellt, noch wurde der Entwurf in der folgenden Legislaturperiode nochmals eingebracht. Bis zum Renten-Überleitungsgesetz ist es demzufolge bei der "Wertneutralität" des Rentenversicherungsrechts geblieben.
3. Nachversicherung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wurden Personen, die z. B. wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Menschlichkeit keine Ansprüche auf Unterbringung im öffentlichen Dienst oder Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen hatten44 , in der Rentenversicherung gemäߧ 72 G 131 nachversichert. Auf diese Weise erhielten z. B. Gestapo-Angehörige, denen keine Ansprüche nach dem G 131 zustanden45, Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Das Bundesverwaltungsgericht46 hat diese Regelung für unbedenklich gehalten, weil es nach Sinn und Zweck der Sozialversicherung unerheblich sei, "aus welchem Grunde der Betroffene die Anwartschaft auf Versorgung nach Maßgabe seiner Rechtsstellung verloren hat, ob er moralische oder strafrechtliche Schuld auf sich geladen hat oder nicht". In diesem Zusammenhang verweist das Gericht ausdrücklich auf das Prinzip der "wertfreien" Gestaltung des Sozialversicherungsrechts, das "lediglich während der Geltung des Deutschen Hierzu Archiv der Gegenwart 1985, S. 29109 ff. Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änd~rung von Vorschriften der_gesetzlichen Rentenversicherung (Achtes Rentenversicherungs-Anderungsgesetz - 8. RVAndG) des Abg. Dr. Miltner und Genossen, BT-Drs. 11/952 vom 14. 10. 1987. 43 Vgl. Sten. Prot. der 28. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 20. 4. 1988, Prot. Nr. 28 (752- 2450). 44 Vgl. § 3 Satz 1 Nr. 3a des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen vom 11. 5. 1951 (BGBI. I S. 3037) - G 131. 45 Hierzu BVerwGE 6, 221. 46 E 32, 74 (78 ff.). 41
42
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2. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Beamtengesetzes"47 systemwidrig für die Nachversicherung durchbrachen worden war. Außer dem Nationalsozialismus hatte nur das Besatzungsrecht vom Prinzip der Wertfreiheit des Sozialversicherungsrechts abgesehen. Bei der Entnazifizierung der Gruppe der Hauptschuldigen und der Belasteten konnte als Sühnemaßnahme auch der Verlust von Rechtsansprüchen auf eine aus öffentlichen Mitteln zu zahlende Pension oder Zuwendung einschließlich der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung verhängt werden48 . Dieses Entnazifizierungsrecht war jedoch oktroyiertes Recht der Siegermächte, das nicht immer rechtsstaatliehen Grundsätzen entsprach und infolgedessen auch kraft ausdrücklicher Ausnahmeregelung (Art. 139 GG) nicht am Grundgesetz meßbar ist.
VI. Systemwidrigkeit und Gleichheitswidrigkeit des Renten·Überleitungsgesetzes 1. Zur Systemwidrigkeit
Da das "wertfreie" Sozialversicherungsrecht keinen Rentenzugriff als Strafsanktion kennt, wird z. B. dem verurteilten Kinder- oder Sexualmörder die Rente auch dann ins Ausland überwiesen, wenn er sich im Inland der StrafverbüBung entzieht. Ein Soldat, der seinen Kameraden vorsätzlich erschießt und deswegen seine Rechtsstellung verliert, muß, worauf der seinerzeitige Präsident der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bei der Anhörung zum Renten-Überleitungsgesetz hingewiesen hat49 , für die Dauer seines Dienstverhältnisses entsprechend seinen Bezügen (bis höchstens zur Beitragsbemessungsgrenze) nachversichert werden. Er wird also gerade wegen seiner Straffälligkeit in die Sozialversichertengemeinschaft aufgenonunen und erhält später ungeachtet seiner Straftat, ja- pointiert formuliert - sogar wegen seiner Straftat eine angemessene Sozialversicherungsrente im Alter. Demgegenüber wird ein Mitarbeiter des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit I Amtes für nationale Sicherheit, selbst wenn ihm wegen seiner Tatigkeit z. B. als Archivar oder als Sekretärin nicht einmal nach westdeutschem Recht ein Strafvorwurf zu machen ist, bei der Rentenüberleitung aus dem entsprechenden Sonderversorgungssystem so gestellt, als ob er nur 70 v. H. des Durchschnittsverdienstes als Arbeitsentgelt bezogen hätte50. Darüber hinaus wird, wie
Vgl. § 141 Abs. 2 DBG. Abschnitt II Art. VIII Abs. II lit. d sowie Art. IX Nr. 4 der Direktive des Kontrollrats Nr. 38 vom 12. 10. 1946 (ABI. des Kontrollrats in Deutschland, S. 62 ff.); ferner Art. 15 Nr. 4 und Art. 16 Nr. 5 des Gesetzes der amerikanischen Militärregierung zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. 3. 1946 (BayGVBl. S. 145). 49 A.a.O (FN 15), Sten. Prot. 15 I 145 f. 47
48
so § 7 AAÜG i. V. m. Anl. 6.
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schon erwähnt, seine Rente vorläufig auf den Höchstbetrag von 802,- DM begrenzt51. Hier ist die Systemwidrigkeit evident. Denn die Rentenkürzungen erfolgen nicht um der Abschaffung oder des Abbaus ungerechtfertigter bzw. überhöhter Leistungen willen, wie dies schon in Art. 20 Abs. 2 Satz 3 StaatsV vorgesehen war. Denn hierfür müßte dargetan werden, daß die Gehälter als solche oder die Anzahl der Beförderungsämter im Vergleich zu ähnlichen Einrichtungen zu hoch waren. Der Zugriff auf die Renten ist vielmehr ganz offensichtlich Sanktion für eine vermutete Gesinnung und I oder für vermutete Handlungen der Mitarbeiter der betroffenen Einrichtung. Rentenkürzungen wegen tatsächlicher oder sogar nur vermuteter Lebensführungsschuld der Versicherten sind jedoch dem westdeutschen Sozialversicherungsrecht fremd und sind auch nach der Wiedervereinigung und durch das Renten-Überleitungsgesetz nicht allgemein, sondern nur für die Angehörigen der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der ehemaligen DDR eingeführt worden.
2. Zur Verletzung des Gleichheitssatzes
Die pauschale Herabsetzung der effektiven Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen bei der Rentenüberleitung aus den Versorgungssystemen wegen "Staats- und Systemnähe" ist aber nicht nur im Vergleich mit dem westdeutschen Rentenversicherungsrecht systemwidrig, sondern auch in sich gleichheitswidrig und in einigen Fällen willkürlich. Willkür liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts52 immer dann vor, "wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt". An einem "sachgerechten Grund"53 fehlt es, wenn § 7 das beriicksichtigungsfähige Entgelt während der Zugehörigkeit zu dem Versorgungssystem des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit I Amtes für nationale Sicherheit auf höchstens 70 v. H. des Durchschnittsverdienstes begrenzt und damit im Ergebnis ohne Rücksicht auf das individuelle Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, das in den seltensten Fällen unter dem Mindesteinkommen gelegen haben dürfte, für alle Mitarbeiter der betreffenden Behörde vom Pförtner bis zum Leiter einheitlich und pauschal gleichstellt. Wenn man schon das rechtsstaatliche Erfordernis individueller Schuldfeststellung vernachlässigen und die Rentenkürzung als Sanktion für "Staats- und Systemnähe" vorsehen will, so darf dieser Eingriff jedenfalls nicht zu einer totalen Nivellierung führen, sondern muß eine "Betroffenengleichheit" respektieren, wie auch die Geldstrafe nicht Wohlhabende und Minderbemittelte in 5t 52 53
§ 10 Abs. 2 Satz I Nr. 1 AAÜG. E 1, 14 (52); st. Rspr. Vgl. BVerfGE 4, 144 (155).
80
2. Speyerer Sozialrechtsgespräch
gleichheitswidriger Weise in gleicher Höhe, sondern wegen der Verhängung in Tagessätzen nach dem Grundsatz der "Opfergleichheit"54 ihrem unterschiedlichen Einkommen gemäß in unterschiedlicher Höhe trifft. Gegen das Gebot der Gleichbehandlung verstoßen ferner die Regelungen in § 6 Abs. 2 und 3 AAÜG. Hier werden Personen mit derselben Berufstätigkeit in erheblicher Weise unterschiedlich behandelt, wenn ihr Einkommen auch nur geringfügig (im Extremfall um einen Pfennig im Jahr) differiert oder sie sich in ihrer Funktion unterscheiden. Da wegen der unwiderlegbaren Vermutung des § 6 Abs. 2 Satz 3 AAÜG eine Funktion als leitend gilt, wenn in ihr ein Entgelt über den Beträgen der An!. 4 bezogen wurde, werden die Betroffenen gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 als Durchschnittsverdiener nach Anl. 5 behandelt. Wer also als hauptamtlicher Mitarbeiter des Staatsapparates (Anl. 1 Nr. 19 AAÜG) im Jahre 1989 17 348,80 M verdiente, erhält Pflichtbeitragszeiten in dieser Höhe gutgeschrieben. Wer diesen Betrag nur um einen Pfennig überschritt, wird auf das Durchschnittsentgelt für 1989 in Höhe von 12 392,- M zurückgestuft Der Mehrverdienst von einem Pfennig im Kalenderjahr ist jedoch nicht so beachtlich, daß er eine um 4 956,80 M unterschiedliche Behandlung bei der Entgeltberücksichtigung rechtfertigt. Art. 3 Abs. 1 GG ist nach der Rechtsprechung des Bundesveifassungsgerichts dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten 55 . Unbeschadet des Erfordernisses typisierender und pauschalierender Regelungen, die immer mit Härten verbunden sein können, ist es willkürlich, an die Überschreitung des 1,4-fachen des Durchschnittsverdienstes die radikale Sanktion einer Absenkung auf den Durchschnittsverdienst zu knüpfen, weil Schwankungen des Jahresarbeitsverdienstes bei gleichbleibender Tätigkeit und Funktion durch Zufälligkeilen (z. B. Mehrarbeit) auftreten können. Ein Verstoß gegen die Gruppengerechtigkeit liegt gleichfalls vor, wenn gemäß
§ 6 Abs. 3 Satz 3 AAÜG der Direktor einer Schule wie ein Durchschnittsverdiener
behandelt wird, während das Entgelt eines Lehrers seines Kollegiums bis zur Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt wird.
Dieselbe gleichheitswidrige Gleichbehandlung findet sich in § 6 Abs. I AAÜG. Da in allen Versorgungssystemen nur das bis zur Beitragsbemessungsgrenze erzielte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen berücksichtigungsfähig ist (An!. 3 AAÜG), erhält der einem Regierungsdirektor vergleichbare Staatsbedienstete dieselbe Versorgung wie ein Staatssekretär. Auf diese Weise wird bei der Rentenüberleitung eine Nivellierung bewirkt, die durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigt ist. 54
55
Hier BGHSt 28, 360 (363). BVerfGE 55, 72 (88 sub II I); 60, 329 (346 sub II 1).
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Insbesondere kann die Gruppenungerechtigkeit nicht mit dem Hinweis entkräftet werden, daß auch nach dem bisherigen westdeutschen Rentenversicherungsrecht das effektive Arbeitsentgelt nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt wird. Denn da die Sozialversicherten auch nur bis zu dieser Höhe Beiträge leisten, können sie sich durch den Abschluß von Privatversicherungsverträgen eine ergänzende Altersrente sichern, wenn ihnen nicht ohnehin eine zusätzliche betriebliche Altersversorgung oder bei Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst eine Versorgung aus der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder zusteht. Diese Möglichkeit besteht jedoch insbesondere bei den übergeleiteten Bestandsrenten nicht, so daß die starre und pauschale Kappung für die Gruppe der Höherverdienenden sachlich nicht gerechtfertigt ist. Die Reduzierung der Versorgung durch Einführung einer Beitragsbemessungsgrenze ist verfassungsrechtlich auch deshalb problematisch, weil Art. 20 Abs. 2 Satz 3 StaatsV bei der Rentenüberleitung die "bisher erworbene(n) Ansprüche und Anwartschaften" garantierte und nur ungerechtfertigte und überhöhte Leistungen abschaffen oder abbauen wollte. Nehmen aber die überzuleitenden Ansprüche und Anwartschaften an dem Schutz der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG teil, dann können sie nur unter den im Staatsvertrag genannten Voraussetzungen, nicht aber schlechthin abgesenkt werden. Arbeitsentgelte über dem 1,8-fachen des Durchschnittsverdienstes sind für viele Versorgungsberechtigte, z. B. die Gruppe der Hochschullehrer, weder überhöht noch ungerechtfertigt, so daß die drastische Versorgungskappung in Verbindung mit der Einführung eines Höchstbetrages für Renten aus der Rentenversicherung und Zusatzversorgungen auf 2 010,- DM (für Versichertenrenten) für viele Gruppen verfassungswidrig ist.
VII. Die Schwierigkeiten einer Vergangenheitsbewältigung Bei einer abschließenden Würdigung ist zu bedenken, daß jede Vergangenheitsbewältigung problematisch ist. Man kann ein ganzes Volk, wie die Erfahrungen nach 1945 gezeigt haben, nicht entnazifizieren, man kann es aber auch nicht entsozifizieren, insbesondere nicht mit Hilfe des Sozialversicherungsrechts. Jede pauschale historische Schuldzuweisung ist dubios. Das gilt für die Präambel jenes Kontrollratsgesetzes, das Preußen zum Hort des Militarismus und der Reaktion in Deutschland stempeln wollte 56 ebenso, wie für Art. 42 Abs. 1 der hessischen Verfassung, wonach Großgrundbesitz "die Gefahr des politischen Mißbrauchs oder der Begünstigung militärischer Bestrebungen" in sich birgt. Die Erfahrungen im "Dritten Reich" haben gezeigt, daß die "Systemnähe" als geeignetes Abgrenzungskriterium nicht taugt, weil zweifelhaft bleibt, ob ein Reichsgerichtsrat das nationalsozialistische System mehr gestützt hat als der Arbeiter in einer Munitionsfabrik. Die "Staats- und Systemnähe" als Anlaß für Rentenkürzungen zu nehmen, ist 56
Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats vom 25. Februar 1947.
82
2. Speyerer Sozialrechtsgespräch
schon deshalb fragwürdig, weil mancher westdeutsche Politiker, der einen Händedruck von Erich Honecker wie eine Ordensverleihung empfand, durch sein Verhalten das DDR-Regime effektiver gestützt haben dürfte als kleine "Mitläufer" im Staatsapparat. Mit gutem Grund hat Art. 11 der französischen Verfassung von 1814 auch den Gerichten und den Bürgern alle Nachforschungen hinsichtlich der Gesinnungen und der Stimmabgaben bis zum Zeitpunkt der Restauration verboten. Will man keinen Schlußstrich unter die DDR-Vergangenheit mit einer Generalamnestie (gegebenenfalls mit Ausnahmen für schwere Straftaten) ziehen 57, so bleibt nur die individuelle Strafverfolgung innerhalb der rechtsstaatlich gebotenen Schranken. Man wird den Opfern jedoch nicht dadurch gerecht, daß man neue Ungerechtigkeiten begeht. Schon Friedrich der Große proklamierte, lieber zwanzig Schuldige freizusprechen als einen Unschuldigen zu opfern58 . Was sich auf das Strafrecht bezog, sollte auch für das Sozialversicherungsrecht gelten. Denn die Sozialversicherungsträger sind keine moralischen Anstalten, die das Fehlverhalten ihrer Mitglieder ahnden können. Wenn man mit Strafurteilen aus rechtsstaatliehen Gründen keine Gerechtigkeit schaffen kann, dann sprechen diese auch dagegen, durch Rentenbescheide generell und pauschal zu sühnen. Insbesondere sollte man die Renten nicht noch gleicher machen, als selbst der Kommunismus es wollte.
57 Hierzu neuestens Helmut Quaritsch über Bürgerkriegs- und Feind-Amnestien, Der Staat 31, 1992, S. 389 ff. 58 Dissertation sur les raisons d'etablir ou d'abroger les lois (
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1.5 Teilzeitquote zusatzlieh +5,2%-Pkte. (= -26 Std .) ab 1997
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1.2 Jahresarbeitszeit zusatzlich - 26 Std. ab 1997 mit vollem Lohnausgleich
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Abbildung 8: Erwerbstätige bei unterschiedlichen Arbeitszeitvarianten 1996-2005*) (Einmalige Verkürzung der Jahresarbeitszeit [Abweichung vom Referenz-Szenario]- in Mio.)
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2.3 Lohnwachstum=lnflationsrate - - nur 1997
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2.4 Lohnwachstum=lnflationsrate 1997-1999
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2.6 Lohnwachstum=Produktivrtätsrate " " ' ab 1997
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zur- - - - - - - - - - - Arbeitslosenversicherung
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I' 1992- 2040 Deutschland insgesamt Mrd.DM
1992
2000
2010
2040
Oberes Szenario Einnahmen Ausgaben Beitragssatz in %
279,8 270,3 17,7
471 ,8 463,2 20,0
913,5 900,9 22,4
4522,7 4478,8 26,3
Unteres Szenario Einnahmen Ausgaben Beitragssatz in %
279,8 270,3 17,7
462,4 457,1 20,0
842,8 832,8 23,0
3133,8 3121,2 28,7 prognos
1) in der Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
Beitragssätze in der Sozialversicherung 1992- 2040 - Deutschland -
Oberes Szenario Gesetzl. Rentenversicherung Gesetzl. Krankenversicherung Gesetzl. Pflegeversicherung Arbeitslosenversicherung Insgesamt Unteres Szenario Gesetzl. Rentenversicherung Gesetzl. Krankenversicherung Gesetz!. Pflegeversicherung Arbeitslosenversicherung Insgesamt
1992
2000
2010
2040
17,7 12,7
20,0 13,3 1,6 6,1 41,0
22,4 13,9 1,7 5,4 43,4
26,3 16,0 2,3 4,0 48,6
20,0 13,5 1,6 5,8 40,9
23,0 14,4 1,8 5,3 44,5
28,7 16,1 2,6 5,3 52,7
6,3 36,7
17,7 12,7 6,3 36,7
prognos
Frühverrentung - Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsentwicklung Von Dr. Werner Tegtmeier Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Rentenversicherung steht wieder einmal in den Schlagzeilen. Von "Milliardendefiziten", Beitragssatzerhöhungen, Frühverrentung und ähnlichen Schlagworten ist die Rede. Damit verbunden ist auch eine Wiederbelebung der Diskussion um die langfristige Sicherheit der Renten. Für die Untergangspropheten ist die momentane Situation der Rentenversicherung ein Beleg dafür, daß die Rentenversicherung langfristig nicht haltbar sei. Für diese Einschätzung spielt es keine Rolle, daß die Langfristperspektive der Rentenversicherung von der Bevölkerungsentwicklung und insbesondere der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung - also dem Zahlenverhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern - abhängig sein wird, die aktuellen Probleme hingegen von der momentanen Arbeitsmarktentwicklung und zu korrigierenden Fehlentwicklungen im Leistungsrecht Angesichts des Themas möchte ich den Schwerpunkt meiner Darlegung auf die aktuellen Probleme der Rentenversicherung legen. Der Beitragssatz mußte zum 1. Januar dieses Jahres von 18,6% auf 19,2% erhöht werden. Die Rentenversicherung finanziert sich nach dem Umlageverfahren, d. h. aus den Einnahmen eines Jahres müssen die Ausgaben dieses Jahres aufgebracht werden, und zum Jahresende muß eine Schwankungsreserve in Höhe einer Monatsausgabe verbleiben. Entsprechend diesen im Sechsten Buch des Sozialgesetzbuches enthaltenen Vorgaben wurde im letzten Herbst unter Zugrundelegung der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Annahmen über die künftige wirtschaftliche Entwicklung eine Beitragssatzerhöhung um 0,6 Prozentpunkte vorgenommen. Diese Annahmen haben sich mittlerweile als zu optimistisch herausgestellt. Das wirtschaftliche Wachstum ist geringer als erwartet, die Beschäftigungsentwicklung bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück, und bei den diesjährigen Tarifverhandlungen ging oder geht Beschäftigungssicherung vor Lohnerhöhungen. Alles zusammen führt zu einem sehr geringen Anstieg der Summe der beitragspflichtigen Entgelte und damit auch der Beitragseinnahmen der Rentenversicherung. Die größten Sorgen bereitet die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Nach aktuellem Stand - die Daten beziehen sich auf Dezember 1995 - waren in den alten
322
6. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Ländern 22,47 Millionen und in den neuen Ländern 5,55 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte registriert. Im Vergleich zum Dezember 1994 bedeutet dies einen Rückgang in den alten Ländern um 232.000 oder 1% und in den neuen Ländern um 30.600 oder 0,5%. Für ganz Deutschland hat sich demnach die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Vergleich zum Jahresende 1994 um 263.000 oder 0,9% auf rund 28 Millionen zum Jahresende 1995 vermindert. Mit der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geht auch die Zahl der Erwerbstätigen zurück und nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu. Der strenge Winter hat die saisonale Arbeitslosigkeit noch über das konjunkturell bedingte Ausmaß hinaus ansteigen lassen, allerdings zeigen die neuesten Zahlen für den Monat März, daß hier der Höhepunkt im Februar überschritten worden ist. Ende März 1996 waren in den alten Ländern 2,87 Millionen Arbeitslose registriert, im Februar waren es noch 2,96 Millionen gewesen. Entsprechend sank die Arbeitslosenquote von 9,6% auf 9,3%. Im März des Vorjahres lag sie allerdings noch bei 8,5%. Auch in den neuen Ländern ging die Arbeitslosigkeit von Februar auf März leicht zurück - von 1,31 Millionen auf 1,27 Millionen. Die Arbeitslosenquote reduzierte sich von 17,5% auf 17,0%, im März 1995 lag sie noch bei 14,2%. Für alte und neue Länder zusammengerechnet ergibt sich eine Arbeitslosenzahl von 4,14 Millionen für den März 1996, nach 4,27 Millionen im Februar, ein Rückgang um rund 129.000 Arbeitslose. Entsprechend sank die Arbeitslosenquote von 11,1% auf 10,8%, gegenüber dem März 1995 mit 9,6% aber immer noch ein deutlicher Anstieg. Für die Rentenversicherung führt eine Erhöhung der Arbeitslosenzahl um 100.000 Personen zu Beitragsmindereinnahmen in Höhe von 600 Millionen DM pro Jahr. Die finanzielle Situation der Rentenversicherung wird aber noch zusätzlich durch die sogenannte "Frühverrentung" belastet. Dieser Begriff ist recht vieldeutig; gegenwärtig wird er überwiegend für das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben über die Rente wegen Arbeitslosigkeit verwendet. Dem Rentenrecht lag ursprünglich die Intention zugrunde, daß eine Altersrente erst nach Erreichen der Regelaltersgrenze von 65 Jahren bezogen werden kann und davon nur in besonderen Ausnahmefällen abgewichen wird. Bei vorzeitiger, d. h. vor Erreichen der Regelaltersgrenze eintretender Einschränkung der Erwerbsunfahigkeit sind Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten. Doch zunächst zu den Altersrenten. Bis 1972 gab es neben der ab 65 Jahren zu beziehenden Regelaltersrente nur zwei vorgezogene Altersrenten: - Rente wegen Arbeitslosigkeit Sie wurde 1957 eingeführt und sollte für unverschuldet arbeitslos gewordene ältere Arbeitnehmer aufgrund ihrer geringen Vermittlungschancen langjährige Arbeitslosigkeit bis zum Rentenbeginn mit 65 Jahren und den damit verbundenen sozialen Abstieg verhindern. Deshalb wurde für diesen Personenkreis die Alters-
Hat die Rentenversicherung noch Zukunft?
323
grenze als Sonderregelung auf 60 Jahre herabgesetzt. Bezugsvoraussetzung für die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ab 60 Jahre ist, daß ein Versicherter innerhalb der letzten eineinhalb Jahre vor Beginn der Rente insgesamt 52 Wochen arbeitslos war, für die letzten zehn Jahre vor Rentenbeginn acht Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nachweisen kann und die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt hat. - Altersrente für Frauen Auch diese Altersrentenart wurde 1957 eingeführt und sollte für Frauen durch den auf das 60. Lebensjahr vorgezogenen Rentenbeginn einen Ausgleich für die Doppelbelastung aus Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit schaffen, sofern sie zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr zumindest 10 Jahre versicherungspflichtig beschäftigt waren. Durch das Rentenreformgesetz 1972 kamen ab 1973 weitere vorgezogene Altersrenten hinzu: - die flexible Altersrente ab 63 Jahren für langjährig Versicherte und - die Altersrente für Schwerbehinderte, Berufs- und Erwerbsunfähige, die zunächst ab 62 Jahre, 1979 ab 61 Jahre und seit 1980 ab 60 Jahre bezogen werden kann. Durch die Einführung dieser vorgezogenen Altersgrenze verlor die Regelaltersrente bei männlichen Versicherten ihre Dominanz. Bis 1972 erreichte die Regelaltersrente regelmäßig um 90% des jährlichen Altersrentenzugangs, ab 1972 ging ihr Anteil deutlich zurück. Grund war die hohe Inanspruchnahme der Altersrente für langjährig Versicherte ab 63 Jahren. Ab 1973 erreichte sie zunächst einen Anteil am jährlichen Altersrentenzugang von bis zu 48%, während der Anteil der Regelaltersrente in wenigen Jahren auf bis zu 18% absank. Bei den weiblichen Versicherten hingegen hat sich durch das Rentenreformgesetz 1972 nur wenig verändert. Bei ihnen verteilt sich der jährliche Altersrentenzugang im wesentlichen auf die Regelaltersrente und auf die Altersrente für Frauen ab 60 Jahre. Veränderungen im Zeitablauf beschränken sich auf Anteilsverlagerungen zwischen beiden Rentenarten, die im Zeitablauf zusammen einen Anteil von deutlich über 90% am jährlichen Altersrentenzugang weiblicher Versicherter ausmachten. Die Rente wegen Arbeitslosigkeit war bis zur Mitte der siebziger Jahre das, was sie ihrer Konzeption nach sein sollte: eine Ausnahme. Nur in der "kleinen" Rezession von 1967 /68 stieg ihr Anteil einmal auf knapp 7% des jährlichen Zugangs an Altersrenten, in manchen Jahren waren es nur 1%, wobei der Anteil bei männlichen Versicherten stets deutlich über dem bei weiblichen Versicherten lag. Seit Mitte der siebziger Jahre hat sich das Bild erheblich verändert. Bei den männlichen Versicherten hat sich der Anteil der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit vervierfacht - 1976 wurden erstmals über I 0% am jährlichen Altersrentenzugang erreicht, danach nahm dieser Anteil zunächst langsam zu, seit 1988 ist eine fast schon explosionsartige Steigerung feststellbar: 1988 über 20%, 1993 rund 26% und 1994
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schließlich sogar etwa 40%. Für männliche Versicherte ist die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit damit von der Ausnahme schon fast zur Standardaltersrente geworden. Nur bei weiblichen Versicherten ist die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit weiterhin ein Ausnahmefall. Die hohe Inanspruchnahme vorgezogener Altersgrenzen hat zu einer Vorverlagerung des Renteneintrittsalters geführt. Die Rentner sind - bezogen auf den Reuteneintritt-seit 1973 im Durchschnitt immer jünger geworden, das durchschnittliche Renteneintrittsalter beträgt mittlerweile rund 59 Jahre. Das sinkende Renteneintrittsalter korrespondiert mit einer im Zeitablauf sinkenden Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer. Bei 60- bis 65jährigen Männern betrug die Erwerbsquote in den alten Ländern 1970 noch fast 72%, nach Einführung der flexiblen Altersgrenzen im Jahr 1975 nur noch 58,3%, 1985 nur noch 34,2% und 1994 lag sie bei nur noch schätzungsweise 33,4%. Die Erwerbsquote bei den 60- bis 65jährigen Männern hat sich also mehr als halbiert. Auch bei den 55- bis 60jährigen Männern ist ein Rückgang feststellbar, allerdings in deutlich geringerem Umfang: von 88,5 % im Jahr 1970 auf rund 80% im Jahr 1994. Bei Frauen ging die Erwerbsquote der 60- bis 65jährigen von 20,4% im Jahr 1970 auf schätzungsweise 12% im Jahr 1994 zurück. Bei den 55- bis 60jährigen Frauen ist zwischen 1970 und 1994 sogar eine erhöhte Erwerbsneigung zu verzeichnen: Die Erwerbsquote stieg von 36,4% auf rund 47%. Ich habe mich bisher auf die Darstellung der Entwicklung in den alten Länder beschränkt. Die Situation in den neuen Ländern ist aufgrund der Folgen des wirtschaftlichen Strukturbruchs nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft der ehemaligen DDR mit der in den alten Ländern nicht vergleichbar. Der sich seit Ende 1989 abzeichnende Zusammenbruch der ineffizienten und personell völlig überbesetzten Kombinate der DDR führte zu einer Freisetzung von Arbeitskräften in einem in Westdeutschland unbekannten Ausmaß. Mit einer Vielzahl arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen wurden die sozialen Folgen abgefedert. Dazu gehörte auch die Altersübergangsgeldregelung, durch die für ältere Arbeitslose eine Überbrükkung bis zum Rentenbeginn mit 60 Jahren geschaffen wurde. Die Altersübergangsgeldregelung ist ausgelaufen, d. h. Altersübergangsgeld wird nur noch gezahlt, wenn die Arbeitslosigkeit bis zum Jahresende 1992 eingetreten und der Antrag auf Altersübergangsgeld bis zur Jahresmitte 1993 gestellt worden ist. Ende 1995 gab es in den neuen Ländern noch 241.000 Empfänger von Altersübergangsgeld, die alle die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit in Anspruch nehmen werden. Als Folge der Arbeitsmarktprobleme lag der Anteil des Zugangs bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit an allen Altersrenten in den neuen Ländern 1994 bei fast 51%, während die Erwerbsquoten der 60- bis 65jährigen Männer bis 1994 auf schätzungsweise 14,7% zurückgegangen ist.
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Zusammenfassend läßt sich festhalten: - Es besteht eine deutliche Präferenz der Versicherten für einen möglichst frühen Rentenbeginn. Dies bestätigen nicht nur die Rentenzugangszahlen, sondern auch Umfrageergebnisse zur Dauer der Lebensarbeitzeit Die heute den Versicherten offenstehenden Wahlmöglichkeiten bzw. die eingeräumten Vergünstigungen werden von denjenigen Versicherten, die die besonderen Anspruchsvoraussetzungen für die vorgezogenen Altersrenten erfüllen, auch weitestgehend in Anspruch genommen werden. Für diesen Personenkreis sind die vorgezogenen Renten zur "Regelleistung" geworden, wobei die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Die Inanspruchnahme der Regelaltersrente beschränkt sich hingegen fast ausschließlich auf diejenigen Versicherten, die die besonderen Bezugsvoraussetzungen für die vorgezogenen Alterssicherungsleistungen nicht erfüllen oder den Ruhestand hinausschieben müssen, um durch Weiterarbeit bis zum 65. Lebensjahr niedrige Anwartschaften aufzustocken. - Arbeitsmarktentwicklung und Bezugsvoraussetzungen für vorgezogene Altersrenten steuern den Rentenzugang. Die Präferenz der Versicherten für einen möglichst frühen Rentenbeginn nutzen die Unternehmen, um Personalanpassungen möglichst friktionslos durchführen zu können. Die Unterschiede im Rentenzugang bei Männern und Frauen spiegeln lediglich die unterschiedlichen Bezugsvoraussetzungen wider: Während den weiblichen Versicherten über die Altersrente für Frauen ein direkter Zugang zur Altersrente ab 60 Jahre ermöglicht wird, gibt es für männliche Versicherte diesen direkten Weg in die Altersrente ab 60 Jahre nicht. Entweder ist Arbeitslosigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres oder die Anerkennung als Schwerbehinderter, Berufs- oder Erwerbsunfähiger erforderlich. Um die Entwicklung des durchschittlichen Renteneintrittsalters und die darauf einwirkenden Einflüsse des Arbeitsmarktes beurteilen zu können, ist allerdings zumindest ein kurzer Blick auf die Entwicklung bei den Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erforderlich. Für die Gewährung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sieht der Wortlaut des Gesetzes zwei nach dem Ausmaß der gesundheitlichen Einschränkungen gestaffelte Rentenarten vor: - Die Rente wegen Berufsunfähigkeit, die zu gewähren ist, wenn die gesundheitlichen Einschränkungen eine Erwerbstätigkeit nur noch in eingeschränktem Umfang zulassen, so daß die Ausübung des bisherigen Berufes nicht mehr möglich ist. Die Rente wegen Berufsunfähigkeit soll den dadurch bedingten Ausfall eines Teils des bisherigen Erwerbseinkommens ersetzen. - Die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ist zu gewähren, wenn die Erwerbsfähigkeit so weit eingeschränkt ist, daß eine über den Umfang der Geringfügigkeits-
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grenze in Höhe von 590 DM hinausgehende Erwerbstätigkeit nicht mehr möglich ist. Folglich hat die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht nur einen ausfallenden Einkommensanteil, sondern den Ausfall des gesamten Erwerbseinkommens zu ersetzen. Die Berechnung ist deshalb an die einer Altersrente angeglichen - der sogenannte Rentenartfaktor beträgt wie bei Altersrenten 1,0, bei einer Rente wegen Berufsunfähigkeit hingegen nur 0,6667. Die Rechtsprechung der Gerichte hat dazu geführt, daß auch die Arbeitsmarktlage bei der Entscheidung, ob eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren ist, berücksichtigt werden muß. Kann einem gesundheitlich eingeschränkten Versicherten keine seiner Leistungsfähigkeit entsprechende Erwerbstätigkeit innerhalb einer Rahmenfrist vermittelt werden, so ist stets die höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, auch wenn aufgrund der verbliebenen Resterwerbsfähigkeit eine Weiterarbeit möglich und deshalb nur eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren wäre. Bei 31 % aller Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit spielt die Arbeitsmarktlage eine Rolle; der VOR schätzt die dadurch verursachten Mehrkosten auf rund 5 Milliarden DM pro Jahr. Hier finanziert die Rentenversicherung ein Risiko, das eigentlich von der Arbeitslosenversicherung zu übernehmen wäre. Wegen dieser offensichtlichen Fehlentwicklung ist eine umfassende Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfahigkeit, die sogenannte "große EU-/EU-Reform", in Vorbereitung. Ziel dieser Reform ist es, die Gewährung von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit stärker als bisher auf die dem Versicherten noch verbleibende Resterwerbsfahigkeit abzustellen.
I. Demographische Entwicklung und Anhebung der Altersgrenzen durch das Rentenreformgesetz 1992
Die Vorverlegung des durchschnittlichen Alters bei Rentenbeginn bewirkt eine für die Sozialversicherung relevante Verkürzung der Lebensarbeitszeit Für die Finanzen der Rentenversicherung bedeutet dies zweierlei: Minderung der Beitragseinnahmen Mit sinkendem durchschnittlichen Renteneintrittsalter sinken einerseits die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung. Geht ein Versicherter bereits mit 60 statt mit 65 Jahren in Rente, fehlen der Rentenversicherung fünf Beitragsjahre und die entsprechenden Beitragszahlungen je Frührentner. Anstieg der Rentenausgaben Mit sinkendem durchschnittlichen Renteneintrittsalter steigen andererseits auch die Ausgaben der Rentenversicherung. Je jünger die Rentner bei Rentenbeginn im Durchschnitt sind, desto länger beziehen sie ihre Rente. Die durchschnittliche Rentenlaufzeit nimmt zu und damit auch die durchschnittliche Rentensum-
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me, die ein Rentner über die Laufzeit hinweg bezieht, da die längere Laufzeit nicht über einen versicherungsmathematischen Korrekturfaktor ausgeglichen wird. Oder noch einfacher: Die Anzahl der gezahlten Renten und damit auch der Rentner steigt. Beitragsmindereinnahmen einerseits und Ausgabenerhöhungen andererseits verschlechtem die Finanzgrundlagen der Rentenversicherung. Hinzu kommt, daß diese Entwicklung noch von einer Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung begleitet wird, die für sich genommen bereits zu einer Verlängerung der Rentenbezugsdauer und folglich zu einem Anstieg der durchschnittlichen Rentensumme je Rentner führt. Wie sich die Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung auswirkt, läßt sich einfach veranschaulichen: Die durchschnittliche Lebenserwartung, die einem 60jährigen Mann bzw. einer 60jährigen Frau noch verbleibt, hat sich von Anfang der siebziger Jahre mit 15,3 Jahren bei Männem bzw. 19,1 Jahren bei Frauen bis zum Anfang der neunziger Jahre auf 17,8 Jahre bzw. 22,2 Jahre erhöht. Bei einem durchschnittlichen Renteneintrittsalter von momentan rund 59 Jahren bedeutet dies in der statistischen Durchschnittsbetrachtung, daß die Versicherten bei Rentenbeginn noch rund ein Viertel ihres Lebens vor sich haben. Bezieht man schließlich noch die geringe Geburtenrate in die Betrachtung mit ein, wird die Dimension des Problems deutlich. Die Zahl der Sterbefälle innerhalb eines Jahres wird durch die Geburten dieses Jahres nicht ausgeglichen, dadurch altert und schrumpft die Bevölkerung zugleich. Damit verbunden ist ein Rückgang des Anteils der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung, gleichzeitig steigt der Anteil der Personen, die nicht mehr erwerbstätig sind, weil sie die Altersgrenzen überschritten haben. Allerdings - und man kann darauf in diesem Zusammenhang nicht oft genug hinweisen - ist das Verhältnis von Personen im Alter von 60 Jahren und älter zu Personen im Alter zwischen 20 bis unter 60 Jahre- der sogenannte Altenquotient - allein kein aussagekräftiger Indikator für die künftige Belastung der Rentenversicherung. Nicht das Verhältnis der Altersgruppen zueinander ist die entscheidende Größe, sondern die Anzahl der Rentenbezieher im Verhältnis zu den erwerbstätigen Versicherten. Aus der Einsicht, daß unter den skizzierten demographischen Rahmenbedingungen bei unverändertem Recht mit einer Verdoppelung des Beitragssatzes bis zum Jahr 2030 zu rechnen wäre, hatte sich der Gesetzgeber bereits 1989 zu einem friihzeitigen Gegensteuern entschieden. Das 1989 verabschiedete Rentenreformgesetz 1992 enthält - neben anderen Maßnahmen zur Anpassung der Rentenversicherung an die sich aus der demographischen Entwicklung ergebenden finanziellen Konsequenzen - eine Heraufsetzung der vorgezogenen Altersgrenzen, die künftig zu einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit führen soll. 22 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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Dazu sieht das Rentenreformgesetz 1992 die stufenweise Heraufsetzung der vorgezogenen Altersgrenzen auf die Regelaltersgrenze von 65 Jahren ab dem Jahr 2001 vor. Ausgenommen bleiben soll davon nur die Altersrente für Schwerbehinderte, Berufsunfähige und Erwerbsunfähige sowie die nur von der knappschaftliehen Rentenversicherung gewährte Altersrente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute. Die Anhebung der übrigen vorgezogenen Altersrenten soll mit dem Jahr 2012 abgeschlossen sein. Die Anhebung soll von einer Flexibilisierung der Altersrenten begleitet werden, d. h. eine vorzeitige Inanspruchnahme soll auch nach dem Jahr 2000 möglich sein. Allerdings soll die sich aus der vorzeitigen Inanspruchnahme ergebende längere Rentenlaufzeit durch eine Rentenminderung in Höhe von 0,3% des Zahlbetrags je Monat bzw. 3,6% je Jahr der vorzeitigen Inanspruchnahme ausgeglichen werden. Die im Rentenreformgesetz 1992 enthaltene Anhebung der Altersgrenzen ist eine langfristig angelegte Strategie, die in breitem parlamentarischen Konsens zustande gekommen ist. Am Zustandekommen dieser Einigung waren Arbeitgeber und Gewerkschaften maßgeblich beteiligt. Die Frühverrentungspraxis über die Rente wegen Arbeitslosigkeit droht diesem gewollten und als notwendig angesehenen Komprorniß jedoch die Grundlage zu entziehen. Mit der frühzeitigen gesetzlichen Fixierung und den langfristigen Übergangsregelungen für die Heraufsetzung der Altersgrenzen wollte der Gesetzgeber sowohl den Versicherten, für die eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit einen Eingriff in ihre langfristige Lebensplanung darstellt, als auch den Arbeitgebern, die sich in ihrer Personalplanung auf das längere Verbleiben von Arbeitnehmern im Betrieb einstellen müssen, ausreichend Zeit geben, sich auf die kommenden Veränderungen einzustellen. Seit der Verabschiedung des Rentenreformgesetzes 1992, also seit Ende 1989, ist allerdings keine Reaktion von Versicherten und Arbeitgebern feststellbar, die darauf hindeuten würde, daß die notwendigen Anpassungen an die Erfordernisse künftig steigender Altersgrenzen vorgenommen werden. So wird beispielsweise der seit 1992 mögliche Teilrentenbezug kaum genutzt. Bei Teilrente wird die Altersrente nur in Höhe von einem Drittel, der Hälfte oder zwei Dritteln des Vollrentenanspruchs bezogen und mit Weiterarbeit im Rahmen von entsprechend der Höhe der Teilrente gestaffelten Hinzuverdienstgrenzen kombiniert. Bei den Versicherten hat sich an der Präferenz für einen möglichst frühen Reutenbeginn nichts verändert. Die Unternehmen wiederum unterlassen es nicht nur, die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu schaffen, beispielsweise durch Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen, Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Weiterbildungsangebote für ältere Arbeitnehmer und ähnliche Maßnahmen. Noch wesentlich gravierender ist, daß die Verlängerung
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der Lebensarbeitszeit faktisch unterlaufen wird. Insbesondere Großunternehmen lösen Personalprobleme überwiegend durch Entlassung älterer Arbeitnehmer. An den geringen Vermittlungschancen älterer Arbeitsloser, mit denen 1957 die Einführung dieser speziellen Altersrente begründet worden war, hat sich nichts verändert. Über 55jährige Arbeitslose haben nur in seltenen Fällen Aussicht auf einen neuen Arbeitsplatz. Aus diesem Grund räumt auch das Arbeitsförderungsgesetz - bei Vorliegen der geforderten Mindestbeschäftigungsdauer vor Beginn der Arbeitslosigkeit - älteren Arbeitslosen mit 32 Monaten die Höchstanspruchsdauer auf Arbeitslosengeld ein. Die Möglichkeit des Rentenbezugs ab 60 Jahre und die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld wirken zusammen und bieten einen Anreiz für Arbeitgeber und Versicherte, die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit für betriebliche Personalpolitik zu mißbrauchen. Dadurch hat die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit eine Denaturierung ihrer ursprünglichen sozialen Schutzfunktion erfahren. Langzeitarbeitslosigkeit nach dem 60. Lebensjahr soll verhindert werden und wird auch verhindert, aber um den Preis von Langzeitarbeitslosigkeit vor dem 60. Lebensjahr. Das soziale Problem der Langzeitarbeitslosigkeit wird also nur auf ein jüngeres Lebensalter vorverlagert, und die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ist insoweit auch partiell Ausdruck für das Entstehen von Langzeitarbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer. Die Altersrente für Arbeitslose führt zu einer Verdrängung älterer Arbeitnehmer - mittlerweile schon der 54jährigen und jüngeren - vom Arbeitsmarkt. Bezahlt wird die Frühverrentung zum überwiegenden Teil von der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung. Und hierin liegt auch der entscheidende Unterschied zur Vorruhestandsregelung der achtziger Jahre, die immer wieder falschlieh mit der heutigen Frühverrentungspraxis in Zusammenhang gebracht wird, um nicht zu sagen verwechselt wird. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sprechen häufig von Vorruhestand, wenn sie die Rente wegen Arbeitslosigkeit meinen. Die Vorruhestandsregelung wurde 1984 eingeführt und war bis Ende 1988 befristet, d. h. es gibt seit 1989 keinen Neuzugang mehr. Ziel dieser Regelung war es, den Rentenzugang über die Rente wegen Arbeitslosigkeit zu verhindern, also Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung finanziell zu entlasten. Deshalb wurde die Vorruhestandsregelung größtenteils von den Arbeitgebern und nicht von Arbeitslosen- und Rentenversicherung finanziert. Das Vorruhestandsgeld wurde vom bisherigen Arbeitgeber auf tarifvertraglicher oder einzelvertraglicher Basis gezahlt, es war steuer- und beitragspflichtiges Einkommen, und die Arbeitgeber leisteten die für Arbeitnehmer üblichen Arbeitgeberanteile für die Kranken- und Rentenversicherung. Dem Arbeitgeber wurden von der Bundesanstalt für Arbeit 35% des Vorruhestandsgelds erstattet, wenn der freiwerdende Arbeitsplatz mit einem Arbeitslosen oder einem Auszubildenden nach Abschluß der Ausbildung wiederbesetzt wurde. Rente konnte der Vorruhestandsgeldbezieher frühestens mit Vollendung des 63. Lebensjahres beziehen. 22*
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Parallel zur Vorruhestandsregelung versuchte der Gesetzgeber, die Nutzung der Frühverrentungspraxis über die Rente wegen Arbeitslosigkeit zu erschweren. Die Erstattungspflicht des Arbeitslosengeldes durch den ehemaligen Arbeitgeber nach § 128 des Arbeitsförderungsgesetzes hat allerdings niemals die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen können. Nach vielfältigen Rechtsänderungen und einem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts verblieb nur noch eine "zahnlose" Erstattungsregelung, die mit ihren verfassungsrechtlich gebotenen, sehr differenzierten Ausnahmetatbeständen wenig bringt - so betrugen die Einnahmen der BA 1995 nur rund 500 Mio. DM, von denen der größte Teil auch noch mit Klagen der Arbeitgeber behaftet ist. Auf die parallel zur Erstattungspflicht des Arbeitslosengeldes geschaffene Erstattungspflicht des ehemaligen Arbeitgebers für die Aufwendungen der Rentenversicherung in Höhe der Rentenzahlung zwischen dem 60. und 63. Lebensjahr wurde wegen ihrer geringen Effektivität sogar bald ersatzlos verzichtet. Im Vergleich dazu wird die derzeit praktizierte Frühverrentung nur zu einem sehr geringen Teil von den ehemaligen Arbeitgebern der Entlassenen finanziert. So kostet beispielsweise die Entlassung eines 58jährigen Arbeitnehmers die Arbeitslosenversicherung durch ausfallende Beiträge für den Entlassenen und dessen Arbeitslosengeldbezug innerhalb von zwei Jahren durchschnittlich 92.000 DM. Der Entlassene bezieht Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ab seinem 60. Geburtstag, während er sonst frühestens mit 63 Jahren Altersrente hätte erhalten können. Dieser um drei Jahre vorgezogene Ruhestand kostet die Rentenversicherung wegen ausfallender Beitragszahlung und vorgezogener Rentenzahlung je Bezieher durchschnittlich 127.000 DM. Die 290.000 Frührentner im Jahr 1995 kosteten die Rentenversicherung damit fast 37 Milliarden DM, die Arbeitslosenversicherung knapp 27 Milliarden. Zusammengerechnet sind dies Kosten in Höhe von mehr als 63 Milliarden DM. Im Vergleich zu den hochgerechneten 63 Milliarden DM, die Arbeitslosen- und Rentenversicherung zu tragen haben, beteiligen sich die Unternehmer über SozialplanregeJungen zur Aufstockung von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe meist auf 90% des letzten Nettoentgelts - nur mit bescheidenen 1,8 Milliarden DM. Mit Beginn des Rentenbezugs, also ab dem 60. Geburtstag des Arbeitslosen, enden die Verpflichtungen der Arbeitgeber aus Sozialplänen. Insgesamt stellte dieser Weg zum Personalabbau aus Sicht der Großunternehmen also eine sehr kostengünstige Möglichkeit der Lösung betrieblicher Personalprobleme dar. Die Kosten dieses Vorgehens tragen hingegen über höhere Beiträge alle Versicherten und Arbeitgeber. Trotz der beschriebenen Kostenverteilung wird die Frühverrentung über die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit noch immer als einzige "sozialverträgliche" Möglichkeit zum Personalabbau gepriesen. Diese Fehleinschätzung geht sogar soweit, daß mehr und mehr auch öffentliche Arbeitgeber im Zuge von Um- bzw. Neustrukturierungen darauf zurückgreifen. Beispiele sind die im Rahmen des Truppenab-
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baus durchgeführte Verminderung der Zahl der zivilen Beschäftigten bei der Bundeswehr und der im Zuge der Privatisierung von Post und Bahn in beiden Unternehmen durchgeführte Personalabbau. Auch kann für die Zukunft nicht mehr ausgeschlossen werden, daß über Frühverrentungsmaßnahmen im öffentlichen Dienst haushaltsbedingt erforderliche Stelleneinsparungen erbracht werden könnten.
11. Geplante Korrektur der Frühverrentungspraxis
Weitere Beitragssatzerhöhungen schaden angesichts der bereits erreichten Steuer- und Abgabenbelastung dem Wirtschaftsstandort Deutschland und gefährden die künftige Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme. Angesichts dieser AusgangsJage haben sich die Vertreter von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften mit der Bundesregierung am 23. Januar dieses Jahres auf ein "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" geeinigt. Einer der Kernpunkte dieses Bündnisses ist die Korrektur der Frühverrentungspraxis. Ziel des hierzu bereits vorliegenden Entwurfes für ein Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand ist es, eine sozialverträgliche Alternative zur Arbeitslosigkeit als Anspruchsvoraussetzung für den Bezug einer vorgezogenen Altersrente zu schaffen und gleichzeitig zu einer Entlastung des Arbeitsmarktes beizutragen. Zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für einen gleitenden Übergang in den Ruhestand mittels Teilzeitarbeit soll ein gesetzlicher Rahmen für die Sozialpartner geschaffen werden, damit diese entsprechende Regelungen zur Schaffung von Altersteilzeitarbeitsplätzen treffen können. Vorgesehen ist, daß Arbeitnehmer ab Vollendung des 55. Lebensjahres ihre Arbeitszeit auf nicht weniger als 18 Stunden in der Woche reduzieren können. Stockt der Arbeitgeber das Teilzeitentgelt über das der geleisteten Arbeitszeit entsprechende Entgelt hinaus auf und entrichtet er dafür zusätzliche Beiträge zur Rentenversicherung, dann soll er für diese zusätzlichen Leistungen einen Zuschuß von der Bundesanstalt für Arbeit erhalten, wenn er durch Altersteilzeit freiwerdende Arbeitsplätze wiederbesetzt Ergänzend zur Förderung der Altersteilzeit ist die Weiterentwicklung der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit zu einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und nach Altersteilzeitarbeit vorgesehen. Neben Arbeitslosigkeit soll auch Altersteilzeit zum Bezug dieser vorgezogenen Rente berechtigten. Ferner ist vorgesehen, daß die bisherige Altersgrenze von 60 Jahren nicht - wie es im Rentenreformgesetz 1992 für die vorgezogenen Altersrenten vorgesehen ist- ab dem Jahr 2001, sondern bereits ab dem Jahresbeginn 1997 schrittweise auf das 63. Lebensjahr angehoben wird. Auch soll die Heraufsetzung innerhalb von drei Jahren erfolgen, womit sie zum Jahresende 1999 abgeschlossen wäre. Das Rentenreformgesetz 1992 sieht noch wesentlich längere Übergangszeiträume für die stufenweise Erhöhung vor. Betroffen wären von der Heraufsetzung der Altersgrenze für Arbeitslose und Altersteil-
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zeitarbeitende die Geburtsjahrgänge 1937 bis 1939, nach dem Rentenreformgesetz 1992 hingegen erst die Geburtsjahrgänge ab 1941. Ab Beginn der Anhebung, also ab Jahresanfang 1997, ist eine vorzeitige Inanspruchnahme ab dem 60. Lebensjahr vorgesehen, verbunden mit der bereits im Rentenreformgesetz 1992 enthaltenen Rentenminderung zum Ausgleich der längeren Bezugszeit in Höhe von 0,3% des Zahlbetrags je Monat bzw. 3,6% je Jahr der vorzeitigen Inanspruchnahme. Erlauben Sie mir zum Schluß noch einige grundsätzliche Anmerkungen zur Anhebung der Altersgrenzen sowie zu ihren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die Anhebung der Altersgrenzen führt zu einer Vergrößerung des Potentials an Erwerbstätigen. Dies ist langfristig unausweichlich, um den demographisch bedingten Anstieg der Rentenausgaben und damit der Beitragssätze zu begrenzen. Angesichts der momentanen Arbeitsmarktlage könnte man jedoch meinen, es sei widersinnig, die im Rentenreformgesetz ab dem Jahr 2001 vorgesehene Anhebung zumindest für die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit auf das Jahr 1997 vorzuziehen und so die Zahl der Arbeitslosen noch zu vergrößern. Momentan ist es sogar offen, ob nicht auch die Heraufsetzung der Altersgrenzen 60 Jahre bei der Altersrente für Frauen und 63 Jahre bei der Altersrente für langjährig Versicherte parallel zur Umgestaltung der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit vorgezogen wird. Zunächst zwei Anmerkungen zur Altersrente wegen Arbeitslosigkeit: I. Die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit verhindert nicht Arbeitslosigkeit, sondern sie ist auch Ausdruck der Langzeitarbeitslosigkeit von älteren Arbeitnehmern. Die zum sozialen Schutz älterer Arbeitnehmer geschaffene Sonderregelung ist vielfach zu einem Anpassungsinstrument von Einzelwirtschaften und Verwaltungen beim Beschäftigungsabbau denaturiert worden - mit gravierenden, nämlich milliardenschweren Kostenverlagerungen in die Sozialversicherung. Nicht zuletzt auch - und dies darf nicht verschwiegen werden - mit Zustimmung und Mitwirkung der betroffenen Arbeitnehmer. Allerdings mutet es wie Hohn an, wenn im gleichen Atemzug der Kosten- und Beitragsanstieg in der Sozialversicherung beklagt wird. 2. Wir müssen Abschied nehmen von der Illusion, Arbeitsmarktprobleme über Frühverrentung lösen zu können. Diese "Humankapital-Verschrottung" ist angesichts der Kostenverteilung weder "sozialverträglich", noch löst sie die Ursachen der Arbeitslosigkeit. Einzig sichtbares Ergebnis ist, daß die Frührentner immer jünger werden, weil die älteren Jahrgänge in den Großunternehmen bereits entlassen worden sind. Arbeitslosigkeit läßt sich nur durch wettbewerbsfähige Produkte und die Erschließung neuer Märkte und Beschäftigungsfelder sowie eine flexiblere Arbeitszeit- und Produktionsorganisation bekämpfen. Sowohl bei der Umgestaltung der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit als auch bei der Überlegung, auch die Heraufsetzung der Altersgrenzen für die Altersrente für Frauen und für langjährig Versicherte vorzuziehen, steht die Absicht, Beitrags-
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Satzerhöhungen zu vermeiden, im Vordergrund. Angesichts der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage ist es das vordringlichste Ziele, bestehende Arbeitsplätze zu erhalten und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Für die Schaffung von Arbeitsplätzen sind in erster Linie die Tarifpartner verantwortlich. Aber die Tarifpartner sind darauf angewiesen, daß der Gesetzgeber die dafür erforderlichen finanz-, wirtschafts-und sozialpolitischen Rahmenbedingungen schafft. Daß in dieser Hinsicht Übereinstimmung zwischen Bundesregierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften besteht, dokumentiert das bereits im Zusammenhang mit der Altersteilzeit erwähnte "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung". Soweit die Bundesregierung ihren Beitrag zum "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" leisten kann, hat sie mit ihrem "Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze" die erforderlichen Maßnahmen auf den Weg gebracht. So enthält das Aktionsprogramm unter anderem die bereits im "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" vereinbarte Vorgabe, die Summe der Beitragssätze in der Sozialversicherung bis zum Jahr 2000 auf unter 40% zu begrenzen. Dadurch soll der Faktor Arbeit von Lohnnebenkosten entlastet werden. In der Rentenversicherung sind zur Erreichung dieses Zieles neben der Korrektur der Frühverrentung über die Rente wegen Arbeitslosigkeit weitere Maßnahmen erforderlich. Ob die Anhebung der Altersgrenzen - unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt sie einsetzt - auch tatsächlich zu einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit bzw. zu einer Erhöhung des durchschnittlichen Rentenzugangsalters und damit zu Einsparungen für die Rentenversicherung führen wird, hängt allerdings nicht allein von der gesetzlichen Ausgestaltung der Voraussetzungen für den Bezug von Altersrenten ab. Dabei geht es nicht allein um die Bereitschaft der Arbeitnehmer, bis zum 65. Lebensjahr weiterzuarbeiten; sie müssen dazu auch gesundheitlich in der Lage sein. Führen höhere Altersgrenzen zu einem Ausweichen in Renten wegen verminderter Erwerbsfahigkeit, ist für die Rentenversicherung nichts gewonnen. Die bereits angesprochene Reform der Renten wegen Berufsunfahigkeit und wegen Erwerbsunfähigkeit ist deshalb auch aus diesem Grunde dringend erforderlich. Dies allein wird jedoch nicht genügen. Das Instrumentarium vorbeugender Maßnahmen bei von Erwerbsminderung bedrohten Versicherten muß verbessert und effektiver werden. Darüber hinaus setzt eine Erhöhung des durchschnittlichen Rentenzugangsalters auch die Schaffung altersgerechter Arbeitsplätze voraus. Hier ist ein Umdenken der Unternehmen erforderlich. Je nach beruflicher Tätigkeit sinkt die Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter, insbesondere bei körperlich belastender Betätigung. Eine Verkürzung der Arbeitszeit im Sinne eines Hineingleitens in den Ruhestand kann hier einen Lösungsweg darstellen. Die Bundesregierung hat mit der Vorlage des Entwurfes für ein Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand den Willen zur Schaffung der notwendigen Rahmenbedingungen bekundet. Nach Inkrafttreten des Gesetzes wird es an den Tarifparteien und der Ini-
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tiative von Unternehmensleitungen und Betriebsräten abhängen, ob dieser Weg beschritten wird. Das Umdenken in den Unternehmen muß jedoch darüber hinausgehen. Ältere Arbeitnehmer verfügen über ein in Jahrzehnten erworbenes Know how, das durch frühzeitige Entlassung unwiderbringlich verloren geht. Sicherlich veraltet berufliches Wissen angesichts der technischen Entwicklung immer schneller. Lebenlanges Lernen ist von allen gefordert, auch von älteren Arbeitnehmern, soll vorhandenes Wissen weiterhin nutzbar bleiben. Auch sollte man unter dem Schlagwort "altersgerechte Arbeitsplätze" nicht allein eine Verkürzung der Arbeitszeit verstehen. Berufliche Weiterbildung und sogar Umschulung dürfen für ältere Arbeitnehmer nicht tabu sein. Nur so eröffnen sich neue Möglichkeiten für altersgerechte berufliche Tätigkeiten. Phantasie ist gefordert, nicht das weitere Austreten der gewohnten und vielleicht auch bequemen Pfade. Mit Resignation läßt sich die Zukunft nicht gestalten.
Stellungnahmen der Sozialpartner Dr. Ursula Engelen-Kefer Stellv. Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes und stellv. Vorsitzende des Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit, Nümberg
Die Rentenversicherung lebt nicht nur vom Geld allein, von Beiträgen und Beitragszuschüssen- sie lebt vom Vertrauen, das ihr die Rentner und Versicherten entgegenbringen. Wir müssen leider feststellen, daß die Polemiken von unverantwortlichen Wissenschaftlern und verantwortlichen Politikern in den letzten Jahren dieses Vertrauen zunehmend gefährdet haben. Das mag gut sein für die Geschäftsentwicklung der privaten Lebensversicherung - und vielleicht wurde die Diskussion auch zu diesem Zweck veranstaltet -, aber es ist schlecht für eine sozial- und wirtschaftspolitisch vernünftige Gestaltung von Zukunftssicherheit Die Fachkundigen wissen die Antwort auf die Frage unserer Gesprächsrunde: Die Rentenversicherung hat schon deshalb eine Zukunft, weil es keine tragfähige und bessere Alternative gibt. Unsere Rentenversicherung leistet den entscheidenden Beitrag dazu, daß durch Vorsorge Altersarmut weitgehend vermieden wird. Sie leistet den entscheidenden Beitrag dazu, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Ruhestand den erreichten Lebensstandard weitgehend aufrechterhalten können. Und: Die Rentenversicherung enthält eine sichtbare Beziehung zwischen eigenem Beitrag und Leistung sowie Elemente des sozialen Ausgleichs, die besondere Nachteile in den Lebensbiografien kompensieren. Die Rentenversicherung leistet damit einen wichtigen Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit. Ich glaube, daß diese Grundprinzipien und Erfolge der Rentenversicherung ein hohes Maß an Zustimmung in unserer Bevölkerung erfahren. Ich glaube ferner, daß es sich für uns alle lohnt, die Rentenversicherung zu verteidigen und ihre Zukunft zu sichern.
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Damit leistet die Rentenversicherung einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration, zur Akzeptanz eines Ordnungsmodells, in dem soziale Demokratie und Marktwirtschaft sich ausbalancieren und ergänzen. Diese politischen Wirkungen unserer Sozialpolitik werden häufig in der Diskussion vernachlässigt. Insbesondere die Rentenversicherung und ihre Konstruktionsprinzipien wurden zum Gegenstand der Systemkritiker. Bezweifelt wurde und wird vor allem, daß aufgrund der demografischen Entwicklung die Rentenversicherung zu akzeptierten Beitragssätzen finanzierbar bleibt. Gegenüber dieser Systemkritik muß betont werden: Es gibt kein Alterssicherungssystem, das "demografie-resistent" ist. Auch eine steuerfinanzierte Grundsicherung kostet Geld und bei steigenden Rentnerzahlen immer mehr Geld. Auch kapitalgedeckte Sicherungssysteme "leiden" unter der Alterung der Bevölkerung, die Prämienanhebungen der privaten Lebensversicherung der letzten Zeit zeigen dies deutlich. Abgesehen davon: Ein kapitalgedecktes System in der Größenordnung der Rentenversicherung, das rund 10 Bio DM Deckungskapital erforderte, kann getrost als nicht realisierbar bezeichnet werden. Weder Grundsicherung noch Kapitaldeckung sind sinnvolle und akzeptable Alternativen. Wie sehen wir die Rentenversicherung angesichts der demografischen Entwicklung? Die Ergebnisse der Prognos AG für den VDR zeigen, daß die langfristigen demografischen Probleme ohne negative Rückwirkungen auf die Ökonomie bei steigendem Wohlstand zu bewältigen sind, selbst wenn keine politischen Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden. Berücksichtigt werden muß ferner, daß sich in fast allen Industrieländern die Altersstruktur in den nächsten Jahrzehnten in ähnlicher Weise wie in Deutschland verändern wird, d. h. hinsichtlich der internationalen Wettbewerbsbedingungen verhält sich die demografische Entwicklung weitgehend neutral. Ferner kann gesagt werden, daß für die längerfristige Sicht der Rentenversicherung ausreichend Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um den Gesamtbeitragssatzanstieg erheblich gegenüber den Rechnungen des Prognos-Gutachtens zu begrenzen. Der entscheidende Grund dafür ist, daß aufgrund der demografischen Entwicklung das Erwerbspersonenpotential etwa ab dem Jahr 2010 stark schrumpft und da-
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durch günstige Voraussetzungen für eine positive Arbeitsmarktentwicklung vorliegen werden. Dies bedeutet eine finanzielle Entlastung in allen Zweigen der Sozialversicherung und in den öffentlichen Haushalten. Die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit heute entsprechen rund 8 Prozentpunkten in der Rentenversicherung. Aus diesen Überlegungen kann eine weitere Konsequenz gezogen werden: Die langfristige Finanzierung erweist sich als weit weniger problematisch als vielfach dargestellt, da gerade die demografische Entwicklung mit dem Rückgang des Erwerbspersonenpotentials die Handlungsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Sozialpolitik erweitert. Der politische Blick muß vielmehr auf die gegenwärtige Situation und den mittelfristigen Zeitraum etwa bis zum Jahr 2010 gerichtet werden. In diesem Zeitraum kumuliert ein (gemäßigter) demografischer Belastungsanstieg mit einer höchst ungünstigen (prognostizierten) Arbeitsmarktbilanz. Arbeitsmarkt und Beschäftigung sind also die Dreh- und Angelpunkte für die Sozialpolitik. Nach unseren Berechnungen ließe sich z. B. das Ziel, das in der Kanzlerrunde am 23. Januar formuliert wurde - den Gesamtsozialversicherungsbeitragssatz bis zum Jahr 2000 auf unter 40% zu senken -, bequem erreichen, wenn das andere formulierte Ziel - die Halbierung der Arbeitslosigkeit - realisiert würde. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung könnte ungefähr auf heutigem Niveau gehalten werden. Nichtsdestoweniger sehen wir Handlungs- und Reformbedarf in der Rentenversicherung. Ich glaube, daß man aus heutiger Sicht sagen kann, daß ein Beitragssatz, wie er für das Jahr 2030 oder 2040 vorberechnet wird, kaum akzeptiert werden wird, weder von den Beitragszahlern noch von der Politik. Dies gilt trotz der Feststellung des Prognos-Gutachtens, daß selbst unter diesen Bedingungen die Kaufkraft der Arbeitnehmer um das doppelte bzw. das l ,5fache höher liegt als 1992 und daß diese Beitragsbelastung volkswirtschaftlich verkraftbar ist. Es gilt aber auch, einen zweiten Gesichtspunkt zu beachten: Wir haben als Sozialpolitiker auch die Pflicht, für Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu sorgen. Ich halte es nicht für gerecht, die Generation der zwischen 2010 und 2040 Erwerbstätigen überdurchschnittlich hoch zu belasten.
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Dabei muß man auch berücksichtigen, daß bei Beitragssätzen, wie sie vorausberechnet werden, die "Rendite" negativ werden kann, d. h. eine Generation von Erwerbstätigen zahlt mehr an Beiträgen ein, als sie an Leistungen zurückerhalten kann. Meine Schlußfolgerung aus diesen Feststellungen lautet daher: Wir müssen auf einen gesellschaftlichen Konsens hinarbeiten, um die erwarteten Belastungen gerechter zu verteilen. Dabei sollten wir vor allem auf zwei Instrumente bzw. Ziele setzen, um den Beitragssatzanstieg zu begrenzen: I. Eine stärkere Finanzierung beitragsfremder Leistungen aus Steuermitteln und 2. die tatsächliche Anhebung des durchschnittlichen Rentenalters. Ich halte es für möglich, durch Maßnahmen in diesen zwei Bereichen den Reitragssatz zur Rentenversicherung auch langfristig in einer akzeptablen Größenordnung zu halten, d. h. 5 - 6 Prozentpunkte unterhalb der Modellrechnung von Prognos. Von den Handlungsmöglichkeiten nun zum Reformbedarf. Mit dem Rentenreformgesetz von 1992 wurde in einem hohen gesellschaftlichen Konsens das seinerzeitige Netto-Rentenniveau (1989) durch gesetzliche Regelungen (Netto-Anpassung) festgeschrieben: Die sogenannte Standard- oder Eckrente (45 Versicherungsjahre und Durchschnittsverdienst) liegt danach bei rund 70% des Durchschnittsnettoverdienstes. Realistischerweise ist davon auszugehen, daß dieses Niveau angesichts der erreichten und erwarteten Abgabenbelastung nicht steigerbar ist. Dies bedeutet, daß das Ziel der Sicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards vielfach nur dann erreicht werden kann, wenn eine zusätzliche Absicherung erfolgt (z. B. betriebliche Altersversorgung, private Vorsorge in verschiedenen Formen). Nach vorliegenden Untersuchungen liegt bei Rentnern (ab 65 Jahre) in den alten Bundesländern der Anteil der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung am Gesamteinkommen im Durchschnitt bei 60% bei Frauen und gut 70% bei Männern. In den ostdeutschen Ländern hat die Rente eine größere Bedeutung für das Gesamteinkommen- über 90% bei Männern und 75% bei Frauen. Insgesamt legen die Analysen über die Einkommenssituation der Rentner nahe, daß eine generelle Verbesserung des Rentenniveaus nicht mehr angestrebt werden muß. Ausgeschlossen sein muß allerdings eine globale Absenkung des erreichten Rentenniveaus, wie sie teilweise vorgeschlagen wird.
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Dies würde bewirken, daß eine größere Zahl an Rentnern wieder an oder unter die Sozialhilfeschwelle rückte. Zusätzlich zur unsozialen Auswirkung hätte dies den Effekt, daß das Ansehen und die Akzeptanz der Rentenversicherung gefährdet wird. Reformbedarfe können insbesondere in folgenden Bereichen gesehen werden: - Bei der Finanzierung und den Regelungen des versicherungspflichtigen Personenkreises, bei der Risikozuordnung im Bereich Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, - in einer Änderung des Verhältnisses von eigenständigen Rentenansprüchen für Frauen I Hinterbliebenenversorgung.
1. Finanzierung, versicherter Personenkreis
In Expertenkreisen besteht ein Konsens darüber, daß die als funktions- oder versicherungsfremd zu bezeichnenden Leistungen der Rentenversicherung nicht ausreichend durch den Bundeszuschuß abgedeckt sind. Trotz zahlreicher Bekenntnisse der Politik zu systemgerechten Finanzierungen sind auch in den letzten Jahren (vor allem- aber nicht nur- im Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit) der Rentenversicherung dauerhaft Aufgaben übertragen worden, die systemgerecht aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren wären. Die Forderung nach einem höheren Anteil des Bundes an der Finanzierung ist daher nur allzu gerechtfertigt. Hinsichtlich der praktisch-politischen Umsetzung wird bei dieser Forderung der Konsolidierungsbedarf im Bereich öffentlicher Haushalte nicht verkannt. Realisierbar wäre z. B. eine sukzessive Anhebung des Bundeszuschusses bis zum Jahr 2000 von derzeit ca. 20 auf 25%. Gleichermaßen zur Stärkung der finanziellen Basis wie zur Verbesserung des sozialen Schutzes müssen andere Regelungen hinsichtlich versicherungspflichtiger Personenkreise getroffen werden. Regelungsbedürftig ist z. B. die Problematik der sogenannten Scheinselbständigkeit sowie der geringfügigen Beschäftigung. Zu beiden Bereichen sind Vorschläge zur Einbeziehung dieses Personenkreises in die Sozialversicherung vorhanden.
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2. Berufs- und Erwerbsunfähigkeit 1994 wurden fast 300.000 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bewilligt. Mehr als jede vierte Rente davon wird aus arbeitsmarktbedingten Gründen gezahlt, d. h. in diesen Fällen (84.000 beim Rentenzugang 1994) konnten keine Arbeitsplätze vermittelt werden, die dem eingeschränkten Leistungsvermögen entsprochen hätten. Diese Zahlen machen deutlich, daß Invalidität (genauer: Rentenbezug wegen Invalidität) nicht nur von gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch von der Arbeitsmarktsituation abhängig ist. Seit vielen Jahren wird immer wieder über eine Reform in diesem Bereich nachgedacht. Dabei geht es nicht nur um Überlegungen einer anderen Risikoabgrenzung zwischen Renten- und Arbeitslosenversicherung, sondern auch darum, die als problematisch empfundene Trennung in Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten durch eine einzige Rentenart - als Erwerbsminderungsrente bezeichnet - zu ersetzen. Da eine wirksame und sinnvolle Reform auch davon abhängt, daß geeignete Arbeitsplätze sowohl im Voll- als auch im Teilzeitbereich vorhanden sind, wurde dieses Reformvorhaben aufgrund der schlechten Arbeitsmarktsituation bisher nicht angegangen. Lediglich einige Anpassungen sind derzeit gesetzlich auf den Weg gebracht: Z. B. die Festschreibung des status-qua der bisherigen Rechtsprechung. Bei einer "großen" Reform geht es m.E. aber um die bessere Bewältigung einer gesellschaftspolitischen Aufgabe: Die Ausgrenzung der aus gesundheitlichen Gründen vermindert Erwerbstätigen aus dem Arbeitsprozeß soweit wie möglich zu vermeiden. Dazu muß eine Reform mehr leisten als nur eine Neuabgrenzung des Risikos. Sie muß Anreize schaffen, daß geeignete Arbeitsplätze - insbesondere auch im Teilzeitbereich - entstehen, und sie muß eingebettet sein in ein Konzept der Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen und einer verbesserten medizinischen und beruflichen Rehabilitation aller Sozialversicherungsträger. Eine solcherart wirksame Reform nach dem Prinzip "Risikovermeidung ist besser als Risikokompensation" kann auch zu einer finanziellen Entlastung der Rentenversicherung beitragen.
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3. Eigenständige Rentenansprüche für Frauen
Der Ausbau eigenständiger Rentenansprüche für Frauen wurde in den letzten Jahren durch einige Maßnahmen zweifellos gefördert. Erwähnt seien die Rente nach Mindesteinkommen, die verbesserte, rentenrechtliche Anerkennung von Zeiten der Kindererziehung und der (unentgeltlichen) Pflege Pflegebedürftiger, wenn keine oder nur eingeschränkte Erwerbstätigkeit vorliegt. Bisher waren jedoch weder das Reformpotential noch letztlich auch überzeugende Modelle vorhanden, um eine .,große" Reform in Angriff nehmen zu können. Anläßlich der Verabschiedung des Rentenüberleitungsgesetzes haben sich Bundestag und Bundesrat in gleichlautenden Entschließungen selbst verpflichtet, bis zum Jahre 1997 eine solche Reform durchzuführen. Anlaß waren vor allem die Diskussionen im Zusammenhang mit der Überleitung des SGB VI auf die ostdeutschen Bundesländer und hier insbesondere die gesellschaftspolitischen Aspekte und die (Um)Verteilungswirkungen, die bewußt wurden, als ein stark auf Hinterbliebenensicherung orientiertes System (SGB VI) das stark auf eigenständige Ansprüche ausgerichtete System der ehemaligen DDR ablöste. Auch wenn der Zeitpunkt 1997 inzwischen für eine Reform illusorisch ist, muß erwartet werden, daß bis zu diesem Zeitpunkt gesetzgebefisch umsetzbare Vorschläge entwickelt sind. Dabei sollte es darauf ankommen, daß eine solche Reform wirklich zu einer eigenständigen Sicherung führt und nicht nur als Reform der Hinterbliebenenversorgung stecken bleibt. Ohne einem ausführlichen Konzept vorgreifen zu wollen und zu können, müßten u. a. folgende Elemente diskutiert werden: - Bei einer Verbesserung der Kindererziehungszeiten ist einer additiven Anrechnung (d. h. volle Anerkennung der Kindererziehungszeiten bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit) sowie einer höheren Bewertung der Kindererziehung (z. B. 1,0 Entgeltpunkte pro Jahr statt wie bisher 0,75 Punkte) der Vorzug zu geben vor einer zeitlichen Ausweitung. - Es müssen die Möglichkeiten ausgelotet werden, wie bei Nichterwerbstätigkeit Verheirateter (und weder Kindererziehung nach Pflege Pflegebedürftiger vorliegt) eine sozialverträgliche eigene Beitragsleistung erreicht werden könnte. Ich möchte noch zwei abschließende Bemerkungen machen: (1) Bei allen Reformmaßnahmen im Bereich der Rentenversicherung muß die Zielsetzung einer Harmonisierung der unterschiedlichen Alterssicherungssysteme (insbesondere Beamtenversorgung) beachtet werden.
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Auch dies muß Bestandteil des Gerechtigkeitsempfindens sein. (2) Der im Konsens erzielte Vorschlag zur Änderung der Friihverrentung hat gezeigt, daß es möglich ist, den Sozialstaat sozialverträglich umzubauen und dabei Einsparungen zu erzielen - nicht durch Sozialabbau, sondern durch alternative Lösungen. Für Kompromisse und vernünftige Lösungen braucht man Zeit. Die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie dies hinsichtlich der sozialpolitischen Entscheidungen berücksichtigte. Einsparwut in kurzfristiger Hektik ist fehl am Platz. Wir brauchen Augenmaß und eine längerfristige Orientierung.
Jürgen Husmann Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln, und altem. Vorstandsvorsitzender des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt
Herr Professor Metten, meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie werden feststellen, daß es einige Übereinstimmungen gibt mit dem, was Frau Engelen-Kefer soeben vorgetragen hat, daß ich aber zu dem Ergebnis komme, daß diese Vorschläge nicht ausreichen, um das Rentensystem zu konsolidieren. Wir stehen vor folgenden Fakten: Der Beitragssatz in der Rentenversicherung liegt zur Zeit bei 19,2 Prozent. Die Gefahr besteht, daß es zu einem dramatischen Beitragssprung im Jahre 1997 kommt. Der gesamte Sozialversicherungsbeitragssatz liegt 1996 auf dem Rekordniveau von 40,5 Prozent. Es ist zu befürchten, daß ein neuer Rekordstand 1997 von um die 42 oder mehr Prozent erreicht wird. Tendenz in den kommenden Jahren: Weiter ansteigend. Deshalb ist eine Trendwende unverzichtbar. Ich sehe vor allem vier Gründe für Anpassungsnotwendigkeiten, für Anpassungszwänge. Der erste Grund ist das völlig veränderte internationale Umfeld. Das ist hier mehrfach angesprochen worden, insbesondere auch in den gestrigen Referaten. Stichworte: Der Quantensprung beim Standortwettbewerb, Globalisierung der Märkte und ständig neue Länder als Anbieter hochwertiger Produkte. Wir können aufgrund dieser veränderten internationalen Situation eben nicht mehr davon ausgehen, daß noch mit den konjunkturpolitischen Mustern der vergangenen Jahrzehnte operiert werden kann. Um ein Beispiel zu nennen: Wir konnten in den vergangeneu Jahrzehnten davon ausgehen, daß ein Exportaufschwung sich über kurz oder lang in der Bundesrepublik auch in einem erhöhten binnenländischen Wachstum niederschlagen wird, um dann auch in einem Beschäftigungsaufschwung seine Auswirkungen zu zeigen. Dieser Zusammenhang hat sich wesentlich gelockert, allein durch die Tatsache, daß viele große Unternehmen - aber inzwischen auch mittlere Unternehmen - in erhöhtem Maße Zulieferungen aus
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dem Ausland in Anspruch nehmen. Wenn Sie moderne Automobilfabriken betrachten, stellen Sie fest, daß 80 Prozent der Zulieferungen inzwischen aus dem Ausland kommen. Natürlich werden die Fahrzeuge, die dort produziert werden, auch in hohem Maße exportiert. Aber anders als friiher bedeutet ein Exportaufschwung nicht mehr so viel für die binnenländische Beschäftigung. Die Verhaltensmuster, die Denkmuster müssen sich also ändern. Zweitens: Die Grenzen der Belastbarkeit mit Steuern und Sozialabgaben sind erreicht bzw. überschritten. Das ist nicht nur eine Folge der Wiedervereinigung, daß wir mit diesen hohen Abgabesätzen belastet werden, sondern es handelt sich um einen lang anhaltenden Trend der steigenden Sozialabgaben. Quasi systembedingt, säkular. Ich nenne nur die Zahlenreihe für die Beitragssätze (Arbeitnehmer- I Arbeitgeberbeitragssätze insgesamt): 1970 = 26,5 Prozent, 1980 32,4 Prozent, 1990 35,8 Prozent, 1995 39,3 Prozent und wir sind jetzt dabei, die 40-Prozent-Marke zu überspringen. Dieser Trend findet seine Kehrseite bei der Nettoquote der Arbeitnehmerverdienste. Wir hatten 1970 noch eine Nettoquote von etwa drei Viertel und liegen inzwischen nur noch bei zwei Drittel. Also ein immer größerer Abstand zwischen den Personalkosten der Unternehmen und dem Nettoverdienst der Arbeitnehmer. Diese Spanne muß zurückgeschraubt werden. Mit dieser großen Spanne zwischen Brutto- und Nettoverdiensten ist sicher auch zu einem wesentlichen Teil die schwindende Akzeptanz der Sozialsysteme zu erklären. Ein dramatischer Schwund bei der Akzeptanz ist ein Faktum, das alle Meinungsbefragungen ergeben. Ich werte es als ein Phänomen, daß der Vorsitzende des Sozialbeirates, der die Bundesregierung in Fragen der gesetzlichen Rentenversicherung berät, Herr Prof. Schmäh!, in den letzten Tagen in einem Presseartikel von einer Vertrauenskrise der gesetzlichen Rentenversicherung sprach. Diese Vertrauenskrise findet ihren Niederschlag in allen denkbaren Formen der Flucht aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Die entsprechenden Stichworte sind mehrfach bereits angesprochen worden: Schattenwirtschaft, Schwarzarbeit, Scheinselbständigkeit Die Ausprägungen werden immer vielfältiger. In diesem Zusammenhang ist eine Analyse aus der jüngsten Zeit der Hochschule in Wu)Jpertal von Interesse, die ergibt, daß wir inzwischen bei den Rentnern - die ja immer jünger geworden sind - eine Beschäftigung in einer Größenordnung von 1,8 Mio. Personen haben. Ich vermute auch dort, daß es sich zum Teil um Fluchtbewegungen aus der Beitragspflicht handelt. Der dritte Grund, weshalb wir etwas ändern müssen, ist die Überbelastung des Faktors Arbeit, also das Problem der hohen Personalzusatzkosten. Die Folgen dieser hohen Personalzusatzkosten sehe ich vor allem in drei Problemfeldern: Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, Verschärfung des Rationalisierungsdrucks und - das ist besonders problematisch- Behinderung des Aufbaus von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich. Weil Arbeit so teuer geworden ist, sind gerade auch Dienstleistungen vielfach unbezahlbar geworden. Die jüngste Entwicklung erleben 23 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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wir im Bereich der Pflegeversicherung und Gesundheitsleistungen. Wegen der hohen Personalkosten wird dort ein Ausbau des Dienstleistungsbereichs, den wir dringend bräuchten als Gegengewicht zu den Schrumpfungen im sekundären Sektor, behindert. International - wir stehen mit diesen Problemen ja nicht allein - ist offenkundig geworden: Das Ziel der Vollbeschäftigung mit der Steuer- und Abgabenbelastung oberhalb bestimmter Schwellenwerte ist unvereinbar. Diese Schwellenwerte mögen in jedem Land unterschiedlich hoch ausfallen, aber eine solche Abhängigkeit besteht. Auf der anderen Seite ist ein hoher Beschäftigungsstand bei unserem Iohnabhängigen Sozialversicherungssystem die zentrale Bedingung einer stabilen Finanzierung. Mit diesem "einerseits" und "andererseits" wird das finanzielle Problem, vor dem wir stehen, offenkundig. Vierter Punkt: Hinzu kommt noch die demographische Belastung - nicht erst der kommenden Jahrzehnte, sondern schon der kommenden Jahre. Der finanzielle Druck aufgrund demographischer Veränderungen ist bereits im Rehabilitationsbereich erkennbar geworden. Dort ist inzwischen offenkundig, daß die Zuwächse bei den Ausgaben auch mit dem Hineinwachsen in die höheren Altersjahrgänge und die stärkere Besetzung dieser höheren Altersjahrgänge zu tun haben. Diese Belastung für die Rentenversicherung wird sich in den nächsten Jahren verstärken, um dann ab dem Jahre 2010 in besonders beschleunigtem Tempo fortzuschreiten. Die PROGNOS-Zahlen sind alarmierend: Bis zum Jahre 2030 ist in der Rentenversicherung ein Beitragssatz von 26 bis 28 Prozent und ein Gesamtsozialversicherungsbeitrag von 47 bis 50 Prozent zu befürchten. Dabei sind diese Zahlen auf der Basis durchaus optimistischer Annahmen errechnet worden. Diese Annahmen beinhalten zum Beispiel folgende Elemente: Weitgehende Orientierung der Politik in der gesetzlichen Krankenversicherung und Pflegeversicherung am Ziel der Beitragssatzstabilität, hohe Exportquoten der 60er Jahre- und eine an den ökonomischen Erfordernissen orientierte Zuwanderungspolitik. Der Realitätsgehalt solcher Annahmen wäre zu hinterfragen. Nur an einer Stelle findet sich im Gutachten der Hinweis, daß die ganzen Modellrechnungen vor allem unter der Bedingung stehen, daß die Bevölkerung das Sozialsystem weiter akzeptiert. Wenn es jedoch zu Verhaltensweisen kommt, die diese Akzeptanz vermissen lassen, dann würden die ganzen Zahlen des PROGNOS-Gutachtens ihre Basis verlieren. Diese Gefahr ist ernst zu nehmen. Deshalb scheint mir auch die beruhigende Verheißung, daß wir im Rentensystem alles mehr oder weniger weiterlaufen lassen können und die Nettoeineinkommen dennoch pro Jahr real um einen halben bis einen Prozentpunkt steigen werden, an der Realität relativ weit vorbeizugehen. Ich vermute, daß es kaum jemand gibt, der sich darauf verlassen würde, daß wir eine solche positive Entwicklung bei den realen Nettoverdiensten erwarten könnten, trotz der finanziellen Probleme, die zur Zeit und in den nächsten Jahrzehnten auf dem System lasten.
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Wir haben bisher angenommen, daß die Zukunftsprobleme ganz überwiegend in der demographischen Entwicklung liegen. Inzwischen müssen wir feststellen, daß wir ein Doppelproblem haben. Und zwar das Problem der demographischen Belastung sowie der Arbeitslosigkeit, also die finanziellen Folgen der nicht erreichten Vollbeschäftigung - eine Doppelbelastung gerade auch der Rentenversicherung. Die Herausforderungen in der Rentenversicherung sind vor dem Hintergrund der politischen Zielvorgaben zu sehen, wie sie sich in den letzten Monaten und Jahren herausgebildet haben. Dazu gehören vor allem die Konvergenzkriterien von Maastricht sowie die Notwendigkeit einer Verminderung der öffentlichen Verschuldung. Außerdem liegt das Konsenspapier der Kanzlerrunde vom 23. Januar dieses Jahres mit folgenden drei Zielpunkten vor: Halbierung der Zahl der registrierten Arbeitslosen bis Ende des Jahrzehnts, deutliche Rückführung der Staatsquote und Rückführung der Beitragssätze zur Sozialversicherung bis zum Jahr 2000 auf unter 40 Prozent. Wenn man diese Zielvorgaben ernst nimmt, kommt man nicht an der Konsequenz vorbei, daß auch in der Rentenversicherung erhebliche Sparbeiträge erbracht werden müssen. Für die Rentenversicherung sind in dem Konsenspapier vom 23. Januar einige wichtige Vorgaben enthalten. Generell heißt es dort: Eigenvorsorge muß ein größeres Gewicht erhalten, neue Regelungen sind bei der Frühverrentung erforderlich, das Versicherungsprinzip ist zu stärken, und notwendig ist eine schrittweise Erhöhung des tatsächlichen Renteneintrittsalters. Was das Stichwort Frühverrentung anbetrifft, halte ich diesen Kompromiß für vernünftig und sozialpolitisch und auch ökonomisch für vertretbar. Er wird auf mittlere Sicht zu Einsparungen in der Rentenversicherung führen. Das Kritische an dem ganzen Paket liegt in der Frage, inwieweit es gelingen wird, genügend Altersteilzeitarbeitsplätze einzurichten. Da gibt es auf vielen Seiten Bedenkenträger und auch echte Probleme. Die Sozialpartner sollten sich in der Pflicht sehen, hierzu einen Beitrag zu leisten. Von seiten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände haben wir vor, in den nächsten Monaten konkrete Vorschläge für die Unternehmen zu entwickeln, damit die neuen Chancen der Altersteilzeit genutzt werden können. Dazu wird es allerdings noch weiterer gesetzlicher Änderungen bedürfen. Dies gilt insbesondere im Bereich des Steuerrechts und des Sozialabgabenrechts. Unser Sozialsystem sieht die im neuen Tarifvertrag der Chemischen Industrie enthaltene Option ,,Zweieinhalb Jahre arbeiten zu 100 Prozent und anschließend zweieinhalb Jahre sog. Nullarbeit bei einem durchlaufend verringerten Einkommen" bisher nicht vor. Dazu müssen die entsprechenden rechtlichen Regelungen erst noch bereitgestellt werden. Das betrifft im übrigen fast alle Themen, die auch mit dem Stichwort "Arbeitszeitkonto" zusammenhängen. Unsere Steuer- und Sozialabgabentechnik ist auf neue Arbeitszeitgestaltungen wie das Arbeitszeitkonto noch nicht eingestellt und auf die vielfältigen Möglichkeiten, die dabei möglich sind. Auf der anderen Seite läßt sich nicht verhehlen, 23*
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daß das Instrument der Altersteilzeit übermäßig schwergängig gemacht worden ist durch die Wiederbesetzungspflicht In Unternehmen, die mit dem Problem des Personalabbaus konfrontiert sind, wird die nunmehr vorgesehene Form der Altersteilzeit wegen der Wiederbesetzungspflicht deshalb nur schwer umgesetzt werden können. Die Zielvorgabe "Versicherungsprinzip stärken", wie sie in dem Konsenspapier der Kanzlerrunde enthalten ist, bedeutet nichts anderes als das Äquivalenzprinzip zu stärken- also Leistung und Gegenleistung in der Rentenversicherung noch weiter in Einklang zu bringen. Das verlangt eine Überprüfung von Umverteilungselementen im System sowie ein Zurückdrängen versicherungsfremder Leistungen. Dementsprechend ist es notwendig, daß Leistungen, die nicht rentenspezifisch sind, wie z. B. Familienpolitik und Arbeitsmarktpolitik, oder die auf politischen Entscheidungen nach der Wiedervereinigung beruhen, Zug um Zug aus der Rentenversicherung herausgenommen werden bzw. der steuerfinanzierte Anteil entsprechend angepaßt wird. In diesem Zusammenhang ist das Spektrum der aktuellen Themen zu nennen: U.A. Bewertung beitragsfreier Zeiten, insbesondere Hochschulzeiten; außerdem: Abschläge bei vorzeitigem Rentenbezug. Das Thema "Altersgrenzen" läßt sich aus unterschiedlichem Blickwinkel betrachten. Man kann fragen, ob es vertretbar ist, die Altersgrenzen heraufzusetzen. Hierzu gibt es - wie wir eben gehört haben - negative Voten, insbesondere von seiten der Frauen. Mit dieser Berechtigung läßt sich aber auch fragen, ob es nicht angesichts der finanziellen Zwänge inzwischen unvermeidbar ist, Umverteilungselemente in Form privilegierter vorgezogener Altersgrenzen abzubauen. Eine Bejahung dieser Fragestellung führt zu dem Ergebnis, daß vorzeitiger Rentenbezug in der Regel immer mit Abschlägen versehen wird. Diese Überlegung macht deutlich, daß wir zur Zeit eine Ungleichbehandlung haben zwischen den verschiedenen Rentnergruppen. Diese Ungleichbehandlung sollte abgebaut werden. Reformbedarf besteht überdies offenkundig beim Fremdrentenrecht Außerdem brauchen wir im Hinblick auf die Rentenversicherung und die Bundesanstalt für Arbeit eine klare Verantwortungszuordnung von Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten. Notwendig ist auch eine Überprüfung der Hinterbliebenenversorgung. Diese finanziellen Auswirkungen solcher systemimmanenter Maßnahmen werden aber überwiegend erst mittel- und langfristig zu erkennen sein. Deshalb stellt sich die Frage, welche Maßnahmen unter Umständen ergriffen werden können, um einen Beitragssprung - wie er für 1997 unter Status-qua-Bedingungen zu erwarten ist - zu verhindern. Das Ziel muß sein, den Beitragssatz unter 20 Prozent zu halten. Die Zahl der möglichen kurzfristig wirksamen Ansatzpunkte ist begrenzt. Die Rehabilitation gehört sicher dazu. Allerdings sollte man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Rehabilitation der Rentenversicherung muß seriösen Charakter behalten. Wir kommen aber nicht umhin, strengere Maßstäbe an die Rehabilitation anzulegen.
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Dann gibt es die Frage "Rentenanpassung 1997". Ich bin mir sicher, das ist politisch und von der Rentensystematik her die schwierigste Frage. Es wäre deshalb zu begrüßen, wenn wir an einer solchen Notmaßnahme vorbeikämen. Besser wäre in jedem Fall eine strategische Lösung im Rahmen einer Mittel- und Langfriststrategie. Auf jeden Fall sollten für diese "Kurzfrist"-Überlegungen Maßnahmen ausscheiden, die im Grunde genommen nur optische Effekte auslösen, aber nichts an den finanziellen Kernproblemen ändern. Dazu gehört z. B. das Stichwort "Vorziehen des Fälligkeitstennins von Arbeitgeberbeiträgen". Auch das ist im Gespräch. Das erhöht den Verwaltungsaufwand in den Unternehmen und ihren Personalbüros. Eine solche Maßnahme liegt in der Nähe eines Taschenspielertricks. Denn längerfristig wäre damit keine Einsparung verbunden. Unsere Recherchen haben ergeben, daß ein Vorziehen des Fälligkeitstennins vielmehr dazu führen würde, daß sich nicht nur der allgemeine bürokratische Aufwand erhöhen würde, sondern daß es einen ständigen - besonders in den mittleren Unternehmen - Korrekturbedarf gäbe, der in dem jeweils nachfolgenden Monat zu bewältigen wäre. Frau Engelen-Kefer hat in ihrem Referat den Zeitraum ab 2010 offen gelassen bzw. mit der Hoffnung versehen, daß dann der Beitragssatz so weit absinkt, daß in der Rentenversicherung kein Reformbedarf mehr besteht. Dieses Vertrauen erscheint mit wegen der enormen demographischen Belastung nach 2010 nicht gerechtfertigt. Wir kommen langfristig nicht daran vorbei, die Rentenformel zu überprüfen, was im Grunde genommen keine Systemfrage ist. In den vergangenen Jahrzehnten wurden immer wieder Veränderungen der Rentenformel vorgenommen zuletzt in den 80er Jahren mit der Einführung des KVdR-Beitrages und im Rentenreformgesetz 1992 mit dem Brutto- auf das Nettolohnprinzip bei der Rentenanpassung. Derartige Veränderungen der Rentenformel sind Reformen im System, ohne die Kernelemente der lohnorientierten beitragsfinanzierten Rente in Frage zu stellen. Ich habe mich dafür ausgesprochen, die Höhe der Arbeitslosigkeit - die von den Rentnern nicht in all ihren Konsequenzen getragen wird wie von den Aktiven - als Korrekturfaktor einzubringen. Andere haben vorgeschlagen, die Veränderung des Durchschnittsalters der Bevölkerung oder die Veränderung der Lebenserwartung und damit die Veränderung der Rentenlaufzeiten einzubringen. Auch ist überlegt worden, den KVdR-Beitrag anders zu gestalten. Das sind alles Stichworte, die man sehr sorgfältig und ohne Aktionismus bedenken sollte. Schon bei der Verabschiedung des Rentenreformgesetzes 1992 waren sich alle bewußt, daß die damals 1989 ergriffenen Maßnahmen voraussichtlich den Zeitraum bis zum Jahre 2010 überbrücken, aber alle Belastungen danach nicht mehr. Heute stehen wir vor einer Kumulierung der Probleme und vor der Gewißheit, daß die demographischen Probleme ab dem Jahre 2010 wirklich kommen werden. Das ist mit aller Deutlichkeit in den vorherigen Referaten zum Ausdruck gebracht worden.
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Zum Stichwort "Versicherungsfremde Leistungen" stimmen die Arbeitgeber in der Diagnose mit der Position von Frau Engelen-Kefer überein. Nur steht der Ausweg "Steuererhöhung" nach unserer Auffassung nicht zur Verfügung angesichts der Dringlichkeit, die Steuer- und Abgabenbelastung insgesamt zu vermindern. Deshalb kommt auch eine Erhöhung der "Mehrwertsteuer" nicht in Betracht. Andererseits bin ich der Meinung, daß der Gesetzgeber trotz der finanziellen Zwänge, die z.Z. in den öffentlichen Haushalten bestehen, ein Zeichen setzen sollte. Der Bundeszuschuß war im Rentenkonsens 1992 abgesichert worden. Alles was danach kam - insbesondere die Aufbauleistungen für die neuen Bundesländer, die keinerlei Niederschlag im Bundeszuschuß gefunden haben - muß durch einen steuerfinanzierten Beitrag wieder korrigiert werden. Dies ist auch über vordergründige ökonomische Fragen hinaus notwendig aus Gründen der Gerechtigkeit. Man kann der Bundesregierung nur empfehlen, hier ein Zeichen zu setzen. Denn die Akzeptanz von Spar- und Reformmaßnahmen hängt ganz wesentlich davon ab, ob bei der Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen mehr Gerechtigkeit hergestellt wird. Das Thema Gerechtigkeit gehört auch zum Stichwort "Beamtenpension". Auch hier muß durch eine Harmonisierung der Maßnahmen erreicht werden, daß die Beamten nicht auf Leistungen beharren können, die den Arbeitern und Angestellten genommen werden. Zum Abschluß eine Anmerkung zur ordnungspolitischen Grundsatzdiskussion: Zum einen die steuerfinanzierte Grundrente. Und zum anderen der von der Weltbank eingebrachte Vorschlag zur Schaffung einer obligatorischen zweiten Säule auf der Basis privater Versicherungsträger- ähnlich wie es für Teile der Pflegeversicherung besteht. Dies wurde von der Weltbank vorgeschlagen, insbesondere für Entwicklungs- und Schwellenländer, aber auch für die lndustrieländer. Beide Wege sind für die Bundesrepublik nicht tragfähig. Untauglich ist auch der in der Diskussion angesprochene Vorschlag einer Wertschöpfungsabgabe. Wer diese Diskussion erneut aufgreift, endet sehr schnell bei der steuerfinanzierten Grundrente. Denn die Wertschöpfung als Bemessungsgrundlage entfernt sich von der Lohnorientierung und damit vom Äquivalenzprinzip sowie von der Eigentumsgarantie für die eingezahlten Beträge, sondern bedeutet den Übergang zur "Steuer". Deshalb warne ich davor, diese Diskussion erneut wieder aufzugreifen. Bei der strittigen Diskussion über Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren wird auch in der internationalen Diskussion immer deutlicher, daß beide Systeme Vorund Nachteile haben. Das Kapitaldeckungsverfahren hat seine Vorteile, aber auch seine potentiellen Nachteile; das Umlageverfahren in gleicher Weise. Es kommt auf das Mischungsverhältnis an. Wir haben in der Bundesrepublik mit den drei Säulen der Altersvorsorge im Prinzip den richtigen Ansatz gefunden, nur die Gewichte stimmen nicht mehr. Diese Gewichte der Säulen werden sich in Zukunft verändern müssen, weil die erste Säule, die gesetzliche Rente, wegen der hohen Sozial- und Abgabenquote an
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die Grenzen der Finanzierbarkeil stößt. Deshalb müssen wir die zweite und dritte Säule stärken. Das erfordert zugleich eine Konzentration auf das Äquivalenzprinzip und es bedeutet auch, daß wir uns den internationalen Trend zu eigen machen, der in die Richtung geht, ein ausgewogenes Mischungsverhältnis zwischen Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren zu erreichen, das den jeweiligen Landesbedingungen gerecht wird. Ein Land, in dem - wie in der Bundesrepublik - ein hoch entwickelter leistungsfähiger Kapitalmarkt existiert, steht vor einer anderen Dringlichkeit von Kapitaldeckungsverfahren wie ein Entwicklungsland. Dennoch brauchen wir eine Stärkung der zweiten und dritten Säule. Auf Dauer wird die entscheidende Frage sein, die Akzeptanz der Rentenversicherung sicherzustellen. Dabei gilt es zu bedenken, daß diejenigen, die einmal mit Beitragssätzen von 26 bis 28 Prozent konfrontiert werden, heute im allgemeinen noch nicht zu den Entscheidungsträgem gehören. Umgekehrt können die heutigen Entscheidungsträger mit großer Gelassenheit über Beitragssätze von 28 Prozent diskutieren. Denn sie werden persönlich nur noch teilweise davon betroffen sein. Umso mehr aber die nachfolgenden Generationen, die heute in der Minderheit bei den Entscheidungsträgern sind. Um die Akzeptanz des Systems zu erhalten, gilt es jedoch, daß wir gerade auch das Vertrauen der jüngeren Generation erhalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sozialversicherung im Spannungsfeld von Beitrags- und Steuerfinanzierung 7. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 17./18. April1997
Rentenversicherung zwischen Steuerund Beitragsfinanzierung* Von Prof. Dr. Franz Ruland, Bad Hornburg Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt I Main
Das Thema "Die Rentenversicherung - zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung" ist stets aktuell. Derzeit deshalb, weil Herr Biedenkopf wieder einmal seine steuerfinanzierte Grundrente vorgeschlagen hat. Wie stets in der Vergangenheit hat er auch diesmal wieder deutliche Ablehnung erfahren. Trotzdem sollen die Gründe hierfür noch einmal genannt werden, denn er stellt am grundsätzlichsten vor die Alternative: "Beitrags- oder Steuerfinanzierung". Die Regierungskommission "Fortentwicklung der Rentenversicherung" hat, um das Versicherungsprinzip zu stärken, vorgeschlagen, daß zwar an der geltenden Formel zur Fortschreibung des Bundeszuschusses festgehalten werden soll, daß aber zu Lasten der Rentenversicherung in Zukunft neue oder erweiterte Aufgaben nur noch dann begründet werden dürfen, wenn sie durch aktuelle, leistungsadäquate Beitragszahlung an die Rentenversicherung gedeckt sind. Sie hat des weiteren vorgeschlagen, eine Familienkasse einzurichten, durch die die Generationensolidarität mit den Alten um eine entsprechende Generationensolidarität mit den Kindem ergänzt werden soll. In der Familienkasse sollen kind- und familienbezogene Transfers, insbesondere Erziehungsgeld und Beiträge für K.indererziehungszeiten, gebündelt werden. Die Finanzierung soll aus allgemeinen Steuermitteln erfolgen. Ab 1999 sollen für Kindererziehungszeiten von der Familienkasse aktuelle, leistungsadäquate Beiträge zur Rentenversicherung und zu anderen Alterssicherunssystemen gezahlt werden. Für K.indererziehungszeiten, für die bereits Ansprüche und Anwartschaften bestehen, verbleibt es hinsichtlich der Finanzierung bei der derzeitigen Regelung. Wegen der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes sollen bei einem Zusammentreffen von Kindererziehungszeiten mit anderen Beitragszeiten die Kindererziehungszeiten additiv zu den anderen Zeiten bis zur Beitragsbemessungsgrenze angerechnet werden. Der Vorschlag zur Einrichtung einer Familienkasse hat eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Zustimmung fand er bislang nur wenig, die Kritik überwog. Die Koalitionsfraktionen
* Überarbeiteter Text eines Vortrages, den der Verfasser arn 17. April 1997 im Rahmen der "Speyerer Sozialrechtstage" gehalten hat.
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haben am 15. April 1997 die Entscheidung über die Einführung einer Familienkasse zwar letztlich vertagt, aber eine wichtige Vorentscheidung getroffen: Angesichts des tiefgreifenden Wandels in der Arbeitswelt sollen die sozialen Sicherungssysteme im Hinblick auf ihre Finanzierung überprüft werden. Nicht beitragsgedeckte Leistungen, durch die die Arbeitskosten steigen, sollen sachgerecht finanziert werden. Hierfür soll die gesetzliche Rentenversicherung einen gegenüber der bestehenden Regelung jährlich erhöhten Bundeszuschuß erhalten, der es ermöglicht, den Beitragssatz einen Prozentpunkt niedriger als ansonsten erforderlich anzusetzen. Über die Finanzierung dieses erhöhten Bundeszuschusses soll im Rahmen der Gesamtkonzeption der Steuer- und Rentenreform entschieden werden. Die CDU hatte sich für eine stärkere steuerliche Inanspruchnahme des Verbrauchs ausgesprochen. Zugleich sollen allerdings nicht beitragsgedeckte Familienleistungen ausgebaut werden. Beim Zusammentreffen von Kindererziehungszeiten mit anderen Beitragszeiten sollen die Kindererziehungszeiten ab 1. Juli 1998 additiv bis zur Beitragsbemessungsgrenze angerechnet werden. Ihre Bewertung soll stufenweise von 75% auf 100% des Durchschnittseinkommens angehoben werden. Die Vorschläge der SPD sehen einen um nahezu das Doppelte erhöhten Bundeszuschuß vor, wollen andererseits aber auch deutlich mehr sozialen Ausgleich innerhalb der Rentenversicherung.
I. Steuerfinanzierte Grundrente oder lohn- und beitragsfinanzierte Rente
Die von dem sächsischen Ministerpräsidenten Eiedenkopf vorgeschlagene "Bürgerrente" anstelle der bisherigen lohn- und beitragsbezogenen Rente hatte wenig Neuigkeitswert. Hinter dem neuen Namen verbarg sich lediglich sein Grundrentenmodell, das seit Anfang der 80-er Jahre immer wieder vorgestellt, aber weder von der Wissenschaft noch von der Politik als tragfähiger Ansatz zur Weiterentwicklung der Alterssicherung in Deutschland angesehen wird. Dieses Modell wiii die gesetzliche Alterssicherung auf eine Grundsicherung beschränken. Damit soll dem Grundsatz der Subsidiarität Rechnung getragen werden. Mit einer Grundsicherung sei für alle Berechtigten auskömmlich gesorgt. Jede darüber hinausgehende Versorgung sei nicht Aufgabe des Staates. Durch die Beschränkung der gesetzlichen Alterssicherung auf eine Grundsicherung werde das Leistungsprinzip gestärkt und der private Anteil an der Alterssicherung erweitert. Ihn solle jeder nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten können. Alle Bürger sollen unter bestimmten Voraussetzungen unabhängig von vorangegangener Erwerbstätigkeit und wirtschaftlicher Bedürftigkeit Anspruch auf die Grundsicherung haben. Vorausgesetzt werden im Alter die Vollendung des 65. Lebensjahres sowie 25 Jahre Steuerpflichtigkeil nach Volljährigkeit. Die früher vorgesehene Altersgrenze von 63 Jahren ist auf 65 heraufgesetzt worden.
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- Bei Erwerbsunfähigkeit werden 5 Jahre Steuerpflichtigkeit und 5 Jahre Erwerbstätigkeit gefordert. Hinterbliebene sollen vor dem 65. Lebensjahr nur dann eine Leistung erhalten, wenn sie das 55. Lebensjahr vollendet und mindestens 5 Jahre vor Eintritt des Versorgungsfalles nicht erwerbstätig waren. Der Ehepartner muß mindestens 25 Jahre steuerpflichtig gewesen sein. Soweit Kinder zu erziehen sind, wird unter bestimmten Voraussetzungen die Grundsicherung in halber Höhe geleistet. Die Grundsicherung soll einschließlich der vollen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung 55% des Volkseinkommens pro Kopf der Wohnbevölkerung betragen. Das soll gegenwärtig einem Bruttobetrag von 1.540 DM, für Ehepaare von 3.080 DM pro Monat entsprechen. Netto sind das etwas mehr als 1.300 DM. Die Grundsicherung soll aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden, und zwar zu 60% durch die Erhöhung indirekter und zu 40% durch die Erhöhung direkter Steuern. Die bisherigen Rentenbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern entfallen. Die Arbeitnehmer sollen 70% der bisherigen Arbeitgeberbeiträge zu den gesetzlichen Alterssicherungssystemen erhalten. Der Übergang soll so geregelt werden, daß alle fälligen und nicht fälligen Anspruche einer Person gegen gesetzliche Alterssicherungssysteme zusammengefaSt und zum Grundsicherungsbetrag in ein Verhältnis gesetzt werden. Soweit sie höher als die Grundsicherung sind, sollen sie erhalten bleiben und sich mit der Steigerungsrate des Volkseinkommens pro Kopf der Bevölkerung weiterentwickeln. Sind sie niedriger, sollen sie stufenweise auf den Grundsicherungsbetrag angehoben werden.
1. Keine Notwendigkeit eines Systemwechsels
Eiedenkopf fordert den Systemwechsel, weil das jetzige Rentensystem den künftigen Anforderungen nicht mehr gewachsen sei. Die Umbruche im Bevölkerungsaufbau und am Arbeitsmarkt hätten seine Grundlagen zerstört. Diese Analyse ist falsch. Die Rentenversicherung hat zwar eine Reihe von gravierenden Problemen. Sie sind aber im System lösbar. Die Rentenversicherung braucht daher Anpassungen im System, keine Reform des Systems. Das System ist richtig, falsch ist, was mit ihm gemacht wird. Dies wird insbesondere an den Grunden der aktuellen Rentendiskussion deutlich. Sie kam auf, als erkennbar wurde, daß die Rentenversicherung für 1997 einen Beitragssatz benötigt, der erstmals die 20%-Grenze übersteigt. Die Hektik, die in der Bonner Politik daraufhin ausbrach, hat nicht nach den Ursachen, sondern nur danach gefragt, wie man das Ergebnis vermeiden kann. Viele der beschlossenen Maßnahmen - etwa im Reha-Bereich - waren dann auch entsprechend. Die Ursachen jedoch waren das Ergebnis politischer Steuerung, in einigen Fällen politischer Fehlsteuerung. - Der Beitragssatz für 1996 ist Ende 1995 mit 19,2% deutlich zu niedrig festgesetzt worden. Grund hierfür war, daß die von der Bundesregierung beschlossenen Annahmen, die dabei zugrunde gelegt werden mußten, viel zu optimistisch
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waren. Dies betraf die Zahlen der Beschäftigten und der Arbeitslosen sowie die Entwicklung der Löhne. Weil der Beitragssatz zu niedrig war, wurde Ende 1996 die gesetzlich vorgegebene Rücklage von einer Monatsausgabe deutlich unterschritten. Statt 24,4 Milliarden DM verfügte die Schwankungsreserve nur über 14 Milliarden DM, das waren 0,57 Monatsausgaben. Damit Ende 1997 die Schwankungsreserve wieder aufgefüllt ist, mußte der Beitragssatz allein deshalb um 0,6%-Punkte angehoben werden. Ohne diese Notwendigkeit hätte er die 20%-Grenze nicht überschritten und es wäre nicht zu der rentenpolitischen Hektik gekommen. - Die Rentenversicherung bekommt vielfältig die Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit zu spüren. Ihr gehen zum einen Beitragseinnahmen verloren. Die Bundesanstalt zahlt für ihre Leistungsempfänger zwar Beiträge zur Rentenversicherung, allerdings nur auf der Basis von 80% des dem Arbeitslosengeld oder der Arbeitslosenhilfe zugrunde liegenden Einkommens. Hunderttausend Arbeitslose kosten die Rentenversicherung 1997 rund 400 Millionen DM an Beiträgen. Bei 500.000 Arbeitslosen sind das 2 Milliarden DM. Das entspricht 0,15 Beitragssatz-Prozentpunkten. Die Entwicklung auf der Ausgabenseite ist noch dramatischer. 1992 sind 54.000 - ganz überwiegend - Männer wegen Arbeitslosigkeit vorzeitig in Rente gegangen. 1994 waren es bereits 200.000, 1995 rund 300.000. Der Gesetzgeber hat diese Entwicklung zwar gestoppt - aber mit langen Übergangsfristen. Ihretwegen sind 1996 immer noch mehr als 220.000 Personen zumeist ab Alter 60 wegen Arbeitslosigkeit in Rente gegangen. Wieviele Frauen deshalb Rente beansprucht haben, läßt sich nicht exakt ermitteln, weil ihre Möglichkeit, mit 60 Jahren in Rente zu gehen, Arbeitslosigkeit nicht voraussetzt. Aber über 20% der Frauen, die mit 60 Jahren in Rente gegangen sind, waren in den alten Bundesländern zuvor arbeitslos. In den neuen Bundesländern ist der Prozentsatz wesentlich höher. Daher wird auch mit der Frauenaltersrente in hohem Maße Arbeitslosigkeit aufgefangen. Die Rentenversicherung gewährt 1997 mindestens 800.000 Personen vorzeitige Rente wegen Arbeitslosigkeit. Kosten: etwa 20 Milliarden DM. Das sind 1,3 Beitragssatz-Prozentpunkte. Gäbe es diese systemfremde Belastung für die Rentenversicherung nicht, läge ihr Beitragssatz bei rund 19% und es gäbe keine aktuelle Diskussion über ihre langfristige FinanzierbarkeiL Außerdem wird über die Renten wegen Erwerbsminderung der größte Teil der Schwerbehinderten-Arbeitslosigkeit sozial abgesichert. Personen, die nicht mehr vollschichtig einsatzfähig sind, werden in die Rente "abgeschoben", obwohl es an sich darum gehen müßte, ihnen einen ihrer Resterwerbsfähigkeit angepaßten Arbeitsplatz zu beschaffen. 1988 wurden rund 41.000 arbeitsmarktbedingte Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bewilligt, 1995 waren es bereits rund 93.000. Nahezu jede dritte Erwerbsunfähigkeitsrente ist derzeit arbeitsmarktbedingt. Dies zusammengenommen zeigt, daß der Arbeitsmarkt in erheblichem Maße auf Kosten der Rentenversicherung entlastet wird. Die Praxis der Unternehmen,
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sich von älteren Arbeitnehmern auf Kosten der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung zu trennen, ist vielfach kritisiert und vom Gesetzgeber inzwischen ja auch gestoppt worden. Die Wirtschaft hat einerseits von der Frühverrentungspraxis auf Kosten der Rentenversicherung erheblich profitiert, andererseits aber das Ansteigen des Beitragsatzes heftigst kritisiert. Dies zeigt, wie unredlich von einigen in den letzten Wochen und Monaten die Rentendiskussion geführt wurde. Man hat die Kosten des Abbaus und der Verjüngung der eigenen Belegschaften nicht nur sozialisiert, sondern darüber hinaus auch noch beklagt, daß die Beiträge der Versicherungen, die dann dafür aufkommen mußten, ansteigen. Von all dem finden sie in der Analyse von Herrn Eiedenkopf kein Wort. Das ist auch nicht nur ein Problem in der Vergangenheit. Wir müssen damit rechnen, daß in den nächsten Jahren noch weitere 500.000 bis 600.000 Versicherte wegen Arbeitslosigkeit vorzeitig in Rente gehen. - In der Analyse von Herrn Eiedenkopf gibt es auch keinen Hinweis darauf, daß die Rentenversicherung mit den Kosten der deutschen Einheit in erheblichem Maße belastet wurde. 1994 waren es 12,5 Milliarden, 1995 16,7 Milliarden, 1996: 19,0 Milliarden, 1997 werden es rund 17 Milliarden DM sein. Zusammengenommen sind es seit der Wiedervereinigung über 75 Milliarden DM. Der West-Ost-Transfer hat jährlich etwa das Volumen eines Beitragssatz-Prozentpunktes. Die Entwicklung soll hier nicht kritisiert werden. Seit der Wiedervereinigung gibt es eine Solidargemeinschaft, innerhalb derer auch früher nicht regional danach unterschieden wurde, ob die in dem einen Bundesland ausgezahlten Renten mit den dort erzielten Beiträgen finanziert werden. Aber wenn ein ostdeutscher Ministerpräsident die Rentensituation analysiert, gehört ein hohes Maß an- vorsichtig formuliert - VergeBlichkeit dazu, diesen Punkt nicht zu benennen. Allerdings sei eingeräumt, daß sich die Belastungen der Rentenversicherung, die sich aus der Arbeitslosigkeit und dem West-Ost-Transfer ergeben, nur begrenzt addieren lassen. Gerade in den neuen Bundesländern war der Trend zur Frühverrentung besonders ausgeprägt. Berücksichtigt man diese systemfremden Belastungen in der Rentenversicherung, wird deutlich, daß sie sich finanziell wesentlich günstiger entwickelt hat, als noch Mitte der 80iger Jahre vorausgeschätzt Im PROGNOS-Gutachten 1986 war für das Jahr 2000 ein Beitragssatz von 20,5% und in der amtlichen Begründung zum Rentenreformgesetz 1988 einer von 20,3% prognostiziert worden. Die aktuelle Schätzung liegt trotz der systemfremden Belastungen, allerdings unter Berücksichtigung der Sparmaßnahmen des Jahres 199511996, bei 20,4%. Dies macht deutlich, daß die aktuelle Diskussion ganz wesentlich die langfristige Problematik, vor der die Rentenversicherung steht, überzeichnet.
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2. Die Maßnahmen der Vergangenheit Aber auch diese langfristige Problematik ist kein Grund, einen Systemwechsel vorzunehmen. Wesentliche Schritte, die Rentenversicherung trotz des Altems unserer Bevölkerung langfristig finanziell zu stabilisieren, sind längst Gesetz. Ohne die Reform 1992 ist für das Jahr 2030, dem Beginn der höchsten demographischen Belastung, mit einem Beitragssatz für die Rentenversicherung von - je nach wirtschaftlicher Entwicklung - zwischen 36 und 41% gerechnet worden. Die Maßnahmen der Reform haben diesen Anstieg reduziert auf - ebenfalls je nach wirtschaftlicher Entwicklung- zwischen 25 und 27%. Kommen die von der Regierungskommission vorgeschlagenen Maßnahmen, wird er im Jahre 2030 nach den jetzigen Rechnungen auf 22,4% begrenzt. Er wird bis 2020 voraussichtlich unterhalb der 20%-Grenze liegen. Angesichts dieser Entwicklung- ein Anstieg des Beitragssatzes in mehr als dreißig Jahren um etwa 2 Prozentpunkte- kann keine Rede davon sein, daß sich die langfristigen, sich aus der Demographie ergebenden Probleme nicht im Rahmen der Rentenversicherung lösen ließen. 3. Zur künftigen Entwicklung des Arbeitsmarktes
Herr Eiedenkopf bezweifelt die Annahmen, die diesen Rechnungen zugrunde liegen. Im Hinblick auf mein anderes Thema dazu nur ein paar Bemerkungen. Die demographische Entwicklung ist keine feststehende Größe. Die Bevölkerung Deutschlands im Jahre 2030 wird -je nach wirtschaftlicher Entwicklung - zwischen 67 und 77 Millionen Einwohner betragen. Das Erwerbspersonenpotential wird wegen der Alterung der Bevölkerung deutlich stärker zurückgehen als die Zahl der Beschäftigten. Alleine deshalb wird sich die Arbeitslosigkeit deutlich zurückentwickeln. Es werden starke Jahrgänge in Rente gehen und schwächer besetzte nachrücken. Das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet schon für 2026 mit der Vollbeschäftigungsmarge von 4%. Richtig ist, daß Teilzeitbeschäftigung zunehmen wird. Das ist kein Argument gegen die Funktionsfähigkeit der Rentenversicherung. Geringere Löhne führen zwar zu geringeren Renten. Trotzdem können sie ihre Sicherungsfunktion auch künftig erfüllen. Einkommen und Renten aus Teilzeitbeschäftigung sind zumeist (nur) zusätzliche Haushaltseinkommen. Die Probleme der Teilzeitbeschäftigung treffen jetzt und in Zukunft vorwiegend weibliche Arbeitnehmer. Im übrigen führt eine Zunahme von Teilzeitbeschäftigung zu geringeren Durchschnittsentgelten und damit zu niedrigeren Anpassungen, infolgedessen zu Einsparungen. Richtig ist auch, daß künftig die Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit schwieriger werden wird. Die Kriterien werden - wie schon heute das Problem der "Scheinselbständigkeit" deutlich macht - unscharf. Die zunehmende Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien wird das noch beschleunigen. Wann ist jemand, der zu Hause am Bildschirm arbeitet, noch in den Betrieb seines Arbeitgebers eingegliedert? Wenn aber der klassische Arbeitnehmerbegriff an Bedeutung verliert,
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kann er nicht mehr das entscheidende Zuordnungskriterium dafür bleiben, ob jemand sozialversichert ist oder nicht. Aufgabe der Sozialversicherung war es stets, diejenigen, die zu ihrem Lebensunterhalt auf Erwerbsarbeit angewiesen sind, für den Ausfall oder die Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit kollektiv vorsorgen zu lassen, auch um staatliche Hilfe zu vermeiden. Angesichts dieser Zielsetzung kommt dem Unterschied zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit künftig immer weniger Bedeutung zu, weil Selbständigkeit eben nicht mehr wie friiher mit wirtschaftlicher Sicherheit gleichgesetzt werden kann. Die Entwicklung läßt erwarten, daß sowohl im Interesse der Betroffenen als auch der Gesellschaft der versicherte Personenkreis auf all diejenigen ausgeweitet werden wird, die typischerweise auf den Einsatz ihrer Arbeitskraft zum Lebensunterhalt angewiesen sind. Die Probleme lassen sich also im Rahmen des Systems lösen, sie sind kein Grund, es zu wechseln. 4. Folge der Grundrente: Langfristig Mehrbelastungen
Die Maßnahmen, die jetzt diskutiert werden, sollen sowohl kurzfristig als auch langfristig den zu erwartenden Beitragssatzanstieg in der Rentenversicherung weiter dämpfen. Die Belastung mit Steuern und Sozialabgaben soll gesenkt werden, um wieder zu mehr Arbeit zu kommen. Ein Übergang zur Grundrente würde diesen Zielen entgegenlaufen, da er in einer langen Übergangsphase zu Mehrkosten führt. Die Aussagen Eiedenkopfs zur Finanzierung seines Grundsicherungsmodells sind unrealistisch. Er räumt ein, daß wegen der Übergangsregelung sein Modell zunächst teurer wäre als die Fortführung der bestehenden Systeme. Er gibt den Mehrbetrag mit 8 Milliarden DM an. Nach 10 Jahren sei jedoch der Aufwand geringer als in den bestehenden Systemen. Ohne die Übergangsregelung hätten sich die Kosten des (reinen) Grundrentenmodells 1995 auf 273 Milliarden DM belaufen. Die angekündigte Vorlage der Rechnungen, aus denen sich diese Ergebnisse ableiten sollen, ist unterblieben. Die Mehrkosten des Modells in der Übergangsphase sind zwangsläufig. Wegen des - in der Neufassung seines Modells nun eingeräumten - Bestandsschutzes müssen die laufenden Renten bedient werden. Darüber hinaus müssen niedrige Renten auf den Betrag der Grundrente aufgestockt werden. Im übrigen erhalten die Grundrente nicht nur Versicherte aus der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern alle Personen aus der Gesamtbevölkerung, soweit sie die steuerlichen Voraussetzungen erfüllen. Ende 1994 haben rund 2.150.000 männliche und 7.550.000 weibliche Versicherte, zusammen knapp 9,7 Millionen, eine Rente von unter 1.500 DM bezogen. In dieser Zahl sind die Bezieher von Hinterbliebenenrenten nicht enthalten. Da viele Personen mit niedrigen Renten sonstige Alterseinkommen erhalten, wird die Ausgangszahl von 9,7 Millionen halbiert. Außerdem wird der Aufstockungsbetrag nur mit 600 DM monatlich angesetzt. Trotzdem ergibt sich ein zusätzlicher Betrag von knapp 35 Milliarden DM. Schon dieser Teilbetrag ist mehr als 4,5-fache der Übergangskosten, von denen Biedenkopf ausgeht. In ihm sind nicht die Kosten für die Grund24 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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rente an diejenigen Personen enthalten, die überhaupt nicht versichert waren und deshalb auch keine Rente beziehen. Die Mehrkosten gegenüber der Fortführung des bisherigen Systems werden also, wie schon diese eine überschlägige Rechnung zeigt, deutlich höher sein, als von Eiedenkopf angegeben. Ende des letzten Jahres sind die Mehrkosten des Grundrentenmodells noch einmal vorgerechnet worden. Dabei hat sich auch gezeigt, daß die Übergangsphase bis in die zweite Hälfte des nächsten Jahrhunderts reichen wird und Mehrkosten bis 2020 entstehen. Daß die "Bürgerrente" anschießend billiger wird, kann nicht verwundern, weil das Sicherungsniveau drastisch reduziert wird. 5. Die Grundrente: Verschäifung der Generationenbelastung
Wegen der Mehrbelastungen, zu denen das Grundrentenmodell in der langen Übergangszeit führt, wird die aktive, erwerbstätige Generation bis weit in das nächste Jahrhundert hinein deutlich stärker belastet als das jetzige Rentensystem. Obwohl sie mit dieser stärkeren Belastung die lohn- und beitragsbezogenen Anrechte der älteren Generationen als Bestandsschutz garantieren und finanzieren muß, erhält sie später als Gegenleistung für ihre höhere Belastung nur eine Grundrente. Eine "Enteignung" im juristischen Sinne liegt bei dieser Modellgestaltung zwar nicht mehr vor, weil die Anrechte aus Beitragszahlungen garantiert werden sollen. Die Finanzierung soll künftig aus Steuern erfolgen. Aus der höheren Steuerbelastung ergibt sich aber für den Einzelnen kein Anspruch auf eine höhere Alterssicherung. Aber auch, wenn die Enteignung juristisch umgangen wurde, bleibt, daß in der langen Übergangsphase Generationen lohn- und beitragsbezogene Renten finanzieren müssen, selbst aber nur eine Grundsicherung erhalten. Eiedenkopfs Vorschlag mindert daher nicht die ungleichen Belastungen der Generationen im Zeitablauf, er verschärft sie. Eiedenkopfs Aussage, daß jemand, der 1995 in die Rentenversicherung eintritt und 2040 in Rente geht, nach geltender Rechtslage nur 80% seiner Beiträge zurückerhalten wird, ist falsch. Durchschnittlich ergeben sich rund 750.000 DM Beiträge, denen rund 1,96 Millionen DM, das 2,6-fache, an Rentenleistungen (auch an Hinterbliebene) entgegensteht. Die vorgeschlagene Einführung eines demographischen Faktors zum Ausgleich der längeren Lebenserwartung würde diese Relation sogar noch verbessern. Vielen Aktiven würde wegen der erhöhten Abgaben die Möglichkeit genommen, private Vorsorge zu betreiben. Daß die Arbeitgeberanteile zu 70% dem Arbeitnehmer übertragen werden, ist angesichts der gestiegenen Abgabenbelastung nur ein schwacher Trost, zumal der höhere Lohn voll zu versteuern wären. Die Behauptung, das Grundrentenmodell würde zu mehr privater Vermögensbildung führen, ist daher unplausibel. Wenn es zu einer stärkeren privaten Vorsorge käme, ginge diese zu Lasten des Konsums.
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6. Die Grundrente: Abhängig vom Generationenvertrag
Siedenkopf meint, ein Wechsel zur Grundrente sei notwendig, weil der "Generationenvertrag" gekündigt werde. Der "Generationenvertrag" ist aber nicht mehr als eine Umschreibung der volkswirtschaftlichen Grundtatsache, daß aller Sozialaufwand immer nur aus dem laufenden Bruttosozialprodukt bestritten werden kann. Auch die "Grundrente" würde auf einem "Generationenvertrag" beruhen. Angesichts dieser volkswirtschaftlichen Grundtatsache verblassen die Unterschiede zwischen den Strukturen der einzelnen Sicherungssysteme. Weil das so ist, ist die Grundrente in der gleichen Weise den Grundproblemen ausgesetzt, vor denen das heutige Rentensystem steht. Siedenkopf meint zu Unrecht, daß seine "Bürgerrente" unabhängig von Veränderungen im Bevölkerungsaufbau und am Arbeitsmarkt sei. Wenn die Lebenserwartung steigt, wird die Bürgerrente länger gezahlt werden. Auch bei ihr entstehen die höchsten Kosten zwangsläufig nach 2030. Steigt die Arbeitslosigkeit, steigen auch bei der Bürgerrente die Finanzierungskosten. Auch bei ihr würde sich dann die Frage stellen, ob entweder die Leistungen gekürzt oder die Belastungen der Arbeitnehmer erhöht werden müssen. Die Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung prägt alle Sicherungssysteme, die Grundrente wäre keine Ausnahme. Weil das Grundrentenmodell das Sicherungsniveau drastisch absinkt, wäre sie wegen der niedrigeren Gesamtkosten relativ auch weniger stark den demographischen Veränderungen ausgesetzt. Sie würden sich dann aber um so mehr in den zusätzlichen Sicherungssystemen auswirken. Die aktuelle Entwicklung zeigt, wie sehr die wirtschaftliche Lage der betrieblichen Altersversorgung zusetzt. 7. Die Grundrente: Weniger verläßlich
Richtig ist, daß die Rentenversicherung sich den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen anpassen muß. Ihre Sicherung kann daher - wie bei jedem anderen Sicherungssystem auch - langfristig nur relativ sein. Sie steht allerdings nicht im Belieben des Gesetzgebers. Weil die Rente beitragsfinanziert auf eigener Vorsorge beruht, genießt sie den Eigentumsschutz des Grundgesetzes. Er schließt Eingriffe des Gesetzgebers zwar nicht aus, sie müssen aber verhältnismäßig und zurnutbar sein und unterliegen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Der Grundrente fehlt wegen ihrer Steuerfinanzierung die notwendige Äquivalenz zwischen Beitrag und späterer Leistung. Damit wären der politischen Einflußnahme - ohne durch Rechte der Betroffenen gehindert zu sein - ganz andere Dimensionen eröffnet. Zu befürchten wäre eine noch stärkere "Politisierung der Alterssicherung". Das muß sich nicht nur als "Wahlgeschenk" zugunsten der Betroffenen auswirken. Jahr für Jahr müssen in harter politischer Auseinandersetzung die für die Alterssicherung benötigten enormen Steuermittel erkämpft werden. Was das in finanziell schwierigen Zeiten für die Rentner bedeuten würde, liegt auf der Hand. Jahr für Jahr würde sich die Diskussion ergeben: Düsenjäger, Autobahnen, Um24*
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weltschutz oder welche politischen Ziele auch immer gegen Grundrente. Die Teilhabe der älteren Generation am Einkommenszuwachs der Aktiven wäre mehr als in Frage gestellt. Eiedenkopf will dieser Gefahr dadurch begegnen, daß nur eine 2/3-Mehrheit im Bundestag in das Grundrentenmodell soll eingreifen dürfen. Die Vorstellung, daß ein Leistungsgesetz mit all seinen Regelungen über Voraussetzungen, Höhe der Leistung etc. Verfassungsrang bekäme, ist illusionär. Bislang sind nicht einmal soziale Grundrechte in die Verfassung aufgenommen worden. Weil wegen der Steuerfinanzierung kein individueller, grundrechtlich geschützter Anspruch auf die Leistung besteht, könnte die Versuchung, in Zeiten knapper Finanzen die Grundrente auch noch von der Bedürftigkeit abhängig zu machen, übermächtig werden. Das Ergebnis ließe sich gut mit dem von Eiedenkopf so herausgestellten Prinzip der Subsidiarität begriinden. Im Ergebnis wäre dann die Sozialversicherung abgeschafft, übrig bliebe eine nicht einmal verbesserte Sozialhilfe. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Maß an Entsolidarisierung unserer Gesellschaft nicht letztlich sogar gewollt ist. Mit dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes hätte das aber nichts mehr zu tun. 8. Die Grundrente: Ungerecht
Steuerfinanzierte Systeme müssen aus Gleichheitsgriinden einheitliche Leistungen gewähren. Es kann allerdings nach Bedürftigkeit und - eingeschränkt - nach der Dauer der Steuerpflicht differenziert werden, nicht jedoch danach, ob Steuern gezahlt worden sind oder nicht. Damit ist auf der einen Seite das "Gießkannenprinzip" vorgezeichnet: Jeder bekommt die Leistung, auch wenn er sie gar nicht benötigt. Die Leistungen erhalten aber auch die, die deshalb keine Steuern gezahlt haben, weil sie schwarz gearbeitet haben oder "ausgestiegen" sind. Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigung werden gleichbehandelt Leistung soll sich, obwohl sie künftig nicht weniger notwendig sein wird, im Bereich der staatlichen Altersvorsorge nicht mehr lohnen. Zu mehr Gerechtigkeit trägt das in unserer Gesellschaft nicht bei. Das EG-Recht schreibt im übrigen vor, daß Zeiten im EG-Ausland Zeiten im Inland gleichgestellt werden müssen. Zu diesem Problem findet sich im Biedenkopf - Papier kein Wort. Vermeiden ließe sich diese Konsequenz nur, indem die Leistung subsidiär als Sozialhilfe ausgestaltet würde. Ein Grund mehr, den eben geäußerten Verdacht zu hegen. 9. Als Folge der Grundrente: Vermehrt Altersarmut
Die Bürgerrente ist auch entgegen Eiedenkopfs Erwartungen nicht geeignet, Altersarmut zu verhindern. Folge und Erfolg der Rentenversicherung waren es, daß dem Alter die Not genommen wurde. Die Zahl derjenigen, die ergänzend zu ihrer Rente Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch nehmen müssen, ist deutlich zuriickgegangen. Es sind - selbst wenn man die Dunkelziffer einrechnet - wohl
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kaum mehr als 3% der Leistungsbezieher. In alldiesen Fällen waren die Versicherten auch nicht lange genug sozialversichert Altersarmut liegt also nicht am System. Das gegenwärtige System der Alterssicherung hat vielmehr dazu geführt, daß sich die Einstellung zum Alter geändert hat. Gerade, weil man gut sozial gesichert ist, ist das Altern zu einer Lebensphase geworden, die man so früh wie möglich anstrebt, um sie solange wie möglich zu genießen. Nicht die Armut im Alter ist das gesellschaftliche Problem, sondern die Armut vor allem der Familien bei Arbeitslosigkeit und die Alleinerziehender. Die Grundrente würde die Situation der Alten in unserer Gesellschaft dramatisch verschlechtern. Eine Verbesserung träte nur für die ein, die bislang auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die Leistung, die sie erhalten, wäre nicht mehr von der Bedürftigkeit abhängig. Faktisch ist aber Sozialhilfe an alte Personen schon heute eine rentenähnliche Leistung. Immerhin, es gäbe die problematische Überleitung von Unterhaltsansprüchen nicht mehr. Die Grundrente würde aber die staatliche soziale Sicherung aller auf dieses Mindestniveau reduzieren. Ob es ausreichen würde, um Armut auszuschließen, ist offen. Der Nettobetrag von 1.300 DM liegt nur knapp oberhalb der Hilfe zum Lebensunterhalt. Die "Sozialhilfeschwelle" für alleinstehende Rentner liegt 1996 bei rund 1.250 DM. Die Sozialhilfe müßte aber heraufgesetzt werden, weil wegen der starken Anhebung der Mehrwertsteuer zur Finanzierung der Grundrente die Lebenshaltungskosten deutlich steigen würden. Witwen mit Kindern erhalten die halbe Grundrente und sind damit regelmäßig ergänzend auf Sozialhilfe verwiesen. Endet die Kindererziehung vor dem 55. Lebensjahr, fällt selbst die halbe Grundrente weg. Wer vor Ablauf der 5-jährigen Wartefrist einen Unfall erleidet und erwerbsunfähig wird, bleibt ohne jede Leistung. Eine über das Sozialhilfeniveau hinausgehende soziale Sicherung soll der "privaten Altersvorsorge" überlassen bleiben. Das übersieht aber, daß es für große Teile unserer Bevölkerung schwierig sein würde, durch Eigenvorsorge eine zusätzliche Sicherung aufzubauen, die die Grundrente auf ein Niveau aufstockt, das nach Eintritt des Sicherungsfalles dem während des Berufslebens erreichten Lebensstandard angemessen entspricht. Daß die 70%-ige Auszahlung der Arbeitgeberanteile nur wenig helfen würde, war schon gesagt worden. Schwierigkeiten, sich eine private Vorsorge aufzubauen, werden vor allem die Bezieher kleinerer, aber auch mittlerer Einkommen und Gehälter haben, besonders wenn sie verheiratet sind und Kinder erziehen. Man sollte aber auch sonst die Chance, Vermögen zu bilden, das im Falle des Alters, der Invalidität und des Todes zu einer wesentlichen Aufstockung der sozialen Sicherung verwendet werden kann, nicht überschätzen. Da die zusätzliche Vorsorge freiwillig ist, wird auf sie zugunsten anderer, kurzfristig als wichtiger eingeschätzter Güter häufig verzichtet werden. "CafeteriaSysteme" in der betrieblichen Altersversorgung fördern das. Insbesondere gesundheitlich beeinträchtigte Personen würden Schwierigkeiten bekommen, sich zusätzlich eine private Altersvorsorge aufzubauen, weil sie entweder ganz vom Versiehe-
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rungsschutz ausgeschlossen werden oder höhere Prämien als Risikozuschlag leisten müssen. All dies kennt die Rentenversicherung jedoch nicht. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die Grundrente die Gesellschaft entsolidarisieren würde. Die betriebliche Altersversorgung würde nur wenig helfen. Sie befindet sich derzeit in einer Phase der Stagnation und des Rückgangs und hat mindestens gleich große Probleme wie die gesetzliche Rentenversicherung. Der Hinweis auf das bereits vorhandene Vermögen der Haushalte geht fehl, weil er die ganz unterschiedliche Verteilung übersieht. Für viele kommt die immer wieder herausgestellte größere Freiheit dieses Modells, wie Rosenberg es vor einiger Zeit treffend formuliert hat, der "Freiheit gleich, unter Brücken zu schlafen". Zu bedenken ist auch noch folgendes: 1. Wenn sich der Staat auf die Gewährung einer Grundrente beschränkt, erhalten die privaten Vorsorgemöglichkeiten eine solche gesellschaftspolitische Relevanz, daß eine stärkere staatliche Reglementierung unvermeidlich wird. So werden - soweit Grundrentensysteme diskutiert werden auch obligatorische betriebliche Altersversorgungen mitgedacht 2. Steuern werden zugunsten einer anonymen Allgemeinheit gezahlt. Wer Beiträge entrichtet, sichert sich und seine Angehörigen. Die Aufteilung der Abgabenbelastung in allgemeinnützige Steuern und eigennützige Beiträge hat die Chance größerer Akzeptanz bei den Betroffenen. Würde diese Doppelung aufgegeben oder das Gewicht mehr auf die Steuer verlagert, nähme die Flucht in die Schattenwirtschaft noch größere Dimensionen an, zumal man die von Steuerzahlung und Bedürftigkeit unabhängige Grundrente ohnehin bekäme.
10. Zur Entwicklung in anderen Ländern
Der Blick über die Grenzen macht schließlich deutlich, daß in all den Ländern, in denen es steuerfinanzierte Grundrentensysteme gab, ergänzende Pflichtversicherungssysteme geschaffen wurden, um die Differenz zwischen der Grundrente und der Sicherung des Lebensstandards abzudecken. Andere Länder - z. B. Schweden - wechseln zu Sozialversicherungssystemen. Im Ergebnis spricht daher nichts für eine steuerfinanzierte Grundrente. Entsprechende Überlegungen sollten endlich und endgültig zu den Akten genommen werden.
II. Notwendigkeit und Grenzen einer Finanzierung der Rentenversicherung durch Beiträge und durch Steuern 1. Zur Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen
Die Rentenversicherung ist und wird es bleiben: ein beitragsfinanziertes Versicherungssystem. Es ist personell begrenzt. Beitragspflichtig und leistungsberechtigt sind abhängig Beschäftigte bis zu einem monatlichen Einkommen von
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- 1997- 8.200 DM. Versicherungspflichtig sind auch Selbständige, die arbeitnehmerähnliche Tätigkeiten ausüben, darüber hinaus Handwerker, allerdings gelten für sie Sonderregelungen. Im übrigen können sich Selbständige kraft Antrags für die Versicherungspflicht entscheiden. Generell besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung. Beitrag und Leistung sind lohnbezogen. Wer im Jahr den Durchschnittsbeitrag zahlt, erhält einen Entgeltpunkt Sein "Kurswert" - der aktuelle Rentenwert - beträgt zur Zeit 46,67 DM, ab 1. Juli 47,44 DM. Wer dasanderthalbfachedes Durchschnittsbeitrages eingezahlt hat, bekommt dementsprechend I ,5 Entgeltpunkte (ihr "Kurswert" sind 70,01 DM). Wer nur halb so viel eingezahlt hat, bekommt einen halben Entgeltpunkt, der einer monatlichen Leistung von 23,34 DM entspricht. Beitrag und Leistung stehen in einer exakten Äquivalenzbeziehung. Der Beitrag ist der Preis für die gehobene soziale Sicherung, die die Rentenversicherung bietet. Er ist Element der Vorsorge. Sie erfolgt individuell, nur die Organisation ist staatlich. Allerdings besteht zwischen der Summe der im Erwerbsleben gezahlten Beiträge und der Höhe der Rente keine umfassende, zeitunabhängige Äquivalenz. Grund dafür sind die Veränderungen in der Höhe des Beitragssatzes. Daher besteht in der Rentenversicherung nur eine "Anteilsgerechtigkeit" oder, wie sie auch genannt wird, "Teilhabeäquivalenz". Anteilsgerechtigkeit bedeutet auf der Seite der Beitragszahler, daß zur gleichen Zeit - jeder Versicherte bei gleicher Leistungsfähigkeit an der Umverteilung zugunsten der Rentner in gleicher Weise, das heißt mit einem gleich hohem Beitragssatz belastet ist, und - jeder durch gleich hohe Beiträge gleichwertige Anrechte auf Leistungen (Entgeltpunkte) erwirbt. Anteilsgerechtigkeit bedeutet auf der Seite der Leistungsempfänger, - daß gleichwertige Anrechte auf Leistungen (Entgeltpunkte) unabhängig von der Zeit, der sie entstammen, zu gleichen Leistungen berechtigen, - daß diese Leistungen die auf das Versicherungsleben bezogene Relation widerspiegeln, in der der individuelle Anteil des Versicherten an der Umverteilung zum durchschnittlichen Anteil aller Versicherten an ihr stand, und - daß diese Leistungen im Grundsatz, nicht jedoch in einer verfassungsrechtlich festgeschriebenen Höhe an die Einkommensentwicklung gekoppelt sind. 2. Der soziale Ausgleich in der Rentenversicherung
Die Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung gilt nicht ausnahmslos. In der Rentenversicherung vollzieht sich ein sozialer Ausgleich von beträchtlichem Umfang. Sein Volumen wird auf bis zu 30% der Rentenausgaben geschätzt, wobei es bei der Abgrenzung des sozialen Ausgleichs Unterschiede im Detail gab und gibt.
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Mit ihm ist nicht der Risikoausgleich zwischen den nur Gefährdeten und den bereits Geschädigten gemeint, der jeder Versicherung immanent ist. Zum "sozialen Ausgleich" gehört all das, was "versicherungsfremd" ist. "Versicherungsfremd" ist grundsätzlich all das, was außerhalb der Äquivalenz von Beitrag und Leistung steht. Versicherungsfremd ist die Berücksichtigung von Zeiten, für die keine Beiträge gezahlt worden sind. Versicherungsfremd ist die Gewährung höherer Leistungen, als es aufgrund der geleisteten Beiträge gerechtfertigt wäre. Zu den Elementen des sozialen Ausgleichs in der gesetzlichen Rentenversicherung gehören zunächst die Anrechnungszeiten. Das Rentenreformgesetz '92 hat den über sie stattfindenden sozialen Ausgleich eingedämmt und damit zugleich aber auch weitere Argumente geliefert, die die Zugehörigkeit der verbliebenen Allrechnungszeiten zum sozialen Ausgleich bestätigen. Die Wiedereinführung der Beitragspflicht für Lohnersatzleistungen verdeutlicht, daß das "sekundäre Risiko" des Vorsorgeverlustes dem Versicherungsträger zuzuordnen ist, der auch das primäre Risiko des Einkommensverlustes abzudecken hat. Es gehört somit nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, das Risiko der Krankheit oder das der Arbeitslosigkeit abzusichern. Dafür sind andere Leistungsträger zuständig. Dem entspricht, daß auch die Rentenversicherung für ihre Leistungsempfänger Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner zu zahlen hat. Soweit trotz dieser Regelungen die Rentenversicherung mit der Zubilligung von Anrechnungszeiten den Vorsorgeverlust für die Kranken und Arbeitslosen aufzufangen hat, ist es für sie, wie sich gerade aus der Subsidiarität ihrer Zuständigkeit ergibt, eine versicherungsfremde Aufgabe. Auch sonst entlastet die Rentenversicherung - wie bereits ausgeführt - die Arbeitslosenversicherung in vielfältiger Weise. Dadurch erfährt mittelbar auch der Bund eine Entlastung, da er für die Arbeitslosenversicherung die Defizithaftung übernommen hat. Zu nennen sind die während einer langen Übergangszeit entstehenden Mehrkosten für die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und die Folgekosten der Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage bei den Berufsund Erwerbsunfähigkeitsrenten. Die inzwischen sowohl der Dauer als auch der Höhe nach in ihrer Bewertung eingeschränkten Ausbildungs-Anrechnungszeiten vermitteln dem länger Ausgebildeten einen Bonus, der sie innerhalb des Kreises der Versicherten zu einem größeren Risiko werden läßt. Ihnen steht trotz gleicher Beitragsleistung nach einem Versicherungsfall eine höhere Leistung zu als den Personen, die keine oder kürzere Ausbildungszeiten aufzuweisen haben. Daher ist die Gleichheit im Risiko, die eine Versicherung zwangsläufig voraussetzt, verletzt. Die Einführung der Gesamtleistungsbewertung hat daran nichts wesentliches geändert. Versicherungsfremd sind auch die Ersatzzeiten. Ihnen kommt Entschädigungscharakter zu. Mit ihnen soll der Vorsorgenachteil der Personen ausgeglichen werden, die wegen des Kriegsdienstes, der Flucht, der Vertreibung oder entsprechender Tatbestände nicht erwerbstätig sein und deswegen während dieser Zeit auch keine Vorsorge für das Alter treffen konnten. Diese Entschädigung gehört nicht
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zum Aufgabenbereich der Rentenversicherung. Sie hat weitere Kriegsfolgen zu tragen: die Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach dem Fremdrentengesetz, darunter auch die Leistungen an aus der DDR übergesiedelte Bürger, die nach dem WGSVG oder dem 2 SED-Unrechtsbereinigungs-Gesetz höher bewerteten Zeiten, die pauschale Anrechnungszeit und die Leistungen, die aus Besitzschutzgründen an Versicherte in den östlichen Bundesländer gezahlt werden (Auffüllbetrag, Rentenzuschlag, Übergangszuschlag). Fürall diese Tatbestände hat zu gelten: Die Entschädigung für Kriegsfolgen und für SED-Unrecht kann nur allgemein erfolgen und darf nicht auf einzelne Personengruppen beschränkt sein. Auch die Lasten aus der Vereinigung Deutschlands sind gesamtgesellschaftlich zu tragen. Die Zurechnungszeit, mit der bei Frühinvalidität und bei frühem Tod zugunsten des Versicherten oder seiner Hinterbliebenen die Versicherungsdauer bis zum 60. Lebensjahr verlängert wird, ist hingegen Versicherungselement Sie hat Mindestsicherungsfunktion und läßt die Invaliditätssicherung erst zur Versicherung werden. Versicherungsfremd sind Leistungen in der Rentenversicherung auch dann, wenn sie höher sind, als es aufgrund der vorher eingezahlten Beiträge gerechtfertigt wäre. Musterbeispiel hierfür ist die für Versicherungszeiten bis 1991 verlängerte "Rente nach Mindesteinkommen". Ziel dieser Regelung ist es, zu verhindern, daß sich die Lohndiskriminierung vor allem der Frauen voll in der Rente auswirkt. Diese Korrektur von Fakten ist einer Versicherung fremd. Sie ist allerdings ein Beispiel für eine auf die Rentenversicherung begrenzte Umverteilung von oben nach unten. Es geht auch in diesen Fällen darum, daß die Rentenversicherung zur Entlastung der staatlichen Fürsorge individuelle Versicherungsverläufe aufbessern muß, um ein angemessenes Sicherungsniveau zu gewährleisten. Eine ähnliche Korrektur der Fakten erfolgt durch die Höherbewertung der Pfichtbeitragszeiten während einer Berufsausbildung und für die Bewertung der Sachbezüge vor dem 1. 1. 1957. Die Renten wegen Todes können - was streitig ist - nicht dem sozialen Ausgleich zugerechnet werden. Witwen- und Witwerrenten sind in gleicher Weise durch Beiträge finanziert wie die Versichertenrenten. Daß der Ledige den gleichen Beitrag zahlt wie der Verheiratete, ist gerechtfertigt, weil beide die gleichen Anspruchsmöglichkeiten haben. Der eine, der Ledige, kann noch heiraten, der andere, der Verheiratete, Witwer werden. Den Renten wegen Todes liegt daher in gleicher Weise wie den Versichertenrenten eine individuell zurechenbare Eigenleistung zugrunde, zwar nicht eine des Berechtigten, wohl aber eine des Verstorbenen. Damit ist die Einkommensanrechnung bei den Renten wegen Todes nur schwer zu vereinbaren. Das ist aber weniger ein Problem der Renten wegen Todes als vielmehr ein Problem der 1986 eingeführten Einkommensanrechnung, über deren Verfassungsmäßigkeit immer noch nicht entschieden ist. Versicherungsfremd hingegen sind die Aufwendungen der gesetzlichen Rentenversicherungen für die auslaufenden Kinderzuschüsse, für die Kindererziehungszeiten und für die Kindererziehungsleistungen an die Mütter der Geburtsjahrgänge
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vor 1921. Daß es sich bei diesen Leistungen um solche des allgemeinen Familienlastenausgleichs handelt, ist vom Gesetzgeber mehrfach anerkannt worden. So ist der Kinderzuschuß der Rentenversicherung durch das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz ersetzt worden, um die Rentenversicherung von einer Leistung zu entlasten, deren Finanzierung heute im Rahmen des Familienlastenausgleichs grundsätzlich aus Mitteln der Allgemeinheit, d. h. aus Steuermitteln erfolgt. Die Ausgaben für die Kindererziehungszeiten und für die Leistungen wegen Kindererziehung sind ursprünglich vom Bund übernommen worden, weil - so die amtliche Begründung - "es sich bei der Anerkennung der Zeiten der Kindererziehung um eine Leistung des Familienlastenausgleichs handelt". Dem wird die wegen des Umlageverfahrens bestandssichemde Bedeutung entgegengehalten, die Kinder für die Rentenversicherung haben. Diese Bedeutung wird auch nicht in Frage gestellt. Der Blickwinkel - nur auf die Rentenversicherung bezogen - ist jedoch zu eng. Kinder haben bestandssichemde Funktion sowohl für Staat und Gesellschaft als auch für alle Systeme der Alterssicherung. Aller Sozialaufwand kann immer nur aus dem laufenden Bruttosozialprodukt bestritten werden. Wegen dieser gesamtgesellschaftlichen Funktion der Kindererziehung ist der Kinderlastenausgleich zwangsläufig eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dem entspricht, daß Kindererziehungszeiten grundsätzlich allen zustehen, die Kinder erziehen. Damit unvereinbar ist, daß sie nur von denen finanziert werden, die Rentenversicherungsbeiträge entrichten. Deshalb sind Kindererziehungszeiten versicherungsfremd. Würden für sie - wie von der Regierungskommission vorgeschlagen aktuelle Beiträge entrichtet, wären sie normale Beitragszeiten. Derzeit sind sie es nur kraft Fiktion, die aber das Versicherungsfremdsein bestätigt. Gerade das Beispiel der Kindererziehungszeiten zeigt, daß es bei der Diskussion um die versicherungsfremden Leistungen nicht darum geht, diese aus dem Leistungskatalog zu eliminieren. Es geht allein darum, die Finanzverantwortung für die mit ihnen bezweckten sozialpolitischen Ziele klarzustellen und gerechter zu verteilen. Das Volumen der versicherungsfremden Leistungen macht über 30% der Rentenausgaben aus. Der Bundeszuschuß, der dies kompensieren soll, beträgt rund 20%. Etwa 10% der Rentenausgaben müssen ohne entsprechende Beitragsleistung erbracht werden. Das gleiche Finanzierungsproblem stellt sich, wenn man die Kindererziehungszeiten alleine betrachtet. Bis 1992 sind die Aufwendungen der Rentenversicherung für Kindererziehungszeiten exakt erstattet worden. 1992 ist die Finanzverantwortung für sie auf die Rentenversicherung übergegangen, allerdings ist im Gegenzug der Bundeszuschuß angehoben worden. 1996 hat die Rentenversicherung für Kindererziehungszeiten und für Kindererziehungsleistungen an die Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 rund 7 Milliarden DM ausgegeben. Durch den erhöhten BundeszuschoB waren nur 6,3 Milliarden DM gegenfinanziert. Die Lücke zu Lasten der Beitragszahler wird künftig um so größer werden, je mehr Eltern Rente erhalten, denen für Geburten nach 1992 drei Jahre Kindererziehungszeit gutgeschrieben wurden. 2005 werden 10 Millionen Kindererziehungsjahre im Rentenbestand sein, 2035 35 Millionen.
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3. Die unzulässige Finanzierung staatlicher Sozialpolitik durch Sozialversicherungsbeiträge
Damit ist die Grundfrage aufgeworfen, ob und inwieweit staatliche Sozialpolitik mit Sozialversicherungsbeiträgen finanziert werden darf. Wenn darin wirklich kein Problem liegen würde, wie es sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundessozialgericht annehmen, könnte der Gesetzgeber die Zuschüsse zur Rentenversicherung ganz streichen. Er könnte beliebig für die Gesamtgesellschaft Kindererziehungszeiten einführen, deren Kosten (oder auch die des Kindergeldes) allein den Rentenversicherten aufbürden. Er könnte sich mehr noch als bisher dadurch aus seiner Defizithaftung gegenüber der Bundesanstalt für Arbeit ,,herausstehlen", daß er Lasten von ihr auf die Rentenversicherung überträgt. Er brauchte für Wehrdienstleistende keine Beiträge mehr zu zahlen, denn er könnte - als Maßnahme des sozialen Ausgleichs - die Bundeswehrzeiten zu Ersatzzeiten machen. Dem Einfallsreichtum des Gesetzgebers, Kosten sozialpolitischer Entscheidungen vom Bundeshaushalt und damit von der Allgemeinheit auf die Solidargemeinschaft der Rentenversicherten zu verschieben, wären keine Grenzen gesetzt. Wenn all das möglich wäre, würden die Grenzen zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung von Leistungen völlig verwischt. Dies wäre nicht einmal dann unproblematisch, wenn eine personelle Identität zwischen Beitrags- und Steuerzahlern bestehen würde. Aber nicht einmal sie gibt es. Dies ist wegen der personell begrenzten Versichertengemeinschaft offensichtlich, wenn die Gegenfinanzierung über Verbrauchssteuern erfolgen würde. Es ist nicht weniger offensichtlich, wenn die Leistungen alternativ über die Lohn- und Einkommensteuer zu finanzieren wären. Es gibt in großem Umfang Einkommen, die diesen Steuern, nicht aber auch der Sozialversicherungspflicht unterliegen. Zu nennen sind die Einkünfte der Beamten oder der Selbständigen, die sich nicht für die Versicherungspflicht kraft Antrags entschieden haben, des weiteren die Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze und aus Vermögen. All diese Einkommen brauchten sich, soweit staatliche Sozialpolitik mit Rentenversicherungsbeiträgen finanziert wird, an den Kosten nicht zu beteiligen, selbst wenn die, die sie beziehen, wie bei dem Beispiel der Kindererziehungszeiten, mit begünstigt werden. Es ist aber nicht nur die mangelnde Identität zwischen Steuer- und Beitragszahlern, die das Abschieben von sozialen Leistungen aus der Steuer- auf die Beitragsfinanzierung zum Problem werden läßt. Es verschärft sich zudem noch dadurch, daß Steuer- und Beitragsrecht den Begriff der Leistungsfähigkeit ganz unterschiedlich definieren. Die Rentenversicherung erhebt Beiträge nach einem Satz, der für alle Einkommen, unabhängig von ihrer Höhe, gleich hoch ist. Im Steuerrecht wird die Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Einkommen progressiv bestimmt. Aus diesem Unterschied zwischen einheitlichem Beitragssatz und progressivem Steuersatz folgt, daß eine Beitragsfinanzierung sozialer Lasten vor allem die begünstigt, die hohe Einkommen haben und die daher bei einer Steuerfinanzierung mit einer höheren Belastung zu rechnen hätten. Doppelt begünstigt sind die, deren Einkorn-
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men oder dessen Spitzbetrag überhaupt nicht beitragspflichtig ist. Wenn allgemeine Staatsausgaben über Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden, führt dies somit zu einer "Umverteilung von unten nach oben". Dies widerspricht dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes, dessen Ziel es auch ist, Wohlstandsdifferenzen abzubauen. Diese Probleme werden mit der These zugedeckt, der Sozialversicherungsbeitrag sei ein Abgabentypus eigener Art. Bei ihm komme es nicht auf die Äquivalenz von Beitrag und Leistung an. Mit dieser Eigenart habe das Grundgesetz den Sozialversicherungsbeitrag verfassungsrechtlich tradiert. Der Versuch, die Sachprobleme mit Argumenten der Tradition oder der Abgabentypologie klein zu reden, kann keinen Erfolg haben. Ist es - weil gleichheitswidrig - unzulässig, Sozialversicherungsbeiträge zum Instrument sozialpolitischer Umverteilung einzusetzen, dann sind sowohl das historische Argument als auch die Einordnung des Sozialversicherungsbeitrags in die Abgabentypologie zweitrangig. Der Sozialversicherungsbeitrag ist der Preis für die gehobene soziale Sicherung, die die Sozialversicherung im Vergleich zur Sozialhilfe bietet. Von der Steuer unterscheidet er sich vor allem in zweierlei Hinsicht: Im Gegensatz zur Steuer, die grundsätzlich alle Bürger erfaßt, hat Sozialversicherungsbeiträge nur ein - wenn auch großer - Teil unserer Bevölkerung zu zahlen. Die Sonderbelastung dieser Personen mit Sozialversicherungsbeiträgen muß gegenüber dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Lastengleichheit aller Bürger - einer zwangsläufigen Konsequenz des Gleichheitssatzes - legitimiert werden. Die Legitimation kann grundsätzlich nur in Äquivalenz zwischen den Beiträgen einerseits und der Gegenleistung des Sozialversicherungssystems andererseits gefunden werden. Der Beitrag, den nicht alle zu zahlen haben, stellt nur dann kein gleichheitswidriges Sonderopfer dar, wenn er eine Gegenleistung auslöst, die auch der Höhe nach ein Äquivalent darstellt. Dabei liegt es im Wesen einer Versicherung, daß ihre Gegenleistung nur der Versicherungsschutz, d. h. nur die Möglichkeit sein kann, bei Eintritt des versicherten Risikos Leistungen zu erhalten. Die Äquivalenz muß also bestehen zwischen dem Beitrag und der für den Versicherungsfall zugesagten Leistung. Unerheblich ist, ob der Versicherungsfall eintritt und die Leistung auslöst. Das Prinzip der Lastengleichheit aller Bürger gilt nicht nur für das Steuerrecht. Es wäre ansonsten ein Formalprinzip. Der Staat könnte im noch stärkerem Maße als bisher bestimmte öffentliche Ausgaben nicht aus Steuermitteln finanzieren, sondern deren Lasten einzelnen Bürgern und Gruppen neben ihrer Steuerlast und ohne Rücksicht bei dieser aufbürden. Um dieses gleichheitswidrige Ergebnis zu vermeiden, muß das Prinzip der Lastengleichheit aller Bürger ausnahmslos alle staatlich geforderten Abgaben umfassen, auch die nicht-steuerlicher Art. Der Sozialversicherungsbeitrag kann insoweit keine Ausnahme machen. Das Sozialversicherungsrecht steht nicht außerhalb der Grundrechtsgeltung. Daher kann nicht schon die Qualifikation einer Abgabe als Sozialversicherungsbeitrag ausreichen,
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um ein Abweichen vom Prinzip der Lastengleichheit zu rechtfertigen. Es ist nur dann gewahrt, wenn auch der Sozialversicherungsbeitrag zu einer äquivalenten Gegenleistung führt. Daraus folgt zunächst: Das Prinzip der Lastengleichheit aller Bürger schließt aus, daß mit Sozialversicherungsbeiträgen solche Leistungen des sozialen Ausgleichs finanziert werden, die nicht einmal gruppennützig sind. Insoweit wäre selbst die Wertung des Sozialversicherungsbeitrages als Sonderabgabe ausgeschlossen. Die Frage ihrer Zulässigkeit würde sich gar nicht erst stellen. Die Gruppennützigkeit hängt eng mit der besonderen Gruppenverantwortung zusammen. Sie ist überhaupt die Basis dafür, daß statt aller Bürger nur eine Gruppe zur Finanzierung staatlicher Leistungen herangezogen wird. Gruppennützigkeit kann daher überhaupt nur dann bejaht werden, wenn diese Gruppe dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck evident näher steht als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler. Eine Gruppenverantwortung kann daher - wenn überhaupt - nur innerhalb der Solidargemeinschaft der Sozialversicherten bestehen, aber nicht über deren Kreis hinausgehen. Schon aus diesem Grunde dürfen mit Sozialversicherungsbeiträgen nicht Leistungen an Personen finanziert werden, die nicht dem Versichertenkreis angehören und ihm nur deshalb zugeordnet werden sollen, um Leistungen zu erhalten. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, daß die soziale Alterssicherung von Vertriebenen und Flüchtlingen alleine von den Beitragszahlern der Rentenversicherung zu finanzieren ist. Die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ist unbestritten eine soziale Notwendigkeit. Aber daß für die Kosten nicht auch Beamte, nicht auch Selbständige und nicht auch Personen mit Einkommen aus Vermögen oder oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze aufzukommen haben, ist gleichheitswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat dies 1962 in einer schon damals als sehr ungerecht empfundenen Entscheidung anders gewertet. Für Zeiten vor 1945 war dies akzeptabel, da damals noch eine einheitliche Reichsversicherung bestand. Das Hauptargument des Bundesverfassungsgerichts - die Kriegsfolge-verblaßt zudem in dem Maße, indem in den Genuß solcher Renten zunehmend mehr Personen kommen, die ihr gesamtes Erwerbsleben nach dem Kriege außerhalb des Bundesgebietes verbracht haben. Zu einer unzulässigen Leistung der Solidargemeinschaft an externe Berechtigte käme es auch dann, wenn Kindererziehungszeiten ohne entsprechende Gegenfinanzierung durch einen erhöhten Bundeszuschuß ausgeweitet würden und es dabei bliebe, daß diese Zeiten allen zustehen. Wenn alle die Leistung erhalten, müssen auch alle dafür zahlen. Verfassungsrechtlich problematisch ist aber selbst ein beitragsfinanzierter sozialer Ausgleich innerhalb der rentenversicherten Solidargemeinschaft. Er wirft zwei grundsätzliche Fragen auf: (1) Warum erhalten den Vorzug einer dem Beitrag nicht entsprechenden Leistung nur die, die in die Rentenversicherung einbezogen sind?
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(2) Warum trifft das Opfer, Beiträge entrichten zu müssen, die keine adäquate Gegenleistung erwarten lassen, nicht alle Bürger, sondern nur diejenigen, die in die Rentenversicherung einbezogen sind? Auch der soziale Ausgleich innerhalb der jeweiligen Solidargemeinschaft verletzt die Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung. Er kann nicht mit einer besonderen Schutzbedürftigkeit der Sozialversicherten gerechtfertigt werden. Dieses Argument trifft schon deshalb nicht (mehr) zu, weil von einer generellen Schutzbedürftigkeit der Sozialversicherten nicht mehr gesprochen werden kann. Die Rentenversicherung erfaßt über 80% der erwerbstätigen Bevölkerung und Einkommen bis zur derzeit - 1997 - gültigen Beitragsbemessungsgrenze von 8.200 DM im Monat oder 98.400 DM im Jahr und damit einen sehr inhomogenen Personenkreis. In ihm ist nur eines gemeinsam: Der Einsatz der Arbeitskraft im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses oder einer selbständigen Tätigkeit zum Erwerb von Arbeitsentgelt oder -einkommen. Diese Gemeinsamkeit rechtfertigt den gesetzlichen Versicherungsschutz gegenüber Risiken, die die Erwerbsfähigkeit bedrohen. Der vom Gesetzgeber typisiert unterstellte gemeinsame Bedarf an sozialer Sicherung im Falle der Erwerbsminderung, des Alters oder des Todes unter Zurücklassung von Hinterbliebenen ist konstituierendes Element der die Rentenversicherung tragenden Solidargemeinschaft. Ein sozialer Ausgleich innerhalb dieser Solidargemeinschaft wäre nur dann möglich, wenn ihre Mitglieder füreinander eine besondere Gruppenverantwortung träte, die sich deutlich von der Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern abheben würde. Jede Versicherung führt zu einem Risikoausgleich zwischen den nur Gefährdeten und den bereits Geschädigten. Er ist für jede Versicherung konstitutiv und auf den reinen Risikoausgleich beschränkt, wenn der Beitrag des Versicherten und der ihm gewährte Versicherungsschutz äquivalent sind. In einer Versichertengemeinschaft, deren einzig konstitutives Element die gemeinsame Abhängigkeit von bestimmten Risiken ist, beschränkt sich die Gruppenverantwortung auf den reinen Risikoausgleich. Keiner, der einen sozialen Ausgleich innerhalb der Sozialversicherung für zulässig hält, hat eine Begründung dafür gefunden, warum die 80% der Bevölkerung, die die Rentenversicherung erfaßt, füreinander eine größere Solidarität aufbringen sollen als die Bevölkerung insgesamt. Allein aus der typisiert festgestellten Gleichheit der Risiken läßt sich eine über den echten Risikoausgleich hinausgehende Solidarität, also eine gesteigerte Verantwortung füreinander nicht herleiten. Damit ist auch die Solidarität der Reitragszahler der Rentenversicherung keine Erklärung für einen über den echten Risikoausgleich hinausgehenden und deshalb fremdnützigen sozialen Ausgleich. Er kann sich - in welcher Form auch immer - nur gesamtgesellschaftlich vollziehen. Das schließt nicht aus, daß die Rentenversicherung als "Umverteilungsmittler" steuerfinanzierte Elemente des sozialen Ausgleichs auszahlt. Es geht - um es nochmals zu betonen - nicht um einen Abbau des sozialen Ausgleichs, sondern um seine gerechte Finanzierung.
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Der Sozialversicherung geht damit das "Soziale" nicht verloren. Gute und schlechte Risiken werden zu einer Zwangsversicherung zusammengefaßt. In der zulässigen Wegtypisierung des individuellen Risikos und in der Auferlegung einer Versicherungspflicht, die unverzichtbare Basis des Umlageverfahrens ist, besteht der Unterschied zwischen der privaten und der gesetzlichen Rentenversicherung. Aus dem "Wesen" der Sozialversicherung kann kein Gegenargument hergeleitet werden. Die Unterschiede zwischen der Unfallversicherung als Entschädigungssystem einerseits und der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung als Vorsorgesysteme andererseits sowie die Unterschiede zwischen den drei Vorsorgesystemen schließen es aus, von einem "Wesen" der Sozialversicherung zu sprechen. Doch selbst, wenn es ein "einheitliches Wesen" der Sozialversicherung gäbe und es auch den sozialen Ausgleich mitumfassen würde, es wäre letztlich nur das Argument der Tradition. Es ist aber nicht in der Lage, den Geltungsanspruch des Grundgesetzes außer Kraft zu setzen. Sozialversicherte haben keinen geringeren Anspruch auf Gleichbehandlung als andere Bürger auch. Der Staat kann nicht Sozialpolitik betreiben und ihre Kosten nur einem Teil seiner Bürger aufbürden. Diese Erkenntnis ist inzwischen Allgemeingut. Auch die Politik hat sie inzwischen akzeptiert und will ihr mit der angekündigten Erhöhung des Bundeszuschusses Rechnung tragen. Daß gleichzeitig aber das Volumen der versicherungsfremden Leistungen ausgeweitet wird, läuft der Zielsetzung zuwider, die Belastung der Solidargemeinschaft durch versicherungsfremde Leistungen abzubauen. Es werden zudem mit dem Ausbau der Kindererziehungszeiten neue "Wechsel auf die Zukunft" ausgestellt. Die Politik ist dabei, den Erfolg, den sie mit der partiellen Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen durch Steuern erzielte, wieder zu verspielen. Mittelund langfristig werden die Mehrkosten infolge des Ausbaus der Kindererziehungszeiten etwa 40% des erhöhten Bundeszuschusses beanspruchen. Das alles für einen Familienlastenausgleich im Alter, der in doppelter Weise sein Ziel verfehlt. Die Familien brauchen die Hilfe am dringendsten, wenn sie die Kinder erziehen, und nicht im Alter. Einen Kinderlastenausgleich über die Rentenversicherung finanzieren wegen des Umlageverfahrens die Kinder und nicht die Kinderlosen. Wer den Familien helfen will und Prioritäten setzen muß, sollte eher die Dauer des Erziehungsgeldes als die der Kindererziehungszeiten verlängern. Diese Fehlallokation erheblicher Finanzmittel als ungedeckte "Wechsel auf die Zukunft" wäre nicht erfolgt, wenn, wie von der Rentenkommission vorgeschlagen, künftig für Kindererziehungszeiten sofort aktuelle Beiträge gezahlt werden müßten. Es sollte künftig nicht mehr möglich sein, daß die Politik sozialpolitische Entscheidungen trifft, sie als Erfolg feiert, die Kosten aber den nachwachsenden Generationen aufbürdet. Lassen Sie mich zum Abschluß meines Themas noch darauf hinweisen, daß eine Finanzierung staatlicher Sozialpolitik über Sozialversicherungsbeiträge arbeitsmarktpolitisch unvernünftig ist. Dadurch werden die Lohnnebenkosten erhöht, was z. B. auch zu Lasten des Exportes geht. Eine Finanzierung der entsprechenden Aufwendungen z. B. durch die Mehrwertsteuer würde den Export begünstigen und
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den Import an der Finanzierung beteiligen. Die Gegenfinanzierung durch die Mehrwertsteuer ist zwar nicht unproblematisch, weil sie den Konsum und damit vor allem niedrige Einkommen belastet, deren Konsumanteil hoch ist. Der gespaltene Mehrwertsteuersatz mindert dieses Problem. Die CDU will die Erhöhung des Bundeszuschusses durch eine stärkere Besteuerung des Verbrauchs finanzieren. Damit kommt z. B. auch die Mineralölsteuer in Betracht. Untersuchungen jedenfalls belegen, daß, wenn versicherungsfremde Leistungen nicht weiter die Lohnnebenkosten belasten würden, neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Es gibt also nicht nur juristische und sozialpolitische, sondern auch wirtschaftspolitische Gründe, die Beitragsfinanzierung von der Steuerfinanzierung strikt zu trennen.
Die versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung Von Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten
Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
I. Einleitung
Die Forderung nach staatlicher Finanzierung sog. versicherungsfremder Leistungen scheint communis opinio zu sein. Vertreter politischer Parteien, Tarifpartner, Mitglieder von Reformkommissionen, Funktionäre von Interessenverbänden sind sich hierin weitgehend einig. Allerdings zeichnen sich unter der glatten Oberfläche einer einhelligen Meinung unterschiedliche Strömungen ab. Die Arbeitgeber sind an einer Senkung der Lohnnebenkosten interessiert, die Arbeitnehmer an einer mittelbaren Lohnerhöhung; die einen wollen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft fördern, die anderen eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge vermeiden. Angesichts des lauten Rufes nach Verlagerung sog. versicherungsfremder Leistungen von den Sozialversicherungshaushalten auf den Staatshaushalt erscheint es wenig opportun, gegen einen sozialpolitischen Einheitschor anzusingen. Aber Mehrheit und selbst Einstimmigkeit sind keine Gewähr für Richtigkeit und Wahrheit. Auch in der Vergangenheit hat es in der Sozialversicherung eine Fülle von Entscheidungen gegeben, die mit breiter sozialpolitischer Mehrheit getroffen wurden und sich im nachhinein doch als falsch erwiesen haben. Erinnert sei an die Öffnung der Rentenversicherung für die freiwillige Versicherung, das flexible Altersruhegeld ohne versicherungsmathematischen Abschlag oder die bruttolohnbezogene Rentenanpassung. Aufgabe einer wissenschaftlichen Tagung ist es nicht, Akklamationen zu provozieren und Resolutionen zu initiieren. Zweck derartiger Veranstaltungen ist die Darstellung unterschiedlicher Auffassungen und die Auseinandersetzung mit ihnen im Bemühen um Wahrheitsfindung.
II. Der Begriff der "versicherungsfremden Leistung" "Versicherungsfremde Leistung" ist kein sozialrechtlicher, sondern ein sozialpolitischer Begriff, der schon zum Kampfbegriff geworden ist. Der Ausdruck wirkt suggestiv und emotional. Denn die Etikettierung als "fremd" erzeugt Distanz und Abneigung sowie das Bestreben nach Abtrennung und Ausgrenzung. Das ist wohl 25 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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am deutlichsten in der nationalsozialistischen Rassenideologie und ihrer Unterscheidung zwischen "artfremdem" und "artverwandtem" Blut geworden. Aber auch in unserer Zeit bemüht man sich, negative Assoziationen im Zusammenhang mit "fremd" durch positive zu ersetzen. Deshalb wurde der Begriff des "Fremdarbeiters" gegen den des "Gastarbeiters" ausgewechselt. 1 Eine Kombination von negativ und positiv gefühlsbesetzten Begriffen findet sich im Titel einer Broschüre, die der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger zu unserem Thema herausgegeben hat: "Versicherungsfremde Leistungensachgerecht finanzieren!" 2 Hier erweckt die Zustandsbeschreibung als "versicherungsfremd" negative Effekte und damit Ablehnung, das Postulat einer sachgemäßen, vor allem einer gerechten Finanzierung positive Gefühle und damit Zustimmungsbereitschaft. Doch der entscheidende Einwand zielt nicht auf die terminologische Manipulation, die in sozialen Verteilungskämpfen möglicherweise üblich ist, sondern auf die inhaltliche Unrichtigkeit des Begriffs. Die Sozialversicherung ist ebensowenig nur Versicherung, wie die Soziale Marktwirtschaft nur Marktwirtschaft, der Bundesstaat nur Staat oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes nur eine demokratische Ordnung ist. Diese Kritik ist keine Silbenstecherei. Denn sie nimmt nicht Anstoß an sprachlicher Einkleidung, sondern an inhaltlicher Verkürzung. Wenn aus der Begriffsverknüpfung "Sozialversicherung" ein Element entfernt, wenn die "Sozialversicherung" um das Soziale amputiert wird, dann führt die Operation zu Einseitigkeit und Entstellung. Das zeigt der Versuch, versicherungsfremde Leistungen als Leistungen zu definieren, die "außerhalb der Äquivalenz von Beitrag und Leistung stehen"? Diese Definition berücksichtigt eben nur die Versicherungskomponente, nicht aber die soziale Komponente der sozialen Rentenversicherung und muß allein deswegen unrichtig sein. Die "Sozialversicherung" ist mehr als eine "Versicherung", weshalb sie sich auch fundamental von der Privatversicherung unterscheidet. Für die Sozialversicherung ist neben dem versicherungsrechtlichen auch das fürsorgerische Prinzip kennzeichnend. 4 Insbesondere das Sozialrechtsverhältnis der gesetzlichen Rentenversicherung beruht "nicht auf dem reinen Versicherungsprinzip, sondern auch auf dem Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs". 5 Hierüber besteht in I Hierzu Lutz Mackensen, Verführung durch Sprache 1973, S. 100, 193; vgl. auch Ansayl Gessner, Gastarbeiter in Gesellschaft und Recht, 1974. 2 Fakten und Argumente, Heft Nr. 5, 1997. 3 Ruland, RV 1995, S. 32 (34); Kufer, NZS 1996, S. 559 (560); gegen den Begriff auch v. Maydell, NJW 1997, S. 850. 4 Vgl. BVerfGE II, 105 (114); 17, 1 (10); 28,324 (349); 39, 169 (186f.); 39, 316 (330); 40, 121 (136); 48, 346 (358); 57, 335 (345); 67, 231 (237); Wolfgang Gitter, Sozialrecht, 4. Aufl. 1996, S. 52ff. (57); Bertram Schulin, Sozialrecht, 5. Aufl. 1993, RN 40ff.; Merten, Art. Sozialrecht, Sozialpolitik, in: Benda I Maihofer I Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 20 RN 93 f. s BVerfGE 67,231 (237.
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Rechtsprechung und Schrifttum eine derart unangefochtene Übereinstimmung, daß es zutiefst unverständlich erscheint, den "sozialen Ausgleich" aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu eliminieren. Die Institution der Sozialversicherung sowie eine Reihe von Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung sind allein durch den Versicherungsgrundsatz nicht zu rechtfertigen. Zweck der Sozialversicherung ist der soziale Ausgleich nicht nur innerhalb der Versicherten, sondern auch zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. 6 In Übereinstimmung hiermit, aber im Widerspruch zum Versicherungsprinzip ist daher die Höhe des Beitragssatzes in der Rentenversicherung seit jeher unabhängig vom Familienstand des Versicherten und der Zahl seiner Kinder, obwohl diese Umstände von erheblicher Bedeutung für die Rentenversicherungsleistungen sind. 7 In der Hinterbliebenenrente verkörpert sich wie in kaum einer anderen Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung der Fürsorgegedanke und das Prinzip des sozialen Ausgleichs, weil jeder Rentenversicherungspflichtige, insbesondere der unverheiratete mit seinem Beitrag alle Hinterbliebenenrenten mitfinanziert.8 Dasselbe gilt für die früher gezahlten, allein am Bedarf und nicht am Beitrag orientierten Kinderzuschüsse der gesetzlichen Rentenversicherung9 , die 1984 durch das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz abgelöst wurden. 10 Ebenso sind die Rehabilitationsleistungen der Rentenversicherungsträger 11 von der Beitragshöhe der Versicherten unabhängig 12 und damit "versicherungsfremd". Das Prinzip des sozialen Ausgleichs zwischen höherem und niedrigerem Verdienst verkörpert sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in der "Rente nach Mindesteinkommen" 13 , die allerdings unter Gleichheitsgesichtspunkten problematisch ist 14, wie in dem früheren Ausgleich geringer Verdienste während der ersten fünf Kalenderjahre durch Festsetzung pauschalierter Bruttoarbeitsentgelte. 15 In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht unter Zurückweisung der Rechtsauffassung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger es für legitim erachtet, daß der Gesetzgeber, gestützt auf den Gedanken des sozialen Ausgleichs, die soziale Wirklichkeit durch das Rentenversicherungsrecht korrigiert. 16 Nach allem sind daher "versicherungsfremde Leistungen" nicht sozialversicherungsinadäquat, sondern gerade sozialversicherungsadäquat Die gesetzliche RenBVerfGE 14, 312 (317). Vgl. BVerfG a. a. 0 . 8 BVerfGE 48, 346 (358). 9 Vgl. BVerfGE 39, 316 (330); 17, I (10). 10 Vgl. Schulin, Sozialrecht, RN 793. II Hierzu Gitter, Sozialrecht, § 22 I, S. 244. 6
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Hieraufverweist BVerfG 14,312 (317). BVerfGE 39, 169 (187). Vgl. Papier, in: VSSR 1973/74, S. 56f. BVerfGE 57, 335 (345). BVerfGE a. a. 0.; vgl. in diesem Zusammenhang auch E 74, 163 (180 f.).
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7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
tenversicherung dient nicht wie die Privatversicherung allein der Vorsorge des Versicherten vor unkalkulierbaren Gefahrenlagen. Das Versicherungsprinzip wird in den Worten des Bundesverfassungsgerichts in der gesetzlichen Rentenversicherung "durch soziale und damit versicherungsfremde Gesichtspunkte zwar nicht vollständig beseitigt, aber doch - im Vergleich zur Privatversicherung - entscheidend modifiziert." 17 Erst die soziale Komponente macht die gesetzliche Rentenversicherung zu einem Unterfall der "Sozialversicherung". Entkleidete man die Rentenversicherung aller versicherungsfremden Elemente und machte sie zu einer reinen Versicherung, stünde auch der Kompetenztatbestand des Art. 74 Nr. 12 GG nicht länger zur Verfügung. Denn dieser gestattet keine beliebigen Regelungen, sondern verlangt die Beachtung der "wesentlichen Strukturelemente" der Sozialversicherung, insbesondere "hinsichtlich der abzudeckenden Risiken" und "der organisatorischen Durchführung", wie sie der klassischen Sozialversicherung entsprechen. 18 Sind versicherungsfremde Prinzipien für das Sozialversicherungsrecht charakteristisch, darf man sie nicht begrifflich aus dem Sozialversicherungsrecht herausdefinieren. Infolgedessen ist der Begriff der "versicherungsfremden Leistungen" untauglich.
111. Fremdleistungen als "sozialversicherungsfremde Leistungen" Wenn man wegen der finanziellen Situation der gesetzlichen Rentenversicherung sozialpolitisch den Abbau von Fremdleistungen fordert, kann es richtigerweise nur um "sozialversicherungsfremde Leistungen" gehen, die im folgenden zu umschreiben sind. Im Privatversicherungsrecht wird als ein versicherungsfremdes Geschäft, das nach § 7 Abs. 2 des Versicherungsaufsichtsgesetzes von den Privatversicherungen nicht getätigt werden darf, ein Geschäft angesehen, das "mit dem Wesen der Versicherung in keinem inneren Zusammenhang steht und mit den Aufgaben der Versicherung nichts zu tun hat". 19 In Anlehnung hieran kann man eine sozialversicherungsfremde Leistung als eine Leistung umschreiben, die mit der Sozialversicherung in keinem inneren Zusammenhang steht und mit deren Aufgaben nichts zu tun hat. Hieraus folgt, daß Leistungen, die der Erfüllung der Sozialversicherungsaufgaben dienen und mit ihr im Zusammenhang stehen, nicht sozialversicherungsfremd sein können. Noch subtiler kann zwischen den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung differenziert werden, so daß z. B. auf rentenversicherungsfremde oder krankenversicherungsfremde Leistungen verwiesen werden kann. BVerfGE 76,256 (301); vgl. auch E 39, 316 (330). Ygl. BVerfGE 88, 203 (313); 87, 1 (34); 75, 108 (146); siehe auch E 11 , (102 (112); Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozia1recht, 2. Auf!. 1991, S. 17 FN 31. 19 Goldberg I Müller, Versicherungsaufsichtsgesetz, 1980, § 7 RN 3. 17
18
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
379
Die Aufgaben der Sozialversicherung lassen sich ihrerseits gerade in Abgrenzung zur Privatversicherung ermitteln. Für diese gilt das reine Versicherungsprinzip. Ihr Grundgedanke ist die gemeinsame Selbsthilfe von gleichartig Gefährdeten durch einen Zusammenschluß. Diesem Risikoausgleich innerhalb eines größeren Personenkreises liegt letztlich das mathematische Gesetz der großen Zahl zugrunde, wonach ein individuelles Risiko, das als solches nicht berechenbar ist, bei einer größeren Zahl berechenbar und damit auch versicherbar wird. Die soziale Rentenversicherung wird im Unterschied zur Privatversicherung nicht oder jedenfalls nicht nur durch die Äquivalenz von Prämie (Beitrag) und Leistung, sondern wesentlich auch durch die Solidarität der Mitglieder, den sozialen Ausgleich oder die soziale Fürsorge sowie den Generationenvertrag geprägt, so daß sich der rein versicherungsmäßige Risikoausgleich mit sozialen Elementen verbindet. Im Vordergrund der gesetzlichen Rentenversicherung steht "die annähernd gleichmäßige Förderung des Wohls aller Mitglieder der Solidargemeinschaft mit besonderer Berücksichtigung der Hilfsbedürftigen". 20 Soziale Gesichtspunkte werden vor allem bei der rentensteigemden Wirkung von Zeiten deutlich, die nicht durch Beitragsleistungen gedeckt sind, also bei Ersatz-, Anrechnungs- und Zurechnungs- sowie Berücksichtigungszeiten. Auf den fürsorgerischen Charakter der Hinterbliebenenrente, die ohne eigene Beitragsleistung des Empfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährt wird, wurde bereits verwiesen. Während für die Privatversicherung die individuell risikobezogene Prämie und die versicherungsmathematische Äquivalenz zwischen Prämien und Leistungen maßgeblich sind, richtet sich der Beitrag des Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht nach persönlichen Umständen oder speziellen Risiken, sondern nach der individuellen Leistungsfähigkeit. Der Beitrag ist nicht risiko-, sondern leistungsbezogen, weil er lohn- oder einkommensabhängig ist. 21 Die Rente bemißt sich in der gesetzlichen Rentenversicherung eben nicht ausschließlich, sondern nur unter anderem nach der Höhe der entrichteten Beiträge22 . Wegen der weiter reichenden Aufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung kann sich die Gruppenverantwortung der Versichertengemeinschaft nicht auf den allgemeinen Risikoausgleich beschränken, weil das Versicherungsprinzip sozial modifiziert wird. Deshalb ist auch die These unrichtig, ein beitragsfinanzierter sozialer Ausgleich innerhalb der Rentenversicherung sei nur bei besonderer Schutzbedürftigkeit oder bei spezifischen Solidaritäts- und Verantwortlichkeitsbeziehungen zu rechtfertigen, die jedoch nicht gegeben seien. Der beitragsfinanzierte soziale Ausgleich gehört gerade zum Wesen der Sozialversicherung, dem die Sozialversicherungsgesetze entsprechen müssen. Wesentliches Merkmal für die Sozialversicherungsleistung ist die Eigennützigkeit. Leistungen, die nur den Mitgliedern der Solidargemeinschaft zugute kommen, 20 21 22
So BVerfGE 76, 256 (301). Vgl. auch BVerfGE 76, 256 (304). So auch BVerfG a. a. 0. S. 306.
380
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
wie z. B. der Familienausgleich, gehören zu den Aufgaben der Sozialversicherung und sind deshalb nicht sozialversicherungsfremd. Anders verhält es sich bei den fremdnützigen oder externen Leistungen, die für die Allgemeinheit und nicht nur für die Sozialversicherten erbracht werden. Insoweit handelt es sich um sozialversicherungsfremde Leistungen. Diese Unterscheidung ergibt eine plausible Abgrenzung für die Finanzierung. Staatsleistungen, die allgemein gewährt werden, sollten von der Allgemeinheit finanziert werden. Sozialversicherungsleistungen, die nur der Solidargemeinschaft zukommen, sollten auch von dieser aufgebracht werden, können jedenfalls aber nicht als "sozialversicherungsfremd" ausgegrenzt werden. So begründen Kriegsdienst, Wehrpflicht, Ausbildung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit für die Allgemeinheit keine besonderen Versorgungs- oder Fürsorgetatbestände. Es handelt sich hier um individuelle Risiken oder um Ereignisse, deren Eintritt z. B. bei Ärzten, Rechtsanwälten, Unternehmern keinen Anspruch auf staatliche Leistungen auslöst. 23 Dagegen werden diese Leistungen im Sozialversicherungsrecht als Ersatz- oder Anrechnungszeiten (früher: Ausfallzeiten) berücksichtigt, auch wenn die Anrechnung von Ausbildungszeiten bekanntlich in jüngster Zeit stark reduziert wurde. Zeiten der Arbeitslosigkeit können sogar Beitragszeiten sein, weil die Bundesanstalt für Arbeit hierfür in jüngerer Zeit nach Maßgabe näherer Vorschriften Beiträge entrichtet. Ursache für diese unterschiedliche Behandlung ist das Prinzip der Solidarität und des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung. Innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung findet ein Risikoausgleich zwischen den in ihrem persönlichen Schicksal stärker und schwächer Betroffenen statt. Die leistungsfähigeren Mitglieder sollen eine Umverteilung zugunsten der Schwächeren hinnehmen. Es liegt also ein interner, auf die Sozialversicherten beschränkter Ausgleich und daher eine sozialversicherungstypische, nicht eine sozialversicherungsfremde Leistung vor. Zusätzliches Indiz für die Abgrenzung von sozialversicherungsrechtlich konformen zu inkonformen Leistungen ist die Herkömmlichkeit einer Maßnahme und ihre Einfügbarkeit in das klassische Bild der Sozialversicherung. Der Begriff "Sozialversicherung" in Art. 74 Nr. 12 GO ist keine Hohlform, in die sich jeder beliebige Inhalt pressen läßt, sondern ein wenn auch weit gefaßter materieller Begriff, unter den nur zu subsumieren ist, was sich "der Sache nach als Sozialversicherung darstellt"24. Maßgebliche Konturen erhält er durch jene Prinzipien, die die "klassische Sozialversicherung" geprägt haben, wozu auch das "soziale(n) Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten" zählt. 25 Entscheidend für die sozialversicherungsrechtliche Eigenschaft einer Leistung ist also nicht eine formale Bezeichnung, sondern die sachliche Zuordnung, für die eine Harmonie mit den überkommenen Prinzipien entscheidend ist. Gerade die Sozialleistungen der ersten 23
24 2s
Der Wehrsold nach dem WehrsoldG kann hier außer Betracht bleiben. BVerfGE 88, 203 (313); 75, 108 (146). BVerfGE 88, 203 (313).
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
381
Stunde haben das Bild der klassischen Sozialversicherung geprägt und können deshalb schwerlich sozialversicherungsfremd sein. Allerdings gibt die Herkömmlichkeil einer Sozialversicherungsleistung nur ein Indiz, weil der Gesetzgeber auch neue Leistungen, wie etwa die Rente nach Mindesteinkommen, oder neue Tatbestände, wie den Pflegefall oder künstlerische Tätigkeit, in die Sozialversicherung aufnehmen kann, sofern diese in ihren wesentlichen Strukturelementen in die überkommene Sozialversicherung passen. So findet sich der Familienlastenausgleich bereits in den Sozialversicherungsgesetzen der ersten Stunde. Daneben hat das lnvaliditätsversicherungsgesetz, später die Reichsversicherungsordnung und das Angestellenversicherungsgesetz Zeiten des Kriegsdienstes und der Wehrpflicht als Beitragsmonate anerkannt. 26 Lediglich die Bergarbeiter waren anfangs noch benachteiligt, weil nur einige Knappschaftsvereine entsprechende Regelungen vorgesehen hatten. In Preußen erging daraufhin das Knappschafts-Kriegsgesetz27 , das eine Gleichbehandlung der Bergleute mit den Arbeitern und Angestellten brachte. Diese historische Entwicklung darf nicht außer acht lassen, wer heute über den Begriff der sozialversicherungsfremden Leistungen diskutiert. Sozialversicherungskonformität kann sich nicht nach sozialpolitischer Zweckmäßigkeit oder nach dem jeweiligen Kassenstand richten, sondern muß nach der Verfassung und den Gesetzen interpretiert werden. Da unter dem Grundgesetz der Begriff der Sozialversicherung im Rahmen des Artikel 74 Nr. 12 GG zu definieren ist, liegt jedenfalls dann eine sozialversicherungsfremde Leistung vor, wenn der Gesetzgeber sich für eine Regelung nicht auf diese Bestimmung stützen kann, sondern andere Kornpelenztitel benötigt.
IV. Zur Einordnung umstrittener Leistungen Aufgrund der bisherigen Ergebnisse sollen nun einige Sozialleistungen betrachtet werden, deren "Versicherungsfremdheit" in der sozialpolitischen Diskussion reklamiert wird. 1. Familienlastenausgleich
Dem Grunde nach sind diese Leistungen im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung überkommen, da sie sich schon zu Beginn der sozialversicherungsrechtlichen Entwicklung finden. Es handelt sich um Sozialversicherungsleistungen, weil sie teilweise auf der Fürsorge des Arbeitgebers beruhen und im übrigen ein Risikoausgleich innerhalb der Sozialversicherten stattfindet. Deswegen kann in der 26 Vgl. § 17 Abs. 2 des Gesetzes betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. 6. 1889 (RGBI. S. 97); § 1393 RVO. 27 Vom 26. 3. 1915 (Preuß. GS S. 61).
382
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Sozialversicherung die Zahl der Kinder anders als in der Privatversicherung kein individuelles Versicherungsrisiko darstellen, weshalb auch der Beitragssatz unabhängig vom Familienstand und der Zahl der Kinder festgesetzt werden darf. Der Unterschied zwischen sozialversicherungskonformer und sozialversicherungsfremder Leistung in diesem Bereich wird besonders deutlich, wenn man das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz (HEZG) einerseits sowie das Kindererziehungsleistungsgesetz (KLG) andererseits und die Rechtsprechung hierzu betrachtet. Beim ersten Komplex (HEZG) wirkten sich Kindererziehungszeiten nach näherer Maßgabe der Vorschriften in bestimmten Fällen auf den Rentenanspruch dadurch aus, daß die ersten zwölf Monate nach Ablauf des Geburtsmonats als Pflichtversicherungstatbestand bzw. als Versicherungszeit eigener Art berücksichtigt werden. Seit dem 1. Januar 1992 werden im übrigen für die Erziehung eines nach dem 31. Dezember 1991 geborenen Kindes dessen erste drei Lebensjahre als Kindecerziehungszeiten angerechnet (§ 56 Abs. 1 Satz 1 StOB VI). Die sachliche Zuordnung derartiger Regelungen zum Rentenversicherungsrecht kann nicht zweifelhaft sein. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, daß die derzeitige Ausgestaltung der Rentenversicherung nicht nur kein Grund ist, "die Erzieher von Kindem gegenüber Kinderlosen erheblich zu benachteiligen", sondern auch die Verpflichtung des Gesetzgebers betont, diese Benachteiligung weiter als bisher schrittweise abzubauen. 28 Dabei hat das Gericht vornehmlich rentenrechtliche Regelungen als Ausgleich gefordert, soweit sich die Benachteiligung gerade in der Alterssicherung der mit der Kindererziehung betrauten Familienmitglieder niederschlägt. 29 Bei den geschilderten Regelungen handelt es sich um einen sozialversicherungsintemen Familienlastenausgleich, weil die rentensteigemde Wirkung sich auf Mitglieder beschränkt, die der Solidargemeinschaft angehören, Außenstehenden jedoch nicht zugute kommt. Er findet seine Grundlage im Generationenvertrag als dem Fundament der gesetzlichen Rentenversicherung, ohne den sich diese Institution nicht aufrechterhalten läßt, weil die nachrückende Generation später die Mittel für die Alterssicherung der augenblicklich erwerbstätigen Generation aufbringen muß, so daß die Kindererziehung auch bestandssichemde Bedeutung für das System der Altersversorgung hat. 30 Von diesem sozialversicherungsinternen Familienlastenausgleich, der sich auf die Solidargemeinschaft beschränkt, ist der allgemeine Familienlastenausgleich zu unterscheiden, der die Allgemeinheit und nicht nur die Sozialversicherten betrifft. Der Staat ist im Interesse seines Bestandes auf nachfolgende Generationen angewiesen, weil das Staatsvolk essentielles Element der Staatlichkeil ist. Diese späteren Generationen müssen durch ihre Steuern Sozialleistungen außerhalb der BVerfGE 87, 1 (39). BVerfGE a. a. 0. Jo Vgl. BVerfGE 87, I (37). 2s
29
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
383
Sozialversicherung (insbesondere Sozialhilfeleistungen) für diejenigen erbringen, die sich im Alter nicht aus eigenen Kräften helfen können, wie umgekehrt diese während ihres Arbeitslebens durch Steuerzahlungen für die heranwachsende Generation aufgekommen sind. Leistungen für diesen allgemeinen Familienlastenausgleich müssen Staatsleistungen sein. Belastete man hiermit die Sozialversicherungskassen, so handelte es sich um sozialversicherungsfremde Leistungen. Der durch das KLG begründete Leistungsanspruch für Kindererziehung setzt weder voraus, daß die Mutter selbst oder ihr Ehemann in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sind noch daß die Mutter die Wartezeit für ein Altersruhegeld erfüllt. Es handelt sich somit um keine sozialversicherungsrechtliche Leistung, sondern um eine Leistung eigener Art. Die Beziehung der Begünstigten zur Rentenversicherung ist rein organisatorischer Art, ohne daß eine sachliche Beziehung besteht. Kompetenzrechtlich konnte der Bundesgesetzgeber seine Regelung daher auch nicht auf Art. 74 Nr. 12 GG ("Sozialversicherung") stützen, sondern mußte Art. 74 Nr. 7 GG ("öffentliche Fürsorge") heranziehen, weshalb auch inhaltlich keine Sozialversicherungsleistung, sondern eine sozialversicherungsfremde Leistung vorliegt. Konsequenterweise hatte daher der Bund die Aufwendungen der Versicherungsträger für die Kindererziehungsleistungen nach KLG zu tragen. 31 Er hat übrigens auch die Mehraufwendungen nach dem HEZG übernommen, was nicht erforderlich gewesen wäre, da es sich hier um einen rein sozialversicherungsinternen Lastenausgleich handelte.
2. Rente nach Mindesteinkommen Diese 1973 eingeführte Sozialleistung sieht eine Rentenanhebung bei Rentnern mit früher niedrigen Verdiensten, aber mit langer Vesicherungszeit vor. Für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage wird ohne Rücksicht auf das tatsächliche Arbeitsentgelt von einem Mindestjahresarbeitsentgelt ausgegangen, das 75 vom Hundert des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten entspricht. Die Rente nach Mindesteinkommen betrifft z.Zt. etwa 1,37 Mio. Rentenbezieher. Diese Rente nach Mindesteinkommen ist nicht nur sozialpolitisch, sondern auch verfassungsrechtlich fragwürdig, weil der Gesetzgeber Unterschiedliches gleichbehandelt hat. Im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG muß es einen Unterschied machen, ob der niedrige Verdienst in früherer Zeit auf einer zu geringen Vergütung oder darauf beruhte, daß der Versicherte freiwillig keiner Vollzeitbeschäftigung, sondern nur einer Teilzeittätigkeit nachging. Da der Gesetzgeber in sehr undifferenzierter Weise alles über einen Sozialleisten geschlagen und nicht nur Fälle "früherer Lohndiskriminierungen" erfaßt hat32, kann heutzutage eine Arztehefrau, die 31 Vgl. die Kindererziehungsleistungs-Erstattungsverordnung vom 18. 12. 1987 (BGBI. I S. 2814). 32 So jedoch Schul in, Sozialrecht, RN 588.
384
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
sich mit kurzzeitiger Aushilfstätigkeit und einem entsprechend niedrigen Verdienst in der Praxis ihres Mannes begnügt hatte, eine Rente nach Mindesteinkommen erhalten, die ihr früheres Arbeitsentgelt übersteigt. Ungeachtet sozialpolitischer und verfassungsrechtlicher Bedenken kann jedoch nicht die Sozialversicherungskonformität der Leistung geleugnet werden. Es handelt sich um einen Ausgleich zwischen höherem und niedrigerem Verdienst, der allein den Mitgliedern der Solidargemeinschaft zugute kommt. Er beruht auf dem fürsorgerischen Prinzip, das die Sozialversicherung prägt. 33
3. Wiedervereinigungsbedingte Rentenleistungen
Die Wiedervereinigung hat nicht nur zu einer Vergrößerung Deutschlands, sondern auch zu einem Anwachsen der Solidargemeinschaft, gleichzeitig aber auch zu einer Ausweitung des Kreises der Rentenbezieher geführt. In diesem Zusammenhang kann an das deutsche Rechtssprichwort erinnert werden: "Wer den bösen Tropfen hat, genießt auch den guten"?4 Mit den Beitragszahlern müssen auch die Renten der ehemaligen DDR übernommen werden. Ob und in welcher Höhe hierfür seinerzeit Beiträge geleistet wurden, kann für eine Sozialversicherung mit Umlagefinanzierung nicht entscheidend sein. Übergangsregelungen, insbesondere ein Bestandschutz für DDR-Rentner, der im übrigen durch die Rentenanpassungen abgeschmolzen wird, sind Ausdruck der sozialen Fürsorge und des sozialen Ausgleichs, die für die Rentenversicherung charakteristisch sind. In Sonderbereichen fehlt jedoch vielfach eine sachliche Beziehung zur Sozialversicherung, so daß sozialversicherungsfremde Leistungen vorliegen. Das gilt zunächst für das mehrfach überarbeitete Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG), mit dem die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der ehemaligen DDR in die Rentenversicherung überführt wurden. Insbesondere die Sonderversorgungssysteme stellten eine eigenständige Sicherung für Staatsbedienstete außerhalb der Sozialpflichtversicherung dar, aber auch viele Bereiche der Zusatzversorgungssysteme betrafen Mitglieder des Staatsapparates. Obwohl die DDR seinerzeit aus ideologischen Gründen auf ein Berufsbeamtenturn verzichtet hatte, stellen sich die Leistungen der Sache nach in weiten Teilen als "Beamtenversorgung" dar. Nach allem handelt es sich um eine sozialversicherungsfremde Leistung, mit der die Rentenversicherung nur organisatorisch betraut ist, weshalb der Bund auch die Aufwendungen erstattet. Das NS-Opferentschädigungsgesetz von 1992 sieht eine Entschädigungsrente statt der früheren Ehrenpension für Verfolgte und Kämpfer gegen den "FaschisVgl. BVerfGE 39, 169 (187). Vgl. Graf/Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter, 2. Ausgabe Nördlingen 1869, S. 85 Nr. 122. 33 34
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
385
mus", wie es im DDR-Jargon hieß, vor. Auch diese Leistungen sind sozialversicherungsfremd, weil jeder sachliche Bezug zur Sozialversicherung fehlt, weshalb die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte auch nur für die Erfüllung der Aufgaben zuständig ist (§ 6), während der Bund die Aufwendungen erstattet und eine Kostenpauschale gewährt (§ 7). Das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz von 1992 (Art. I des l. SED-Unrechtsbereinigunggesetzes) statuiert, daß nach einer Rehabilitierung der Betroffenen ein Freiheitsentzug in der DDR als Ersatzzeit zu behandeln ist. Ähnliche Bestimmungen finden sich auch im 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz im Rahmen der sog. beruflichen Rehabilitierung. Hier gelten beispielsweise für Verfolgungszeiten Pflichtbeiträge als gezahlt, wenn wegen der Verfolgung eine versicherungspflichtige Beschäftigung nicht ausgeübt werden konnte. Diese Regelungen stehen in einem inneren Zusammenhang mit vergleichbaren Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung für nationalsozialistisches Unrecht in der Sozialversicherung. Danach gelten Freiheitsentziehungen im Dritten Reich als Ersatzzeiten. Daneben besteht die Möglichkeit der Weiterversicherung und der Nachentrichtung von Beiträgen. Bei diesen Gesetzen ist es schwer, die genaue Grenze zwischen sozialversicherungskonformer und sozialversicherungsfremder Leistung zu ermitteln. Einerseits handelt es sich um einen Risikoausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft, so daß auf die Fälle des Kriegsdienstes und des Militärdienstes verwiesen werden kann. Auf der anderen Seite scheint, daß die Wiedergutmachung für staatliches Unrecht, im Falle der DDR sogar für das Unrecht eines fremden Staates, Staatsaufgabe und nicht Aufgabe der Versichertengemeinschaft ist. Leztlich muß auch hier entscheidend sein, ob die Wiedergutmachungsregelungen allein den Mitgliedern der Solidargemeinschaft zugute kommen oder ob sie nicht nur Sozialversicherten gewährt weren. Danach ist wie in anderen Fällen die Grenze zwischen sozialversicherungskonformen und sozialversicherungsfremden Leistungen zu ziehen.
V. Probleme der Finanzierung Schon bisher hat der Bund in erheblichem Maße zur Finanzierung der Rentenversicherung und der Knappschaftsversicherung beigetragen. Dieser BundeszuschuB wird 1997 81 Mrd. DM übersteigen, wobei auf die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten 67,8 Mrd. DM und auf die knappschaftliehe Rentenversicherung 13,8 Mrd. DM entfallen. Der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten macht 20 vom Hundert aller Rentenausgaben aus. Wenn der Weg zu einer steuerfinanzierten Rente auch noch weit ist, so werden die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung doch in beachtlichem Ausmaß aus Steuern mitfinanziert. Je stärker der steuerfinanzierte Anteil der Renten steigt,
386
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
desto größer wird die sozialpolitische Gefahr, daß das bisherige Rentensystem durch eine ausschließlich aus Steuern finanzierte Bürgerrente abgelöst wird. Nach dem augenblicklichen Finanzverfassungssystem muß jedoch zwischen der Finanzierung der Rentenversicherungsaufgaben und derjenigen der Staatsaufgaben unterschieden werden, ohne daß damit Bundeszuschüsse an die gesetzliche Rentenversicherung ausgeschlossen sind. Die Sozialversicherung schließt begrifflich wie historisch die Finanzierung der Leistungen durch Beiträge ein, so daß Art. 74 Nr. 12 GG den Bund zur Erhebung und zur Ausgestaltung von Sozialversicherungsbeiträgen berechtigt. 35 Diese Beitragsfinanzierung ist ein ganz wesentlicher Teil des Bildes, das die klassische Sozialversicherung prägt. Sozialversicherungsbeiträge dürfen nicht zur Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben verwendet werden, so daß die Finanzmasse der Sozialversicherungsträger tatsächlich und rechtlich von den allgemeinen Staaatsfinanzen zu trennen ist. 36 Umgekehrt kann der Staat zur besseren Finanzierung der Sozialversicherung die Beitragspflicht nicht beliebig auf Dritte erstrecken. Über die seit jeher an den Kosten der Sozialversicherung beteiligten Arbeitgeber hinaus können Nichtversicherte mit Beiträgen nur belastet werden, sofern sie in einer sozialversicherungsrelevanten Beziehung zu den Versicherten stehen und sachorientierte Anknüpfungspunkte vorhanden sind? 7 Verfassungsrechtliche Probleme unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) können entstehen, wenn Dritte zwar nicht unmittelbar beitragspflichtig gemacht werden, über die Steuern jedoch in erheblichem Maße zur mittelbaren Finanzierung der Sozialversicherung beitragen müssen, deren Leistungen sie aber nicht teilhaftig werden können, weil sie nicht Mitglied der Solidargemeinschaft sind. Sozialpolitisch betrachtet kann der Ruf nach höheren Staatszuschüssen für sog. versicherungsfremde Leistungen nur die eine Seite einer Medaille sein, die bekanntlich immer zwei Seiten enthält. Der nunmehr proklamierte "schlanke Staat" verlangt auch nach einer schlankeren Sozialversicherung. Und eine Verschlankung ist möglich, weil die soziale Frage des 20. Jahrhunderts eine andere ist als die des 19. Jahrhunderts. Staatszuschüsse für Sozialversicherungsleistungen sind Subventionen. Derartige Subventionen haben aber noch niemals Krisen bewältigt, sondern nur die Lösung von Krisen hinausgeschoben, was am Beispiel des Bergbaus und der Werften deutlich wird. Staatszuschüsse für sog. versicherungsfremde Leistungen hindern den Staat, an anderer Stelle Investitionen zu fördern und Infrastrukturmaßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsf
B
32,43
44,66
11,41
1,93
8,13
1,45
DK
27,81
35,10
17,20
0,76
11,98
7,15
ob>
37,93
40,60
6,16
3,09
8,89
3,33
GRcJ
19,66
69,67
2,99
0,08
1,77
5,83
E
34,20
41,27
18,48
2,36
1,82
1,87
F
32,48
44,05
7,71
2,08
9,54
4,14
Irl
35,50
27,19
14,57
0,49
17,42
4,83
I
29,30
62,75
1,75
2,27
3,90
0,03
L
36,13
48,37
0,82
3,17
ll,ll
0,41
NL
45,16
36,91
8,37
0,00
7,87
1,68
p
42,93
38,77
5,04
2,47
5,56
5,23
GB
36,00
39,35
6,00
0,39
10,90
7,35
•> Enthält vor allem Mindestsicherungsleistungen. b)
c)
Alte Bundesrepublik. 1991.
Quelle: Eurostat: Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft, Luxemburg, 1994, Tabelle 3.36.
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
405
Übersicht 3 Die Finanzierung der Sozialausgaben (1980 und 1992)
Einnahmestruktur 1980 in % Land
Einnahmestruktur 1992 in %
staatl. sonst. Zuwei- Einnahsungen men
Sozialbeiträge AG
AN
1:
DK
10,01
2,32
12,33
82,91
Ir!
24,53
11,15
35,68
GB
33,44
14,61
L
35,43
23,37
B
staatl. sonst. Zuwei- Einnahsungen men
Sozialbeiträge AG
AN
1:
4,75
6,92
5,11
12,03
81 ,6
26,35
63,24
1,07
22,90
15,17
38,07
60,6
41,28
48,05
43,21
8,74
26,12
15,81
41,93
42,84
15,23
58,80
32,84
8,36
30,57
21,76
52,33
40,49
7,18
44,45
17,80 62,25
33,98
3,77
41,75
26,73
68,48
21,59
9,92
NL
37,05
31,00 68,05
20,45
11,50
19,91
41,66
61,57
22,60
15,82
D
41,41
28,00
69,41
27,05
3,55
40,10
29,85
69,95
26,32
3,73
p
53,18
18,72
71,90
25,41
2,69
41,79
20,84
62,63
32,36
5,01
I
59,94
13,89
73,83
23,77
2,40
50,53
15,93
66,46
30,59
2,95
F
55.52
24,27
79,79
17,27
2,95
50,95
28,85
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17,72
2,48
E
63,24
18,99
82,23
16,05
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52,88
17,27
70,15
27,75
2,09
GR
57,81
31,23
89,04
4,72
6,24
47,79
26,99
74,78
16,42
8,79
Anmerkungen: 1: = Summe des Anteils der Sozia/beiträge. AG = Beitrag des Arbeitgebers. AN = Beitrag des Arbeitnehmers. Griechenland: Zahlen von 1991 statt von 1992 Quelle: D. Döring/U. Klammer: Soziale Sicherung in Europa-Finanzierungsprobleme und Lösungsstrategien, in: Mitbestimmung H. 7 I 8- 1998.
406
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Übersicht4 Ausrichtung europäischer Kernsysteme der Alterssicherung Personenkreis•) uni versell
kategorial
Tendenz der Rentenberechnung
Basis
NL
X
X
DK
X
X
gemischte Orientierungb)
einkommensbezogen
Hauptfinanzierungsinstrument Steuer
steuerähnlich
Beiträge
X X
Irl
XE (priv.)
p
XE
X
X
GR
X A (priv.)
X
X
F
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X
X
E
X A (priv.)
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X
I
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xc)
X
B
X A (priv.)
X
X
D
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X
X
L
XE (priv.)
X
X
UK
XE
xd)
X
X
X
X
Anmerkungen: priv. = privater Sektor (daneben System für Staatssektor) = im Kern Arbeitnehmerversicherung A = Erwerbstätige erfaßt E
•> Kriterium: eigene, nicht abgeleitete Ansprüche
Versicherungssysteme mit integrierter, nicht bedarfsabhängiger (zum Lebensunterhalt ausreichender) Mindestrente (dabei habe ich nur jene einbezogen, die nicht mehr als 20 Jahre Mindestversicherungszeit vor dem Ruhestand erfordern) c) mit integrierter bedarfsabhängiger oder einkommensgeprüfter Mindestrente d) 1946 als Basissystem entstanden; seit 1978 einkommensabhängige Zusatzrente; die .,Basic Pension" reicht heute nicht mehr für die Mindestsicherung aus b)
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
407
Übersicht 5
Modellberechnungen zu den relativen Bruttorentenniveaus für alternative Wohn· bzw. Versicherungszeiten und Lohnniveaus* - Hier individuelles Lohnniveau: 1,0 APW (= "average production worker") Länderkemsysteme
"Versicherungssysteme"
"Basissysteme"
Wohn-Nersicherungszeit
p
F")
B
D
29,8
19,0
13,5
10,8
59,9
43,3
26,6
24,6
21,6
47,8
76,9
64,9
39,9
33,8
32,3
64,3
57,1
8S,4
78,6
64,7
41,4
43,1
64,3
74,5
85,4
78,6
69,4
44,7
53,1
DK
NL
lrt•l
GBbl
10 Jahre
6,8
6,7
27,0
7,5
20 Jahre
13,6
13,5
27,0
35,5
34,2
47,8
30 Jahre
20,3
20,2
27,0
40,7
50,4
40 Jahre
27,1
26,9
27,0
45,4
50 Jahre
27,1
33,7
27.0
45,4
Je)
GRdl
E
Anmerkungen: Zugrundegelegt ist der Fall einer ledigen Person - im Zweifelsfalle männlich und vollzeitig tätig sowie ein volkswirtschaftlicher Standardpfad mit 6 % nominellem Lohnwachstum und 4 % Inflation; für die Länderkernsysteme wird unterstellt, daß der neueste Rechtsstand für die gesamte Versicherungszeit gegolten habe, vgl. auch die Janderbezogenen Anmerkungen zu Tabelle I. es wurde unterstellt, daß die Versicherungszeit unmittelbar vor dem Ruhestandsbeginn liegt. Rechtsstand bis 1998, basicund additional pension (SERPS). c) Reform von 1992 berücksichtigt. dJ relatives Rentenniveau mit Mindestsicherung. eJ non-cadre-System.
•J
bl
Quelle: abgestimmte Modellberechnungen im Rahmen des Forschungsprojekts "Alterssicherung in der Europäischen Union" (ASEG-Projekt), das von Prof. Dr. R. Hauser und mir geleitet wird; an den Modellberechnungen waren U. Ahrens (P), U. Klammer (1), F. Tibitanzl (F), S. Nitis (GR), H. Stapf (E), K. Pöhler (NL, DK), Dr. G. Rolf (D), L. Hubert (B) und G. Rechmann (GB, Ir!) beteiligt.
27 Speyerer Sozialrechtsgespräche
408
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch Übersicht 6
Abschätzung der "versicherungsfremden" Leistungen im Rentenvolumen des Jahres 1995 (AR und AV, Ost und West) Volumen in Mio.DM für 1995
Anteile bez. auf Rentenvolumen insgesamt
Anteile bez. auf Versicherungsfremde Leistungen
Kriegsfolgelasten
23.543
7,9%
23,0%
Anrechnungszeiten
15.493
5,2%
15,2%
Altersrenten vor dem 65. Lebensjahr
18.670
6,3%
18,3%
Kindererziehungszeiten
3.975
1,3%
3,9%
Kindererziehungsleistungen
2.412
0,8%
2,4%
Auffüllbeträge I Rentenzuschläge
5.435
1,8%
5,3%
BU-IEU-Renten wg. Arbeitsmarktlage
5.297
1,8%
5,2%
Anteilige vsfr. KVdR und PVdR-Zuschüsse
6.630
2,2%
6,5%
Rente nach Mindesteinkomrnen
4.109
1,4%
4,0%
Höherbewertung Berufsausbildung
8.521
2,9%
8,3%
Wanderungsausgleich
1.644
0,6%
1,6%
Anteilige vsfr. Verw.und Verf.-Kosten
1.956
0,7%
1,9%
Sachbezüge vor dem 01.01.1957
2.143
0,7%
2,1 %
Nachgezahlte Beiträge
2.212
0,7%
2,2%
202
0,1%
0,2%
Versicherungsfremde Leistungen im Rentenvolumen insgesamt
102.241
34,3%
100%
Bundeszuschuß zur ArV und AnV
59.545
20,0%
58,2%
Nicht durch Bundeszuschuß gedeckt
42.696
14,3%
41,8%
Rentenvolumen insgesamt
297.882
100,0%
Versicherungsfremde Leistungen
Sonstige
Quelle: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Versicherungsfremde Leistungen - sachgerecht finanzieren!, Frankfurt am Main 1997, S. 10.
Die einkommensteuerliche Behandlung der Beiträge und der Rentenzahlungen in der Rentenversicherung* Von Prof. Dr. Norbert Andel
Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main
I. Einleitung Im Verhältnis zwischen dem Staatshaushalt und dem Sozialversicherungsfiskus geht es nicht nur um Fragen der zweckmäßigen Zuteilung von Aufgaben, Ausgaben und Finanzierungsquellen, die in den Vorträgen und Diskussionen gestern im Vordergrund standen. Sind Sozialversicherungen einmal etabliert, taucht die Frage auf, wie die an sie entrichteten Beiträge und wie die von ihnen erbrachten Leistungen im Rahmen der finanzpolitischen Instrumente des Staatshaushalts zu behandeln sind. Mein Thema "Die einkommensteuerliche Behandlung der Beiträge und der Rentenzahlungen in der Rentenversicherung" behandelt einen Teilaspekt davon, allerdings einen sehr wichtigen. Dieses besondere Gewicht ergibt sich aus folgenden Umständen: 1. Bei der GRV handelt es sich um den budgetär weitaus wichtigsten Zweig der Sozialversicherung. 2. Die Einkommensteuer ist die aufkommensstärkste Einzelsteuer, die auf ihre Bemessungsgrundlage mit hohen Steuersätzen zugreift. 3. Die in der GRV dominierenden auf Sicherung des erzielten Lebensstandards ausgerichteten Transferzahlungen sind für den Steuerfiskus interessanter als etwa Realleistungen in der GKV, die unter Umständen Bezüge zu den außergewöhnlichen Belastungen aufweisen. 4. Die Behandlung der Sozialversicherungsrenten hat zu den Fiskus belastenden Folgebegünstigungen für andere Einkunftsarten geführt. Es ist also kein Zufall, daß dieses Problem in der aktuellen Steuerreformdiskussion eine wichtige Rolle spielt, auch wenn die Sozialpolitiker es gerne unter den Teppich kehren, wie gerade wieder jüngst in der Blüm-Kommission beobachtet werden konnte.
* Der Verf. dankt Herrn Dipl.-Ökonom Michael Broer für die Durchführung der Berechnungen, die in den Tabellen 1 - 3 zusammengefaßt sind. 27*
410
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
In meinen folgenden Ausführungen werde ich zunächst auf die einkommensteuersystematisch korrekte Behandlung der Rentenversicherungsbeiträge (II) und der Rentenzahlungen (III) eingehen, anschließend auf die aktuelle Steuerpraxis in der Bundesrepublik (IV). Sodann werde ich eine kurzfristig realisierbare Reformalternative skizzieren (V), die dann als Maßstab verwendet wird, um das Ausmaß der Steuervergünstigung zu ermitteln, das mit der gegenwärtigen Praxis verbunden ist (VI). Nach kurzen Hinweisen auf die Folgebegünstigungen für andere Einkunftsarten (VII) gehe ich auf Vorschläge der Blüm- und der Waigel-Kommission sowie auf die entsprechenden Teile des gerade vorgelegten Referentenentwurfs für das Steuerreformgesetz 1999 (VIII) ein. II. Die einkommensteuerliche Behandlung der Beiträge zur GRV
Es ist unumstritten, daß die Beiträge der Arbeitgeber zur Rentenversicherung Betriebsausgaben darstellen, die von der Einkommensteuer- bzw. Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage abzugsfähig sind wie andere Lohnkostenelemente. Sie dürfen auch nicht beim Arbeitnehmer in das steuerpflichtige Einkommen einbezogen werden, ebensowenig wie die Arbeitnehmerbeiträge selbst. Beide bilden zwar die wichtigste Anspruchsgrundlage für die Höhe der künftigen Renten, aber sie repräsentieren keine aktuelle steuerliche Leistungsfähigkeit, weil über sie nicht disponiert werden kann. Würden sie besteuert, müßten die auf sie entfallenden Steuerbeträge aus dem sonstigen disponiblen Einkommen geleistet werden. Im Bereich niedriger Einkommen, die nur dem Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner von ihm zu unterhaltenden Familienmitglieder entsprechen, wäre das das Existenzminimum. Daraus folgt: Die vom Bundesverfassungsgericht wiederholt vertretene Forderung, daß das Einkommen in Höhe des Existenzminimums steuerfrei bleiben muß 1, verlangt auch, daß Zwangsbeiträge ebenfalls steuerfrei bleiben. Diese Argumentation kann man auch auf die freiwilligen Beiträge übertragen, soweit diese erforderlich sind, um die durch Zwangsbeiträge erworbenen Anwartschaften abzusichern (Quasi-Zwangsbeiträge). Eine Steuerfreiheit für freiwillige Beiträge allgemein läßt sich so nicht rechtfertigen; wenn man will, kann man sie aber unter meritorischen Aspekten als besonders förderungswürdig betrachten, etwa mit dem Argument, daß es im öffentlichen Interesse liegt, daß die Bürger selbständig für das Alter vorsorgen, um damit Belastungen für die Angehörigen und die Sozialhilfe zu vermeiden. Dies führt aber von dem Bereich der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in das weite Feld nichtfiskalischer Steuerzwecke.
I
Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 54, S. 11 ff.; Bd. 87, S. 152ff.
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
411
111. Die einkommensteuerliche Behandlung der Rentenzahlungen
Wenden wir uns nun den Rentenzahlungen zu. Man kann die Rentenversicherung als eine Veranstaltung betrachten, bei der mit Beiträgen Ansprüche auf Rentenzahlungen im Falle des Risikoeintritts erworben werden, die aus zwei Komponenten bestehen: dem Kapitalrückfluß und einem darüber hinausgehenden Ertragsanteil. Der Ertragsanteil ist auf jeden Fall als Einkommen zu versteuern. Der Beitragsrückfluß ist Vermögensumschichtung. Wie diese einkommensteuerlich zu behandeln ist, hängt von der einkommensteuerliehen Behandlung der Beiträge ab2 . Waren die Beiträge im Jahr der Beitragszahlung von der Bemessungsgrundlage abzugsfähig, dann ist es angebracht, sie in der Phase des disponiblen Zuflusses als Rente zu besteuern (Korrespondenzprinzip der nachgelagerten Art). Waren sie nicht steuerfrei, wurden sie aus versteuertem Einkommen geleistet, handelt es sich um eine einkommensteuerlich irrelevante Vermögensumschichtung; in die Steuerbemessungsgrundlage ist nur der Ertragsanteil einzubeziehen, andernfalls ergäbe sich eine Doppelbesteuerung dieser Beträge (Korrespondenzprinzip der vorgelagerten Art). Einkommensteuersystematisch, aber auch steuerpolitisch ist das erste Verfahren, das Korrespondenzprinzip der nachgelagerten Art, das einerseits die Beiträge steuerlich freistellt, andererseits die Rente in voller Höhe in die Steuerbemessungsgrundlage einbezieht, eindeutig vorzuziehen: (1) Erstens sichert es die einkommensteuersystematisch erforderliche Steuerbefreiung der Zwangsbeiträge. (2) Zweitens konzentriert es den Steuerzugriff auf die Personen, denen verfügbares Einkommen auch tatsächlich zufließt. Der ledige Beitragszahler, der vor Erreichung der Altersgrenze und ohne arbeitsunfähig gewesen zu sein stirbt, muß die Beiträge wenigstens nicht versteuern. (3) Drittens wird der Steuerzugriff über die Lebenszeit geglättet, indem er partiell von der Erwerbstätigkeitsphase mit in der Regel höherem Bruttoeinkommen und höheren Grenzsteuersätzen in die Rentnerphase mit meist niedrigerem Bruttoeinkommen und entsprechend niedrigeren Grenzsteuersätzen verlagert wird. (4) Viertens wird auch die Gefahr vermindert, daß die Einkommensteuer zu arbeitsanreizhemmenden Wirkungen führt. Im Vergleich zum Korrespondenzprinzip der vorgelagerten Art ist die Frühpensionierung weniger attraktiv; auch dürfte die Wahl zwischen Arbeits- und Freizeit in der Rentnerphase im allgemeinen weniger Relevanz haben.
2 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Gutachten zur einkommensteuerliehen Behandlung von Alterseinkünften, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 38, Bonn 1986, S. lOf.
412
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
IV. Die aktuelle steuerliche Regelung in der Bundesrepublik
In der Bundesrepublik Deutschland sind die Arbeitgeberbeiträge sowohl beim Arbeitgeber als auch beim Arbeitnehmer steuerfrei. Der Arbeitnehmer kann seine eigenen Beiträge in einem quantitativ beschränkten Rahmen (vgl. § 10 EStG) teils voll, teils zu 50% als Vorsorgeaufwendungen abziehen, wobei sich die Obergrenze nicht nur auf die Rentenversicherungsbeiträge, sondern auch auf die Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Unfall- und Haftpflichtversicherung sowie auf die Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit beziehen, ferner auf Beiträge zu bestimmten Versicherungen auf den Erlebens- oder Todesfall. Früher waren noch weitere Sparformen einbezogen. Diese Regelung ist unbefriedigend. Sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerbeiträge gehören zum Bruttoeinkommen im weiteren Sinne; sie bilden in gleicher Weise die wichtigste Anspruchsgrundlage für spätere Rentenzahlungen. Da der Arbeitnehmer über beide nicht disponieren kann, müßten, wie oben dargelegt, beide in voller Höhe steuerfrei bleiben. In welchem Umfang dies heute tatsächlich geschieht, läßt sich nicht eindeutig angeben, denn die Obergrenze bezieht sich auf mehrere Vorsorgeformen gemeinsam. Selbst wenn man es sich mit der Bundesregierung einfach macht und lediglich die Sozialversicherungsbeiträge betrachtet, ergibt sich nach dem "Bericht zur steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen"3 des Bundesministers der Finanzen folgendes Bild: (1) Generell gilt, daß der Anteil, der steuermindernd geltend gemacht werden
kann, mit steigendem Einkommen sinkt (früher mit steigender Kinderzahl zunimmt).
(2) Stark begünstigt sind Einverdienerehepaare, da bei gleichen Beiträgen wie für Ledige im Rahmen der Einkommensteuer das doppelte Freibetragsvolumen zur Verfügung steht (Splittingfall). (3) Im Zeitablauf ist der Anteil der Sozialversicherungsbeiträge, um den die Be-
messungsgrundlage bei Durchschnittsverdiensten maximal reduziert werden kann, ständig zurückgegangen:
- für Ledige ohne Kinder von 65,7% 1980 auf 37,4% 1996, - für Ledige mit zwei Kindern von 88,9% 1980 auf 37,4% 1996, - für verheiratete Alleinverdiener ohne Kinder von 100% 1980 auf 92,8% 1996, - für verheiratete Alleinverdiener mit zwei Kindern von 108,9% 1980 auf 92,8% 1996.
3 Bundesministerium der Finanzen, Bericht zur steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 62, Bonn 1997, s. 17 f.
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
413
Die Bundesregierung hat Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zusammengefaßt; sie hat außerdem die Berechnungen nur für Durchschnittsverdienste bzw. 2 I 3 davon angestellt. Die Diskrepanz ist natürlich größer, wenn man die Obergrenzen der Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen auf die Arbeitnehmerbeiträge allein bezieht und den Blick auf Einkommen oberhalb des Durchschnitts richtet. Nimmt man für das Jahr 1996 die maximalen Arbeitnehmerbeiträge an den Beitragsbemessungsgrenzen unter Verwendung eines durchschnittlichen GKV-Beitragssatzes, dann können nur noch 18,6% der Arbeitnehmerbeiträge steuermindernd geltend gemacht werden. Wenden wir uns nun den Rentenzahlungen zu. Auf sie wird mit der Ertragsanteilsbesteuerung eine Regelung angewendet, die zwar auch für Renten konstruiert ist, aber für Renten ganz anderer Art. Bis in die SOer Jahre wurden Kaufpreisrenten, die z. B. als Entgelt für ein Haus vereinbart wurden, in voller Höhe in die steuerpflichtigen Einkünfte einbezogen. Die Regelmäßigkeit des Zuflusses und die uneingeschränkte Disponibilität mögen dies nahegelegt haben - einkommensteuersystematisch war die Besteuerung des Kapitalrückflusses, der eine Vermögensumschichtung, aber kein Einkommen darstellt, nicht gerechtfertigt. Unter dem Druck des Bundesfinanzhofes wurde schließlich die Ertragsanteilsbesteuerung des § 22 EStG eingeführt, die unter Zugrundelegung bestimmter fernerer mittlerer Lebenserwartungen in Abhängigkeit vom Alter bei Rentenbeginn und eines bestimmten Zinssatzes sicherstellt, daß für Personen mit genau dieser ferneren mittleren Lebenserwartung der Kapitalrückfluß steuerfrei bleibt, die Zinskomponente dagegen in die Steuerpflicht einbezogen wird4 . Ex post kommt der zu schlecht weg, der vor Erreichung der ferneren mittleren Lebenserwartung stirbt. Entsprechend ist derjenige begünstigt, der darüber hinaus lebt und trotz vollem Beitragsrückfluß weiterhin nur den Ertragsanteil versteuern muß. Diese Ertragsanteilsbesteuerung war sicherlich für bestimmte versicherungsmathematisch konstruierte Leibrenten im Vergleich zur Vollbesteuerung eine echte Reform, jedenfalls wenn die zugrunde gelegten Werte realistisch sind. Für mich ist völlig unbegreiflich, daß man damals diese Konstruktion auch auf Sozialversicherungsrenten übertragen hat, auf die sie doch offensichtlich überhaupt nicht paßt. Ein Blick in den Referentenentwurf vom 29. April 1954 hilft auch nicht weiter. Nach Erläuterungen zu der versicherungsmathematischen Grundidee heißt es schlicht und einfach: "Auch die Sozialversicherungsrenten fallen unter diese Regelung, sofern sie nicht nach§ 3 Ziffer 1 oder 2 EStG steuerfrei sind"5 .
4 Vgl. dazu Karl-Heinz Lantau, Die Neuregelung der Besteuerung privater Leibrenten nach dem Einkommensteuergesetz 1955, Der Betriebs-Berater, 1955, S. 695 ff.; Norbert Andei, Die einkommensteuerliche Behandlung der Beiträge an und der Leistungen von Altersversicherungen, in: Heinz Haller u. a. (Hg.): Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus. Fritz Neumark zum 70. Geburtstag, Tübingen 1970, S. 337 f.
414
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
V. Die kurzfristig realisierbare Reformmaßnahme Um Ihnen zeigen zu können, in welchem Ausmaß die gegenwärtige einkommensteuerliche Behandlung eine Begünstigung der Rentner impliziert, muß ich Ihnen zunächst aufzeigen, wie eine kurzfristig realisierbare korrekte Lösung aussehen könnte. Offensichtlich kann man nicht die steuerliche Behandlung der Beiträge in der Vergangenheit revidieren. Auch wissen wir aus den angegebenen Gründen nicht, in welchem Ausmaß früher Arbeitnehmerbeiträge tatsächlich steuerfrei waren. Um auf jeden Fall eine Doppelbesteuerung dieser Beiträge zu vermeiden, sollten sie deshalb in der Phase des Rentenzuflusses steuerfrei bleiben. Man könnte dabei dem Grundmodell des § 22 EStG folgen, indem man bei Rentenbeginn die Summe der Arbeitnehmerbeiträge ermittelt, durch die fernere mittlere Lebenserwartung dividiert und diesen Betrag als über die Zeit konstanten Rentenfreibetrag pro Jahr gewährt6 . Genau wie § 22 EStG für versicherungsmathematisch konstruierte Leibrenten, sofern die Parameter realistisch gewählt sind, den gewünschten steuerfreien Kapitalrückfluß sichert, würde mein Vorschlag für die Rentner den steuerfreien Rückfluß der Arbeitnehmerbeiträge gewährleisten. Er ist immer noch mit einer Steuerbegünstigung verbunden, weil diese Beiträge, wie dargelegt, zwar meist nicht in vollem, aber doch in beträchtlichem Umfang im Rahmen der Sonderausgaben abzugsfähig waren. VI. Das Ausmaß der einkommensteuerliehen Begünstigung Um Ihnen eine Vorstellung von den involvierten Größenordnungen zu geben, habe ich zunächst die Konstruktion des (männlichen) Standardrentners genommen, der 45 Jahre lang Beiträge entsprechend dem jeweiligen Durchschnittsverdienst gezahlt hat und mit 45 Entgeltpunkten im Alter von 65 Jahren in Rente geht. In Tabelle I sind die Werte für vier ausgewählte Einzeljahre eines 65-jährigen ausgewiesen, wobei für das Reformmodell immer aktuelle Lebenserwartungswerte für Männer herangezogen wurden. Nehmen wir das Jahr 1965: Die Jahresstandardrente betrug damals 4.535 DM (Spalte 2); der steuerliche Ertragsanteil war nach damaligem Einkommensteuerrecht für den Rentenbeginn mit 65 Jahren auf 20% festgelegt (Spalte 3); entsprechend betrug der steuerfreie Kapitalrückfluß 3.628 DM (Spalte 5). Nach meinem Reformvorschlag müßte der steuerfreie s Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung von Steuern, Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, Drucksache 481 v. 29. April 1954, S. 87. 6 Vgl. Norbert Andel, Nettoanpassung und Besteuerung der Renten im Lichte der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, der Verteilungsgerechtigkeit und des Sanierungsbedarfs der Rentenversicherungen, in: Peter Boley und Georg Tolkemitt (Hg.): Wirtschaftswissenschaft als Grundlage staatlichen Handelns. Heinz Haller zum 65. Geburtstag, Tübingen 1979, S. 171; vgl. auch Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten zur einkommensteuerliehen Behandlung von Alterseinkünften, a. a. 0 ., S. 52 f.
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
415
Arbeitnehmerbeitragsrückfluß aber mit lediglich 536 DM (Spalte 6) angesetzt werden, was zu einem Ertragsanteil in Höhe von 88% (Spalte 4) und nicht 20% führt. Im Vergleich zu meinem für den Rentner immer noch günstigen Reformvorschlag beträgt die relative Steuerbegünstigung der Rente 68%, absolut 3.092 DM (Spalten 8 und 7). Im Zeitablauf ist die Standardrente beträchtlich gestiegen. Der Gesetzgeber hat allerdings den steuerlichen Ertragsanteil mehrmals aus unterschiedlichen Gründen angehoben; auch ist der Beitragssatz gestiegen. Als Konsequenz geht die relative Begünstigung auf bis 51% 1995 zurück; absolut steigt sie auf 12.645 DM im gleichen Jahr (Spalten 8 und 7). Tabelle 1
Die Einkommensteuerbegünstigung für den männlichen Standardrentner (45 Versicherungsjahre) in ausgewählten Jahren des Rentenbeginns (Eintrittsalter 65 Jahre)
Jahr
steuersteuersteuerfreier Iieher Iieher KapitalStandardErtragsErtragsrückfluß rente anteil anteil (§ 22 EStG) (§ 22 EStG) (Reform)
(l)
(2)
(3)
(4)
(5)
1965
4.535
20%
88%
3.628
1975
Arbeitnehmerbeitragsrückfluß (Reform)
absolute Steuerbegünstigung
relative Steuerbegünstigung
(6)
(7)
(8)
3.092
68%
536
10.595
20%
87%
8.476
1.402
7.074
67%
1985
18.026
24%
83 %
13.700
3.120
10.580
59%
1995
24.902
27%
78%
18.178
5.533
12.645
51 %
Tabelle 2
Die kumulierte Einkommensteuerbegünstigung für Rentner mit Rentenbezügen in Höhe der Standardrente (45 Jahre) bei Rentenbeginn mit 65 Jahren
Jahr
steuersteuerArbeitsteuerfreier absolute nehmerIieher Iieher StandardKapitalSteuerErtragsErtragsbeitragsrückfluß begünstirente anteil anteil rückfluß gung (§ 22 EStG) (Reform) (§ 22 EStG) (Reform)
relative Steuerbegünstigung
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
1965
92.887
20%
93%
74.310
6.617
67.692
73%
1975
185.767
22%
91 %
145.184
17.222
127.962
69%
1985
301.203
25 %
86%
226.333
42.586
183.747
61 %
Auftretende Abweichungen ergeben sich durch Rundungen.
416
7. Speyerer Sozialrechtsgespräch Tabelle 3
Die kumulierte Einkommensteuerbegünstigung für Rentner mit Rentenbezügen in Höhe von 2/3 des Standardrentners (45 Jahre) bei Rentenbeginn mit 65 Jahren steuersteuersteuerfreier lieber lieber KapitalErtragsErtragsrückfluß anteil anteil (§ 22 EStG) (§ 22 EStG) (Reform)
Jahr
2/3 der Standardrente
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Arbeitabsolute nehmerSteuerbeitragsbegünstirückfluß gung (Reform) (6)
(7)
relative Steuerbegünstigung (8)
1965
61.925
20%
93%
49.540
4.412
45.128
73%
1975
123.844
22%
91%
96.789
11.481
85.308
69%
1985
200.802
25%
86%
150.888
28.391
122.498
61%
Auftretende Abweichungen ergeben sich durch Rundungen.
Was diese zu weit gehende Steuerbefreiung an tatsächlich gesparten Steuern bedeutet, hängt vom "durchschnittlichen Grenzsteuersatz" ab, der im Falle der Reform zu zahlen wäre. Dieser steigt mit steigender Höhe des zu versteuernden Einkommens insgesamt. Man möchte jetzt gerne wissen, welchen Umfang die begünstigende Kürzung der Steuerbemessungsgrundlage kumulativ über die jeweilige Rentnerzeit insgesamt ausmacht. In Tabelle 2 ist dies für drei Strandardrentner ausgewiesen, die mit 45 Entgeltpunkten nach Vollendung des 65. Lebensjahres zu Beginn der Jahre 1965, 1975 bzw. 1985 in Rente gegangen sind. Unter Zugrundelegung jeweils aktueller fernerer mittlerer Lebenserwartungen ergeben sich bei Rentenbeginn 1965 eine kumulierte Rentensumme von 92.887 DM (Spalte 2), ein zu versteuernder Ertragsanteil nach meinem Reformvorschlag in Höhe von 93% (Spalte 4) im Vergleich zu 20% nach den einkommensteuerliehen Vorschriften (Spalte 3). Die Steuerbegünstigung in Form der Differenz zwischen steuerfreiem Kapitalrückfluß nach aktuellem Steuerrecht (Spalte 5) und nach meinem Reformvorschlag (Spalte 6) beträgt 67.692 DM; das sind 73% der Rentensumme (Spalte 8). Die relative Begünstigung ist über die gesamte Lebenszeit (Tabelle 2, Spalte 8) höher als im ersten Lebensjahr (Tabelle 1, Spalte 8), weil wegen der Rentenanpassung im Zeitablauf die Rente steigt, der Rentenfreibetrag aber nach meinem Reformvorschlag konstant bleibt. Wenn man die entsprechenden Werte für die Standardrentner mit Rentenbeginn 1975 und 1985 einbezieht, sieht man, daß im Zeitablauf das relative Ausmaß des als zu hoch angesetzten Kapitalrückflußes (zu niedrig angesetzten Ertragsanteils) von 73 über 69 auf 61% fallt (Spalte 8). Absolut steigt die Begünstigung aber von 67.692 DM über 127.962 DM auf 183.747 DM. Die Verkürzung der Bemessungsgrundlage um 183.747 DM bedeutet eine tatsächliche Steuerersparnis von 36.749 DM, wenn im Falle der Besteuerung der "durchschnittliche Grenzsteuersatz" darauf 20% betragen hätte, von 91.874 DM bei einem Steuersatz von 50%.
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
417
Im Jahr 1995 erhielten 15,8% der Zugangs- und 17,2% der Bestandsrentner eine Rente in mindestens der Höhe der Standardrente. Um dem Vorwurf zu entgehen, wenig repräsentativ hohe Renten zugrunde zu legen, habe ich in Tabelle 3 Rentner betrachtet, deren Rentenbezüge 2 I 3 der Standardrente ausmachen. Der Anteil der Rentner mit Rentenbezügen in mindestens dieser Höhe belief sich 1995 auf ca. 39% der Bestands- und auf ca. 46% der Zugangsrenten. Wiederum beginnt die Rentenphase mit 65 Jahren, wiederum wurden aktuelle Werte für die fernere mittlere Lebenserwartung für Männer zu diesem Zeitpunkt zugrunde gelegt. Die relative Begünstigung verändert sich im Vergleich zum Standardrentner nicht; die absolute reduziert sich um I I 3. Diese Zahlen haben nicht nur mich selbst, sondern auch Kollegen im Sozialbeirat und an den Universitäten überrascht. Bitte, beachten Sie, daß es sich hier nicht um Extremwerte handelt: - Ich habe unterstellt, daß alle Arbeitnehmerbeiträge aus versteuertem Einkommen geleistet worden sind, obgleich sie in beträchtlichem Umfang im Rahmen der Vorsorgeaufwendungen faktisch steuerfrei waren. - Ich habe angenommen, daß die Entgeltpunkte nur durch Beiträge erzielt worden sind, nicht etwa durch Anrechnung von Ausbildungszeiten und ähnlichen beitragsfreien Zeiten. - Ich habe die Lebenserwartung der Männer zugrunde gelegt. Das Ausmaß der Begünstigung wird noch größer, wenn man die höhere Lebenserwartung der Frauen berücksichtigt. - Ich habe nur die Versichertenrente behandelt, nicht auch die Hinterbliebenenrenten einbezogen. - Und vor allem: Die kumulative Rechnung in Tabelle 2 bezieht sich nur auf eine Rente in Höhe der Standardrente bzw. 213 davon. 1995 betrug diese Standardrente im Monat 2.075 DM. Zur Mitte des gleichen Jahres gab es Renten, die sich auf mehr als 4.000 DM beliefen7 .
VII. Die Folgebegünstigungen Mit der Dynamisierung der Sozialversicherungsrenten im Zuge der Rentenreform von 1957 wuchsen diese immer mehr in Größenordnungen hinein, die bei einkommensteuersystematisch korrekter Regelung zur Besteuerung geführt hätten. Anders ausgedrückt: Die Übertragung der Konstruktion des § 22 EStG erwies sich immer mehr als Steuerbegünstigung. Die Finanzpolitiker reagierten darauf nicht mit einer sachgerechten Reform des Steins des Anstoßes, sondern mit der Gewährung von Folgebegünstigungen, um 7 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Statistisches Taschenbuch 1996. Arbeits- und Sozialstatistik, Bonn o.J ., Seite 8.8, 8.11.
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7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
die Kritik anderer Gruppen zu beschwichtigen. Für Versorgungsbezüge wurde ein Versorgungsfreibetrag (§ 19 Abs. 2 EStG) und für - vereinfachend gesagt - Einkünfte, die weder Leibrenten noch Versorgungsbezüge darstellen, ein Altersentlastungsbetrag (§ 24a EStG) eingeführt mit Freibeträgen von jetzt 40% der jeweiligen Einkünfte, jedoch mit Obergrenzen. Diese Obergrenzen beliefen sich ursprünglich auf 2.400 bzw. 3.000 DM; jetzt betragen sie 6.000 bzw. 3.720 DM. Das ist Beschwichtigungspolitik ohne jede Systematik. Die Folgebegünstigungen sind im Vergleich zu Entlastungen der Rentner viel kärglicher bemessen, sowohl was den Prozentsatz (vgl. die Spalte 8 in Tabelle 3) als auch was die quantitative Beschränkung betrifft, die es im Rentenfall überhaupt nicht gibt. Die Begünstigung der Altersbezüge wurde damit übrigens nicht nur über mehr Personen erstreckt, sie kumulieren auch in starkem Maße, zumal der Altersentlastungsbetrag im Prinzip von allen Steuerpflichtigen geltend gemacht werden kann, die das 64. Lebensjahr vollendet haben. Der Fehler von 1954, die eigentlich begrüßenswerte Reformkonstruktion für versicherungsmathematisch konstruierte Leibrenten auf die Sozialversicherungsrenten zu übertragen, hat zu einem Steuerchaos bei den Alterseinkünften geführt, das schon mehrfach das Bundesverfassungsgericht beschäftigte und sicherlich wieder beschäftigen wird.
VIII. Aktuelle Reformvorschläge Man könnte vielleicht meinen, augenblicklich sei ein günstiger Moment, das Längstfällige endlich zu tun, da viele Sozial- und insbesondere Transferleistungen unter dem Druck der Maastricht-Kriterien gekürzt werden. Aber es mag ganz anders sein. Zusätzlich zur Senkung des Eckrentenniveaus die Rente zu besteuern, könnte die Schmerzgrenzen leicht übersteigen, insbesondere die der SPD-Politiker und des bayerischen Ministerpräsidentenjedenfalls vor den bayerischen Landtagswahlen. Sehr optimistisch stimmt es mich nicht, wenn ich mir die für mein Thema relevanten Teile der Berichte der Blüm- und der Waigel-Kommission sowie des Referentenentwurfs des Steuerreformgesetzes 1999 anschaue. Im Bericht der B1ümKommission8, um damit zu beginnen, wird der Abschnitt "Zur Besteuerung der Alterssicherung" mit dem Satz eingeleitet: "In der Kommission besteht Einvernehmen darüber, daß es bezüglich der einkommensteuerrechtlichen Behandlung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung aus verfassungsrechtlicher Sicht keinen Handlungsbedarf gibt." Der kurze Abschnitt schließt mit dem Hinweis, "daß mit der Aufgabe der Ertragsanteilsbesteuerung, bei der ein späterer Rentenbeginn zu einer niedrigeren Steuerbemessungsgrundlage führt, die Bereitschaft zu einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit beeinträchtigt wird". s Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Vorschläge der Kommission "Fortentwicklung der Rentenversicherung", Bonn 1997, S. 41 f.
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Es ist bezeichnend, daß ohne Auseinandersetzung mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und ohne Analyse der Wirkungen der gegenwärtigen Rentenbesteuerungspraxis gewissermaßen vorab ein Handlungsbedarf bestritten wird. Das kann man doch nur tun, wenn man das Ausmaß der implizierten ungerechtfertigten Begünstigungen nicht kennt oder gegenüber der aufgezeigten Ungleichbehandlung extrem unsensibel ist oder aus Gründen der Opportunität die Augen verschließt. Die These von dem (angeblich) nicht gegebenen verfassungsrechtlichen Handlungsbedarf überrascht auch deshalb, weil die Bundesregierung, der der Kommissionsvorsitzende Blüm als Arbeitsminister angehört, noch in dem Entwurf eines Jahressteuergesetzes 1996 die Auffassung vertrat, daß die mit der systematisch korrekten Erhöhung des Grundfreibetrages für Rentner verbundene multiplikativ verstärkte Ausweitung der Steuerbefreiung zu "Unterschieden" führe, die "im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ... nicht vertretbar" seien9 ! Die von mir zitierte Schlußpassage ist ausgesprochen irreführend. Wenn die Einkommensteuer einen spürbaren Einfluß auf die Frühverrentung hat, dann doch wegen des Gefälles zwischen der Besteuerung der Löhne und Gehälter einerseits und der Renten andererseits, das überhaupt nicht erwähnt wird. Im Vergleich dazu ist die Variation des Ertragsanteils in Abhängigkeit vom Renteneintrittsalter eine Bagatelle. Ansonsten verwundert es den Finanzwissenschaftler schon, daß die Blüm-Kommission nicht an der perversen Verteilungswirkung der gegenwärtigen Praxis der einkommensteuerliehen Behandlung der Sozialversicherungsrenten Anstoß nimmt: - Der Kleinrentner hat insbesondere nach Anhebung des Grundfreibetrages davon überhaupt keinen Vorteil, weil er bei einer Reform der von mir vertretenen Art sowieso steuerfrei bliebe. - Für den Bereich höherer Renten ist der Vorteil um so größer, je höher der Rentenbetrag, denn um so stärker wirkt sich die Diskrepanz zwischen Ertragsanteil nach § 22 EStG und korrektem Ertragsanteil aus. - Und schließlich ist der Betrag, der pro DM steuerbegünstigter Rente gespart wird, um so höher, je höher der Grenzsteuersatz, d. h. je höher das zu versteuernde Einkommen insgesamt. Die Klientel der Sozialpolitiker scheint sich sehr verschoben zu haben! Findet ein Finanzwissenschaftler wenigstens bei den Vorschlägen der WaigelKommission etwas Tröstliches? In den "Petersberger Steuervorschlägen" heißt es: "Im Interesse der Akzeptanz und guten Verständlichkeit der Neuregelung wird vorgeschlagen, künftig in großem Umfang stärker zu pauschalieren und zu typisieren. Sozialrenten sollten daher künftig nur im Umfang der steuerfrei gebliebenen 9 Entwurf eines Jahressteuergesetzes (JStG) 1996, Bundesratsdrucksache 171/95 v. 31. 03. 1995, s. 137.
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Arbeitgeberbeiträge erfaßt werden. Dies bedeutet, daß die Hälfte einer Rente in die Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Besteuerung einbezogen wird. Soweit die Rente aus eigenen Beiträgen des Arbeitnehmers besteht, bleibt sie steuerfrei; bei alledem ist sicherzustellen, daß Renten in einer Größenordnung von ca. 30.000/60.000 DM (Alleinstehende/Verheiratete) steuerfrei bleiben, wenn daneben keine weiteren Einkünfte bezogen werden" 10 . Wie aus der Steuerfreiheit der Arbeitgeberbeiträge eine hälftige Einbeziehung der Renten in die Bemessungsgrundlage folgen soll, kann ich nicht nachvollziehen. Überrascht bin ich auch, wie hier für Rentner gewissermaßen ein Sondergrundfreibetrag in Höhe eines Vielfachen dessen gefordert wird, was Normalbürgern zugestanden wird. Der Vorschlag der Waigel-Kommission, die Sozialversicherungsrenten im Regelfall im Hinblick auf die steuerfrei gebliebenen Arbeitgeberbeiträge nur zu 50% in die Steuerbemessungsgrundlage einzubeziehen, hat in den Referentenentwurf des Steuerreformgesetzes 1999 Eingang gefunden. In der Begründung nehmen die Verfasser das Korrespondenzprinzip für sich in Anspruch, das sie allerdings überraschend interpretieren: "Das Korrespondenzprinzip besagt, daß Renten in dem Maße zur Einkommensteuer herangezogen werden, in dem die Beiträge zum Erwerb des Rentenrechts als Sonderausgaben abziehbar oder als Arbeitgeberbeitrag steuerfrei waren." 11 Richtig wäre: "Das Korrespondenzprinzip besagt, daß nur der Teil der Rente steuerfrei bleibt, der als Rückfluß von aus versteuertem Einkommen geleisteten Beiträgen anzusehen ist." Selbst wenn man wegen der fehlenden Informationen über das Ausmaß der effektiven Steuerfreiheit der Arbeitnehmerbeiträge unterstellt, daß diese in vollem Umfang aus versteuertem Einkommen geleistet wurden, müßte der Ertragsanteil wesentlich höher angesetzt werden. Anders ausgedrückt: Die Arbeitgeberleistungen sind zwar die Hälfte der Zahlungen, die die Hauptanspruchsgrundlage für die Rentenhöhe bilden; sie machen aber nicht 50% der Rente aus, solange es noch einen Ertragsanteil gibt. Der Vorschlag der Waigei-Kommission, der in den Referentenentwurf Eingang gefunden hat, geht zwar in die richtige Richtung, was die vorgesehene Erhöhung des steuerpflichtigen Rentenanteils betrifft. Mit Systematik hat das alles aber nichts zu tun. Die Aufgabe der Abhängigkeit des Ertragsanteils vom Alter beim Rentenbeginn ist sogar ein Schritt zurück - und das in einer Phase, in der im Rahmen der Rentenversicherung unterschiedliche Rentenlaufzeiten durch Zu- und Abschläge verstärkt berücksichtigt werden (sollen).
10 Reform der Einkomrnensbesteuerung. Vorschläge der Steuerreformkorrunission (Petersberger Steuervorschläge), Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 61, Bonn 1997, S. 24. II Bundesministerium der Finanzen, Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1999 (Referentenentwurf), Bonn, 13. März 1997, S. 64.
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IX. Schlußbemerkungen Die Besteuerung der Alterseinkünfte in Deutschland- ein Trauerspiel: Am Anfang stand eine echte Reformmaßnahme, die aber dann auf einen Sachverhalt übertragen wurde, auf den sie überhaupt nicht paßt. Dieser Fehler war zunächst angesichts der niedrigen Renten fiskalisch nicht sehr bedeutsam. Das änderte sich aber mit der Rentenreform von 1957, in deren Gefolge die Renten immer mehr in eigentlich einkommensteuerlich bedeutsame Größenordnungen hineinwuchsen. Die Politik reagierte darauf nicht mit einer systematischen Korrektur des Steins des Anstoßes, sondern beschwichtigte mit der Einführung von Folgebegünstigungen in Form des Versorgungsfreibetrages und des Altersentlastungsbetrages mit einem allerdings wesentlich geringeren Begünstigungsniveau. Man verpaßte die Möglichkeit, die Rentenbesteuerung mit der vom Bundesverfassungsgericht erzwungenen Verdoppelung des Grundfreibetrages zu verknüpfen. Als Folge können die Rentner, sofern sie keine anderen Einkünfte erzielten, Renten bis zur Höhe von mehr als 60.000/ 120.000 DM steuerfrei beziehen, was von der Bundesregierung zu einem Zeitpunkt, als sie diese Situation noch verhindem wollte, selbst als verfassungsrechtlich problematisch bezeichnet worden ist. Auch die jetzt vorgeschlagenen Regelungen sind Stückwerk ohne Systematik. Man vermißt Schritte, die wenigstens langfristig zu der einzig befriedigenden Regelung hinführen: volle Steuerfreiheit der Beiträge, volle Besteuerung der Rente.
Finanzierung und Finanzierbarkeit sozialer Sicherung vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen Von Dr. Werner Tegtmeier Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn
Der Sozialstaat in Deutschland ist eines der wesentlichen Fundamente unserer Demokratie, und unser System der sozialen Sicherung ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Fundaments. Blicken wir zuriick auf die Geschichte der Sozialpolitik der letzten einhundert Jahre und insbesondere auf die Zeit seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, dann dürfte es unbestreitbar sein, daß sich das deutsche Sozialsystem im Großen und Ganzen bewährt hat. Das deutsche Sozialsystem hat mit dazu beigetragen, daß sich trotz der gewaltigen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges Deutschland wieder zu einer der führenden Wirtschaftsnationen in der Welt entwickeln konnte. Zweifellos hat es auch mitgeholfen, daß sich rasch die junge Demokratie Bundesrepublik Deutschland intern festigte. Dabei war die Dimension der sozialen Probleme im Nachkriegsdeutschland angesichts der Zerstörungen und der Millionen an Flüchtlingen aus dem Osten, die in die sich neu entwickelnde Gesellschaft integriert werden mußten, auch gegenüber heute gewaltig. Das sollten wir nicht vergessen. Und aus der jüngsten Vergangenheit sollte uns bewußt sein: Ohne die soziale Abfederung des Wiedervereinigungsprozesses wäre wohl kaum jene Bereitschaft bei den Bürgern der neuen Bundesländer vorhanden, diesen enormen, tiefgreifenden aber unverzichtbaren wirtschaftlichen Strukturwandel durchzuführen und durchzustehen. In jüngster Zeit ist um die Finanzierbarkeil und die Finanzierung der sozialen Sicherung in Deutschland aber eine heftige Diskussion entbrannt. Sicherlich gab es auch in der Vergangenheit immer wieder Anpassungsbedarf am System der sozialen Sicherung und turbulente Diskussionen darüber. Allerdings wurde an den Grundfesten des Sozialsystem und seinen einzelnen Elementen bisher nie so stark gerüttelt, wie es in letzter Zeit der Fall ist.
I. Fünf Herausforderungen an die Finanzierung der sozialen Sicherung Unbestritten ist, das deutsche Sozialsystem steht vor gewaltigen Herausforderungen. Alle wichtigen Einrichtungen unseres sozialen Netzes werden im Umlage-
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verfahren finanziert. D.h. alle Leistungen einer Periode werden aus dem lohnorientierten Beitragsaufkommen der gleichen Periode bezahlt. Diese Lohnzentrierung der Finanzierung bringt es mit sich, daß die finanzielle Stabilität der deutschen Sozialversicherung vom Verhältnis der beitragspflichtigen Arbeitnehmer zu der Zahl der Leistungsempfänger entscheidend geprägt wird. Gerade hier haben sich aber die ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren erheblich verändert. Herausstellen möchte ich fünf Herausforderungen an die Finanzierung der sozialen Sicherung, die mir besonders wichtig erscheinen: I. Die hohe Arbeitslosigkeit: Sie bedeutet für die Sozialversicherungsträger gewaltige finanzielle Belastungen. Betrachtet man die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit, dann führen derzeit 100.000 Arbeitslosengeldempfänger zu Ausgaben von rund 3,2 Mrd. DM. Zusätzlich bedeuten 100.000 weniger Beschäftigte Beitragsausfälle in Höhe von rund 600 Mio. DM bei den Rentenversicherungsträgern, sowie knapp 300 Mio. DM bei der Arbeitslosenversicherung. Die Zahlen geben einen Eindruck, wie entscheidend die Frage nach der Finanzierbarkeil und des Umfangs einer notwendigen Umgestaltung unseres Sozialsystems vom Erfolg bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit abhängt. 2. In diesem Kontext sind auch die Lasten zu nennen, die der Sozialversicherung durch die deutsche Wiedervereinigung entstanden sind. Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung wird der für 1997 benötigte West-Ost-Finanzausgleich auf I6,8 Mrd. DM oder I 112 westdeutsche Beitragssatzpunkte geschätzt. In der Arbeitslosenversicherung dürfte das West-Ost-Transfervolumen 1997 durch die Beitragszahler rund I6 Mrd. DM betragen. Insgesamt gehen auch I997 immer noch 3 Prozent-Punkte des Sozialversicherungsbeitragssatzes auf die Folgelasten der Wiedervereinigung zurück. 3. Die demographische Entwicklung: Die in allen Industrieländern seit Jahrzehnten zu beobachtende rückläufige Geburtenentwicklung wirkt sich in Deutschland sehr deutlich und nachhaltig auf die Bevölkerungsentwicklung aus. Gleichzeitig hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung innerhalb der letzten 100 Jahre verdoppelt. Anfang der neunziger Jahre betrug sie für männliche Neugeborene 73 Jahre, für weibliche Neugeborene sogar 79 Jahre. Betrachtet man die durchschnittliche Lebenserwartung eines 60jährigen Mannes bzw. einer 60jährigen Frau, dann hat sich dieser Wert allein seit Anfang der siebziger Jahre von 15,3 bzw. 19,1 Jahren bis zum Anfang der neunziger Jahre auf 17,8 bzw. 22,2 Jahre erhöht. Dabei sind die Rentner bezogen auf den Renteneintritt - seit 1973 im Durchschnitt immer jünger geworden. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter beträgt mittlerweile rund 60 Jahre. Niedrige Geburtenrate und hohe Lebenserwartung führen dazu, daß es bis zum Jahr 2030 zu einer starken Verschiebung in der Alterszusammensetzung der Bevölkerung kommen wird. So wird sich der Altenquotient (der sich aus dem 28 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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Verhältnis der Zahl der Personen im Alter von 60 Jahren und älter auf 100 Personen im Alter zwischen 20 bis unter 60 Jahren ergibt) innerhalb von gut 4 Jahrzehnten verdoppeln -von 35,2 im Jahr 1992 auf 73 im Jahr 2030. Oder auf eine andere Weise veranschaulicht: heute kommen auf eine über 60jährige Person knapp drei Personen im erwerbsfähigen Alter (hier: 20 bis 60 Jahre), im Jahr 2030 wird es nur noch rund die Hälfte sein. Daß diese demographische Entwicklung gravierende Rückwirkungen auf den Gesamtsektor der sozialen Sicherung hat, steht außer aller Frage. 4. Neben der demographischen Entwicklung sind in langfristiger Perspektive in unserer Gesellschaft aber auch Veränderungsprozesse zu beobachten, die durch Begriffe wie sozialer Wandel und Veränderung sozialer Werte mehr umschrieben als beschrieben werden. Zur Illustration zwei Beispiele: In unserer Gesellschaft ist eine sehr starke Tendenz zur Individualisierung und Singularisierung festzustellen. Es gibt heute bereits Kommunen, in denen mehr als 50 % der Haushalte sogenannte Einpersonenhaushalte sind. Sie alle können sich vorstellen, was dieses bedeutet, wenn dieser Personenkreis älter wird, keine Familie oder intakte Nachbarschaft da ist und dann im Falle etwa von Pflege oder bei anderen Tatbeständen personale Hilfe benötigt wird. Unser soziales Sicherungssystem muß auch auf die daraus resultierenden Bedürfnisse der Menschen adäquate Antworten bieten. Für den Fall der Pflege war es die Einführung der Pflegeversicherung. Als zweites Beispiel möchte ich auf die Veränderungen in den Arbeits- und Sozialversicherungsbiographien sowie auf das Problem diskontinuierlicher Erwerbsverläufe hinweisen. Auch hierfür müssen sozialpolitische Lösungen gefunden werden. 5. Letztlich ist auch die Internationalisierung und Globalisierung des Wirtschattens zu nennen. Die Globalisierung hat nicht nur Rückwirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung sondern auch auf das Sozialsystem. So wie unsere Volkswirtschaft sich den aus der Globalisierung entstehenden Anforderungen stellen und gerecht werden muß, so darf sich auch das Sozialsystem diesen Erfordernissen nicht verstellen. Angesichts dieser fünf gewaltigen Herausforderungen ist zu Recht die Frage nach der Leistungsfähigkeit, Finanzierbarkeit und Zukunftsfähigkeit unseres Sozialversicherungssystems erlaubt. II. Finanzierbarkeit und Finanzierung: Fünf Kernthemen
Derzeit kreisen die Auseinandersetzungen über Finanzierbarkeit und Finanzierung der sozialen Sicherung im Kern um fünf Themen, die ich zur Verdeutlichung voneinander trenne, auch wenn sie eng miteinander verflochten sind und sich gegenseitig bedingen:
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1. Stichwort: Stärkung der Eigenverantwortung und Entstaatlichung Inwieweit darf der Staat den Bürgern Verantwortung abnehmen, lautet hier die Ausgangsfrage. Muß in der wegen der Pflichtversicherung manchmal als "Zwangssicherung" diffamierten Sozialversicherung der gesicherte Personenkreis eingeschränkt und I oder das Leistungsniveau zurückgefahren werden, um Raum für Eigenvorsorge und damit Eigenverantwortung der Individuen zu schaffen? Das Recht des Staates, die Freiheit des Individuums durch den Zwang zur Absicherung in dem heute üblichen Ausmaß einzuschränken, wird also in Frage gestellt. 2. Stichwort: Grenzen des Sozialstaats Dahinter steht die Auffassung, der Sozialstaat sei zu teuer geworden. Streitpunkt ist hier die Auseinandersetzung um volkswirtschaftliches Leistungsvermögen einerseits und Wahrung bzw. Gewährleistung der finanziellen Stabilität sozialer Sicherung andererseits.
3. Stichwort: Zukunft des Sozialstaats Hier werden Szenarien aufgebaut, nach denen der Sozialstaat - zumindest in seiner heutigen Gestalt - wegen der absehbaren demographischen Entwicklung in wenigen Jahren nicht mehr zu finanzieren sein wird und deshalb bereits heute gegengesteuert werden müsse. 4. Stichwort: Steueifinanzierung Verlangt die Globalisierung des Wirtschaftens und die einseitige Belastung des Faktors Arbeit einen Schwenk in der Finanzierungsart der sozialen Sicherung von der Beitragsfinanzierung zur Steuerfinanzierung? Dahinter verbirgt sich aber auch die Thematik nach der Finanzierung sogenannter versicherungsfremder Leistungen oder genauer gesamtgesellschaftlicher Aufgaben .
5. Stichwort: Kapitaldeckung
Inwieweit lassen sich die Anforderungen an die Sozialversicherung angesichts der absehbaren demographischen Entwicklung überhaupt im Umlageverfahren noch adäquat realisieren? Für die gesetzliche Rentenversicherung schien die Frage, welches Finanzierungsverfahren optimal ist, seit Mitte der fünfziger Jahre, spätestens aber seit dem Ende der sechziger Jahre als zugunsten des Umlageverfahrens beantwortet. Im Rahmen der aktuellen politischen Auseinandersetzungen um die langfristige Sicherheit der Renten ist jedoch eine Neuauflage der Kapitaldeckungsdiskussion entbrannt.
111. Kein Anspruch auf Rundumversorgung
Die derzeit statffindende Diskussion um stärkere Eigenverantwortung und die Frage nach der künftigen Rolle des Staates bei der sozialen Sicherung ist Ausdruck der Lebendigkeit und Dynamik unserer Gesellschaft und durchaus positiv zu bewerten. Es geht dabei im Kern um das Verhältnis zwischen Lastentragung und 28*
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7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Überforderung der Lastentragenden, der im Erwerbsleben Stehenden und Abgaben Zahlenden. Oder anders ausgedrückt, es geht um die Akzeptanz, die mit der staatlichen sozialen Sicherung verbundenen Umverteilungslasten zugunsten derjenigen, die Sozialleistungen empfangen, auch zu tragen. Dies betrifft alle Systemteile der sozialen Sicherung. Das deutsche System der sozialen Sicherung, mit seinen Sozialversicherungszweigen erhob nie den Anspruch, eine Rundumversorgung für seine Bürger bereitzustellen. Eigenverantwortung war deshalb trotz staatlicher Sicherung immer ergänzend gefragt. Es ist auch durchaus denkbar, das Sicherungsniveau der Sozialversicherung zugunsten mehr eigenverantwortlicher Freiheit umzugestalten. Allerdings ist auch die private Vorsorge nicht zum Nulltarif zu haben. Im Unterschied zur Privatversicherung ergänzt die Sozialversicherung den Risikoausgleich mit sozialem Ausgleich. Wer von diesem sozialen Ausgleich profitiert, wird sich in der Regel die entsprechende private Absicherung nicht leisten können. Die Frage, welches Sicherungsniveau die Sozialversicherung zukünftig abdekken soll, ist eine berechtigte Frage. Wenn wir anstelle der Sozialversicherung mehr Eigenverantwortung durch private Absicherung setzen wollen, müssen wir uns aber auch gleichzeitig bewußt sein, daß mit einem Verdrängen der Sozialversicherung sich Staat und Gesellschaft prinzipiell verändern.
IV. Soziale Sicherung muß volkswirtschaftlich tragbar bleiben
Trotz aller Kritik belegen Ergebnisse von Meinungsumfragen eindeutig eine auch im Zeitablauf außergewöhnlich hohe Akzeptanz der Bürger für unser Sozialsystem. Dies spricht eher für eine Anpassung und einen Umbau der Sozialversicherungszweige mit Augenmaß zur Stärkung des Äquivalenzprinzips "Leistung für Gegenleistung" als für eine marktradikale Substitution. Unbestritten ist selbstverständlich, daß das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen und das qualitative wie quantitative Niveau der sozialen Sicherung in einem untrennbaren Zusammenhang stehen. Es kann nur verteilt bzw. umverteilt werden, was erarbeitet wird. Gesamtwirtschaftliche Leistung und finanzielle Leistungsfähigkeit des Systems der sozialen Sicherung müssen im Gleichgewicht gehalten werden, denn soziale Leistungen sind immer auch gesamtwirtschaftliche Kosten, die erwirtschaftet werden müssen. Es gibt Argumente, die aufgrund der sozialpolitischen Eingriffe in das Marktgeschehen per se suboptimale Ergebnisse reklamieren. Zu unterscheiden sind hierbei mikroökonomische und makroökonomische Argumente. Aus mikroökonomischer Sicht besteht das Grundproblem staatlicher sozialer Sicherung in einer effizienzmindernden Verzerrung der Anreizstruktur. Steigende
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Sozialausgaben und steigender Sozialschutz, so wird behauptet, bewirken, daß sowohl das Arbeitsangebot als auch die Arbeitsnachfrage zurückgehen . Diese theoretischen Argumente leiden grundsätzlich an mangelnder empirischer Überprüfung. Mißbrauch, Mitnahme und Ineffizienz im Bereich der sozialen Sicherung sind sicherlich nicht ganz auszuschließen. Dies spricht jedoch nicht grundsätzlich gegen eine staatlich geregelte soziale Sicherung. Vielmehr ist es ein Aspekt der Feinsteuerung der Regelungen und der Mißbrauchskontrolle. Die makroökonomische Argumentationslinie sieht das Wirtschaftswachstum durch steigende Staatsausgaben bzw. durch die ökonomischen Folgewirkungen beeinträchtigt. Auch hier sind die empirischen Ergebnisse zweideutig. Wirtschaftspolitischer Erfolg, sprich Wachstumssteigerung, läßt sich sowohl bei sparsamer als auch bei großzügiger Ausgestaltung sozialer Sicherung nachweisen . Sozialpolitik bringt auf der anderen Seite aber auch gesamtwirtschaftlichen Nutzen. Zweifellos dürfte die These richtig sein, daß durch das Element der Sozialpolitik die Gesamtleistungsfähigkeit des Systems soziale Marktwirtschaft über die einer reinen Marktwirtschaft hinaus gesteigert wird. Ohne eine ausreichende soziale Sicherung wäre die moderne soziale Marktwirtschaft nicht denkbar.
V. Soziale Sicherung in Deutschland nicht generell zu teuer Leistet sich Deutschland zuviel an sozialer Sicherung oder ist die soziale Sicherung angemessen? Wichtige Teilantworten auf diese Frage und Hinweise auf die gegenwärtige tatsächliche Lage erhält man aus internationalen Vergleichen mit wichtigen Mitwettbewerbern. Ein solcher Vergleich ist für die europäische Gemeinschaft möglich. Auf europäischer Ebene erfaßt die europäische Sozialschutzstatistik (ESSOS) die Sozialschutzausgaben und ihre Finanzierung für die Mitgliedstaaten der EU nach einer einheitlichen Systematik, die auf europäischer Ebene eine weitgehende Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet. Gesamtdeutschland wies nach den letzten verfügbaren Ergebnissen 1994 mit 30,8 % eine relativ hohe Sozialleistungsquote auf. Dieses Niveau ist aber- wie der Vergleich mit der westdeutschen Quote von 1994 in Höhe von 27,7% zeigt- durch hohe Sozialschutzausgaben in Ostdeutschland verursacht, also durch die Sondereinflüsse der Wiedervereinigung bedingt. Eine Vergleichbarkeit der gesamtdeutschen Quote mit den Quoten in anderen Ländern und deren Entwicklung ist damit nicht gegeben. Der zulässige Vergleich Westdeutschlands mit ausgewählten Einzelstaaten nämlich Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Österreich und Schweden - und dem Durchschnitt des Europa der 12liefert erstaunliche Resultate:
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• Von den betrachteten Einzelstaaten hatte Westdeutschland 1994 nach Italien die zweitniedrigste Sozialleistungsquote. Die Quoten in den Niederlanden (32,2 %), Frankreich (30,5 %) und Österreich (30,2 %) überstiegen das westdeutsche Niveau beträchtlich. Selbst Großbritannien wies mit 28,1 % eine höhere Quote auf. Die westdeutsche Quote entsprach in etwa dem europäischen Durchschnitt (27,6 %), nachdem sie 1982 mit 29,8% noch deutlich über diesem Niveau gelegen hatte. • Die westdeutsche Quote lag 1994 beträchtlich, die niederländische geringfügig niedriger als 1982. Die anderen betrachteten Einzelstaaten verzeichneten hingegen einen Quotenanstieg, der in Großbritannien von 24,1 % auf 28,1 % und in Italien von 21,5 % auf 25,3 % sehr stark war. • Die Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation und der damit verbundene Ausgabenanstieg haben seit 1990 in allen betrachteten Einzelstaaten zu einem Quotenanstieg geführt, der in den Niederlanden und in Westdeutschland besonders schwach und in Großbritannien besonders ausgeprägt verlief. Insgesamt wird damit deutlich, daß Deutschland - läßt man sachgerecht die zur Vollendung der deutschen Einheit notwendigen Ausgabensteigerungen außer Betracht - nicht nur die Sozialleistungsquoten zurückführte, sondern auch bei der Konsolidierungspolitik im Sozialbereich einen Spitzenrang im europäischen Vergleich einnimmt. Die Ergebnisse zeigen, daß der Sozialstaat gegenüber den 80er Jahren nicht generell zu teuer geworden ist und daß im internationalen Vergleich das volkswirtschaftliche Leistungsvermögen nicht überdurchschnittlich in Anspruch genommen wird. Sie widerlegen zudem die häufig zu hörende Kritik, daß die Sozialpolitik stetig wachsende Ansprüche an das Sozialprodukt stellt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Die Ansprüche an das Sozialprodukt wären dank erfolgreicher Konsolidierungsmaßnahmen im Sozialbereich deutlich zurückgegangen, wären nicht die Sonderbelastungen der Wiedervereinigung entstanden.
VI. System der sozialen Sicherung ist zukunftsfahig Insbesondere die Lasten der Wiedervereinigung, aber auch die Arbeitslosigkeit machten und machen weitere kurzfristige Konsolidierungsschritte notwendig. Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist und bleibt die Rückführung der Staatsquote auf den vor der deutschen Einheit erreichten Stand von rund 46 % und die Begrenzung der Summe der Sozialversicherungsbeiträge bis zum Jahr 2000 auf unter 40 %. Dies sind nicht nur Lippenbekenntnisse, sondern auch politischer Wille, wie die zahlreichen gesetzlichen Initiativen zeigen, die seit Anfang letzten Jahres umgesetzt oder auf den Weg gebracht wurden. Allein die finanzielle Entlastung der Sozialversicherung durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz, das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz sowie beschlossene und darüber
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hinaus vorgesehene weitere Maßnahmen außerhalb dieser Fördergesetze summiert sich im Zeitraum 1997 bis 2000 auf 85 Mrd. DM. Zusätzlichen langfristig wirkenden sozialpolitischen Handlungsbedarf verlangt die absehbare demographische Entwicklung, insbesondere im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung. Hierzu hat die Kommission zur Fortentwicklung der Rentenversicherung ihren Bericht vorgelegt. Wie die Vorschläge der Kommission jedoch zeigen, können die notwendigen Anpassungsmaßnahmen innerhalb des Systems der lohn- und beitragsbezogenen Rente statffinden. Unser System der sozialen Sicherung ist somit zukunftsfähig. Eine systemradikale Änderung wird durch die absehbare demographische Entwicklung nicht erzwungen. Die Vorschläge der Kommission bilden die Grundlage für den politischen Entscheidungsprozeß, in dem die Eckpunkte für ein Rentenreformgesetz 1999 festgelegt werden. Entgegen manchen Forderungen nach Systemwechsel läßt sich auf der Welt geradezu eine Konvergenz zugunsten unseres Konzeptes der Sozialversicherung beobachten. Die Vereinigten Staaten erfahren, daß zur Lösung des Armutsproblems eine lediglich privatversicherungsrechtliche Ergänzung des Fürsorgesystems nicht ausreicht. Auf der anderen Seite sind versorgungsstaatliche Systeme ebenso an ihre Grenzen angelangt, wie das Beispiel Schweden zeigt, das mit Hilfe einer beitragsbezogenen Sozialversicherung versucht, sein steuerfinanziertes Sicherungssystem zu korrigieren.
VII. Schritte zu mehr Steuerfinanzierung denkbar Wenn auch die jetzige und absehbare Ausgabensituation einen grundlegenden Wechsel im Sozialsystem nicht erforderlich macht, stellt sich dennoch die Frage, ob nicht auf der Einnahmenseite deutliche Änderungen erforderlich oder zumindest sinnvoll wären. Genauer, wäre es nicht angebrachter, gesamtgesellschaftliche Aufgaben aus dem allgemeinen Steueraufkommen zu finanzieren, um die Sozialversicherungsbeiträge, insbesondere die Arbeitgeberbeiträge zu senken, die einseitig den Faktor Arbeit belasten, um hierdurch auch einen positiven Beschäftigungseffekt zu erzielen? Verschiedene wissenschaftliche Modellrechnungen kommen in der Tat zu deutlichen positiven Beschäftigungswirkungen einer Beitragssatzsenkung in der Sozialversicherung. Vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wurde beispielsweise im letzten Jahr im Rahmen einer Simulationsstudie errechnet, daß durch eine jährliche Beitragssatzsenkung in der Sozialversicherung von 1997 bis 2000 um jeweils 1 %-Punkt rund 300.000 Arbeitsplätze bis zum Jahr 2000 geschaffen werden können. Selbst bei Gegenfinanzierung der Leistungen durch Steuererhöhungen, z.B. durch die vieldiskutierte Mehrwertsteuererhöhung, ware noch ein Beschäftigungsgewinn zu verzeichnen.
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Im internationalen Vergleich hält sich der deutsche Staat bei der Finanzierung der sozialen Sicherung eher zurück. Nur rund ein Viertel der Ausgaben für soziale Sicherung wurden 1993 in Deutschland durch Zuweisungen aus öffentlichen Mitteln finanziert, in Dänemark waren es über 80 %, in Irland 61 % und in Großbritannien 44 %. Spiegelbildlich war im Vergleich zu diesen nördlichen EU-Ländern der Anteil der Arbeitgeberbeiträge in Deutschland mit 40 % relativ hoch, auch wenn dieser Anteil gegenüber den südeuropäischen Staaten einschließlich Frankreich, deren Anteile bei rund 50 % lagen, noch moderat wirkt. Eine Konzentration der Beitragsfinanzierung der Sozialversicherung auf ihre Kernfunktion und die Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben z.B. über den Verbrauch würde somit im Hinblick auf die Situation in unseren europäischen Partnerländern ein Schritt europäischer Konvergenz bedeuten. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln schätzt das Ausgabenvolumen der Leistungen, die allgemeine Staatsaufgaben sind und die nicht durch Beiträge gedeckt sind, auf insgesamt 197 Mrd. DM in allen Sozialversicherungszweigen in 1994. Der Bund trug von diesen Leistungen nur ca. 70 Mrd. DM. Mit der Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung hat die Bundesregierung die Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen insbesondere in der Rentenversicherung weiter gestärkt. Ein weiterer Schritt zur sachgerechten Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben wäre die Erhöhung des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung, wie vom Bundesausschuß der CDU zur Rentenreform 1999 im März 1997 beschlossen, die es ermöglichen würde, den Beitragssatz einen Prozentpunkt niedriger als ansonsten erforderlich festzusetzen. Notwendig ist auf jeden Fall, die Übernahme zusätzlicher gesamtgesellschaftlicher Aufgaben durch die Solidargemeinschaft abzuwehren.
VIII. Kapitaldeckung ist keine Alternative
Lassen Sie mich als letzten Punkt meiner Ausführungen noch auf einen Themenkreis eingehen, der gerade in jüngster Zeit heftige Diskussionen ausgelöst hat: Der Frage nach dem adäquaten Finanzierungsverfahren in der Rentenversicherung. Über die Vor- und Nachteile des Kapitaldeckungsverfahrens im Verhältnis zum Umlageverfahren ist bereits in der Vergangenheit viel geschrieben und diskutiert worden. Die Argumentation der Befürworter einer Kapitaldeckung läßt sich dabei in drei Thesen zusammenfassen: 1. Kapitalgedeckte Alterssicherungssysteme sind unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung, da jeder Versicherte seine Ansprüche durch versicherungsmathematisch berechnete Beiträge selbst finanziert. 2. Kapitaldeckung erhöht die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft und erleichtert dadurch die Finanzierung der steigenden Alterslasten, da anstau wie
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im Umlageverfahren Einkommen zwischen den Generationen umzuverteilen, Vermögen angesammelt und somit die Kapitalausstattung der Volkswirtschaft verbessert wird. 3. Eine kapitalgedeckte Alterssicherung ist rentabler als ein umlagefinanziertes System. Diese drei Thesen mögen manchen vordergründig richtig erscheinen, ihnen sind jedoch erhebliche Einwände entgegenzuhalten: Zur Behauptung der Unabhängigkeit von der Bevölkerungsentwicklung:
Leicht ersichtlich ist, daß auch bei einer Kapitaldeckung einer steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung nur durch erhöhte Beiträge oder eine geringere Leistung Rechnung getragen werden kann, da eine zunehmende Rentenbezugsdauer aus dem angesparten Kapitalstock finanziert werden muß. Dieser Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Beitrags- bzw. Leistungskalkulation veranlaßt bereits heute Lebensversicherungsunternehmen, nach Eintritt des Versicherungsfalles monatliche Rentenzahlungen um 10 % und mehr zu kürzen oder zumindest entsprechende Überlegungen anzustellen. Aus dem gleichen Grund ist derzeit eine Erhöhung der Beiträge und damit der Versicherungssumme bei neu abzuschließenden Lebensversicherungsverträgen um lO bis 15 % feststellbar. Entgegen weitläufiger Auffassung ist ein kapitalgedecktes Alterssicherungssystem aber auch vom Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsbeziehern abhängig. Diese Abhängigkeit läßt sich einfach erklären. Solange Beitragseinnahmen und Zinserträge die Rentenzahlungen ausgleichen, entspricht ein Kapitaldeckungsverfahren per saldo einem Umlageverfahren mit konstant hohem Kapitalstock Bei einer demographisch verursachten Verschlechterung des Verhältnisses von Beitragszahlern und Leistungsbeziehern übersteigen die Rentenzahlungen die Einnahmen. Deshalb können die Rentenzahlungen mittelbis langfristig nur durch einen Kapitalabbau finanziert werden. Dies hat die gleiche Konsequenz wie im Umlageverfahren, nämlich Konsumverzicht der Erwerbstätigen zur Folge, denn Kapital kann nur dann ohne Wertverlust für Rentenzahlungen verflüssigt werden, wenn sich die Bereitschaft einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung, Immobilien, Wertpapiere u. ä. zu kaufen, entsprechend erhöht. Geschieht dies nicht, kommt es zu einem Überangebot, so daß durch sinkende Verkaufserlöse diese zur Finanzierung der Leistungsverpflichtungen nicht mehr ausreichen. Ein Kapitaldeckungsverfahren reagiert also sowohl auf eine Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung als auch auf eine Verschiebung der Altersstruktur und ist damit ebenso wie das Umlageverfahren von der Bevölkerungsentwicklung abhängig. Die Kapitaldeckung ist kein "Finanzierungstrick" zur Oberwindung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten: Egal wie das Alterssicherungssystem
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7. Speyerer Sozialrechtsgespräch
finanzierungstechnisch ausgestaltet ist, die Ausgaben sind jeweils aus dem in jeder Periode neu zu erwirtschaftenden Sozialprodukt zu finanzieren. Zur Behauptung der erhöhten Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft:
Durch Kapitaldeckung in der Alterssicherung soll der Volkswirtschaft mehr Kapital zur Verfügung stehen als bei Anwendung des Umlageverfahrens, was wiederum die volkswirtschaftliche Produktivität und folglich das gesamtwirtschaftliche Wachstum erhöhen soll. Nach diesem Gedankengang kann die Volkswirtschaft höhere demographische Finanzierungslasten tragen als dies bei Anwendung des Umlageverfahrens der Fall wäre. Der Denkfehler in dieser Argumentation liegt darin, daß eine Erhöhung des Kapitalangebots nicht generell mit einer Erhöhung von Produktivität und Wachstum gleichgesetzt werden kann. Die einfache Gleichung, "mehr Kapital = mehr Wachstum", wird der Realität nicht gerecht. Vielmehr wäre zunächst einmal zu prüfen, welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen die erhöhte Ersparnis auf den Konsum hat und welche Investitionsentscheidungen die institutionellen Anleger treffen. Zur Behauptung der rentableren Alterssicherung:
Vergleichsrechnungen zur Rentabilität von Lebensversicherung und gesetzliche Rentenversicherung belegen angeblich, daß die Lebensversicherung bereits heute der gesetzlichen Rentenversicherung überlegen sei. Derartige Vergleichsrechnungen hinken aber, denn sie sind nur dann sinnvoll, wenn die Leistungsspektren beider Alterssicherungssysteme miteinander wirklich vergleichbar wären. Diese Voraussetzung ist in der Realität jedoch nicht gegeben. Die gesetzliche Rentenversicherung übernimmt Leistungen in erheblichem Umfang, die in der Lebensversicherung kein Gegenstück besitzen. Beispiele sind Rehabilitationsmaßnahmen und Beitragsanteile für die Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner, deren Ausgaben sich allein im Jahr 1995 auf über 24 Mrd. DM oder 8,7 % der Gesamtausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in den alten Bundesländern summierten. Ferner muß ein solcher Vergleich sowohl die in der gesetzlichen Rentenversicherung vorgenommene Dynarnisierung der Anwartschaften und Renten entsprechend der Einkommensentwicklung als auch eine vergleichbare Absicherung des Hinterbliebenen- und Invaliditätsrisikos berücksichtigen. Legt man das Leistungsspektrum der gesetzlichen Rentenversicherung zugrunde und vergleicht man auf dieser Basis die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung mit der monatlichen Leistung einer entsprechend finanzierten Lebensversicherung, dann schneidet die Rentenversicherung - bei retrospektiver Betrachtung - deutlich besser ab als die Lebensversicherung.
Sozialversicherung zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung
433
Vielfach wird zudem in der Diskussion über das Kapitaldeckungsverfahren vernachlässigt, daß die bereits erworbenen Ansprüche und Anwartschaften aus der umlagefinanzierten Rentenversicherung erfüllt werden müssen, da diese dem grundgesetzliehen Eigentumsschutz unterliegen. Wahrend eines Übergangszeitraums von - realistischerweise - vierzig bis fünfzig Jahren müßten die Versicherten somit nicht nur einen Kapitalstock für ihre eigene Alterssicherung aufbauen, sondern zusätzlich auch die Beiträge oder Steuern für die Abwicklung der bereits entstandenen Rentenansprüche aufbringen. Wagt man insgesamt die Argumente für und gegen eine Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung nüchtern gegeneinander ab, so könnte im Vergleich zum Umlageverfahren ein Kapitaldeckungsverfahren die demographischen Belastungen nicht besser bewältigen. Die mit dem Kapitaldeckungsverfahren verbundenen ökonomischen Risiken wären jedoch weitaus größer. Die Risiken des Kapitaldeckungsverfahrens liegen dabei nicht nur in möglichen lnflationskatastrophen. Schon zweimal, 1923 und nach dem zweiten Weltkrieg, wurde ja der Kapitalstock der deutschen Rentenversicherung durch Geldentwertung weitgehend aufgezehrt. Die Risiken des Kapitaldeckungsverfahrens liegen zusätzlich in den allgemeinen Finanzkrisen, und soweit das Kapital im Ausland angelegt ist, auch in Wahrungsrisiken. Ich erinnere nur an den Börsensturz an der Wall Street 1987 oder an die Turbulenzen infolge der Peso-Krise im Dezember 1994, als Pensionsfonds aus den USA überhastet ihr in Mexiko angelegtes Kapital abzogen. Es lassen sich vielleicht künftig die globalen Inflationskatastrophen vermeiden. Kein ernstzunehmender Ökonom vermag zu versprechen, daß Finanz- und Währungskrisen für die Zukunft ausgeschlossen werden können. Wir brauchen deshalb auch weiterhin für etwa 90 % der Bevölkerung die Grundsäule eines umlagefinanzierten Regelalterssicherungssystems. Hierfür gibt es keine Alternative. Zur Vollsicherung im Alter, die eine uneingeschränkte Aufrechterhaltung des vor Ruhestandsbeginn erreichten Lebensstandards ermöglicht, muß die Regelsicherung auch weiterhin durch betriebliche oder durch private Altersversorgung ergänzt werden. Über Anteilsverschiebungen hin zu mehr betrieblicher oder privater Vorsorge muß diskutiert werden. Ausgestaltung und Zielsetzung jeder einzelnen der "drei Säulen" darf dabei allerdings nicht in Frage gestellt werden.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht? 8. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 2./3. April 1998
Zurück zur Solidargemeinschaft: Ausweitung der Versicherungspflicht Von Staatssekretär Klaus Jensen Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit Rheinland-Pfalz, Mainz
I. Einführung
Zunächst darf ich Ihnen die herzlichsten Grüße von Ministerpräsident Beck ausrichten, der - wie Sie sicherlich wissen - sich derzeit von einem Krankenhausaufenthalt erholt und deshalb heute nicht zu Ihnen sprechen kann. Kurt Beck wäre gerne selbst gekommen, um zum einen deutlich machen zu können, daß er die Arbeit der beiden veranstaltenden Institutionen, der Landesversicherungsanstalt und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften, außerordentlich schätzt und daß es ihm ein persönliches Anliegen ist, dabei mitzuhelfen, daß wir zur Solidargemeinschaft zurückkehren. Die Realisierung dieses Zieles durch Ausweitung der Sozialversicherungspflicht ist für ihn von großer Wichtigkeit für den Erhalt der Sozialversicherung als Säule des Sozialstaates insgesamt. Wir diskutieren seit Jahren nicht nur dariiber, wie wir unsere sozialen Sicherungssysteme reformieren müssen, um sie den Herausforderungen der im Wandel befindlichen Arbeitsgesellschaft und der demographischen Entwicklung anzupassen, vielmehr wird auch die These aufgeworfen, daß unser Sozialstaat und damit unsere Sozialversicherungen überhaupt keine Zukunft mehr hätten. Anlaß für solche Überlegungen sind insbesondere die stark gestiegenen Beitragssätze. Nicht nur die Unternehmen, auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer klagen über die hohe Belastung mit Steuern und Sozialabgaben. Immer mehr Arbeitgeber weisen auf die stark gestiegenen Lohnnebenkosten hin. Es muß daher für uns alle ein Alarmsignal sein, wenn die Akzeptanz für den Sozialstaat insbesondere bei denjenigen rapide sinkt, die ihn wesentlich finanzieren. Für mich bedeutet dies aber nicht, über einen Systemwechsel nachzudenken, sondern den Konsens über den Sozialstaat neu zu beleben. Die ständige Erhöhung von Beiträgen bei gleichzeitiger Kürzung von Leistungen stehen dem Ziel Solidargemeinschaft nicht nur entgegen, vielmehr verletzen sie auch den verfassungsrechtlichen Auftrag, den Staat sozial zu gestalten.
438
8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Von daher muß zunächst die Frage gestellt werden, was die Ursachen für den nicht akzeptablen Beitragsanstieg sind.
II. Ökonomische und politische Ursachen hoher Beitragssätze Hier ist zunächst und vor allem - und darauf kann nicht oft genug hingewiesen werden - die langandauernde Massenarbeitslosigkeit zu nennen. Bei 4,8 Millionen registrierten Arbeitslosen und einem Arbeitsplatzdefizit von etwa 7- 8 Millionen Arbeitsplätzen muß jedes soziale Sicherungssystem in Finanzierungsschwierigkeiten geraten, das, wie das unsrige, lohnarbeitszentriert ist. Ich weiß, daß es nicht den Königsweg zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit gibt, aber: es gibt vielfältige Instrumente, um den Arbeitsmarkt anzukurbeln. Anstatt das erzwungene Nichtstun Arbeitswilliger Jahr für Jahr mit über 155 Milliarden DM, das sind Tag für Tag nahezu 425 Millionen DM, zu subventionieren, sollten wir diese Mittel aufwenden, um Arbeit zu schaffen. Es müssen endlich Investitionen angestoßen, Innovationen getätigt und Mittel in zukunftsträchtige Produktionsbereiche fließen. Wir müssen in Bildung, Aus- und Weiterbildung investieren, um Deutschland im internationalen Wettbewerb durch Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens für eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Alle Instrumente, vor allem die vielfältigen Formen der Flexibilisierung von Arbeitszeiten, müssen genutzt werden, damit wir das Ziel, das der derzeitige Bundeskanzler einst formuliert, nun aber leider aufgegeben hat, doch noch erreichen: die Halbierung der Arbeitslosigkeit. Wer Arbeit schafft, der hilft nicht nur den Millionen Arbeitslosen, die - in ihrer übergroßen Anzahl - sich täglich verzweifelt um neue Arbeit bemühen, der hilft auch den Sozialversicherungen, neue Gelder einzunehmen und er senkt somit letztendlich die Lohnnebenkosten. Mein erstes Fazit lautet daher: Eine gute Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ist die beste Politik, um die Finanzgrundlagen unserer Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung zu konsolidieren. Wahrend die Massenarbeitslosigkeit und ihre fatalen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme zwar zu einem großen Teil, aber nicht ausschließlich von der derzeitigen Bonner Koalition zu verantworten sind, gibt es einige politische Entscheidungen, die direkt zu einer Erhöhung der Ausgaben bzw. einer Minderung der Einnahmen in den Sozialversicherungen geführt haben. Es war ein politisch falscher und nicht zu akzeptierender Weg, den Aufbau der Sozialversicherungen in den neuen Ländern zum überwiegenden Teil aus den Sozialversicherungskassen zu finanzieren.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
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Alleine 1997 haben die Transferleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung von West nach Ost eine Höhe von 32,6 Milliarden DM erreicht. Ohne die internen Ausgleichszahlungen hätten die Rentenkassen in den neuen Ländern 1997 ein Defizit in Höhe von 19 Milliarden DM aufgewiesen. Seit 1991 summiert sich dieses negative Saldo auf inzwischen 75 Milliarden DM. Das regionale Defizit der Rentenversicherung in den neuen Ländern entspricht mehr als einem Beitragssatzpunkt Gleiches gilt für andere versicherungsexterne beitragsungedeckte Leistungen, wie Fremdrenten, den Vertrauensschutz für das alte DDR-Rentenrecht und die Entschädigung für SED-Unrecht. Für diese Leistungen kommen die Sozialversicherten mit etwa 15 Milliarden DM pro Jahr auf, was wiederum etwa einem Beitragssatzpunkt entspricht. Am Rande sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß die Tatsache, daß die Gesetzliche Rentenversicherung trotz der hohen Arbeitslosigkeit 1997 im Westen ein Plus von über 25 Milliarden DM erwirtschaftet hat, zeigt, daß unsere Sozialversicherungen im Prinzip krisenfester sind, als in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wird. Die innere Einheit Deutschlands zu vollenden, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie kann und darf nicht überwiegend den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie ihren Arbeitgebern durch immer höhere Beiträge in der Sozialversicherung übertragen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1987 festgelegt: "Der Gesetzgeber kann sich seiner Regelungskompetenz für die Sozialversicherung nicht bedienen, um dadurch Mittel für die Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben aufzubringen." Insofern ist hier dringend eine andere politische Richtungsentscheidung notwendig. Hinzu kommt: Wer Lohnnebenkosten senkt, hilft vor allem der besonders lohnintensiven mittelständischen Wirtschaft. Immerhin hängen die Hälfte unserer Arbeitsplätze und rund 80% der Ausbildungsplätze an Handwerk und Mittelstand. Dies sollten sich vor allem diejenigen zu Herzen nehmen, die in ihrer Außendarstellung die Mittelstandsförderung vor sich hertragen, in der politischen Realität aber eine Senkung der Lohnnebenkosten durch eine Steuerfinanzierung allgemeiner Staatsaufgaben verhindern. Gleiches gilt für politische Versäumnisse, durch die die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Jahr für Jahr verringert wird. Nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes verliert die Sozialversicherung durch die Ausbreitung unversicherter Beschäftigungsformen jährlich Einnahmen in Höhe von 100 Milliarden DM. Zudem könnten mehr als 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze gewonnen werden, wenn illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit, Schein29 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Selbständigkeit und unversicherte geringfügige Beschäftigung in reguläre Arbeit verwandelt würde. Soweit zu den Hauptursachen für die gegenwärtigen Finanzprobleme in den Sozialversicherungen. Bedauerlich ist, daß einige der politischen Kräfte, die entweder durch Nichtstun oder durch falsche Richtungsentscheidungen die Schwierigkeiten mit verursacht haben, diese nun nutzen, um einem generellen Systemwechsel das Wort zu reden. Da dies jedoch ein Schwerpunkt der 7. Speyerer Sozialrechtsgespräche war, gehe ich auf entsprechende Vorschläge heute nicht weiter ein.
111. Neue Gefahren für die gesetzliche Sozialversicherung Zwischenzeitlich sind zwei weitere Vorschläge in die Diskussion gekommen, die bei konsequenter Verwirklichung zu einer ernsthaften Gefährdung der Sozialversicherungen führen könnten: • die Regionalisierung von Sozialversicherungsbeiträgen und • die Verbeamtung von Angestellten des öffentlichen Dienstes. Wer, wie Bayern und Baden-Württemberg, Beiträge zu den Sozialversicherungen regionalisieren will, der läßt nicht nur das Solidaritätsgebot außer acht, sondern verletzt auch den Gleichheitsgrundsatz und das Gebot von gleichwertigen Lebensverhältnissen in unserem Grundgesetz. Der Risikoausgleich zwischen den regionalen Sozialversicherungsträgem ergibt sich, wie auch der soziale Ausgleich für Individuen, aus dem Solidaritätsgedanken. Ausdruck dieser Ausgleichsfaktoren ist auch, daß das individuelle Versicherungsrisiko anders als in privaten Versicherungen unberücksichtigt bleibt. Regionalisierte Beiträge würden gerade in strukturschwachen Gebieten den Faktor Arbeit verteuern. So hätte der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung in den neuen Ländern nicht 20,3 %, sondern 27,6% betragen müssen und der der Arbeitslosenversicherung nicht 6,5 %, sondern 17,9%. Unberücksichtigt blieben Belastungen, die ein Land im Gesamtinteresse der Nation zu tragen hat. Der Abzug unserer alliierten Bündnispartner beispielsweise belastet insbesondere Rheinland-Pfalz und führt dazu, daß in den betroffenen Regionen die Strukturprobleme größer sind als etwa in Baden-Württemberg oder Bayern. Wollte man einem inunensen Beitragssatzanstieg entgegensteuem, müßten die Leistungen regional unverhältnismäßig gekürzt werden. Das Äquivalenzprinzip wäre letztlich nicht mehr aufrechtzuerhalten, da dann diejenigen die geringsten Leistungen erhielten, die gleichzeitig die höchsten Beiträge zahlten.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
441
Dies alles zeigt, wie wenig durchdacht die Vorschläge Bayerns und Baden-Württembergs sind. In diesem Zusammenhang sollten wir uns daran erinnern, daß es gerade diese Länder waren, die zum Beispiel für die Umstrukturierung ihrer Landwirtschaft über Jahrzehnte immense Steuermittel erhalten haben. Wir alle haben dies mitfinanziert. Ein weiterer Vorschlag, der gar schon als Modell propagiert wird, ist die Absicht des Oberbürgermeisters der Stadt Offenbach, alle städtischen Angestellten unter 45 Jahren verbeamten zu wollen. Herr Grandke nennt diese Idee einen "Akt der Notwehr" und sieht ausschließlich den betriebswirtschaftliehen Nutzen. Was sich als betriebswirtschaftlicher Nutzen darstellt, wäre jedoch volkswirtschaftlich ein verheerendes Signal. Die öffentlichen Arbeitgeber, so lautet dieses Signal, privatisieren ihre sozialen Verpflichtungen mit Hilfe des Beamtenrechts und überlassen die allgemeinen Risiken denen, die keinen oder noch keinen Fluchtweg aus der Sozialversicherung gefunden haben. Wissenschaftler der Freien Universität Berlin haben errechnet, daß, wenn nur 10% vollzeitbeschäftigte Angestellte des öffentlichen Dienstes verbeamtet werden, bei der Gesetzlichen Rentenversicherung jährlich 2,1 Milliarden DM, bei der Krankenversicherung 1,7 Milliarden DM, bei der Arbeitslosenversicherung 680 Millionen DM und bei der Pflegeversicherung 274 Millionen DM als Beitragsaufkommen ausfallen. Jedes weitere Prozent mehr Beamter zu Lasten von Angestellten bedeute einen weiteren Ausfall von 436 Millionen DM an Beiträgen. Sollte dieses vermeintliche Modell in die Tat umgesetzt werden, wird es unweigerlich Schule machen. Der nächste Schritt wird sein, daß die großen Unternehmen ihre eigenen geschlossenen Sozialsysteme bilden, wie wir es bei den Betriebskrankenkassen in der Vergangenheit schon erlebt haben. Die Flucht aus der Solidargemeinschaft darf aber keinen Modellcharakter bekommen. Im Gegenteil: Der Öffentliche Dienst trägt eine besondere Verantwortung für die gesetzlichen Sozialversicherungen, weil er den darin enthaltenen Sozialausgleich wesentlich mitgestaltet Folglich darf er nicht an vorderster Front bei der Aushöhlung dieser Systeme kämpfen, sondern muß im Gegenteil dazu beitragen, daß die Glaubwürdigkeit in die gesetzliche Sozialversicherung wieder hergestellt wird. Es stimmt, daß Offenbach und viele andere Kommunen große Probleme haben, ihre Haushalte zu sanieren. Hier bedarf es jedoch einer Ursachenbekämpfung. Dies heißt, in erster Linie die Massenarbeitslosigkeit zu verringern und damit auch die kommunalen Sozialhilfeträger zu entlasten. Zu solch einer Politik gehört auch eine wirksame Gemeindefinanzreform und das Ende der Verlagerung von Aufgaben vom Bund auf Länder und Gemeinden. 29*
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8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Zwei Drittel aller öffentlichen Sachinvestitionen werden auf kommunaler Ebene getätigt. Die Gemeinden könnten wieder zu starken Investoren werden und zahlreiche Arbeitsplätze direkt und indirekt schaffen, wenn sie über ausreichende Finanzmittel verfügten. Ohne ein Ende der Leistungsverschiebungen, ohne eine wirksame Gemeindefinanzreform, werden sie aber weiterhin gezwungen sein, Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger zu kürzen oder solch volkswirtschaftlich verheerende Wege zu gehen, wie es Offenbach plant. Wir müssen diesen Vorschlägen den Boden entziehen, indem die Sozialbeiträge gesenkt werden. Dies ist nur möglich, wenn wir mehr Beitragszahlerinnen und Beitragszahler gewinnen und dadurch gleichzeitig Ausgaben senken können.
IV. Ansatzpunkte zur Ausweitung der Sozialversicherungspflicht Hauptansatzpunkt dafür ist - wie schon mehrfach angeklungen - eine Arbeitsplatz schaffende Wirtschafts-, Struktur-, Forschungs-, Bildungs-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik. Hinzu kommen muß die Einbeziehung eines großen Teils der derzeit geringfügig Beschäftigten und der Scheinselbständigen in die Sozialversicherung.
1. Geringfügige Beschäftigung
Die Sozialversicherungsfreiheit sog. geringfügiger Beschäftigung hat dazu geführt, daß die Zahl der Personen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen auf weit über 5 Millionen angestiegen ist. Über 60% davon sind Frauen. In vielen Fällen sind die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Wechselfälle des Lebens nur unzureichend abgesichert und müssen bei Bedarf von der Allgemeinheit über Sozialhilfe alimentiert werden. Die Tatsache, daß von 1991 bis 1995 sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse um etwa 25% zugenommen haben, belegt, daß ihre Ausgestaltung dem Grundsatz der Wettbewerbsneutralität auf dem Arbeitsmarkt eklatant widerspricht. Die Sozialversicherungsfreiheit wirkt wie eine Subvention ungeschützter Arbeitsverhältnisse, die von der Allgemeinheit der beitragszahlenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihrer Betriebe finanziert werden muß. Notwendig ist daher, daß Arbeitgeber und Beschäftigte ab einer Bagatellgrenze auch für bisher geringfügige Beschäftigungsverhältnisse grundsätzlich beitragspflichtig sein müssen. Diese Grenze muß deutlich niedriger angesetzt werden als heute. Geringfügige Nebentätigkeiten, die bisher sozialversicherungsfrei ausgeübt werden konnten, sollten ausnahmslos in die Sozialversicherung einbezogen werden.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
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Hierzu liegen im Bundestag und im Bundesrat konkrete Vorschläge vor, deren Umsetzung momentan leider daran scheitert, daß die derzeitige Bonner Koalition nicht mehr handlungsfähig ist.
2. Scheinselbständigkeit Gleiches gilt für die sog. Scheinselbständigen, deren Anzahl auf etwa 1 Million Beschäftigte geschätzt wird. Jeder kennt Beispiele absurder Formen vermeintlicher Selbständigkeit. Ich möchte ein weiteres hinzufügen: Vor den Sozialgerichten des Landes wird derzeit ein Streit dariiber ausgetragen, ob Kopfschlächter, Zerleger und Ausbeiner eines Schlachthofes Selbständige sind oder abhängig Beschäftigte. Ich frage mich, wo diese Berufe anders ausgeübt werden könnten, als in jenem Schlachthof und welche Entscheidungsfreiheit die entsprechenden Beschäftigten denn haben. Nein, hier wird zu Lasten der Allgemeinheit Mißbrauch betrieben, indem Sozialversicherungsbeiträge in Millionenhöhe eingespart werden sollen. Wie Sie wissen, liegt auch hierzu den parlamentarischen Organen ein Gesetzentwurf vor, der auf die Bekämpfung des Mißbrauchs von Sozialversicherungsrecht durch Scheinselbständigkeitsverhältnisse abzielt. Dabei geht es im Kern nicht um eine Ausweitung der Versicherungspflicht, sondern um die tatsächliche Erfassung eines bereits bisher grundsätzlich versicherten Personenkreises, indem ein Kriterienkatalog für nichtselbständige Arbeit aufgestellt, die Beweislastumkehr eingeführt und eine subsidiäre Haftung vom Auftraggeber für Subunternehmer festgelegt wird. Aber auch hier müssen wir leider feststellen, daß die Unfähigkeit zur Einigung innerhalb der Bonner Regierungskoalition dazu führt, notwendige, die Sozialversicherungen sichemde Regelungen, zu verhindern.
3. Illegale Beschäftigung
Wer illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit systematisch bekämpfen will, muß unter Ausschöpfung aller Sanktionsmöglichkeiten hierbei vorgehen. Ein Mittel, um die Schattenwirtschaft abbauen zu können, sind Hilfen zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in Privathaushalten. Insbesondere bei den personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen besteht hier ein großes Potential an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, das derzeit eher durch Schwarzarbeit abgedeckt wird. Dazu zählen z. B. Pflegehilfen, Kinderbetreuung, Haushaltsarbeiten, ergänzende Dienstleistungen im Einzelhandel, im Hotel- und Gaststättengewerbe und einige einfache handwerksähnliche Dienstleistungen.
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8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Diese Beschäftigung wandert eher in den Schattenbereich ab, weil die Dienstleistungen für ihre Nachfrage zu teuer sind. Auf der anderen Seite reichen die hier zu erzielenden Löhne nicht aus, um von ihnen existieren zu können. Durch die Einführung von Dienstleistungsgutscheinen und Dienstleistungsagenturen kann das entsprechende Arbeitspotential gebündelt und in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überführt werden. Entsprechende erste Schritte werden in einem rheinland-pfälzischen Vorschlag verwirklicht, in dem Ausgaben für hauswirtschaftliche Tätigkeiten bis zu einer Höhe von 9.600,- DM auf die Steuerschuld angerechnet werden können. Eine solche progressionsunabhängige Vorgehensweise bedeutet im Gegensatz zum geltenden Steuerrecht eine Entlastung für jeden privaten Arbeitgeber, egal ob Großverdiener oder Bezieher eines mittleren oder niedrigeren Einkommens. Nur dann können möglichst viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse - auch in Teilzeitform - geschaffen werden. Bundesweit ergibt sich daraus ein Potential von mindestens 600.000 Teilzeitarbeitsplätzen in diesem Sektor.
4. Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen
Weitere Variablen auf der Einnahmenseite der Sozialversicherungen sind die Beitragsbemessungs- und die Versicherungspflichtgrenze. Hier gibt es vielfältige Vorschläge, die bis zu einer gänzlichen Abschaffung jeglicher Beitragsbemessungsgrenze reichen. Zu berücksichtigen ist dabei aber, daß kurzfristigen Einnahmesteigerungen längerfristig höhere Ausgaben entgegenstehen, da - dem Äquivalenzprinzip entsprechend - die Leistungen bei höheren Beiträgen steigen müßten. Eine Ausnahme stellt dabei die gesetzliche Krankenversicherung dar. Hier sollte meiner Ansicht nach darüber nachgedacht werden, die Versicherungspflichtund Beitragsbemessungsgrenze an die der gesetzlichen Rentenversicherung anzugleichen. 5. Mittel- und langfristige Reformen
Mittel- und langfristig werden wir die Probleme der Sozialversicherungen nur lösen, indem wir - von geringfügigen Ausnahmen abgesehen - jegliche Form von Erwerbstätigkeit sozialversicherungspflichtig gestalten. Dies würde im übrigen auch unserer zukünftigen Arbeitsgesellschaft gerecht werden, deren Leitbild nicht mehr der vollzeitbeschäftigte - ich füge hinzu: männliche - Arbeitnehmer ist, sondern ein Mix aus abhängiger Beschäftigung, Selbständigentätigkeiten, Zeiten für Eigenarbeit und Qualifizierung, ehrenamtlichen Tätigkeiten und Phasen der Neuorientierung.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
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Neben dem sozialversicherungspflichtigen Lohneinkommen der Haushalte haben andere Einkunftsarten (Kapitaleinkünfte) immer mehr an Bedeutung gewonnen. Dieser Entwicklung muß die Sozialversicherung Rechnung tragen, und das gesamte Einkommen der Sozialversicherungspflicht unterwerfen. Logischerweise gehört in ein solches Konzept auch, nicht Angestellte zu verbeamten, sondern den Beamtenstatus auf das unerläßlich Notwendige zu beschränken. Mehr Angestellte im öffentlichen Dienst sind gleichbedeutend mit mehr Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern für die Sozialversicherung.
V. Fazit Unsere sozialen Sicherungssysteme, und vor allem die Sozialversicherungen als Fundament dafür, sind weitgehend akzeptiert. Einer Untersuchung des in Berlin ansässigen Wissenschaftszentrums zufolge meinten 1994 in Westdeutschland 87% der Befragten, der Staat müsse dafür sorgen, daß man bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen habe. In den neuen Ländern waren es noch mehr, nämlich 96%. Dies zeigt, daß die sozialen Sicherungssysteme ein Garant für ein Leben in Würde und Freiheit - auch in sozialen Notlagen - sind. Und entgegen anderslautender Propaganda sind kollektive, soziale Sicherungssysteme, im Vergleich zu privaten, auch effizienter und weniger krisenanfällig. Ihr Verwaltungsaufwand ist geringer, sie vermeiden, daß die sozialen Kosten auf Dritte abgewälzt werden. Wo Reformen notwendig sind, habe ich versucht, aufzuzeigen. Meines Erachtens lohnt sich die Mühe, diese Aufgaben zu bewältigen. Der Sozialstaat garantiert aber nicht nur ein Leben in Würde, er ist auch Produktiv- und Standortfaktor. Und er ist eine notwendige Voraussetzung für unsere demokratische Gesellschaftsordnung. Ohne Sozialstaat ist die Demokratie ebenso wenig lebensfähig wie der Sozialstaat ohne Demokratie. Selbstverwirklichung, politische und kulturelle Teilhabe am Gemeinwesen und auch die zu Recht eingeforderte Leistungsbereitschaft der Menschen setzen soziale Sicherheit voraus. Individuelle Verarmung, persönliche Resignation, politische Apathie und - im Extremfall - gewalttätige Ausschreitungen unterminieren unsere Demokratie. Die Folgen sozialer Polarisierung beschädigen das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland und gefährden damit auch unsere Exportchancen. Letztlich werden unser Wohlstand und unsere Sicherheit bedroht, wobei ich nicht nur die soziale Sicherheit meine, sondern ausdrücklich auch die innere Sicherheit für uns alle. Aus alledem entsteht für mich daher die Notwendigkeit, den sozialen Konsens zu erneuern. Lassen sie uns diesen Weg gemeinsam gehen.
Arbeitsmarktkrise und soziale Sicherung Von Prof. Dr. Gerhard Kleinhenz Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg
I. Die Arbeitsmarktkrise als historische Bewährungsprobe für den Sozialstaat Im Jahresdurchschnitt 1997 hatten wir in Deutschland insgesamt 4,38 Mio registrierte Arbeitslose; der aktuelle Bestand Ende Februar 1998 betrug 4,82 Mio Arbeitslose. Die Prognosen der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung lassen für 1998 kaum eine deutliche Minderung der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit erwarten. Die Zahl der Arbeitslosen gibt uns jedoch den Gesamtumfang des Mangels an Arbeitsplätzen nur unzureichend wieder. Durch die Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung der Bundesanstalt für Arbeit wurde 1997 eine Entlastung des Arbeitsmarktes in Höhe von rund l ,2 Mio Personen erreicht. Die stille Reserve derer, die sich entmutigt vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, aber bei Verbesserung der Lage wieder Beschäftigung suchen werden, wird vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (lAB) auf etwa 2,4 Mio geschätzt. Alles in allem dürften uns also gesamtwirtschaftlich etwa 7- 8 Mio Arbeitsplätze fehlen. Die langanhaltende Arbeitsmarktkrise in Deutschland hat - wie auch frühere Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrisen - eine intensive Diskussion über die Leistungs- und Zukunftsfähigkeit des deutschen Sozialstaatmodells ausgelöst, in der sich Sorgen über tatsächliche Probleme und notwendige Reformen mit grundsätzlicher Ablehnung und mit Forderungen nach dem Abbau des Sozialstaates vermischen. • Da ist eine verbreitete Sozialstaatkritik, bei der - im Bild gesprochen - der Feuerwehrmann als Brandstifter beschimpft wird, indem die sozialstaatliehen Regulierungen am Arbeitsmarkt und die "Lasten" der Sozialen Sicherung als Hauptursachen der Standortschwäche der Bundesrepublik Deutschland und der langanhaltenden Massenarbeitslosigkeit dargestellt werden. 1 t V gl. H. Lampen I A. Bossert, 1987, Die Soziale Marktwirtschaft - eine theoretisch unzulänglich fundierte ordnungspolitische Konzeption?, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik, S. 109 ff. - Vgl. G. Kleinhenz, 1992, Die Zukunft des Sozialstaats. Spielraum für sozialen Fortschritt unter veränderten Rahmenbedingungen, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, S. 43 ff.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
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Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit
Stand:
~ "eJ 11 03. 1998
Ausmaß der Unterbeschäftigung 1997
1. Erwerbslose
3,0
1,4
4,4
(32.7)
(26,7)
(31,1)
Stille Reserve im engeren Sinne
1,4
0.5
1,9
Arbeitsplatzlücke i. e. Sinne
4,4
1,8
6,3
Kurzarbeit ABM Produktiver Lohnkostenzuschuß Vollzen - FuU Reha, Teilnehmer an Deutschlehrgangen AltersObergangsgekl, Altersteilzen Leistungsempranger (ab 58 Jahre) nach § 105 c AFG
0,04 0,06 0,01 0,22 0,06 0,00 0,13
0,02 0.20 0,10 0,18 0,01 0,06 0,08
0,06 0,27 0,12 0,39 0,06 0,06 0,21
Entlastung insgesamt
0,53
0,64
1,18
5,0
2,5
7,4
Registrierte Arbeitslose insgesamt darunter·
Ober ein Jahr (Anted in%: September 1996)
2. Entlastungseffekte durch Arbeitsmarktpolitik
13. Arbeitsplatzlücke im weiteren Sinne (1. + 2.) 4. Erwerbstätige (incl. ABM, prod. Lohnkostenzuschuß. Kurzarben und Altersteilzert)
15. Erwerbspersonenpotential Fazit:
Jeder Sechste des Potentials ohne regullren Arbeitsplatz Jeder Neunte des Potentlais arbeitslos registriert
Geringe Differenzen durch Runden der Zahlen
Quelle: Statistisches Bundesamt; Bundesanstalt für Arbeit; Berechnungen des lAB (Arbeitsbereich V/2).
448
8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
• Dabei könnte gerade dem Sozialstaat der historische Verdienst am "Gelingen der Einigung" zugeschrieben werden. 2 • Allerdings führte die Doppelbelastung des Sozialstaats durch die Ubernahme erheblicher Lasten aus der Vereinigung und die "Auszehrung" durch die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit an die Grenze der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und der Sozialen Sicherungssysteme. • Tatsächlich erleben wir neben den historisch besonderen Belastungen aus der Vereinigung gegenwärtig eine dreifache Gefährdung des Sozialstaats: durch die massive und anhaltende Beschäftigungskrise, durch die Globalisierung und durch die Alterung der Gesellschaft. • Die komplexe Krise des Sozialstaats macht jedoch auch grundlegende ökonomische Zusammenhänge erkennbar, die bei Umlageverfahren der Sozialen Sicherung gegeben sind. Die umlagefinanzierten Leistungen der Sozialen Sicherung erfordern eine Humankapitaldeckung durch die verfügbare Quantität und Qualität der Erwerbsbevölkerung und sie setzen die Möglichkeit der Verwertung des Humankapitals am Arbeitsmarkt voraus. Nimmt man die faktischen Gefährdungspotentiale und die Erosion der politischen Akzeptanz zusammen, dann erscheint es nicht übertrieben, gegenwärtig von der Gefahr eines Zusammenbruchs der sozialen Sicherungssysteme auszugehen, wenn die Arbeitsmarktkrise nicht bald überwunden werden kann. II. Gesamtgesellschaftliche Kosten der Arbeitslosigkeit Die Dringlichkeit der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit kann auch durch eine allgemeine Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Arbeitslosigkeit verdeutlicht werden. Arbeitslosigkeit bedeutet den Verlust möglicher Güter- und Dienstleistungsproduktion, Ausfall an Volkseinkommen, Steuern und Beitragseinnahmen. Die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit führt zu einem Selektionsprozeß mit der Konzentration der Arbeitslosigkeit auf besonders benachteiligte Arbeitnehmergruppen. Für den einzelnen bedeutet Langzeitarbeitslosigkeit den Verlust an Qualifikationen, die des stetigen Trainings bedürfen, die Gefahr der sozialen Ausgrenzung und eines Verlustes an SelbstwertgefühL Eine regionale Konzentration von Arbeitslosigkeit (wie z. B. in einigen Teilen Ostdeutschlands) kann den Nährboden für eine politische Radikalisierung abgeben. Quantitativ lassen sich gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit für 1997 von 40.076 DM pro Person ermitteln und als Mehrausgaben oder Mindereinnahmen den einzelnen Sicherungseinrichtungen zuordnen. 2 Vgl. G. Kleinhenz, 1997, Sozialpolitischer Systemwechsel: Von der sozialistischen zur marktwirtschaftliehen Sozialpolitik, in: R. Hauser I Th. Olk, Soziale Sicherheit für alle? S. 41 ff.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
der Bundesanstalt für Arbeit
Gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit 1996 Deutschland Für Arbeitslose 1) im Durchschnitt
Ausgaben I Mindereinnahmen
IMrd DMI
158,9
Pro Person und Jahr davon :
DM
40.076
Ausgaben Arbeitslosengeld I -hilfe - Leistung Alg I Alhi - Rentenversicherungsbeiträge Krankenversicherungsbeiträge - Pfiegeversicherungsbeiträge
DM " " " "
20.362 11 .858 4.853 3.332 319
Ausgaben Sozialleistungen - Sozialhilfe - Wohngeld
DM "
2.199 1.759 440
Mindereinnahmen Steuern - Einkommensteuer - Indirekte Steuern
DM " "
8.523 7.381 1.142
Mindereinnahmen Sozialbeiträge - Rentenversicherung (Saldo) - Krankenversicherung (Saldo) - Pfiegeversicherung (Saldo) - Bundesanstalt für Arbeit
DM "
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8.993 3.457 2.457 265 2.813
Bundesanstalt für Arbeit
DM
16.846
Bund Länder Gemeinden
DM
10.485 3.699 2.866
Rentenversicherung Krankenversicherung Pfiegeversicherung
DM
3.457 2.457 265
!Insgesamt
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Quelle: Berechnungen des lAB (Aktualisierung des lAB-Kurzberichts Nr. 6 vom II. 3. 1994).
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Wohnbevölkerung/ Erwerbspersonenpo tential
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Wohnbevölkerung/ Erwerbstätige
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Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen des lAB.
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2,75
(Westdeutschland , nach dem Wohnortskonzept)
Relation aus Wohnbevölkerung zu Erwerbstätigen, Erwerbspersonen und Erwerbspersonenpotential 1950 - 1996
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456
8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Demographische Belastungsquoten 1990 - 2030 - ohne Wanderungen -
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30
25
25
20
20
15
15
1990
2000
2020
2010
2030
• Anteil der Bevölkerung im Alter von unter 15 Jahren an der Bevölkerung im Alter von 15 bis unter 65 Jahren
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50
50
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40
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20
1990
2000
2020
2010
2030
• Anteil der Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und älter an der Bevölkerung im Alter von 15 bis unter 65 Jahren
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70
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50
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40
40 1990
2000
2010
2020
•Anteil der Bevölkerung im Alter von unter 15 Jahren und 65 Jahren und älter an der Bevölkerung im Alter von 15 bis unter 65 Jahren
Quelle: Berechnungen des lAB (VII 1 I).
2030
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
457
Eine Minderung des Arbeitsmarktungleichgewichts durch großzügige Vorruhestands- oder Altersteilzeitregelungen, die über eine Verjüngung der Erwerbstätigen auch produktivitäts- und wachstumsfördernd wirken könnte, verbietet sich allerdings im Blick auf die aktuelle Notwendigkeit der finanziellen Stabilisierung der Rentenversicherung in der Gegenwart. Daher bleibt gesamtgesellschaftlich als grundsätzlicher und zeitlich vorrangiger Ausweg für die Überwindung der Finanzierungsprobleme der Sozialen Sicherung nur eine entschiedene Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch eine Strategie für mehr Beschäftigung. IV. Massenarbeitslosigkeit,Wandel in der Arbeitswelt und Zukunftsfähigkeit der Sozialen Sicherung
Die Arbeitsmarktkrise verschärft auch den Wandel in der Arbeitswelt, der durch die Fortsetzungen des bisherigen Strukturwandels und das Zusammenwirken eines Bündels von technologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Megatrends bestimmt wird. Als die wichtigsten Entwicklungstrends im Wandel der Arbeitswelt können dabei gelten: Tertiärisierung, Qualifizierung, - Informatisierung, Internationalisierung (Globalisierung) und - Individualisierung. Informatisierung und Individualisierung begründen einen Trend der Entwicklung neuer, nichttraditioneller Arbeitsverhältnisse: • Tatsächliche Minderung des Normalarbeitsverhältnisses, insbesondere durch Arbeitszeitflexibilisierung 3 . • Entstehung neuer Formen der Erwerbsarbeit freie Mitarbeit, arbeitnehmerähnliche Selbständigkeit, befristete Tatigkeit in Projektteams etc. mit der Folge von Patch-Work-Biographien und perforierten Lebensläufen. • Vielfach wird in diesen Entwicklungen die Ablösung der Arbeitnehmergesellschaft durch die Gesellschaft der mündigen Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft gesehen ("Ende der Erwerbsarbeit"). Diese neuen Erwerbsformen entziehen sich vielfach der Sozialversicherungspflicht und gefährden somit die Finanzierungsbasis der Rentenversicherungen. 3 E. Hoffmann ! U. Walwei, 1998, Längerfristige Entwicklung von Erwerbsformen in Westdeutschland, in: lAB Kurzbericht Nr. 2. U. Walwei, 1998, Bestimmunsfaktoren für den Wandel der Erwerbsformen, in: lAB Kurzbericht Nr. 3.
30*
Viele können noch mit 60 in Rente
61 % können ohne Abschlag vorzeitig in Rente gehen
39% Frauen
Quelle: Johann Fuchs, "Prognose 2000: Zahl der älteren Arbeitskräfte bleibt hoch", !AB Kurzbericht 10/96; aktualisiert.
3 % wegen KOndigung/AufiOsungsvertrag vor dem 14.2.96
3 % wegen Schwerbehinderung, Erwerbs- oder Berufsunfahigkeit 16 % wegen Arbeitslosigkeit
39 % haben keine Möglichkeit für eine ungekürzte Rente mit 60
55- bis 59jährige im Jahr 1996, mit und ohne Abschlag auf die Rente bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente mit 60
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Ausweitung der Sozialversicherungsptlicht'J
1991
459
2010*
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II Primäre
28,3
·obere Vanante. ohne Berücksichtigung techmscher und sozioökonomischer Einflusse
Quelle: lAB I Tessaring 1994.
8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
460
Arbeitskräftebedarf nach Qualifikationsebenen 1976, 1991 und 2010 - ohne Auszubildende, Anteile in Prozent -
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Universität 90
Fachhochschule Fachschule
80 .
70
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60
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50 •
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30 -
20 ..
10 -
0
ohne Ausbildung
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1976
1991
2010
Quelle: Tessaring, in: MittAB I I 1994 (mittlere Projektionsvariante)- Geltungsbereich: Alte Bundesländer.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
Veränderung der Struktur der Arbeitsplätze nach Qualifikationsebenen• 1991/201 0 - Angaben in Prozent -
60
50
40
52,1
41,9
bis 30
20
10
1,3 0 ,
insgesamt -10
schulabschluß
-20
-30
-40
-50
-60 Quelle: Gesamt: Prognose 1993. Qualifikationsstruktur: Tessaring 1994 (Ergebnisse dreier Projektions varianten). Stand 01/96 Bundesanstalt für Arbeit.
461
462
8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
V. Wege zu mehr Beschäftigung und Anpassungsstrategien in der Politik Sozialer Sicherung Zu einer nachhaltigen Stabilisierung der Leistungsfähigkeit des umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems bedarf es zum einen im Bereich der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik a) kurz- und mittelfristig der Wiedererlangung eines hohen Beschäftigungsstandes, b) mittel- bis langfristig einer Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung mit Wachstumsraten des BIP über den tendenziell steigenden Produktivitätszuwachsraten (wozu steigende Humankapitalbildung und höhere Spar- und Investitionsquoten erforderlich erscheinen). Für einen mittelfristigen entscheidenden Abbau der Arbeitslosigkeit hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (lAB) 1996 aufgrund seiner makroökonometrischen Simulationsrechnungen ein Strategiebündel aus Beschäftigung ausweitenden (aktiven) und Beschäftigung umverteilenden (passiven) Maßnahmen bestimmt4 , das nach unserer Auffassung auch heute noch Geltung hat- es müßte nur auch umgesetzt werden Das Strategiebündel für mehr Beschäftigung umfaßt im einzelnen die Verringerung der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit über Verminderung der Überstunden (um ca. 40 %) und vor allem über mehr Teilzeitbeschäftigungen, eine längerfristig angelegte zurückhaltende Lohnpolitik, eine Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern sowie eine ebenfalls längerfristig angelegte Konsolidierung des Staatshaushaltes. Dieses Maßnahmenbündel verlangt konzertierte Schritte von allen Akteuren für den Arbeitsmarkt und es verspricht Akzeptanz, weil es die Lasten für den Weg aus der Krise nicht einseitig zuweist. Langfristig brauchen wir zur Überwindung der Arbeitsmarktkrise zum einen mehr Vertrauen in die in unserem Land m. E. ausreichend verfügbaren Fähigkeiten zum Bestehen der Herausforderungen des Strukturwandels und der Globalisierung, zum anderen mehr Wagemut, Gründergeist, gesellschaftliche Anerkennung für Kreativität und Entwicklung neuer Problemlösungen. Im Bereich der Politik Sozialer Sicherung bedarf es auf lange Sicht einer Fundamentalreform des Rentensystems, die einen ökonomisch optimalen Generationenvertrag mit der verstärkten Ausrichtung des Umlageverfahrens der Altersrente am jeweiligen Beitrag zur Humanvermögensbildung5 verwirklichen müßte. Der kollektive Generationenvertrag der Alterssicherung bedürfte vermutlich einer 4 Vgl. W Klauder I P. Schnur I G. Zika, 1996, Strategien für mehr Beschäftigung, in: lAB Kurzbericht Nr. 7. - Vgl. P. SchnurlU. WalweiiG. Zika, 1998, Wege zu mehr Beschäftigung, Strategiebündel des lAB immer noch tragfähig, in: lAB Kurzbericht Nr. 4. 5 Vgl. M. Werding, 1998, Zur Rekonstruktion des Generationenvertrages, Tübingen.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
463
Ergänzung durch eine (weltweite Anlage suchende und findende) Kapitalbildung, was aus Sicht der Versicherten zu einer verstärkten ergänzenden Eigenvorsorge durch Kapitalbildung für eine Lebensstandardabsicherung führen würde. Kurz- und mittelfristig sind eine Reihe von Einzelmaßnahmen zu überlegen, die in den einführenden Referaten schon angesprochen wurden. Hier sollen nur einige Aspekte ausgewählt werden. • Entlastung von den (insbesondere vereinigungsbedingten) "versicherungsfremden" Leistungen. Für die Beschäftigungseffekte kommt es auf die Gegenfinanzierung an. Nach den Simulationsrechnungen des IAB ergäbe sich eine Präferenz für eine Gegenfinanzierung durch eine Mineralölsteuer vor einer Mehrwertsteuererhöhung. • Eine Versicherungspflicht (nicht notwendig der Einbezug in gesetzliche Pflichtversicherung) für freie Mitarbeiter und neue Selbständige ist ein Gebot der Leistungsgerechtigkeit und der ökonomisch optimalen Allokation bei Existenz der Sozialhilfe. • Bei den 620/510 DM-Arbeitsverhältnissen könnte ein Ersatz der Pauschalbesteuerung durch einen gleichhohen Pauschalbeitrag zur Sozialversicherung (GRV + GKV) vorgenommen werden. Die Einkommen aus geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen könnten dann (evtl. mit ermäßigtem Steuersatz von 20 % bei Einkommen bis 50/100 Tsd. DM/Jahr) in die Einkorrunensbesteuerung einbezogen werden. • Vorruhestand, Anspruch auf Altersrente, Altersteilzeit Nach massiver Frühverrentung, insbesondere in den neuen Bundesländern, vollzogen wir mit der Rentenreform 1992, den gesetzlichen Regelungen 1996 und dem Entwurf der "Rentenreform 1999" eine Wende bei der Tendenz zu Frühverrentung und vorzeitigem Ruhestand, zur Stabilisierung der vor allem infolge der Vereinigungslasten und der Massenarbeitslosigkeit schon stark beeinträchtigten Rentenfinanzen. Damit wird mittelfristig eine weiter steigende Belastung der Rentenversicherung vermieden, aber auch auf eine mögliche Entlastung am Arbeitsmarkt mit beschleunigter Verjüngung des Erwerbspersonenpotentials verzichtet. Vor allem bei den Altersjahrgängen von 55 bis 59 Jahren (und von 60 bis 64 Jahren bei den Männern im Westen) könnte noch eine erhebliche Potentialverminderung erreicht werden. Z. B. könnte vermehrte Altersteilzeit nicht nur in Form von Blockmodellen, sondern durch intelligente Modelle (z. B. 112-2/3 Jahresarbeitszeit) zur schnelleren Arbeitsmarktintegration von Jüngeren beitragen. Bei dieser Wende in der Politik zur Frühverrentung ergibt sich das Problem der Gerechtigkeit bei der zugemuteten Lebensarbeitszeit, während wir bisher irruner nur auf die Gleichstellung in bezug auf die Alterseinkommen achten. Eine "gerechte" Zumutung von Lebensarbeitszeit könnte durch Begründung des Anspruchs auf Altersrente in Abhängigkeit von der "Lebensleistung" (z. B. orientiert an der Versicherungszeit und nicht am Lebensalter) erreicht werden.
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Erwerbspersonenpotential = Erwerbstätige + Arbeitslose + Stille Reserve
Erwerbstätige
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28
29
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Westdeutsche Arbeitsmarktbilanz 1965 - 1997
Quelle: !AB, StBA (Mikrozensus), Autorengemeinschaft 1998.
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506
8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Dahinter steht die Auffassung, daß sich wirtschaftliche Leistungsfähigkeit heute weniger denn je ausschließlich über das Arbeitseinkommen definieren läßt. c) Zusammenhang von Beitragsbemessung und Personenkreis Bei einer Ausweitung des Umfangs der Versicherungspflicht sind zwei Kombinationen aus Veränderungen des Personenkreises und der Beitragsbemessungsgrenze von Bedeutung: • Keine Änderung des bisher versicherungspflichtigen Personenkreises bei gleichzeitiger Erhöhung oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen bzw. Absenkung oder Aufhebung der Geringfügigkeilsgrenze
Für den versicherungspflichtigen Personenkreis bedeutet dies: - In der gesetzlichen Rentenversicherung kommt es aufgrund der Absenkung oder Aufhebung der Geringfügigkeitsgrenze zu einer Ausweitung der versicherungspflichtigen Arbeitnehmer. Und zwar um diejenigen, die bisher ausschließlich sozialversicherungsfrei beschäftigt waren. Erhöhungen oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen haben auf die Zahl der bisher versicherungspflichtigen Personen keine Auswirkung. - In gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung bewirkt sowohl die Absenkung oder Aufhebung der Geringsfügkeitsgrenze, als auch die Anhebung oder gar Aufhebung der als Versicherungspflichtgrenze fungierenden Beitragsbemessungsgrenze eine Ausweitung des versicherungspflichtigen Personenkreises. Die erste Maßnahme bewirkt eine Erweiterung um bisher ausschließlich sozialversicherungsfreie Beschäftigte, die zweite Maßnahme eine Erweiterung um bisher mit ihrem Arbeitsentgelt über der Beitragsbemessungsgrenze liegende, in der Rentenversicherung bereits sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer. Letzteres führt zusätzlich zu einer Neuabgrenzung der Zuständigkeiten zwischen gesetzlicher Versicherung und Privatversicherung. Abhängig vom Umfang der dadurch bewirkten Ausweitung des versicherungspflichtigen Personenkreises kann es zu einer Existenzbedrohung für die private Versicherungswirtschaft kommen. Hinsichtlich der Beitragsbemessung verändert sich die Höhe des beitragspflichtigen Entgelts, es bleibt aber bei der ausschließlichen Beitragspflicht von Arbeitsentgelt bzw. Arbeitseinkommen. Auf der Seite des Leistungsrechts ergeben sich jedoch für die ehemals geringfügig beschäftigten Personen erhebliche Anderungen. - In der gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet dies, daß durch Erhöhung oder Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze höhere Entgelte als bisher versichert werden und folglich auch höhere Rentenansprüche erworben werden können. Die ehemals geringfügig beschäftigten Personen erwerben aus ihrem
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
507
erzielten Arbeitsentgelt zum Teil erstmals Leistungsansprüche, zum Teil erweitern sie ihre vorhandenen Ansprüche. Da die Beitragsleistung aufgrund des geringen Arbeitsentgelts gering ausfällt, müßte in einem solchen Fall über die Einführung von Sonderregelungen auf der Leistungsseite (z.B. bei Rehabilitationsmaßnahmen) für diesen Personenkreis nachgedacht werden. - In der gesetzlichen Krankenversicherung hingegen hat ein höheres beitragspflichtiges Entgelt nur Einfluß auf die entgeltbezogenen Leistungen wie Kranken- und Mutterschaftsgeld, nicht auf die dominierenden Sachleistungen. Die ehemals geringfügig Beschäftigten erwerben aus dieser Beschäftigung erstmals Ansprüche auf Krankengeld und entgeltbezogenes Mutterschaftsgeld. In der sozialen Pflegeversicherung haben höhere beitragspflichtige Entgelte keinen Einfluß auf die Leistungsansprüche. Der bisherige Charakter der Sozialversicherung als Arbeitnehmerpflichtversicherung bleibt also erhalten. • Personenkreis ausweiten bei Einbeziehung zusätzlicher Einkommensarten
Die Ausweitung des versicherungspflichtigen Personenkreises kann zur Einbeziehung aller Selbständigen, aller Erwerbstätigen oder der gesamten Bevölkerung in die Sozialversicherung führen. Die Einbeziehung zusätzlicher Einkommensarten ist die logische Konsequenz daraus, denn je weiter der versicherungspflichtige Personenkreis ausgedehnt wird, desto weniger adäquat ist die alleinige Berücksichtigung von Arbeitsentgelt bzw. Arbeitseinkommen als Beitragsbemessungsgrundlage. Ob und in welchem Umfang dabei die Beitragsbemessungsgrenzeerhöht wird, ist in diesem Zusammenhang von eher untergeordneter Bedeutung. Dies gilt in der gesetzlichen Rentenversicherung auch hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Reitragsleistung und Leistungshöhe. In der Rentenversicherung kann die Rente bei Einbeziehung zusätzlicher Personenkreise und zusätzlicher Einkommen keine Lohnersatzleistung im herkömmlichen Sinn mehr sein. Die Rente ersetzt dann nicht mehr ausschließlich ausfallendes Arbeitseinkommen, sie beruht auch auf Beiträgen aus Vermögenseinkünften. Und dies obwohl Zinseinkünfte, Mieten, Pachten und ähnliches - anders als das Arbeitseinkommen - nicht zwangsläufig mit Erreichen der Altersgrenze wegfallen. Und die Dynamisierung der Renten kann sich nicht mehr allein an der Entwicklung des verfügbaren Nettoentgelts orientieren, da die Beitragseinnahmen nicht mehr allein von der Entwicklung der Arbeitsentgelte abhängen. In gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung verliert die Beitragsbemessungsgrenze ihre Zusatzfunktion als Versicherungspflichtgrenze und damit als Abgrenzung gegenüber der privaten Versicherung. Auf der Leistungsseite ergeben sich nur Konsequenzen für Geldleistungen der Krankenversicherungen. Dieser Weg führt zur Erwerbstätigen- oder Volksversicherung.
508
8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
IV. Schlußfolgerungen
Ich will mein abschließendes Fazit in drei Punkten zusammenfassen. Meine erste Schlußfolgerung:
Solidarität innerhalb einer Gemeinschaft setzt ein gewisses Mindestmaß an Homogenität der Mitglieder voraus, ohne das kein Zusammengehörigkeitsgefühl und folglich keine Bereitschaft für gegenseitiges füreinander einstehen möglich ist. Je homogener eine Solidargemeinschaft ist, je ähnlicher die Lebenssituationen und damit auch die Lebensrisiken, denen sich die einzelnen Gemeinschaftsmitglieder ausgesetzt sehen, desto eher ist eine auf Solidarität beruhende soziale Absicherung möglich. Diese Erkenntnis war der Grundgedanke bei Einführung der Sozialversicherung. Daraus lassen sich für Gegenwart und Zukunft folgende Schlüsse ziehen: • Die Sozialversicherung beruht auf der - wie es die Sozialrechtier nennen "Wegtypisierung" der individuellen Risiken, was die Finanzierung über einkommensbezogene anstelle von risikobezogenen Beiträgen ermöglicht. Dies setzt einerseits das bereits angesprochene Mindestmaß an Homogenität der Mitglieder und andererseits Versicherungspflicht voraus. Nur die Versicherungspflicht gewährleistet einerseits, daß die Solidargemeinschaft ausreichend groß ist, damit sich gute und schlechte Risiken untereinander ausgleichen können, und verhindert andererseits, daß sich gute Risiken der Solidarität entziehen. Die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer und arbeitnehmerähnliche Selbständige stellen eine Personengruppe dar, die ausreichend groß und ausreichend homogen ist. Dies setzt allerdings voraus, Erosionserscheinungen und Flucht aus der Versicherungspflicht energisch zu begegnen. • Wenn der Gesetzgeber Personengruppen versicherungspflichtig macht, übernimmt er damit die Verantwortung, die Versicherungspflichtigen vor unzumutbaren Belastungen zu bewahren. Dies gilt auch hinsichtlich der Konsequenzen, die sich aus Veränderungen in der Abgrenzung des geschützten Personenkreises ergeben, und zwar sowohl für die Pflichtversicherung als auch für die freiwillige Versicherung. Wem die Entscheidung freisteht, ob er einer Solidargemeinschaft der Sozialversicherung angehören will, wird sich überlegen, ob dies für ihn voraussichtlich eher von Vorteil oder eher von Nachteil ist. Diese rationale Abwägung hat zur Folge, daß sich - in der nüchternen Sprache der Versicherungstechnik für gute Risiken Chancen für eine günstigere Absicherung außerhalb der Sozialversicherung bieten, für schlechtere Risiken hingegen nicht. Tendenziell werden die Solidargemeinschaften der Sozialversicherung über die freiwillige Versicherung also eher mit schlechten Risiken belastet als durch gute Risiken entlastet. Einschränkungen in der Berechtigung zur freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Voraussetzung vorangegangener Versicherungspflicht als Anspruchsgrundlage für viele Leistungen in der Rentenversicherung resultieren hieraus.
Ausweitung der Sozialversicherungspflicht?
509
Meine zweite Schlußfolgerung:
Das Konzept des Sozialstaats verlangt - ich habe eingangs darauf hingewiesen einen Ausgleich widerstreitender Ziele und der sich daraus ergebenden Konflikte. Die Versicherungspflicht auszuweiten, gar eine sogenannte Volksversicherung einzuführen, beschwört einen Konflikt zwischen der Freiheit des Individuums und sozialstaatlicher Bevormundung herauf. Der Sozialstaat hat auf diese Konfliktlage stets mit dem Argument der Schutzbedürftigkeit reagiert. Schutzbedürftig und damit versicherungspflichtig ist, wer bei allgemeiner und typisierender Betrachtung nicht in der Lage ist, für die großen Lebensrisiken aus eigener Kraft vorzusorgen. Und umgekehrt: Wer über die wirtschaftliche Leistungsfahigkeit für eigenverantwortliche Vorsorge verfügt, ist nicht schutzbedürftig und damit nicht versicherungspflichtig. Dieser Grundsatz, dem einzelnen zu überlassen, was er aus eigener Kraft bewältigen kann, entspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Beriicksichtigt man, daß eine Ausweitung des versicherungspflichtigen Personenkreises neben dem Konflikt zwischen individueller Freiheit und Eigenverantwortung und sozialstaatlicher Bevormundung auch zu einer Zunahme der Heterogenität des erfaßten Personenkreises führt, dann liegen folgende Konsequenzen nahe: • Eine Ausweitung des Personenkreises und die Einbeziehung zusätzlicher oder gar aller Einkunftsarten in die Beitragsbemessung legen es nahe, die Beitragsbemessungsgrenze im Vergleich zum heutigen Niveau abzusenken. Dies wäre schon deshalb angebracht, um die Beitragsbelastung der zusätzlich einbezogenen Pflichtversicherten zu begrenzen. Eine denkbare Ergänzung wären auch einkommens- und einkunftsunabhängige Mindest- und Höchstbeiträge, wodurch sich neben einer Begrenzung der Beitragsbelastung auch eine aufwendige Einkommensfeststellung vermeiden ließe. Dies wäre insbesondere für Personen, die kein laufendes oder regelmäßiges Erwerbseinkommen beziehen, von Vorteil. • Eine Ausdehnung der Versicherungspflicht ist mit einer generalisierenden Unterstellung von Schutzbedürftigkeit gleichzusetzen. Soll unter diesen Bedingungen das Subsidiaritätsprinzip noch Geltung haben, dann folgt daraus zwingend, den Umfang der Absicherung zu begrenzen, um die Fähigkeit zur eigenständigen und ergänzenden Vorsorge nicht über Gebühr zu schmälern. Auch dies spricht eindeutig für eine Niveauabsenkung der Beitragsbemessungsgrenze. Wobei ausdrücklich keine - zumindest keine dauerhafte - Festschreibung der Beitragsbemessungsgrenze gemeint ist. Es spricht vieles dafür, daß eine Ausdehnung der Versicherungspflicht, je umfassender sie ausfällt, der Tendenz nach zu einer Mindest- oder Grundsicherung führt.
510
8. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Meine dritte SchluBfolgerung:
Eine Diskussion um das Für und Wider einer Ausweitung der Versicherungspflicht kann nicht geführt werden, ohne die künftige demographische Entwicklung mit einzubeziehen. Den versicherungspflichtigen Personenkreis heute auszuweiten bedeutet, daß die von diesen Personengruppen durch deren Beiträge erworbenen Ansprüche in Zukunft finanziert werden müssen. Aus Sicht der Rentenversicherung hat dies zur Folge, daß nach einigen Jahrzehnten die Beiträge der zusätzlichen Beitragszahler zu zusätzlichen Rentenansprüchen führen werden. Dies trifft dann mit der absehbaren demographischen Spitzenbelastung in den Jahren nach 2030 zusammen. Aus der anfänglichen Entlastungswirkung zusätzlicher Beiträge wird dann eine Belastungswirkung durch zusätzliche Rentenzahlungen. Allerdings ist jede umlagefinanzierte Sozialversicherung auf Konstanz des versicherungspflichtigen Personenkreises angewiesen. Deshalb ist es erforderlich, Erosionserscheinungen und Mißbrauch vorzubeugen. Diese Einsicht kommt auch in der Entschließung zum Ausdruck, die der Deutsche Bundestag anläßlich der Verabschiedung des Gesetzes zur Finanzierung eines zusätzlichen Bundeszuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung im Dezember 1997 gefaßt hat. Der Bundestag verpflichtet sich darin dazu, die Themenkreise geringfügige Beschäftigung und Scheinselbständigkeit mit dem Ziel der Erarbeitung einer den unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen gerecht werdenden Gesamtlösung weiter zu beraten. Meine Damen und Herren, aus dem Sozialstaatskonzept läßt sich nicht eindeutig Abgrenzung und damit Umfang des in einer Sozialversicherung zu versichernden Personenkreises herleiten. Die historische Entwicklung belegt: Veränderungen des erfaßten Personenkreises setzen eine neue Konzeption von Sicherungsauftrag und Sicherungsziel als Grundlage für die Beitragsbemessung voraus.
Reform der Hinterbliebenenrenten 9. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 29./30. März 1999
Demographische Entwicklung, eigenständige Alterssicherung: Wie reformfähig ist die Sozialrente? Von Staatsminister Florian Gerster
Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit, Rheinland-Pfalz, Mainz
I. Rentenreformaufgaben
Als eine ihrer ersten Maßnahmen änderte die jetzige Bundesregierung das Rentenreformgesetz 1999. Es handelte sich bei den Änderungen allerdings nur um erste Korrekturen, die großen Reformaufgaben in der gesetzlichen Rentenversicherung stehen noch bevor. Dabei genießt die relative Stabilität der Rentenbeitragssätze eine hohe politische Priorität. Die demographische Entwicklung spielt eine besondere Rolle, das heißt, die zunehmende Alterung unserer Bevölkerung. Diese Entwicklung führt in der Tendenz dazu, dass immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Renten aufkommen müssen. Vor diesem schwierigen Hintergrund müssen in einigen Teilbereichen der Rentenversicherung konkrete Reformaufgaben gelöst werden. Zu den wichtigsten gehört zweifellos die Modemisierung der Alterssicherung der Frauen.
II. Unterschiede in der Alterssicherung von Frauen und Männern
Sieht man einmal von den unterschiedlichen Altersgrenzen ab, behandelt das Recht der Rentenversicherung Männer und Frauen formal im Wesentlichen gleich. Probleme ergeben sich aber aus den typischen Biographien der Frauen, die sich von denjenigen der Männer deutlich unterscheiden. Für die Alterssicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung zeigt sich das an der Anzahl der Entgeltpunkte, die Frauen im Vergleich zu den Männem bis zum Eintritt in die Rente gesammelt haben. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Frauen gehen seltener einem eigenen Beruf nach als Männer, und sie verdienen im Schnitt weniger als ihre männlichen Kollegen. In den meisten Fällen weisen ihre Erwerbsbiographien erhebliche Lücken auf, meistens deshalb, weil sie Kinder erziehen oder Angehörige pflegen und sich deshalb bewusst gegen eine eigene Berufstätigkeit entschieden haben. Frauen, die arbeiten, haben häufig die Doppelbelastung von Beruf und Familie zu tragen und sind deshalb auf Teilzeitarbeit beschränkt.
514
9. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Obwohl der Trend zur Frauenerwerbsarbeit durch die schwierige Situation am Arbeitsmarkt zum Teil verdeckt wird, ist sie doch für jeden gut erkennbar.
111. Die Hinterbliebenenrente nach geltendem Recht
Für die Frauen, die heute bereits im Rentenalter sind, gilt diese Realitätsbeschreibung dagegen meistens nicht. Sie gehören einer Generation an, bei der eine traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau noch eher die Regel als die Ausnahme war. Dass das eigene Rentenkonto in den meisten Fällen nicht ausreicht, um im Alter ein Auskommen zu haben, ist bislang deshalb vielleicht eher hinnehmbar gewesen. Eine nur unzureichende eigenständige Sicherung kann bekanntlich durch Teilhabe an der Alterssicherung des Ehepartners ausgeglichen werden. Zu dessen Lebzeiten geschieht dies durch die normale Einkommensumverteilung innerhalb der Ehegemeinschaft. Verstirbt ein Partner, so erhält die Witwe - oder auch der Witwer - eine vom Rentenkonto des Hinterbliebenen abgeleitete Rente. Nach dem Gesetz unterscheidet man eine große und eine kleine Witwen- bzw. Witwerrente. Die große Rente beträgt 60 Prozent der Versichertenrente und wird bezahlt, wenn die Witwe oder der Witwer ein Kind unter 18 Jahren erzieht, das 45. Lebensjahr vollendet hat oder berufs- bzw. erwerbsunfähig ist. Ist keine dieser Voraussetzungen erfüllt, erhält der oder die Hinterbliebene die kleine Rente in Höhe von 25 Prozent der Versichertenrente. Die Rente der Witwe bzw. des Witwers beträgt in jedem Fall nur einen Teil der Rente des Versicherten. In der Regel führt dies dazu, dass hinterbliebene Frauen im Alter über weniger Einkommen verfügen als Männer. Ihre eigene Sicherung ist meistens schlechter ausgebaut und sie überleben ihre Partner häufiger als umgekehrt. Bei allen Schwierigkeiten, die Kleinstrenten von Frauen mit sich bringen, kann die Altersarmut in den meisten Fällen verhindert werden. Unser Sozialstaat kann diese Defizite ausgleichen, aber natürlich nur dann, wenn sie von den Bedürftigen auch in Anspruch genommen werden.
IV. Reformbedarf bei der Hinterbliebenenrente Das sich verändernde Rollenverständnis und die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen führten teilweise dazu, dass es sogar zulässig erschien, sich vor dem Hintergrund knapper Rentenkassen Gedanken über eine zu üppige Sicherung zu machen. Eine Überversorgung konnte bei einer Kombination aus der Hinterbliebenenrente mit einer eigenen Rente oder sonstigem eigenen Einkommen entstehen. Deshalb wird seit einigen Jahren eigenes Einkommen, das einen bestimmten Freibetrag übersteigt, angerechnet.
Reform der Hinterbliebenenrenten
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Die Kürzung der Hinterbliebenenrenten durch Anrechnung eigenen Einkommens ist nur möglich, weil das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Hinterbliebenenrenten nicht dem grundgesetzliehen Eigentumsschutz unterliegen. Sie beruhen nicht auf einer erhöhten Beitragsleistung des Versicherten oder auf einer eigenen Beitragsleistung des Hinterbliebenen. Die Hinterbliebenenrenten stellen keine Gegenleistung für die Beitragsleistung des Verstorbenen dar. Dass die Höhe der Hinterbliebenenrenten bis zu einem gewissen Grad von der Bedürftigkeit des Leistungsbeziehers abhängig gemacht wird, ist mit der höchstrichterlichen Entscheidung somit zu vereinbaren. Trotz der Reform der Hinterbliebenenrente ist deren Konzeption teilweise inkonsequent, weil die verschiedenen Einkommensarten nur unvollständig erfasst werden. Angerechnet werden zwar Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen wie zum Beispiel Krankengeld, Verletztengeld und andere Renten aus der Sozialversicherung. Es bleiben aber Vermögenseinkünfte sowie Leistungen aus der betrieblichen Alterssicherung und privaten Vorsorgessystemen unberücksichtigt. Auch kann die Anrechnung des Einkommens dazu führen, dass die Hinterbliebenenrente der Rentenversicherung vollständig ruht, während bei Pensionsansprüchen von Hinterbliebenen mindestens 20 Prozent der Ansprüche erhalten bleiben. Ein weiterer Schwachpunkt besteht darin, dass sich der Eigentumsschutz der Rentenanwartschaften eben nicht auf die Hinterbliebenen erstreckt und die Sicherung der Hinterbliebenen somit zumindest theoretisch zur Disposition des Gesetzgebers steht. Das heutige System der Hinterbliebenenrente versagt bei manchen Gruppen. Alleinerziehende Frauen beispielsweise haben keinen oder allenfalls nur einen beschränkten Zugriff auf das Rentenkonto oder eine sonstige Altersvorsorge eines Ehemanns, weil es diesen nicht mehr gibt oder noch nie gab. Auch ein volles Berufsleben bleibt für sie meist Illusion. An diese Personengruppe müssen wir besonders denken, wenn wir davon sprechen, dass die Rentenversicherung armutsfest gestaltet werden muss. Reformbedarf besteht aber vor allem deswegen, weil eine eigenständige Alterssicherung dem heutigen Leitbild der gesellschaftlichen Rollenverteilung von Mann und Frau viel eher entspricht als eine abgeleitete Sicherung. Die veränderten gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen geben die Richtung der Altersversorgung vor.
V. Eigenständige Alterssicherung der Frauen
Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, die verbesserte Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten und Anrechnung von Pflegetätigkeiten führen zu einem höheren Polster von Entgeltpunkten auf den Rentenkonten weiblicher Versicherter.
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Durch die Rentenreform von 1992 wurden die Kindererziehungszeiten pro Kind auf drei Jahre ausgeweitet. Die Ausdehnung gilt allerdings nur für Geburten ab dem Jahr 1992. Sie wird sich also erst bei den zukünftigen Rentnerinnen und Rentnern auswirken. Die Entgeltpunkte, die hierfür vergeben werden, erhöhen sich seit dem 1. Juli 1998 schrittweise auf 100 Prozent. Diese Erhöhung bezieht sich auf alle Geburten, also auch auf die vor 1992. Ein Jahr an Kindererziehungszeit führt zu einer Rentensteigerung bei der Altersrente von gut 40 Mark monatlich. Dieser Betrag wird in der kommenden Zeit noch einmal erheblich steigen, bis nach dem 30. Juni 2000 die Endstufe der Anerkennung von 100 Prozent erreicht sein wird. Auch für die häusliche Pflege werden mittlerweile von der Pflegeversicherung Beiträge an die gesetzliche Rentenversicherung abgeführt. Die Bemessungsgrundlage für die Beiträge ist nach der Pflegebedürftigkeit gestaffelt. Dadurch kann eine Rentensteigerung bei der regulären Altersrente von etwas unter 40 Mark monatlich erzielt werden. Hier wurden also wesentliche Verbesserungen in Bezug auf eine eigenständige Absicherung der Frauen erreicht. Gerade auch weil sich die Alterssicherung der Frauen in Zukunft tendenziell verbessern wird, gerät die bislang bestehende Regelung unter Druck. Es wird nicht ausreichen, die Hinterbliebenenrenten in dem Maße zu kürzen, in dem die Anwartschaften bei anderen Gruppen, beispielsweise Frauen, steigen werden. Der Angleichungsprozess geht nur allmählich voran, die Entwicklung nimmt nicht alle Gruppen mit, und es gibt strukturelle Ursachen, die diesen Prozess behindern.
VI. Vorschläge zur Neuordnung der Alterssicherung von Frauen
Es gibt verschiedene Vorschläge zu einer Neuordnung der Alterssicherung von Frauen. Im Mittelpunkt der Konzepte, die einer eigenständigen Sicherung mehr Gewicht beimessen wollen, steht das Splitting von Rentenanwartschaften. Das Splitting orientiert sich an den Instrumenten des Versorgungsausgleichs. Die während der Ehe erworbenen Anwartschaften eines Partners werden bei Auflösung der Ehe auf beide Partner verteilt. Diese Leistungsansprüche bleiben auch bei einer Wiederheirat erhalten. Demnach zeichnen sich die dem Splitting folgenden Reformmodelle dadurch aus, dass die Rentenanwartschaften geteilt werden. Diese Anwartschaften müssen beiden Ehepartnern zu gleichen Teilen auf das jeweils eigene Rentenkonto zugeschrieben werden. Hier liegt der prinzipielle Unterschied zu den bisherigen Hinterbliebenenrenten, die keine eigenständige Sicherung des Ehepartners beinhalten. Im Gegensatz zu den bisherigen Hinterbliebenenrenten bezieht sich das Rentensplitting automatisch auf die Dauer der Ehezeit Nur die Anwartschaften, die während dieser Zeit er-
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warben wurden, werden geteilt. Je kürzer die Ehedauer ist, umso kleiner ist der Anteil, der in das Splitting mit einbezogen wird. Bei der Ausgestaltung der Splitting-Modelle muss die Entscheidung getroffen werden, zu welchem Zeitpunkt das Splitting stattfinden soll. Je früher es durchgeführt wird, umso stärker wird die Stellung des Partners mit der schwächeren Erwerbsbiographie. Als konsequenteste Lösung in diesem Sinne könnte das Splitting theoretisch bereits im Zeitpunkt des Entstehens der Anwartschaften durchgeführt werden. Aus praktischen Gründen scheidet diese Lösung allerdings aus. Da Rentenanwartschaften permanent entstehen, würde dies ein laufendes Splitting nach sich ziehen. Der Aufwand, der zur Durchführung des Versorgungsausgleichs bei Ehescheidungen notwendig ist, macht deutlich, dass ein permanentes Splitting nicht möglich ist. Hinzu kommen verfassungsrechtliche Vorgaben. Zumindest auf eine Anforderung sollte in diesem Zusammenhang hingewiesen werden, nämlich auf den grundgesetzlichen Eigentumsschutz, dem selbsterworbene Rentenanwartschaften unterliegen. Folgern lässt sich hieraus, dass diese nicht einfach durch ein Splitting weggekürzt werden können. Jedes Splitting, das vor dem Tod des versicherten Ehegatten einsetzt, bedarf bereits allein aus diesem Grund kompensierender Maßnahmen, die den Eigentumsschutz garantieren. Denkbar wäre möglicherweise ein Splitting auf Antrag. In jedem Fall bedarf es jedoch weiterer begleitender Maßnahmen. Betrachten wir zum Beispiel ein Splitting mit dem ersten Rentenfall, also ein Splitting, das durchgeführt wird, wenn der erste Ehepartner in Rente geht. Nehmen wir an, es handle sich um den Musterfall des Eck-Rentners mit 45 durchschnittlichen Beitragsjahren. In den alten Bundesländern steht ihm zurzeit eine monatliche Rente von 2145 Mark zu. Hiervon bestreitet er seinen Unterhalt und denjenigen seiner Frau, die die Altersgrenze, so nehmen wir an, noch nicht erreicht hat und über keine eigenen Anwartschaften verfügt. Das Splitting würde nun mit der Verrentung von Herrn Mustermann durchgeführt. Wird das gesamte Rentenkonto einbezogen, halbierte sich bei einem Splittingfaktor von 0,5 das Haushaltseinkommen des Paars auf weniger als 1.100 Mark. Das Paar müsste zum Sozialamt gehen. Den Eintritt dieses Falls verbietet schon der Eigentumsschutz des Grundgesetzes. Der Ehemann muss seinen Rentenanspruch auf alle Fälle in voller Höhe realisieren können, solange er lebt. Ein gesetzlich vorgeschriebenes Splitting zu diesem Zeitpunkt ohne Kompensation ist folglich nicht möglich. Zu einer ähnlichen Konstellationen könnte es auch kommen, wenn der Mann stirbt, bevor die Frau in Rente gehen kann. In diesem Fall wäre möglicherweise auch dann Kompensationsbedarf gegeben, wenn das Splitting zum letzten denkbaren Zeitpunkt durchgeführt wird, nämlich mit dem Tod des versicherten Ehepartners. Die Ehefrau müsste dann mit der Hälfte der Rente ihres Mannes auskommen.
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Sie muss davon zwar nur ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten, doch auch das kann knapp werden, denn Ersparnisse aufgrund der gemeinsamen Haushaltsführung fallen jetzt nicht mehr an. Die Frau würde sich schlechter stellen als nach der jetzt geltenden Rechtslage, nach der ihr eine große Witwenrente in Höhe von 60 Prozent der Rente ihres Mannes zustehen würde. Wir müssen aber auch kalkulieren, dass sie eventuell erst spät geheiratet hat und dementsprechend weniger Anwartschaften geteilt werden. Auch könnte es sein, dass der Ehemann nicht 45 Entgeltpunkte, sondern weniger auf seinem Konto hat. Aus all dem folgt, dass ein Splitting von anderen Maßnahmen begleitet werden muss.
VII. Begleitende Maßnahmen Selbst wenn es zulässig wäre, in das Splitting auf Antrag Anwartschaften vor dem offiziellen Zeitpunkt der Eheschließung einzubeziehen und den Splittingfaktor zu modifizieren, müssten verbleibende Härten abgefedert werden. Es könnten die bisherigen Hinterbliebenenrenten ergänzend beibehalten bleiben. Eine bedarfsorientierte Mindestsicherung ist ein Vorschlag, der diskutiert werden muss. Im Vergleich zu den Instrumenten, die bereits bei der Förderung der Rentenbiographie ansetzen, ist sie unter Umständen sparsamer. Eine bedarfsorientierte Mindestsicherung wartet ab, ob die Betroffenen in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Erst dann, wenn sich herausstellt, dass im Alter kein ausreichendes Einkommen vorhanden ist, kommt sie zum Zuge. Das minimiert den Einsatz öffentlicher Mittel. Angesichts des Ziels der relativen Beitragssatzstabilität ist eine solche Mindestsicherung, finanziert durch staatliche Zuschüsse, deshalb grundsätzlich ein ernst zu nehmender Reformvorschlag. Die Mindestsicherung könnte jedoch nur dann einen Platz im System der gesetzlichen Rentenversicherung einnehmen, wenn ihre Leistungen auf langjährig Versicherte beschränkt blieben. Weitere Bedenken bestehen darin, dass sie von ihrem Charakter her bislang nicht in unser System der gesetzlichen Rentenversicherung passt. Auch den Eigentumsschutz selbsterworbener Rentenanwartschaften bei einem Splitting vor dem ersten Todesfall könnte eine solche Mindestsicherung nicht gewährleisten. Sie zielt auf einen bestimmten Bedarf ab und verlangt eine Bedürftigkeitsprüfung. Gerade die langjährig Versicherten werden in der Regel einer bedarfsorientierten Mindestsicherung nicht bedürfen, denn sie konnten über einen langen Zeitraum hinweg eigene Entgeltpunkte sammeln. Auf sie wäre jedoch die Mindestsicherung zu konzentrieren. Eine Einrichtung unter dem Dach der gesetzlichen Rentenversicherung könnte sonst nicht gerechtfertigt werden. Das heißt, dass die Mindestsicherung ein schlankes Instrument sein wird. Vielleicht lassen sich dadurch die Bedenken hinsichtlich eines Systembruchs etwas relativieren. Schließlich enthält
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bereits das gegenwärtige System bedarfsorientierte Elemente, ich hatte es am Beispiel der Einkommensanrechnung erwähnt. Die langjährigen Inhaber von Teilzeitarbeitsplätzen dürften beispielsweise nur selten in den Genuss einer bedarfsorientierten Grundsicherung kommen. Häufig auch dann nicht, wenn sie im Alter zu den Bedürftigen gehören. Dies liegt daran, dass geringfügige Beschäftigungsverhältnisse bisher nicht der Versicherungspflicht der gesetzlichen Rentenversicherung unterlagen. Das Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, das in diesen Tagen in Kraft treten wird, soll hier Abhilfe schaffen. Die rentenrechtlichen Wirkungen kommen auf der Leistungsseite jedoch erst in vielen Jahren zum Tragen.
VIII. Unterstützung eigenständiger Rentebiographien: Das Mainzer Modell
Für einen 630-Mark-Job errechnet sich ungefähr ein Siebtel eines Entgeltpunkts pro Jahr. Das entspricht einer monatlichen Altersrente von weniger als 7 Mark im Monat. Selbst wenn einer solchen Beschäftigung 45 Jahre nachgegangen würde, käme man auf eine monatliche Altersrente von ungefähr 300 Mark im Monat. Als Zubrot ist das ein willkommener Betrag. Als tragende Einkommenskomponente im Alter reicht es nicht aus. Betroffene Menschen im Bedarfsfall nur auf die bedarfsorientierte Mindestsicheruung zu verweisen, auf die sie zukünftig dann unter Umständen Anspruch hätten, wäre nicht sinnvoll. Hier ist eine vorausschauende und vorsorgende Politik zu betreiben, die solche Bedürftigkeit vermeidet, ohne dass dies zu hohen Kosten führt. Eine Möglichkeit, an dieser Stelle anzusetzen, bietet das "Mainzer Modell". Es wurde unter maßgeblicher Beteiligung des Sozialministeriums konzipiert und geht insofern über die jetzige Regelung der 630-Mark-Jobs hinaus, als es verschiedene Handlungsfelder verzahnt. Wie bei der nun getroffenen gesetzlichen Neuregelung sollen Erwerbseinkommen bis zu einem Bruttolohn von 630 Mark im Monat der Versicherungspflicht der gesetzlichen Rentenversicherung unterworfen werden. Dass dabei eine neue Geringfügigkeitsgrenze bei 300 Mark festgelegt werden soll, spielt in diesem Zusammenhang nicht die entscheidende Rolle. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Schallmauer von 630 Mark nach oben durchbrochen werden kann. Nach der gesamtdeutschen Gehalts- und Lohnstrukturerhebung 1995 gab es im Einkommenssegment zwischen 620 und 1.400 Mark im Bereich der gewerblichen Wirtschaft lediglich 66.309 Beschäftigungsverhältnisse. In diesem Bereich ist eine Beschäftigung zurzeit unattraktiv. Diese Schallmauer wird auch durch die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse nicht beseitigt. Ein Überschreiten dieser Schwelle führt auch weiterhin zu Einkommensverlusten für die Arbeitnehmer. 34 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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Das Mainzer Modell sieht deshalb gestaffelte Zuschüsse zu den Sozialversicherungsbeiträgen vor, die dazu beitragen, das Einkommensfeld oberhalb von 630 Mark zu erschließen. Die Einkommenssprünge können dadurch geglättet werden. Darüber hinaus soll eine Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch für Sozialhilfeempfänger attraktiv gemacht werden. Hierzu sind weitere Maßnahmen notwendig, denn das Lohnabstandsgebot ist für Einfachqualifizierte mit Kindem und für Alleinerziehende, die nur Teilzeitarbeitsplätze annehmen können, nicht gewahrt. Der Sozialhilfebezug bleibt bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze möglicherweise die für die Betroffenen einfachere Alternative. Für diese Gruppen ist ein beachtlicher Teil des Arbeitsmarktes uninteressant. Zuschüsse zu den Sozialversicherungsbeiträgen schaffen da noch keine volle Abhilfe. Deshalb soll eine Aufstockung des Kindergelds für Familien mit niedrigem Erwerbseinkommen hinzutreten. Obwohl das "Mainzer Modell" einen subventionierenden Charakter hat und in der Erwerbsphase ansetzt, ist es auch in finanzieller Hinsicht lohnend. Das liegt daran, dass es nicht nur subventioniert. In erster Linie animiert es. In dem Maße, in dem es gelingt, das Arbeitssegment oberhalb der 630-Mark-Grenze zu besetzen, werden Sozialhilfe- und Lohnersatzleistungsträger entlastet, während den Sozialversicherungen und dem Steuerhaushalt zusätzliche Einnahmen zufließen. Als Saldo sind deshalb sogar Ersparnisse für die öffentlichen Haushalte insgesamt realistisch. Es verbindet Arbeitsmarktpolitik mit Armutsbekämpfung in einer sehr effizienten Weise und leistet darüber hinaus einen Beitrag zum Ausbau einer eigenständiger Alterssicherung, besonders für armutsgefährdete Gruppen. Es ist also schon heute möglich, durch eine gezielte Politik wirksame Anreize für mehr Erwerbsarbeit zu setzen. Das bedeutet, dass es möglich ist, die Erwerbstätigen für die jeweils eigene Rentenbiographie stärker als momentan in die Pflicht zu nehmen. Der Staat sollte hauptsächlich dort unterstützend eingreifen, wo eine unterlassene Eigenvorsorge nicht persönlich von den Betroffenen zu verantworten ist. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass deshalb die Unterstützung von Familien durch die Rentenversicherung, vor allen Dingen für die Kindererziehung, noch eine größere Rolle spielen sollte als heute. Einige der Vorschläge für die Reform der Hinterbliebenenrenten gehen sinnvollerweise in diese Richtung.
IX. Demographische Entwicklung Die demographische Entwicklung der Bevölkerung spielt für die Gestaltung der Rentenreform eine außerordentlich wichtige Rolle. Die demographischen Veränderungen werden die Rentenversicherung besonders herausfordern. Seriöse Modellrechnungen zeigen gleichwohl, dass auch das bestehende System damit fertig werden kann, wenn die notwendigen Anpassungen vorgenommen werden.
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Die Entwicklung ist einerseits dadurch gekennzeichnet, dass der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung bis über das Jahr 2030 hinaus ständig zunehmen wird. Gleichzeitig wird die Bevölkerung ungefähr ab dem Jahr 2005 zurückgehen. Das Erwerbspersonenpotenzial, also die Anzahl an arbeitswilligen Menschen, wird schätzungsweise noch bis zum Jahr 2010 zunehmen und danach sinken. Interessant ist, dass die Abnahme des Arbeitsangebots dann voraussichtlich schneller voranschreitet als die parallel hierzu verlaufende Verringerung der Bevölkerung. Dies liegt daran, dass ein relativ großer Anteil der Bevölkerung aus dem erwerbsfähigen Alter herauswachsen wird. Für die Rentenversicherung bedeutet dies einerseits eine relative Zunahme der Zahl der Leistungsbezieher. Andererseits wird daraus aber auch eine Entlastung für den Arbeitsmarkt folgen. Dies gilt umso mehr, als die nicht mehr im Erwerbsleben stehenden Menschen der Volkswirtschaft als Konsumpotenzial erhalten bleiben. Nachfrageökonomisch bedeutet das: Der Rückgang des Arbeitsangebots verläuft schneller als die Abnahme der Zahl inländischer Konsumenten. Dem ungünstiger werdenden Verhältnis zwischen Alten und Jungen ist daher mit einiger Berechtigung für den Arbeitsmarkt ein Silberstreif am Horizont entgegenzustellen. Wir haben es also mit gegenläufigen Tendenzen zu tun. Wahrend heute noch die Arbeitslosigkeit das beherrschende Thema ist, könnte in Zukunft wieder Arbeitskräftemangel herrschen. Und während die Rentenpolitik heute die hohe Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen hat, wird in Zukunft die Proportion von Beitragszahlern und Rentenempfängern zu einem der zentralen Themen der Zukunft werden.
X. Tariffonds als Lösung? Diese demographischen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen sind der Ausgangspunkt für den von Walter Riester vorgeschlagenen Tariffonds. In der ersten Phase soll er hauptsächlich dazu verwendet werden, den Arbeitsmarkt zu entlasten. In der zweiten Phase schließlich soll seine zweite Komponente, nämlich eine kapitalfundierte Rente, zum Tragen kommen. Damit soll den demographischen Belastungen entgegengewirkt werden. Die Idee hat, zugegeben, einigen Charme. Doch betrachten wir den Vorschlag genauer. Auch der Tariffonds kann die Belastungen, die mit dem Aufbau eines Kapitalstocks zwangsläufig verbunden sind, nicht in Luft auflösen. Die eingezahlten Beträge können entweder arbeitsmarktpolitisch für eine Finanzierung der Frühverrentung oder für den Aufbau eines Kapitalstocks ausgegeben werden. Die Verknüpfung von Kapitaldeckung und Frühverrentung erfolgt nur auf der institutionellen Ebene. Jedes der beiden Vorhaben hat aber natürlich seinen eigenen Finanzbedarf. Soll ein solcher Fonds arbeitsmarktpolitisch wirksam sein, werden für den Aufbau einer Kapitaldecke zumindest in der Anfangsphase nur wenig Mittel übrig 34*
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bleiben. Können diese bei fortschreitender Entlastung des Arbeitsmarktes dann zunehmend in den Aufbau einer Kapitaldecke umgeleitet werden, ist das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern bereits schlechter geworden. Für eine entlastende Wirkung müsste dann die Kapitaldecke aber bereits bestehen. Sie wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht oder noch kaum vorhanden sein. Wenn die Tariffonds bezahlbar bleiben sollen, können sie deshalb kaum die Pufferfunktion beim Übergang von der Arbeitsmarktkrise in die demographisch heikle Phase übernehmen. Auch sie sind deshalb kein Wundermittel, mit denen die Schwierigkeiten des Arbeitsmarkts und des Rentensystems gleichzeitig gelöst werden könnten.
XI. Von der Nettoanpassung zurück zur Bruttoanpassung? 1992 wurde die Rentenformel von der Bruttoanpassung auf die Nettoanpasssong umgestellt. Mit der Nettoanpasssong wurde versucht, verschiedene Rückkopplungen zwischen der Höhe der Renten, ihrer Finanzierung und der Wirtschaftsentwicklung zu installieren. Dadurch sollte das System auch in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten stabil gehalten und für die demographischen Veränderungen vorbereitet werden. Eine steigende Abgabenlast für die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung wirkt sich danach zwangsläufig dämpfend auf die Rentenanpassungen aus. Ein höherer Finanzbedarf bei der Rentenfinanzierung kann nur durch erhöhte Beitragsleistungen oder durch höhere Bundeszuschüsse ausgeglichen werden. Beides steigert die Abgabenbelastung, die ihrerseits dann wiederum mäßigend auf die Rentenanpassungen zurückwirken. Es ist klar, dass dieser Mechanismus keine Einbahnstraße darstellt, sondern auch in der anderen Richtung funktioniert. Dann nämlich, wenn die Abgabenbelastung auf die Einkommen sinkt, kommt es umgekehrt zwangsläufig auch zu höheren Rentenanpassungen. Momentan führt diese umgekehrte Wirkungsrichtung zu erheblichen Irritationen. Mit der geplanten Steuerreform wird die für die Rentenanpassung maßgebliche Belastung der Einkommen sinken, obwohl die öffentlichen Haushalte extrem angespannt sind. Das heißt, die Steuerreform führt zu großzügigeren Rentenanpassungen, obwohl dies eigentlich nicht leistbar ist. Hinzu kommt die vom Bundesverfassungsgericht geforderte steuerliche Entlastung von Familien. Die maßgebliche Abgabenbelastung wird auch hierdurch noch einmal sinken mit der entsprechenden Folge für die Rentenanpassungen. Möglicherweise wird auch das noch ausstehende Urteil zur Besteuerung der Renten ähnliche Effekte haben. Deshalb wird verschiedentlich gefordert, wieder von der Nettoanpassung abzurücken. Manche, wie Winfried Schmäh!, halten die Nettoanpassung prinzipiell für verfehlt, weil sie die Rentenanpassung zu sehr von äußeren Einflüssen abhängig mache. Von anderer Seite wird vorgeschlagen, den Mechanismus nur für eine
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Übergangsphase auszusetzen, also vom bisher gesetzlich verankerten Prinzip nur für ein paar Jahre abzurücken, um dann wieder zu ihm zurückzukehren. Überhöhte Rentenanpassungen in Zeiten großer finanzieller Anspannung sind sicherlich fehl am Platz. Doch sollten vorschnell getroffene Systementscheidungen unbedingt vermieden werden. In jedem Fall muss der Eindruck vermieden werden, das Nettoanpassungsprinzip würde nur zu Lasten der Rentner angewandt, bei umgekehrtem Vorzeichen dagegen von der Politik mal eben ausgesetzt. Eine solche Haltung wäre in der Tat unglaubwürdig. Um nicht unnötig Vertrauenskapital auf einem so sensiblen Feld wie dem der Rentenpolitik zu verspielen, sollten deshalb einmalige Eingriffe zu Lasten der Rentner vermieden werden. Erforderlich ist eine systematische Lösung, die für längere Zeit tragfähig ist. Die derzeitige Rentenformel berücksichtigt die Änderung der Belastungsquote bei den Einkommen aus Löhnen, Gehältern und den Renten selbst mit einer einjährigen Zeitverzögerung. Dies bedeutet jedoch, dass höhere Rentenanpassungen, die auf Entlastungen der Arbeitnehmer ab dem Jahr 2000 beruhen, mit einer systematischen Lösung im Rahmen der Rentenstrukturreform aufgefangen werden könnten, sollte sie wie ursprünglich vorgesehen zum I. Januar 2001 in Kraft treten. Problematisch bleiben die Entlastungen des Jahres 1999, die sich bereits bei den Rentenanpassungen im Jahre 2000 auswirken. Hier lohnt sich jedoch eine genauere Betrachtungsweise. Zu einem beträchtlichen Teil bestehen die für 1999 vorgesehenen steuerlichen Maßnahmen der neuen Regierung in einer Umfinanzierung von der direkten Einkommensteuer zur Ökosteuer. Diese sind verbunden mit einem höheren Zuschuss und einer Senkung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung. Die Ökosteuer wiederum belastet nicht nur die Bezieher von Löhnen und Gehältern, sondern genauso auch die Rentner selbst. Der Effekt der zusätzlichen Rentensteigerung wird hierdurch wieder aufgehoben. Bis zu welchem Grad dies geschieht, sollte zuerst einmal rechnerisch ermittelt werden, bevor man an die Rentenformel geht. Möglicherweise stellt sich heraus, dass die Nettoanpassungsformel doch klüger ist, als viele zurzeit glauben.
XII. Fazit
Dass wir große Aufgaben vor uns haben, ist klar und ganz unabhängig von den Regelungen im Detail: Wir brauchen Reformmaßnahmen, die auch auf der Leistungsebene Einschnitte bedeuten. Das Rentenversicherungssystem bietet viele Stellschrauben, an denen man drehen kann. Zu den bedeutensten Aufgaben der kommenden Reformen gehört ohne Zweifel eine stärkere eigenständige Alterssicherung der Frauen. Ein Rentensplitting ist hierzu ein geeigneter Ansatz. In Frage kommen der Eintritt des zweiten Rentenfalls oder der Tod des versicherten Ehepartners. Auch eine Verbesserung der Rentenbiographien gehört dazu. Einige Schritte wurden hierzu
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schon getan. Sie reichen aber noch nicht aus. Ein richtungsweisendes Beispiel für das weitere Vorgehen könnte das "Mainzer Modell" sein. Um Härtefallregelungen und Begleitmaßnahmen im Rentenalter werden wir dennoch nicht herumkommen. Dabei sollte die Kindererziehung noch stärker berücksichtigt werden. Möglicherweise ist eine bedarfsorientierte Grundsicherung für langjährig Versicherte sinnvoll. Bevor wir endgültige Schlüsse ziehen, sollten wir jedoch das Ergebnis der Studie Altersvorsorge in Deutschland abwarten, das uns bereits im Mai sehr nützliche Daten für eine Einschätzung der Situation liefern soll. Im Rahmen der nächsten Strukturrefonn wird es ohnehin zu Eingriffen kommen müssen, die auch zu Lasten der Rentner gehen. Die gestiegene Lebenserwartung kann auf der Leistungsseite nicht unberücksichtigt bleiben. Meiner Ansicht nach sollte dies zunächst über die Rentenfonnel geschehen. Als Alternative wird vorgeschlagen, die Altersgrenzen anzuheben. Möglicherweise wird man auch daran denken müssen, eine schnell wirksame Maßnahme ist es jedoch nicht. Die notwendigen Übergangsfristen und der noch angespannte Arbeitsmarkt verhindem dies genauso wie die Tatsache, dass dies nur die neu hinzukommenden Rentner treffen würde. Ein demographischer Faktor passt systematisch gut in das Rentensystem, das auf dem Prinzip der Teilhabeäquivalenz beruht. Dieses Prinzip besagt, dass derjenige, der als Beitragszahler relativ viel einbezahlt hat, auch als Rentner eine im Vergleich zu den anderen relativ hohe Rente erwarten darf. Nun wird bei der Ermittlung der Rentenhöhe auf das gesamte Beitragsvolumen abgestellt. Eine zeitliche Komponente geht hier automatisch ein. Es spricht meiner Ansicht nach deshalb nichts dagegen, auch auf der Ausgabenseite entsprechend zu verfahren und das Rentenauszahlungsvolumen über die gesamte Rentenbezugsdauer zu berücksichtigen. In der Rentenfonnel würde sich das über einen Bezug zur Lebenserwartung niederschlagen. Systematisch und logisch müsste das für hohe und niedrige Renten gleichennaßen gelten. Der demographische Faktor wäre im Übrigen ein Element, der die hohen Rentenanpassungsraten in den nächsten Jahren dämpfen könnte. Wir werden dieses 9. Speyerer Sozialrechtsgespräch dazu nutzen können, unterschiedliche Standpunkte zur Rentenstrukturrefonn zu diskutieren. Dass es sich hierbei um eines der wichtigsten Refonnvorhaben der Zukunft handelt, steht außer Frage. Ich hoffe, die heutige Veranstaltung wird dazu beitragen, dass wir auf dem Weg zu einer sinnvollen Rentenstrukturrefonn einen weiteren Schritt vorankommen. Ich wünsche allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen erfolgreichen Verlauf und eine gelungene Diskussion.
Das Sozialversicherungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Univ.-Prof. Dr. Udo Steiner Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe
I. Sozialversicherungsrecht und BundesverfassungsgerichtWerkstattperspektiven Vorträge von Richtern über ihre richterliche Tätigkeit vermitteln dem sachkundigen Zuhörer nicht selten geringen Gewinn. Was vorgetragen wird, wissen meist schon alle. Und was noch nicht alle wissen, wird nicht vorgetragen, weil es (noch) nicht vorgetragen werden darf. Dies gilt für in Bearbeitung befindliche Verfahren 1 ebenso wie für Reformdiskussionen und konkrete Gesetzgebungs vorhaben, die Gegenstand von (verfassungsgerichtlichen) Verfahren werden können. Deshalb muß auch ein Vortrag über die Neuordnung des Rechts der Hinterbliebenenrente aus verfassungsricherlicher Sicht enttäuschen. Gleichwohl hat mich der Veranstalter der 9. Speyrer Sozialrechtsgespräche zu einem Referat eingeladen, mir dabei allerdings großzügigerweise die Möglichkeit eröffnet, das Rederecht vor diesem sachkundigen und sozialpolitisch maßgeblichen Kreis zu nutzen, um zunächst - in aller Kürze - einige "Werkstattfragen" der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung zum Sozialversicherungsrecht vorzutragen, auch wenn sie nur mittelbar Verfassungsfragen der Renten von Todes wegen berühren. 1. Das Bundesveifassungsgericht und das Sozialversicherungsrecht-ein Kapazitätsproblem Das sozialrechtliche Dezernat im Zuständigkeitsbereich des Ersten Senats bearbeitet, vom Kassenarztrecht und vom Kindergeldrecht abgesehen, verfassungsgerichtliche Verfahren auf allen Rechtsgebieten des Sozialrechts. Das Sozialversicherungsrecht und insbesondere das Rentenversicherungsrecht als dem Kern des Dezernats muß sich dessen Arbeitskapazität mit dem Recht der Kriegsopfer, dem Sozialhilferecht, dem Recht der Ausbildungsförderung und dem Erziehungsgeldrecht teilen. Von den Ende 1998 noch unerledigten ca. 400 Verfahren im sozialrechtlichen Dezernat sind zwei Drittel Verfahren mit verfassungsrechtlicher SubI Der Hinweis unten unter II. auf die Urteile des BVerfG vom 28. April 1998 zur Rentenüberleitung Ost ist nach dem Vortrag in das Manuskript aufgenommen worden.
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stanz. Ihre Bearbeitung und Entscheidung ist mit erheblichem Aufwand verbunden. Die Verfassungsfragen der Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der Deutschen Demokratischen Republik bildet dabei mit 28 Richtervorlagen und über 100 Verfassungsbeschwerden eine Art Dezernat im Dezernat. 2 Die Vorschriften der sozialen Pflegeversicherung sind mit ca. 70 Verfassungsbeschwerden angegriffen. Dabei machen die Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG, die im Grundsatz "geborene" Senatssachen sind 3 , eine Besonderheit des sozialrechtlichen Dezernats aus. Ihre Zahlliegt im Durchschnitt über der Zahl aller beim Ersten Senat anhängigen konkreten Normenkontrollverfahren. Die sozialgerichtlichen Vorlagen sind ein Unikat in der deutschen Gerichtslandschaft Es scheint so, als nehme keine andere Fachgerichtsbarkeit so entschlossen und so konsequent die Wächterrolle für die Verfassungsmäßigkeit des von ihr anzuwendenden Rechts wahr wie die Sozialgerichte. Zu diesem Engagement kommt die Bereitschaft kompetenter Anwälte zur Klärung von grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragen im Sozialrecht anhand geeigneter Fälle hinzu. Das ist nicht unwichtig; gerade im Sozialrecht erreichen viele Verfassungsbeschwerden das Bundesverfassungsgericht, die Grundsatzfragen aufwerfen, aber "amateurhaft" und emotional begründet sind und deshalb den Substantiierungsanforderungen des § 23 Abs. 1 i.V.m. §§ 92, 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht genügen. Insgesamt ist das Bundesverfassungsgericht also nicht von Verfahrenszufällen abhängig, wenn es seine Aufgabe erfüllen will, verfassungsrechtliche Grundsatzfragen des Sozialversicherungsrechts zu entscheiden. 4 Nicht selten sind es allerdings Problemfelder, die nur (noch) von wenigen Betroffenen "besetzt" und von "abgestorbenem" Recht bestimmt sind und auch im Einzelfall eine unverhältnismäßig niedrige Beschwer aufweisen. 5 Man könnte hier von der Suche nach "Nischengerechtigkeit" sprechen. Bestehen in solchen Fällen verfassungsrechtliche Bedenken gegen die angegriffene oder zur Überprüfung gestellte Bestimmung, so erscheint es nicht immer angemessen, den Gesetzgeber durch Verpflichtung zu einer verfassungsgemäßen Regelung in eine "Strafrunde" zu schicken. Als Alternative ist eine verfassungskonforme Auslegung zu erwägen, auch wenn sie sich an der Grenze bewegt, die das Gericht den allgemeinen Gerichten und sich selbst bei der Anwendung dieser Methode zieht. 6 Siehe dazu auch unten unter II. 2. c). Die Kammer kann nur die Unzulässigkeil einer Vorlage feststellen(§ 81 a BVerfGG). 4 Etwas andere Einschätzung bei F. Kirchhof, NZS 1999, S. 161 (162). s Beispiel aus dem Erziehungsgeldrecht: BVerfGE 98, 70. 6 Vgl. BVerfGE 88, 145 (166 f.); 90, 263 (274f.); 95, 64 (93). Zu einem Grenzfall aus jüngerer Zeit siehe BVerfGE 98, 1 (Nachversicherung früherer Beamtinnen, die wegen ihrer Eheschließung aus dem Beamtenverhältnis unter Gewährung einer Abfindung ausgeschieden sind). 2
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Wenig zeitnah kann das Gericht Verfassungsfragen des Sozialrechts entscheiden; allerdings ist die noch zu besprechende Entscheidung des Ersten Senats vom 18. Februar 1998 zum Hinterbliebenen- und Erziehungszeitengesetz mit einer Verweildauer in Karlsruhe von 12 Jahren dankenswerterweise im Gericht die Ausnahme. Es besteht aber als Folge des hohen Erledigungsdrucks die Gefahr einer Art geistiger Defensive, die der Tendenz nach die Fortschreibung von Maßstäben statt deren Fortentwicklung begünstigt. Ein Beispiel könnte die Überprüfung der Formel sein, auf Grund deren entschieden wird, ob eine sozialversicherungsrechtliche Rechtsposition dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG unterfällt. 7 Selbst die sprachliche Sanierung mancher Standardformulierungen 8 erfolgt zurückhaltend. Zu groß ist die hermeneutische Energie, die auf die Sprachpraxis und nicht nur die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts aufgewendet wird. Dies mag man zwar als schmeichelhaft empfinden, ist aber auch lästig, weil eine Last.
2. Aktuelle Fragen der veifassungsgerichtlichen Rechtsschutzgewährung im Sozialversicherungsrecht
a) Es besteht aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts unter Auslastungsgesichtspunkten kein Anlaß, die Wege zur verfassungsgerichtlichen Klärung sozialversicherungsrechtlicher Fragen kürzer und breiter zu machen als sie nach geltendem Recht und herrschender Praxis sind. Gleichwohl gibt es ein Zugangsproblem, das hier kurz anzusprechen ist. Die Verfassungskontrolle von gesetzlichen Vorschriften, die vor allem im Zuge von Reformschritten oder Maßnahmen der Haushaltssanierung erlassen werden und im Einzelfall Rentenanwartschaften mindern oder mindern können, stößt auf gewisse verfahrensstrukturelle Grenzen. An einem aktuellen Beispiel darf dies verdeutlicht werden. Die Verringerung des maximalen zeitlichen Umfangs rentenwirksamer Ausbildungszeiten und deren Schlechterbewertung durch das Rentenreformgesetz 1992 (§§58 Abs. 1 Nr. 4, 71 Abs. 1 und 74 SGB VI) ist der Ausgangspunkt. 1992 erhob nach Inkrafttreten des SGB VI ein versicherungspflichtig Beschäftigter Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen diese Vorschriften; sie verringerten nach seiner Auffassung verfassungswidrig Zahl und Wertigkeit der Ausbildungszeiten. Das Bundesverfassungsgericht9 nahm die Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtsweges nicht an und verwies den Beschwerdeführer auf den fachgerichtlichen Rechtsschutz, ohne freilich zu bestimmen, was Gegenstand dieses Rechtsschutzverfahrens sein sollte. Auf Antrag des Betroffenen erteilte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte 7 Dies gilt vor allem für das Merkmal "existentielle Bedeutung". Vgl. BVerfGE 72, 9 (20f.); 76, 220 (237f.). Dazu Bieback, Verfassungsrechtlicher Schutz gegen Abbau und Umstrukturierung von Sozialleistungen, 1997, S. 18 f. m. Nachw. zum Diskussionsstand. B Beispiel für einen Korrekturfall: BVerfGE 75, 284 (292) u. 1 (Umschreibung des Inhalts des Grundrechts der Berufsfreiheit). 9 Beschl. der2. KammerdesErsten Senats vom 15. 3. 1993, 1 BvR 1888/92.
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Rentenauskunft über die Daten des Versicherungsverlaufs, wies allerdings darauf hin, daß über die Anrechnung und Bewertung dieser Daten erst bei der Feststellung der Leistung entschieden werde. Die Sozialgerichte haben in dem anschließenden Streitverfahren die Auffassung vertreten, es sei dem Versicherten grundsätzlich zuzumuten, mit dem Rechtsschutz zu warten, bis diese Entscheidung - also grundsätzlich beim Rentenzugang - getroffen würde. Dagegen wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. 10 Das Dilemma ist klar: Der Betroffene hat den Rechtsweg im Gehorsam gegenüber dem Gesetz (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) und dessen Auslegung durch das Gericht beschritten, aber seine Sache ist auf diesem Weg zum Verfassungsgericht nicht entschieden worden. Die Frage nach dem angemessenen Zeitpunkt des sozial- und verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes bei gesetzlich bewirkter Anwartschaftsverschlechterung stellt sich: Rentenrechtsschutz als Altersprivileg? An die Praxis wäre die Frage zu richten, ob nicht - unter dem Gesichtspunkt eines effektiven und fairen Rechtsschutzes -ein Anwartschaftsfeststellungsverfahren eröffnet werden sollte, das bei besonderem Sachbescheidungsinteresse in Gang gebracht werden kann und dem Versicherten Möglichkeiten der gerichtlichen Rechtswahrung noch vor dem Rentenzugang eröffnet. 11 Ein solches besonderes Sachbescheidungsinteresse könnte sich im Falle einer gesetzlichen Verschlechterung von bestimmten, die Anwartschaft auf (Alters-)Rente bestimmenden Elementen ergeben. Ware ein solcher Weg eröffnet, so käme dies dem wohl legitimen Wunsch des Bundesverfassungsgerichts entgegen, daß auch über verfassungsrechtliche Fragen des Sozialversicherungsrechts von ihm nicht entschieden wird, bevor sich nicht die Sozialgerichte - und zwar nicht nur in der Form der Stellungnahme ihrer Revisionsinstanz im Rahmen des verfassungsgerichtlichen Anhörungsverfahrens, sondern in der Gestalt einer Entscheidung des konkreten Streitfalls - eine Rechtsauffassung gebildet haben. Dies entspricht einem richtig verstandenen Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit Wir wollen nach der Fachgerichtsbarkeit entscheiden, nicht vor ihr. Die Sozialgerichte haben eine besondere sozialrechtliche Sachkunde, und die Grundrechte sind auch ihr Maßstab. 12 b) Die Effektivität des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes im Sozialversicherungsrecht ist noch unter einem anderen kritischen Gesichtspunkt anzusprechen. Er betrifft die Fassung des Entscheidungsausspruchs des Bundesverfassungsgerichts in Fällen, in denen ein rentenrechtlicher Leistungsentzug oder eine Leistungsminderung verfassungsrechtlich beanstandet werden. Nicht selten entscheidet sich hier das Bundesverfassungsgericht für eine Unvereinbarkeitserklärung, die den Gesetzgeber nur mit Wirkung für die Zukunft, also insbesondere für den Zeitraum nach der Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichts, zur HerstelI BvR 1403/96. Siehe dazu schon Merten, VSSR Bd. I, 1973, S. 66 ff. 12 Daß dabei die Sozialgerichtsbarkeit auch "Binnenprobleme" hat, ist eine andere Frage. Siehe Noftz, NZS 1999, S. 57 ff. IO 11
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Jung einer verfassungskonformen Rechtslage verpflichtet. Man ist in Sorge, daß der Gesetzgeber bei ausgabewirksamen Gesetzen diese Entscheidungsvariante in sein finanzpolitisches Kalkül aufnehmen könnte. 13 Es läge- so wird argumentiertdie Annahme nahe, der Gesetzgeber sei umso mehr zur Eingebung eines verfassungsrechtlichen Risikos bereit, je eher er bei sozialversicherungsrechtlichen Leistungsgesetzen damit rechnen dürfe, daß die verfassungsrechtliche Beanstandung Rechtswirkungen nur für die Zukunft haben werde. Wenn das Gericht den Gesetzgeber zu einer verfassungsgemäßen Regelung nur für die Zukunft verpflichte, könne dieser ermutigt werden, eine vom Gericht in einer friiheren Entscheidung verfassungsrechtlich beanstandete Regelung zu wiederholen. Finanzwirtschaftlich könne sich solcher Ungehorsam lohnen, wenn man damit rechnen dürfe, das Bundesverfassungsgericht werde sich scheuen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß eine über einen längeren Zeitraum verfassungswidrige Leistungsverweigerung oder Leistungskürzung Nachzahlungsanspruche größten Umfangs auslöst, die die öffentlichen Haushalte überforderten. Es ist unschwer erkennbar: Solche Überlegungen werden im Zusammenhang mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 1995 14 zur sog. Einmalzahlung und dessen "Umsetzung" durch das - von mehreren Sozialgerichten dem Bundesverfassungsgericht zur verfassungsgerichtlichen Prüfung vorgelegte15 - Gesetz zur sozialrechtlichen Behandlung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt vom 12. Dezember 1997 16 geäußert. An sie wird die allgemeine, das Gericht natürlich herausfordernde Frage geknüpft, inwieweit die Tenorierungsform "Unvereinbarerklärung" mit einer (nur) in die Zukunft gerichteten Verpflichtung des Gesetzgebers zur Herstellung einer verfassungskonformen Rechtslage noch der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts gerecht werde, eine strikte Verfassungsbindung auch des Gesetzgebers nach Art. 1 Abs. 3 GG sicherzustellen. Diese Erwägungen sind bemerkenswert. Sie erinnern zu Recht daran, daß aus der Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit den Grundrechten des Grundgesetzes Folgerungen grundsätzlich für den gesamten von der Verfassungswidrigkeit betroffenen Zeitraum zu ziehen sind. 17 Für die Anwendung dieser Regel kann sich das Gericht um so eher entscheiden, als bestands- und rechtskräftige Entscheidungen, die auf den für verfassungswidrig erklärten Regelungen beruhen, nach § 79 Abs. 2 BVerfGG unberührt bleiben. Diese Vorschrift verdrängt - entgegen der Aufassung des Bundessozialgerichts 18 - § 44 SGB X und insbesondere dessen Absatz 4. Die13 Siehe hierzu und zum folgenden Ebsen, NZS 1997, S. 441 (448f.); vgl. aus steuerrechtlicher Sicht jüngst Schwenke, DStR 1999, S. 404 ff. 14 BVerfGE 92, 53.
15 Siehe z. B. SG Kassel, Beschl. v. 29. 4. 1998, Sgb 1999, S. 91 ff. m. Anm. Löwisch. Siehe zu diesem Gesetz im übrigen Ebsen (Fn. 13); Schlegel, NZS 1997, S. 201 ff. 16 BGBI. I S. 1859. 17 Siehe dazu Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Auf!. 1997, Rdnr. 392. 1s BSGE 64, 62.
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sen Vorrang bringt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung dadurch zur Geltung, daß es bei sozialrechtlichen Entscheidungen ausdrucklieh auf den "Grundgedanken" des§ 79 Abs. 2 BVerfGG hinweist. 19 Andererseits ist eine bei der Bestimmung des Entscheidungsausspruchs pragmatisch orientierte und auf Abwägung der Folgen der Entscheidung bedachte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Preis dafür, daß das "Entdeckungsrisiko" von Verfassungswidrigkeiten in unserem Rechtsschutzsystem verhältnismäßig groß ist; großzügig sind insbesondere die Wege zum Verfassungsgericht eröffnet. Zudem muß dem Gesetzgeber zugutegehalten werden, daß die Verfassungsmäßigkeit der von ihm getroffenen Regelungen nicht selten schwer einzuschätzen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat sich selbst dem "Überraschungsverbot" nicht unterworfen und kann dies auch nicht. Staatsrechtslehrer und andere verfassungskundige Personen geben dem Gesetzgeber häufig unterschiedliche Auskünfte auf dessen Frage nach der Verfassungskonformität einer beabsichtigten Regelung. Ein Beispiel dafür ist gerade die verfassungsrechtliche Bewertung des schon genannten Gesetzes zu den Einmalzahlungen.20 Das finanzielle Risiko einer verfassungswidrigen Regelung kann deshalb nicht ausschließlich und uneingeschränkt von den budgetverantwortlichen Verfassungsorganen getragen werden. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die zur verfassungsrechtlichen Beanstandung finanzwirtschaftlich bedeutsamer Gesetze befugt ist, muß auch die Kompetenz zur "Handsteuerung" der Entscheidungsfolgen im Einzelfall in Anspruch nehmen können. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle in Deutschland stellt Verfassungsmängel des Gesetzes fest, nicht Verfassungsunrecht des Gesetzgebers. Das erscheint als ein Stück Professionalität des verfassungsgerichtlichen Verfahrens.
II. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Februar 1998 zur Verfassungsmäßigkeit des Anrechnungsmodells im Rahmen der Neuordnung des Rechts der Hinterbliebenenrente aufgrund des Hinterbliebenen- und Erziehungszeitengesetzes (HEZG) 1. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung zu den Renten von Todes wegen
a) Die Geschichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem Recht der Hinterbliebenenrente ist schnell wiedergegeben. Sie konzentriert sich im wesentlichen auf die verfassungsrechtliche Beurteilung der Frage, ob der Witwer nach dem Tod seiner versicherten Ehefrau im Hinblick 19 Spätestens seit BVerfGE 94, 241 (266f.) ist dies st. Rspr. des Ersten Senats. Die rechtliche Bedeutung dieses Hinweises des Gerichts verkennen wohl Diller I Dannecker, NJW 1999, S. 897 (898). 20 Siehe Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ( II . Ausschuß), BT-Drucks. 13 I 5826, S. II ff.
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auf die Verfassung schlechtergestellt werden darf als die Witwe nach dem Tod des versicherten Ehemannes. Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst 1963 auf eine Richtervorlage hin entschieden, der nach den damaligen rentenversicherungsrechtlichen Bestimmungen erschwerte Zugang zur Witwerrente sei mit Art. 3 Abs. 2 GG vereinbar. Der Gesetzgeber habe die Grenzen zulässiger Typisierungen nicht überschritten 21 . 1975 stellte dann das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 12. März22 fest, die unterschiedlichen Regelungen könnten auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden. Es seien Wandlungen sowohl im Erwerbsverhalten der verheirateten Frauen als auch in der Bedarfslage beim Tode des Ehegatten eingetreten. In einer Übergangsphase, in der sich die Rolle der Frau in Ehe und Familie rechtlich und tatsächlich verändere, die Entwicklung aber noch nicht abgeschlossen sei, stehe der Gesetzgeber bei der Suche nach befriedigenden und praktikablen Ersatzlösungen vor einer ungewöhnlich schweren Aufgabe. Aus dem Grundgesetz leite sich für ihn der Verfassungsauftrag ab, langfristig eine Neuregelung zu schaffen, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 und 3 GG für die Zukunft ausschließe. Auf ein bestimmtes Konzept für die Neuregelung sei er nicht festgelegt; es gebe mehrere verfassungsrechtlich denkbare Lösungsmodelle. Der Gesetzgeber hat sich aufgrund dieses Urteils bekanntlich für einen gleichen Zugang von Witwer und Witwe zur Rente von Todes wegen entschieden, die zu erwartenden Mehrkosten dieser Entscheidung aber durch ein sog. Anrechnungsmodell mit Freibetrag aufgefangen. Zusätzliche Kosten sollten der Versichertengemeinschaft möglichst nicht entstehen. Die Einzelheiten des Anrechnungsmodus des HEZG sind hier nicht vorzutragen. Das Bundesverfassungsgericht hat dessen Verfassungsmäßigkeit bei seiner Entscheidung 23 über - qualifiziert vorbereitete Verfassungsbeschwerden jedenfalls bejaht. Die Konzeption des HEZG, Hinterbliebenenrente habe Unterhaltsersatzfunktion, wurde bestätigt, und auch die vom Gesetzgeber daraus gezogenen Folgerungen blieben unbeanstandet. b) Die Entscheidung hat praktische Bedeutung in dem Maß, in dem die Anrechnung selbst praktische Wirkung zeitigte. Bezogen auf die Auswertung des Rentenbestandes zum 31. Dezember 1996 ruhten von den 5.317.434 Renten an Witwen und Witwer 1.054.719 vollständig bzw. teilweise; das sind 19,8% der Rentenfälle. Es entfielen 189.947 Fälle auf Null-Renten und 864.772 auf teilweise ruhende Renten. Der durchschnittliche Ruhensbetrag belief sich bei den teilweise ruhenden Witwenrenten auf 147,15 DM, bei den Null-Renten auf 523,42 DM.Z4 Vgl. BVerfGE 17, 1 (23). Vgl. BVerfGE 39, 169 (185 ff.). 23 Beschl. v. 18. 2. 1998, BVerfGE 97, 271 ff. Siehe auch in diesem Zusammenhang Beschl. der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. 6. 1998, 1 BvR 1485/86, SGb 1999, S. 133 - nur Leitsatz (Hinterbliebenenrenten auf der Grundlage freiwilliger Beiträge des Versicherten). 24 Diese Zahlen hat der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger freundlicherweise zur Vorbereitung der Entscheidung des BVerfG übermittelt. 21 22
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2. Die Veifassungsposition der "Hinterbliebenenrente" a) Grundrechtsdogmatisch konzentriert sich das Interesse an der Entscheidung auf den Ausgang des Zusammentreffens der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen mit den Regelungen des HEZG über die Anrechnung von Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen auf Hinterbliebenenrenten. Die kritische Auseinandersetzung des Schrifttums mit dem Beschluß des Ersten Senats zum Anrechnungsmodell des HEZG gilt in auffälligem Ausmaß vor allem der Feststellung des Gerichts, Anspruche von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen unterlägen nicht dem Eigentumsschutz des Art. I4 Abs. I GG. 25 Diesen Ausschluß der Anspruche von Versicherten begrundet das Gericht im wesentlichen mit zwei Argumenten 26 : Nach der Konzeption des Gesetzgebers sei die Hinterbliebenenversorgung dem Versicherten nicht als Rechtsposition privatnützig zugeordnet. Denn die Leistung erstarke gemäߧ 4I AVG- ebenso wie nach § 46 Abs. I SGB VInicht mit Ablauf der Wartezeit und im Eintritt des Versicherungsfalls zum Vollrecht. Vielmehr stehe sie unter der weiteren Voraussetzung, daß der Versicherte zu diesem Zeitpunkt in gültiger Ehe lebe. Zwar sei die Wahrscheinlichkeit, daß sich das versicherte Risiko verwirkliche, bei verheirateten Versicherten deutlich erhöht. Es bleibe aber bei einer bloßen Aussicht auf die Leistung, die mit der Auflösung der Ehe oder dem Vorversterben des Partners entfalle. Das Gericht war weiter der Auffassung, die Hinterbliebenenversorgung beruhe nicht auf einer dem einzelnen Versicherten individuell zurechenbaren Eigenleistung, die eine Zuordnung der zugrundeliegenden gesetzlichen Anspruche zur verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie rechtfertigen könnte. Es fehle der hinreichend personale Bezug zwischen der Beitragsleistung des Versicherten und der später an seine Hinterbliebenen geleisteten Rente. Das System der gesetzlichen Rentenversicherung sei zwar auch durch das Versicherungsprinzip geprägt und gerechtfertigt. Dieses Prinzip werde aber durch soziale Gesichtspunkte modifiziert. Denn die gesetzliche Rentenversicherung beruhe im wesentlichen auf dem Gedanken der Solidarität ihrer Mitglieder sowie des sozialen Ausgleichs und enthalte von jeher ein Element sozialer Fürsorge. Auch die Hinterbliebenenrente sei eine vorwiegend fürsorgerisch motivierte Leistung, weil sie ohne eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährt werde. Während der Versichertenrente Beiträge zugrundelägen, werde die Hinterbliebenenrente ohne eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitrags25 Siehe Ossenbühl, JZ 1998, S. 679 ff.; vgl. auch Niemeyer, FuR 1998, S. 247 ff.; Ruland, JuS 1998, S. 1068; Schuler-Harms, NJW 1998, S. 3095 (3096); vgl. auch schon Grüttner, Die sozialversicherungsrechtliche Anwartschaft, 1990, S. 128 ff. 26 Siehe BVerfGE 97, 284ff.
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Ieistung des Versicherten gewährt. Der Gedanke des sozialen Ausgleichs werde dadurch betont, daß die Vorsorge für die eigenen Angehörigen bei der individuellen Beitragsbemessung des Versicherten unberücksichtigt bleibe. Jeder Versicherte trage über seinen Beitrag zugleich auch zur Versorgung aller Hinterbliebenen von Versicherten bei. Auch wer keine unterhaltsberechtigten Angehörigen habe, zahle gleiche Beiträge. b) Man hätte auch anders entscheiden und argumentieren können: Die Anwartschaft auf Hinterbliebenenrente sei dem Versicherten privatnützig zugeordnet. Obwohl er selbst diese nicht beziehen könne, sei sie ihm ausschließlich zugeordnet. Sie knüpfe an die Rentenanwartschaft an, und nur der Versicherte selbst könne, solange der Versicherungsfall noch nicht eingetreten sei, die Entwicklungen im Bestand der Versorgungsanwartschaft beeinflussen. Diese diene seinem Verantwortungsbereich, in dem sie die Versorgung von Ehepartner und Kindem im Todesfall sichere. Aber auch das Merkmal der Eigenleistung hätte man bejahen können: Witwenund Witwerrente seien aus den Beiträgen von Versicherten und Arbeitgebern finanziert, wobei die Arbeitgeberanteile den Versicherten zuzurechnen seien 27 . Der Beitrag sei so bemessen, daß die in der Rentenversicherung versicherten spezifischen Risiken abgedeckt würden. Er vermittle dem Versicherten unter anderem Versicherungsschutz gegen das Risiko der Invalidität, des Alters und eben auch den Anspruch auf Versorgung der Angehörigen. Immerhin habe im Jahre 1984 - also im Zeitraum unmittelbar vor dem lokrafttreten des HEZG - der Anteil des Beitrages, der auf die Finanzierung der Hinterbliebenenrente entfalle, etwa 5,1 Prozentpunkte aus dem Beitragssatz von 18,5 betragen. 1996 sei der Finanzierungsteil bei ca. 4,2 Prozentpunkten aus einem Beitragssatz von 19,2% gelegen. 28 Bei diesem Finanzierungssystem sei es nicht möglich, einzelne Risiken als beitragsfrei zu betrachten und damit aus dem Eigentumsschutz auszugrenzen. Jeder Versicherte trage über seinen Beitrag zugleich auch zur Versorgung aller Hinterbliebenen von Versicherten bei. Gewiß seien - so hätte man argumentieren können - die Beiträge im Hinblick auf die Sicherung der Hinterbliebenen weniger risikoadäquat als für die Versichertenrente. Nur solche Versicherten erhielten für ihre Beitragsleistung eine Hinterbliebenenrente, die unterhaltsbedürftige Angehörige hinterließen. Bei verheirateten Versicherten mit Kindem sei die Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts erheblich höher als bei ledigen oder kinderlosen Versicherten. Dennoch entrichteten beide Gruppen gleichhohe Beiträge. Bei Versicherten ohne unterhaltsbedürftige Angehörige im Todeszeitpunkt seien die Leistungen der Rentenversicherung demnach weniger "beitragsäquivalent". Sie finanzierten - immer mittelbar aufgrund des Umlageverfahrens - die Hinterbliebenenrenten der Versicherten mit Angehörigen mit. Diese "Umverteilung" komme freilich auch dem Versicherten zugute, der -gemessen an seiner Rentenbiographie- erst später heirate. Jedenfalls sei die Hin27 28
Vgl. BVerfGE 69, 272 (302). Vgl. BVerfGE 97, 271 (285).
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terbliebenenrente nicht unerheblich auch durch diejenigen Versicherten mitfinanziert, deren Angehörige diese Rentenleistung in Anspruch nähmen. Man hätte die Gegenposition so begründen können, aber man hat es nicht. Die Frage des Grundrechtsschutzes von Hinterbliebenenrenten durch die Verfassungsbestimmung des Art. 14 Abs. I GG ist entschieden. Im folgenden kann es nur noch um eine Bestimmung und Bewertung der Folgen gehen. c) Eine Neuorientierung der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen bedeutet diese Entscheidung nicht. Sie knüpft an die allgemeinen Kriterien der Eigentumsfähigkeit solcher Rechtspositionen an und sie argumentiert konkret. Man könnte sogar zugespitzt formulieren: Es wertet diejenigen sozialversicherungsrechtlichen Positionen, die unter dem Schutz des Art. 14 GG stehen, auf, und hier insbesondere die Versichertenrenten, wenn nicht alle sozialversicherungsrechtliche Rechtspositionen, die im Weichbild des Art. 14 GG erscheinen, auch Einlaß zu dessen Schutzbereich erhalten. Zudem ist zu fragen, ob die Entscheidung zum HEZG dem Versicherten in Bezug auf Renten an seine Hinterbliebenen mehr verwehrt als nur einen grundrechtsdogmatischen Achtungserfolg. Die Auffassung des Gerichts zum Eigentumsschutz von Hinterbliebenenrenten war für die grundsätzliche Bestätigung des Anrechnungsmodells des HEZG wohl nicht "spielentscheidend". Dies verwundert nicht, wenn man die Bilanz des Eigentumsschutzes sozialversicherungsrechtlicher Positionen nach nunmehr zwei Jahrzehnten kontinuierlicher Rechtsprechung realistisch betrachtet. (1) Die Bilanz der ersten zehn Jahre nach Beginn der Rechtsprechung im Jahre 1980 im 53. Band29, die im Schrifttum wohl überwiegend begrüßt wurde30, fiel eher ernüchternd aus? 1 Man registrierte eine verfassungsgerichtliche Verpflichtung zur Korrektur von Gesetzen nur in zwei Fällen?2 Auch die 90er Jahre bringen keine wesentlich neuen Akzente. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt im wesentlichen die Linie, daß Ansprüche und Anwartschaften auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung den Schutz der EigenBVerfGE 53, 257 ff.; grundlegend auch BVerfGE 69, 272 (298 ff.). Siehe die Nachweise bei v. Brünneck, JZ 1990, S. 992 (993 Fn. 6). Aus jüngerer Zeit: Eieback (Fn. 7), S. 84ff.; Bogs, Art. 14 GG - Eigentum als Vertrauensschutz - Basisnorm für Rentenversicherte?, in: Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, S. 65 ff.; Depenheuer, AöR Bd. 120 (1995), S. 417ff.; Papier, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Alterssicherung, in: Cramer u. a., Handbuch Altersversorgung, 1998, S. 855 (860ff.); Ruland, VSSR 1997, S. 19 (25ff.). Siehe auch noch Wallerath, Rentenversicherung und Verfassungsrecht, in: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, hrsg. v. F. Ruland, 1990, S. 317 ff. 31 Siehe u. a. v. Brünneck, JZ 1990, S. 992 ff.; vgl. auch die kritische Bilanz bei Bieback (Fn. 7), S. 12; Papier, in: von Maydell/ Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 2. Aufl. 1996, S. 73 (S. 90ff., Rdnrn. SOff.); zurückhaltend gegenüber der Wirkkraft des Art. 14 GG auch Stolleis, NJW 1999, S. 699. 32 Siehe v. Brünneck, JZ 1990, S. 992 (995). 29
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tumsgarantie genießen 33 • In seinen Entscheidungen zum Kurzarbeitergeld im Rahmen der Vorschrift des § 116 Abs. 3 Satz 1 AFG34 und zum Krankengeld35 läßt das Gericht jeweils offen, ob diese Leistungen auf Ansprüchen beruhten, die dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG unterfielen. Es kann diese Frage offenlassen, weil die verfassungsrechtlich zu prüfenden Einschränkungen der Leistungen nach seiner Auffassung auch dann nicht zu beanstanden wären, würde man sie an diesem Grundrecht messen. Man könnte auf Grund der Erfahrung mit dieser Dahingestellt-Lassen-Judikatur pointieren: Die Schranken sind so großzügig zugunsten der staatlichen Gesetzgebung bestimmt, daß es auf die Zuordnung zum Schutzbereich meist nicht mehr ankommt. (2) In der Tat ist die Unterstellung sozialversicherungsrechtlicher Positionen unter den Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus der Sicht der Grundrechtsträger nicht unbedingt als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen. Gerade diese Rechtsprechung ist ein anschauliches Beispiel , daß eine verhältnismäßig großzügig bemessene Bestimmung des Schutzbereichs eines Grundrechts einen Preis hat, der auf der Schrankenseite zu entrichten ist. Schon in der bereits erwähnten rentenanwartschaftliehen "Urentscheidung" des Ersten Senats vom 28. Februar 198036 werden die prozeßpraktischen Erwartungen gedämpft: Der Gesetzgeber habe bei der Bestimmung des Inhalts und der Schranken rentenversicherungsrechtlicher Positionen grundsätzlich eine weite Gestaltungsfreiheit Dies gelte im besonderen für Regelungen, die dazu dienten, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherungen zu erhalten, zu verbessern oder veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Damit wird dem Gesetzgeber gewiß keine Vollmacht ohne Grenzen erteilt, aber auch keine Verfassungsgarantie des rentenanwartschaftsrechtlichen Status Quo bewirkt. Es ist ein Geben und Nehmen zugleich: Es genüge - so sagt das Gericht für die Zuerkennung des Verfassungsrangs des Art. 14 GG, wenn die Eigenleistung des Versicherten nicht unerheblich sei; deshalb sei es unschädlich, wenn die Rechtsposition auch oder überwiegend auf staatlicher Gewährung beruhe 37 . Andererseits reiche aber eben der Schutz des Art. 14 GG um so weiter, je mehr die rentenversicherungsrechtliche Position auf eigenen Leistungen beruhe. Seien die eigenen Leistungen gering, sei es auch der Schutz. Formeln stehen also für jedes Ergebnis zur Verfügung. Versprochen ist vom Bundesverfassungsgericht, daß der aus der Eigentumsgarantie abgeleitete Vertrauensschutz weiter gehe als der allgemeine rechtsstaatliche Vertrauensschutz38 . Andererseits ist zu lesen, in der Renten33 34
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Vgi.BVerfGE95, 143(160)zu§ 1317RVO. Siehe BVerfGE 92, 365 (406). Siehe BVerfGE 97, 378 (385). BVerfGE 53, 257 (292 ff.). Vgl. BVerfGE 69, 272 (301). BVerfGE 58, 81 (121) - sog. Ausbildungsausfallzeiten.
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versicherung sei die Möglichkeit zur Anpassung an geänderte Verhältnisse angelegr39. Große Formeln, kleine oder keine Folgen? (3) Nach über zwei Jahrzehnten der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz sozialrechtlicher Rechtspositionen weist die Unfallstatistik des rentenrechtlichen Gesetzgebers also kaum Eintragungen auf. Davon macht nur scheinbar die Rechtsprechung des Ersten Senats zur Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der Deutschen Demokratischen Republik eine Ausnahme. Zwar erklärt das Gericht bestimmte Vorschriften der Überleitungsgesetzgebung (etwa: § 6 Abs. 2 i.V.m. Anlagen 4, 5 und 8, § 7 Abs. I Satz 1 i.V.m. Anlage 6, § 10 Abs. I Satz 2 und Abs. 2 Satz I Nr. I AAÜG) wegen Verstoßes gegen Art. I4 GG für verfassungswidrig.40 Dieses Verdikt hat aber seinen Grund nicht zuletzt darin, daß der gesamtdeutsche Rentengesetzgeber die Ansprüche und Anwartschaften auf Sonderrenten - vereinfacht dargestellt - nicht als eigentumsgeschützt ansah. Das Bundesverfassungsgericht ist dagegen der Auffassung, daß die in der Deutschen Demokratischen Republik erworbenen und im Einigungsvertrag nach dessen Maßgaben als Rechtspositionen der gesamtdeutschen Rechtsordnung anerkannten Ansprüche und Anwartschaften aus solchen Versorgungssystemen den Schutz des Art. 14 Abs. I Satz 1 GG genießen. 41
Die Bewährungsprobe für die Durchsetzungsfähigkeit des Art. 14 GG im Rentenversicherungsrecht steht also noch aus. Sie wird nicht dadurch bestanden, daß das Eigentumsgrundrecht (nur) den rechtsstaatlich geordneten Rückzug aus rentenrechtlichen Leistungsversprechen sichert. Andererseits gilt es freilich hier wie auch in anderen Fällen der Verfassungskontrolle darauf hinzuweisen: Eine vorhandene und dem Gesetzgeber bekannte Rechtsprechung des Gerichts wirkt präventiv. 42 Der Gesetzgeber orientiert sich routiniert an ihr43, und dies ist ein rechtsstaatlicher Glücksfall. Im übrigen bleibt immer auf der Habenseite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle die Verpflichtung des Gesetzgebers zu hoher Rationalität. Auch diese Wirkung der Verfassungsgerichtskontrolle von Gesetzen sollte man nicht unterschätzen.
Vgl. BVerfGE58, 81 (110); 70, 101 (111). Siehe Urteile vom 28. Aprill999, I BvL 22/95 und I BvL 34/95; I BvL 32/95 und I BvR 2105/95 sowie I BvL 11/94, I BvL 33/95 und I BvR 1560/97, BVerfGE 100, I. 41 Urteil vom 28. April 1999, I BvL 32/95 und I BvR 2 105 I 95, UmdruckS. 43 ff. 42 Zutreffend hat man in der Diskussion im Anschluß an diesen Vortrag darauf aufmerksam gemacht, daß der Gesetzgeber eine wesentliche Verschlechterung von Rentenanwartschaften, die auf beitragsbelegten Zeiten beruhen, bisher vennieden habe; vgl. aber auch BVerfGE 78, 79 (98). 43 Ein weiteres Beispiel dafür ist die Behandlung von Vertrauensschutzfragen durch den Gesetzgeber. Siehe dazu aus jüngerer Zeit (jeweils mit Nachweisen) Möller I Rührmair; NJW 1999, S. 908 ff. und Steiner, Vertrauensschutz als Verfassungsgrundsatz, in: Vertrauensschutz in der Europäischen Union, hrsg. v. R. Henke, 1998, S. 3 1 ff. 39
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d) Die Kritiker der HEZG-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vermissen gleichwohl Art. 14 GG und trauen dem vom Gericht als grundrechtliehen "Ersatzmaßstab" für die verfassungsrechtliche Prüfung von Gesetzen mit rentenrechtlicher Anwartschaftsverschlechterung eingeführten Art. 2 Abs. 1 GG offenbar wenig zu. Immerhin ist aber dessen Schutzbereich in der HEZG-Entscheidung so formuliert, daß er die verfassungsrechtliche Grundproblematik der gegenwärtigen Situation der gesetzlichen Rentenversicherung durchaus treffsicher und zeitgemäß wiedergibt: Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG sei berührt, wenn der Gesetzgeber einerseits durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflichten in einem öffentlich-rechtlichen Verband der Sozialversicherung die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht unerheblich einenge44 , andererseits dem Versicherten gesetzlich zugesagte und beitragsfinanzierte Leistungen dieses Verbandes wesentlich vermindere. Gewiß gilt Art. 2 Abs. 1 GG als eine Art Notadresse des Grundrechtsschutzes. Der Rentengesetzgeber hat hier, greift er in Anwartschaften ein, nur einsichtige öffentliche Belange zu benennen und die Anforderung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip zu beachten, wenn er sozialversicherungsrechtliche Rechtspositionen zu Lasten des Versicherten umgestaltet. Ob dies aber in der Praxis der verfassungsgerichtlichen Prüfung wirklich deutlich weniger wirksam ist als die Verheißung im Zusammenhang mit Art. 14 Abs. 1 GG, der im Rahmen dieses Grundrechts gewährte Vertrauensschutz weise eine besondere Abwägungsstruktur auf und deshalb eine höhere Qualität als der allgemeine rechtsstaatliche Vertrauensschutz außerhalb dieses Grundrechts45 , wäre erst noch zu beweisen. Immerhin gilt auch im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG der besondere Satz, daß die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung erst langfristig zu Versicherungsleistungen führe und daß deshalb in diesem Bereich besonderes Vertrauen auf den Fortbestand gesetzlicher Leistungen begründet sei. 46 Diese Feststellung stellt für das Bundesverfassungsgericht vor dem Hintergrund der Entwicklung des Rentenversicherungsrechts in den 90er Jahre eine stetige Herausforderung und Bewährungsprobe der Glaubwürdigkeit seiner Rechtsprechung dar. Ich spreche hier das Rentenreformgesetz 1992, das Wachstumsförderungsgesetz 1996 und das Rentenreformgesetz 1999 an. Zu allen diesen Gesetzen liegen dem Bundesverfassungsgericht gegenwärtig Verfahren vor, in denen die rentenrechtliche Verschlechterung von Anwartschaften als verfassungswidrig angegriffen wird: die Rentenwirksamkeit von Ausbildungszeiten, die Beschleunigung der stuVgl. auch BVerfGE 78, 320 (329): 89, 365 (376); 92, 53 (68). Pointiert dazu und zum Eigentumsschutz sozialrechtlicher Positionen allgemein Leisner, Eigentum, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, Rdnm. 85 ff. 46 Vgl. BVerfGE 69, 272 (309); 76, 256 (348). 44 45
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fenweisen Anhebung der Altersgrenze für den Rentenzugang und die Bewertung der ersten Beitragsjahre im sozialrechtlichen Pflichtversicherungsverhältnis.
111. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer Neuordnung des Rechts der Hinterbliebenenrenten 1. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers innerhalb des Anrechnungsmodells
Die Entscheidung des Senats, den Ansprüchen von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen den Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG vorzuenthalten, hat freilich den Raum des Gesetzgebers bei der näheren Ausgestaltung des Anrechnungsmodells erweitert. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Frage festzuhalten, ob der Gesetzgeber über das Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen hinaus Einnahmen aus dem Vermögen des Berechtigten berücksichtigen darf, um im Einzelfall zu bestimmen, ob und in welchem Umfang die Renten von Todes wegen als Unterhaltsersatz erbracht werden müssen. Dies ist primär eine sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers und vorrangig an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Freilich meint der Senat, die Entwicklung im Vermögensbereich müsse beobachtet werden. Zunehmend würden auch Einnahmen aus dem Vermögen den individuellen Bedarf an sozialer Sicherung bestimmen. Nach den vorliegenden Schätzungen werde in den nächsten Jahren der Teil der Bevölkerung zunehmen, der seinen Lebensunterhalt nicht überwiegend aus Arbeitseinkommen, sondern aus dem Vermögen bestreite. Der Gesetzgeber habe - so das Gericht - mit Rücksicht auf seine Bindung an den Gleichheitssatz diese Entwicklung im Auge zu behalten, um auf wesentliche Veränderungen rechtzeitig reagieren zu können. Sollte sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes das Vermögen verstärkt zur Grundlage der Sicherung des Lebensbedarfs entwickeln und in dieser Funktion das Arbeitseinkommen zurückdrängen, so wäre die Frage der Belastungsgleichheit zwischen den Beziehern von Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen einerseits und den Beziehern von Einkommen und Vermögen andererseits neu zu prüfen und gegebenenfalls anders zu beantworten als dies das geltende Recht tue. 47 Diese Feststellungen sind auf das Anrechnungsmodell des HEZG bezogen. Konsequenzen ergeben sich aus diesen Aussagen nicht für die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Regelungen, die - wie heute schon im Krankenversicherungsrecht der freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Rentner48 oder vielleicht morgen in der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Schweizer 47 Niemeyer zweifelt, ob diese Aussagen für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden erforderlich gewesen seien (FuR 1998, S. 247/250). 48 Siehe § 240 Abs. 1 Satz 2 SGB V und dazu Peters, in: Kasseler Kommentar, § 240 SGB V Rdnr. 12, Stand Mai 1997.
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Modell 49 - die Bemessungsgrundlage an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Einzelnen orientieren. Verfassungsrechtlich ist das jeweils ein neues Spiel.
2. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers außerhalb des Modells des HEZG und des Konzepts der abgeleiteten Rente Die Senatsentscheidung hebt zum Schluß ausdrücklich hervor, daß Art. 3 Abs. I des Grundgesetzes die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers keineswegs auf die vom HEZG für das Hinterbliebenenrecht gewählte Lösung einschränke. Der Gesetzgeber hätte statt der von ihm getroffenen Regelung auch andere Konzepte verfolgen können. Dabei verweist der Senat auf seine 1992 getroffene Grundsatzentscheidung zu Kindererziehungszeiten nach dem HEZG hin50. Dort ist formuliert: Das Grundgesetz lasse Raum für eine Änderung der Hinterbliebenenversorgung mit dem Ziel, bei Witwen- und Witwerrenten stärker auf die Dauer der Ehe sowie darauf abzustellen, ob der überlebende Ehepartner durch Kindererziehung oder Pflegeleistungen in der Familie am Erwerb einer eigenen Altersversorgung gehindert gewesen sei. 51 Dies sind Optionen in einer Entscheidung, die von der Frage der rentenrechtlichen Anerkennung von Kindererziehungszeiten geprägt ist. Mit diesen Erwägungen wird der Spielraum des Gesetzgebers bei der Neuordnung des Rechts der Hinterbliebenenrente nicht abschließend bestimmt. 52 Die HEZGEntscheidung signalisiert Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auch außerhalb des Modells dieses Gesetzes. Auch solche Signale dürfen aus Karlsruhe kommen.
49 Dazu aus der öffentlichen Diskussion z. B. Borchert. in: SZ Nr. 2 v. 4. I. 1999, S. 22 und Spiegel Nr. 32, 1998, S. 46 (54). 50 Vgl. BVerfGE 87, 1 ff. 51 BVerfGE 87, 1 (41). 52 Siehe z. B. Mascher, DRV 1997, S. 690ff. und Försterling/Kamprad/Bollwerk/ Kallweit. in: Die Sozialversicherung 1999, S. 169ff.
Soziale Sicherung der Frau Möglichkeiten einer Reform im Bereich der Alterssicherung Von Prof. Dr. Franz Ruland, Bad Hornburg Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt/Main
I. Einführung Die Dynamik unserer Gesellschaft und der demokratische Prozeß bringen es mit sich, daß Entscheidungen des Gesetzgebers kaum mehr sein können als Zwischenergebnisse in einem permanenten Prozeß der Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen und der Diskussion hierüber. Dies gilt insbesondere im Sozialrecht, das den gesellschaftlichen Wandel und die sich daraus ergebenden Probleme, die positiven und negativen Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und den Wechsel politischer Konzeptionen am ehesten und am häufigsten zu spüren bekommt. Die mühsam durchgesetzte Rentenreform '99 und ihre Rücknahme in wesentlichen Teilen noch vor ihrem lokrafttreten und die Ankündigung neuer Reformen sind sehr aktuelle Beispiele. Ein anderes Beispiel ist der Bereich der sozialen Alterssicherung der Frauen. Seine grundlegende Reform gehört zu den zentralen rentenpolitischen Aufgaben der neuen Legislaturperiode. Sie soll Teil der von der neuen Bundesregierung angestrebten "großen" Rentenreform sein und bereits dieses Jahr auf den Weg gebracht werden. Konzeptionen sind allerdings noch nicht erkennbar. Die gesetzliche Rentenversicherung steht vor einer schwierigen Neuordnung. Die Entwicklung der sozialen Sicherung der Frau spiegelt wie kaum ein anderer Rechtsbereich wider, wie sich die soziale und gesellschaftliche Stellung der Frau in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat und sich weiter wandelt. Die soziale Sicherung der Frauen war seit jeher untrennbar mit dem gesellschaftlichen Status der Frau und den vom Ehe- und Familienrecht vorgegebenen Rahmenbedingungen verknüpft. Reformen in diesem Bereich berühren daher nicht nur das Rentenrecht Es geht dabei auch um die schwierige Auseinandersetzung mit frauenpolitischen Leitbildern und Rollenverteilungen in Familie und Gesellschaft. Deshalb wird die Diskussion sehr emotional geführt werden. Den Reformvorschlägen liegen unterschiedliche Leitbilder von der Rolle der Frauen in Gesellschaft und Familie zugrunde und es werden mögliche Reformmaßnahmen auch als sozialpolitische Bewertung innerfamiliärer Rollenverteilungen verstanden.
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Die Rentenversicherung unterscheidet zwischen eigenständiger und abgeleiteter Sicherung. Die eigenständige Sicherung ergibt sich aus gesetzlicher oder freiwilliger Versicherung. Ihr Ausmaß hängt davon ab, wie lange und in welcher Höhe Beiträge entrichtet wurden. Abgeleitet gesichert sind nach dem Tode des Versicherten dessen Hinterbliebene. Die Reform der sozialen Sicherung der Frau muß beide Aspekte erfassen: die eigenständige und die abgeleitete Sicherung. Sie muß des weiteren berücksichtigen, daß sich die Lebenssituationen von Frauen verändert haben und sich weiter verändern: Die Scheidungshäufigkeit nimmt zu. Die Zahl der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften hat sich zwischen 1985 und 1995 fast verdoppelt. Immer mehr Frauen leben alleine und es gibt immer mehr Alleinerziehende. Mit der Reform soll, wie es Bundestag und Bundesrat 1991 in übereinstimmenden Resolutionen formuliert haben, "die Alterssicherung der Frauen in der leistungsbezogenen Rentenversicherung verbessert werden". Die Reform soll vor allem die eigenständigen Anwartschaften der Frauen ausbauen und einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Problems der Altersarmut leisten. Allerdings ist der finanzielle Spielraum für eine solche Reform außerordentlich eng. Die Rentenreformen 1992 und 1999 waren wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der durch sie ausgelösten verstärkten Frühverrentung sowie der auf die Rentenversicherung mittel- bis langfristig zukommenden demographischen Probleme notwendig geworden. Weder das Aussetzen eines Teils der mit der Reform '99 beschlossenen Maßnahmen noch der höhere BundeszuschoB signalisieren eine "Entwarnung". Zwar ist die Demographie nur ein Faktor für die finanzielle Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung. Genauso wichtig ist auch die Entwicklung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die des Arbeitsmarktes. Aber die erhofften positiven Effekte dieser Entwicklung werden benötigt, um die sich aus der Demographie ergebenden Belastungen in etwa aufzufangen. Einen finanziellen Spielraum für zusätzliche Ausgaben eröffnen sie nicht. Daraus kann sich aber kein sozialpolitischer Stillstand ergeben. Es ist stete Aufgabe der Sozialpolitik, das Sozialrecht den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Sind die Finanzen knapp, müssen entsprechend den neu gesetzten Prioritäten Mittel umgeschichtet werden. Daß dies in einem beitragsfinanzierten Vorsorgesystem, auf dem die Lebensplanung von Millionen Versicherten und ihrer Angehörigen beruht, nur schrittweise und behutsam erfolgen kann, versteht sich. Dieser Vertrauensschutz gilt auch für die Aussicht auf Hinterbliebenenrenten, selbst wenn das Bundesverfassungsgericht ihr - entgegen der ganz überwiegenden Literatur in problematischer Weise den Eigentumsschutz verweigert hat. Eine zwingende verfassungsrechtliche Vorgabe der Reform ist es, Frauen und Männer gleich zu behandeln. Das ist deshalb so schwierig, weil sich die sozialen Biographien von Frauen und Männem nach Erwerbstätigkeit, Einkommen und Vorsorge zumeist deutlich unterscheiden. Die Regelungen, die z. B. zum sozialen Schutz der Witwe notwendig sind, führen, auf den Witwer übertragen, zu dessen Übersicherung. Der Reform 1986 ist es gelungen, Witwen und Witwer zwar recht-
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lieh formal gleich zu behandeln, aber mit der Einkommensanrechnung ein Korrekturelement zu finden, damit sich an der vorher bestehenden Situation faktisch nur wenig ändert und somit eine Umverteilung zugunsten der Witwer zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber doch weitgehend eingegrenzt wird. Witwen haben fast immer, Witwer fast nie einen Anspruch auf die volle Hinterbliebenenrente. Ziel der neuen Reform muß es sein, bei formaler Gleichbehandlung die - wie es nun in Art. 3 II 2 GG heißt - tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin zu wirken.
II. Handlungsfelder im Bereich der eigenständigen Sicherung der Frauen 1. Vermehrte Erwerbstätigkeit von Frauen
Der entscheidende Beitrag zur verbesserten sozialen Sicherung von Frauen kann nicht im Rahmen der Umverteilung von Alterseinkommen erfolgen, er muß bei der Verteilung der Erwerbseinkommen geschehen. Frauen können nur dann wesentlich besser sozial gesichert werden, wenn sie im Vergleich zu heute mehr und länger erwerbstätig werden und sich auch dadurch die Einkommensunterschiede im Vergleich zu Männern weiter verringern. Wenn sie häufiger erwerbstätig werden, haben Frauen nicht nur in der aktiven Phase mehr Einkommen, sondern auch im Alter höhere Renten. Je mehr dies erreicht wird, um so weniger muß die Verbesserung der sozialen Sicherung der Frau auf Mittel des Sozialbudgets oder auf Anrechte vor allem des Ehemannes zurückgreifen. Trotz der derzeit hohen Arbeitslosigkeit ist das Ziel langfristig realistisch. Spätestens nach 2010 werden starke Jahrgänge in Rente gehen und schwächer besetzte ins Erwerbsleben nachrücken. Es entspricht dem heutigen Selbstverständnis von Frauen, erwerbstätig zu sein, ihre Ausbildung in Beruf und Praxis umzusetzen, unabhängiger zu werden. Die Erwerbsquote der Frauen ist in den alten Bundesländern zwischen 1970 und 1997 von 46,2% auf 60,3% angestiegen. Dahinter steht im wesentlichen eine Zunahme der Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen. In den neuen Ländern blieb sie 1997 mit 73,6% auf hohem Niveau. Auch die Zahl der voll- und teilzeiterwerbstätigen Mütter hat sich erhöht. Das gilt insbesondere für die, deren Kinder schulpflichtig geworden sind oder das Haus verlassen haben. Jährlich kehren über 300.000 Frauen in das Berufsleben zurück. Allerdings streben die meisten von ihnen eine Teilzeitbeschäftigung an. Die immer noch im Vergleich zu Männern deutlich geringere Erwerbsquote von Frauen erklärt sich zum einen mit der Kinderziehung, zum anderen mit Pflegetätigkeiten. Die reine "Hausfrauenehe" wird - zumindest in jüngerem Lebensalter - immer weniger gelebt. Allerdings entscheiden sich immer mehr Frauen für die Erwerbstätigkeit, für das Aufschieben von Geburten und für weniger oder keine Kinder. Die Folgen für die Demographie sind bekannt. Damit sie sich nicht weiter verstärken, muß alles getan
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werden, damit die Kindererziehung, auf die Staat und Gesellschaft angewiesen sind, neben der Erwerbstätigkeit ermöglicht wird. Dazu bedarf es allerdings vieler Änderungen in den Rahmenbedingungen. Es müßte mehr Arbeitsplätze für Frauen geben. Ihre Arbeitslosigkeit müßte gezielter bekämpft werden. Es fehlen nach wie vor Teilzeitarbeitsplätze. Notwendig ist eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Das Betreuungsangebot für Kinder ist trotz der gestiegenen Zahl von Killdergartenplätze noch unzulänglich. Schulen und Lehrer müßten stärker in die Pflicht genommen werden. Schulzeiten müßten verläßlicher und über den Mittag ausgedehnt und es muß über Betreuungsmöglichkeiten für Kinder während der langen Schulferien nachgedacht werden. Die Aufgabe, die soziale Sicherung der Frauen zu verbessern, läßt sich nicht auf das Sozialrecht begrenzen. Es sind darüber hinaus viele andere Politikbereiche gefordert. So wichtig die Förderung der Frauenerwerbstätigkeit ist, die anstehende Reform darf sich jedoch nicht ausschließlich dem Leitbild der durchgängig erwerbstätigen Frau verschreiben. Nachdem dem geltenden Recht der Vorwurf gemacht wird, allein auf das traditionelle Modell der "Hausfrauenehe" abgestellt zu haben, sollte man nicht in das andere Extrem verfallen und das Modell der erwerbstätigen Frau "vorschreiben". Die berufstätige Frau und die Mutter, die sich der Kinder wegen aus dem Erwerbsleben zuriickzieht, dürfen nicht zu sich ausschließenden Leitbildern staatlicher Sozialpolitik propagiert werden. Das Grundgesetz schützt die Freiheit individueller Lebensgestaltung und die Freiheit der Ehegatten, die Aufgaben und Rollen innerhalb der Familie zu verteilen. Diese Freiheit hat auch das Sozialrecht zu respektieren. Ihre Ausübung darf allerdings nicht zu Lasten Dritter gehen. Daher hat die Sozialpolitik zwar die Erwerbstätigkeit von Frauen zu fördern, andererseits aber auch den vom Verfall ihres Lebensstandards bedrohten Familien die Entscheidung wieder zu eröffnen, ob sie Kinder haben und in persönlicher Betreuung großziehen wollen. Die Sozialpolitik muß Möglichkeiten fördern, während der Kindererziehung erwerbstätig zu sein oder nach einer Unterbrechung wieder ins Erwerbsleben zuriickzukehren. Dem Gesetzgeber steht es grundsätzlich frei, wie er die Schwerpunkte setzt. Doch hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere mit seinen Entscheidungen zur steuerlichen Entlastung der Familien und zu den Kindererziehungszeiten deutlich gemacht, daß vor allem den Eltern, die sich der Kindererziehung wegen aus dem Erwerbsleben zuriickgezogen haben, mehr als bisher staatliche Unterstützung zuteil werden muß.
2. Ausweitung der Sozialversicherungspflicht Zum Thema "Ausbau eigener Rentenanwaltschaften" gehört auch die Forderung, daß möglichst jede Erwerbstätigkeit zum Aufbau einer sozialen Alterssicherung beiträgt. Die Diskussion über eine Einbeziehung der geringfügig Beschäftigten in die Rentenversicherungspflicht ist in der Vergangenheit auch unter dem Aspekt geführt worden, denn Frauen stellen die Mehrzahl der geringfügig Beschäf-
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tigten. Die jetzt von der Bundesregierung angedachte Lösung, nur den Arbeitgeberbeilrag einzufordern, bringt insoweit nichts. Von der Möglichkeit, den dann etwas reduzierten Arbeitnehmerbeitrag freiwillig zu entrichten, werden wohl nur wenige Versicherte Gebrauch machen, zumal die Rentenanwartschafteil aus geringfügigen Beschäftigungen sehr gering sind. Eine Beschäftigung von 500,DM monatlich erhöht aktuell die Rente im Jahr um 5,38 DM. Damit läßt sich eine soziale Sicherung nicht aufbauen, bestenfalls ausbauen. Von der seit l. Januar 1999 wirksamen Einbeziehung der "Scheinselbständigen" in die Rentenversicherung werden auch Frauen erfaßt, die knapp die Hälfte des betroffenen Personenkreises stellen. Eine signifikante Ausweitung des versicherten Personenkreises ist bereits 1995 bei der Alterssicherung der Landwirte erfolgt. In ihr sind Ehegatten von Landwirten versicherungs- und beitragspflichtig geworden (§§ 1 III 1, 70 I 1 ALG). Eine darüber hinausgehende Ausweitung der Sozialversicherungspflicht auf alle Selbständigen, wie sie in anderen Ländern, z. B. in Österreich, schon beschlossen ist, wird in Deutschland zwar diskutiert, da auch bei uns die Grenze zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit immer mehr verschwimmt. Entsprechende Mehrheiten sind aber noch nicht erkennbar. Im Zusammenhang mit Vorschlägen zur verbesserten sozialen Sicherung von Frauen gibt es Überlegungen, die Versicherungspflicht auch auf nicht erwerbstätige Personenkreise auszuweiten. Durch Zahlung eines Mindestbeitrags (75% des Durchschnittsentgelts) soll jede Person unabhängig von ihrer Erwerbs- und Familienbiographie eine über dem Sozialhilfeniveau liegende Altersversorgung erhalten. Soweit Ehegatten nicht selbst aufgrund einer Erwerbstätigkeit versicherungspflichtig oder wegen Erwerbsverhinderung beitragsfrei gestellt sind, soll grundsätzlich der unterhaltspflichtige Partner für den nichterwerbstätigen den Mindestbeitrag zahlen. Bei niedrigen Einkommen oder großer Kinderzahl ist eine Beitragsentlastung aus staatlichen Mitteln vorgesehen. Diese Überlegungen haben aber nur wenige Anhänger gefunden, weil die vorgesehene Beitragspflicht die Leistungsfähigkeit der Familien überfordert, da sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberbeiträge zu zahlen sind. Die meisten Frauen hätten finanziell keine andere Wahl, als arbeiten zu gehen. Außerdem könnte der Arbeitsmarkt die sich daraus ergebende zusätzliche Arbeitsnachfrage aktuell bis mittelfristig nicht verkraften. 3. Versicherung bei Kindererziehung und Pflege
Nach den übereinstimmenden Resolutionen von Bundestag und Bundesrat von 1991 soll die Anerkennung von Zeiten der Kindererziehung und der Pflege verbessert und dabei die Tatsache berücksichtigt werden, daß Familienarbeit oft auch gleichzeitig mit Erwerbsarbeit geleistet wird. Diesem politischen Postulat hat das Bundesverfassungsgericht Nachdruck verliehen. Nach seiner Entscheidung vom 7. Juli 1992 ist der Gesetzgeber verpflichtet, dem Lebenssachverhalt Kindererzie-
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hung in der gesetzlichen Rentenversicherung künftig in weitergehendem Maße Rechnung zu tragen als bisher. Das Gericht hat dem Gesetzgeber für die Erfüllung des Auftrages eine ausreichende Anpassungszeit eingeräumt. Die ihm aufgegebene Reform erfordere einen hohen Regelungsaufwand in verschiedenen Rechtsgebieten und binde beträchtliche finanzielle Mittel. Er könne sie daher auch in mehreren Stufen verwirklichen. Wie der Gesetzgeber diese Reform inhaltlich gestalte, bleibe ihm überlassen. Das Gericht macht insoweit nur Vorschläge. Ihm scheint ein weiterer Ausbau der Kindererziehungszeiten ein geeignetes und systemgerechtes Mittel zu sein, die Benachteiligung der Kinderreichen in der Alterssicherung abzubauen. An anderer Stelle signalisiert es dem Gesetzgeber, daß "das Grundgesetz Raum (läßt) für eine Änderung der Hinterbliebenenversorgung mit dem Ziel, bei Witwenund Witwerrenten stärker auf die Dauer der Ehe sowie darauf abzustellen, ob der überlebende Ehepartner durch Kindererziehung oder Pflegeleistungen in der Familie am Erwerb einer eigenen Altersversorgung gehindert war". Der HandJungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts ist zwar sehr zurückhaltend, sehr offen und ohne Fristsetzung formuliert. Doch hat das Gericht den Gesetzgeber aufgefordert, ,jedenfalls sicherzustellen, daß sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringert. Dem muß der an den Verfassungsauftrag gebundene Gesetzgeber erkennbar Rechnung tragen". Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber in der vergangeneu Legislaturperiode dadurch nachgekommen, daß er - wenn auch stufenweise - die Bewertung der Kindererziehungszeiten von 75 % des Durchschnittsverdienstes auf 100% angehoben hat. Außerdem werden sie künftig additiv bis zur Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt, d. h. sie werden nicht mehr durch eine eigene beitragspflichtige Beschäftigung ganz oder teilweise verdrängt. Dieser Gleichstellung der Kindererziehungszeiten mit "normalen" Beschäftigungszeiten entspricht, daß für sie nach der Ende Dezember 1998 beschlossenen Neuregelung ab 1. 7. 1999 aktuelle Beiträge aus Steuermitteln entrichtet werden. Eine erneute Verlängerung der Kindererziehungszeiten ist weder verfassungsrechtlich notwendig noch sozialpolitisch zu empfehlen. Notwendig ist sie zum einen deshalb nicht, weil der Gesetzgeber gerade erst die Bewertung der Kindererziehungszeiten angehoben hat. Er hat zum andern mit Wirkung ab Anfang 1999 das Kindergeld für das erste und zweite Kind von 200,- auf 250,- DM angehoben. Mit dieser Entscheidung entspricht der Gesetzgeber dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, das Existenzminimum von Familien stärker als bisher steuerlich freizustellen. Angesichts des doppelten Handlungsauftrages, den der Gesetzgeber beim Familienleistungsausgleich zu erfüllen hat, muß er, da Haushaltsmittel nur begrenzt zur Verfügung stehen, Prioritäten setzten. Für den Kinderlastenausgleich gibt es zwei Zeitpunkte: die Zeit, in der die Kinder aufgezogen werden, und die Zeit, in der die Eltern Rente beziehen. Daß der Gesetzgeber sich Ende 1998 für eine stärkere Entlastung in der Erziehungsphase entschieden hat, ist sachgerecht. Ein Familienlastenausgleich, der erst bei der Rente und im Alter einsetzt, verfehlt in doppelter Weise sein Ziel. Die Familien brauchen die Hilfe am dringendsten,
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wenn sie die Kinder erziehen, und nicht im Alter. Einen Familienlastenausgleich über die Rentenversicherung würden wegen des Umlageverfahrens die Kinder und nicht die Kinderlosen finanzieren. Sollte es trotzdieser Gründe und trotz der hohen Kosten - ein Jahr Kindererziehung mehr würde rund 5 Milliarden DM kosten - zu einer Verlängerung der Kindererziehungszeiten kommen, wäre es sinnvoll, dies nicht generell vorzunehmen, sondern die Dauer der Kindererziehungszeiten mit steigender Kinderzahl progressiv zu staffeln. Je mehr Kinder ein Elternteil erzieht, umso weniger Chancen hat er, erwerbstätig zu sein. Je länger er aus dem Erwerbslebens ausgeschieden war, umso schwerer ist auch seine Wiedereingliederung. Kommt es zu keiner Verlängerung der Kindererziehungszeiten, muß der Gesetzgeber gerade bei einer Reform der sozialen Sicherung der Frau in anderer Weise sicherstellen, daß der Tatbestand Kinderziehung stärker als bisher berücksichtigt wird. Seit dem 1. 4. 1995 sind auch Pflegepersonen in die Rentenversicherung einbezogen. Für sie haben die Träger der Pflegeversicherung Beiträge zu entrichten, deren Höhe von den Stufen der Pflegebedürftigkeit und vom Umfang der Pflege abhängt. Eine Begrenzung gibt es nur in sofern, als eine Beitragspflicht nicht besteht, wenn die Pflegeperson mehr als 30 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. Es ist anzuerkennen, daß mit der Einbeziehung der Pflegepersonen in die Rentenversicherung eine wichtige Verbesserung der sozialen Sicherung der Frauen erreicht wurde. Mein Vortrag handelt zwar nur von der Alterssicherung. Gleichwohl sei die Frage aufgeworfen, warum Zeiten der Kindererziehung und der Pflege nur in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert sind. In der Kranken- und Pflegeversicherung ist der kindererziehende Ehegatte familienversichert. Dieser Schutz ist abgeleitet und fehlt bei den Alleinerziehenden. Die Unfallhäufigkeit im Haushalt ist bekannt. Sollte die Kindererziehung daher nicht auch - wie die Pflege - durch die (unechte) Unfallversicherung abgedeckt werden? Wenn Kindererziehung und Pflege versicherungspflichtigen Beschäftigungen gleichgestellt werden, warum gilt dies nicht auch für die Arbeitslosenversicherung? Ihr Leistungsangebot bei Rückkehr in den Beruf könnte so deutlich verbessert werden. Gegen eine bedürftigkeitsorientierte Mindestsicherung, die niedrige Renten nach einer eingeschränkten Prüfung der Bedürftigkeit auf das Sozialhilfeniveau aufstockt, gibt es gute Gründe. Das Alter eines Hilfsbedürftigen allein ist kein Grund, ihn besser als andere, etwa Alleinerziehende, zu stellen, die auch auf Sozialhilfe angewiesen sind,. Lücken in der Vorsorge würden geschlossen, ohne daß es auf ihren Grund ankommt. Soweit er sozialrelevant ist, werden die Zeiten - wenn auch nur noch eingeschränkt - berücksichtigt, die Kindererziehungs- und Pflegezeiten als Beitragszeiten, die Zeiten der Krankheit, der Arbeitslosigkeit oder der Ausbildung als Anrechnungszeiten. Begünstigt würden vor allem Zeiten, in denen die unterbliebene Vorsorge möglich und zurnutbar war. Die Trennung zwischen der lohn- und beitragsorientierten Rente mit der ohne jede Vorleistung zu gewähren-
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den, steuerfinanzierten Sozialhilfe würde unscharf. Die Leistung, die der eine mit teuren Beiträgen erkauft hat, stünde dem anderen ohne Vorleistung zu. Das gefährdet die spezifischen Garantien versicherungsmäßiger Leistungen, insbesondere ihren Eigentumsschutz. Eine bedürftigkeitsorientierte Grundsicherung wertet die Sozialhilfe und diejenigen ab, die auf diese Hilfe weiterhin angewiesen sind. Mit jedem neuen dazwischen geschobenen Hilfssystem rutscht die Sozialhilfe eine Stufe tiefer.
111. Handlungsfelder im Bereich der abgeleiteten Sicherung
1. Die zwei Konzeptionen des geltenden Rechts
Auch wenn die Erwerbstätigkeit von Frauen zunimmt und ihre Einkommen aufholen, die Anrechnung von Pflegezeiten eingeführt und die von Kinderziehungszeiten verbessert wurde, kann eine ausreichende soziale Sicherung von Frauen nur dadurch erreicht werden, daß auf die Beitragsleistung und das Versicherungskonto des Ehemannes zugegriffen wird - wenn es ihn denn gibt. Alles andere ist Illusion. Selbst Vorschläge für eine "voll" eigenständige soziale Sicherung kommen ohne diesen Zugriff auf das Konto des Ehemannes nicht aus. Insofern wird es auch künftig - wie bisher - eine Mischung aus eigenständiger und abgeleiteter Sicherung geben. Im Bereich der abgeleiteten Sicherung stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Die eine prägt das Recht der Renten wegen Todes, die andere den Versorgungsausgleich bei Scheidung. Anfangs gab es gar keine Sicherung. Am Anfang staatlicher Sozialpolitik stand nur der gegen Entgelt Tätige im Vordergrund der Zielorientierung. Der damalige Ansatz ist, obwohl schon friih auf seine Enge hingewiesen worden war, bis heute beibehalten worden. Primäres - und vor der Einbeziehung der Angehörigen, die 1911 mit der RVO erfolgte, einziges - Zuweisungskriterium zu den gehobenen Vorsorgesystemen ist die entgeltliche Beschäftigung. Das daraus erzielte Einkommen vermittelt Vorsorgefähigkeit und löst einen Vorsorgebedarf für die Risiken aus, die es bedrohen. Bei dem Bestreben, den Angehörigen ebenfalls den Schutz der Vorsorgesysteme zukommen zu lassen, stand man schon damals vor der Alternative, deren personale Begrenzung zugunsten einer jedermann umfassenden gehobenen sozialen Sicherung aufzugeben, wie dies bereits 1908 gefordert wurde, um auf diesem Wege dann auch die Angehörigen unmittelbar einzubeziehen, oder die personale Begrenzung auf die Erwerbstätigen beizubehalten und die Sicherung der Angehörigen den schon bestehenden Sozialversicherungszweigen anzugliedern. Der zweite Weg wurde eingeschlagen und es stellte sich dann nur noch die Frage, für welche Berufsgruppen die Hinterbliebenensicherung wie auszugestalten ist. Man ging also nicht von den Angehörigen als den eigentlich zu Sichemden aus, sondern sah nur den Verdiener, über den sie abgeleitet und mittelbar gesichert werden sollten.
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Die dann so erfolgte Ausgestaltung der Sicherung der Angehörigen war - zumindest im Ansatz - konsequent. Waren die Angehörigen, obwohl die Beschränkung der Systeme gehobener sozialer Sicherung auf bestimmte Berufsklassen beibehalten wurde, nicht abgeleitet gesichert worden, dann hätte dies einen Widerspruch zu der personellen Beschränkung der Vorsorgesysteme und eine so wesentliche Durchbrechung hiervon bedeutet, daß damit unvermeidlich die Frage nach dem Ausbau oder Umbau der Sozialversicherung zu einer Volksversicherung gestellt worden wäre. Da man dies nicht wollte, ist die Unterhaltsberechtigung gegenüber einem durch das System sozialer Sicherung gesicherten Ehemann oder Vater zu dem für die Angehörigen maßgeblichen Konstitutionsprinzip gehobener sozialer Sicherung geworden. Das bringt es mit sich, daß- entsprechend der personellen Begrenzung des unmittelbar gesicherten Personenkreises- auch nur die Angehörigen gesichert sind, deren Unterhaltsträger der gehobenen sozialen Sicherung zugeordnet ist. Soweit sie es nicht sind, sind es ihre Angehörigen auch nicht. Diese Konzeption ist im Detail zwar vielfach geändert, aber - was die Renten wegen Todes anbetrifft - selbst durch die Reform 1986 nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Die unter gleichen Voraussetzungen für Witwen und Witwer vorgesehenen Renten wegen Todes stellen nach wie vor Unterhaltsersatz dar. Diese Unterhaltsersatzkonzeption ist durch die Einkommensanrechnung, die 1986 eingeführt wurde, noch verschärft worden, da selbst nach dem Tode des Unterhaltsträgers eine fortbestehende Unterhaltsbedürftigkeit Voraussetzung der Hinterbliebenenrente ist. Allerdings ist die entgeltliche Beschäftigung nicht mehr ausschließlich die "Eintrittskarte" in die gehobene soziale Sicherung. Kindererziehung und Pflege sind hinzugekommen. Seit der Rentenreform 1957 gelten für die Witwen- und Witwerrenten in der Arbeiterrenten- und in der Angestelltenversicherung die gleichen Regelungen. Eine weitere Ungleichbehandlung hat nach einem entsprechenden Auftrag des Bundesverfassungsgerichts und nach jahrelanger Diskussion das am 1. 1. 1986 in Kraft getretene Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz (HEZG) beseitigt: Witwerrenten wurden im Gegensatz zu den Witwenrenten bis dahin nur geleistet, wenn die verstorbene Ehefrau den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hatte. Seit der Neuregelung haben Witwen und Witwer unter den gleichen Voraussetzungen Anspruch auf eine unbedingte Hinterbliebenenrente, wenn der bzw. die Verstorbene die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Nach geltendem Recht haben Witwen und Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, Anspruch auf die "kleine" Witwen- bzw. Witwerrente in Höhe von 25 % der Versichertenrente (§ 46 Abs. 1 SGB VI). Die "große" Witwen-/ Witwerrente (§ 46 Abs. 2 SGB VI) in Höhe von 60% der Versichertenrente wird an Hinterbliebene geleistet, die ein Kind unter 18 Jahren erziehen, das 45. Lebensjahr vollendet haben oder berufs- bzw. erwerbsunfähig sind. Die Gleichstellung von Witwe und Witwer wurde - um Übersicherungen zu vermeiden und um eine weitgehende Kostenneutralität der Reform zu wahren - mit der Einführung einer Einkommens-
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anrechnung "erkauft": Erwerbseinkommen und Einkommensersatzleistungen aus öffentlich-rechtlichen Regelsystemen, die einen dynamischen Freibetrag von zur Zeit 1.257,96 DM in den alten und 1.078,97 DM in den neuen Bundesländern übersteigen, werden zu 40 % auf die Hinterbliebenenrente angerechnet. Der Freibetrag erhöht sich für jedes waisenrentenberechtigte Kind des hinterbliebenen Ehegatten um 266,84 DM (alte Bundesländer) bzw. 228,87 DM (neue Bundesländer). Diese Einkommensanrechnung kann dazu führen, daß die gesamte Hinterbliebenenrente ruht. Der Gesetzgeber hat bei den Hinterbliebenenrenten, deren Anteil am Bruttorentenvolumen 22% in den alten und 17% in den neuen Bundesländern beträgt, bis heute an einer vom Verstorbenen abgeleiteten sozialen Sicherung festgehalten. Der Verheiratete partizipiert an den Anrechten seines Ehepartners zu dessen Lebzeiten nur über den Unterhaltsanspruch und erhält erst im Falle der Verwitwung eine Hinterbliebenenrente als Unterhaltsersatz. Von diesem unterhaltsrechtlichen Ansatz her ist es auch konsequent, daß die Witwen- oder Witwerrente bei Wiederheirat gegen Zahlung einer Abfindung wegfallt. Demgegenüber ist der Gesetzgeber bei dem im Falle der Scheidung durchgeführten Versorgungsausgleich einer anderen Konzeption gefolgt. Über ihn werden die während der Ehe erworbenen Versorgungsanrechte - als Ergebnis einer partnerschaftliehen Lebensleistung - wie sonstiges Vermögen auch auf beide Ehegatten gleichmäßig verteilt. Es werden für jeden Ehegatten alle in der Ehezeit erworbenen Anrechte auf eine Versorgung wegen Alters und Invalidität ermittelt, und es erfolgt in Höhe der Hälfte der Wertdifferenz ein Ausgleich, durch den zu Lasten des ausgleichspflichtigen und zu Gunsten des ausgleichsberechtigten Ehegatten Rentenanrechte übertragen bzw. begründet werden. Sie führen bei Eintritt des Versicherungsfalles (Alter oder Invalidität) zu eigenen Leistungsansprüchen, die auch bei Wiederheirat erhalten bleiben.
2. Die Problematik des geltenden Rechts Das Recht der Hinterbliebenenrenten ist aus mehreren Gründen in die Diskussion geraten. Lange umstritten war vor allem die verfassungsrechtliche Zulässigkeil der 1986 eingeführten Einkommensanrechnung, weil sie die Renten wegen Todes zu einer begrenzt subsidiären Leistung werden läßt. Mit Beschluß vom 18. 2. 1998 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch entschieden, daß die Anrechnung von Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen auf Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Allerdings hat der Gesetzgeber den Umfang des anzurechnenden Einkommens für die Zukunft zu überprüfen. Der Pauschalabzug vom Bruttoeinkommen für die Ermittlung der durchschnittlichen Steuer- und Abgabenlast, der zum Beispiel bei Pflichtversicherten 35 % beträgt, ist an die tatsächliche Entwicklung der Erhöhung der Abgabenlast seit dem lnkrafttreten des HEZG anzupassen.
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Nach dieser Entscheidung gibt es von Marginalien abgesehen verfassungsrechtlich keinen Handlungsbedarf. Sie eröffnet andererseits dem Gesetzgeber einen großen Handlungsspielraum. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht entgegen der bislang ganz herrschenden Lehre die Hinterbliebenenrente aus dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG herausgenommen hat. Sie sei - so die Begründung- eine vorwiegend fürsorgerisch motivierte Leistung, weil sie ohne eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährt werde; sie diene der Sicherung der Familienangehörigen im Rahmen des sozialen Ausgleichs. Diese Argumentation verkennt jedoch, daß Ledige und Verheiratete deshalb gleich hohe Beiträge zahlen, weil sie im Hinblick auf ihre Anspruchsmöglichkeiten gleich hohe Risiken darstellen: Heiratet der Ledige noch kurz vor seinem Tod, kann er seiner Ehefrau Anrechte auf eine Hinterbliebenenversorgung hinterlassen, die sich aus seiner gesamten Versicherungsbiographie errechnen. Problematisch ist auch, daß die Einkommensanrechnung zum vollständigen Ruhen der Hinterbliebenenrente führen kann. Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts ist die Anrechnungsregelung durch das Prinzip des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung gerechtfertigt. Allerdings hat das Gericht 1977 eine ähnliche Regelung im Beamtenversorgungsrecht wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aufgehoben. Damals wurde für den Fall des Zusammentreffens von zwei Versorgungsansprüchen - Witwengeld und eigenes Ruhegehalt der Witwe - entschieden, daß wenigstens ein Rest des vom Ehegatten erdienten Versorgungsanspruchs erhalten bleiben müsse (BVerfGE 46, 97, 109). Nach § 54 Abs. 3 BeamtVG werden daher neben dem Ruhegehalt mindestens 20 % des anzurechnenden Witwengeldes ausgezahlt. Das Bundesverfassungsgericht sieht darin keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung: Zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und Beamtenversorgung bestünden Unterschiede von solchem Gewicht, daß sie verschiedene Regelungen zur Anrechnung von Einkommen in beiden Systemen rechtfertigten. Im Ergebnis ist der mit Beiträgen erkaufte Anspruch des Versicherten weniger wert als der "erdiente" Anspruch von Beamten und Richtern. Das Bundesverfassungsgericht hält es auch für sachgerecht, daß bei der Einkommensanrechnung zwar Lohnersatzleistungen aus öffentlich-rechtlichen Systemen, nicht aber Leistungen aus privatrechtliehen Systemen einschließlich der betrieblichen Altersversorgung berücksichtigt werden. Dies führt jedoch zu dem fragwürdigen und vom Bundesverfassungsgericht verschwiegenen Ergebnis, daß Rentner, die mit ihren Beiträgen die Rentenversicherung finanziert haben, von der Anrechnung am stärksten betroffen sind, und die, die nicht an sie, sondern an die Privatversicherung gezahlt haben, begünstigt werden. Die Nichtanrechnung von Einkünften aus Vermögen hat das Gericht ebenfalls als gerechtfertigt angesehen. Der Gesetzgeber hat aber, sollte sich das Vermögen verstärkt zur Grundlage der Sicherung des Lebensbedarfs entwickeln und in dieser Funktion das Arbeitseinkommen zurückdrängen, die Frage der Belastungsgleichheit zwischen den Beziehern von
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Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen einerseits und den Beziehern von Einkommen aus Vermögen andererseits neu zu prüfen. Das alles sind aber nur Randkorrekturen im System. Die Notwendigkeit, es zu wechseln, wird nunmehr vor allem sozialpolitisch begründet. Vor allem die niedrigen Renten für Frauen sind immer wieder Gegenstand der Kritik. Doch sagen sie allein nur wenig aus. Insbesondere sind sie kein Indiz für eine Sozialhilfebedürftigkeit Eigene Renten können mit Renten wegen Todes, mit eigenen oder abgeleiteten Leistungen aus der Beamtenversorgung, der Unfallversicherung, der betrieblichen Altersversorgung oder anderer Leistungssysteme kumulieren. 1995 hatten Senioren (ab Alter 65) ein durchschnittliches Netto-Gesamteinkommen: • Verheiratete von 3.735 DM in den alten und 3.097 DM in den neuen Ländern, • alleinstehende Männer von 2.677 DM in den alten und 2.012 DM in den neuen Ländern, • alleinstehende Frauen von 2.027 DM in den alten und 1.779 DM in den neuen Ländern und • verwitwete Frauen von 2.045 DM in den alten und 1.883 DM in den neuen Ländern. Die Zahl der Frauen, die ergänzend zu ihrer Rente auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen sind, geht ständig zurück. Armut in unserer Gesellschaft ist immer weniger ein Problem der Alten, aber immer mehr eines der Familien mit Kindern. Dennoch ist festzustellen, daß die Renten für Frauen im Durchschnitt deutlich unter denen der Männer liegen. Im Rentenzugang 1997 betrug die durchschnittliche Altersrente an Männer 1.776 DM in den alten und 1.820 DM in den neuen Bundesländern, die für Frauen 824 DM in den alten und 1.211 DM in den neuen Bundesländern. Der im einzelnen sehr interpretationsbedürftige Unterschied erklärt sich einmal daraus, daß den Renten für Männer im Schnitt 40, I bzw. 44,8 Versicherungsjahre, denen für Frauen 24,9 bzw. 40,5 Jahre zugrunde lagen. Außerdem sind im Durchschnitt die Einkommen der Frauen niedriger - nicht zuletzt auch wegen der vielfach ausgeübten Teilzeitbeschäftigung. Wahrend die Männer im Durchschnitt 1,07 bzw. 1,09 Entgeltpunkte pro Jahr erreichten, lagen die Frauen durchschnittlich bei 0,69 bzw. 0,81 Entgeltpunkten. Ein Entgeltpunkt entspricht dem Durchschnittsverdienst aller Versicherten. Vergleicht man allerdings Kohorten unterschiedlicher Geburtsjahrgänge, holen die Frauen bei den Versicherungsjahren und bei den Einkommen auf. Doch es bleiben - sowohl in West- als auch allerdings etwas niedriger in Ostdeutschland - gravierende Unterschiede bei den Einkommen und Renten. Sie abzubauen ist eines der Ziele, deretwegen die eigenständige soziale Sicherung von Frauen ausgebaut werden soll. Dieser Ausbau würde die Rentenversicherung finanziell entlasten, weil sie wegen der eigenen Rentenansprüche im Alter die abgeleitete Witwen- und Witwerversorgung abbauen könnte. 36 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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Die Umwandlung der rein abgeleiteten Hinterbliebenensicherung in eine mehr eigenständige soziale Sicherung ist im übrigen ein Postulat, das sich aus dem gewandelten Rollen- und Selbstverständnis der Frauen ergibt. Ihm trägt der Versorgungsausgleich, weil er auf dem Gedanken des partnerschaftliehen Erwerbs auch der Versorgungsanrechte beruht, wesentlich mehr Rechnung. Daher werden sie wie anderes Vermögen auch geteilt, und es werden Entgeltpunkte auf das eigene Versicherungskonto übertragen bzw. in ihm begründet. Deshalb können die im Versorgungsausgleich erworbenen Anrechte bei einer Wiederheirat auch nicht verloren gehen. Das Konzept der Hinterbliebenenrenten wird auch deshalb kritisiert, weil es wegen der im Prinzip unbedingten Renten wegen Todes dem Ehepartner keinen Anreiz biete, selbst erwerbstätig zu sein, um auch im Alter über eine ausreichende eigene finanzielle Absicherung zu verfügen. Die Einkommensanrechnung bei Hinterbliebenenrenten gehe daher genau in die falsche Richtung. Richtig ist, daß die unbedingte Hinterbliebenenrente des geltenden Rechts als typisierender Ausgleich für die mit der Kindererziehung verbundenen Vorsorgenachteile ihre Legitimation verloren hat, nachdem die Eltern entscheiden können, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß die soziale Sicherung der Personen, die Kinder erzogen haben, gerade durch eine Umgestaltung der Hinterbliebenensicherung verbessert werden kann. Zu fragen ist des weiteren, ob eine junge Witwe ohne Kinder weiter lebenslang eine Hinterbliebenenrente bekommen soll, die sich ab Alter 45 auch noch mehr als verdoppelt, ohne daß dafür eine Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit notwendig wäre. Die sozialpolitische Tendenz geht dahin, die abgeleitete zugunsten einer (mehr) eigenständigen Sicherung zurückzudrängen. Doch darf dabei das Sicherungsziel der Rentenversicherung nicht in Frage gestellt werden. Sie soll nach erfülltem Arbeitsleben in etwa den Lebensstandard sichern. Der Lebensstandard in der Familie ergibt sich aber nicht aus dem jeweiligen Einkommen des einzelnen Familienmitglieds, sondern, weil die Familie eine Unterhalts- und Umverteilungsgemeinschaft ist, aus dem Haushaltseinkommen, in das die Einkommen vor allem der Ehegatten einfließen. Ob eine soziale Sicherung nach dem Tod des einen Ehegatten den Lebensstandard des Überlebenden aufrechterhalten kann, hängt entscheidend davon ab, welcher Anteil des Haushaltseinkommens ihm verbleibt. Das geltende Recht erreicht das Sicherungsziel vielfach nur deshalb, weil die allein unzureichende eigenständige Sicherung durch die abgeleitete Hinterbliebenensicherung ergänzt und aufgestockt wird. Das Konzept einer voll eigenständigen Sicherung der Frau ohne abgeleitete Sicherungselemente würde die nach wie vor festzustellende Lohnungleichheit zu Lasten der Frauen übersehen. Gerade deshalb wird auch die Neuregelung auf eine Kombination zwischen eigenständiger und abgeleiteter Sicherung nicht verzichten können. Letztlich ist auch die dem ausgleichsberechtigten Ehegatten im Rahmen des Versorgungsausgleichs übertragene Rentenanwartschaft eine aus einem anderen Versicherungskonto abgeleitete soziale Sicherung.
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IV. Elemente einer Reform Über die Notwendigkeit einer Reform der Hinterbliebenenrenten ist man sich politisch einig, wenn auch möglicherweise aus unterschiedlichen Gründen. Konkrete Konzepte sind bislang nur wenige vorgelegt worden. Zu nennen ist insbesondere das der Alterssicherungskommission der SPD vom Mai 1997. Ob und was davon in das Konzept der neuen Regierung eingeht, bleibt abzuwarten. Vereinzelt gibt es Vorschläge in der Literatur. Auf ein ganz anderes System zu setzen, als wir es jetzt haben, wäre sozialpolitisch utopisch. Das deutsche Sozialrecht entwickelt sich evolutionär, nicht revolutionär. Das ist im Interesse seiner Verläßlichkeit notwendig. Die im folgenden vorgeschlagenen Bauelemente modifizieren daher nur das geltende Recht, ohne es durch ein gänzlich neues System abzulösen. Es sind - dies sei klargestellt - nur meine persönliche Überlegungen, keinesfalls solche der Rentenversicherung oder des VDR.
1. Die Einführung eines Splittings
In nahezu allen Überlegungen bilden Splitting-Modelle ein wesentliches Strukturelement der Neuregelung. Umstritten ist hierbei zum einen der Zeitpunkt des Splittings. Ein permanentes Splitting der während der Ehe erworbenen Anwartschaften wird - soweit ersichtlich - aus guten Gründen nicht mehr vertreten. Es wäre schon wegen des ungeheuren Verwaltungsaufwandes nicht durchführbar. Da alle Anrechte einbezogen werden müssen, brächte ein solches Splitting Jahr für Jahr den gesamten Ermittlungsaufwand für diese Anrechte mit sich, den wir vom Versorgungsausgleich her zur Genüge kennen. Aber es geht nicht nur um die Ermittlung der Anrechte. Die unterschiedlichen Wertigkeiten, die sich insbesondere aus der verschiedenen Dynamisierung ergeben, müßten ausgeglichen werden. Das kann der Versicherungsträger nicht tun, dazu müssen Gerichte eingeschaltet werden. Dies auch wegen der notwendigen Härteregelungen, man braucht nur an die Fälle zu denken, in denen zwischen den Ehegatten Gütertrennung bestand. Der eine Ehegatte war Arzt und nicht in der Rentenversicherung gesichert. Er muß nichts abgeben, bekäme aber ohne Härteregelung von seiner Frau die halbe Rente. Bei Frühinvalidität ergäben sich große Sicherungslücken. Die Rente könnte nur aus den durch das Splitting gekürzten Anwartschaften berechnet werden. Diese Sicherungslücken treten aber nicht nur in den Fällen der Frühinvalidität, sondern immer dann ein, wenn die Ehegatten zu unterschiedlichen Zeitpunkten Rente beanspruchen. Dies ist nahezu immer der Fall. Um das zu vermeiden, müßte das mit sehr viel Aufwand vorgenommene jährliche Splitting rückgängig gemacht oder zumindest ausgesetzt werden. Zu weniger Aufwand, aber zu ähnlichen Sicherungslücken führt ein Splitting zum Zeitpunkt, zu dem der erste Ehegatte in Rente geht. Das ist meistens der ältere Ehemann mit den höheren Anrechten. Auch in diesem 36*
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Fall kann es zu dem unbefriedigenden Ergebnis kommen, daß das verbleibende Haushaltseinkommen aufgrund des Splittings nicht mehr ausreicht. Bedenken bestehen schließlich auch gegen den Lösungsvorschlag, das Splitting erst dann durchzuführen, wenn der zweite Ehegatte in Rente gegangen ist und sich deswegen das Problem der Sicherungslücken nicht stellt. Eine solche Lösung sei wie es heißt - sozialpolitisch notwendig, um die Solidarfunktion der Ehen zu stärken. Das ist Unfug, weil das Verhältnis von Unterhalts- und Sozialrecht nicht berücksichtigt wird. Solange die Ehe noch besteht, wird die von den Ehegatten zu Recht geforderte gegenseitige Solidarität im Rahmen der gesteigerten Unterhaltspflicht erbracht. Ebenso wie die Einkommen werden auch die Einkommensersatzleistungen im Rahmen des familiären Unterhaltsverbandes umverteilt. Gesetzlich vorgesehene Ausnahmen greifen nur dann, wenn Unterhaltspflichten nicht erfüllt werden. Eine Individualisierung der Ansprüche entwertet die Solidarität der Familie als Unterhaltsverband, statt sie zu stärken. Solange die Ehe besteht und funktioniert, hat sich der Gesetzgeber aus der Regelung ihres Binnenbereichs herauszuhalten. Dies gilt für das Sozialrecht in gleicher Weise wie für das Zivilrecht. Die praktischen Schwierigkeiten wären enorm. Ein Splitting kann nur dann in Betracht kommen, wenn alle Anrechte von ihm erlaßt werden. Ansonsten lägen Gleichheitsverstöße vor, und zwar nicht nur zwischen den verheirateten, sondern auch im Vergleich zu geschiedenen Ehegatten. Die zu berücksichtigenden Anrechte wären zwar bekannt, gleichwohl müßten wegen der notwendigen Härteregelungen die Gerichte eingeschaltet werden. Denken Sie an die Fälle der Gütertrennung. Auch ein Splitting zu diesem Zeitpunkt würde die Ehegatten ohne Grund, ob sie es wollen oder nicht, in ein gerichtliches Verfahren mit hohen Kosten hineintreiben, dessen Ergebnis zudem nur eine momentane Richtigkeit haben kann. So ist auch schon ein "Wiederholungssplitting" angedacht worden, wenn sich die Versorgungsbilanz der Ehegatten nach dem ersten Splitting geändert hat. Das wird wegen der vielen Rechtsänderungen im Bereich des Sozialrechts häufig sein. Sie haben dazu geführt, daß die Entscheidungen über den Versorgungsausgleich ihre Rechtskraft verloren haben und ab dem 55. Lebensjahr der Betroffenen jederzeit abänderbar sind. Da die gleichen Sachprobleme bestehen, würden wir die gleiche Entwicklung auch bei dem Splitting der Anrechte der verheirateten Ehegatten bekommen. Welche Probleme sich im einzelnen bei diesem Lösungsansatz ergeben, zeigen folgende Beispiele: Ein Ehepaar hat bis ins Alter friedlich und in Harmonie zusammengelebt. Nun kommt der zweite Rentenantrag und der Ehemann erkennt, daß er von seiner Rente einen beträchtlichen Betrag an seine Ehefrau abgeben muß. Er wird auch darüber aufgeklärt, daß es bei dieser Kürzung verbleibt, wenn seine Frau vor ihm versterben sollte. Der Streit zwischen den Ehegatten über die Höhe der jeweiligen Rente ist vorprogrammiert. Die Renten sind für viele Ehepaare wichtiger als das sonstige in der Ehe angesammelte Vermögen. Und wer kann sich vorstellen, daß, wenn man den Ehegatten zu Lebzeiten eine Vermögensauseinandersetzung mit Konsequenzen über den Tod hinaus aufzwingt, dies ohne Streit abgin-
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ge? Dieser Vorschlag ist ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Versicherungsträger, Rechtsanwälte und Gerichte. Es wäre ein Versuch, die Ehe doch noch klein zu kriegen. Zweites Beispiel: Das Splitting ist, weil beide Ehegatten nun Rente beziehen, vollzogen worden. Die Rente des Mannes ist gekürzt, die der Ehefrau erhöht worden. Da sie aber wegen einer nicht ausgleichspflichtigen Unfallrente deutlich mehr Einkommen hat als ihr Mann, macht dieser nun einen Unterhaltsanspruch geltend, den sie in Höhe des übertragenen Splittinganteils befriedigen muß. Sie sitzen dann abends am Tisch und fragen sich- wie ich mich auch-: Wozu das Ganze? Und sie schauen dann in eine Broschüre zur Begrundung dieses Vorschlags und lesen dort, daß die Reform notwendig war, "um angesichts zunehmender Frauenerwerbstätigkeit das gesellschaftliche Unterlegenheitsgefühl und die zunehmend als Randexistenz empfundene Situation (der Frauen) zu kompensieren". Jetzt wissen sie, warum sie "zwangsbeglückt" wurden. Gegen ein Splitting bei bestehender Ehe und funktionierender Unterhaltsgemeinschaft ergeben sich auch erhebliche verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Splitting des Versorgungsausgleichs ist mit der Eigentumsschutzgarantie der Renten vereinbar. Es ist aber- so das Bundesverfassungsgericht- ein "schwerwiegender Eingriff, der mit dem Grundgesetz nur vereinbar sein kann, soweit er eine besondere verfassungsrechtliche Rechtfertigung findet". Das Gericht hat ihn nur deshalb akzeptiert, weil die friihere, nur über Unterhalt und Unterhaltsersatzleistung vermittelte soziale Sicherung des geschiedenen Ehegatten versagt hatte und es angesichts der Auflösung der Ehe notwendig war, die Ehegatten auch versorgungsrechtlich voneinander unabhängig werden zu lassen. Deshalb dürfen die während der Ehe erworbenen Versorgungsanrechte nach der Scheidung gleichmäßig auf beide Partner verteilt werden. Das Bundesverfassungsgericht ist zwar auch davon ausgegangen, daß das während der Dauer der Ehe Erworbene grundsätzliche beiden Ehegatten zu gleichen Teilen zuzurechnen sei. Daraus läßt sich aber für ein Splitting bei bestehender Ehe nichts folgern, denn das Gericht zieht daraus nur den Schluß, "daß mithin bei Scheidung sowohl der Zugewinn als auch die für die Altersversorgung erbrachten Leistungen den beiden Ehegatten in gleicher Weise zukommen". Es wählt bewußt die Parallele zum zivilrechtliehen Güterrecht, das - von Ausnahmesituationen abgesehen - einen Vermögensausgleich zwischen den Ehegatten nicht kennt, solange die Ehe besteht. Das Gericht betont auch ausdriicklich, daß Art. 6 I GG den Staat verpflichtet, die aus Eltern und Kindern bestehende Familiengemeinschaft sowohl im immateriell-persönlichen als auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich als eigenständig und selbstverantwortlich zu respektieren. Die Ehegatten hätten in gleichberechtigter Partnerschaft zu bestimmen, wie sie ihre auf Lebenszeit angelegte Gemeinschaft und ihre persönliche und wirtschaftliche Lebensführung gestalten. Solange die Ehe besteht, verbindet sie "die Ehegatten in einer von Gleichberechtigung geprägten partnerschaftliehen Gemeinschaft, die gegenseitige Verpflichtungen in
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unterhaltsrechtlicher und vermögensrechtlicher Hinsicht schafft". Eine mit dem Fall der Scheidung auch nur im Ansatz vergleichbare Notwendigkeit, die Rentenanwartschaften zu splitten, besteht bei zusammenlebenden Ehegatten nicht. Damit fehlt auch die Rechtfertigung für den mit dem Splitting verbundenen Eingriff in das Renteneigentum des betroffenen Ehegatten. Er würde anders als im Falle der Scheidung durch das zwingende Sicherungsbedürfnis des anderen Ehegatten nicht gefordert. Der Autonomie der Ehegatten entspricht es allerdings, daß eine Möglichkeit geschaffen werden sollte, die Renten an die Ehegatten je zur Hälfte auszuzahlen, wenn sie es gemeinsam wünschen. Aus all diesen Griinden gehen die meisten Überlegungen nun dahin, das Splitting der Anwartschaften erst dann durchzuführen, wenn die Ehe durch den Tod eines Ehegatten aufgelöst ist. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt jeder der Ehegatten auf seine eigene Rentenanwartschaft verwiesen. Das Teilen von Anwartschaften, von Vermögen wird der Situation der verheirateten Ehegatten nicht gerecht. Auch wenn sie im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft leben, bleibt das, was der einzelne Ehegatte erwirbt, sein Eigentum. Die Partizipation des anderen erfolgt erst über den Zugewinnausgleich bei Auflösung der Ehe durch Scheidung oder Tod. Solange die Ehe besteht, erfolgt die Teilhabe des einen an den Rentenanrechten des anderen über den familiären Unterhalt. Dies ist bei dem Erwerbseinkommen so und Griinde, es bei den Einkommensersatzleistungen anders auszugestalten, sind nicht erkennbar. Es ist - verfassungsrechtlich geschützt - Aufgabe der Ehegatten, in gleichberechtigter Partnerschaft zu bestimmen, wie sie ihre auf Lebenszeit angelegte Gemeinschaft und ihre persönliche und wirtschaftliche Lebensführung gestalten. Das geht den Staat nichts an. Die bei einem Splitting zu einem früheren Zeitpunkt geschilderten Probleme zwischen den Ehegatten können nicht mehr auftreten. Die Anrechte sind bekannt. Das Zusammentreffen von ausgleichspflichtigen und nicht-ausgleichspflichtigen Versorgungen - etwa gesetzliche Rente und Unfallrente - kann, wie im geltenden Recht, in anderer Weise geregelt werden. Ein Splitting zu diesem Zeitpunkt verschafft dem berechtigten Ehegatten eigene Anrechte wie beim Versorgungsausgleich. Sie erhöhen seinen Anspruch auf eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente oder auf eine Altersrente und gehen - wie beim Versorgungsausgleich - in die Berechnung von Hinterbliebenenrenten ein, die sich aus der Person des überlebenden Ehegatten ableiten. Bei Wiederheirat bleiben diese Anrechte erhalten. In dieses Splitting sollten alle Anrechte der Ehegatten einbezogen werden, nicht nur - wie es zumeist vorgeschlagen wird - die während der Ehezeit erworbenen. Das Splitting im Todesfall unterliegt anderen Prinzipien als das bei Scheidung. Bei der Scheidung ist die Beschränkung des Splittings auf die in der Ehezeit erworbenen Anrechte sachgerecht. Dies gilt aber nicht, wenn die Ehe durch Tod aufgelöst wurde. Auch insofern ist das Zivilrecht beispielgebend. Das Erbrecht des überlebenden Ehegatten orientiert sich nicht nur an dem, was in der Ehezeit erworben wurde. Es erfaßt das gesamte Vermögen des verstorbenen Ehegatten. Es ist deshalb
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unzutreffend, die für die Scheidung richtigen Prinzipien auf die Gestaltung der Anrechte des verwitweten Ehegatten zu übertragen. Das Splitting zu seinen Gunsten müßte daher alle Anrechte erfassen, auch die vor der Ehezeit erworbenen. Das ist im übrigen auch eine Konsequenz aus dem für Verheiratete und Ledige gleichen Beitragssatz, der andererseits zu seiner Rechtfertigung aber auch diese Konsequenz braucht. Für ein solches umfassendes Splitting sprechen nicht nur erbrechtliche Überlegungen, es führt für den überlebenden Ehegatten zu einer besseren Absicherung. Außerdem ist daran zu erinnern, daß vielen Ehen Phasen einer eheähnlichen Gemeinschaft vorausgehen, in denen bereits gemeinsam Anwartschaften erworben wurden. Ein solch umfassendes Splitting ist daher auch ein wichtiger Beitrag zur besseren sozialen Absicherung vieler eheähnlicher Gemeinschaften. Als eigene Rente bekäme der überlebende Ehegatte somit die Hälfte der von beiden Ehegatten in und vor der Ehezeit erworbenen Rentenanrechte. Ein solches Splitting muß- dazu gibt es verfassungsrechtlich keine Alternativemit dem Schutz der selbsterworbenen Anrechte verbunden werden. In der Person des versicherten Ehegatten kreuzen sich zwei Gleichheitsebenen. Es ist zum einen die Ebene der Gleichbehandlung der beiden Ehegatten. Zum anderen besteht die Notwendigkeit, verheiratete Versicherte nicht schlechter zu stellen als ansonsten mit ihnen voll vergleichbare ledige Versicherte. Der Versorgungsausgleich ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur dann verfassungsmäßig, wenn der begünstigte Ehegatte hinreichend lange genug, mindestens zwei Jahre, in den Genuß der übertragenen Anwartschaften gekommen ist. Andernfalls sei er mit dem Eigentumsschutz der Rentenanwartschaften unvereinbar ist und auch nicht durch die Gleichbehandlung der Ehegatten gerechtfertigt. Der Schutz der eigenen Rentenanwartschaften ist bei einem Splitting nach dem Tode des ersten Ehegatten zwingend. 2. Ergänzende Sicherung des verwitweten Ehegatten
Eine allein auf ein Splitting begrenzte Neuregelung würde die soziale Sicherung der Frauen ganz wesentlich verschlechtern. Es überträgt maximal 50% der Anrechte des verstorbenen Ehegatten, während die "große Witwenrente" 60% ausmacht. Außerdem ist der häufige Fall abzusichern, daß der Tod des einen Ehegatten eintritt, bevor der verwitwete einen eigenen Rentenanspruch hat. Das geltende Recht deckt diesen Sicherungsbedarf bei geschiedenen Ehegatten mit der Erziehungsrente aus dem eigenen Konto oder bei verheirateten mit der abgeleiteten Hinterbliebenenrente. Eine ergänzende Sicherung ist also notwendig. Darüber besteht Einigkeit. Offen ist die Frage, wie sie ausgestaltet werden soll. So wird in dem SPD-Modell als ergänzende Maßnahme ein zusätzlicher "Teilhabeanspruch" diskutiert, der das Splittingergebnis aufstocken soll. Er soll weitere 10 bis 30% der gemeinsamen Ansprüche aus der Ehezeit ausmachen, allerdings schrittweise auf 10% verringert werden, wenn zusammen mit der eigenen Splittingrente ein noch festzusetzender Höchstwert an Entgeltpunkten erreicht wird.
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Der Vorschlag einer "Ehegatten-Zusatzversicherung", deren Leistungen den Splittingsatz über 50 % hinaus anheben sollten, wird zu Recht nicht mehr vertreten: Diese Regelung hätte Verheiratete mit einer zusätzlichen Abgabe belegt und damit zu einer Benachteiligung der Ehe geführt. Mein Vorschlag geht dahin, der abgeleiteten Hinterbliebenensicherung eine Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion zuzuweisen und sie in modifizierter Form beizubehalten. Die Witwen- und Witwerrenten würden in dem Maße, in dem zugunsten des überlebenden Ehegatten eigene Anrechte begründet worden sind, verdrängt. Das bedeutet, daß -je nach der Versorgungssituation der Ehegatten - ein Teil der bisherigen Hinterbliebenensicherung den Rechtscharakter eigenständiger Rentenanrechte bekäme. Diese würden als Entgeltpunkte dem Konto des überlebenden Ehegatten gutgeschrieben. Eine weitere Konsequenz wäre, daß die eigene Rente wegen dieser Erhöhung verstärkt auf die Hinterbliebenenrente angerechnet würde. Solange der verwitwete Ehegatte noch nicht selbst rentenberechtigt ist, bleibt er auf die Hinterbliebenenrente verwiesen. Sie würde grundsätzlich wie bisher berechnet. Um Personen, die Kinder erzogen haben, stärker zu begünstigen, sollte jedoch der Freibetrag bei der Einkommensrechnung mehr kinderorientiert differenziert werden. Dies hätte abweichend vom geltenden Recht zwei Konsequenzen: Für die Höhe des Freibetrages würde die Kindkomponente der entscheidende Faktor. Im geltenden Recht beträgt der Freibetrag bei zwei Kindem derzeit rund 1.800 DM. Davon entfallen nur rund 30% auf die Freibeiträge für die beiden Kinder. Der "Ehegattenfreibetrag" liegt bei 70%. Diese Relationen müßten zugunsten der Kindkomponenten geändert werden. Sie müßten für die Höhe des Freibetrages der entscheidende Faktor und auch schon immer dann eingeräumt werden, wenn dem verwitweten Ehegatten eine Kindererziehungszeit gutgebracht wurde. Außerdem sollte der Anrechnungsprozentsatz von derzeit 40% entsprechend der Zahl der Kinder variiert werden, für die Kindererziehungszeiten angerechnet wurden. So könnte man z. B. den Anrechnungsprozentsatz für Kinderlose auf 50% heraufsetzen und ihn dann je nach der Kinderzahl entsprechend absenken. Die Kombination dieser Vorschläge hätte zur Folge, daß die Hinterbliebenenrente für kinderlose Witwen oder Witwer im Vergleich zum geltenden Recht deutlich niedriger ausfallen würde. Der typisierend zu unterstellende Vorsorgenachteil des Ehegatten, der Kinder erzogen hat, würde dann nicht nur durch die Kindererziehungszeit, sondern auch durch eine wesentlich höhere Rente wegen Todes ausgeglichen. Die Absenkung des Anrechnungsfreibetrages, der geänderte Anrechnungsprozentsatz und die Abhängigkeit der Kinderkomponente von der Kinderziehungszeit würden desweiteren dazu führen, daß die Vorteile, die die Witwer im Rahmen der 1986er Reform erhalten haben, zugunsten einer Förderung von Frauen mit Kindem wieder abgebaut werden könnten. Witwen- und Witwerrenten sollten, wenn die Ehe nur kurz gedauert und der überlebende Ehegatten ein bestimmtes Alter nicht überschritten hat und keine Kin-
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der zu erziehen sind, nur befristet gewährt werden. Im übrigen bleibt es in diesen Fällen bei dem Splitting. Eine Aufstockung der "kleinen" Rente wegen Todes zur "großen" sollte es nur noch dann geben, wenn in der Person des hinterbliebeneo Ehegatten ein Versicherungsfall eingetreten ist. Die Vollendung des 45. Lebensjahres allein sollte nicht mehr ausreichen. Das vorgeschlagene Splitting würde die Gewichtung deutlich von der abgeleiteten zur eigenständigen Sicherung hin verschieben. Allerdings ist einzuräumen, daß diese Verschiebung um so weniger greift, je geringer die Differenz zwischen den beiden Rentenanrechten ist. Aber diese Konsequenz ist jedem Splitting eigen. Die zur Diskussion gestellten Änderungen bei der Einkommensanrechnung würden auch nur die Ehegatten begünstigen, die neben der Kindererziehung erwerbstätig sein bzw. bleiben konnten. Vor allem Mütter mit mehreren Kindern, die diese Chance nicht hatten, profitierten von dieser Maßnahme nicht. Ihre Sicherung ergäbe sich aus der Kumulation von eigener Rente vor allem aus Kindererziehungszeiten und der vollen Hinterbliebenenrente, die nach diesen Überlegungen wieder ihrer ursprünglichen Funktion angenähert wird, Ausgleich auch für den Vorsorgeverlust infolge von Kindererziehung zu sein. An der gesellschaftlichen Realität, daß Frauen ohne oder mit weniger Kindern eher erwerbstätig sein können als Frauen mit vielen Kindern, kann eine Reform der Hinterbliebenenrenten nur wenig ändern. Sie kann, wenn Einkommen bezogen wurde, nur versuchen, den präsumptiven Nachteil erwerbstätiger Mütter, wegen der Kindererziehung weniger Aufstiegs- und Einkommenschancen zu haben, auszugleichen. Den dem geltenden Recht entgegengehaltenen Vorwurf, es "subventioniere" die Hausfrauenehe, können diese Überlegungen nicht völlig, aber weitgehend ausräumen. Auch die Frau, die, ohne Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt zu haben, nicht erwerbstätig war, bekommt die volle Hinterbliebenenrente, ohne daß dafür zusätzliche Beiträge entrichtet wurden. Hat sie selbst das Rentenalter erreicht, beträgt nach Abzug des in jedem Fall notwendigen Splittings in Höhe von 50% der gesamten Anrechte des verstorbenen Ehegatten die Hinterbliebenenrente nur noch 10% dieser Anrechte. Ist der Ehegatte verstorben, bevor die Witwe selbst rentenberechtigt ist, bekommt sie ohne Kindererziehung eine Hinterbliebenenrente nur auf Zeit, um sich auf die neue Situation einstellen zu können. Beide Konsequenzen sind im Hinblick auf die Freiheit der Ehegatten, in eigener Verantwortung die innerfarniliären Rollen zu verteilen, angemessen und sachgerecht. Dieser Vorschlag ist nicht in der Lage, alle Probleme des Familienlastenausgleichs zu lösen. Er stützt sich auf die Erkenntnis, daß der Familienlastenausgleich vor allem zu dem Zeitpunkt einsetzen muß, in dem die Kinder in der Familie erzogen werden und deswegen das Einkommen eines Ehegatten ganz oder teilweise wegfällt. Dies auszugleichen, ist nicht Aufgabe der Rentenversicherung, deren Leistungen erst im Alter einsetzen können, wenn die Kinder das Haus längst verlassen und die Eltern - im Vergleich zur Erziehungsphase - wieder einen höheren Lebensstandard erreicht haben. Erforderlich ist in der Erziehungsphase eine stärkere finanzielle Entlastung der Familien durch Kindergeld
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und Kinderfreibeträge. Ob wegen dieser Probleme meine Überlegungen tragfähig sind, muß die Diskussion erweisen. Welche Auswirkungen diese Überlegungen für den einzelnen Berechtigten und für die Finanzen der Rentenversicherung hätten, läßt sich solange nicht beantworten, wie die Anrechnungsfreibeträge und -prozentsätze nicht feststehen. Sie sind die Schrauben, mit denen die Feineinstellung des geänderten Systems vorgenommen werden kann und muß. Unabhängig davon läßt sich aber sagen, daß es zu der vom Bundesverfassungsgericht geforderten deutlichen Verschiebung von den Witwen ohne Kinder zu den Witwen mit Kindem kommen würde. Die Griinde hierfür wären vor allem der höhere Freibetrag bei der Einkommensanrechnung und die längere Rentenbezugsdauer. Die Umverteilungsgewinne der Witwer durch die Reform der Hinterbliebenenrenten 1986 könnten zum Teil jedenfalls korrigiert werden. Die Begrenzung der Dauer der Hinterbliebenenrenten, vor allem der kinderlosen Witwen, brächte Einsparungen, die Fortzahlung der übertragenen Anwartschaften bei Wiederheirat hingegen Mehrausgaben. In welcher Höhe sie jeweils anfallen und ob sie sich gegenseitig ausgleichen würden, kann im Moment noch nicht gesagt werden. Um insoweit zu belastbarem Zahlenmaterial zu kommen, lassen wir derzeit in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung von Infratest Burke Sozialforschung untersuchen, mit welcher Alterssicherung die heute 40-60jährigen rechnen können. Mit der Sondererhebung "Altersvorsorge in Deutschland 1996" (AVID '96) werden erstmals • Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung für die heute 40- bis 60jährigen Ehepaare vorgelegt, • die Kumulation von Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung mit Anwartschaften in anderen Regel- und Zusatzsicherungssystemen (für Ehepaare und Alleinstehende) beschrieben und • bislang in der Rentenversicherung nicht vorhandene Informationen über Lücken in der Versicherungsbiographie (der gesetzlichen Rentenversicherung) erhoben. Wir werden im Mai 1999 erste Ergebnisse vorstellen. Der Politik steht damit eine wesentlich verbesserte empirische Basis für die Reform der sozialen Sicherung der Frauen und der Hinterbliebenenrenten zur Verfügung.
3. Nichteheliche Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende
Als problematisch wird auch empfunden, daß nichteheliche Lebensgemeinschaften nach heutigem Recht nicht in die abgeleitete Hinterbliebenenversorgung einbezogen sind. Inzwischen haben die gesellschaftlichen Veränderungen jedoch dazu geführt, daß eheliche und eheähnliche Gemeinschaften auch in der Rechtsprechung zunehmend gleichbehandelt werden. Letztlich ist der für Ehen geltende Gedanke
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der "Versicherung auf verbundene Leben" auch auf dauerhaft angelegte eheähnliche Gemeinschaften übertragbar. Sie sollten deshalb nicht nur in ein Rentensplitting, sondern auch in die Regelungen über die Renten wegen Todes einbezogen werden. Andere Rechtsordnungen (zum Beispiel Kanada, die Niederlande oder Schweden) sehen dies für hinterbliebene Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft heute schon vor. Es kann aber nicht nur eine Teillösung bei den Renten wegen Todes geben. Wer Hinterbliebenenrente haben will, muß auch den Versorgungsausgleich bei Trennung in Kauf nehmen. Ohne die Pflichten kann es die Vorteile der Ehe nicht geben. Deshalb sollte man diese Konsequenzen nur auf Antrag einräumen. Wenn die nichteheliche Lebensgemeinschaft aber so umfassend geregelt wird wie die Ehe, was macht dann noch den von den Beteiligten gewollten Unterschied, die größere Freiheit in ihrer Beziehung, aus? Die Feststellung, daß auf nicht absehbare Zeit eine ausreichende soziale Sicherung der Frau nur über den Zugriff auf das Rentenkonto ihres Mannes zu gewährleisten ist, macht die Schwierigkeit deutlich, Alleinerziehende sozial zu sichern. Sie können - wenn sie nicht verheiratet waren - keine Ansprüche aus einem Versorgungsausgleich oder einer abgeleiteten Hinterbliebenenversorgung geltend machen. Sie sind für ihre Alterssicherung auf Anwartschaften aus einer eigenen Erwerbstätigkeit und die Anrechnung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten beschränkt. Vor allem ihretwegen war die additive Lösung bei den Kindererziehungszeiten notwendig. Bei Geschiedenen gehören die Kosten einer angemessenen Versicherung für das Alter zum Lebensbedarf des nachehelichen Unterhalts, solange wegen der Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. Realisiert wird dieser Unterhaltsanspruch fast nie. Eine Verbesserung der Situation der geschiedenen Alleinerziehenden wäre nur dann möglich, wenn man die säumigen Unterhaltsschuldner, um dies auszugleichen, für eine begrenzte Zahl von Jahren nach der Geburt des zu betreuenden Kindes zu einer Art "Versorgungsausgleich" heranziehen könnte. Eine solche Idee würde aber auf sehr viel Widerstand stoßen. 4. Übergangsregelungen
Eine Neuordnung der Hinterbliebenenrenten braucht lange Übergangsregelungen, denn die Versicherten, die in absehbarer Zeit in Rente gehen werden, können sich in ihrer Lebensplanung auf das neue Recht nicht mehr einstellen. Mit einer mehr als lüjährigen Übergangsregelung wird man wohl rechnen müssen. Diskutiert werden Lösungen zumeist immer nur im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie müssen aber auch auf andere Sicherungssysteme übertragbar sein. Soll zwischen Ehegatten ein Splitting stattfinden, muß es aus Gleichheitsgründen - wie der Versorgungsausgleich- alle Anrechte erfassen. Der Versorgungsausgleich ist - wie ich versucht habe, deutlich zu machen - auch hinsichtlich
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9. Speyerer Sozialrechtsgespräch
der Fülle der zu lösenden Detailprobleme ein gutes Beispiel. Er zeigt andererseits aber auch, daß z. B. die immer wieder aufgebaute Hürde des Art. 33 V GG zugunsten der Beamtenversorgung überwindbar ist. Um es abschließend nochmals zu betonen: Ziel dieses Beitrags war es nicht, ein fertiges Modell zur Neuregelung der sozialen Sicherung der Frau vorzutragen. Es ging mir darum, einige Elemente für eine solche Lösung, über die ich seit einiger Zeit nachdenke, zur Diskussion zu stellen. Mit ihnen könnten nicht alle anstehenden Probleme gelöst werden, sie wären nach meiner Überzeugung aber in der Lage, den meisten Zielvorgaben ein gutes Stück näher zu kommen.
Zwischen Zerrbild und Wunschbild: Familien heute 1 Von Univ.-Prof. Dr. Kurt Lüscher2 Universität Konstanz
I. Einleitung
Unsere Gegenwart erfahren wir als eine Zeit der Umbrüche, der Verwerfungen, der Gegensätze und der Unsicherheiten. Nicht zufällig wird sie mit dem in sich widersprüchlichen Attribut "postmodern" charakterisiert. Die Familie ist in diese facettenreiche Dynamik mit einbezogen. Davon zeugt eine Familienrhetorik, für die charakteristisch ist, daß sie zwischen Wunschbild und Zerrbild schwankt. Unter Familienrhetorik verstehe ich die Art und Weise, wie öffentlich über Familie geredet und geschrieben wird, wie sie in den Medien dargestellt wird, mit dem Ziel, kundzutun, was Familie ist und was sie sein soll. Beispiele bieten dafür auf der einen Seite programmatische Äußerungen in der Politik, wie beispielsweise "Familie ist der Ort gelebter Solidarität", in ihr würden die Menschen Geborgenheit und Zuwendung erfahren. Hier wird das Präskriptive mit dem Deskriptiven vermengt. Auf der anderen Seite ist die radikale Kritik an der Familie ein verbreitetes Thema in der Literatur, auf der Bühne und im Film. Der in diesen Monaten in den Kinos laufende dänische Film "Festen", von der FAZ bis zur NZZ als herausragende "Demontage der bürgerlichen Familie" gepriesen, ist dafür ein Beispiel. Im Zentrum des Filmes steht das vertraute Familienritual eines runden Geburtstages. Der älteste Sohn greift zum Glas, bringt einen Toast auf seinen Vater aus und sagt in beiläufigem Tonfall und mit lächelnder Miene, er habe ihn und seine Zwillingsschwester sexuell mißbraucht und diese in den Freitod getrieben. - Die Uraufführungen der Stücke von Thomas Jonigk und Wilfried Rappel am Kölner Schauspielhaus faßte die NZZ seinerzeit zusammen in den Worten: "Die Familie im Jahr 1994: Sex, Gewalt und Trivialromane. In jedem Familienvater steckt ein Kinderschänder und ein kleiner Hitler dazu." I Referat im Rahmen der 9. Speyerer Sozialrechtsgespräche, 30. März 1999.- Der Duktus eines Vortrages wird im folgenden Text beibehalten und die Referenzen sind in der Zahl beschränkt. Für eine prägnante Darstellung der Thematik siehe Kaufmann 1995, für eine Auswahl einschlägiger Texte die beiden vom Vortragenden herausgegebenen Sammelbände Lüscher et al. 1989, 1995. 2 Dr. rer. pol., Ordinarius für Soziologie und Leiter des Forschungsschwerpunktes "Gesellschaft und Familie", Universität Konstanz.
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9. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Besonders heftig sind die rhetorischen Auseinandersetzungen in den USA, so daß Beobachter bisweilen von einem "Krieg um die Familie" sprechen (Berger I Berger 1984). In den amerikanischen Familiendebatten kann man besonders gut erkennen, daß es um allgemeine politische und moralische Positionen geht, letztlich um den Antagonismus zwischen liberalistischen und fundamentalistischen Weltanschauungen. Das belegt die enge Verflechtung von Familie, Gesellschaft, Religion und Kultur. Zwar gibt es die Auffassung, die Familie sei der Gesellschaft, dem Staat oder der Marktwirtschaft vorgeordnet. Doch die Familie als Institution war immer eng mit der Organisation des menschlichen Zusammenlebens verknüpft. Das belegen die Schriften aus dem Altertum, die vergleichende Ethnographie und nicht zuletzt die Rechtsgeschichte. Die Bedeutung des Begriffes selbst hat sich im Laufe der Zeit gewandelt, vom römischen "familia", das die Sklaven einschloß, über die mittelalterlichen Vorstellungen des "ganzen Hauses" bis zum Aufkommen des bürgerlichen Familienideals im 19. Jahrhundert. 3 Darin manifestierte sich nun allerdings eine Auffassung von Familie, gemäß der sie als Inbegriff des Privaten, des Intimen zu gelten hat, als bevorzugter Ort der Persönlichkeitsentwicklung, als "haven in a heartless world". Dieses Leitbild dominierte, abgesehen von den Zeiten der Weltkriege, die Auffassungen von Familie bis in die 60er Jahre unseres Jahrhunderts. Es bietet sich darum auch als Folie an, um die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, also seit den 60er Jahren, zu analysieren. Wenn ich mich nun anschicke, dies in der gebotenen Kürze zu tun, erachte ich es für richtig, ganz kurz die methodologischen Prämissen offenzulegen, von denen ich ausgehe. In den Sozialwissenschaften und im besonderen in der Soziologie hat sich seit einigen Jahrzehnten eine Perspektive artikuliert, die in ihren Interpretationen und Erklärungen des sozialen Lebens die wechselseitige Bedingtheit erstens der Sachverhalte, zweitens ihrer sprachlichen Kennzeichnung, also der Begriffe und Konzepte, und drittens der Verknüpfung von Sachverhalten mit den Begriffen in unterschiedlichen Formen des Wissens bzw. unterschiedlichen Theorien zu erfassen versucht. In dieser wissenssoziologischen Perspektive werden Sprache und Wissen als soziale Phänomene betrachtet, die von den sozialen Verhältnissen beeinflußt sind und diese ihrerseits beeinflussen. Theorien gibt es auf unterschiedlichen Ebenen der Allgemeinheit. Dementsprechend interessieren in der soziologischen Arbeit die Erklärungen, derer sich die Menschen im Alltag bedienen, ebenso wie die Überzeugungen, die sich in Musik, Literatur und Kunst manifestieren und die wissenschaftlichen Theorien als solche. Die wissenschaftlichen Theorien zeichnen sich idealerweise dadurch aus, daß darin der Bezug zu den anderen Theorien analysiert sowie deren Gebundenheit an Kontexte systematisch bedacht wird. Wird Soziologie unter diesen Auspizien betrieben, ergeben sich Verwandtschaften und Querbeziehungen zu anderen Wissenschaften und Praxisfeldem, die eben3
Zur Begriffsgeschichte siehe Schwab 1975.
Reform der Hinterbliebenenrenten
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falls unter dem Primat der Interpretation betrieben werden. Das gilt nicht zuletzt für die Rechtswissenschaften und die Rechtsprechung.
II. Das Leitbild der bürgerlichen Familie
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wähle ich - wie bereits angedeutet das Leitbild der bürgerlichen Familie zum Ausgangspunkt. Nicht nur wirkt es bis in unsere Gegenwart hinein, sondern es drückt überdies die Vorstellung von Familie als einer sozialen Einheit sui generis in hervorragender Weise aus, der eine klare strukturelle Gestalt entspricht. Damit einher geht allerdings eine überhöhte Vorstellung der gesellschaftlichen Autonomie von Familie. Diese wiederum war historisch sowohl den liberalen und den religiösen, namentlich katholischen, Überzeugungen eigen und politisch genehm. Ob dieser Vorstellung der Familie als Einheit, die ein personifizierendes Reden über Familie erleichtert, tritt die historische Bedingtheit zurück. Das äußert sich darin, daß die bürgerliche Familie häufig der traditionellen, pauschal der sogenannt "früheren Familie" gleichgesetzt wird. Die neuere Sozialgeschichte hat demgegenüber eine Vielfalt älterer Formen des Zusammenlebens in Haushalt und Familie nachgewiesen. Darauf kann ich hier allerdings nicht eingehen. Unter Iokaufnahme jener Vereinfachungen, die eine schematische Typik erfordert, kann man als kennzeichnend für das Modell der bürgerlichen Familie folgende Eigenschaften nennen: Haushalt, Ehe und Elternschaft sind eng miteinander verflochten. Das wird durch ihre zeitliche Abfolge gewährleistet. Die Gründung eines eigenen Haushaltes und Heirat fallen zusammen, und es soll bald zur Elternschaft kommen. Damit einher geht eine besondere Wertschätzung der Ehe, und dementsprechend groß ist die Diskriminierung außerehelich geborener Kinder sowie der Scheidung. Die inneren und äußeren Aufgaben sind klar organisiert und schlagen sich in der Gestaltung der Beziehungen nieder. Das besondere Bemühen gilt der Entfaltung der Persönlichkeit, namentlich der heranwachsenden Kinder, vorzugsweise der männlichen Nachkommen, ferner der Eltern, hier bevorzugt des Mannes. Zwischen Mann und Frau besteht eine Aufteilung der Arbeit und der Zuständigkeiten. Dadurch ergibt sich eine markante Abgrenzung gegenüber der Umwelt, eingeschlossen der weiteren Verwandtschaft. Mit der Familie soll ein privater, autonomer Lebensbereich geschaffen werden, in den sich die Öffentlichkeit und der Staat nicht einmischen. Wichtig und zugleich symbolträchtig ist - um nur einen einzelnen Sachverhalt zu erwähnen - das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung sowie die bürgerliche Wohnkultur. Man kann rückblickend sagen, daß diese Verknüpfung von Aufgabenbereichen sich im Zeitalter der Modernisierung und der Industrialisierung gesellschaftlich vor allem unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten optimal bewährte. Das Wiederaufleben dieses Familienmodelles im Deutschland der Nachkriegsjahre, oft das goldene Zeitalter der Kernfamilie genannt, ist dafür ein weiterer Beleg, wobei
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9. Speyerer Sozialrechtsgespräch
allerdings nicht übersehen werden darf, daß viele Mütter ihre Kinder allein aufziehen mußten. Doch das traditionelle Modell hat einen wesentlichen Nachteil, der darin besteht, daß die für den familialen Zusammenhalt notwendigen Solidarleistungen in erster Linie und überwiegend von den Frauen erbracht werden müssen. Das ist ihnen in früheren Generationen immer und immer wieder, auch mit poetischen Mitteln, angepriesen worden. Die Älteren von uns haben wahrscheinlich noch die einschlägigen Zeilen in Schillers "Lied von der Glocke" im Ohr: "Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und streben und pflanzen und schaffen, erlisten, erraffen, muß wetten und wagen, das Glück zu erjagen. [ .. . ] Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder, und herrschet weise im häuslichen Kreise und lehret die Mädchen und wehret den Knaben und reget ohn Ende die fleißigen Hände."
Doch die Einheit, die das bürgerliche Familienmodell ausdrückt, hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte -jedenfalls für den Großteil der Bevölkerung - weitgehend gelockert und gelöst. Das Leitbild hat ideell und faktisch an Geltung eingebüßt. Das dokumentieren die Verhaltensweisen, die zusammengefaßt ihren Niederschlag in den sozio-demographischen Indikatoren der Familienentwicklung finden. Gleichzeitig gibt es eine Suche nach neuen Begriffen, beispielsweise ist die Rede von "living-apart-together", von der "Sukzessivfarnilie" oder der sogenannten "Patchwork-Familie". Familienformen, die früher häufig als abweichend betrachtet wurden, so die Alleinerziehenden, sind ein wichtiger Bezugspunkt öffentlicher Diskurse und familienpolitischen Handelns. Die familienwissenschaftlichen Theorien bemühen sich, die Pluralität der Lebensweisen und der Begrifflichkeiten zu erfassen. 4
4 Zur Geschichte der Familie siehe z. B. die mehrbändige Darstellung von Burguiere et al. 1997/98.
Reform der Hinterbliebenenrenten
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111. Wichtige Entwicklungen der letzten Jahrzehnte 1. Die Abkoppelung von Heirat und Haushaltsgründung
Die Zahl der im Mikrozensus erfaßten nichtehelichen Lebensgemeinschaften hat sich seit anfangs der 70er Jahre im früheren Bundesgebiet annähernd vervierzehnfacht (jene mit Kindem verzwanzigfacht). Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß Lebensgemeinschaften von kurzer Dauer dieser Art im Mikrozensus nicht alle erfaßt werden. Man kann davon ausgehen, daß für junge Frauen und Männer in den mittleren 20er Jahren die nichteheliche Lebensgemeinschaft temporär die häufigste Lebensform ist. Bei näherem Zusehen zeigt sich indessen, daß sich hinter dem Begriff der "nichtehelichen Lebensgemeinschaft" unterschiedliche Typen verbergen: - In 60% der Partnerschaften sind Mann und Frau ledig, und in je rund 15% ist entweder einer oder sind beide getrennt lebend oder geschieden. In rund einem Zehntel der Paare ist entweder der Mann oder die Frau verwitwet. - In einem Viertel der Partnerschaften ist der Mann 45jährig und älter, in einem Fünftel ist es die Frau. - In etwas mehr als einem Viertel der Partnerschaften gibt es ledige Kinder eines oder beider Partner, in den neuen Bundesländern wesentlich mehr (49,8%) als im früheren Bundesgebiet (19,7%). Tabelle 1
"Nichteheliche Lebensgemeinschaften" ohne und mit Kindern nach Familienstand von Mann und Frau Mann/Frau
Ohne Kinder
MitKindem
ledig /ledig ledig I geschieden* geschieden* I ledig
66 5 7
10
geschieden* I geschieden*
10
24
Mann oder Frau verwitwet
43
15
12
8
Anzahl in Tausend
1353
497
Entwicklung BRD 1996 (1972 = 100)
1368
1988
* geschieden oder getrennt. Quelle: Engstier 1998: 62 f. (nach Mikrozensus)
Die unterschiedliche strukturelle Zusammensetzung dieser Lebensform, oder anders formuliert, die soziale Mehrdeutigkeit des Begriffes der nichtehelichen Lebensgemeinschaft stellt an die Rechtspolitik erhebliche Anforderungen, umso mehr als zusehends die Forderung nach rechtlicher Regulation unverheirateten Zu37 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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9. Speyerer Sozialrechtsgespräch
sammenlebens erhoben wird. Die Vielfalt der Bezeichnungen wie "Ehen ohne Trauschein", "Konkubinatspaare", "Lebensabschnittspartnerschaften", "Konsensualpaare" verweist auch hier auf Bemühungen, sprachlich die Veränderungen zu erfassen. Die Gründe, die zur raschen Verbreitung, zum Abbau alltäglicher Diskriminierungen, zur rechtlichen Duldung bzw. zur Aufhebung sog. Konkubinatsverbote geführt haben, sind mannigfaltig, und sie lassen sich im einzelnen nicht genau gewichten. Ich halte insbesondere die in den 60er Jahren einsetzende Verbreitung oraler Mittel der Kontrazeption für vielseitig wirkungsvoll. An sich war schon damals und noch früher Empfängnisverhütung nichts Neues. Doch die neuen Mittel ermöglichten größere Sicherheit und eine stärkere Selbstbestimmung der Frauen. Die befürchteten Nebenwirkungen trugen zu einer öffentlichen Erörterung des Themas bei, die schließlich die Enttabuisierung von Kontrazeption ganz allgemein zur Folge hatte. Das Ganze geschah im übrigen ungefähr zur gleichen Zeit, in der das Fernsehen in die Familienhaushalte einzog und seinerseits zu einer Enttabuisierung vieler intimer Themen beitrug. Die Schwierigkeiten, die sich - um die Ebene der Theorie anzusprechen - daraus für die katholische Ehelehre und der am Ehezweck abgeleiteten Wertschätzung der Familien ergaben, führten dazu, daß die während langen Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, wirksamste allgemeine Theorie familialer Moral im Alltag weitgehend an Gefolgschaft verlor. Faktisch und ideell entkoppelten sich Reproduktion und Sexualität.
2. Heirat und Familiengründung In bezug auf die das bürgerliche Familienmodell kennzeichnende enge, zeitliche Bindung von Heirat und Familiengründung zeigen sich folgende Veränderungen: Das Alter, in dem verheiratete Frauen erstmals Mutter werden, ist gestiegen, der durchschnittliche Zeitraum zwischen Heirat und Familiengründung hat sich zunächst vergrößert, dann wieder etwas verkleinert. Untersucht man im einzelnen die zeitlichen Zusammenhänge zwischen Konzeption, Heirat und Geburt, bestätigt sich jedoch keineswegs durchgängig, was oft behauptet wird: Unverheiratete Paare würden heiraten, wenn eine Elternschaft angestrebt oder ein Kind unterwegs ist. Die Fälle sind nicht selten, in denen ein erstes Kind geboren wird, bevor geheiratet wird. Die sogenannten "Mußehen" junger Mütter sind zahlenmäßig zurückgegangen, ebenso der Anteil der vorehelich konzipierten Kinder. In einem Fünftel der Ehen wurde das erste Kind erst nach vierjähriger und längerer Ehedauer geboren. Es gibt also unterschiedliche Typen der Familiengründung. Hinzu kommt als ein weiteres Phänomen die Zunahme von Kinderlosigkeit. Sie statistisch genau zu erfassen ist allerdings nicht einfach. Der zuverlässigste Indikator ist der Anteil von Frauen, die bis zum Alter von 45 Jahren kinderlos geblieben sind. Dabei ist man allerdings für die jüngeren Jahrgänge auf Schätzungen ange-
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wiesen. Dennoch kann man mit einiger Gewißheit sagen, daß die Schätzungen darin übereinstimmen, daß der Anteil kinderloser Frauen mit dem Geburtsjahr 1957 rund doppelt so groß ist (bzw. sein dürfte), nämlich rund 23% als unter denjenigen des Geburtsjahres 1935 (10%). Man kann jedoch nicht sagen, es handele sich durchwegs um eine gewollte Kinderlosigkeit. Weil der Kinderwunsch aus unterschiedlichen Gründen verschoben wird, erhöht sich u. a. auch die Wahrscheinlichkeit, daß er sich aus biologischen Gründen nicht mehr oder nur sehr schwer realisieren läßt. Eine Untersuchung, die wir über späte erste Mutterschaft vor einigen Jahren in Konstanz durchgeführt haben, bestätigt dies; ebenso die große Nachfrage nach reproduktionsmedizinischer Behandlung. - Beiläufig sei darauf hingewiesen, daß der Anteil kinderloser Männer gemäß demographischen Schätzungen noch deutlich höher liegt als derjenige der Frauen. Die entsprechenden Zahlen lauten wie folgt: Von den Männern mit dem Jahrgang 1960 waren in den alten Bundesländern schätzungsweise 36% kinderlos, in den neuen Bundesländern 16%. Alterder Frauen
3o 2a 26
t
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t -------
24 .
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-I
22
l
20
-~--+-+-+-+-+--+--+--+--"--+-+- + +-+--+--- t-+--+-+ --+--'·---+-+- +---+---+-+--+-!--+--+ _J
I
61
63
65
67
69
71
73
75
77
79
81
83
85
87
89
91
93
95
Jahr --Heiratsalter
-
-
Alter bei Erstgeburt
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie I, Reihe I.
Grafik I: Durchschnittliches Alter lediger Frauen bei der Eheschließung und verheirateter Frauen bei der Geburt des ersten Kindes (früheres Bundesgebiet)
Angesichts der Zunahme von Kinderlosigkeit ist die sogenannte "Polarisierungsthese" aufgestellt worden. Sie behauptet (so Strohmeier 1989; Höhn/Dorbritz 1995), es würden sich in Zukunft Erwachsene mit und ohne eigene Kinder gegenüberstehen, je nachdem, wie deren Bedeutung im eigenen Lebensvollzug gewichtet wird. Doch greift zu kurz, wer hier einzig und allein hedonistische Motive vermutet. Der Zwiespalt zwischen Familie und Beruf kann schwer wiegen. Die Ansprüche an die Partnerschaft sind oft hoch. Mit zunehmendem Alter vermindern sich die Chancen auf Elternschaft. Die Sachverhalte sind bei der sozialpolitischen Bewertung vort Kinderlosigkeit zu bedenken. 37*
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9. Speyerer Sozialrechtsgespräch
3. Familienalltag
Die innere Ordnung der Familie und die damit einhergehenden Beziehungsverflechtungen sind in den letzten 30 Jahren maßgeblich durch die Erwerbstätigkeit der Frauen beeinflußt worden. Dabei ist zu beachten: Die Erwerbsquote der 15- 64jährigen Frauen hat insgesamt um 8% zugenommen, doch jene der Frauen ohne Kinder ist gleich geblieben. Jene der Mütter ist von rund 39% im Jahr 1972 auf rund 52% im Jahre 1991 und auf 54% im Jahre 1997 angestiegen. Diese Zahlen betreffen das alte Bundesgebiet. Sie sind für die östlichen Bundesländer durchgängig höher. Tabelle 2
Erwerbstätigenquote•> der Frauen im Alter von 15 bis 65 Jahren 1972
1997
Insgesamt
47
ohne Kinder im Haushalt mit Kindem unter 15 Jahren
55 39
55 55
aJ
54•>
Früheres Bundesgebiet.
Quelle: Statistisches Bundesamt, FS, R3, 1997 (gekürzt).
Zum Zeitaufwand, der in den Familien mit Kindem erbracht wird, liegen gegenwärtig leider nur Daten aus den Jahren 91/92 vor (wiedergegeben in Engstier 1997: 124-128). Damals waren Frauen in Familien mit mindestens einem Kind im Alter von 3- 6 Jahren (um nur ein Beispiel zu nennen) rund viereinhalb Stunden am Tag in der Hauswirtschaft tätig, Männer rund eineinhalb Stunden. Der Zeitaufwand für die Kinderbetreuung betrug bei den Frauen etwas über zwei Stunden, bei den Männem rund eine Stunde. In Familien, in denen beide Eltern erwerbstätig waren, ging der Zeitaufwand für den Haushalt bei den Frauen zurück, derjenige bei den Männem blieb sich gleich. Männer setzen sich also nicht mehr im Haushalt und in der Kindererziehung ein, wenn ihre Frauen außerhäuslich erwerbstätig sind. Darüber, ob sich seit den letzten Jahren wesentliche Veränderungen in der häuslichen Aufgabenteilung insgesamt ergeben haben, gehen die Meinungen auseinander. Einzelne Studien lassen den Schluß zu, daß zumindest in bestimmten Familientypen versucht wird, einen stärkeren Ausgleich im häuslichen Engagement vorzunehmen. Doch bei der Mehrheit der Bevölkerung verändern sich die Dinge nur sehr langsam. Zum Bild des Familienalltages gehört auch ein Hinweis auf die Mediennutzung. Ich will hier darauf verzichten, Zahlen vorzutragen. Die meisten von uns, und vor allem diejenigen, die noch ohne Fernsehen aufgewachsen sind, wissen selber, wie sehr im Laufe der Zeit das Fernsehen, Video, CD, Tonband und neuerdings das Internet die Medienökologie der ganzen Familie verändert haben (hierzu: Lange I Lüscher 1998).
Reform der Hinterbliebenenrenten
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Tabelle 3
Tiigliche Zeitverwendung von Ehepaaren mit Kind(ern) im Alter von 3 bis 6 Jahren
Aktivitäten
Mann
Frau
Erwerbstätigkeit Medien I Freizeit Persönlicher Bereich
6:51 3:00
2:10 2:33
Gespräche I Geselligkeit
9:58 1:10
10:40 1:36
Unbezahlte Arbeit insgesamt
3:01
7:01
1:27 0:53
4:35 2:11
darunter: Hauswirtschaft Kinderbetreuung•> a)
Aktive Kinderbetreuung in der Hauptaktivität
Quelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) 1996: Zeit im Blickfeld: Ergebnisse einer repräsentativen Zeitbudgeterhebung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 109.
Wichtig scheint mir hier eine These der qualitativen Medienforschung. Sie besagt, daß namentlich durch das Fernsehen sich die Grenzen zwischen Jung und Alt aufgelöst haben, indem allen Familienmitgliedern alle Fernsehinhalte, unabhängig davon, ob sie von Jungen oder Alten handeln oder sich an Junge oder Alte wenden, zugänglich sind. Analoges gilt im übrigen für das Verhältnis der Geschlechter. Die Kenntnis unterschiedlicher Lebens- und Familienformen, eingeschlossen derjenigen von Minderheiten, ist über das Fernsehen zum Allgemeingut geworden. 5 Diese in den darstellenden Möglichkeiten des Mediums und in seiner Nutzungsart angelegten Qualitäten sowie seine auf Konkurrenz angelegte Organisation haben wesentlich zu den allgemeinen Prozessen der Enttabuisierung beigetragen und sowohl Prozesse der Emanzipation als auch der Instrumentalisierung in Gang gebracht. Die Zwiespältigkeiten der Modernisierung durchdringen auf diese sehr alltägliche Weise das familiale Zusammenleben. Sie dürften die Erziehung insgesamt mehr belasten als entlasten. Diese Entwicklungen wiederum laufen parallel zu Veränderungen in den Erziehungsstilen. Bereits die relativ allgemeinen demoskopischen Daten signalisieren hier einen markanten Wandel, der umschrieben werden kann als ein solcher von der elterlichen Autorität zur Verhandlungsfamilie. Eine überaus minutiöse und gleichzeitig sehr sorgfaltig aufgearbeitete Studie über den Wandel der Familienerziehung (Schneewind/Ruppert 1995) von den 70er zu den 90er Jahren spricht von einem Prozeß der "Erziehung zur Beziehung" (S. 318). Gemeint ist die "Etablierung eines weitgehend partnerschaftlieh-egalitären Verhältnisses zwischen Eltern und ihren im Kindesalter nach wie vor ja wohl doch noch erziehungsbedürftigen Kindern". Allerdings gibt es auch ein Beharrungsvermögen, in dem sich die 5
Diese Überlegungen entwickelt überzeugend Meyrowitz 1987.
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9. Speyerer Sozialrechtsgespräch
eigenen Kindheitserfahrungen fortsetzen. Hier findet sich eine Art "Kontinuität im Wandel". Doch insgesamt kann man sagen: Die grundlegenden Aufgaben bleiben; die Art, wie sie verstanden und gelöst werden, verändert sich.
4. Familienentwicklung und spätere Familienphasen
Ich habe einleitend darauf hingewiesen, daß es sowohl um den Wandel der Verhaltensweisen als auch um jenen der Verständnisse, der Familienbilder geht. Diese beeinflussen ihrerseits die Beobachtungen. Ein Beispiel dafür ist die Aufmerksamkeit, die seit einigen Jahren den mittleren und späteren Familienphasen zuteil wird. Dazu hat die demographische Entwicklung beigetragen, ebenso der damit einhergehende Aufschwung der Gerontologie. In den Sozialwissenschaften ist mit der sogenannten Lebenslaufforschung ein wichtiger Ansatz erarbeitet worden, mit dem versucht wird, die Wechselwirkungen zwischen individueller und gesellschaftlicher Entwicklung zu erfassen. Die Computertechnologie, die den effizienten Umgang mit großen Datensätzen ermöglicht, regt an, neben der amtlichen Statistik flächendeckend regelmäßige Längsschnittstudien zu etablieren, so das "Sozio-ökonomische Panel". Die feministische Forschung lenkte die Aufmerksamkeit ebenfalls auf die Lebensverläufe. Ein weiterer Impuls des Feminismus ist von den Bemühungen ausgegangen, den Wert der Haushaltsarbeit zu erfassen. Die Forschung über Familien in späteren Lebensphasen ist in vollem Gang. U.a. halte ich Befunde wie die folgenden für die allgemeine Argumentation von Belang: - Eine zunehmende Zahl junger Menschen zieht relativ spät von zu Hause weg. Junge Männer tun dies noch später und etwas langsamer als junge Frauen. Im Alter von 29 Jahren - um nur eine Zahl aus eigenen Untersuchungen zu nennen -gaben anläßlich der Befragungen in den Jahren 1984-1996 33% der Söhne und 14% der Töchter an, im Haushalt ihrer Eltern zu leben. Man stößt hier auf ein demographisches Phänomen, das in einem gewissen Gegensatz zu der wachsenden Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu stehen scheint. In Tat und Wahrheit zeigt sich hier das gleichzeitige Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe und unterschiedlicher Lebensstile, das kennzeichnend für die Gegenwart ist (Lauterbach I Lüscher 1999). Die verlängerte Lebenserwartung hat zur Folge, daß mehr Enkelkinder während längerer Zeit eine oder mehrere Großeltern erleben (und umgekehrt). So haben von den lO- 14 jährigen Kindern anfangs der 90er Jahre vier Fünftel mindestens eine Großmutter oder einen Großvater, die Hälfte sogar drei und vier Großeltern erlebt (Lange I Lauterbach 1998). Wie genau die Beziehungen gestaltet werden, läßt sich so einfach nicht erfassen. Darüber und auch, wie sie nach einer Ehescheidung gestaltet werden, ob Kinder beispielsweise so etwas wie Stief-Großeltern haben, wird zur Zeit intensiv gearbei-
Reform der Hinterbliebenenrenten
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tet. Dabei kann man bereits auf der Grundlage der allgemeinen Lebenserfahrung vermuten, daß sich etwa hinsichtlich der Erbgänge wie der von den Älteren an die Jüngeren gegebenen Hilfeleistungen und Schenkungen neue Verhaltensweisen ergeben. Insgesamt wandelt sich gewissermaßen vor unseren Augen sowohl die Rolle von Großvätern und Großmüttern als auch das Verhältnis der Generationen untereinander. In der bis jetzt umfangreichsten deutschen Studie zum Thema werden mehrere Stile der Gestaltung von Großmutterschaft unterschieden: relativ jung und pflichtorientiert - relativ jung, selbstbestimmt und gleichzeitig hochengagiert - integriert, relativ nahe wohnend- älter und ambivalent - älter und relativ familienunabhängig (Herlyn et al. 1998: 136 ff.). 5. Historische Entwicklungen Ungeachtet des Umstandes, daß es sich hier um eine knappe Skizze handeln muß, ist zumindest auf einen Sachverhalt noch kurz einzugehen. Der Umbruch im Osten im zeitlichen Umfeld der Vereinigung Deutschlands bestätigt geradezu dramatisch die Gesellschafts- und Staatsabhängigkeit von Familien. Zugespitzt auf die Zeit der Wende ergeben sich beispielsweise folgende Zahlen: - Die Zahl der Geborenen nach Mitte 1990 sank markant. - Hinsichtlich der Heiraten ist ebenfalls ein Rückgang zu beobachten. - Etwas später, in den Jahren 1991 und 1992, war in der Folge der Anpassung an den Rechtsvollzug ein vorübergehender dramatischer Rückgang in der Zahl der Scheidungen zu verzeichnen. Dieses Phänomen ist verwandt dem ebenfalls durch eine Änderung des Rechtes bedingten drastischen, jedoch vorübergehenden, Absinken der Scheidungszahlen Ende der 70er Jahre in der BRD. Hier zeigt sich eine - vorübergehende - Sensibilität der Familie auf gesellschaftspolitische Reformen. Gewissermaßen als Kontrast zu diesen kurzfristigen Indikatoren des Wandels sind abschließend noch zwei längerfristige Entwicklungen zu erwähnen. So ist die Quote der Ehescheidungen seit Anfang dieses Jahrhunderts ständig angestiegen. Sie hat allerdings für den hier besonders interessierenden Zeitraum seit den 70er Jahren nochmals markant zugelegt. Bezogen auf 10.000 Einwohner wurden um die Jahrhundertwende nur etwa l ,4 Ehen geschieden, im Jahre 1996 waren es 22,5. Stetig zurückgegangen im Zeitraum von 1870 bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts ist die Geburtenquote. Dann erfolgte ein kurzer Anstieg. Seither sinkt sie parallel zum Rückgang der Heiratsquote. Es ist nicht ganz einfach, diese Phänomene zu deuten. Indessen zeichnet sich hier ab, daß der Wandel im wesentlichen ein solcher des Verständnisses der familialen Beziehungen ist und der Bedeutung, welche die Familienangehörigen füreinander haben, sowie dem Gewicht, das Kindern aber auch Partnerschaften für den persönlichen Lebensvollzug eingeräumt wird.
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9. Speyerer Sozialrechtsgespräch
Jan. '89
Juli '89
Jan. '90
Juli '90
Jan. '91
Juli '91
Jan. '92
Juli '92
Quelle: StBa FS I, R I, 1990- 1992, Statistisches Jahrbuch der DDR 1990.
Grafik 2: Lebendgeborene 1989- 1992 in der DDR bzw. den neuen Bundesländern
Prozent 25
20
15
10
5
0++++++~~~~""""-rH-H-H-H-~~rrrrr+++++++++++~~
1888
1898
1908
1918
1928
1938
1948
1958
1968
1978
1988
Quelle: Statistisches Bundesamt (Hg.) (1972): Bevölkerung und Wirtschaft 1872- 1972 - Statistisches Bundesamt, Fachserie I, Reihe I, 1996.
Grafik 3: Scheidungen je 10 000 Einwohner, Deutschland
Doch erst das Zusammenwirken der unterschiedlichen Entwicklungen und die dabei auftretenden Spannungsfelder, die dabei entstandenen Optionen und Unsicherheiten haben seit den 60er Jahren zu einem historischen Wandel der Familie geführt. Insgesamt wird man sagen können - jedenfalls möchte ich diese Auffassung vertreten - daß es anspruchsvoller und wohl auch schwieriger geworden ist, Familie zu leben. Oder in anderen Worten: Die aktuelle Vielfalt läßt sich interpretieren als Ausdruck der Bemühungen der Menschen, unter aktuellen Bedingungen familiales Zusammenleben zu gestalten.
Reform der Hinterbliebenenrenten
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45
...
40 35
" ..r:: 30 0 c::
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20
Heiraten je 1000 Einwohner
15 10 5 0 1840
50
60
70
80
Quelle: Statistische Jahrbücher.
90 1900
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Grafik 4: Heirats- und Geburtsentwicklung im Deutschen Reich und der Bundesrepublik Deutschland, 1842- 1995
IV. Familienpolitik In der eben skizzierten Perspektive möchte ich die These vertreten: Je fragiler die Selbstverständlichkeit von Familie und je vielfältiger die Arten und Weisen des familialen Zusammenlebens sind, desto bedeutsamer wird Familienpolitik. Sie wird zu einem zunehmend wichtigeren Feld der aktuellen lnstitutionalisierung von Familie. Doch angesichts der Diffusität, die für Familienpolitik bisher kennzeichnend ist, ferner angesichts der hohen symbolischen Bedeutung von Familie, ergeben sich dabei schwierige Aufgaben. So lange das Leitbild der bürgerlichen Familie galt und ihm in weiten Kreisen der Bevölkerung faktisch nachgelebt wurde, konnte sich die Familienpolitik an dieser als richtig angesehenen Form von Familie orientieren. Sie konnte sich auf einen allgemeinen Familienlastenausgleich beschränken und besondere Anstrengungen auf die Unterstützung oder - militanter - auf die Korrektur abweichender Formen richten. Die Grenzen zwischen Familienpolitik und Fürsorgepolitik oder Steuerpolitik interessierten wenig. Die enge Koppelung von Ehe und Familie verlieh einer Maßnahme wie dem Ehegattensplitting einen selbstverständlichen familienpolitischen Charakter. Doch spätestens seit den 70er Jahren begann die faktische Pluralität familialen Zusammenlebens die Familienpolitik zu beschäftigen. Wenn nicht die äußere, so wurde jedenfalls die innere Gestalt von Familie durch das Bedürfnis der Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit- vorerst der Frauen- thematisiert. Gleichzeitig wurde das Recht auf Optionen allgemein akzeptiert. Die Zunahme der Scheidungen und folglich der Wiederheiraten begünstigten den Abbau von Vorstellungen der Normalität.
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Hinzu kam die Einsicht, daß Familien ebenso wie ihre Mitglieder unterschiedliche Phasen durchlaufen. Es ging nicht nur um den guten Anfang in der Familiengründung, wofür es seitjeher spezifische Maßnahmen gab. Vielmehr rückten, institutionell gesprochen, die Querverbindungen zur Schule, zum Gesundheitswesen, zur Pflege und Betreuung im Alter in den Horizont familienpolitischer Erwägungen. Was Familie den einzelnen Familienmitgliedern bedeutetet, begann zu interessieren. Die ideelle und die praktische Tragweite der subjektiven Sichtweisen wird dadurch unterstützt und gefördert, daß sich auf der kollektiven Ebene eine Frauenund eine Kinderpolitik etablierten. Die persönlichen Sinngebungen, Verständnisse und Interpretationen wurden umso wichtiger, je divergenter und unübersichtlicher die gesellschaftlichen Strukturen und Kräfte erschienen, die auf das familiale Zusammenleben einwirken. Dadurch erhöhte sich der Bedarf an Beratung. Auf einen knappen Nenner gebracht kann man also sagen: An Stelle der Bemühungen um die Wahrung, Wiederherstellung oder Ergänzung der richtigen Form der Familien tritt das Interesse an der Ermittlung der tatsächlichen, in den Familien und durch sie erbrachten Leistungen sowie an den Bedingungen unter denen diese erbracht werden können, wodurch sie begünstigt oder erschwert werden. Der Unterschied ist subtil, aber wichtig. Die Leistungen gelten nicht mehr als durch die richtige Form gewährleistet. Sie müssen kontextspezifisch erkannt und anerkannt werden. Abstrakt gesprochen: die Aufmerksamkeit verlagert sich von der Struktur zu den Prozessen im Lebensverlauf sowie zu den Strategien des wechselseitigen Aushandeins unter den Familienmitgliedern. Letztlich geht es dabei um die Frage, von welchem Bezugspunkt, in welcher Perspektive Familie begriffen werden kann, was also den Kern ihrer Realdefinition ausmacht, nämlich die Gestaltung verläßlicher Beziehungen zwischen den Generationen. Das zeigt sich in verschiedener Hinsicht.
1. Die Zentrierung auf das Humanvermögen
Werfen wir einen Blick auf jene Dokumente, die in Deutschland in einer herausragenden Weise das Bemühen um eine konzeptuelle Begründung von Familienpolitik dokumentieren: die Familienberichte. Hier läßt sich in den Definitionen, die von der Familie gegeben werden, eine Abkehr von einem ehezentrierten Verständnis erkennen, also von einem zentralen Kennzeichen der Form. Statt dessen gilt das Bemühen der Ermittlung familialer Leistungen. Dabei wird versucht, diese unter eine allgemeine Formel zu fassen, um der faktischen Vielfalt familialer Lebensführung und ihrem Verständnis durch die Beteiligten Rechnung zu tragen. Dieser Schlüssel zur Kennzeichnung familialer Leistungen ist das Konzept des Humanvermögens. Dieses ist bezeichnenderweise doppeldeutig. Es vereinigt nämlich in sich zwei Gesichtspunkte, den ökonomischen und den sozio-kulturellen.
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Gemeint ist, so der "Fünfte Familienbericht" (1994: 28): "zum einen die Gesamtheit der Kompetenzen aller Mitglieder einer Gesellschaft, von jungen und alten Menschen, von Kindern, Eltern und Großeltern, von Kranken, Behinderten und Gesunden. Zum anderen soll mit diesem Begriff in einer individualisierenden, personalen Wendung das Handlungspotential des einzelnen umschrieben werden, d. h. all das, was ihn befähigt, sich in unserer komplexen Welt zu bewegen und sie zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang spielt auch die Fähigkeit zum Eingehen verläßlicher Bindungen und damit die Möglichkeit, Familie leben zu können, eine zentrale Rolle. Schließlich verknüpfen sich in der Familie die Lebenspotentiale aller Gesellschaftsmitglieder. Die Familie ist der bevorzugte Ort der Entstehung und Erhaltung von Human vermögen." Die solchermaßen erbrachten Leistungen lassen sich näherungsweise in ihrem Geldwert berechnen, was auch tatsächlich, so durch den wissenschaftlichen Beirat (erstmals 1959, später durch die Familienberichtskommission 1994) geschehen ist, ferner in Versuchen zur Ermittlung der Kinderkosten. Auf diese Weise wird der Bezug zum ökonomischen Begriff des Vermögens hergestellt (siehe Krüsselberg 1997). Zu unterstreichen ist - man könnte sagen: durchaus dem Zeitgeist entsprechend - die Annäherung an eine ökonomische, mithin eine materielle Begründung, die einher geht mit einer pragmatisch-sozialökologischen Orientierung, welche die alltäglichen Lebensbedingungen in den Blick nimmt. Einen wesentlichen Faktor macht aus, was in anderer (nämlich feministischer) Sicht "Beziehungsarbeit" genannt worden ist. Darum spielen Zeitbudgetstudien, wie ich sie ebenfalls kurz erwähnt habe, eine wichtige Rolle. Nicht nur der Begriff des Humanvermögens als Leitidee und zentrale Begründung ist vieldeutig und immer wieder interpretationsbedürftig. Auch die Grundsätze, an denen sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kindem orientieren soll, bedürfen der steten Interpretation. Das trifft namentlich für das Konzept des Kindeswohls zu. Es thematisiert ebenfalls primär die Gestaltung der Generationenbeziehungen.
2. Veifassungsrechtliche Fundierungen Im internationalen Vergleich verfügt Deutschland über den Vorzug einer markanten verfassungsrechtlichen Unterstellung von Ehe und Familie unter den Schutz der staatlichen Ordnung. Das neue Interesse an Familienpolitik schlägt sich nieder in einer die familialen Leistungen berücksichtigenden Auslegung nach Art. 6 GG, wie sie in den neueren familienpolitischen Urteilssprüchen des BVerfG vorgenommen wird. Unter dem Gesichtspunkt der realen Auswirkungen könnte man das BVerfG als den wichtigsten Akteur im Felde der Familienpolitik bezeichnen. Das könnte man, wenn man weiter zurückblickt, bereits im Blick auf die Entscheidung aus dem Jahre 1957 sagen, die dann zum Ehegattensplitting
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führte. Gleichzeitig wird darin das damalige, an der Ehe orientierte Verständnis von Familie erkennbar6 . Eine wichtige Akzentsetzung hin zu den Leistungen erfolgte dann drei Jahrzehnte später mit dem sogenannten Mütterurteil 1992. Hier wurde ein Bezug zur Alterssicherung hergestellt und festgestellt, daß das bestehende System zu einer Benachteiligung von Personen führe, die sich innerhalb der Familie der Kindererziehung widmen, gegenüber kinderlosen Personen, die durchgängig einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Diese sei durch den Gesetzgeber in weiterem Umfang als bisher schrittweise abzubauen. Eine weitere Akzentsetzung erfolgte durch die Senatsbeschlüsse vorn 10. November 1998, wonach zum steuerfreien Existenzminimum aller Eltern, die Kinder großziehen, künftig ein Betreuungsbedarf und ein Erziehungsbedarf hinzuzurechnen seien. In der von mir hier vertretenen familienwissenschaftlichen Perspektive interpretiere ich diese Beschlüsse folgendermaßen: Erstens werden unterschiedliche Farnilienformen, namentlich Ehepaar-Familien und Alleinerziehende, erwerbstätige und nicht erwerbstätige Eltern, gleichgestellt. Zweitens werden -jedenfalls mittelbar - die farnilialen Betreuungsleistungen anerkannt. Drittens wird das Kriterium der steuerlichen Leistungsfähigkeit hervorgehoben. Dieses aber ermöglicht eine neue Sicht auf den Familienlastenausgleich als Ganzes. Zum Teil jedenfalls handelt es sich dabei nicht eigentlich um Familienpolitik, sondern um Steuerpolitik. Das wiederum macht den Blick frei für die eigentliche Erfassung farnilialer Leistungen. Auf diese Weise wird das Feld neu abgesteckt. In welcher Weise es bestellt wird, ist zur Zeit offen. Die Schwierigkeiten sind erheblich. Eine Neugestaltung des Familienlastenausgleichs kommt nicht darum, Kriterien für den Vergleich zwischen Eltern und kinderlosen Personen zu formulieren, wobei Kinderlosigkeit, wie ich erwähnt habe, keineswegs nur in einer einfachen Weise interpretiert werden kann. Das gilt übrigens auch, wenn man an der Haushaltsbesteuerung festhält, im Lebensverlauf. Gleichzeitig aber ist auf die durch die steuerliche Progression geschaffenen Urnverteilungsaspekte zu achten. Zur horizontalen Dimension kommt gewissermaßen eine vertikale. Ob anstelle des dualen bisherigen Familienlastenausgleichs eine Zentrierung einzig auf ein erhöhtes Kindergeld diesen beiden Dimensionen zu genügen vermag, bedarf sorgfältiger Prüfung. 3. Die sozialökologische Sichtweise
Wenn nun, wie die Vorstellung der in den Familien ablaufenden Bildung von Humanvermögen in ihren qualitativen Aspekten nahelegt, familiale Leistungen in und durch die Familien anerkannt und gefördert werden sollen, dann genügen 6 Für eine Darstellung der familienpolitischen Relevanz der Artikel des Bundesverfassungsgerichtes siehe Lampert 1994 und 1996.
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finanzielle Transfers für sich allein nicht. Notwendig sind seitens des Staates, aber auch der Wirtschaft und weiterer Akteure eingeschlossen der Selbsthilfegruppen, Aktivitäten, Maßnahmen und Einrichtungen, welche die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen familialer Leistungserbringung darstellen. Gemeint sind Aktivitäten von der Wohnungsförderung bis zu den Beratungstätigkeiten, von der Kinderbetreuung bis zur Alterspflege. Dabei ergeben sich Querverbindungen zu anderen Politikbereichen, beispielsweise zur Medienpolitik. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der ebenfalls in einer mittlerweile Jahrzehnte umfassenden Kontinuität Beiträge zur theoretischen und praktischen Begründung von Familienpolitik leistet, hat sich, nebst der Beschäftigung mit dem Familienlastenausgleich, gerade in jüngster Zeit um eine - wie man sie nennen kann - derartige "sozialökologische" Sichtweise bemüht. Dazu liegt neuerdings ein Gutachten vor, das bezeichnenderweise folgenden Titel trägt "Kinder und ihre Kindheit in Deutschland. Eine Politik für Kinder im Kontext von Familienpolitik" (1998). Es behandelt die Entwicklungsaufgaben, Lebensformen und Erfahrungswelten der Kinder und endet mit Empfehlungen zur Integration von Kinder- und Familienpolitik, zur kindergerechten Gestaltung von Wohnung und Wohnungsumwelt, zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den Medien, zur Mitgestaltung im kommunalen Lebensraum der Kinder und zur Weiterentwicklung eigener Rechte und Pflichten der Kindheit. - Eine vergleichbare Ausrichtung findet sich, zumindest in Ansätzen, im jüngsten Versuch einer Kammer der Evangelischen Kirche Deutschlands eine "Ethische Orientierung für das Zusammenleben in Ehe und Familie" zu formulieren (1998). Im Zentrum stehen die Beziehungen zwischen den familialen Generationen über den ganzen Lebenslauf: Zuwendung, Fürsorge, Erziehung, Pflege, Unterstützung und die damit einhergehenden Lernprozesse aller Beteiligten, das also, was in der soziologischen Fachsprache Prozesse der Sozialisation im Lebensverlauf genannt werden kann. Diesen Prozessen ist, so jedenfalls das heutige Verständnis, Offenheit eigen, auch eine gewisse Mehrdeutigkeit. Es wird angenommen, daß alle, Eltern ebenso wie Kinder, auf ihre Weise sich daran aktiv beteiligen können, sich wechselseitig beeinflussen, gemeinsam Orientierungen und Lösungen für Aufgaben suchen, die sich für die alltägliche Lebensbewältigung stellen. Das gilt besonders offensichtlich für die Generationenbeziehungen unter Erwachsenen. Miteinbezogen ist auch die Vorstellung, daß es zur Aushandlung im Falle von Interessenkonflikten kommen kann. Es geht um Lösungen für Aufgaben der alltäglichen Lebensbewältigung ebenso wie für die Meisterung kritischer Phasen, namentlich in vorhersehbaren und in unvorhersehbaren Übergängen wie Schuleintritt, Aufgabe der Erwerbstätigkeit und Scheidung.
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V. Ausblick
Ich möchte mit einer, zugegebenermaßen etwas spekulativen, Gegenüberstellung von zwei grundlegenden Auffassungen über den Kern der mit der Familie zu leistenden Prozesse der Institutionalisierung schließen. Im bürgerlichen Familienmodell ging es, ethnisch-philosophisch gesprochen, im Kern darum, lebenslängliche Treue als eine grundlegende Tugend und als ein Organisationsprinzip für die Ehe zu institutionalisieren. In der Sichtweise von Georg Simmel schafft Treue einen Mehrwert, der sozialen Zusammenhalt gewährleistet. Doch Treue läßt sich auch als moralische Verpflichtung deuten. Eine derart postulierte und strukturell eingeforderte (wenn nicht erzwungene) Treue hat den Charakter eines Wertes, der die Entwicklung von Familie gewissermaßen aus sich selbst heraus gewährleistet. 7 Indessen bestand ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Verstöße gegen das Ideal der Treue durch die Männer wurden häufig toleriert. Die Frauen hingegen waren faktisch stärker an die Familie gebunden. Sie waren ökonomisch abhängig und blieben in ihren sozialen und kulturellen bzw. gesellschaftlichen Spielräumen eingeschränkt. Pflege und Erziehung der Kinder, für die sie primär zuständig waren (sieht man von jenen Kreisen ab, die sich Kindermädchen leisten konnten), vermittelte, begünstigte und förderte auch das Entstehen enger Bindungen. Es gehört zu den wichtigen Einsichten moderner Sozialwissenschaften, eingeschlossen der Psychologie und der Psychoanalyse, ihre Bedeutung erkannt zu haben. Allerdings vermengten sich und vermengen sich noch in den sogenannten Bindungstheorien theoretische, empirische und ideologische Elemente, die lange Zeit die Rolle der Mutter über- und jene des Vaters unterschätzte. Wenn nun, wie ich argumentiert habe, die ideellen und faktischen Veränderungen von Familie und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu einer Zentrierung auf die Generationenbeziehungen führen, ist nicht mehr Treue die zentrale Orientierung, sondern "Verläßlichkeit" im Wandel. Diese ist, in meinem Verständnis, kein Wert der, einmal etabliert, Entwicklung gewährleistet, sondern ist immer wieder neu herzustellen und zu bekräftigen. Stärker als Treue betont in meinem Verständnis Verläßlichkeit die Zweiseitigkeit der Beziehungen. Darum ist sie auch offen für Abmachungen, die sich an der Figur des "Vertrages" orientieren. Gleichzeitig ist Verläßlichkeit eine Qualität, die in steter Auseinandersetzung mit der sozialen und kulturellen Umwelt herzustellen ist. Unter Bezug auf ein solches Verständnis würde ich darum die These vertreten wollen, daß es heutzutage letztlich darum geht, in der Gestaltung von familialen Beziehungen Verläßlichkeit zu institutionalisieren. Das zieht nicht notwendigerweise eine Abwertung der Partner - und damit auch der Ehebeziehungen nach 7 Ich beziehe mich hier auf Simmels Exkurs über "Treue und Dankbarkeit" in seiner "Soziologie" 1968 [1908].
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sich. Doch es soll ausgedrückt werden, daß die Gestaltung der Generationenbeziehungen die primäre Aufgabe darstellt, an deren Erfüllung sich dann auch die Gestaltung der Partner- und Ehebeziehungen orientiert. In der Tat lassen sich die Beobachtungen hinsichtlich der Entwicklung von Familie durchaus in dieser Hinsicht interpretieren. Generationenbeziehungen sind dynamische Beziehungen, die sich zwischen den Polen der Bewahrung und der Erneuerung konkretisieren. Sie erfordern den Umgang mit Widersprüchen oder, um einen ursprünglich aus der Psychoanalyse stammenden Begriff einzuführen, den Umgang mit Ambivalenzen. Dementsprechend ist die Gestaltung von Generationenbeziehungen fragiler. Generationenbeziehungen - darauf verweist bereits die Doppeldeutigkeit des Wortes Generation - haben immer auch eine historisch-gesellschaftliche Dimension, sind also mit den Prozessen des sozialen Wandels und den dort ebenfalls zu beobachtenden Widersprüchen verknüpft. Insgesamt läßt sich eine pragmatische Wende im Verständnis von Familie und familialen Leistungen ausmachen. Sie bildet ein Gegenstück zur Rhetorik von Wunschbild und Zerrbild. Diese Wende hat allerdings ihren Preis. Sie erfordert mehr Offenheit und birgt in sich die Belastungen von Ungewißheit und des Scheiteros einzelner Maßnahmen. Familie ist kein sicherer Wert mehr, sondern ist zur permanenten und bisweilen riskanten Aufgabe geworden. Literatur Berger; Brigitte I Berger; Peter L. ( 1984): In Verteidigung der bürgerlichen Familie. Frankfurt: Fischer. BMFSFJ, Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim (Hg.) (1998): Kinder und ihre Kindheit in Deutschland. Eine Politik für Kinder im Kontext von Familienpolitik. Stuttgart: Kohlhammer. Bundesministerium für Familie und Senioren (Hg.) (1994): Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland - Zukunft des Humanvermögens. Fünfter Familienbericht Bonn: Bundesministerium für Familie und Senioren.
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liche und politische Rahmenbedingungen. München: Beck.
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Ehe, Familie und Partnerschaften im Lichte des Verfassungsrechts Von Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
I. Einleitung
Nach Friedrich August von Hayek sind es drei Elemente, durch die sich erfolgreiche Gesellschaften von denen unterscheiden, die im Laufe der Geschichte rasch wieder untergegangen sind: Familie, Eigentum und Wettbewerb. 1 Alle drei Elemente sind Bestandteile des Grundgesetzes, auch wenn sie zur Zeit nicht im Vordergrund stehen, weil sie nicht von der Woge des Zeitgeistes getragen werden. Die institutionelle Bedeutung von Ehe und Familie wird daran deutlich, daß ihnen die Weimarer Reichsverfassung den ersten Artikel im Abschnitt über "Das Gemeinschaftsleben" gewidmet hat - ähnlich wie heute die bayerische Verfassung (Art. 124 )2 . Auch im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 standen Ehe, Kinder und Familie als kleinste Einheiten im ständischen Aufbau der Gesellschaft am Beginn des zweiten Teils des Gesetzbuchs. 3 Den Stellenwert von Ehe und Familie für Staat und Gesellschaft bringen die Verfassungen von Bayern und Rheinland-Pfalzfast wortgleich in der Umschreibung zum Ausdruck, daß Ehe und Familie die natürliche bzw. naturgegebene Grundlage der menschlichen Gemeinschaft sind. 4 Samuel von Pufendorf hatte vor knapp dreihundert Jahren noch anschaulicher formuliert: "Der Ehestand ist des Menschlichen Geschlechtes Pflantz-Garten". 5 Moderner, aber im Inhalt übereinstimmend, bezeichnet das Bundesverfassungsgericht Ehe und Familie "als die Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft, deren Bedeutung mit keiner anderen menschlichen Bindung verglichen werden kann". 6 I Hierüber berichtet Elisabeth Noelle-Neumann, Später Sieg des linken Zeitgeistes, in: Die politische Meinung, Nr. 349, 1998, S. 5 (15). 2 Vgl. auch Art. 21 bremVerf., wonach "Ehe und Familie die Grundlage des Gemeinschaftslebens" bilden; ähnlich Art. 4 hessVerf., Art. 5 Abs. 1 Satz 1 nordrh.-westfVerf., Art. 23 Abs. I Satz 1 rh.-pfVerf., Art. 22 Abs. I saar!Verf. 3 Titel 1 bis 4. 4 Art. 124 Abs. I bayVerf.; Art. 23 Abs. 1 rh.-pfVerf. s Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht, Frankfurt am Main 1711, Nachdruck 1998, Band II, VI, I, S. 253. 6 BVerfGE 6, 55 (71 ); 24, 119 (149).
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Dabei machen die Umschreibungen deutlich, daß Ehe und Familie unerläßliches Element für den Bestand des Staatsvolkes und damit des Staates sind. Die Weimarer Reichsverfassung konnte in Art. 119 Abs. 1 die Ehe noch unbefangen als Grundlage "der Erhaltung und Vermehrung der Nation" bezeichnen, wie sie auch von der "Reinerhaltung" der Familie sprach. Daß es sich hierbei keineswegs um eine anachronistische Funktion handelt, zeigen die Verfassungen anderer europäischer Staaten. So sieht Art. 21 Abs. I der griechischen Verfassung von 1975 die Familie "als Grundlage der Aufrechterhaltung und Förderung der Nation", dekretiert die irische Verfassung von 1937 die Familie "als unentbehrlich für das Wohl von Volk und Staat" (Art. 41 Abs. 1 Nr. 2), bezeichnet Art. 67 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung von 1976 die Familie "als grundlegendes Element der Gesellschaft" und umschreibt Art. 41 Abs. 1 der türkischen Verfassung von 1982 die Familie als "Grundlage der türkischen Gesellschaft". Damit übereinstimmend war für die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 die Familie "die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft" (Art. 16 Abs. 3). Das wenige Jahre nach dem Zusammenbruch verabschiedete Grundgesetz hat diesen Aspekt ausgeblendet. Dieses Schweigen der Verfassung war einer der Griinde dafür, daß die durch den Nationalsozialismus diskreditiert erscheinende Bevölkerungspolitik 7 in der Bonner Republik tabuisiert wurde. Heutzutage weist Deutschland von allen westlichen Industriestaaten die geringste Geburtenziffer auf, so daß der daraus resultierende ungünstige Bevölkerungsaufbau die Sozialversicherungssysteme insbesondere im ersten Drittel des nächsten Jahrhunderts vor ernsthafte Probleme stellen wird.
II. Zur Struktur des Art. 6 Abs. 1 GG Auf dem kargen Boden des Verfassungswortlauts "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" hat die Dogmatik ein ausladendes Gebäude errichtet. 1. Der erste Pfeiler ist die Eheschließungs- und Familiengriindungsfreiheit. Ungeachtet der scheinbar institutionellen Formulierung gewährleistet Art. 6 Abs. 1 GG wie fast ausnahmslos alle anderen Grundrechtsbestimmungen ein negatorisches (staatsabwehrendes) Freiheitsrecht und dariiber hinaus ein Handlungs- oder Darf-Recht. Jeder hat das Recht, eine Ehe zu schließen und sie aufrechtzuerhalten, eine Familie zu griinden und in ihr zu leben. 8 Dabei beschränkt sich Art. 6 Abs. 1 GG nicht nur auf den positiven Aspekt der Eheschließung und Familiengriindung, 7 Vgl. in diesem Zusammenhang lrmgard Weyrather, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die "deutsche Mutter" im Nationalsozialismus, 1993; Rita Thalmann, Zwischen Mutterkreuz und Rüstungsbetrieb: Zur Rolle der Frau im Dritten Reich, in: Kar! Dietrich Bracher I Manfred Funke I Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933 - 1945, 1992, S. 198 ff. 8 Vgl. BVerfGE 31,58 (67); auch E 29, 166 (175); 76, I (42). 38*
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sondern umfaßt auch die negative Komponente, keine Ehe zu schließen oder eine Familie nicht zu gründen. 9 Damit genießen Ledige oder- wie die männliche Spezies früher genannt wurde - "Hagestolze" ebenfalls den Schutz der Verfassung. Art. 6 Abs. I GG gewährleistet eine umfassende Freiheit in Ehe- und Familienangelegenheiten. Daraus folgt zugleich eine Verfassungsschranke für die staatliche Förderung von Ehe und Familie. Sie darf in ihren steuer- und sozialrechtlichen Wirkungen nicht dazu führen, daß ein mittelbarer (rechtlicher oder faktischer) Zwang zur Eheschließung oder Familiengründung ausgeübt wird, weil der Ledigen-Status aus wirtschaftlichen Gründen nicht aufrechtzuerhalten ist. 2. Als zweiter Pfeiler des verfassungsdogmatischen Ehe- und Familiengebäudes ist die Institutsgarantie von Ehe und Familie anzusehen. Die aus der Weimarer Zeit überkommene Lehre von den institutionellen Garantien besagt, daß Einrichtungen des öffentlichen sowie des privaten Lebens, wie sie vielfach den Grundrechten zugrunde liegen, einfach-gesetzlich nicht beseitigt oder wesentlich beeinträchtigt werden dürfen. Sie verstärken damit die subjektiven Freiheitsrechte objektiv-rechtlich, indem sie die für die Grundrechte benötigten Substrate, wie z. B. "Eigentum" oder "Verein" zusätzlich abschirmen. Im Bereich von Art. 6 Abs. I GG bewirkt die Institutsgarantie eine Unantastbarkeit von Ehe und Familie. Der Gesetzgeber ist daher gehindert, diese überkommenen und spezifisch geprägten Einrichtungen zu beseitigen oder durch eine Art von Partnergemeinschaften zu ersetzen, die auch nichteheliche Lebensgemeinschaften und andere Formen des Zusammenlebens erfaßte. Denn in den Worten des Bundesverfassungsgerichts 10 sichert Art. 6 Abs. I GG "als Institutsgarantie den Kern der das Farnilienrecht bildenden Vorschriften, insbesondere des bürgerlichen Rechts gegen eine Aufhebung oder wesentliche Umgestaltung und schützt gegen staatliche Maßnahmen, die bestimmende Merkmale des Bildes von der Familie, das der Verfassung zugrunde liegt, beeinträchtigen." Ob die Institutsgarantie so weit reicht, daß der Staat im Falle einer allgemeinen Ehemüdigkeit durch finanzielle Föderungen oder sonstige Anreize die Ehe attraktiv machen muß, ist fraglich. Grundsätzlich verpflichten grundrechtliche Freiheitsverbürgungen den Staat nicht, dem Grundrechtsträger durch Leistungen, insbesondere finanzieller Art, die Ausübung eines Grundrechts zu ermöglichen. 11 Allerdings haben die obersten Gerichtshöfe für die Institutsgarantie der Privatschule eine staatliche Förderungspflicht bejaht. Grund hierfür waren die von der Verfassung auferlegten Anforderungen für die Gründung einer Privatschule, die es privaten Schulträgern nach Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in aller Regel unmöglich machen, aus eigener Kraft gleichzeitig und auf Dauer sämtliche Anforderungen zu erfüllen. 12 Die staatliche Förderungspflicht ist somit gleichsam AusA.A. BVerfGE 56, 363 (384) in einem obiter dictum. E 80, 81 (92); vgl. fernerE 6, 55 (72); 31 , 58 (69); 62,323 (329); 76, I (41 , 49); 80,81 (92). II BVerfGE 90, 107 (115). 12 BVerfG a. a. 0. 9
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gleich für Verfassungsvorgaben. Da die Rechtsordnung mit Ausnahme der Standesarntsgebühr13 für die Eheschließung keine wirtschaftlichen Hürden errichtet, lassen sich die Grundsätze der Privatschulfinanzierung nicht auf die Institutsgarantie der Ehe übertragen. Der Staat ist daher verfassungsrechtlich nicht verpflichtet (wenn auch berechtigt), im Falle einer dramatischen Abnahme der Eheschließungen finanzielle Anreize für einen Grundrechtsgebrauch zu schaffen. 3. Einen dritten Pfeiler hat die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gegründet. Sie sieht in Art. 6 Abs. I GG zugleich eine Grundsatznorrn, worunter sie eine "verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts" versteht. 14 Hieraus folgt, daß bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere auch bei der Interpretation von Generalklauseln, die ehe- und familienfreundliche Grundhaltung des Grundgesetzes zu respektieren ist, weshalb beispielsweise der Bestand von Ehe und Familie nicht beeinträchtigt oder Auflösungstendenzen verstärkt werden dürfen. 15 4. Der vierte Pfeiler 16 ruht wieder in sicherem Verfassungsboden. Das Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung und räumt in Art. 6 Abs. 4 der Mutter zusätzlich Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gerneinschaft ein. Zusammen mit dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. I GG) sind dies die einzigen Fälle, in denen Grundrechtsbestimmungen ausdrückliche Schutzpflichten des Staates vorsehen. Die Besonderheit dieser Schutzgewähr ändert sich nicht dadurch, daß Rechtsprechung und Schriftturn auch aus anderen Grundrechten- beginnend mit dem Recht auf Leben 17 - ungeschriebene Schutzpflichten entwickelt haben, die den Staat zu einem effektiven Schutz verpflichten, wenn er nicht das Untermaßverbot verletzen will. Verfassungsdogmatisch ist die Schutzpflicht zweistufig aufgebaut. Auf der ersten Stufe enthält Art. 6 Abs. 1 GG ein Diskrirninierungsverbot, auf der zweiten ein Privilierungsgebot. 18 a) Das Diskriminierungsverbot hindert den Gesetzgeber, die ungleichen und daher der gesetzgebensehen Differenzierung an sich zugänglichen Sachverhalte des ehelichen und nichtehelichen, des familiären oder nichtfamiliären Zusammenlebens zum Anlaß einer Benachteiligung von Ehe oder Familie zu nehmen. Ehe Vgl. § 70 b PersonenstandsG. Vgl. BVerfGE 6, 55 L. 5 (72); 6, 386 (388); 9, 237 (248); 22, 93 (98); 24, 119 (135); 28, 104 (112); 31, 58 (67); 53, 224 (248); 55, 114 (126); 61, 18 (25); 62, 323 (329); 76, 1 (41, 49); 80, 81 (92f.). 15 Vgl. BVerfGE 22, 93 (98); auch E 6, 55 (71 f.); 24, 119 (135); 80, 81 (92 f.). 16 BVerfGE 24, 119 (135) spricht von einer "dreifachen verfassungsgerichtlichen Bedeutung" der Vorschrift, läßt dabei jedoch das (subjektive) Grundrecht auf Eheschließung und Familiengründung außer acht. 17 BVerfGE 39, 1 (42); fernerE 88, 203, L. I. 18 Vgl. BVerfGE 6, 55 (76); 55, 114 (126). 13
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und Familie müssen geachtet und dürfen nicht geächtet werden. Insoweit überlagert und ergänzt Art. 6 Abs. 1 GG sowohl den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als auch den besonderen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 GG. Die Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 GG meint nicht nur Schutz vor dem Staat, sondern auch Schutz vor Dritten (Drittschutz). Das Bundesverfassungsgericht formuliert hier etwas ungenau, wenn es dem Staat aufgibt, Ehe und Familie auch "vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren". 19 Der Staat dürfte daher beispielsweise tarifvertragliche Regelungen, nach denen Unverheiratete bei der Einstellung zu bevorzugen und insbesondere Doppelverdiener-Ehen zu benachteiligen wären, nicht hinnehmen. Die staatliche Schutzpflicht bezieht sich nicht nur auf bestehende Ehen, sondern insbesondere auch auf die Bereitschaft zur Eheschließung. 20 Gerade für die gesetzliche Rentenversicherung hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß der Gesetzgeber die Eheschließung nicht "durch die Ehe benachteiligende rentenversicherungsrechtliche Vorschriften beeinträchtigen" dürfe.Z 1 Gestaltet der Gesetzgeber das Steuerrecht oder das Sozialrecht ehe- oder familienunfreundlich aus, so verstößt er nicht nur gegen die Schutzpflicht, sondern behindert auch das subjektive Grundrecht der Eheschließung und Familiengriindung. Hier sind mittelbare Beeinträchtigungen von erheblichem Gewicht dem unmittelbaren Eingriff gleichzustellen. b) Aus der Schutzpflicht folgt auf der zweiten Stufe eine Förderungspflicht, deren Inhalt und Ausmaß sich jedoch mangels hinreichend bestimmten Wortlauts nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten lassen, 22 so daß der Gesetzgeber über eine Gestaltungsfreiheit verfügt.Z3 Allerdings darf sich die staatliche Hilfe nicht auf die immateriell-persönliche Sphäre beschränken, sondern muß sich auch auf den materiell-wirtschaftlichen Bereich und damit auch auf das Sozialversicherungsrecht24 erstrecken.25 Die Förderungspflicht reicht nicht so weit, daß der Staat jede aus der Gründung einer Ehe oder Familie resultierende finanzielle Belastung ausgleichen müßte. 26 Ein "Heirate und liquidiere" widerspräche zutiefst den Grundprinzipien des Grundgesetzes, das einen freiheitlichen und keinen Versorgungsstaat konstituiert. Auch Eheschließung und Familiengriindung sind Ausdruck BVerfGE 28, 324 (347); 55, 114 (126 unten). BVerfGE a. a. 0 .. S. 126f.; siehe auch E 28,324 (347); 12, 151 (167). 21 BVerfGE a. a. 0 .. S. 127. 22 Vgl. BVerfGE 6, 55 (76); Helmut Lecheler; in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 133 RN 50f. 23 BVerfGE 21, I (6); 23, 258 (264); 39, 316 (326); 43, 108 (123f.); 48, 346 (366); 55, 114 (127);62, 323 (333). 24 So BVerfGE 28, 104 (112); 48, 346 (366); 60, 68 (74); 62, 323 (332). 2s Vgl. BVerfGE 28, 104 (112); 33, 236 (238); 48, 346 (366); 53, 257 (296); 55, 114 (127); 61, 18 (25); 61, 319 (347); siehe auch E 13, 331 (347). 26 Vgl. BVerfGE 23,258 (264); 28, 104 (113); 40, 121 (132); 55, 114 (127); 60, 68 (74). 19
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der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung des Bürgers, der ungeachtet der Bedeutung dieser Institutionen für Staat und Gesellschaft die wirtschaftlichen Folgen in erster Linie selbst zu tragen hat. Die familienpolitische These, das staatliche Kindergeld decke nicht die tatsächlichen Kosten der Kindererziehung, verwechselt staatliche Förderung mit Kostenüberwälzung und sieht im Staat zu Unrecht eine Vollkasko-Einrichtung.
III. Ehe und Familie als Doppelgarantie Art. 6 Abs. 1 GG nennt Ehe und Familie nebeneinander und gleichberechtigt. Das auf den skizzierten vier Pfeilern ruhende Verfassungsgebäude ist gleichsam in zwei Hälften aufgeteilt, von denen die eine der Ehe und die andere der Familie zugewiesen ist. So verweist auch das Bundesverfassungsgericht darauf, daß das verfassungsrechtliche Bekenntnis zu Ehe und Familie "die Gewährleistung beider Lebensordnungen" umschließt. 27 Wegen des klaren Verfassungswortlauts darf sich der Gesetzgeber, insbesondere im Steuerrecht und im Sozialrecht, auch nicht unter Berufung auf das vage Sozialstaatsprinzip von einer Orientierung an der Ehe lösen28 und allein die Familie fördern. Auf diese Weise entstünde aus dem verfassungsrechtlich vorgegebenen "Nebeneinander" und "Miteinander" von Ehe und Familie ein "Gegeneinander", bei dem die Stärkung der Familie zu einer Schwächung der Ehe führte. Dabei stoßen Bestrebungen, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindem zu Lasten der Ehe zu bevorzugen, auf verfassungsrechtliche Bedenken. Bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindem stellt zwar die Gesamtheit der Personen keine Familie dar, doch bildet das uneheliche Kind sowohl mit seiner Mutter als auch mit seinem Vater eine (Torso-)Familie, was zu dem merkwürdigen Ergebnis führt, daß statt einer (Normal-)Familie zwei (Torso-) Familien vorhanden sind. 29 Gestaltete man die steuer- und sozialrechtliche Förderung dieser Torso-Familien so günstig aus, daß nicht nur ein Anreiz zur Eheschließung der Eltern fehlte, sondern diese sogar behindert würde, so verletzte der Gesetzgeber den staatlichen Schutzauftrag für die Ehe. Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG ist die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einer umfassenden, grundsätzlich unauflösbaren Lebensgemeinschaft. 30 Damit sind drei Prinzipien für die grundgesetzliche Ehe essentiell. Es muß sich um eine heterogene, monogame und auf Lebenszeit angelegte Gemeinschaft handeln. Gleichgeschlechtliche oder polygame Verbindungen entsprechen nicht dem Bild des Grundgesetzes. Dabei ist für die Mehrehe allerdings eine differenzierte Betrachtung geboten. Zweifellos widerspricht sie deutscher Rechtstradition, so daß BVerfGE 6, 55 (72). Wie hier im Ergebnis auch Franz Klein, Ehe und Familie im Steuerrecht, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1988, S. 54 unten. 29 Vgl. hierzu Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 RN 16 a. 3o Vgl. BVerfGE 10, 59 (66); 53, 224 (245); 62,323 (330). 27
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der deutsche Gesetzgeber vom Prinzip der Einehe nicht abgehen darf. 31 Deshalb verbietet es der ordre public (Art. 6 EGBGB), daß eine Mehrehe vor einem deutschen Standesbeamten geschlossen wird, selbst wenn sie, wie z. B. bei der Eheschließung von Ausländern, nach ausländischem Recht zulässig ist, oder daß ein deutsches Gericht zur Herstellung einer polygamen ehelichen Lebensgemeinschaft verurteilt. 32 Dagegen ist eine im Ausland rechtmäßig geschlossene Mehrehe in Deutschland als Ehe einschließlich ihrer vermögens- und kindschaftsrechtlichen Wirkungen anzuerkennen, so daß beispielsweise allen Ehefrauen Unterhaltsansprüche zustehen und alle Kinder als eheliche Kinder zu gelten haben. Das Lebenszeitprinzip bedeutet, daß beide Partner die Gemeinschaft als eine dauernde und grundsätzlich unauflösbare beabsichtigen und versprechen. 33 Lebensabschnitts-Gemeinschaften können daher von vomherein keine Ehen im Sinne des Grundgesetzes sein. Allerdings steht dem Lebenszeitprinzip nicht entgegen, daß das Eherecht zwar keine beliebige, wohl aber eine von bestimmten Voraussetzungen abhängende Auflösung der Ehe vorsieht. 34 Die hier erörterten Essentialia prägen das Institut der Ehe, das nach richtiger Feststellung des Bundesverfassungsgerichts von alters her überkommen und in seinem Kern unverändert geblieben ist. 35 Die Ehe des Grundgesetzes ist nicht irgendeine Lebensgemeinschaft, sondern eine an die christlich-abendländische Tradition anknüpfende, tradierte und vom Verfassunggeber vorgefundene Lebensform. 36 Infolgedessen sind die Strukturprinzipien nach zutreffender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Verfügungsgewalt des Gesetzgebers entzogen. 37 Nicht zu den überkommenen Strukturprinzipien gehört die Kinderzeugung in der Ehe. Sie ist zwar charakteristisches, aber nicht essentielles Merkmal der Ehe. Andernfalls wäre die Eheschließung im Falle der Zeugungsunfähigkeit oder höheren Alters nicht möglich. Schon das Allgemeine Landrecht von 1794 hat "die Erzeugung und Erziehung der Kinder" als Hauptzweck der Ehe angesehen, eine Eheschließung aber auch allein "zur wechselseitigen Unterstützung" zugelassen(§§ 1, 2 II 1). Selbst wenn die Kinderlosigkeit hedonistische Gründe hat, sind "Doppelverdiener"-Ehen38 nicht verfassungsillegitim, sondern genießen den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG. Deshalb dürfen Steuer- und Sozialrecht sich nicht einseitig auf die Familie fixieren und die Grundentscheidung der Verfassung für die Ehe negieren.
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Zutreffend BVerwGE 71 , 228 (230). BVerwGE a. a. 0. Vgl. BVerfGE 53, 224 (245). Hierzu auch BVerfGE 53, 224 (245 ff.). BVerfGE 10, 59 (66). Vgl. BVerfGE 31, 58 (69); 62, 323 (330). BVerfGE 62, 323 (330); vgl. auch E 31,58 (69). In amerikanischer Terminologie: dinks =double income, no kids.
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IV. Zur verfassungsrechtlich garantierten Gestaltungsfreiheit der Eheleute Wie andere Grundrechte, so gewährt auch Art. 6 Abs. 1 GG einen Freiheitsraum und eine Sphäre privater Lebensgestaltung, die staatlicher Einwirkung entzogen sind. Die autonomen Entscheidungen in Ehe und Familie heischen daher staatliche Zuriickhaltung. 39 In die Sphäre der vom Staate zu respektierenden privaten Lebensgestaltung der Eheleute fallt insbesondere die Aufgabenverteilung in der Ehe, bei der zusätzlich zu beriicksichtigen ist, daß die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG) auch in der Ehe gilt. 40 Danach obliegt es allein der Entscheidung der Eheleute, ob ein Ehegatte allein für den Unterhalt aufkommen soll (Alleinverdiener-Ehe) oder ob beide berufstätig sein sollen ("Doppelverdiener"-Ehe), gegebenenfalls auch in der Formzweier Halbtags-Beschäftigungen. Insbesondere wegen des Gleichberechtigungssatzes steht ihnen auch die Entscheidung frei, wer von ihnen den Haushalt führen und für die Kindererziehung verantwortlich sein soll. Dieser verfassungsrechtlich garantierten Selbstverantwortlichkeit der Eheleute droht weniger Gefahr durch staatliche Gebote oder Verbote als vielmehr durch mittelbare Eingriffe, die infolge steuerlicher oder sozialrechtlicher Nachteile zu einer Lenkung führen können. So hat das Bundesverfassungsgericht für die beamtenrechtliche Witwenversorgung zu Recht festgestellt, daß eine Einwirkung des Gesetzgebers mit dem Ziel, die Ehefrau "ins Haus zuriickzuführen", verfassungswidrig ist. 41 Dasselbe Lenkungsverbot für den Gesetzgeber gilt für den umgekehrten Fall einer Hinführung der Frau in das Erwerbsleben, weil auch die manchem als altmodisch erscheinende Selbstverwirklichung der Frau als Hausfrau und Mutter verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Hinsichtlich der freien Aufgabenverteilung in Ehe und Familie muß der Gesetzgeber daher seine Rechtsordnung, insbesondere das maßgebliche Steuer- und Sozialrecht, möglichst neutral ausgestalten und hat auf Grund bundesverfassungsgerichtlicher Weisung "Regelungen zu vermeiden, die geeignet wären, in die freie Entscheidung der Ehegatten über die Aufgabenverteilung in der Ehe einzugreifen. " 42 Diese Verfassungsgrundsätze haben erhebliche Bedeutung für das Steuerrecht. Die Freiheit der ehelichen Aufgabenverteilung und das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten in ihren finanziellen Beziehungen bedingen auch eine freie Entscheidung, ob einer der Eheleute allein ein möglichst hohes Familieneinkommen erwirtschaften soll, während der andere Partner den Haushalt führt, oder ob beide Partner sowohl im Haushalt als auch im Beruf tätig sein wollen, so daß beide ihre 39 Vgl. hierzu BVerfGE 10,59 (83, 84f.); 21,329 (353); 39, 169 (183); 48,327 (338); 61 , 319 (347); 66, 84 (94); 68,256 (268); 87, 234 (258 f.). 40 Vgl. BVerfGE 10, 59 (67). 41 BVerfGE 21, 329 (353). 42 BVerfGE 66, 84 (94); 68, 256 (268); 87, 234 (258 f.).
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Berufstätigkeit entsprechend beschränken. Da beide Arten von Ehen gleich behandelt werden müssen und eine Hausfrauen- oder Hausmannehe nicht benachteiligt werden darf, entspricht allein das "Splittingverfahren" dem Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit in einer Ehe, die zugleich eheliche Wirtschaftsgemeinschaft ist. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht das Ehegattensplitting nicht als eine "beliebig veränderbare Steuer-'Vergünstigung', sondern" als "eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare orientierte sachgerechte Besteuerung" bezeichnet. 43 Pläne der jetzigen Bundesregierung, das Ehegattensplitting zu kappen, gehen daher auf Kollision zur Verfassung. Die verfassungsrechtliche Pflicht zur Respektierung der Aufgabenverteilung in der Ehe trifft auch den Sozialgesetzgeber. Insbesondere das Rentenversicherungsrecht muß eine soziale Sicherung auch der nicht erwerbstätigen Ehefrau als Nachwirkung der Aufgabenteilung in der Ehe44 vorsehen, weil andernfalls eine Hausfrauen-Ehe wegen fehlender Alterssicherung nicht möglich wäre und die Ehefrau sozialversicherungsrechtlich in die Arbeit gelenkt würde. Der Gesetzgeber darf jedoch, wie bereits erwähnt, Ehe und Eheschließung nicht durch benachteiligende rentenversicherungsrechtliche Vorschriften beeinträchtigen. 45 Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht den abgeleiteten Anspruch der Ehefrau auf Hinterbliebenenrente als dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG entsprechend und als Konkretisierung des Sozialstaatsgebots angesehen. Ungeachtet der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hat das Gericht unmißverständlich darauf hingewiesen, daß das Sozialrecht wegen Art. 6 Abs. 1 GG bestimmte Ehen, die dem verfassungsrechtlichen Schutzbereich unterfallen, nicht mißbilligen und durch Verweigerung sozialer Leistungen benachteiligen darf, die für andere Ehen selbstverständlich sind. 46 Gerade in der Hinterbliebenenrente manifestiert sich der soziale und solidarische Charakter der Sozialversicherung, für die auch fürsorgerisch motivierte Leistungen charakteristisch sind.47 Würde man Renten ohne eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten als "Fremdlasten" aus dem Sozialversicherungsrecht tilgen, so würde dieses sein überkommenes Bild einbüßen und der Bundesgesetzgeber auch seine Kompetenz für diesen Bereich verlieren. Mag eine Reform der Witwenrenten auch die eigenständigen Anrechte der Frauen ausbauen, so darf die ergänzende Hinterbliebenensicherung eines Ehepartners aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht beseitigt werden. Im Beamtenverfassungsrecht ist anerkannt, daß die vom Dienstherrn geschuldete Alimentation auch eine amtsangemessene Versorgung des Beamten und seiner Familie umfaßt. Da diese Alimentationspflicht als hergebrachter Grundsatz des 43 44
45 46 47
BVerfGE 61 , 319 (347); vgl. auch E 75, 361 (366f.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 22,91 (98). Vgl. BVerfGE 55, II4 (127). BVerfGE 62, 323 (333); siehe auch E 48, 346 (354 f.). Vgl. BVerfGE 97, 271 (285).
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Berufsbeamtenturns vom Gesetzgeber nicht nur zu berücksichtigen, sondern sogar zu beachten ist, sind die Witwen- und Waisenpensionen im Beamtenrecht als solche für den Gesetzgeber unantastbar. V. Besonderheiten der Ehe im Vergleich zu anderen Gemeinschaften
1. Einer der Hauptgründe für die herausgehobene Stellung von Ehe und Familie sind die gegenseitigen Unterhaltspflichten innerhalb der ehelichen und familiären Gemeinschaft. Mit dieser nicht nur sittlichen, sondern familienrechtlichen Verantwortung wird zugleich der Staat entlastet. Dessen aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Pflicht, dem einzelnen im Falle der Not ein menschenwürdiges Auskommen zu sichern, wird zu einer subsidiären Einstandspflicht abgeschwächt. Diese Subsidiarität ist jahrhundertealtes Charakteristikum staatlicher Fürsorge und findet sich ebenfalls schon im Allgemeinen Landrecht von 1794. Konsequenterweise statuiert auch das geltende Recht einen Nachrang der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1), so daß Sozialhilfe nicht erhält, wer sich entweder selbst helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen, besonders von Angehörigen oder von Trägem anderer Sozialleistungen, erhält. Die gegenseitige Unterhaltspflicht als Rechtspflicht unterscheidet Ehe und Familie von allen anderen Gemeinschaften oder Partnerschaften, insbesondere auch von den sogenannten nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Sie ist ein gewichtiges Argument gegen eine Gleichstellung. Vorstöße hierfür gab es bei den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates. Art. 6 Abs. 1 GG sollte um einen Satz ergänzt werden, wonach der Schutz für Ehe und Familie "auch andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften" umfassen sollte. Die Abstimmung ergab jedoch eine Pattsituation, so daß die erforderliche Zweidrittelmehrheit bei weitem verfehlt wurde. 48 2. Was nun im Wege der Verfassungsergänzung fehlschlug, kann keinesfalls über den Abweg der Verfassungsinterpretation erreicht werden. Es ist zu einer Unart geworden, politisch gewünschten, aber parlamentarisch nicht realisierbaren Ergebnissen durch schneidige Verfassungsinterpretation in der Hoffnung näherzukommen, daß engagiert vorgetragene und ständig wiederholte Minderheitsansichten in Verbindung mit einer Politisierung von Richterwahlen und Richterernennungen eines Tages zur Mehrheitsmeinung werden. Argumentationshilfe hierfür ist ein leicht zu beschwörender "Verfassungswandel", mit dessen Hilfe z. B. noch kurze Zeit vor der Wiedervereinigung das Wiedervereinigungsgebot aus der Verfassung herausinterpretiert werden sollte. 49 48
Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: Zur Sache 5/93,
s. 107 ff.
49 Protagonist: Joachim Rottmann, über Das Obsolet-Werden von Verfassungsnormen, in: Zeidler-Festschrift, Bd. 2, 1987, S. 1097 (1106f.).
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Abgesehen davon, daß bei einer aus unvordenklichen Zeiten überkommenen Institution wie der Ehe ein verändertes Verhältnis in einer Zeitspanne von wenigen Jahren nicht ins Gewicht fallen kann, ist ein solcher Wandel in der Rechtswirklichkeit auch nicht in nachhaltiger Weise zu verzeichnen. Die Vermehrung nichtehelicher Gemeinschaften als solche besagt wenig, zumal die Erfassung überdies weitgehend auf Schätzungen beruht und daher statistisch wesentlich ungenauer ist als die Zahl der Eheschließungen. Für Westdeutschland wird eine Verdreifachung der nichtehelichen Gemeinschaften in dem Zeitraum von 1978 bis 1992 angenommen, nämlich von knapp 350.000 im Jahre 1978 auf über 1,1 Millionen im Jahre 1992. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, daß es voreheliche oder außereheliche Beziehungen schon immer gegeben hat, die man unter die Begriffe wie "wilde Ehe", "Onkelehe", "Konkubinat" oder "Verlöbnis" gefaßt hat. Ein vielzitierter Wertewandel, insbesondere die Änderung der Moralvorstellungen, aber auch eine Besserung wirtschaftlicher Verhältnisse und verfügbaren Wohnraums haben es möglich gemacht, daß insbesondere junge Menschen ohne Eheschließung in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammenleben, die oftmals allerdings nur eine "Lebensabschnittsgemeinschaft" ist. Soziologische Forschungen belegen ein neues Partnerschaftsmuster, bei dem der später geschlossenen Ehe eine längere nichteheliche Lebensgemeinschaft vorausgeht. 50 Damit ist die nichteheliche Gemeinschaft vielfach kein Äquivalent, sondern eine Antizipierung der Ehe. Zwar ist die Zahl der Eheschließungen in den letzten Jahrzehnten von über 500.000 im Jahre 1950 auf knapp 400.000 im Jahre 1995 (im alten Bundesgebiet) zurückgegangen. Dennoch beträgt der Anteil der Verheirateten (einschließlich der Verwitweten) bei den 40- bis 50jährigen Männem knapp 78 v.H., bei der Gruppe der 50- bis 55jährigen mehr als 82 v.H., bei der Gruppe der 55- bis 60jährigen über 85 v.H.; bei der weiblichen Bevölkerung in der Gruppe der 40- bis 50jährigen mehr als 81 v.H., bei den 50- bis 55jährigen über 84 v.H. und in der Gruppe der 55- bis 60jährigen über 85 v.H. 5 1 Damit belegen die statistischen Erhebungen in keiner Weise, daß der verfassungsrechtliche Schutz der Ehe gegenstandslos oder auch nur weniger aktuell geworden ist. 3. In der Familie erweitert sich die eheliche Gemeinschaft zu einer aus Eltern und Kindem bestehenden Familiengemeinschaft Regelfall ist das Zusammenleben des Kindes oder der Kinder mit den durch die Ehe verbundenen Eltern in einer Gemeinschaft. 52 Daß der Regelfall auch den tatsächlichen Verhältnissen entspricht, macht eine Statistik vom April 1997 deutlich. Danach leben über 82 v.H. aller Kinder zusammen mit ihren verheirateten Eltern in einer Familie. Demgegenüber sind Familien, in denen Kinder mit ihren in nichtehelicher Lebensgemeinschaft ver5o Laszlo Vaskovics, Die Rolle der Familie in einer Gesellschaft im Wandel, in: Politische Studien, Sonderheft 4/94, S. 17 (21 ). 51 Quelle: Alterssicherungsbericht 1997, BT-Drucks. 13 / 9750, S. 71, Übersicht III/ 26. 52 Vgl. BVerfGE 56,363 (382); siehe auch BVerfGE 31, 194 [205].
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bundenen Eltern leben oder Torso-Familien, d. h. Gemeinschaften von ledigen, getrennt lebenden, geschiedenen oder verwitweten Müttern mit ihrem Kind oder auch Vätern mit ihrem Kind die deutliche Ausnahme. Da das Grundgesetz von "Ehe" und "Familie" gleichsam in einer verfassungsrechtlichen Paarformel spricht, sind die verfassungsrechtlichen Erwägungen, die für die Ehe herausgearbeitet wurden, auf die Familie übertragbar. Größere Bedeutung als für die Ehe hat das Gebot der Förderung, auch in wirtschaftlicher Hinsicht, für die Familie, weil hier die Belastung größer ist. So ist eine aus Art. 6 Abs. I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgende Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich allgemein anerkannt, wenn es auch hier wiederum der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers obliegt, in welchem Umfang und in welcher Weise er einen derartigen Ausgleich vornimmt. 53 Allerdings enthält Art. 6 Abs. 1 GG, worauf das Bundesverfassungsgericht kürzlich hingewiesen hat, einen besonderen Gleichheitssatz. Dieser verbietet es, Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen. Insbesondere folgt daraus ein Benachteiligungsverbot für den Gesetzgeber, so daß dieser an die Existenz einer Ehe oder die Wahrnehmung des Elternrechts in ehelicher Erziehungsgemeinschaft keine belastenden Differenzierungen anknüpfen darf. Für das Steuerrecht gebietet Art. 6 Abs. I GG daher, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu belassen, so daß das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum bei der Einkommenbesteuerung zwar über- aber nicht unterschritten werden darf. Im einzelnen hat der Sozialgesetzgeber die Pflicht zum Familienlastenausgleich insbesondere durch Kindergeld, Erziehungsgeld, Unterhaltssicherung und Erziehungszeiten konkretisiert, wobei es immer nur um eine Belastungsminderung, nicht um einen vollen Belastungsausgleich gehen kann. Im Krankenversicherungsrecht werden die Familienangehörigen über die ausdrücklich so genannte "Familienversicherung" (§ IO SGB V) in den materiellen Versicherungsschutz einbezogen. In der Unfallversicherung und der Rentenversicherung stellen die Witwenund Witwerrenten sowie die Waisenrenten ein überkommenes Prinzip sozialer Sicherung dar. 4. Einen breiten Raum in der aktuellen verfassungsrechtlichen und sozialpolitischen Diskussion nehmen Partnerschaften ein, die auch als eheähnliche Lebensgemeinschaften oder nichteheliche Lebensgemeinschaften bezeichnet werden, wobei wieder zwischen heterogenen und homogenen, also gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu unterscheiden ist. Dem Grundgesetz sind derartige Begriffe verständlicherweise fremd, zumal der Versuch einer Verfassungsergänzung, wie erwähnt, gescheitert ist. Dagegen finden sich in zwei der jüngeren Landesverfassungen Regelungen. Nach Art. 26 Abs. 2 der brandenburgischen Verfassung wird "die Schutzbedürftigkeit anderer auf 53
Vgl. BVerfGE 11, 105 (126); 39, 316 (326); 23, 258 (264); 28, 104, (113 f.); 21, I (6).
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Dauer angelegter Lebensgemeinschaften" anerkannt, und die Berliner Verfassung bestimmt in Art. 12 Abs. 2: "Andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften haben Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung." Weiterhin taucht in gesetzlichen Bestimmungen gelegentlich der Begriff "eheähnliche Lebensgemeinschaft" auf. 5 4 Terminologisch verdient der Begriff der "nichtehelichen Lebensgemeinschaften" den Vorzug. Denn das Adjektiv "eheähnlich" suggeriert eine Vergleichbarkeit im Tatsächlichen und damit eine Gleichheit in der Rechtsfolge. Dagegen stellt das Adjektiv "nichtehelich" auf das entscheidende Kriterium ab: Allen derartigen Gemeinschaften fehlt die formale Verbindlichkeit, wie sie nur durch eine Eheschließung erreichbar ist, so daß auch keine rechtlichen Unterhaltspflichten der Partner begründet werden. Darüber hinaus ist im Einzelfall kaum zu ermitteln, ob es sich wirklich um eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft handelt. Die Partner müssen sich hierüber bei einem Zusammenziehen und einer gemeinsamen Haushaltsführung keine Gedanken machen. Vielfach dauern die vermeintlich lebenslänglich angelegten Gemeinschaften nur eine begrenzte Zeit. 5. Daß die nichtehelichen Gemeinschaften nicht wie die Ehe dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterstellt werden können, ist offensichtlich und allgemein anerkannt. Die Verfassung knüpft an ein seit alters her überkommenes Institut an und will nur dieses privilegieren. Sie enthält keine Lücke, und vom Sinn und Zweck her lassen sich die unterschiedlichen Institute "Ehe" und "nichteheliche Lebensgemeinschaft" nicht gleich behandeln. Die Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaften können sich daher nur auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) berufen, die die Verfassung allerdings nur im Rahmen der Rechtsordnung, der Rechte anderer und des Sittengesetzes gewährt. Da sich, wie schon erwähnt, die moralischen Anschauungen gewandelt haben und auch das Strafrecht liberalisiert wurde, ist ein ausreichender Verfassungsschutz gegeben, und stellt auch die Rechtsordnung hinreichende Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung, um die wirtschaftlichen Interessen der Partner zu sichern. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob rechtliche Vorteile für Eheleute, insbesondere im Steuer- und im Sozialrecht, auf nichteheliche Lebensgemeinschaften übertragen werden dürfen und sollen. Bei der Beantwortung muß die rechtspolitische von der verfassungsrechtlichen Dimension getrennt werden. a) Rechtspolitisch sind zunächst die immensen Kosten zu bedenken, die eine Gleichstellung, z. B. als Steuer-Splitting oder bei Hinterbliebenenrenten für nichteheliche Lebenspartner mit sich brächte. Darüber hinaus ist zu bedenken, daß die Finanz- und die Sozialversicherungsverwaltung Massenverwaltungen sind, die im Einzelfall oft mühevoll ermitteln müßten, ob es sich wirklich um eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft oder nur eine vorübergehende Gemeinschaft handelte, wobei gleichzeitig erhebliche Mißbrauchsgefahren entstünden. Weiterhin ist zu erwägen, ob der Staat Ehevergünstigungen für Personen einräumen soll, die sich 54
Vgl. § 122 BSHG; § 194 Abs. I und Abs. 2 Nr. 10 SGB III.
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selbst nicht einmal rechtlich zu einem Einstehen füreinander verpflichten wollen. Eine Notwendigkeit für die Gleichstellung besteht jedenfalls nicht, da die Partner jederzeit durch eine Eheschließung die Gleichstellung mit einer Ehe erreichen können. Hinter allen Bestrebungen, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Ehen gleichzustellen, steht - drastisch formuliert - die Überlegung, daß man die Vorteile einer Ehe mitnehmen, die wirtschaftlichen Nachteile (insbesondere Unterhaltspflicht, im Falle der Scheidung Zugewinn- und Versorgungsausgleich) aber meiden möchte. Das alte deutsche Recht hatte hierfür das treffende Rechtssprichwort: Nur "wer den bösen Tropfen hat, genießt auch den guten." 55 b) Verfassungsrechtlich liegen die Dinge noch etwas komplizierter. Bei der Exegese des Art. 6 Abs. 1 GG hat es sich ergeben, daß der Staat durch rechtliche oder faktische Maßnahmen die Ehe nicht nur nicht benachteiligen, sondern auch die Bereitschaft zur Eheschließung nicht gefährden darf. Die Bereitschaft, eine Ehe einzugehen und damit Verantwortung und wirtschaftliche Nachteile auf sich zu nehmen, wird aber im Regelfall nachlassen, wenn die Rechtsordnung in einem größeren Umfange nichteheliche Lebensgemeinschaften mit den Ehen gleichstellt. Wenn Partnerschaften unter denselben Voraussetzungen wie Eheleute Wohnraum erhalten56, im Steuerrecht als Ehegemeinschaft behandelt werden und in der Sozialversicherung die Leistungen für Familienangehörige beanspruchen können, dann wird vielfach kein Grund mehr bestehen, von den Grundrechten des Art. 6 Abs. I GG Gebrauch zu machen. Damit verfehlt der Staat aber seinen von Verfassungs wegen vorgegebenen Schutzauftrag, weil er die Ehe nicht mehr fördert, sondern die Eheschließung behindert. Es ist also allzu vordergründig, wenn in der rechtspolitischen Diskussion nur das Benachteiligungsverbot erörtert wird. Denn es ist evident, daß eine rechtspolitisch diskutierte "Witwenrente"57 für nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht höher sein darf als für verwitwete Ehefrauen, daß nicht-eheliche Lebensgemeinschaften nicht unter leichteren Voraussetzungen im sozialen Wohnungsbau gefördert werden dürfen als Eheleute. Verfassungsrechtlich bedeutsamer ist das Behinderungsverbot, das der Gesetzgeber genau zu beachten hat, will er nicht- wie in letzter Zeit leider allzu oft- aus blindem Reformeifer die Verfassung verletzen. Zusätzliche Probleme ergeben sich bei einer rechtlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, wobei die Funktionäre derartiger Bewegungen sich mit Vorliebe zur Selbstcharakterisierung eines ordinären Jargons bedienen. Wie bereits dargelegt, gehört es zu den überkommenen und vom Gesetz55 Vgl. Graf/ Dietherr; Deutsche Rechtssprichwörter, 2. Ausgabe, Nördlingen 1869 (Nachdruck 1975) S. 85 Nr. 122. 56 Vgl. hierzu den vom Bundesrat beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und anderer wohnungsrechtlicher Gesetze vom 5. 2. 1999 (BR-Drucks. 58/99 [Beschluß]). Danach sollen auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften künftig wie Ehen beim Bezug von Sozialwohnungen berücksichtigt werden; siehe auch BRDrucks. 58/99 v. 28. I. 1999; 254/97 v. 14. 4. 1997; 254/97 (Beschluß) v. 25. 4. 1997. 57 Vgl. Franz Ruland, Rente für die "nichteheliche Witwe"?, NJW 1995, S. 3234 f.
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geber zu respektierenden Verfassungsprinzipien der Ehe, daß es sich um eine heterogene Verbindung, also um eine Gemeinschaft von Mann und Frau, handelt. Da die Verfassung selbst diesen familienrechtlichen Komplex eindeutig und abschließend geregelt hat, muß von vornherein jeder Versuch scheitern, über den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. I GG eine Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu postulieren.58 An diese Vorgaben ist nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch der Landesverfassungsgeber gebunden. Die Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 der Berliner Verfassung, wonach niemand wegen seiner sexuellen Identität benachteiligt werden darf, kann sich daher nur im Rahmen des geltenden Bundes-Familienrechts entfalten. Eine Eheschließung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern ist nicht nur nach geltendem Familienrecht, sondern auch nach geltendem Verfassungsrecht ausgeschlossen und kann auch landesrechtlich nicht eingeführt werden. Hatte das Bundesverfassungsgericht noch im Jahre 1957 entschieden, daß homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstößt59, so haben sich auch hier die Anschauungen gewandelt. Solange und soweit homosexuelle Betätigung vom Gesetzgeber nicht unter Strafe gestellt ist, können sich die Partner gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften für ihr Zusammenleben auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. l GG berufen, was auch vom Bundesverfassungsgericht mittelbar anerkannt wird. 60 Eine Notwendigkeit zur einfachgesetzlichen Regelung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften besteht nicht, da die Rechtsordnung ein hinreichendes Instrumentarium bereitstellt, um Unzuträglichkeiten beispielsweise im Mietrecht beim Versterben eines Partners, im Erbrecht und auf anderen Gebieten zu regeln. Einige Politiker haben hier jedoch offenbar eine Nische gesehen, um brachliegendes Wählerpotential zu mobilisieren. So bemühen sich viele Parteien um Reformen, die im wesentlichen aber in einem Aktionismus oder in symbolischer Gesetzgebung steckenbleiben. Das gilt insbesondere für das Vorhaben, gleichgeschlechtliche Paare bei Standesämtern registrieren zu lassen ("Hamburger Ehe"61 ) , weil hieraus keinerlei Rechte und Pflichten folgen. Ob die Verweigerung einer Fahrtvergünstigung für eine Lebensgefährtin gleichen Geschlechts durch den Arbeitgeber für die Existenz gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften so essentiell ist, daß man hierfür den Europäischen Gerichtsho~2 bemühen muß, erscheint mir fraglich. Die Absurdität wird erreicht, wenn eine Bundestagsabgeordnete nach Pressemeldungen63 zur Beseitigung der Diskriminierung und zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare mit Ehepaaren fordert, dafür das Ehegatten-Splitting abzuschaffen. So auch BVerfG (Kammer) NJW 1993, S. 3058 f. BVerfGE 6, 389 L. 2. 60 BVerfG a. a. 0. 61 Vgl. jetzt das (hamburgische) Gesetz über die Eintragung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften vom 14. 4. 1999 (GVBI. S. 69). 62 Vgl. EuGH I Rs. C-249/96 - Grant - I - 621. 63 So die Abg. Oesterle-Schwerin, FAZ vom 11. 4. 1988. 58
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Abschließend sei bemerkt, daß das Verfassungsrecht sicherlich überfordert wäre, wenn man in ihm ein Handbuch zur Lösung aller aktuellen rechtspolitischen Probleme sähe. Aber es enthält essentielle Vorgaben, über die sich der Gesetzgeber nicht hinwegsetzen darf. In diesem Rahmen muß die Legislative dann eigenverantwortlich, nach Maßgabe vorhandener Ressourcen und mit Augenmaß fern von tagespolitischer Aufgeregtheit zum Wohle der res publica und aller ihrer Mitglieder gestalten.
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Altersversorgung am Wendepunkt 10. Speyerer Sozialrechtsgespräch am 20./21. März 2000
Verfassungsauftrag Altersversorgung? Von Univ.-Prof. Dr. Dr. Detlef Merten Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
I. Verfassungsnormativität und Verfassungsprogrammatik
Staatsziele und Verfassungsaufträge haben Konjunktur; sie gehören zum politischen Schlagwortjargon unserer Zeit. Damit deutet sich ein Wandel im Verfassungsverständnis seit lnkrafttreten des Grundgesetzes an. Denn diese Verfassung ist nicht als Volkskatechismus oder Erbauungsfibel in die Welt getreten. Ihre Anziehungskraft und ihr Durchsetzungsvermögen beruhen darauf, daß sie in erster Linie Verfassungsgesetz und weniger Verfassungsprogramm ist. Das Grundgesetz gewährleistet in seinen Grundrechtsbestimmungen juristisch wirksame Rechte, die Ansprüche gegen den Staat verleihen und gegen diesen - notfalls mit der Verfassungsbeschwerde - gerichtlich durchgesetzt werden können, so daß der Allspruchscharakter bürgerlicher Freiheit "Perfektion erreicht". 1 Freilich wurde dieser Fortschritt durch die oft beklagte Ausklammerung "sozialer" Grundrechte erreicht, die sich nachträglich nicht als Nachteil, sondern als Vorzug erweist. Angesichts von Ausbombung und Vertreibung, Nahrungsmangel und Wohnungsnot wäre die Verkündung sozialer Grundrechte, z. B. auf Wohnung oder Arbeit, unlauter gewesen, so daß man derartige Grundrechte im Parlamentarischen Rat zwar diskutiert2 , aber zu Recht verworfen und sich auf die klassischen Grundrechte beschränkt hat. Denn der wegen seiner scheinbaren Banalität oft unausgesprochene Unterschied zwischen den Rechten des status negativus und denen des status positivus besteht darin, dass staatlich gewährte Freiheit kostenlos, staatlich zugesagte Leistung aber kostenintensiv und demzufolge von der wirtschaftlichen Situation abhängig ist. Da der freiheitliche Verfassungsstaat die ökonomische Entwicklung weitgehend nicht mehr beeinflussen kann, ist von einer "Sunshine-Gesetzgebung"3, insbesondere auf Verfassungsebene, abzuraten. I Josef Isensee, Menschenrechte - Staatsordnung - Sittliche Autonomie, in: Johannes Schwartländer (Hg.), Modemes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981, S. 85. 2 Der Abgeordnete Renner (KPD) hatte in der 42. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 18. 1. 1949 die Aufnahme eines Artikels 2 a beantragt, wonach "das Recht auf das Mindestmaß der zum Leben notwendigen Nahrung, Kleidung und Wohnung ... durch Gesetz garantiert" wird; Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49 S. 534 (536); s. auch Matz, in JÖR N.F. Bd. 1, 1951, S. 61 f. 3 So Klaus Sieveking, Zeitschrift für Sozialreform 1999, S. 887 (888).
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Der Verfassunggeber, insbesondere in den neuen Bundesländern, hat sich nicht immer an dieses Klugheitsgebot gehalten, sondern einen Kompromiß zwischen juristischer Askese und politischer Beglückung gesucht und ihn vermeintlich in einer Art von "Grundrechtszielbestimmungen" gefunden4 , die Grundrechte und Staatszielbestimmungen vermengen, was auch die Abschnittsüberschriften einiger Landesverfassungen5 verdeutlichen. Kulinarisch gesprochen, hat man damit dem Bürger Grundrechtskeime im Staatsziel-Mantel serviert. Verpflichtet Art. 45 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung Brandenburgs das Land, "im Rahmen seiner Kräfte für die Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherung bei Krankheit, Unfall, Invalidität, Behinderung, Pflegebedürftigkeit und im Alter zu sorgen", so wird ein (Grund-) Recht suggeriert, aber nicht garantiert. Denn die Bestimmung beschränkt sich auf eine bloß objektiv-rechtliche Verpflichtung des Landes, das zudem für die genannten Bereiche (zur Zeit) keine Gesetzgebungszuständigkeit besitzt. Auf diese Weise gaukelt die Verfassung dem Bürger Luftschlösser vor, die er als Lustschlösser empfinden soll.
II. Das grundgesetzliche Staatsziel des "Sozialen" 1. Sozialstaatlichkeit als Teilaspekt
Allerdings hat sich auch das Grundgesetz der Programmatik nicht ganz versagt. In der Erkenntnis, daß sich der Verfassungsstaat des 20. Jahrhunderts nach den Erfahrungen der Vergangenheit elementarer Lebensrisiken anzunehmen hat, wurde das Soziale zunächst unprätentiös als Adjektiv in den Artikeln 20 und 28 verankert. Aber die märchenhafte Karriere dieses Beiworts war unaufhaltsam, und so wandelte sich das adjektivische Aschenputtel "sozial" in das königliche Substantiv "Sozialstaat", vor dessen Majestät der republikanische Gesetzgeber sein Knie beugt und bei dessen Anrufung immer die Scheu säkularisierter Frömmigkeit mitklingt Die moderne Dogmatik begreift die Verfassungsaussage sozialer Bundes- und Rechtsstaatlichkeit als Staatszielbestimmung6 . Staatszielbestimmungen sind nach gängiger Definition Verfassungsnormen, die mit rechtlich bindender Wirkung der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben oder Ziele vorschreiben7 . Sie enthalten Programme, Grundsätze und Direktiven, 4 Kritisch hierzu Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 (374ff.); vgl. dens., Verfassungspatriotismus und Verfassungsschwärmerei, VerwArch. 83, 1992, S. 283 (296 ff.). 5 Vgl. die Überschriften des Abschnitts II der Berl. Verf., des 2. Hauptteils der brandenb. Verf., des 1. Abschnitts der nieders. Verf. und des 1. Teils der thür. Verf. 6 Peter Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, C RN 36; Karl-Peter Sommennann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 375. 7 Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen. Gesetzgebungsaufträge, 1983, S. 19 f.; Sommermann a. a. 0., passim, insbes. S. 348 ff., 482.
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die zwar alle Staatsgewalten zu beachten haben, die jedoch grundsätzlich allein vom Gesetzgeber transformiert und präzisiert werden können. Staatszielbestimmungen beschränken sich auf Partikularaussagen. Ebenso wie Staatsstrukturprinzipien, z. B. der Demokratiegrundsatz, immer im Zusammenhang mit anderen Fundamentalprinzipien, z. B. der Bundesstaatlichkeit, zu sehen sind, steht das Staatsziel des Sozialen nicht isoliert da, sondern muß sich in den Strauß anderer Verfasssungsdirektiven einpassen. Bei der Etikettierung des deutschen Staates als eines "Sozialstaates" muß man sich daher bewußt sein, daß ebenso wie bei "Kulturstaat", "Polizeistaat" (im recht verstandenen Sinn) oder "Umweltstaat" nur ein Teilaspekt deutscher Staatlichkeil charakterisiert wird, so daß jede Verabsolutierung unzulässig ist. Deutschland ist auch Sozialstaat, ist aber nicht nur Sozialstaat. Eine Rangerhöhung läßt sich auch nicht mit Hilfe der Unabänderlichkeilsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG bewirken, an der das Staatsziel des Sozialen über Art. 20 Abs. 1 GG teilhat. Denn die Modalität der Abänderbarkeit begründet keinen Rangunterschied innerhalb der Verfassungsnormen, wie auch innerhalb der Gesetze Zustimmungsgesetze keinen höheren Rang als Einspruchsgesetze genießen, weil sie nur mit Zustimmung des Bundesrates in Kraft und wieder außer Kraft gesetzt werden können. Verfassungsnormen haben grundsätzlich dieselbe Rangstufe, auch wenn das Bundesverfassungsgericht einzelnen Grundrechten mitunter einen "hohen"8 oder "besonderen"9 Rang, was immer darunter zu verstehen sein mag, attestiert.
2. Sozialstaatlichkeit und Altersversorgung Mit der grundgesetzliehen Proklamierung eines sozialen Bundes- und Rechtsstaates ist über die Alterssicherung unmittelbar noch nichts ausgesagt. Die Crux dieser Staatszielbestimmung ist ihre Weite und Unbestimmtheit 10• Dadurch entsteht die Gefahr, daß sie zum Passepartout für beliebige Verfassungsinterpretationen wird. In diesem Zusammenhang ist es nicht unbedenklich, daß das Bundesverfassungsgericht11 in der Entscheidung zu Lohnabstandsklauseln dem Gesetzgeber die Berufung auf das Sozialstaatsprinzip zur Einschränkung auch vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte gestattet hat. Ohne daß die Entscheidung hier im einzelnen gewürdigt werden kann, ist auf ein Grundsatzproblem hinzuweisen: Das Karlsruher Konkordanz- und Abwägungsdenken birgt die Gefahr, daß die in der Verfassung errichteten grundrechtliehen Dämme mit Hilfe des Sozialstaatsprinzips unterspült werden können, während doch eigentlich die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Ausformung des Sozialstaatsprinzips gerade an den Grundrechten ihre Grenzen finden muß. s BVerfGE 71. 183 (201) für die Berufsfreiheit BVerfGE 19, 330 (336); 63, 266 (286) für die Berufsfreiheit 1o Vgl. auch BVerfGE 65, 182 (193); 82,60 (79f.); 94, 241 (263). 11 E 100, 271 (283 ff.).
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Vorsichtiger nähert man sich der Interpretation der Staatszielbestimmung, wenn man auf die historische Vergangenheit sozialer Staatlichkeit schaut. Denn Deutschland ist Sozialstaat nicht erst in Folge der Nobilitierung des Sozialen im Grundgesetz, sondern vor anderen Industrienationen durch die Bismarckschen Sozialversicherungsgesetze geworden. Da die Polarität von Verfassung und Gesetz und der Stufenbau der Rechtsordnung in jener Epoche noch nicht ausgebildet waren, konnten soziale Sicherheit und bürgerliche Freiheit in Gesetzen ebenso gut wie in einer Verfassung gewährleistet werden, zumal das Parlament in jener Zeit noch als Hüter bürgerlicher Freiheit galt und man sich seiner auch freiheitsbedrohenden Wirkung erst später bewußt wurde. Mit dem Krankenversicherungs-, dem Unfallversicherungs- sowie dem Altersund Invaliditätsversicherungsgesetz wird in der Zeit von 1883 bis 1889 eine Grundsicherung für elementare Lebensrisiken eingeführt. Seit jener Epoche gelten übrigens Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung als die klassischen Zweige der Sozialversicherung, während die in der Weimarer Republik eingeführte Arbeitslosenversicherung eher als sozialversicherungsrechtliches Stiefkind erscheint. Das kommt noch heute in der Kompetenzbestimmung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zum Ausdruck, der die Zugehörigkeit der Arbeitslosenversicherung zur Sozialversicherung nicht als selbstverständlich ansieht, sondern ausdrücklich anordnet, und wird im Sozialgesetzbuch noch deutlicher, das die Gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung nur teilweise für die Arbeitslosenversicherung (Arbeitsförderung) gelten läßt(§ 1 Abs. 1 SGB IV). Daß der Parlamentarische Rat bei der Proklamierung sozialer Staatlichkeil von den damaligen sozialen Standards ausging, ist evident. Daraus folgt freilich nicht, daß das seinerzeit geltende Sozialrecht auf die Verfassungsebene mit der Folge transponiert wurde, daß es Verfassungsschutz, in seinen Grundsätzen womöglich gegen eine Verfassungsänderung erhalten sollte. Zu ungewiß war in jener Zeit das weitere wirtschaftliche Schicksal Deutschlands. Aus dem Staatsziel sozialer Staatlichkeit eine Versteinerung des Status quo und damit ein Verbot sozialen Rückschritts 12 für den einfachen Gesetzgeber abzuleiten, sollte sozialer Gefühligkeit oder irrendem Doktorandeneifer vorbehalten bleiben. Da der jeweilige Sozialstandard in diesem Falle nur steigen, aber niemals fallen könnte, ist eine solche Quecksilbersäulen-These Quacksalberei. Nicht sozialrechtliche Detailregelungen, wohl aber die Kernaussagen, gleichsam als Wesensgehalt traditioneller deutscher Sozialstaatlichkeil finden sich in den Grundgesetzaussagen sozialer Staatlichkeil wieder. Denn der Verfassunggeber wollte kein theoretisches Denkgebäude eines sozialen Staates, ein soziales Utopia, errichten, sondern mußte sich im Sinne fundamentaler Grundlegung für den Begriff "soziale Bundesstaatlichkeit" notwendigerweise an bestehende Traditionen 12 Abgewogen und differenzierend Rolf-Ulrich Schlenker; Soziales Rückschrittsverbot und Grundgesetz-Aspekte verfassungsrechtlicher Einwirkung auf die Stabilität sozialer Rechtslagen, 1986, passim, insbes. S. 239 ff.
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anlehnen, wie dies für den "Bundesstaat" im Parlamentarischen Rat ausdrücklich betont wurde 13 . Daß soziale Staatlichkeit neben sozialer Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich in erster Linie auch soziale Sicherung bezweckt, gehört zum gesicherten Bestand sozialverfassungsrechtlicher Kanonik. Zu Recht betont daher das Bundesverfassungsgericht14, der Schutz der sozialen Existenz gegen die Wechselfälle des Lebens sei "prägnanter Ausdruck des Sozialstaatsprinzips". Zu diesen Wechselfällen, deren sich der deutsche Staat seit Ende des 19. Jahrhunderts angenommen hat, gehören neben Krankheit und Unfall vor allem das Risiko des Alters und der Invalidität, d. h. der Berufsunfähigkeit. Die Alterssicherung ist eines der wichtigsten Teilziele sozialer Sicherung und damit sozialer Staatlichkeit.
3. Staatsziele als Imperative? a) Unterschiedlicher Textbefund Von zentraler Bedeutung ist die Frage, ob der Staat im Bereich der Alterssicherung handeln darf oder ob er auch handeln muß. Der Verfassungswortlaut verhält sich zu dem Problem, ob Staatszielbestimmungen zur Zielverwirklichung nur berechtigen oder auch verpflichten, nicht eindeutig, weil er in der Regel indikativ formuliert: Nach Art. 20 Abs. I GG "ist" die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Bundesstaat, nach Art. 20 a GG "schützt" der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen, nach Art. 23 Abs. 1 GG "wirkt" Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit. Rabulistisch könnte man fragen, weshalb es eines Ziels sozialer Staatlichkeit überhaupt bedarf, wenn die Bundesrepublik Deutschland schon bei Erlaß des Grundgesetzes ein sozialer Bundesstaat ist? Oder ist sie nur deshalb ein sozialer Bundesstaat, weil ihr das Ziel aufgetragen ist, soziale Staatlichkeit zu realisieren? Im Gegensatz zu den Staatszielbestimmungen im Indikativ hat das Grundgesetz Gesetzgebungsaufträge, die ihm offenbar besonders am Herzen lagen, in den Imperativ gestellt. So sah Art. 29 Abs. I GG in seiner ursprünglichen Fassung vor, daß das Bundesgebiet "durch Bundesgesetz neu zu gliedern" "ist", und Art. 6 Abs. 5 GG bestimmt, daß unehelichen Kindem durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen in bestimmter Hinsicht zu schaffen "sind" wie ehelichen. Diesen Auftrag hat der Gesetzgeber im übrigen so einseitig gesehen, daß er durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz 15 gleichstellungstotalitaristisch, aber den Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) verfehlend, auch die ehelichen Kinder abgeschafft und damit eine neue Form juristischer, nicht medizinischer Impotenz 13 Der Abg. Dr. Seebohm (DP) legte den Begriff "Bundesstaat" "in Anlehnung an die bestehende Tradition" aus, vgl. Matz, in: JöR N.F. Bd. I, S. 201. 14 E 28, 324 (348); vgl. auch E 75, 348 (359). 15 Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16. 12. 1997 (BGBI. I S. 2942).
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begründet hat: Man kann zwar noch Kinder zeugen, man kann aber keine ehelichen Kinder mehr zeugen 16. Neben den imperativen Gesetzgebungsaufträgen kennt die Verfassung Gesetzgebungsermächtigungen, die eine Regelung dem Ermessen bzw. der Gestaltungsfreiheit der Legislative überlassen. So "kann" der Bund gemäß Art. 24 Abs. 1 GG durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen oder sich nach Abs. 2 derselben Bestimmung einem System kollektiver Sicherheit einordnen. Schließlich enthält das Grundgesetz Aufträge, die futurisch gekleidet sind: Nach Art. 24 Abs. 3 GG "wird" der Bund Vereinbarungen über eine internationale Schiedsgerichtsbarkeil beitreten. b) Zur Interpretation des Ziels sozialer Staatlichkeit Ungeachtet des variierenden Verfassungswortlauts der Staatszielbestimmungen steht die Aussageform der Art. 20 und 28 GG einem normativen Sollen nicht entgegen. Rechtssätze wollen grundsätzlich nicht behaupten, sondern anordnen 17 . Dabei ist der Indikativ oftmals sogar ein besonders feierlicher und nachdrücklicher Ausdruck des Gebots 18 • Mit dem imperativen Gehalt ist jedoch ein bloßer Befugnis- oder Ermächtigungscharakter der Staatszielbestimmung unvereinbar 19 • Die Richtigkeit dieser Annahme ergibt sich aus dem Substraktionsverfahren. Könnte man noch von einem Sozialstaat sprechen, wenn es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen bliebe, dieses Ziel anzustreben oder nicht anzustreben? Was bliebe von der Tradition des deutschen Sozialstaats übrig, wenn der Gesetzgeber frei darüber befinden dürfte, ob er überhaupt Vorsorge gegen die elementaren Lebensrisiken trifft? Gerade das "herkömmlich(e) . . . Bild" und "die überkommenen identitätsbestimmenden Merkmale" 20 sind für die Interpretation solcher Verfassungseinrichtungen bedeutungsvoll, die, wie z. B. die gemeindliche Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG)2 1, aber auch die soziale Staatlichkeil nur apodiktisch garantiert sind. Für das Berufsbeamtenturn hat das Grundgesetz sogar selbst auf die "hergebrachten Grundsätze" verwiesen (Art. 33 Abs. 5 GG). Daher ist insbesondere auf Grund historischer Interpretation eine Handlungspflicht des Gesetzgebers und nicht nur eine Handlungsmöglichkeit für die Absicherung elementarer Lebensrisiken zu bejahen, wie auch die Fürsorge für Hilfsbedürftige nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts22 zu den "selbstverständVgl. §§ 1591 f. BOB n.F. einerseits,§ 1591 BOB a.F. andererseits. Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auf!. 1991, S. 253 (257). 18 So Bemd Rüthers, Rechtstheorie, 1999, RN 119 a.E. 19 Zutreffend Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!., 1984, S. 887 f. mit weiteren Nachweisen. 2o BVerfOE 83, 363 (381). 21 Vgl. BVerfOE 83, 363 (381); VerfOH Rheinland-Pfalz AS 23,434 (438). 22 E 40, 121 (133); 43, 13 (19); 44, 353 (375). 16
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liehen Pflichten" des Sozialstaates gehört, so daß er verfassungsrechtlich gehalten ist, denjenigen Personen, die sich nicht selbst unterhalten können und von anderer Seite keine Hilfe erhalten, "die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein" zu sichern23 . Unbeschadet der Handlungsfreiheit im einzelnen muß dem Gesetzgeber nach allem hinsichtlich der Verfolgung des Ziels sozialer Staatlichkeit sowie der Anvisierung fundamentaler Unterziele eine Handlungspflicht obliegen.
4. Sozialstaatliche Daseinsvorsorge versus freiheitliche Selbstbestimmung Da Deutschland nicht nur Sozialstaat, sondern zugleich freiheitlicher Staat ist und das "Prinzip Freiheit" wie eine Fanfare das Grundgesetz eröffnet, muß sozialstaatliche Daseinsvorsorge mit bürgerlicher Freiheit harmonieren. a) Das "Prinzip Freiheit" Aus einer Zusammenschau der Grundrechte folgen Individualität und Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Bürgers in der Gemeinschaft. Individualgrundrechte sind, wie Rupp24 formuliert hat, "im Prinzip Selbstverfügungsrechte", und in der Freiheit wurzeln auch Autonomie und Würde des Menschen25 . Grundgesetzliche Freiheit ist aber nicht verantwortungslose, sondern zu verantwortende und notwendigerweise risikobehaftete Freiheit26 . Freiheit meint nicht Freiheit vom, sondern Freiheit zum Risiko. Daher ist es grundsätzlich nicht Aufgabe des Staates, Bürger vor jeder Gefahr oder Nachlässigkeit zu bewahren. Diese Sätze sind so selbstverständlich, daß das Bundesverfassungsgericht sogar seinen Kammern den Hinweis überlassen konnte, es sei von Verfassungs wegen nicht geboten, die Folgen nachlässigen Verhaltens des einzelnen anderen aufzubürden27, und selbstgefährdendes Verhalten sei Ausübung der grundrechtlich geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit28 . Auch der Schutz des Menschen vor sich selbst schränkt dessen Freiheit ein 29 , so daß die Grundrechte des Grundgesetzes der Umwandlung des Sozialstaates in eine BVerfGE 40, 121 (133); 44, 353 (375); auch E 82, 60 (79 f.). In: Isensee I Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 28 RN 24 a.E. 25 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Auf!. 1997, S. 247. 26 Vgl. Bundespräsident Roman Herzog, Fünfzig Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Bulletin Nr. 32 vom 28. 5. 1999, S. 345 (347); zur Bürgerverantwortung als Freiheitskorrelat Merten, VVDStRL 55, 1996, S. 7 (18 ff.) . 27 BVerfG (Kammer) NJW 1997, S. 249 (250)- Kindertee -. 28 BVerfG (Kammer) NJW 1999, S. 3399 (3401). 29 Hierzu Ingo von Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst?, in: Hamburg-Deutsch1and-Europa, Ipsen-Festschrift, 1977, S. 113 ff.; ausführlich Christian Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, insbes. S. 111 ff. (116); Reinhard Singer, Vertragsfreiheit, Grundrechte und Schutz des Menschen vor sich selbst, JZ 1995, S. 1133 ff.; vgl. auch Josef 23
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versorgungsstaatliche Vollkasko-Einrichtung entgegenstehen. Denn ein "Zuviel" an sozialstaatlichem "Verwöhn-Aroma", wie ich es einmal genannt habe30, führt zwangsläufig zur Unselbständigkeit des Bürgers. Das Bundesverfassungsgericht31 ist sich der grundsätzlichen und unaufhebbaren Spannungslage zwischen individueller Freiheit und sozialstaatlicher Reglementierung bewußt, weshalb es eine Beitragsbemessungsgrenze in der Sozialversicherung für notwendig hält, damit höherverdienenden Angestellten ein hinreichender wirtschaftlicher Spielraum bleibt, sich neben der Sozialversicherung auch anderer Formen der Alterssicherung zu bedienen. Sähe man als Aufgabe der Sozialversicherung tatsächlich die "Sicherung des erreichten Lebensstandards" 32, so stellten sich ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer derartigen Alterssicherung. Denn die Entscheidung, ob der Bürger sich während seines Erwerbslebens beträchtlich einschränkt, um während seines Ruhestandes über ein Einkommensäquivalent zu verfügen, oder ob er während seines Arbeitslebens in stärkerem Maße konsumiert und dafür im Alter seinen Lebensstandard senkt, muß ihm selbst überlassen und darf ihm nicht vom Sozialgesetzgeber in Form einer Zwangsversicherung mit Zwangsbeiträgen abgenommen werden. b) Die Beschränkbarkeit individueller Freiheit Allerdings ist individuelle Freiheit nicht schrankenlos, so daß im Rahmen grundrechtlicher Schranken und Schrankenvorbehalte eine staatliche Zwangsgrundsicherung zulässig ist. Denn Aufgabe des Staates ist es auch, den verantwortungsvollen Bürger vor dem verantwortungslosen zu schützen. Stünde es dem einzelnen frei, sich gegen elementare Lebensrisiken zu sichern, so müßte der Staat dennoch dem (verschuldet oder unverschuldet) in Not geratenen Bürger ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern. Auf diese Weise hätte der verantwortungsbewußte Bürger nicht nur für seine eigenen Lebensrisiken Vorsorge zu treffen, sondern auch zusätzlich die Aufwendungen für die in Not geratenen Mitbürger zu tragen, und die Sorglosen könnten im Vertrauen hierauf um so unbekümmerter ihre Persönlichkeit entfalten. Ist im Sozialstaat die Allgemeinheit gleichsam der Ausfallbürge für individuelle Not, hat sie ein legitimes Interesse daran, daß es mittels rechtzeitiger Vorsorge, gegebenenfalls auch gegen den Willen des einzelnen, nicht zum Eintritt dieses Bürgschaftsfalls kommt.
lsensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 1992, § 111 RN 113 ff.; Johnnnes Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 219ff.; zum "Recht auf Selbstgefährdung" auch VGH Mannheim, NJW 1998, S. 2235 f. 30 VVDStRL 55, 1996, S. 17. 3t E 29,221 (242f.); s. auch BSGE 23,241 (246f.); BGHZ 67,262 (270). 32 So Hans F. Zacher; in: Handbuch des Staatsrechts Bd. I,§ 25, S. 1075.
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c) Sozialstaatliche Ausgestaltung unter Freiheitswahrung Eine Erfassung der sozialstaatliehen wie der freiheitlichen Verfassungskomponente ergibt, daß die Ableitung gesetzgebenscher Handlungspflichten zur Realisierung des Sozialstaates und wichtiger Subprinzipien grundsätzlich freiheitskonform ist. Die Freiheitsrechte ziehen jedoch den Modalitäten sozialstaatlicher Ausgestaltung Grenzen.
111. Verfassungsgarantie der gesetzlichen Rentenversicherung?
Mit Blick auf das gegenwärtige System der Alterssicherung in Form der gesetzlichen Rentenversicherung ist zu untersuchen, ob das Grundgesetz über die Statuierung einer Staatsaufgabe Alterssicherung hinaus auch die Modalitäten dieser Alterssicherung mit der Folge festschreibt, daß der Gesetzgeber sie nicht oder allenfalls in engen Grenzen modifizieren darf. Damit stellt sich die Frage, ob die Alterssicherung in Form der gegenwärtigen gesetzlichen Rentenversicherung bereits auf Verfassungsebene abgesichert ist oder ob von Verfassungs wegen dem Gesetzgeber lediglich ein Auftrag Alterssicherung auferlegt ist, ihm die Art und Weise der Aufgabenerfüllung jedoch freigestellt ist. Pointiert gefragt: Ist die gesetzliche Rentenversicherung in ihrer gegenwärtigen Form verfassungsgestattet oder darüber hinaus auch verfassungsgeboten? 1. Soziale Staatlichkeif als Systemgarantie?
Die schon erwähnte Weite und Unbestimmtheit des Prinzips sozialer Staatlichkeit verbieten es, hieraus im Wege der Interpretation detaillierte Garantien abzuleiten, wenn die Bindung an den Verfassungswortlaut noch Sinn machen soll. Darüber hinaus fehlt es an jedem Anhaltspunkt dafür, daß das Grundgesetz in der schwierigen Aufbauphase nach dem Zusammenbruch den sozialrechtlichen Status quo verfassungsrechtlich en detail festschreiben wollte. Des weiteren ist die Sozialversicherung, wie gegenwärtige Schwierigkeiten zeigen, von wirtschaftlichen Faktoren abhängig ist, die ein jederzeitiges Reagieren des Gesetzgebers erforderlich machen können und so einer verfassungsgesetzlichen Zementierung der Institution entgegenstehen. Auch der Umstand, daß die vorkonstitutionellen Landesverfassungen Bayerns, Bremens und Hessens Regelungen über "eine das gesamte Volk verbindende Sozialversicherung" enthielten33 und das Grundgesetz sie dessen ungeachtet nicht übernommen hat, muß die Auslegung beeinflussen. Schließlich hat die Gemeinsame Verfassungskommission davon abgesehen, im Rahmen weiterer sozialer Staatszielbestimmungen die "Aufrechterhaltung eines Systems sozialer 33 Art. 57 Abs. 1 brem. Verf. vom 21. 10. 1947; Art. 35 Abs. 1 hess. Verf. vom l. 12. 1946; ähnlich Art. 171 bayer. Verf. vom 2. 12. 1946; Art. 53 Abs. 3 rheinl.-pf. Verf. vom 18. 5. 1947.
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Sicherheit" detailliert, z. B. hinsichtlich einer "Grundsicherung im Alter", auszugestalten34. Dabei muß sie implizit davon ausgegangen sein, daß derartige Überlegungen de constitutione ferenda im geschriebenen Verfassungstext noch keinen Niederschlag gefunden haben. Zwar hat das Bundessozialgericht35 in einer früheren Entscheidung, der die Literatur "Flüchtigkeit" vorwirfe 6 , aus dem Sozialstaatsprinzip auf "das Erfordernis, die Ortskrankenkassen als Institutionen zur Grundsicherung des sozialen Krankenschutzes funktionsfähig zu halten", geschlossen. Die Entscheidung vermengt jedoch zu Unrecht die staatliche Schutzverpflichtung als solche und die Erfüllung dieser Pflicht in Form der Sozialversicherung. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht zunächst für die gewerbliche Gliederung der gesetzlichen Unfallversicherung37, später für das System der Sozialversicherung oder seine tragenden Organisationsprinzipien einen Verfassungsrang abgelehnt38 . Es erkennt die Sozialversicherung zwar als wesentliche Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips an, weist die "Konkretisierung im einzelnen" jedoch der Gesetzgebung zu 39 .
2. Die Regelung des Bundeszuschusses als institutionelle Sicherung?
Im Unterschied zu der Sozialstaatsregelung in Art. 20 und 28 GG wird die "Sozialversicherung" in anderen Verfassungsvorschriften zumindest ausdrücklich angesprochen, so daß die Ableitung einer institutionellen Garantie der Sozialversicherung aus diesen Bestimmungen schon näherläge, wenn sie auch im Ergebnis abzulehnen ist. Nach Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG trägt der Bund die Zuschüsse zu den "Lasten der Sozialversicherung mit Einschluß der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe". Die Bestimmung ist systematisch als Teil der Übergangs- und Schlußbestimmungen des Grundgesetzes und entstehungsgeschichtlich vor dem Hintergrund der Nachkriegszeit zu würdigen. Sie sollte in erster Linie die Lasten für kriegsbedingte Leistungen der Sozialversicherung nicht bei den Ländern belassen, sondern dem Bund zuweisen. Diese Kriegsfolgelasten betrugen immerhin im Jahre 1993 noch mehr als zwanzig Milliarden DM und damit mehr als acht Prozent der gesamten Rentenleistungen 40 . Ob die Bestimmung darüber hinaus auch eine Finanzierungskompetenz des Bundes für Zuschüsse als Ausgleich "versicherungs34 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BR-Drucks. 800/23 vom 5. 11. 1993, S. 80. 35 E 47, 148 (157 unten). 36 Nicolai Kranz, Die Bundeszuschüsse zur Sozialversicherung, 1998, S. 140 FN 25. 37 BVerfGE 36, 383 (393). 38 BVerfGE 39, 302 (314), 39 BVerfGE 51, 115 (125). 40 Hierzu Kranz a. a. 0. S. 131.
Altersversorgung am Wendepunkt
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fremder" Leistungen begründet, begegnet erheblichen Zweifeln, die jedoch im Rahmen des heutigen Themas nicht geklärt werden müssen. Jedenfalls folgt aus der Verfassungsbestimmung keine institutionelle Garantie der Sozialversicherung insgesamt oder der gesetzlichen Rentenversicherung. Nicht jede Grundgesetz-Erwähnung ist zugleich eine Grundgesetz-Garantie. Institutionelle Garantien41 , die unter der Weimarer Reichsverfassung mangels einer Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte von der Literatur entwickelt wurden, sollen in erster Linie dem Schutz der Grundrechte dienen und nur ausnahmsweise grundrechtsfreie Einrichtungen, wie z. B. die kommunale Selbstverwaltung oder das Berufsbeamtenturn absichern. Insbesondere Übergangsregelungen werden jedoch in der Regel kaum dauerhaft vom Verfassunggeber gewollt sein. Andernfalls müßte man auch eine Absicherung des vorkonstitutionellen Rechts bejahen, weil Art. 123 Abs. 1 GG die Fortgeltung des Rechts aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages festlegt. Sinn und Zweck der Vorschrift ergeben jedoch, daß dieses Recht nur bis zur allfälligen Aufhebung durch eine Iex posterior weitergelten soll. In ähnlicher Weise werden die Zuschüsse des Bundes nach Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG nur "rebus sie stantibus" gewährt. Wenn und solange die Sozialversicherung existiert, gewährt ihr der Bund Zuschüsse für kriegsfolgebedingte Lasten, ohne daß über den Zuschuß hinaus auch die bezuschußte Institution garantiert wird.
3. Zur Funktion von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen
a) Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Die Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. I Nr. 12 GG gibt für eine institutionelle Garantie der Sozialversicherung nichts her. Kompetenznormen sind KannBestimmungen, keine Muß-Bestimmungen. Sie enthalten daher grundsätzlich keine Aussage über den Kompetenzgebrauch42 , der sich aus anderen Verfassungsbestimmungen, insbesondere den Gesetzgebungsaufträgen, ergibt. So verpflichtet Art. 6 Abs. 5 GG den Gesetzgeber zur Gleichstellung der unehelichen Kinder mit den ehelichen in gewisser Hinsicht, und folgt aus Art. 33 Abs. 5 GG der Gesetzgebungsauftrag zur Regelung des Beamtenrechts. Mangels eines solchen Auftrags obliegt es der Gestaltungsfreiheit des zuständigen Gesetzgebers, Kompetenznormen zu gebrauchen oder nicht zu gebrauchen. Die Verfassung gestattet auch die 41 Vgl. statt aller Helmut Quaritsch, Art. Institutionelle Garantien, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Bd. I, Sp. 1351 ff. 42 H.M.; vgl. Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das Banner Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 1964, Vorbem. II 7 a vor Art. ?Off., S. 1343; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 70 RN 40f.; Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 37 II 5 c, S. 609; Merten, Landesgesetzgebungspflichten kraft Bundesrahmenrechts, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 431 (450 ff.); ders., DÖV 1993, 368 ff. (371 ).
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Nichtnutzung von Kompetenzen, so daß der Bundesgesetzgeber nicht verfassungswidrig handelte, als er jahrzehntelang von seiner Kompetenz nach Art. 74 Nr. 8 GG, die Staatsangehörigkeit in den Ländern zu regeln, keinen Gebrauch machte, weshalb die Bestimmung auch inzwischen aufgehoben wurde43 . Ebensowenig wie die Hochsee- und Küstenschiffahrt in ihrem Bestand deshalb gesichert ist44 , weil dem Bund die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG zusteht, kann sich die Sozialversicherung auf ihre Fortexistenz wegen einer Erwähnung in den Kompetenzbestimmungen verlassen. Die Ableitung institutioneller Garantien oder materieller Gehalte aus den grundgesetzlichen Kompetenzbestimmungen ist schon deshalb bedenklich, weil diese Gesetzgebungsbestimmungen nur einen Teil der Staatsaufgaben der Bundesrepublik Deutschland, nämlich die dem Bund zufallenden Gesetzgebungsbefugnisse regeln, die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder aber nicht ausdrücklich aufführen und damit wesentliche Bereiche, wie z. B. die innere Sicherheit, die Kultur und die Schule, nicht erwähnen. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung würde die Ableitung von Gesetzgebungspflichten oder Bestandsgarantien das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 72 Abs. I GG in wesentlicher Weise stören. Denn nach dieser Regelung haben die Länder das Recht zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinen konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten keinen Gebrauch macht. Jede Umdeutung des "Dürfens" in ein "Müssen" würde daher die Gesetzgebungsbefugnis der Länder empfindlich beeinträchtigen. Nach allem folgt aus dem Grundgesetz keine rechtliche, sondern allenfalls eine faktische Garantie der Sozialversicherung. Da dem Bund keine sozialrechtliche All- oder Generalkompetenz zusteht, sondern ihm nur Einzelkompetenzen verliehen wurden, muß er jedes sozialrechtliche Änderungsvorhaben kompetentiell legitimieren. Er darf daher für Reformen die "Sozialversicherung" (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) nicht als Blankettbegriff strapazieren, sondern muß die herkömmlichen Strukturen und Organisationsformen der Sozialversicherung beachten, vor allem die Organisation der "Sozialversicherung" in Gestalt von selbständigen Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts als Sozialversicherungsträger respektieren45. Der Bund könnte daher nur in einem engen Rahmen die bisherige Organisation der Sozialversicherung aufgeben. Für tiefgreifende Änderungen oder einen Neubau der sozialen Sicherung fehlen dem Bund die Gesetzgebungskompetenzen, so daß die gesetzliche Rentenversicherung zwar nicht verfassungsrechtlich, aber faktisch gesichert ist, solange und soweit der verfassungsändernde Gesetzgeber keine neuen Kompetenzen schafft.
43 Durch Art. 1 Nr. 6 lit. a) aa) des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. 10. 1994 (BGBI. I S. 3146). 44 Vgl. jedoch auch Art. 27 GG. 45 BVerfGE 75, 108 (146).
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b) Art. 87 Abs. 2 GG Institutioneller Gehalt mangelt auch der Vorscluift des Art. 87 Abs. 2 GG. Sie regelt, unter welchen Voraussetzungen soziale Versicherungsträger mit landesübergreifendem Zuständigkeitsbereich als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt werden. Ziel der Vorschrift ist die Abgrenzung von landesunmittelbaren und bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts, nicht die Garantie der Sozialversicherungsträger oder der Sozialversicherung. Art. 87 Abs. 2 GG ist eine Ausnahmeregelung im Verhältnis zu Art. 84 Abs. I GG, wonach die Länder bei Ausführung der Bundesgesetze als eigene Angelegenheit auch die Einrichtung der Behörden regeln. 4. Eigentumsschutz als Schuldnerschutz?
Eher fernliegend ist die Begründung einer institutionellen Garantie für die Sozialversicherung mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG. Aus dem Verfassungsschutz für sozialversicherungsrechtliche Renten und Rentenanwartschaften auf einen Existenzschutz des Schuldners zu schließen, hat etwas von einer Münchhausen-Logik an sich. Für privatrechtliche Forderungen, für die der Eigentumsschutz traditionell näher liegt, käme niemand auf den Gedanken, Bestandsgarantien für Schuldner, z. B. juristische Personen des Privatrechts, mit der These aus Art. 14 GG abzuleiten, daß sie um ihrer Schuldenwillen verfassungsrechtlich fortexistieren müßten, was auf ein "pecca fortiter" als Verschuldeusmaxime hinausliefe.
IV. Ergebnis Nach allem ist der Gesetzgeber grundsätzlich verfassungsrechtlich frei, über andere Formen der Alterssicherung nachzudenken. Deren Verfassungsmäßigkeit kann zweckmäßigerweise erst anhand eines fertigen Konzepts beurteilt werden. Fundamentale Änderungen der bisherigen Alterssicherung stoßen im Ergebnis eher auf kompetentiell-rechtliche als auf materiell-rechtliche Schwierigkeiten. In Betracht kommt dabei anstelle einer Zwangsversicherung auch ein Versicherungszwang, wie er von der Kraftfahrzeugversicherung bekannt ist. Der Bürger hat hier insbesondere die Partnerwahl und in gewissem Rahmen auch eine Inhaltswahl, soweit er einen über eine Grundsicherung hinausgehenden Versicherungsschutz wählt. Der Zwang zum Abschluß privatrechtlicher Verträge ist jedoch im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips kein milderes Mittel und deshalb verfassungsrechtlich nicht vorzuziehen. Ansonsten müßte die bisherige Zwangsversicherung mit Abschlußzwang, Partnerzwang und Inhaltszwang seit dem Bestehen des Grundgesetzes verfassungswidrig sein. Der Grundsatz des mildesten Mittels greift nur ein, wenn derselbe Erfolg garantiert ist. Das ist aber im Verhältnis Privatversicherung und Sozialversicherung nicht sichergestellt, da die öffentlich-rechtliche 40 Speyerer Sozialrechtsgespräche
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Zwangsversicherung dem einzelnen unter Umständen einen besseren Schutz bietet als die Privatversicherung, was auch die letzte Währungsreform mit ihren unterschiedlichen Umstellungssätzen deutlich gemacht hat. Ungeachtet einer weiten Gestaltungsfreiheit muß auch der Sozialgesetzgeber verfassungs- und systemkonform reformieren, wobei er seine Augen tunliehst über den Tellerrand des nächsten Wahltermins und die in diesem Zusammenhang für ihn relevanten Bevölkerungsgruppen hinaus auf eine dauerhafte, stabile Sicherung richten müßte. Auch die soziale Demokratie darf nicht, um mit einer Mahnung Walter Leisners46 zu schließen, in die Gefahr geraten, sich zum "Räuberstaat der Mehrheit" zu entwickeln.
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Eigentum, hg. von Josef Isensee, 1996, S. 182 f.
Zur Entwicklung der Altersstruktur in Deutschland Von Johann Hahlen Präsident des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden
Sehr geehrte Damen und Herren, Professor Kar! Schwarz (früherer Abteilungsleiter im Statistischen Bundesamt und Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung) hat eine verbreitete Haltung in unserer Bevölkerung zur Bevölkerungsentwicklung und den Veränderungen der Familienstrukturen mit drastischen Worten wie folgt auf den Punkt gebracht: "Der moderne Staat hat mit seinen Großsystemen aus anonymen Beitragszahlern dafür gesorgt, daß seine Bürger sagen können: Natürlich braucht der Wohlfahrtsstaat für seine Leistungen Kinder. Kinder mögen aber andere haben, mir genügen Rentenansprüche." Die zur Zeit geführten Rentenkonsensgespräche erinnern daran, daß die Zukunft der Alterssicherungssysteme vor großen Herausforderungen steht. Bei diesen Konsensgesprächen ist inzwischen immerhin Konsens dahingehend erzielt worden, daß die Entwicklung bis zum Jahr 2030 betrachtet wird, um zu einer langfristig tragbaren Lösung zu kommen. Die aktuellen Probleme der Rentenversicherung - die wesentlich von der Arbeitsmarktlage geprägt sind - und deren gegebenenfalls kurzfristig möglichen Lösungen sollen also nicht den Blick auf die längerfristige Entwicklung verstellen: Ein Blick in die voraussichtliche Zukunft zeigt weitere Verschärfungen an. Die auf lange Sicht zu erwartenden Probleme resultieren zu einem großen Teil aus Veränderungen des Altersaufbaus der Bevölkerung - der Anteil der älteren Menschen wächst, derjenige der jüngeren geht zurück. Dazu möchte ich Ihnen nähere Einzelheiten aufzeigen. Dabei stelle ich Ihnen Ergebnisse einer Modellrechnung zur Bevölkerungsentwicklung bis 2040 vor, die das Statistische Bundesamt im Auftrag der intenninisteriellen Arbeitsgruppe "Bevölkerungsfragen" durchgeführt hat. Diese Rechnung ist 1996 veröffentlicht worden. Leider habe ich den Eindruck, daß die Politik diese Ergebnisse nicht beachtet, sondern verdrängt hat. Eine Neuauflage dieser Modellrechnungen, die dann bis zum Jahr 2050 reichen werden, befindet sich zur Zeit in der Endphase der Bearbeitung. 1 Sie I Mittlerweile sind sowohl die Modellrechnung als auch die 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung abgeschlossen und deren Ergebnisse veröffentlicht; siehe Bundesministerium des Innem (Hrsg.), Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, 2000; sowie Entwicklung der Bevölkerung bis 2050, in: Wirtschaft und Statistik 200 I, 22 ff.
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soll dem Bundeskabinett vorgelegt und im Frühjahr veröffentlicht werden. Außerdem steht die 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Bundes und der Länder kurz vor dem Abschluß, die ebenfalls den Zeitraum bis 2050 umfaßt und im Frühjahr erscheinen soll. Die Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes zeigen die nach derzeitigem Stand absehbare Entwicklung auf. Sie sind über den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg aber keine Prognosen, die die Zukunft vorhersagen, sondern Modelle einer Entwicklung, die aus den gesetzten Annahmen folgt. Da im Hinblick auf die Bevölkerung nach wie vor gilt, daß die Gegenwart nur zu verstehen ist, wenn man die Vergangenheit kennt - und die bisherige Entwicklung es erst ermöglicht, Aussagen über die Zukunft zu treffen - gehe ich zunächst kurz auf wesentliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein. Von dieser Basis aus werden Annahmen zur künftigen Entwicklung abgeleitet und in Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung eingesetzt, die Aussagen über die voraussichtliche künftige Entwicklung erlauben. Diese Annahmen bestimmen die Ergebnisse der Vorausberechnung. Zwischen dem früheren Bundesgebiet einerseits und den neuen Ländern und Berlin-Ost andererseits bestehen noch demographische Unterschiede. Dementsprechend waren für die beiden Gebiete getrennte Annahmen zu treffen. Nach Erläuterungen zur Entwicklung im Westen - die aufgrund der größeren Bevölkerungszahl (knapp 67 der insgesamt 82 Millionen bzw. gut 81% der Bevölkerung in Deutschland) prägend für die Situation in Deutschland ist - gehe ich jeweils nur kurz auf die Entwicklung in den neuen Ländern ein. Der Focus von heute beschäftigt sich mit dem "Kontinent der Greise", es ist dort davon die Rede, daß Europa der Altersinfarkt drohe und es wird ein kalter Krieg der Generationen beschworen. Tatsächlich handelt es sich um ein gravierendes Problem. Polemik und Panikmache halte ich aber für verkehrt. Ich werde auch nicht den Begriff "Alterslast", sondern neutralere Begriffe wie Alterung, Veränderung des Altersaufbaus bzw. der Altersstruktur oder Altenquotient verwenden. Schließlich werden sich 60jährige oder 65jährige trotz ihres Alters zu Recht nicht als Teil einer Last sehen, auch wenn die Finanzierung der Alterseinkommen schwieriger wird. Die Bevölkerung verändert sich durch die drei Komponenten Geburten, Sterbefälle und Wanderungen. Für eine Vorausberechnung werden Annahmen zur Geburtenhäufigkeit und zur Sterblichkeit bzw. der Lebenserwartung sowie zu den Wanderungen benötigt. I. Geburtenhäufigkeit Zu den Geburten ist festzustellen, daß in Deutschland seit Jahren weniger Kinder geboren werden als zur langfristigen Erhaltung der Bevölkerungszahl notwendig wäre. Nach dem "Babyboom" der 60er Jahre, als zeitweise pro Jahr mehr als
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eine Million Kinder allein im früheren Bundesgebiet zur Welt kamen, gingen die Geburtenzahlen bis Mitte der 70er Jahre stark zurück. Danach nahmen sie wieder etwas zu, sind aber nach wie vor weit vom "Reproduktionsniveau" entfernt (1999 wurden in ganz Deutschland etwa 770 000 Kinder geboren). Um diese Aussage zur Reproduktion treffen zu können, wird über die absoluten Zahlen hinaus die "zusammengefaßte Geburtenziffer" berechnet. Diese gibt die durchschnittliche Zahl der Kinder, die 1 000 Frauen im Laufe ihres Lebens hätten, wenn die aktuellen Verhältnisse für diesen gesamten Zeitraum gelten würden, an. Um die gegenwärtige Bevölkerungszahl zu erhalten oder genauer gesagt die Elterngeneration durch gleich viele Kinder zu ersetzen, müßten im Durchschnitt von 1 000 Frauen etwa 2 100 Kinder geboren werden (bzw. müßten es pro Elternpaar etwas mehr als zwei Kinder geben), die dann, wenn sie erwachsen sind, selbst wieder Kinder bekommen werden und so die vorangegangenen Generationen ersetzen (Schaubild 1). In Deutschland war diese zur Bestandserhaltung notwendige durchschnittliche Kinderzahl in den 50er und 60er Jahren gegeben. Der bereits erwähnte "Babyboom" Mitte der 60er Jahre ging mit durchschnittlichen Kinderzahlen von 2 500 je 1 000 Frauen einher; die damals Geborenen sind heute die starken Jahrgänge im Alter von etwa Mitte bis Ende 30. Dann nahm die Geburtenhäufigkeit stark ab. Sie erreichte in den alten Bundesländern Mitte der 80er Jahre ihr Tief mit weniger als 1 300 Kinder je Frau, stieg bis 1990 wieder etwas an (auf 1 450), schwankte dann und beträgt 1998 etwa 1 400. In der DDR hatte es zunächst eine ähnliche Entwicklung wie im früheren Bundesgebiet gegeben. Ab Mitte der 70er Jahre kam es dann - anders als im Westen, wo die Geburtenhäufigkeit weiter abnahm - vorübergehend zu Zunahmen (hier wirkten offenkundig für einige Zeit Fördermaßnahmen). Dann ging aber auch hier die Geburtenhäufigkeit allmählich wieder zurück. Nach den wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen im Gefolge der deutschen Einheit von 1989/90 gab es in den neuen Ländern überaus starke Abnahmen (auf nur noch knapp 800 Kinder je 1 000 Frauen). Dazu trug auch eine Anpassung an westliche Verhaltensmuster, wonach Geburten auf ein höheres Alter der Mutter verschoben werden, bei. Inzwischen hat die Geburtenhäufigkeit wieder zugenommen, ist aber mit knapp 1 100 im Jahr 1998 sowohl gegenüber dem Stand des Jahres 1990 in den neuen Ländern als auch im Vergleich zur aktuellen Lage im früheren Bundesgebiet noch immer deutlich niedriger. 1999 wurden im Westen Deutschlands nach unseren ersten Ergebnissen 2,8% weniger Kinder geboren als 1998, im Osten dagegen 3,7% mehr. Aber im Westen kommen damit 99 Lebendgeborene auf 1 000 Einwohner, im Osten dagegen sind es nur 68 Geburten je 1 000 Einwohner. Für Deutschland insgesamt läßt sich damit sagen, daß in den letzten Jahrzehnten die durchschnittliche Kinderzahl je 1 000 Frauen bei etwa 1 400 lag (und damit weltweit zu den niedrigsten gehört, wie der folgende Vergleich mit Angaben für 1997 zeigt). Eine niedrigere Geburtenhäufigkeit als Deutschland weisen Italien und Spanien mit etwa 1 200 auf. Dagegen kommen in den Niederlanden so-
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wie in Schweden und auch in Polen etwa 1.500 Kinder auf 1.000 Frauen. In Japan sind es etwa 1.400 und in den USA 2.000 Kinder je 1.000 Frauen. Wahrend in Italien und Spanien der Rückgang der Geburtenhäufigkeit später eingesetzt hatte als in Deutschland und sich erst in den letzten Jahren auf dem erreichten niedrigen Niveau zu stabilisieren scheint, hatte Schweden schon um 1980 ein Tief bei der Geburtenhäufigkeit (1.700) erreicht. Dort kam es aber rasch zu einem Wiederanstieg bis 1990, als eine durchschnittliche Kinderzahl von 2.100 erreicht wurde. Seitdem geht die Geburtenhäufigkeit in Schweden wieder zuriick. In den Niederlanden verlief die Entwicklung ähnlich wie im friiheren Bundesgebiet, allerdings war der Rückgang schwächer ausgeprägt (Tiefpunkt bei knapp 1.500 Mitte der 80er Jahre). In Japan geht die Geburtenhäufigkeit seit Ende der 60er Jahre zurück. In den USA war bereits Mitte der 70er Jahre ein Minimum der zusammengefaßten Geburtenziffer von 1700 erreicht worden. Danach stieg sie wieder an und beträgt seit Anfang der 90er Jahre etwa 2.000. Damit werden in Deutschland seit etwa 30 Jahren deutlich weniger Kinder geboren, als zur zahlenmäßigen Nachfolge ihrer Elterngeneration notwendig sind. Die Elterngeneration wird nur noch zu etwa zwei Dritteln durch Kinder ersetzt. Bleibt das Geburtenniveau auf Dauer niedrig, so hat das langfristig eine sinkende und altemde Bevölkerung zur Folge: Die Eltern werden alt, es folgen weniger Kinder nach, und die Sterbefälle überwiegen die Geburten. 1999 zum Beispiel starben in Deutschland etwa 77.000 Menschen mehr, als Kinder geboren wurden, und 1998 hatte dieser Sterbefallüberschuß 67.000 betragen. Aus heutiger Sicht ist nicht mit einer grundlegenden Änderung des Geburtenverhaltens zu rechnen. Bei unseren Modellrechnungen nehmen wir daher als wahrscheinliche Entwicklung an, daß die gegenwärtige Geburtenhäufigkeit im Westen auf Dauer anhält (Modell I). (Zusätzlich haben wir berechnet, wie sich eine weiter sinkende sowie eine ansteigende Geburtenhäufigkeit auswirken würden, ohne eine solche Veränderung zu erwarten.) Zur Entwicklung in den neuen Ländern gehen wir davon aus, daß sich die Geburtenhäufigkeit der Frauen dort vom derzeitig noch niedrigeren Niveau an diejenige der Frauen im friiheren Bundesgebiet angleichen wird (und zwar bis zum Jahr 2005). Die Annahmen zur mittleren Variante der Prognosen der Vereinten Nationen, die einen langfristigen Anstieg der zusammengefaßten Geburtenziffer für Deutschland auf 1.500 bis 1.600 vorsehen, erscheinen uns dagegen zu optimistisch. (Die vorgestellte Rechnung wurde nach Deutschen und Ausländern getrennt durchgeführt. Zur Geburtenhäufigkeit der ausländischen Bevölkerung wurde angenommen, daß bei einer höheren Zuwanderung deren aktuelle, im Vergleich zur deutschen Bevölkerung höhere Geburtenhäufigkeit bestehen bleibt (Modell B). Bei der niedrigeren Wanderungsvariante wird langfristig eine Annäherung der Geburtenhäufigkeit an diejenige der deutschen Bevölkerung erwartet (Modell A). In Schaubild I ist die Entwicklung der Geburtenhäufigkeit nach Modell I B dargestellt.)
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II. Lebenserwartung
Während sich die relative Geburtenhäufigkeit auf einem niedrigen Niveau stabilisiert, nimmt die Lebenserwartung zu. Ein Blick auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt, daß ein Kind, das heute geboren wird (früheres Bundesgebiet), eine über 30 Jahre höhere Lebenserwartung hat als ein Kind, das vor knapp hundert Jahren zur Welt kam. Selbst gegenüber 1970 hat sich die Lebenserwartung um etwa 7 Jahre erhöht. In unseren Modellrechnungen gehen wir bis zum Jahr 2040 von einer weiteren Zunahme um etwa 2,2 Jahre aus. Die Lebenserwartung ist seit 1970 auch in anderen Staaten wie Frankreich, den USA oder Japan sowie in der Europäischen Union mit ihren 15 Mitgliedern insgesamt in ähnlichem Maße gestiegen. In den neuen Ländern und Berlin-Ost beträgt die Lebenserwartung heute etwa 2 Jahre (Männer) bzw. 1 Jahr (Frauen) weniger als im Westen Deutschlands (Schaubild 2). Diese erheblichen Zunahmen im langfristigen Vergleich sind im wesentlichen auf den Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit zurückzuführen - heute sterben in Deutschland von 1000 neugeborenen Kindem etwa 5 im ersten Lebensjahr, vor hundert Jahren waren es nahezu 200 und selbst 1970 noch 23 gewesen. Das bedeutet zugleich, daß mehr Menschen ein höheres Alter erreichen, als es früher der Fall war. Betrachtet man nicht nur die Lebenserwartung, sondern untersucht zusätzlich (mit Hilfe der Sterbetafel), wie viele der zur Welt gekommenen Kinder ein bestimmtes Lebensalter erreichen, so ergibt sich, daß heute von I 00 Kindern, die geboren werden, 93 (bei den Mädchen) und 86 (bei den Jungen) ihr 60. Lebensjahr erleben - deutlich mehr als zu Beginn oder auch zur Mitte unseres Jahrhunderts mit 80 (Mädchen) bzw. 73 (Jungen) Überlebenden 1949 I 51 im früheren Bundesgebiet). Aber auch für die älteren Männer und Frauen hat sich die zu erwartende weitere Lebenszeit (hier wieder gemessen an der - ferneren - Lebenserwartung, früheres Bundesgebiet) verlängert. Heute kann im Durchschnitt für einen 60jährigen Mann damit gerechnet werden, daß er noch etwa 19 Jahre lebt, vor hundert Jahren waren es etwa 13 Jahre und 1970 etwa 15 Jahre. Für eine Frau, die jetzt 60 Jahre alt ist, ergibt sich eine weitere durchschnittliche Lebenserwartung von 23 gegenüber 14 Jahren vor hundert Jahren und gegenüber 19 Jahren 1970. Heute gibt es somit gegenüber dem Stand zu Anfang des 20. Jahrhunderts ein Plus von 6 bzw. 9 Jahren und gegenüber dem Stand von 1970 von 4 Jahren für beide Geschlechter. Zwar ist diese weitere Lebenserwartung der 60jährigen nicht stetig angewachsen, aber langfristig gesehen sind die Zunahmen unverkennbar. Die verbesserten Lebensumstände und der medizinische Fortschritt haben wesentlich dazu beigetragen. Die heute lebende Bevölkerung wird älter als ihre Vorfahren (Schaubild 3).
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Altersversorgung am Wendepunkt
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Der Anstieg der Lebenserwartung der älteren Menschen ist für die Auswirkungen auf die Rentenversicherung entscheidend. Die ältere Generation wird zahlenmäßig größer als frühere und es gibt potentiell mehr Rentenbezieher. Leben die Menschen länger, so beziehen sie - bei gleichbleibendem Renteneintrittsalter - auch länger ihre Rente. Wie aus Angaben des VDR hervorgeht, betrug die durchschnittliche Rentenbezugsdauer im früheren Bundesgebiet 1965 etwa 11 und 1998 16 Jahre. Innerhalb einer Generation (33 Jahre) kam es somit zu 5 Jahre längeren Rentenbezugszeiten. Zu dieser Verlängerung der Rentenbezugszeiten trug neben der höheren Lebenserwartung auch der in einjüngeres Alter verschobene Rentenbeginn bei. Ausgehend von der bisherigen Entwicklung und angesichts der Tatsache, daß Deutschland im internationalen Vergleich - auch innerhalb Europas - keineswegs eine Spitzenstellung einnimmt, gehen wir bei unseren Bevölkerungvorausberechnungen davon aus, daß die Lebenserwartung auch in Zukunft weiter steigen wird. Dabei haben wir die im internationalen Vergleich für die einzelnen Altersjahre bereits heute erreichte jeweils günstigste Sterbewahrscheinlichkeit herangezogen. Diese Wahrscheinlichkeiten bzw. die daraus berechnete Sterbetafel haben wir als Zielwert angesetzt. Nach dem Stand von 1997 betrug die Lebenserwartung eines neugeborenen Jungen im früheren Bundesgebiet 74,4 und die eines Mädchens 80,5 Jahre. In Italien lagen die Ergebnisse fürMännerein halbes und für Frauen ein Jahr höher, in Spanien für die Männer gleich hoch und für die Frauen ein Jahr höher, in den Niederlanden für Männer und Frauen gleich hoch. In Polen war die durchschnittliche Lebenserwartung bei beiden Geschlechtern niedriger (68 bzw. 77 Jahre). Auch in den Vereinigten Staaten (73 bzw. 79 Jahre) ist die Lebenserwartung geringer als in Deutschland. Dagegen weist Japan für beide Geschlechter eine um etwa drei Jahre höhere Lebenserwartung als Deutschland auf. Innerhalb der Europäischen Union wird die höchste durchschnittliche Lebenserwartung für Männer in Schweden (76,5 Jahre, also 2, I Jahre mehr als im Westen Deutschlands) und für Frauen in Frankreich (82 Jahre; 1,5 Jahre mehr als im früheren Bundesgebiet) erreicht. Die Angaben für die genannten Staaten beziehen sich jeweils auf den Stand von 1996. Für einen 60Jährigen werden in der hier vorgestellten Modellrechnung von 1996 weitere 20,4 und für eine gleichaltrige Frau weitere 25,2 Jahre an durchschnittlicher Lebenserwartung im Jahr 2040 angenommen- das sind 1,5 bzw. 2 Jahre mehr als heute im früheren Bundesgebiet. Für die bevorstehenden Berechnungen gehen wir mit den Annahmen zur Lebenserwartung noch 0,7 bis 0,9 Jahre höher: Für die Männer wird eine fernere Lebenserwartung angesetzt, die um 2,2 Jahre über der aktuellen liegt, für die Frauen wird eine Zunahme von 2,9 Jahren angenommen. In anderen Berechnungen wird mit noch deutlich höheren Zuwächsen der Lebenserwartung gearbeitet. So geht Professor Birg in einer Modellrechnung in seiner niedrigsten Variante von einem Anstieg um etwa 4,1 Jahre bei den Männern bzw. 4,8 Jahren bei den Frauen bis zum Jahr 2050 gegenüber dem heutigen Stand aus. Hinsichtlich der neuen Länder, in denen die Lebenserwartung zur Zeit noch etwas geringer ist als im früheren Bundesgebiet, gehen wir von einer allmählichen vollständigen Anpassung an die Ergebnisse für das frühere Bundesgebiet aus.
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10. Speyerer Sozialrechtsgespräch
111. Wanderungen Neben Geburten und Sterbefällen bestimmen die Zu- und Fortzüge aus dem bzw. in das Ausland die Bevölkerungszahl und den Altersaufbau einer Bevölkerung. Diese Größe hängt anders als Geburten und Sterbefälle nicht nur vom Verhalten der vorhandenen Bevölkerung ab, sondern von einer Reihe von Faktoren, die zumindest zum Teil kaum vorhersehbar sind - zumindest nicht in ihrer Quantität. Der Blick zurück zeigt hier sehr große Schwankungen im Zeitablauf auf (Schaubild 4). So hatten wir in den letzten Jahren einen starken Zustrom von Personen aus Bürgerkriegsgebieten erlebt, der sich in den Zuwanderungen der ausländischen Bevölkerung niederschlug, und in den 80er und 90er Jahren auch starke Zuwanderungen von Aussiedlern, die den Wanderungssaldo der Deutschen bestimmt haben - beides beruhte auf politischen Entwicklungen. Daneben gab und gibt es Wanderungen aus ökonomischen Gründen - in den 50er und 60er Jahren stand die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte im Vordergrund, nach dem wirtschaftlich bedingten Anwerbestopp prägten die Familiennachzüge dieser Arbeitskräfte das Wanderungsgeschehen. (Womöglich zeigen sich bald die Auswirkungen einer neuen Art der Anwerbung von Experten für ausgewählte Tätigkeiten in höheren Zuzügen aus bestimmten Ländern.) Der Wanderungssaldo, also die Differenz von Zu- und Fortzügen, kann auch von Jahr zu Jahr wesentlich stärker schwanken, als dies bei Geburten und Sterbefällen der Fall ist. 1997 und 1998 gab es beispielsweise bei der ausländischen Bevölkerung mehr Fort- als Zuzüge (u. a. als Folge der Rückführung von Bürgerkriegsflüchtlingen). Der Wanderungssaldo der gesamten Bevölkerung betrug 1998 weniger als 50.000. Dagegen war im Jahr 1992 ein Zuwanderungsüberschuß von 780.000 Personen zu verzeichnen gewesen, der sich nach der Neuregelung des Asylrechts 1993 erheblich verminderte. Insgesamt gesehen verzeichnete Deutschland im hier betrachteten Zeitraum meistens Wanderungsüberschüsse. Festzuhalten bleibt, daß es in Deutschland seit 1972 jedes Jahr mehr Sterbefälle als Geburten gab, die Bevölkerung heute also nur wegen der Wanderungen höher ist als 1972 (damals lebten in Deutschland knapp 79 Millionen, heute 82 Millionen); wobei es nach 1972 auch Jahre mit abnehmender Bevölkerungszahl gegeben hatte. Von 1991 bis 1998 sind 700 000 Menschen mehr gestorben, als Kinder zur Welt kamen, und zugleich kamen netto 3 Millionen Zuwanderer, die aus 8,8 Millionen "Einwanderern" und 5,8 Millionen "Auswanderern" resultierten, nach Deutschland, so daß die Bevölkerung in diesem Zeitraum insgesamt um 2,3 Millionen wuchs. Für eine Vorausberechnung stellen die Wanderungen die am schwierigsten zu schätzende Komponente dar, da sich keine klare Entwicklung, die mit der lang anhaltenden Zunahme der Lebenserwartung oder der weitgehend stabilen Geburtenhäufigkeit vergleichbar wäre, ableiten läßt.
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Schaubild 4: Wanderungsbilanz zwischen Deutschland und dem Ausland seit 1954 - Bis einschl. 1990 für die Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung (Wanderungen zwischen dem früheren Bundesgebiet und der ehemaligen DDR nicht einbezogen) -
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