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German Pages 219
Direkte Demokratie
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 140
Direkte Demokratie Beiträge auf dem 3. Speyerer Demokratieforum vom 27. bis 29. Oktober 1999 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer
herausgegeben von
Hans Herbert von Amim
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Direkte Demokratie: Beiträge auf dem 3. Speyerer Demokratieforum vom 27. bis 29. Oktober 1999 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer / Hrsg.: Hans Herbert von Amim. - Berlin : Duncker und Humblot. 2000 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 140) ISBN 3-428-10348-3
Alle Rechte. auch die des auszugsweisen Nachdrucks. der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung. für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH. Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH. Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-10348-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Vorwort Fünfzig Jahre nach der Entstehung des Grundgesetzes ist die Diskussion um eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Elemente in Politik und Wissenschaft immer intensiver geworden. Dabei ist die Entwicklung auf den "unteren" Ebenen schon weiter fortgeschritten, als allgemein bekannt. In allen Ländern und Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland haben die Bürger inzwischen die Möglichkeit, die Entscheidungen über Sachfragen in die eigene Hand zu nehmen, wobei die Regelungen allerdings große Unterschiede aufweisen und vielfach beinahe prohibitiv ausgestaltet sind. Da die rot-grüne Regierungskoalition sich - laut Koalitionsvertrag - auch auf Bundesebene die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid vorgenommen hat, wird auch hier voraussichtlich bald Bewegung in die Politik kommen. Es geht dabei nicht nur um mehr Bürgerpartizipation, sondern auch um politische Handlungsfähigkeit und um die Kontrolle von Machtmißbrauch. Insofern dürften auch der Parteispendenskandal und seine Verarbeitung der Durchsetzung entsprechender Neuerungen einen zusätzlichen Schub versetzen. Der vorliegende Band enthält die Referate, die auf dem 3. Speyerer Demokratieforum gehalten und von den Referenten - unter Einbeziehung der Diskussion - überarbeitet wurden. Der Verfasser dankt den Referenten, die die Tagung erst ermöglicht haben und ebenso Herrn Ass. Stefan Kleb, Mag. rer. publ., für die redaktionelle Betreuung des Bandes. Speyer, im April 2000
Hans Herbert von Amim
Inhaltsverzeichnis Einführung in die Tagung Von Hans Herbert von Amim
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Das Plebiszit in der Repräsentativen Demokratie Von Jürgen Gebhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Die Angst der Regierenden vor dem Volk. Verfassungs- und geistesgeschichtliche Betrachtungen zu den Schwierigkeiten direktdemokratischer Bürgerbeteiligung seit 1789 Von Diemut Majer ..................................................
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Schlechte Weimarer Erfahrungen? Von Reinhard Schiffers ..............................................
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Art. 146 GG. Ein unerfüllter Verfassungsauftrag? Von Hans Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene Von Theo Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Politische Klasse ohne demokratische Kontrolle? Die Pathologien der politischen Professionalisierung und die Zukunft der Demokratie Von Jens Borchert .................................................. 113 Kontrolle der politischen Klasse durch direkte Demokratie? Von Man/red Zach ................................................. . 137 Die Reform der Landesverfassungen Von Brun-Otto Bryde ................................................ 147 Volkswahl der Regierung? Thesen zu einem demokratischeren und stabileren Regierungssystem Von Fried Esterbauer ............................................... 161 Direkte Demokratie - aus schweizerischer Sicht Von Hugo Bütler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175 Mögliche Antworten auf Demokratiedefizite in der Europäischen Union Von Heidrun Abromeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 187 Wurzeln und Durchsetzung direktdemokratischer Verfahren in den USA Von Hermann K. Heußner ........................................... 199 Autorenverzeichnis ..................................................... 218
Einführung in die Tagung Von Hans Herbert von Arnim Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist eine Freude, daß wir heute nun schon zum dritten Mal in der Hochschule zusammenkommen, um - im Rahmen des Speyerer Demokratieforums - aktuelle und grundlegende Fragen der Demokratie gemeinsam zu diskutieren. Das Forum stößt, wie die von Mal zu Mal wachsende Teilnehmerzahl zeigt, auf zunehmende Resonanz. Wie Sie aus der Teilnehmerliste entnehmen können, kommen die Teilnehmer des Forums aus ganz unterschiedlichen Bereichen; aus den Landesministerien, den Kommunalverwaltungen, aus der Wissenschaft, aus den Fraktionen und Bürgergruppen, aus Stiftungen und Verbänden - und auch viele einfach nur am Gemeinwesen interessierte Bürgerinnen und Bürger bereichern das Forum. Gerade diese Mischung halte ich für besonders fruchtbar. "Direkte Demokratie" kann und soll kein Thema nur für Spezialisten bleiben. Lassen Sie mich noch einiges zur Konzeption des diesjährigen Forums sagen. Unter den Begriff "Direkte Demokratie", unter dem wir natürlich nur eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie, nicht die - ohnehin praktisch nicht mögliche - Ersetzung, verstehen, fällt zu allererst die Möglichkeit der Bürger, Sachentscheidungen an sich zu ziehen. Dies kann geschehen - durch Volksbegehren und Volksentscheid auf der Ebene von Staaten (Länder und Bund) oder der Europäischen Union oder - durch Bürgerbegehren und Landkreisen oder
Bürgerentsch~ide
in den Gemeinden und
- durch Referenden. Für derartige Sachentscheidungen schlage ich vor, von direkter Demokratie im engeren Sinn zu sprechen. Häufig wird der Begriff "Direkte Demokratie" aber auch für die Direktwahl von Exekutivspitzen, also z. B. von Bürgermeistern oder Ministerpräsidenten verwendet. Hier schlage ich vor, von direkter Demokratie im weiteren Sinne zu sprechen. Das Forum umfaßt beide Formen der direkten Demokratie, allerdings mit einem Schwergewicht auf dem engeren Begriff.
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Hans Herbert von Amim Fragen der direkten Demokratie sind - neben der Bundesstaatlichkeit -
die verfassungspolitischen Fragen in Deutschland überhaupt. Dabei haben
wir auf Landesebene und auf kommunaler Ebene in den vergangenen zehn Jahren geradezu einen Siegeszug der direkten Demokratie erlebt. Und auf Bundesebene hat die rot-grüne Koalition sich bekanntlich auf die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid in der laufenden Legislaturperiode verständigt. Dennoch bleibt die ganze Thematik heiß umstritten. Das Forum wird hier vielleicht einige Klärungen bringen. Da die Reihenfolge der Themen auf den Terminkalender der Referenten Rücksicht nehmen mußte, möchte ich versuchen, den roten Faden zu legen und kurz zu skizzieren, was wir uns bei der Zusammenstellung des Forums gedacht haben. Gegen den Ausbau direktdemokratischer Elemente gibt es in der Bundesrepublik drei zentrale Einwände: - Einmal eine unwillkürliche Scheu vor der möglicherweise schwer berechenbaren Dynamik des Demos, die wir - seit dem deutschen Idealismus - wie einen geistigen Rucksack mit uns herumtragen. Der "Angst der Regierenden vor dem Volk" wird Frau Professorin Majer in ihrem Referat nachgehen. - Ein zweiter Einwand sind die immer wieder zitierten angeblich schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik - ein Thema, dem Professor Schiffers nachgehen wird, der darüber intensiv geforscht hat. - Ein drittes zentrales Thema ist die Frage, ob der Einbau direktdemokratischer Elemente mit der Struktur der repräsentativen Demokratie überhaupt vereinbar ist und wie die gegenseitige Zuordnung erfolgt. Diese Fragen klingen im Referat von Herrn Professor Gebhardt "Das Plebiszit in der repräsentativen Demokratie" an. Dies war auch der Titel eines mehrjährigen Forschungsprojekts, das Herr Gebhardt an der Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt hat. Die Frage, ob "Direkte Demokratie: Fremdkörper oder Katalysator im Repräsentativsystem" ist, wird auch das Thema der abschließenden Podiumsdiskussion am Freitag sein. Diese Thematik eröffnet also den Reigen der Vorträge und wird ihn am Freitag mit der Podiumsdiskussion wieder abschließen. Besonders neugierig macht der mysteriöse Artikel 146 Grundgesetz, wonach das Grundgesetz "seine Gültigkeit an dem Tage" verliert, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist". Sind damit - auf der Ebene der Verfassungsgebung im Bund - etwa bereits direktdemokratische Elemente angelegt? Für die vorurteilsfreie Beantwortung dieser Frage erscheint kaum jemand geeigneter als der Präsident der Humboldt-Universität, Professor
Einführung in die Tagung
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Hans Meyer, ein eher unkonventioneller deutscher Staatsrechtslehrer - und zudem ein besonders produktiver. Beim Thema "Direkte Demokratie" liegt es natürlich nahe, auch einen Blick auf die Schweiz und die USA zu werfen, wo direktdemokratische Institutionen seit langem bestehen. Herr Professor Heußner wird deshalb am Freitag über direktdemokratische Verfahren in den USA referieren. Herr Heußner hat dazu vor einigen Jahren ein viel zitiertes Standardwerk veröffentlicht. Über die Erfahrungen der Schweiz mit ihrer halb-direkten Demokratie berichtet Herr Dr. Bütler, Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung, in seiner Dinner speech auf dem Hambacher Schloß. Mancher erinnert sich vielleicht auch daran, daß Professor Eichenberger von der Universität Fribourg auf dem letztjährigen Demokratieforum die Schweizer Erfahrungen darautbin abgeklopft hat, ob direkte Demokratie in der Tendenz zu besserer Wirtschafts- und Finanzpolitik beiträgt. Den Kommunen und Europa ist je ein Referat gewidmet. Zur "Praxis direkter Demokratie auf kommunaler Ebene" spricht Professor Schiller, der Leiter der Forschungsstelle für Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie an der Universität Marburg. Auch hier hätten wir wohl kaum einen kompetenteren Referenten gewinnen können. Herr Schiller hat soeben ein Buch unter dem Titel "Direkte Demokratie in Theorie und Praxis" herausgegeben. Auf europäischer Ebene wird der Kreis geschlossen durch Frau Professorin Abromeit, die über "Mögliche Antworten auf Demokratiedefizite in der Europäischen Union" referiert - ein Thema, zu dem sie schon bemerkenswerte Veröffentlichungen vorgelegt hat. Zwei Themen behandeln die Landesebene: Über die Reform von Landesverfassungen spricht Professor Bryde von der Universität Gießen. Hier können Fragen der direkten Demokratie eine besondere Rolle spielen, sei es, daß die Elemente der direkten Demokratie (im engeren Sinne) erweitert werden, sei es, daß Verfassungsänderungen durch Volksbegehren und Volksentscheid durchgesetzt werden, zum Beispiel die Einführung der Direktwahl von Ministerpräsidenten. Das leitet über zum Thema von Professor Esterbauer von der Universität Innsbruck. Herr Esterbauer denkt seit langem über die "Volkswahl von Regierungen" nach und hat über dieses politisch ziemlich unkorrekte Thema viel publiziert; ich freue mich besonders auf seinen Beitrag. Meine Damen und Herren, nach meinem Eindruck erhalten die Befürworter von direkter Demokratie politisch immer mehr Rückenwind. Ein Grund liegt vielleicht darin, daß die sogenannte politische Klasse sich zunehmend der demokratischen Kontrolle entzieht. Wenn hier also Kontrolldefizite bestehen sollten, könnten Elemente der direkten Demokratie sozusagen als
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Hans Herbert von Amim
Gegenmittel in Betracht kommen. Zu dieser Thematik haben wir zwei Vorträge. Zu möglichen Kontrolldefiziten wird Herr Dr. Borchert referieren, der gerade ein bemerkenswertes Buch über die politische Klasse in westlichen Demokratien veröffentlicht hat. Über direkte Demokratie als mögliches Gegengewicht spricht Herr Ministerialdirigent Manfred Zach aus Stuttgart. Herr Zach hat klarsichtige Abhandlungen über Demokratieprobleme veröffentlicht. Besonders bekannt aber ist er durch den Roman "Mon Repos" geworden, der - in Form eines Schlüsselromans - das Kräftespiel und die Intrigen innerhalb der politischen Klasse eines deutschen Bundeslandes literarisch verarbeitet hat. Soweit meine kleine Einführung. Ich wünsche uns allen drei fruchtbare und weiterführende Tage.
Das Plebiszit in der Repräsentativen Demokratie Von Jürgen Gebhardt Der vorliegende Titel stammt aus einem von mir geleiteten Forschungsprojekt. Er war beeinflußt von der deutschen, durch Ernst Fraenkel geprägten Diskussion um die repräsentative und plebiszitäre Demokratie als Systemalternativen. Überblickt man den neueren internationalen Stand der Forschung, so ist eine der Sache angemessene sprachliche Präzisierung geboten: Es geht um direkt-demokratische Institutionen im modemen Verfassungs staat. Der durch diese Formulierung definierte politische Phänomenbereich ist allerdings unter systematisch-typologischen, historischen und vergleichenden Gesichtspunkten derart komplex, dass seiner kompetenten Behandlung die Ökonomie eines Referates notwendig entgegensteht: Es gilt also, in an sich unzulässiger Vereinfachung und insbesondere der Vernachlässigung wichtiger geschichtlicher Aspekte, einen analytischen Rahmen für die Erörterung des Gegenstandes thesenhaft zu skizzieren und einige für die heutige Diskussion meinerseits für relevant gehaltene Probleme zu akzentuieren. I. Zur systematischen Verortung des Gegenstandes
"Demokratie" ist im 20. Jahrhundert der global verbindliche Leitbegriff der politisch-sozialen Ordnung geworden, ungeachtet des amorphen Charakters und der damit verknüpften Interpretationskonkurrenz: Der weltweiten Geltung dieses Ordnungs symbols liegt ein die Natur der modernen Politik kennzeichnender ideen- und soziopolitischer Sachverhalt zugrunde, der im Zeitalter der atlantischen Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert seinen geschichtlichen Ursprung hat. Es ist dies der komplexe und in sich revolutionäre Prozess der Fundamentaldemokratisierung (Karl Mannheim) der Gesellschaft, d. h. die irreversible Mobilisierung und Akti vierung der Population bis zu jenem Punkt, an dem das individuelle Gesellschaftsmitglied sich als die letzte politische Einheit erfährt. Ihren ideenpolitischen Ausdruck findet die Fundamentaldemokratisierung in der Idee der Volkssouveränität. Die Fundamentaldemokratisierung untergräbt die alten soziopolitischen Ordnungen und erzwingt ideenpolitisch die Legitimierung der Herrschaft durch das "Volk", was immer darunter verstanden wird. Damit
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Jürgen Gebhardt
eröffnet sich ein neuartiges Experimentierfeld für die Um- und Neugestaltung der politischen Welt, denn "kein politisches System unserer Tage (kann) es sich leisten ... , offen die demokratische Ideologie abzulehnen, wonach alle Macht vom Volke ausgeht und ihre Ausübung nur dann legitim sei, wenn es in Übereinstimmung mit dem Volkswillen geschieht."l So verstanden ist das demokratische Prinzip der Dreh- und Angelpunkt des Politischen im 20. Jahrhundert. Hieraus folgen die ordnungspolitischen Konflikte um die Grundsatzfrage, welche politische Form dem demokratischen Prinzip in den sich fundamentaldemokratisierenden Gesellschaften gemäß ist. Empirisch lassen sich in der Realisierung des demokratischen Prinzips drei typologisch fixierbare, wenngleich in der soziopolitischen Realität je nach Zeit und Ort morphologisch sich wandelnde Erscheinungsformen des Demokratischen identifizieren. Gemeinsam sind ihnen die formalen Elemente einer Verfassung, des mehr oder weniger inklusiven Wahlrechts und - das ist ein entscheidender Punkt - der Rekurs auf den Souverän, das Volk. a) In der amerikanischen Revolution von 1776 fand das demokratische Prinzip seine ursprüngliche Form im republikanischen Prinzip bürgerschaftlicher Selbstregierung, das die Konstitutionalisierung der Herrschaft, also die rechtliche Normierung des Politischen, durch ein übergeordnetes schriftlich niedergelegtes Verfassungs gesetz, auf der Basis der Volkssouveränität verwirklichte. Diese erstmals als solche definierte ,,repräsentative Demokratie" (Alexander Hamilton 1777) war ein auf die politische und ökonomische Freiheit des Bürgers hin konzipiertes gewaltenteiliges und machtbalancierendes Regierungssystem mit konstitutionalisierten Individualrechten. Der Rekurs auf das Volk erfolgte nicht nur im direktdemokratischen Prinzip der Personalentscheidungen, sondern - und das war die eigentliche politische Innovation - in der Anerkennung der Bürgersouveränität als pouvoir constituant in Gestalt der Popularratifikation der Verfassung. Diese politische Idee der Popularratifikation der Verfassung gehört seither zum formalen Requisit der modernen Politik - ungeachtet des realpolitischen Stellenwertes einer Verfassung. Sie wird global in unterschiedlichem Umfang praktiziert, auch in semi- und scheinkonstitutionellen Regimen. (b) Schon im Spannungsfeld der Französischen Revolution erfuhr die Idee der Volkssouveränität eine Metamorphose. Die Konzeption des Repräsentativsystems wurde herausgefordert durch die antirepräsentative Idee einer unmittelbaren, allein durch die Interpretation des wahren Volkswillens gesteuerten Volksherrschaft. Hieraus entwickelte sich das Programm eines, durch die Diktatur der Interpreten des wahren Gemeinwohls, geschichtsnotwendig zu verwirklichenden, qualitativ neuen Sozialzustandes, wie er im 1
K. Löwenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959. S. 148.
Das Plebiszit in der Repräsentativen Demokratie
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Jakobinismus erstmals in Erscheinung trat und in den Ideen und Praktiken der totalitären Demokratie des 20. Jahrhunderts wirksam wurde. c) Zum Dritten aber leitete der plebiszitäre Cäsarismus Napoleons I. und insbesondere Napoleons III. den Herrschaftstypus des sich plebiszitär auf den Volks willen berufenden, oftmals militärischen Diktators ein, der im demokratisch-plebiszitären System eines autokratischen Präsidialismus fortlebt. In Lateinamerika, im postkolonialen Afrika und Asien und in den Nachfolgestaaten der UdSSR ist diese politische Form des demokratischen Prinzips vorherrschend. Dieser Regimetypus, in sich instabil, mit einer in der Regel popular legitimierten Verfassung ausgestattet, die ein dem politischen Prozess Äußerliches bleibt, ist heute weiter verbreitet als die verfassungsstaatlich-repräsentative Demokratie westlichen Typs, was oft übersehen wird. Dem im totalitären und autokratischen System praktizierten Institut der plebiszitären direkten Anrufung der Wähler durch ein Staatsorgan zur Legitimierung von Personal- und Sachentscheidungen der Herrschenden verdankt der Begriff des Plebiszits seine negative Konnotation; obgleich das Plebiszit im Sinne der folgenden Definition in allen genannten Regimetypen, also auch in repräsentativen Demokratien von Fall zu Fall eingesetzt wird. Das Plebiszit bezieht sich auf eine ganz bestimmte Form der Volksabstimmung - nämlich die von "oben", d. h. Staatsorganen verfügte und von ihnen kontrollierte Abstimmung. Es wird von den Staatsorganen je nach politischer Opportunität verfügt. Fragestellung, Zeitpunkt der Abstimmung und Verbindlichkeit des Ergebnisses werden ad-hoc von ihnen festgelegt. Es dient vorwiegend einem Kalkül der Staatsorgane zur Stärkung der eigenen Position. Das so definierte Plebiszit wird auch in demokratischen Verfassungsstaaten praktiziert. In Frankreich gehört es zur bonapartistischen Ausstattung des Präsidenten. Als Territorialplebiszit ist es nicht zuletzt seit Wilson stets angewandt worden. Das konsultative Referendum oder die Volksbefragung mit unterschiedlich definierter Bindewirkung ist gleichsam die weiche demokratisch-konstitutionelle Form einer durch Staatsorgane veranstalteten plebiszitären Befragung des Staatsvolkes. Der langen politologischen Rede kurzer Sinn ist der Folgende: Im Begriff des Plebiszits geht die Trennschärfe verloren, die notwendig ist, um die Specifica direkt-demokratischer Institutionen im Kontext langfristig etablierter stabiler repräsentativ-demokratischer Verfassungsstaaten zu bestimmen. Hier geht es in erster Linie nicht um die Popularratifikation der Totalrevisionen bestehender Verfassungen und das Opportunitätsplebiszit, sondern um den Komplex verfassungsmäßig institutionalisierter direktdemokratischer Sachentscheidungen. Dies umschreibt den eigentlichen Gegenstand einer Erörterung dessen, was direkt-demokratische Institutionen und Verfahren in einer Demokratie westlichen Typus darstellen und was sie
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Jürgen Gebhardt
leisten können. Denn das plebiszitäre Element als solches ist integraler Bestandteil jeder modemen, sich auf das Prinzip der Volkssouveränität berufenden, politischen Ordnung, sei sie totalitär, autokratisch oder eben konstitutionell-demokratisch. Entscheidend ist, ob und wie weit direktdemokratische Verfahren ein Moment des realen, konstitutionell nonnierten Willens bildungs- und Entscheidungsprozesses in einer der Selbstregierung verpflichteten demokratischen Bürgerkultur sind und nicht nur semi- oder scheinkonstitutionelle Inszenierung der Herrschenden. Wenn wir also aus den angegebenen Gründen auf den Begriff des Plebiszits als solchem verzichten, dann ergibt sich unter Berücksichtigung der Forschungsdiskussion insbesondere in den USA, Deutschland und der Schweiz eine begriffliche Differenzierung, wie sie in Anlage I zu finden ist. 11. Direktdemokratische Institutionen und Verfahren im Multiversum demokratischer Politien
Inwieweit fungiert die Bürgerschaft (das Volk) als Verfassungs- bzw. Gesetzgeber in repräsentativ organisierten demokratischen Verfassungsstaaten? Inwieweit lassen sich aus den vorliegenden Befunden Lehren über die nachhaltigen Auswirkungen direktdemokratischer Institutionen auf das Repräsentativsystem auf nationaler Ebene ziehen? Die direkt-demokratische Praxis in demokratischen Verfassungsstaaten läßt sich folgendennaßen klassifizieren: Fall 1: Direkte Demokratie als Ausnahmeverfahren. Hier besteht nur eine geringe Nutzungsintensität der direkt-demokratischen Fonnen in plebiszitärer Gestalt; sie werden nur in großen zeitlichen Abständen verwandt und haben keine eigenständige Funktion im politischen System. Fall 2: Direkte Demokratie als Komplementärverfahren. Hier stehen direkt-demokratische Elemente verfassungsmäßig als Optionen der Entscheidungsfindung mit regelmäßiger aber nicht häufiger Nutzung zur Verfügung. Fall 3: Die direkte Demokratie als Routineverfahren: Es beinhaltet die regelmäßige Praxis verfassungsmäßig fixierter und prozedural voll ausgebauter Systeme direktdemokratischer Entscheidungsfindung ,von unten'. Hier kann dann von Volksgesetzgebung gesprochen werden, wenn die indirekte und direkte Volksinitiative (insbesondere letztere) integraler Bestandteil des politischen Prozesses ist. In welchem Umfang lassen sich nach diesen Kriterien nationale direktdemokratische Entscheidungsmechanismen nachweisen? Die Forschung kommt hier zu einem relativ ernüchternden Ergebnis. Denn Fall 3 gilt nur
Das Plebiszit in der Repräsentativen Demokratie
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für die Schweiz und US-amerikanische Einzelstaaten mit Italien als temporär abweichendem Sonderfall. Mit Blick auf die Forschungslage ist einerseits das Faktum der weitgestreuten Verbreitung und der Zunahme von Referenden und ähnlichen Verfahren gut dokumentiert, andererseits fehlt es oft an einer systematischen Differenzierung nach Regimetypen, nach der jeweiligen spezifischen Funktion insbesondere plebiszitärer Grundentscheidungen und den konstitutionell verankerten direktdemokratischen Mechanismen selbst. Beispielhaft hierfür ist Butlers und Ranneys Überblick über den Gesamtkomplex der Referenden? Unter dem Oberbegriff des Referendums heben sie drei diesem gemeinsame Aspekte hervor: das Verfassungsgebot eines konstitutionellen Referendums, die Legitimierung von Regierungsentscheidungen zum Zweck des Nachweises der Unterstützung durch die Mehrheit der Wählerschaft und die Delegation umstrittener Entscheidungen an das Elektorat. Die Durchsicht der hier vorgelegten Befunde bestätigt die oben formulierte Feststellung, dass ungeachtet des jeweiligen Regime- oder Herrschaftstypus politische Fundamentalentscheidungen über die staatliche Unabhängigkeit, die Staatsform und die Verfassungsratifikation der Grundnorm des demokratischen Prinzips entsprechend heute weltweit durch in der Regel von Herrschaftsinhabern eingeleitete Plebiszite legitimiert werden. Obwohl angesichts eines hier gegebenen universalen Musters sich dies empfehlen würde, bilden die Autoren keine an diesem Sachverhalt ausgerichtete spezielle Kategorie, ebensowenig wie sie ausdrücklich zwischen etablierten repräsentativ-demokratischen Verfassungsstaaten und semi- oder scheinkonstitutionellen Regimen mit autokratischem Präsidialismus unterscheiden. Dem hier zu verhandelnden Gegenstand entsprechend ist aber zu fragen, ob sich in der vielgestaltigen politischen Formenwelt der westlichen Demokratie ein spezifischer Strukturtyp ausweisen läßt, dessen politische Kultur und Institutionengefüge systematisch auf eine begründete Affinität zu direktdemokratischen Institutionen schließen läßt. 3 Einen theoretisch angelegten, aber in seinem Resultat eher durch empirischen Befund überzeugenden Versuch hat Arend Lijphart vor etlichen Jahren vorgelegt. In einer vergleichenden Untersuchung von 21 langfristig (1945-1980) stabilen Verfassungsstaaten hat er unter anderem referendums-demokratische Entwicklungstendenzen in demokratischen Politien begutachtet und deren rare, wenngleich steigende Anwendung zu erklären versucht. 4 Sind heute auch 2 D. Butler/ A. Ranney, eds .. Referendums Around the World - the Growing Use of Direct Democracy, Washington 1994. 3 Vgl. zum Folgenden 1. Gebhardt. Direktdemokratische Institutionen und repräsentative Demokratie im Verfassungsstaat. in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/ BI, 1991, S. 16-30. 4 A. Lijphart. Democracies. New Haven, 1984, S. 197. 2 von Amim
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weitere dem Kriterienkatalog Lijpharts entsprechende Demokratien mit zu berücksichtigen, so ändert dies - wie anschließend zu zeigen ist - nichts am Gesamtbild. Die untersuchten Politien sind entsprechend ihrer Grundform in politischer Kultur und politischem System als repräsentative Demokratie ausgewiesen und strukturell einheitlich verfaßt. Mit Hilfe eines Merkmalkatalogs kommt der Autor zur kategorialen Unterscheidung von Mehrheits- und Konsensdemokratie als die bei den möglichen Strukturtypen der repräsentativen Demokratie westlichen Stils. Hier interessiert nicht die einer solchen Modellbildung inhärente Problematik noch der Gesamtaufbau des Werkes, sondern nur der Klärungsversuch in Hinsicht auf die Funktion des direktdemokratischen Instituts. Lijphart stellt die plausible These auf, dass Referenden und andere Verfahren sowohl der majoritären wie der konsensualen Konzeption repräsentativer Demokratie "fremd" seien, sie aber in unterschiedlicher Form angewandt werden. Auf der Grundlage nationaler Referenden (ohne Unterscheidung hinsichtlich des obligatorischen, fakultativen und konsultativen Charakters derselben, noch der konstitutionellen Vorgaben) versucht Lijphart ein allgemeines Pattern der Referendumspraxis zu ermitteln. In der quantitativen Auswertung der Daten (1945-1989) erweist sich - nicht überraschend - die Schweiz nach der Zahl der Urnengänge (227) als absoluter Ausnahmefall, während Australien (23), Neuseeland (17), Italien (15), Dänemark (12) und Irland (11) mit Abstand folgen (die von Lijphart für 1945-1983 gegebenen Zahlen wurden von mir bis 1989 ergänzt). Insgesamt ist die Zahl der Referenden gering, die direkt-demokratische Sachentscheidung ist - abgesehen von der Schweiz - kein Instrument der "normalen Politik" im Verfassungsstaat. Die Untersuchungen von Möckli5 und Luthard6 über Westeuropa bestätigen und präzisieren dieses Bild. Vorherrschend sind das Verfassungsreferendum (8) sowie fakultative Gesetzesreferenden, ausgelöst vorn Staatsoberhaupt bzw. Parlament (ca. 10), und konsultative Referenden (teilweise adhoc von der Regierung ausgelöst). Lediglich Dänemark kennt ein obligatorisches Gesetzesreferendum (Änderung des Wahlrechtalters). Von Italien ist gleich noch zu sprechen. Soweit direktdemokratische Entscheidungsformen regelmäßig angewandt werden (manche stehen nur in der Verfassung) fallen sie wahlweise, meiner Klassifizierung entsprechend, unter Fall 1 oder 2. Interessant ist, dass konsultative und obligatorische Referenden im Zuge der europäischen Integration von der EG zur EU in Norwegen, Dänemark, S. Möckli, Direkte Demokratie, Ein Internationaler Vergleich, Bern 1994. W. Luthardt, Direkte Demokratie, Ein Vergleich in Westeuropa, Baden-Baden 1994. S
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Das Plebiszit in der Repräsentativen Demokratie
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Schweden, Finnland, Irland, Großbritannien und Österreich abgehalten wurden - mit dem einen bekannten abweichenden Ergebnis in Norwegen. So wichtig diese Referenden für die Legitimierung der Europäischen Union sind, für unsere Fragestellung sind sie wenig relevant. Es handelt sich nicht um authentische Volksgesetzgebung. Bleibt Italien, das neben dem Verfassungsreferendum eine abrogative Initiative kennt. Ursprünglich eine randständige Institutionalisierung der Volksinitiative blieb dies bis 1970 ohne Ausführungsgesetz. Die Politikfunktion des Referendums bezieht sich im rechtstechnischen Sinn auf die Verwerfung bestehender Gesetze, von Gesetzesteilen oder gesetzförmigen Maßnahmen (Auslösung durch Sammlung von 500 000 Unterschriften oder durch fünf Regionalkammern). Die Initiative ist indirekt, denn die beiden Kammern des Parlaments können mit 2/3 Mehrheit die Veränderung annehmen, ansonsten erfolgt eine Volksabstimmung. Die Aktivierung dieses Instituts erfolgte 1970 durch die oe, die das Ehescheidungsgesetz zu Fall bringen wollte. Ab 1974 nutzten Reformgruppen und kleine Parteien das Referendum zur Öffnung des Systems etwa durch Änderung des Wahlrechts. Höhepunkte waren die Jahre 1991 und 1993 als ganze Reformbündel angenommen wurden. Aber letzthin reichte die Schubkraft dieses direkt-demokratischen Instituts, das insbesondere durch ein hohes Quorum in seiner Wirksamkeit gemindert wird, nicht aus, um eine grundsätzliche Veränderung des Systems zu inaugurieren. Ungeachtet dessen ist Italien die einzige westeuropäische Demokratie, in der ein Ansatz von direkt-demokratischer Gesetzgebung im Sinne von Fall 2 vorliegt. In seiner neueren Untersuchung über direkt-demokratische Einrichtungen und Verfahren in den Mitgliedstaaten des Europarates weist Möckli eine Vielfalt direktdemokratischer Institutionen im Untersuchungsbereich (die neuen Demokratien der Mittel- und Kleinstaaten Ost- und Südosteuropas eingeschlossen) auf. Obligatorische und fakultative Referenden beziehen sich in der Regel auf Verfassungsrevisionen, territoriale Änderungen oder die Mitgliedschaft in supranationalen Organisationen, bzw. auf von den Staatsorganen veranlaßte Sachabstimmungen. "Nur wenige Staaten lassen eine Sachabstimmung gegen den Willen der Staatsorgane zu und in diesen Fällen werden meist hohe Hürden errichtet". Möcklis Fazit lautet: "Es mangelt in Europa nicht an direktdemokratischen Einrichtungen, sondern vielmehr an direktdemokratischen Verfahren, welche eine Partizipation ,von unten' praktikabel machen. Volksabstimmungen über Sachfragen sind eher ein Instrument der Machtausübung von oben nach unten als eines der Machtkontrolle unter der politischen Beteiligung von unten nach oben.,,7 Das eigentliche Instrument der direktdemokratischen Volksgesetzgebung, die Volksinitiative, findet sich nur in der Schweiz und in Lichtenstein, 7 S. Möckli, Direktdemokratische Einrichtungen und Verfahren in den Mitgliedstaaten des Europarates, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1, 1998, S. 105,92. 2"
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sowie - bisher unerprobt und mit hohen Hürden behaftet - in den Verfassungen Litauens, der Slowakei und Ungarns sowie auf gliedstaatlicher (3) und lokaler Ebene (10) in einzelnen Staaten. Insgesamt gilt für den europäischen Raum, dass alle Politien, welche auf nationaler Ebene in irgendeiner Form referendumsdemokratische Einrichtungen aufweisen, unter die von mir formulierten Kategorien I und 2 fallen. Nur die Schweiz kennt die Volksgesetzgebung als ,Routineverfahren '. Möckli bestätigt für Europa die bereits in den 70er Jahren von Gordon Smith vorgelegten Funktionsanalysen des Referendums, denen zufolge die meisten Referenden regierungskontrolliert und "prohegemonial" sind, d. h. in ihren jeweiligen Auswirkungen liefern sie legitimierende Unterstützung des RegierungshandeIns. Nur im Fall der Volksinitiative ist die Abstimmung unkontrolliert und kann die Regierungspolitik konterkarieren, ist also "antihegemonial". Obligatorische Verfassungsreferenden, so Smith, können bedingt regierungskontrolliert sein, da diese Zeit und Wortlaut, nicht jedoch die Durchführung der Abstimmung selbst bestimmen dürfen. 8 Funktional betrachtet kommt dem direkt-demokratischen Komplex in den meisten Politien keine eigenständige Rolle im politischen Willensbildungs- und EntscheidungsProzess zu, sondern er ist integrales Moment des parteiendemokratisch geprägten Zusammenspiels von Regierung und Opposition und in föderalistischen Demokratien eingebunden in das Spannungsverhältnis von Bund und Einzelstaaten, wie das Beispiel Australiens zeigt. So überzeugt Lijpharts Schlußfolgerung, dass das Institut des Referendums sich keinem spezifischen Strukturtypus der repräsentativen Demokratie zuordnen läßt. Weder der konkurrenzdemokratische noch der konsensdemokratische Typus zeigen eine ausgeprägte Neigung zum Referendum. Unter dem Gesichtspunkt der Referendumsfrequenz folgt der prototypischen Konsensdemokratie Schweiz die prototypische Konkurrenzdemokratie Australien. Soweit es sich nicht um Verfassungsreferenden handelt, ist festzuhalten, dass Referenden in der nationalen Politik des demokratischen Verfassungsstaates weder strukturtypisch noch strukturwidrig, sondern strukturfremd sind, insbesondere wenn wir das genuin direkt-demokratische Institut der Volksinitiative betrachten. Diese Aussage wird meines Erachtens auch nicht durch Sabine Jungs modell theoretische Kritik an Lijpharts Argumentation widerlegt. Jung hebt auf die in sich logisch nicht schlüssige Modellkonstruktion Lijpharts ab und möchte nachweisen, dass man sehr wohl einen systematischen Zusammenhang zwischen Demokratie- und Abstimmungstypen herstellen kann. Hier kann nicht der in sich durchaus konsistente modelltheoretische Gedanken8 Vgl. G. Smith, The Functional Properties of the Referendum, in: European Journal of Political Research 4, 1976, S. 1-23.
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gang in Gänze referiert werden. Nur so viel: Jung reformuliert Lijpharts Modellkonstruktion dahingehend, dass sie aus dem Lijphartschen Merkmalkatalog für jeden Demokratietypus ein konstitutives Prinzip heraus präpariert: Das Prinzip der Machtkonzentration in den Händen der Mehrheit für die Konkurrenzdemokratie und das Prinzip der Beschränkung und Verteilung der Mehrheitsmacht in der Konsensdemokratie. In Bezug auf den direktdemokratischen Abstimmungsmodus unterscheidet sie für die Phase der politischen Willensbildung zwischen regierungskontrolliertem und -unkontrolliertem minderheitsinitiierten Typus, und für die Entscheidungsfindung differenziert sie zwischen Abstimmung nach der reinen Mehrheitsregel und Abstimmung mit Zustimmungsquote. Das solchermaßen logisch bearbeitete Material erlaubt in der Tat einen systematischen Zusammenhang derart zu formulieren, dass ein regierungskontrolliertes nach der Mehrheitsregel verfahrendes Referendum "theoretisch ein idealtypisches Merkmal der Mehrheitsdemokratie" darstellt9 , umgekehrt aber "die strikt repräsentativdemokratische Ordnung theoretisch ein idealtypisches Merkmal der Konsensdemokratie ist"lO, wenngleich - so die nicht sehr plausible Zusatzinformation - keiner der Abstimmungstypen dem Grundprinzip dieses Strukturtypus fundamental zuwiderläuft. So überzeugend die Logik dieser Betrachtung ist, sie taugt nicht als heuristisches Analyseinstrument für die politisch-soziale Realität. Denn, wie Jung selbst anmerkt, müßten hypothetisch die Konkurrenzdemokratien das pro-hegemoniale Abstimmungsverfahren nach einfacher Mehrheitsregel routinemäßig nutzen, Konsensdemokratien hingegen auf direktdemokratische Verfahren weitgehend verzichten. 11 Das ist aber nicht der Fall. Zur Rettung der Hypothesen gibt Jung als Falsifizierungskriterium zum einen die Nutzung des unkontrollierten minoritären Referendums in Mehrheitsdemokratien beziehungsweise die Anwendung von direkt-demokratischen Prozeduren mit einfacher Mehrheitsentscheidung in Konsensdemokratien an. In beiden Hinsichten sind die Hypothesen falsifizierbar. Zum ersten ist in den mehrheitsdemokratischen US-Gliedstaaten die Volksinitiative mit Mehrheitsregel (das prototypische antihegemoniale Verfahren) vorherrschend, zum zweiten muß Jung selbst zugeben, dass in Einzelfällen Abstimmungen nach der Mehrheitsregel in Konsensdemokratien wie Belgien nachweisbar sind. So bleibt das Fazit, ,,(d)ass sich die ermittelten Zusammenhänge in der Realität so nicht immer haben auffinden lassen ... ,,12
9 S. Jung, Lijpharts Demokratietypen und direkte Demokratie, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 3, 1996, S. 623-45, S. 637. 10 Ebd., S. 639. 11 Ebd., S. 641. 12 Ebd., S. 643.
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Jürgen Gebhardt 111. Das Experimentierlabor der Volksgesetzgebung: Die Einzelstaaten der USA
Während die Schweiz allein sich aufgrund der dort gebräuchlichen indirekten Initiative von der lokalen Politik bis zur nationalen Makropolitik als direkt-demokratisch strukturiert präsentiert, kennen neben Deutschland (nur obligatorisches Referendum bei Neugliederung der Bundesländer) und den Niederlanden auch die Vereinigten Staaten von Amerika keinen Modus der nationalen direkt-demokratischen Sachentscheidung. Im Gegensatz hierzu sind die amerikanischen Einzelstaaten Beispiele par excellence für eine direkt-demokratisch unterfütterte repräsentative Präsidialdemokratie. Diese flächenmäßig mit europäischen Staaten durchaus vergleichbaren politischen Einheiten können gleichsam als ein Laboratorium für die Wirkungsweise direkt-demokratischer Politik betrachtet werden, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Der Spielraum wird durch die Rahmenbedingungen und Vorgaben der politischen Kultur und bundesstaatlichen Ordnung erheblich beschränkt. Deswegen sind die Einsichten und Lehren, die aus dem amerikanischen Beispiel gewonnen werden können, nicht unbedingt auf andere Demokratien übertragbar. Seine Relevanz für das Generalthema dieser Erörterung besteht vielmehr darin, dass hier insbesondere am Fall Kaliforniens das Zusammenspiel von Volksgesetzgebung und repräsentativdemokratischen Institutionen studiert werden kann. 13 49 Staaten (Ausnahme Delaware) verfügen über direkt-demokratische Institutionen, die sich unter dem geschichtlichen Horizont der seit Beginn der Republik praktizierten Popularratifikation von Verfassungsänderungen im 19. und 20. Jahrhundert (auch nach Schweizer Vorbild) entwickelt haben. Das volle Repertoire einer genuinen Volksgesetzgebung, insbesondere die direkte Verfassungs- bzw. Gesetzesinitiative wird in ca. 14 Staaten eingesetzt. In Kalifornien, dem beliebtesten Studienobjekt dank seiner politischen Kultur und seiner Politie, Poliey und Polities beherrschenden Referendumsdemokratie, bewirkt der unkontrollierte und antihegemoniale Charakter der Initiative tendenziell die Schwächung der legislativen Funktion des Parlamentes, verringert insbesondere die fiskalische Handlungsfreiheit der Regierung und reduziert die Rolle der Parteien als eigenständige Akteure. Sachentscheidungen (auch im Sinn der Non-Decision) in den einzelnen Politikfeldern werden in den ungeregelten Referendumsprozess ver13 Vgl. hierzu folgende ausführliche Untersuchungen: D. B. Magleby, Direct Legislation: Voting on Ballot Propositions in the United States, Baltimore 1984; D. D. Schmitt, Citizen Lawmakers. The Ballot Initiative Revolution, Philadelphia 1989; Th. Cronin, Direct Democracy, The Politics of Initiative, Referendum und Recall, Cambridge 1989; U. Glaser, Direkte Demokratie als Routineverfahren. Volksabstimmungen in den USA und Kalifomien, Erlangen 1997; Sh. Bowler et al. eds., Citizens as Legislators. Direct Democracy in the United States, Columbus 1998.
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lagert. In diesem selbst ist weniger der einzelne Bürger politisch aktiv als von politischen Führungseliten und -experten dominierte organisierte Interessengruppen, Bürgerorganisationen und ad hoc-Gruppen. Allerdings: Die Vetfassungsgerichtsbarkeit operiert mittels des richterlichen Prüfungsrechtes als Steuerungsinstanz und relativiert die Volksgesetzgebung. Bis zu 40 % (in allen einschlägigen Staaten zusammen ca. 62 %) der etfolgreich verabschiedeten Initiativen werden kassiert. In den meisten anderen Referendumsstaaten sind die Folgen weniger dramatisch als in Kalifornien. Hier etfüllen die direktdemokratischen Instrumente mehrheitlich eine komplementäre Funktion im Majoritätssystem. Die positiv oder negativ akzentuierte Mitwirkung der organisierten Aktivbürgerschaft an der Gesetzgebung ergänzt die Funktion der Repräsentativorgane, ohne sie zu untenninieren. Soweit dieser zugegebenermaßen allzu knappe Überblick. Im Folgenden gilt es nun noch auf einige im Sinne unseres Gegenstandes in systematischer Hinsicht interessante Probleme aufmerksam zu machen. 1. Die Auswirkungen der Volksgesetzgebung auf Haushalt, Steuer und Verschuldung der öffentlichen Hand, die am Beispiel Kaliforniens demonstriert werden können. Proposition 13 ist das berühmteste Beispiel. Die Untersuchung einschlägiger Abstimmungen 1978-93 ergab diesen Befund: Die direkt-demokratisch initiierten Vetfassungs- und Gesetzesinitiativen im Bereich der Haushalts-, Steuer- und Schuldenpolitik einschließlich entsprechender Androhung von Initiativen vor allem in Bezug auf Steuerkürzungen und Begrenzung des öffentlichen Haushalts prägen die Haushaltspolitik des Staates mehr als die haushaltspolitischen Entscheidungen von Exekutive und Legislative, besonders wenn Initiativen spezielle Ausgabenprogramme durchsetzen oder den Gesamtkomplex der Staatsanleihen kontrollieren. Insbesondere die lokalen Organe verloren weitgehend ihre fiskalpolitische Autonomie auf diese Weise. 14 Hier kann der Punkt markiert werden, an dem die Volksgesetzgebung die Ordnungslogik des repräsentativ-demokratischen Systems tangiert, insofern sie die Budgethoheit des Parlaments aushöhlt und langfristig politische Grundsatzentscheidungen, die über den jeweiligen Einzelentscheidungsfall hinaus gehen, blockiert. In einer neuen amerikanischen Untersuchung zeigen Donovan und Bowler die Folgeerscheinungen von direkt-demokratisch durchgesetzten state tax and expenditure limitations (21 Staaten), welche die Ausgabensteigerung und Steuerfestlegung von der Zustimmung der Wähler abhängig machen. Ähnlich haben elf Staaten durch Vetfassungs- oder Gesetzesreferendum für Steuererhöhungen eine sogenannte supermajority bis zu 213 Mehrheiten im Parlament vorgeschrieben. Kommt dazu noch das obligatorische Referendum 14 Vgl. hierzu M. Bauer, Direkte Demokratie und Finanzpolitik in den USA. Volksabstimmungen über Haushaltsfragen, Steuern und Verschuldung in Kalifornien, Diss. Erlangen 1997.
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über Staatsanleihen, so kumulieren solche Entscheidungen ihre Auswirkungen und führen langfristig nicht nur zu steigender Verschuldung, sondern es kommt auch zur paradoxen Situation "where the longtenn consequences of the fiscal rules adopted in direct democracy states might cause some spending policies to be less responsive to popular preferences ... " Es gibt Belege dafür "that the poor bear a greater share of the burden of funding public services in direct democratic states ... ,,15 Folgerung: Steuer- und Haushaltspolitik können nicht Gegenstand direkt-demokratischer Entscheidungsverfahren sein, erwartet man vom repräsentativ-demokratischen Verfassungsstaat eine prioritätensetzende, längerfristig planende und gesamtgesellschaftlich ausgerichtete Finanz- und Wirtschaftspolitik. 2. Ein weiterer Aspekt bezieht sich auf die direktdemokratische Praxis. Als politisches Routineverfahren ist sie nicht mehr Angelegenheit des individuellen Bürgers oder unabhängiger Gruppen, sondern Herr des Verfahrens ist die Initiative Industry, deren sich jeder Initiant bedienen muß, um erfolgreich zu sein. Die Initiative Industry umfaßt folgende Elemente: Zirkulation der Petition und Unterschriftensammlung, direct maU advertizing, Umfragen, Mediaberatung und Betreuung, Campaignmanagement, Rechtsvertretung und schließlich Fundraising. Eine Initiative oder Gegeninitiative ist ein Millionengeschäft für professionelle Experten. Pro Urnengang werden mehrere hundert Millionen ausgegeben. Wie in den Wahlkämpfen spielen natürlich die Medien, besonders das Fernsehen, eine herausragende und kostspielige Rolle, nicht zuletzt, weil die einfache la-Nein-Dichotomie sowohl in der Propaganda-, als auch in der Berichterstattung zu dramatischen Darstellungen einlädt. Den Medien ist es auch zu verdanken, wenn heute einzelstaatliche Initiativen wie das term limit (die Beschränkung der Amtszeit von Abgeordneten) national ventiliert werden und damit das nationale agenda setting beeinflussen. Die von mir hier herausgegriffenen spezifischen amerikanischen Aspekte der direkten Demokratie spielen in dieser Form in der Schweiz keine vergleichbare Rolle. Die finanzpolitische Problematik kann durch institutionelle Vorkehrungen gelöst werden, die Übernahme der Organisation durch die Initiative Industry wird in der Zukunft in gewissem Maß überall dort eintreten, wo nationale Referenden routinemäßig praktiziert werden. IV. Einige demokratietheoretische Anmerkungen
Unter dem Titel "Full Democracy" publizierte The Economist eine Mischung aus Prognose und Plädoyer für die Fortentwicklung der Demo15 Sh. Bowlerl1. Donovan, Responsive or Responsible Govemment, in: Bowler, Citizens as Legislators, S. 256, 259.
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kratie in den reichen ökonomisch prosperierenden Gesellschaften des Westens in Gestalt eines politischen Rearrangements zugunsten der direkten Demokratie. "If democracy means rule by the people, democracy by referendum is a great deal doser than the every-few years voting which is all that most countries have." Die Verbindung von Wohlstand und technologischem Fortschritt wird den politiker-, verbände- und partei verdrossenen Bürger sich auf die Idee der Selbstregierung besinnen und direkt-demokratische Rechte einfordern lassen. "The purpose of this newer sort of democracy", heißt es, "is also to encourage ordinary people to grow more responsible, and to shoulder more of the burden of government themselves - in short to become better citizens.,,16 In der Tat, nicht nur in Deutschland kreist der politische und intellektuelle Diskurs um die Frage, ob die demokratische Vision der bürgerlichen Selbstregierung durch die Kräftigung direkt-demokratischer Traditionen politisch verlebendigt werden soll und kann. Sicher nicht durch ,institutionelles Engineering', denn der Quellgrund des bürgerschaftlichen Lebens ist eine demokratische Bürgerkultur. In dieser Hinsicht stimmen die empirischen Befunde in den westlichen Politien und selbst in den referendumsdemokratisch verfaßten politischen Kulturen eher skeptisch. Die Forschung zum Wahlverhalten belegt, dass die Referendumsdemokratie den Stimmbürger nicht in höherem Grad mobilisiert als die allgemeinen Wahlen. Das Innovationspotential plebiszitärer Partizipation bleibt angesichts der zu beobachtenden Option für den status quo umstritten. Die hohen Ansprüche an die Kompetenz des Stimmbürgers führen nachweislich zur Unterrepräsentation der nicht- oder unterprivilegierten Bevölkerung und zu einer Verfestigung des Mittelklassenfaktors im politischen Prozess. Die Kommerzialisierung und Professionalisierung des Abstimmungsprozesses wirkt zugunsten kollektiv organisierter Akteure mit Verfügungsgewalt über entsprechende Ressourcen. Die Schwächung des verfestigten Machtkartells von Parteien und Bürokratie mag erwünscht sein, doch die Erosion zentraler politischer Steuerungsinstanzen durch die direkte Volksgesetzgebung (und von dieser ist hier die Rede) mag sich langfristig als problematisch auswirken. Diese skeptische Note soll aber nicht unerwähnt lassen, dass direktdemokratische Institutionen für den Stimmbürger (auch wenn er sie nicht nutzt) durchaus eine legitimitätsstärkende und edukatorische symbolische Funktion haben. Sie besteht darin, dass sich das Individuum als Glied der Bürgerschaft zu begreifen und seine Bürgerrolle in ihn unmittelbar betreffenden Angelegenheiten ebenso wie in Grundfragen der Verfassung des Gemeinwesens konkret zu erleben vermag. Das spricht auch auf Deutschland bezogen für den nachhaltigen Einsatz direkt-demokratischer Verfahren 16 Full Democracy, in: The Economist December 21 st 1996, S. 3, 11; vgl auch Politics Brief - The People's Voice, in: The Economist, August 14th 1999, S. 28 f.
Erläuterungen Sammelbegriff für alle Instrumente, auch: direktdemokratisches Instrumentarium, auch: Institution der direkten Demokratie Sammelbegriff für alle Abstimmungsvorlagen unabhängig vom jeweiligen Typus Abstimmung über vom Parlament vorgelegte Verfassungsänderung Durch Unterschriftensammlung herbeigeführte Abstimmung, Inhalt von Initianten vorgelegt (direkt oder indirekt) (Verfassung oder Gesetz betreffend) Durch Unterschriftensammlung herbeigeführte Volksabstimmung über vom Parlament bereits gefällten Beschluss Gesetzesgegenstände, die trotz parlamentarischen Beschlusses bei Volksabstimmungen bestätigt werden müssen Nicht verpflichtend vorgeschriebene Abstimmung über eine vom Parlament freiwillig zur Abstimmung unterbreitete Vorlage Abwahlabstimmung über Mandatsträger aufgrund vorheriger Unterschriftensammlung Abstimmung ohne verbindliche Ergebnisse
Englischer Begriff
Direct Democracy
Ballot Measure Proposition
Legislative Constitutional Amendment
Initiative (direct/indirect) (constitutionall statutory)
Petition Referendum
Compulsory Referendum
Voluntary Referendum
RecaJl
Advisory Referendum
Deutscher Begriff
Direkte Demokratie
Volksabstimmung
Obligatorisches Verfassungsreferendum
Volksinitiative
(Petition) Referendum
Obligatorisches Gesetzesreferendum
Freiwilliges Gesetzesreferendum
Recall
Volksbefragung
Begriffsdefinition zu den Typen direktdemokratischer Instrumente
Anlage 1
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Die Angst der Regierenden vor dem Volk * Verfassungs- und geistesgeschichtliche Betrachtungen zu den Schwierigkeiten direktdemokratischer Bürgerbeteiligung seit 1789 Von Diemut Majer In einem seiner jüngsten Beiträge) hat Hans Herbert von Arnim (wieder) darauf aufmerksam gemacht, daß das Grundübel des politischen Lebens die Herausbildung von "Kartellparteien" ist, die mit ihrem Umfeld eine politische Klasse 2 bilden und die sich weitgehend gegen "Konkurrenz" und damit auch gegen direkte Beteiligungsformen an der politischen Willensbildung abschotten. Die Ursache sieht er zutreffend in dem ungeklärten Verhältnis von Volkssouveränität (verstanden als Selbst- oder Mitentscheidung des Volkes) und Repräsentation 3 . Damit ist eines der Hauptthemen der Staatslehre angesprochen, die seit der Zeit der Aufklärung die Diskussion beherrscht: Worin liegt die Legitimation der repräsentativen Demokratie4 ? Sollen direktdemokratische Volksrechte in die Verfassung eingefügt werden? (Welche?) und schließlich: In welchem Verhältnis stehen sie zu den vom Repräsentativorgan verabschiedeten Legislativakten? In einem paradoxen Verhältnis zu diesen Grundfragen steht die Verfassungslage, nach der die Länderverfassungen direktdemokratische Elemente
* Erweiterte Fassung eines Vortrags, den d. V. am 27.10.99 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer im Rahmen des 3. Speyerer Demokratieforums gehalten hat. Für die Herstellung des Skripts bin ich Frau U. Seybold-Schryro, Karlsruhe, zu großem Dank verpflichtet. I H. H. von Amim, Die Verfassung hinter der Verfassung, in ZRP 1999, S. 325 ff. 2 So auch die Ergebnisse einer Parlamentarierbefragung in: W. Patzelt, Neuere Repräsentationstheorie, in: ZfP 1991, S. 166 ff.; ders., Repräsentanz, Repräsentation, Repräsentierte, Passau 1990, S. 196 ff. 3 a. a. O. S. 333. Vgl. zu dem historischen Hintergrund: D. Majer, Schlechte Erfahrungen mit plebiszitären Elementen, in: R. Herzog (Hg.) Zentrum und Peripherie, FS für Richard Bäumlin, Bem 1992, S. 55 ff. 4 Zur Legitimation des Repräsentativprinzips vgl. etwa 1. Agnoli/P. Brückner, Die Transformation der Demokratie, Frankfurt am Main 1968; 1. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973, C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1980; C. Nemitz, Wie legitimiert man eine Verfassung?, in RuP 4/96, S. 214 ff.
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Diemut Majer
in mehr oder weniger großem Umfang eingeführt haben 5 , das Grundgesetz hingegen solche Elemente auf der Ebene des Gesamtstaats nicht kennt, obwohl Art. 20 Abs. 2 GG sie prinzipiell vorgesehen hat. Paradox erscheint auch die wissenschaftliche Diskussion, die seit Anfang/Mitte der SO-er Jahre das Für und Wider plebiszitärer Komponenten im Verfassungsrecht untersucht und heute fast unübersehbar geworden ist6 : Sie ging/geht in erster Linie von der Politikwissenschaft aus, die eher für eine Stärkung plebiszitärer Elemente argumentiert, während verfassungsrechtliche Beiträge in der Minderzahl und eher ablehnend waren/ sind. Dieser Befund ist das Ergebnis von Auseinandersetzungen zwischen einer eher traditionalistischen und einer liberal-modernistischen Richtung. Die erstere, noch mehrheitlich vertretene Auffassung manifestiert sich in einer durchwegs negativen Behandlung plebiszitärer Forderungen sowohl in der jüngeren7 wie in der älteren Literatur8 . Die Ablehnung plebiszitärer Forderungen im traditionalistischen Schrifttum erschöpft sich dabei keineswegs in verfassungsrechtlichen Argumenten, sondern ist Ausdruck eines tiefsitzenden Kulturpessimismus, ein Instrument des Unbehagens an den Erscheinungsformen der modemen Demokratie (und das heißt auch: ihrer zahlreichen Partizipationsrechte) überhaupt 9 , die S. dazu unten näher Ziff. 9. Zur plebiszitären Beteiligung in der neuesten Situation vgl. z. B. die Beiträge von B. Blanke/H. Schridde, H. Wallmann und P. C. Dienel in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24-25/99 (11.06.99); ferner die Beiträge von K. Niciauß, W. Luthardt, C. Helms, in: a.a.O., B 14/97 (28.03.97); W. Gessenharter und M. Osterland, in: a. a. 0., B 50/96; ferner: St. Muckei, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid wirksame Instrumente unmittelbarer Demokratie in den Gemeinden, in: NVwZ 1997, S. 223 ff.; H. P. Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das GG, Baden-Baden 1999, jeweils mit zahlr. Nachweisen. 7 Eine Fülle von Beispielen bietet z. B. I. Isensee/P. Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, unveränderte 2. Aufl. 1995; Bd. 11, 2. unveränderte Aufl., 1998; Bd. III, 2. unveränderte Aufl., 1996; Bd. IV, 1990; Bd. V 1992; Bd. VI, 1989; Bd. VII, 1993; Bd. VIII, 1995; Bd. IX, 1997; Bd. X: Reg.bd. 1999; C. F. Müller-Verlag, Heidelberg. An diesem Werk sind 126 Autoren, fast 1/3 der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung, beteiligt, deren Liste ebenso beeindruckend ist wie die Liste der Nichtbeteiligten (vgl. im einzelnen die Rez. von H. Schulze-Fielitz, in: Die Verwaltung 1999, S. 241 ff.). 8 Vgl. etwa E. R. Huber in: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 1957, S. 3 ff., 11 ff. 13, der den Begriff der Nation in der Französischen Revolution ablehnt, weil er unmittelbar auf den Volksbegriff rekurriere. Dieser sei dem deutschen Begriff des Gemeinwesens, der Einheit, völlig entgegengesetzt: Huber konstruiert also Volk gegen die (monarchisch bestimmte) Einheit als konstitutionellen Gegensatz. 9 Vgl. Isensee, Handbuch, a.a.O., Bd. I, § 13 Rz. 47 ff., der von der Einheit spricht, die "der Staat" in der pluralistischen - antagonistischen Gesellschaft "herstellen" müsse. So auch Böckenförde, Handbuch, a. a. 0., Bd. I § 23, Rz. 83, 65, 35. Pluralismus und Interessengegensätze werden nach dieser Auffassung nicht als S 6
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sich z. T. in heftiger Polemik niederschlägt. So beklagt man die "bundesrepublikanische Volksdemokratie", die ein "Irrweg der Demokratietheorie sei 10; ebenso die "Volkskatecheseli", oder den "verfassungsmissionarischen Expansionseifer, wie er sich an den Ideen der Demokratie und der Menschenrechte entzündet" 12, wie überhaupt sich einige Beiträge durch eine Abwehr der Werte der Demokratie und der Menschenrechte 13 sowie eine mehr oder weniger deutliche Geringschätzung l4 sog. populistischer Verfassungsgrundsätze (wie z.B. Art. 20 a GG) "auszeichnen,,15. Der Begriff der Repräsentativität des Art. 20 wird in dem herrschenden Handbuch des Staatsrechts (J. Isensee/P. Kirchof) weit überbetont l6 , der Begriff des Volkes verharrt im Ethnisch-nationalen 17. Eine etatistische Demokratietheorie herrscht vor l8 . Im Gegensatz hierzu steht die zweite, eher liberale modernistische Richtung, die das Demokratiedefizit des Grundgesetzes beklagt l9 und für eine Stärkung der Volksrechte eintriu2o . "normale" Elemente der Demokratie, sondern als der vom Staat herzustellenden Einheit des politischen Gemeinwesens unterworfen betrachtet. Argumente, die auch von autoritären Systemen verwendet werden (Schulze-Fielitz, a. a. 0., S. 241, 256), weil Demokratie nicht vom Bürger her gedacht wird. 10 So B. O. Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: StW 5/1994, S. 305 ff.307. 11 Isensee, in: Handbuch, a.a.O., Bd. V, Rz. 203, 210. 12 Isensee, a. a. 0., Rz. 3, der an anderer Stelle von der "Neigung der postre1igiösen Gesellschaft, ihre Werte auf das Verfassungsgesetz zu projektieren", spricht (Handbuch, a.a.O., Bd. VII, § 162 Rz. 46). 13 Merten (Handbuch, a.a.O., Bd. VI, § 144, Rz. 22), spricht im Zusammenhang mit der Vereinsfreiheit von einer sentimental verschwommenen Mitmenschlichkeitsund Brüderlichkeitsideologie" (der Franz. Revolution). Ähnlich Isensee, der den Verlust des Nationsbegriffs, der "neurotisiert" sei, beklagt (a. a. 0., Bd. V, § 115, Rz. 106) und sich allgemein in Polemik gegen die sog. Wohlstandsgesellschaft und die Protestkultur der alten Bundesrepublik ergeht (a. a. 0., § 202, Rz. 36). 14 So sind z. B. von den 1700 Seiten der Bände VIII und IX des o. a. Handbuchs über die Einheit Deutschlands nur gerade 50 Seiten den Grundgesetzänderungen im Zuge der Wiedervereinigung gewidmet. 15 Art. 146 GG, der eine neue Verfassung der Volksabstimmung unterwirft, wird stark heruntergespielt. Art. 146 enthalte ein "Irritationsvolumen", so Lerche, Handbuch a. a. 0., Bd. VIII, § 198 Rz. 68. In diesem Kontext werden der Runde Tisch 1990 und sein Entwurf für eine neue Verfassung nicht einmal erwähnt. 16 Vgl. z. B. Krause, a. a. 0., Bd. 11, § 39 ff. 17 Vgl. Böckenförde, a.a.O., Bd. 11, § 22, Rz. 26 ff., 46 f.; Starck, a.a.O., Bd. 11, § 29, Rz. 41; ferner Krause a.a.O., Bd. IV, § 98, Rz. 290, der sogar das (inzwischen eingeführte) Kommunalwahlrecht für Ausländer für verfassungswidrig hält. P. Kirchhof (a.a.O., Bd. V, § 124 Rz. 127) hält ein Wahlrecht für EU-Ausländer auf Bundes- oder Landesebene für "völlig ausgeschlossen". 18 So auch das BVerfGE 93, 37 ff.; 65 ff. 19 Vgl. insbesondere Maihofer, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1994, S. 1699 (1712 ff.).
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Diemut Majer
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die (noch) herrschende Meinung beansprucht, die "klassische" Repräsentationstheorie zu verkörpern und plebiszitäre Elemente als dieser Theorie offen widersprechend ansieht bzw. diese (im Widerspruch zum Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 GG: " ... Sie [die Staatsgewalt] wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt") als eine Manifestation minderer Art21 gegenüber der Gesetzgebung durch das Parlament (Wahlen) betrachtet, die demnach auch jederzeit (wieder) umgestoßen werden kann 22 . Je gesamtstaatlicher, desto größer ist die Ablehnung direktdemokratischer Elemente bis hin zu der Auffassung, das Grundgesetz habe sich 1949 für die "strikt repräsentative Demokratie" (K. Stern), d. h. gegen jedes plebiszitäre Element entschieden. Das gilt auch für die europäische Ebene: Die EU-Rechtsetzung will "bürgernah" sein, aber von direktdemokratischen Elementen nichts wissen (während in der Politikwissenschaft auch für die EU-Ebene immer dringlicher die Einführung solcher Elemente gefordert wird23 ). Die oben genannten drei Grundfragen bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Betrachtung, die jedoch keine neuen Erkenntnisse oder Beiträge zu der inzwischen fast unübersehbaren Literatur zur Frage plebiszitärer Beurteilungsformen liefern, sondern einige Streiflichter auf die geistes- und verfassungsgeschichtlichen Bedingungen werfen will, aufgrund derer dieses Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Prinzipien entstanden ist, konkret: den Hintergrund für die bis heute Plebiszite mehrheitlich ablehnende oder abqualifizierende Betrachtung in der verfassungsrechtlichen und politischen Diskussion aufzuzeigen.
20 Überblick bei H. Dreier!J. Pemice, in : H. Dreier (Hg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 11, Art. 20 Rz. 37 ff.; zur Demokratiediskussion auf EU-Ebene a. a. 0., Art. 23, Rz. 51 ff. 21 V gl. z. B. J. Isensee, Ve1j'assungsreferendum mit einfacher Mehrheit? 1999, S. 39 ff. im Hinblick auf die Verfassungslage in Bayern, der sich gegen eine entsprechende Änderung der bayerischen Verfassung ausspricht, da Gesetzgebung durch Plebiszit nicht den gleichen Rang habe wie Gesetzgebung durch das Parlament (Anm. d. Verf.: Der Wortlaut der Verfassung geht von der Gleichrangigkeit beider Wege der Gesetzgebung aus, vgl. Art. 4 der Bay. Verfassung: Die Staatsgewalt wird ausgeübt durch die stimmberechtigten Staatsbürger selbst, durch die von ihnen gewählte Volksvertretung und durch die mittelbar oder unmittelbar von ihr bestellte Vollzugsbehörden und Richter. Vgl. auch Art. 72: Die Gesetze werden vom Landtag oder vom Volk [Volksentscheid] beschlossen). 22 Vgl. z. B. die Situation in Schleswig-Holstein, als ein Volksentscheid vom Frühjahr 1999 über die Ablehnung der Einführung der Rechtschreibreform in den Schulen nur wenige Monate später durch Beschluß des Landtags wieder aufgehoben wurde. 23 Vgl. statt vieler: B. Kohler-Koch, Regieren in der Europäischen Union in: "Aus Politik und Zeitgeschichte" B612000 (04.02.2000) S. 30 ff. m. w.N.
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Betrachtet man den historischen Hintergrund für die Ablehnung bzw. Skepsis gegenüber direktdemokratischen Elementen, muß man nicht nur auf die angeblich negativen Erfahrungen mit Volksabstimmungen in der Weimarer Republik zurückgehen 24 , die bis in die 80-er Jahre als Vorwand für die Ablehnung von Plebisziten dienten25 . Vielmehr muß der Blick bis in die Zeit der Aufklärung im 17./ 18. Jahrhundert zurückgehen. Es wird sich zeigen, daß aus dieser Zeit bis heute tiefsitzende Ängste stammen. Die Französische Revolution von 1789 hatte in Europa tiefgreifende Erschütterungen verursacht, die bis heute nachwirken, deren Dimension jedoch von einer heute weithin "geschichtslos" gewordenen Rechts- oder Politikwissenschaft ("a-historische Progressisten,,26) nicht erfaßt werden. Frühere Zeiten sahen das klarer. Im Kaiserreich und in Weimar war die Ablehnung der Volksrechte gleichbedeutend mit der Ablehnung des Volkes, d. h. des Volksbegriffes der Französischen Revolution, ja der Demokratie überhaupt, da diese in der herrschenden Geschichts- und Rechtswissenschaft untrennbar mit dem Volks- bzw. Revolutionsbegriff verbunden war. In der restaurativen Staatsrechtswissenschaft nach 1945 setzte sich dies fort. Dies zeigt z. B. die Polemik E. R. Hubers gegen den auf dem Volksbegriff fußenden Begriff der Nation in Frankreich, der dem deutschen Begriff Gemeinwesen völlig entgegengesetzt sei 27 , wie auch die Polemik der sog. Antipositivisten (Scheuner, E. R. Huber) nach 1945 gegen individuelle Menschenrechte. Statt eines klaren Bekenntnisses zu den Menschenrechten von 1789 mystifizierte die Naturrechtsrenaissance die Grundrechte als "höhere Wertordnung". Man wollte in Deutschland "nie revolutionär", gleichwohl aber Demokrat und Freiheitskämpfer sein28 . Selbst die sozialen Revolutionäre in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wollten nicht "Revolutionäre" sein, sondern nur die mit historischer Notwendigkeit von selbst eintretenden revolutionären Verhältnisse nutzen 29 . 24 Vgl. dazu R. Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, Düsseldorf 1971; O. Jung, Direkte Demokratie in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1989; ders. Direkte Demokratie in Deutschland, Ein geschichtlicher Abriß (1789-1990), Typoskript. 25 Vgl. O. Jung, Grundgesetz und Volksentscheid: Die Entscheidungen des Parlamentarischen Rates gegen Formen direkter Demokratie, Opladen 1994 m. N. 26 SO Z. B. die Klage des Zeithistorikers Gerhard Beier, Mitglied der Historischen Kommission beim SPD-Vorstand, in: Frankfurter Rundschau vom 01.08.1999. 27 Deutsche Verfassungs geschichte seit 1789, Bd. I, a. a. O. 28 Vgl. Z. B. den Nachruf auf Th. Eschenburg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13.07.1999. 29 So waren die sog. "linken" Parteien traditionell strikt gegen jede Aktivität auf der Ebene des Volkes (die als "Revolutionmachen" verstanden wurde) wie auch auf der Ebene der Parlamente, weil die Wirtschaftsprozesse gleichsam als historische Prozesse ablaufen würden, sodaß man nur abwarten müsse, bis die Notwendigkeit zur ,,revolutionären" Wende gekommen war, ein Fortschrittsglaube, der sowohl für
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Diese mehr oder weniger diffusen Vorstellungen über Grundfragen des Staats, der Staatsgewalt, der Demokratie und des Volksbegriffs sind bis heute nicht ausreichend geklärt, wie H. H. von Amim in der oben genannten Veröffentlichung unter Berufung auf E. Fraenkeeo dargelegt hae 1. Es geht letztlich um die Begriffe Volkssouveränität und Repräsentation. Diese Ungeklärtheit beruht darauf, daß Aufklärung und Französische Revolution sich in Deutschland nie vollständig durchgesetzt haben, weil die verfassungspolitische Entwicklung den umgekehrten Weg ging (Revolution von oben ohne Volk, konstitutionelle Monarchie). Die Folge war, daß Deutschland fast hundert Jahre lang - vor allem unter dem Einfluß der Historischen Rechtsschule - von der westeuropäischen Entwicklung und damit auch von der Entwicklung der Demokratie abgeschnitten blieb32 . Die genannten Vorstellungen von den Grundelementen des Staates spiegeln sich einerseits in den älteren, aus der Zeit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts stammenden Repräsentationslehren wider, die Beteiligungsrechte des Volkes außerhalb politischer Wahlen ausschloß, ja, diese geradezu als Gegensatz zur Repräsentation sah, während die neuere Repräsentationstheorie im Grunde ähnlich argumentiert und Volksrechte im repräsentativen System allenfalls als Ausnahme zulassen will, etwa bei Verfassungsänderungen. Ansonsten sei sie ihr jedoch "wesensfremd,,33. Demgegenüber betrachteten die progressiven Strömungen, schon am Ende des 18. Jahrhunderts (wie die sog. Hebertisten in der Französischen Revolution) wie auch im 19. Jahrhundert Volkssouveränität und Repräsentation nicht als Gegensatz, die Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung sogar als wesensnotwendiges Element der Repräsentativverfassung 34 . Auch das Bundesverfassungsgericht hat im sog. Volksbefragungsurteil (BVerfGE 8, l04ff.) ausgeführt, daß Karl Marx wie später für die Sozialdemokratie unter Kautsky und Bernstein gilt. So konnte das Diktum entstehen, daß die SPD keine "Revolution machende, wohl aber eine revolutionäre Partei sei" (Kautsky, zit. nach I. Fetscher, Kautsky-Bernstein zwischen Praxis und Glauben, NG 1-2/2000, S. 34 f. 30 E. Fraenkel, in: E. Fraenkel (Hg.), Reformismus und Pluralismus, 1973, S. 337 ff. (344). 3\ a.a.O., S. 333. 32 vgl. dazu D. Majer, Französische Revolution und europäische Grundrechtsund Privatrechtsentwicklung, in: H. Barta/R. Palme, Naturrecht und Privatrechtskodifikation, Manz-Verlag, Wien 1999, S. 137 ff. 33 So z.B. Jürgen Gebhardt auf der o.g. Speyerer Tagung 27.-29. 10.1999: Das Plebiszit in der repräsentativen Demokratie. Das Referendum sei "weder für noch gegen den Verfassungsstaat", es sei ihm "einfach wesensfremd". 34 Vgl. z. B. die Erläuterung zum Erfurter Programm der SPD von 1892: Die Forderung der direkten Demokratie durch das Volk sei die "naturnotwendige" Folge der Repräsentativverfassung, sie diene als "Mittel der Aufsicht" der parlamentarischen Arbeit (Schönlauk, in: Kautsky/Schönlauk, Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm, 2. A. (1893), S. 34 ff.
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Volksbefragungen35 prinzipiell Teil der Mitwirkung des Bürgers bei Ausübung der Staatsgewalt seien (auch wenn, wie hier, die Befragung nicht rechtsverbindlich sei), hat also einen Widerspruch zwischen Volkssouveränität und Demokratie nicht gesehen36 . Die Wurzel all dieser Dissense liegt bei Rousseau, bzw. in der Interpretation seiner Konzeption von Volkssouveränität in der Französischen Revolution. Danach sollte, um den Begriff Volkssouveränität mit der aus technischen Gründen in einem Flächenstaat erforderlichen Volksvertretung zu retten, nicht die Staatsgewalt an sich, die das Volk innehatte, sondern nur deren ,,Ausübung", wie es in der französischen Verfassung von 1791 heißt, besonderen Organen der Volksvertretung übertragen werden. Diese Interpretation griff mit dieser Konstruktion die von John Locke entwickelte (reine) Repräsentationslehre auf, indem sie die Vorbereitung für die Ausübung der Staatsgewalt (im Repräsentativorgan), d. h. die Auswahl der Volksvertretung durch Wahlen, bereits als Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk ansah. Die ursprüngliche Souveränität des Volkes zeigte sich also in Wahlen, war auf diese aber auch beschränkt. Die Ausübung der Staatsgewalt selbst oblag nur dem Repräsentativorgan. Rousseau selbst hatte allerdings klar erkannt, daß Demokratie und unmittelbare Mitwirkung des Volkes zusammengehören, ja, unter menschenrechtlichen Aspekten sogar Teil der individuellen Freiheit sind. In einer Passage in Du contrat social (1762, Teil 3, Kap. 15) schreibt er, daß das englische Volk, da seine Mitwirkungsrechte sich auf die Wahlen beschränken, sich täusche, wenn es meine, frei zu sein; nur während der Wahlen zum Parlament sei es frei; sobald dieses gewählt sei, lebe das Volk wieder in Knechtschaft; der Gebrauch, den es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit davon macht, verdiene wahrlich, daß es sie wieder verliere (Le peuple anglais pense etre libre; il se trompe fort, il ne l'est que durant l'election des membres du parlernent; sitöt qu'ils sont elus, il est esclave, il n'est rien. Dans les courts moments de sa liberte, l'usage qu'il en fait merite bien qu'illa perde)37. Wenn Rousseau hier von Volk und Wahlrecht spricht, wird allerdings ein Dilemma offenbar: Das Wahlrecht "mediatisierte" im 18. und 19. Jahrhundert das Volk in so hohem Maße, daß der größte Teil ausgeschlossen 3S Es ging um ein hamburgisches Gesetz vom 09.05.1958 über eine Volksbefragung über die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen und die Lagerung von Atomwaffen im Bundesgebiet. 36 Die Normenkontrolle wurde in dem o. g. Fall nur deswegen für unzulässig erklärt, weil die Mitwirkung des Volkes durch Kompetenznormen rechtlich begrenzt sei, die vorliegend dem Bund exklusiv die verteidigungspolitische Kompetenz zuweise. 37 Vgl. dazu H. Klenner, Der innere Friede und die Menschenrechte in: O. Negt (ed.), Die zweite Gesellschaftsreform. Göuingen 1994, S. 179 ff.. 182. 3 von Amim
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blieb38, insbesondere die Frauen; das war so selbstverständlich, daß niemand darüber ein Wort verlor. Das Wahlrecht war seit der Französischen Revolution, die "theoretisch" Freiheit und Gleichheit für alle verkündete, an (Grund-)Besitz und/oder Steuerklasse geknüpft; sodaß das Repräsentationsorgan nur eine Minderheit der Bevölkerung repräsentierte. Das englische Parlament des ausgehenden 18. Jahrhunderts repräsentierte z. B. nur ca. 4 % der Bevölkerung, das in Frankreich von 1789: 2 %. Wegen dieser überwiegenden, nicht wahlberechtigten Mehrheit des Volkes war das Wahlrecht so restriktiv ausgestaltet. Man fürchtete nicht das Wahl volk (peuple), sondern sie, die populace, die mittellosen oder einkommensschwachen abhängig Beschäftigten, Handwerker, kleinen Händler, Dienstboten, abhängige Bauern; noch mehr fürchtete man den Pöbel (la canaille), der die Zuschauerkulissen der Revolution bildete oder in den Straßen randalierte. 1. Der Furcht vor diesen Volksrnassen und die restriktiven Wahlsysteme, letztlich die Repräsentationstheorie selbst, lagen offenbar tiefsitzende Ängste zugrunde: Sie können nur dadurch erklärt werden, daß damals der größte Teil des Volkes, eben jene mittellosen Schichten oder nur beschränkt Rechtsfähigen, nicht lesen und schreiben konnten, daher unwissend und zur Sachentscheidung als unfähig betrachtet wurden. Es mußte daher eine Vertretung von "klugen und weisen" Männern, wie es damals hieß, haben. Die Forderung Kants zur Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeie9 bedeutete in der Praxis nicht nur den Kampf um politische Rechte, sondern auch um Bildung. Denn Bildung erzog den Menschen zur Einsicht, zum rationalen Handeln. Natürlich wurde dies in den staatstheoretischen Schriften ganz anders fonnuliert. Die alten ständischen Ideen kehrten in der Fonn der Repräsentationstheorie wieder, indem nunmehr das Repräsentationsorgan als abgegrenztes Kompetenzorgan betrachtet wurde, das allein zur Sachentscheidung befähigt sei. Schon Montesquieu hatte ausgeführt: "Der große Vorteil der Repräsentanten besteht darin, daß sie fähig sind, die Angelegenheiten zu verhandeln. Das Volk ist keineswegs dazu geschickt ... . Es soll in die Regierungssphäre nur hineingelassen werden, um die Abgeordneten zu wählen .....40 Von der Ausgrenzung bestimmt war auch, wie erwähnt, die Französische Verfassung von 1791, die eine Versöhnung des Rousseau'schen Souveränitätsmodells mit dem John Locke'schen Modell
38 Das waren alle Personen ohne ein bestimmtes Mindesteinkommen, ferner alle beschränkt Rechtsfähigen (Dienstboten, abhängig Beschäftigte etc., vor allem aber die Frauen). 39 I. Kant, Ausgewählte kleine Schriften, Leipzig 1914, S. 1. 40 Vom Geist der Gesetze, hrsg. von E. Forsthoff, Tübingen 1951, Band 1, 219 f. Im allgemeinen könnten die Wahlbürger nämlich durchaus die Person der Kandidaten einschätzen (nicht aber die Sache selbst).
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der reinen Repräsentation unternahm: "Die Nation kann ihre Gewalt nur durch Übertragung ausüben" (Titel III Art. 2 Abs. 2)41. 2. Angst vor dem Volk hatten damals sowohl die regierenden Monarchen, wie die Flucht des französischen Königs nach Versailles im September 1789 zeigt, der erst durch den Marsch der 6000 Frauen von Paris am 5. Oktober 1789 zur Rückkehr nach Paris bewogen werden konnte. Angst vor dem Volk hatte auch die Französische Nationalversammlung, später der Konvent. Der Begriff des Volkes wurde, wie ausgeführt, über das Wahlrecht reduziert, das keineswegs ein allgemeines Wahlrecht, sondern an Besitz oder Einkommen (und damit an Bildung) geknüpft war. Aber auch dem Stimmbürger traute man eine unmittelbare Teilnahme an den Staatsgeschäften, und sei es auch nur in Form einer Wahl, nicht zu. Deshalb führte die Französische Revolution neben dem restriktiven Zensuswahlrecht, weitere Restriktionen ein: kein unmittelbares Wahlrecht, sondern ein indirektes Wahlrechtssystem (Wahlmännergremium)42, das in Frankreich bis ins 20. Jahrhundert beibehalten wurde (Charte Constitutionelle 1814). Eine Änderung im Sinne allgemeiner und direkter Wahl brachte erst die Verfassung von 1946, die die Grundlage der V. Republik war. 3. Die Angst der Regierenden vor dem Volk zeigte sich auch in den liberalen Verfassungen in Deutschland, die seit 1808 (Bayern) als Reformanstrengungen der Fürsten als Antwort auf die Französische Revolution zu verstehen sind. Das gilt einmal für das überall installierte Zweikammersystem des Herrenhauses und des Abgeordnetenhauses, ersteres rein ständisch nach Quoten (geborene Mitglieder) zusammengesetzt; auch das Abgeordnetenhaus bestand (mit Ausnahme Badens) keineswegs nur aus Volksvertretern, sondern hatte auch nicht unerhebliche ständische Elemente (geborene 41 Im theoretischen Ansatz zeigen sich erhebliche Unterschiede. John Locke's Theorie von der Gewaltenteilung will dem Volk die Gesetzgebung übertragen, das selbstverständlich ein Repräsentationssystem haben mußte; die Repräsentanten mußten Besitzbürger sein. Locke traut ihnen Klugheit und Weisheit zu. Es ist hier daher von einer ideellen Identität zwischen Volk und Regierung auszugehen. Rousseau sprach von der volonte generale, die sich im Parlament als Identität verkörpere, da eine direktdemokratische Partizipation aus technischen Gründen nicht möglich sei. Frei zur Entscheidung sei das Volk nur während der Wahlen. Aber dies sei keine Souveränitätsübertragung; nur die Ausübung der Macht wird übertragen, nicht der Wille, das Volk bleibt souverän. Das Repräsentationsorgan entscheidet - nach Locke ganz pragmatisch - nach Mehrheit (quantitativ). während die Repräsentationsidee streng genommen eigentlich qualitativ ist (Klugheit/Weisheit). Die Form der Repräsentation wird daher zum Inhalt, die Mehrheitsentscheidung ist zugleich die richtige Entscheidung. Rezipiert wurde von den Generalständen der Französischen Revolution nur Lockes Lehre, nicht Rousseau, die Volksherrschaft widersprach ihrem ständischen Denken. 42 D. h. die Stimmbürger wählten Wahlmänner. Diese Wahlmänner wählten dann die jeweiligen Repräsentanten.
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Mitglieder). Z.B. saßen in Bayern nach der Verfassung von 1818 in der Volksvertretung 3/4 Bürgerliche, 1/4 Klerus und Adel, in Württemberg (Verfassung von 1819) ebenfalls zu 1/4 Vertreter des Klerus, des Adels und der Universitäten. Die Angst vor dem Volk (und damit auch vor der Volksvertretung) schlug sich auch in Restriktionen für die parlamentarische Arbeit nieder. So lag in den Verfassungen der deutschen Länder des 19. Jahrhunderts die Gesetzesinitiative allein beim Monarchen, beide Häuser konnten nur unverbindliche Vorschläge machen. Das Zustimmungsrecht der Kammern für Gesetze bezog sich nur auf Gesetze, die Freiheit und Eigentum betrafen, alle anderen Materien entschied der Monarch in eigener Machtvollkommenheit (z. B. Militärwesen). In der badischen Verfassung (1818, § 75), die als besonders liberal gilt, war den bei den Kammern sogar jeder Rechtsverkehr untereinander untersagt; der Rechtsverkehr war nur unmittelbar mit der Behörde des Monarchen erlaubt. Das Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus war in diesen Verfassungen nur ein indirektes (Zensus), das von der Charte Constitutionelle 1814 übernommen worden war: Die Wahlmänner ihrerseits, die das Abgeordnetenhaus wählten, waren zudem noch gesetzlich quotiert (nur 113 wurden von den Steuerzahlern gewählt, 213 bestanden automatisch aus den Aktivbürgern der nächsthöheren Steuerklasse, § 139 württ. Verfassung 1819). Der Zensus knüpfte an Grundbesitz und Steuerklasse an (in Baden konnten, was als besonders fortschrittlich galt, zusätzlich auch Staatsdiener mit einem bestimmten Einkommen/Jahr wählen, § 36 Bad. Verfassung 1818). Das allgemeine und gleiche Wahlrecht galt als "Werkzeug der Revolution" und wurde einhellig abgelehnt. Hinter dem Zensuswahlrecht stand die Idee, daß nur der Besitzende Zeit für Bildung habe und damit zu Sachentscheidungen fähig sei. Die Aufklärer des 19. Jahrhunderts in Deutschland (von Humboldt, Frhr. vom Stein, von Hardenberg etc.) wurden daher nicht müde, die Notwendigkeit der Volksbildung zu fordern, da allein die Bildung des Volkes zu einer Stärkung des Liberalismus und der Demokratie führe 43 . Die Angst der Regierenden vor dem Volk zeigte sich auch in anderen Bereichen, z. B. in dem bisher in diesem Kontext wenig beachteten militärischen Bereich. In der Reformpublizistik der Napoleonischen Ära rühmte man (z. T. anonym, um nicht der "Franzosenfreundlichkeit" geziehen zu werden) unter rein militärischen Aspekten die Vorzüge der Revolutionsannee, des Volksheeres, wegen seines Enthusiasmus und seiner Flexibilität44 • 4S, während die Mehrheit der Militärs sowie die Politik der deutschen Fürstenhöfe alles beim alten beließ; man lehnte 43 Die Volksbildung nahm schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und in der Schweiz einen erheblichen Aufschwung, initiiert von bürgerlichen Aufklärern, aber auch, wie im Vormärz, durch frühsozialistische Bestrebungen innerhalb des sog. vierten Standes (Handwerker, Lohnarbeiter). 44 L. Herrmann (Hg.), Die Herausforderung Preußens. Reformpublizistik und politische Öffentlichkeit in napoleonischer Zeit, Ffm. 1998, S. 273, Anm. 10 m. N.
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das Milizheer, d. h. die aus "dem Volke" kommenden Soldaten ab, fürchtete, daß Bürgerliche Offiziere werden könnten und blieb beim absolutistischen System der stehenden Heere (in Linie)46, das in den Napoleonischen Kriegen sich bald als den beweglichen Formationen der französischen Volksheere unterlegen erweisen sollte. Das Ideal war der gelehrte Offizier, in dessen Überlegungen das Volk keine Rolle spielte. 39Er übte die "Kriegskunst" in der Weise aus, daß er in dem jeweiligen Gelände Massen von Soldaten gleichsam wie Figuren auf einem Schachbrett hin- und hergruppierte und den Gegner gleichsam auszustechen versuchte.
4. Die Angst der Regierenden vor dem Volke zeigte sich auch im Geistesleben. Hatte die Französische Revolution zunächst Begeisterung ausgelöst, weil sie die ständische Ungleichheit beseitigt hatte und Künder der allgemeinen Freiheit und Gleichheit war47 , schlug die Begeisterung seit September 1792 (Sturm auf die Tuilerien und Verhaftung Ludwigs XVI.) in Ablehnung um48 • Treitschke verspottete die Bewunderer des französischen 45 Hierzu gehörte vor allem Scharnhorst: Entwicklung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in dem Revolutionskriege, in: Neues MilitäIjournal 8/ 1791, S. 1-154, zit. nach Hemnann a.a.O., S. 275 FN 14. 46 A. a. 0., S. 274, 278 ff., 446. 47 Majer, Franz. Revolution, a. a. O. Man schaute nach Gallien. In Tübingen, Mainz, Jena, selbst in Berlin herrschte Begeisterung. Straßburg wurde zum "Wallfahrtsort" (Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Erster Teil, Leipzig 1927, S. Ill). 48 Im zeitgenössischen Schrifttum wimmelt es von Polemiken gegen das ,,rachsüchtige" französische Volk, das sich in nichts vom unsteten Pöbel unterscheide. Politische Freiheit führe nur zur Anarchie. So schreibt z. B. Wieland (Herausgeber der deutschen Blätter) 1789: Das französisches Volk sei eine "große", "edle", "mutund geistvolle Nation"; 1792: es sei leichtsinnig, eitel, aufbrausend, blutdürstig, rachsüchtig, in nichts unterscheide es sich vom unsteten Pöbel. Das Volk sei der schlimmste Herrscher (zit. nach Gouthier-Louis Fink, Wieland und die Französische Revolution, in: M. Hettling, Deutsche Literatur und Französische Revolution, Göttingen 1974, S. 5 ff., a. a. 0., S. 22). Politische Freiheit führe zur Anarchie (a. a. 0., S. 25). Die Menschenrechtserklärung ist die "berüchtigte Deklaration" (Müller-Seidel, Deutsche Klassik und Französische Revolution, in: Hettling, a. a. 0., S. 39 ff. (43». Für Goethe war die Revolution "das Schrecklichste aller Ereignisse" zit. nach Müller-Seidel, Deutsche Klassik und Franz. Revolution, in: Hettling, a. a. 0., S. 39 ff., 43. "Der Mensch ist zur Leibeigenschaft geboren" (zit. nach: C. David, Goethe und die Franz. Revolution, in: Hettling, a. a. 0., S. 63 ff., 67). Die Angst vor der Unberechenbarkeit des Volkes verlagert die Revolution in das Reich des Geistes, das zuerst die "gehörige Erziehung des Menschengeschlechts" verlange (Schiller), bevor das Reich der politischen Freiheit entstehen könne. Für die Verfassung müsse man die Bürger erst "erschaffen" Schiller 1793; näher Nolte, Republikanismus, Revolten und Reformen: Reaktionen auf die Französische Revolution in Deutschland 1789-1820, in: M. Hettling (Hg.), Revolution in Deutschland 17891989, Göttingen 1991, S. 8 ff., 12 ff. Fichte sah in der Revolution "die Aufgabe der Erziehung zum vollkommenen Menschen", Reden an die deutsche Nation 1807/08, zit. nach A. Stern, Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Berlin 1928, S. 219.
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Volkes als "hannlose oder treuherzige Zuschauer" und sprach von den "Greueln" oder der "Schreckensherrschaft" der Revolution, von den "Blutmenschen der Guillotine", von "den Barbaren", vom "Rückfall in alte politische Gleichgültigkeit,,49. Goethe klagte, "das Franztum störe die ruhige Bildung,,5o. Dieser "Befund" führt auch zur Wandlung des Begriffs des Volkes: Es besteht nicht mehr aus verschiedenen Gruppierungen (Bürger, Lohnarbeiter, Bauern etc.), sondern neigt zum Pöbelhaften: unberechenbar, launisch, grausam und willkürlich. Diese Einschätzung erfaßte auch die bürgerlichen Revolutionäre von 1848/49, die mehrheitlich an der Monarchie als Staatsform festhielten. Der linke Flügel, der die Republik wollte, wurde als "Demokraten" und zugleich als "Demagogen" verunglimpft und diese in diese Abwertung bald aller Revolutionäre bzw. Reformkräfte einbezogen 51 . Diese Einschätzung brachte auch die Welt der Philosophen und Dichter durcheinander. In der Ablehnung der Revolution verkörpert sich die Angst der Fürsten vor dem Volk. Es ergab sich somit folgende Gleichung: Revolution => Demokratie => "absolute Despotie" des "Volkes" => Schrecken/ Terror => Unberechenbarkeit/fehlende Kontrolle/Irrationalität.
5. Diese grundsätzliche Ablehnung des Volkes als politisches Subjekt zeigt sich insbesondere in der Herausbildung der sog. klassischen Repräsentationslehre in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, die als prinzipieller Gegensatz zum "Volk" und zur Volksherrschaft verstanden wurde. Sie führte wiederum zu einer grundSätzlichen Ablehnung der Demokratie überhaupt, während in England und Frankreich diese Trennung von Repräsentation und Demokratiebegriff nicht vollzogen wurde. Damit wurde die Macht der Fürsten gestärkt, die im 19. Jahrhundert durch die Mitwirkung der Repräsentationsorgane nur in wenigen Bereichen eingeschränkt wurden. Die strikte Beibehaltung des Klassen- und Zensuswahlrechts, die das Volk in Schranken hielt, blieb für sie oberstes politisches Ziel, auch wenn dies enormen politischen Zündstoff in sich barg und die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen längst mehr Mitsprache des Volkes verlangten. Am deutlichsten kommt dies in dem damals maßgeblichen Staatslexikon 49 H. von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Erster Teil, leipzig 1927, S. llO f. 50 Zit. nach Treitschke, a. a. 0., S. 112. 5\ Die Revolution sollte "von oben", von den Monarchien, kommen. Es ist eine Revolution ohne Volk, sie will alle Wohltaten ohne Opfer erreichen. Leopold von Ranke unterstellte in seinen Gutachten für den preußischen. König Friedrich Wilhelm IV, die er 1848 und in den folgenden Jahren erstellte, in denen er die politische Lage analysierte, den "Demokraten" [hier: den bürgerlichen Revolutionären] generell, sie würden "die Begierden der Nichtbesitzenden in den Kampf' rufen, und den ,,Pöbel" [d.h. das Volk] organisieren. Demokraten sind "Demagogen", M. Hettling 1848 - Illusion einer Revolution in: M. Hettling, Revolution in Deutschland, a.a.O., S. 27 ff. 39.
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von Rotteck und Welcker zum Ausdruck, die zu den führenden Vertretern der bürgerlichen Revolution gehörten. Den Abgeordneten des Repräsentationsorgans wird Rationalität, Sachkompetenz und Gemeinwohlorientiertheit zugesprochen, der Volksmeinung (dem Volkswillen) jede Bedeutung abgesprochen. Ja, sie ist gefahrlieh, weil sie das Repräsentationsorgan "terrorisiere,,52. Demokratie und Repräsentation werden zu Gegensätzen erklärt. Dem Argument, daß in den als Vorbilder der Demokratie gepriesenen Stadtstaaten der Antike die Teilnahme des Volkes immer eine unmittelbare (Volksversammlung) gewesen war, daß es auch im riesigen römischen Weltreich das demokratische Prinzip in Form der unmittelbaren persönlichen Stimmgebung der Bürger in der Vollversammlung (comitia tributa), wenngleich beschränkt auf bestimmte Angelegenheiten, gab, wird in der Staatsphilosophie und im politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts dadurch begegnet, daß diese Mitwirkungsformen "rohe Unmittelbarkeit" seien, die zum Terror führten; damit geht natrülich auch die Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts einher. Ihr Schrecken stammt aus der Französischen Revolution, wo "die Pariser Commune und die Clubs als unmittelbarer Ausdruck des sogenannten absoluten Volks willens die gesetzliche Repräsentation des Landes, die Nationalversammlung, terrorisiert hätten.,,53. 6. Auch die Revolutionäre selbst haben Angst vor dem Volk; nicht nur das o. g. Beispiel des indirekten Zensuswahlrechts seit der Französischen Revolution belegt dies, sondern auch das Verhalten der bürgerlichen Revolutionäre (1848/49), vorwiegend Liberale, die Vertreter einer gemäßigten Reformmonarchie sind und an sich gar keine Revolution wollen. Robert von Mohl, Staatsrechtier in Heidelberg und Reichminister in der Paulskirehe, aufgefordert, seine Ansicht zum Waffenstillstand von Malmö mit Dänemark öffentlich kundzutun, lehnt dies ab, denn dies könne nur bewirkt werden, "durch einen Aufruf an das Volk, das heißt durch Revolution, durch unsägliches Elend54 • (Hervorhebung durch Verf.). Die Revolutionäre halten an der Erbmonarchie fest, die Haupt der Exekutive bleibt; sie wollen nur das Gesetzgebungsrecht der Volksvertretung und die Abschaffung des Vetorechts des Monarchen. Eine Mitwirkung des Volkes lehnen sie ab, antifranzösische Ressentiments dominieren. Das Repräsentativorgan Parlament wird (obwohl vom Volk [Stimmbürger] gewählt), geradezu als Gegensatz 52 Die Verurteilung der Volks meinung (Das allgemeine Wahlrecht habe sich in Frankreich mit der "absoluten Despotie" [des Volkes] verbunden, während in England immer eine Repräsentativverfassung geherrscht habe), Staatslexikon, 3. A., 1860, 4. Band, Stichwort Demokratie, S. 345 f., ist Argumentationsmaterial auch für die Gegner unmittelbarer Volksrechte im 20. Jahrhundert, wenngleich in anderer Diktion (Anm. d. V.). 53 Rotteck-Welcker, a. a. o. 54 M. Hettling, 1848 - Illusion einer Revolution, in Hettling, Revolution in Deutschland, a. a. 0., S. 27 ff. 41.
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zum Volk stilisiert, das wiederum mit "zufallig zusammengelaufenen Menschenhaufen" gleichgesetzt wird 55 . 7. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts, weit entfernt von der Revolution, geistert das Phantom der Volksrnassen durch die politische Publizistik, die Unruhe und Anarchie stiften; dies steht in Zusammenhang mit den Ängsten der Regierenden und der besitzenden Eliten gegenüber dem Erstarken kommunistischer oder sozialistischer Ideen, der politischen Forderungen der Arbeiterbewegung, kurz, gegenüber den Strömungen, des sog. vierten Standes, nach politischer oder wirtschaftlicher Autonomie. Diese Entwicklung ging mit dem Kulturpessimismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine unheilvolle Verbindung ein, in dem das heraufziehende Industriezeitalter Befürchtungen des Besitzbürgertums vor Macht- und Besitzverlust56 , vor dem "Untergang des Abendlandes" (0. Spengler) oder dem Aufstand der der Massen" (Ortega y Gasset)57 weckte bzw. nährte. Das Volk hat in diesen wirren Anschauungen nicht mehr, wie noch im Vormärz, die Ten55 So heißt es bei Rotteck-Welcker, Staatslexikon, 3. A., 1860, 4. Band, Stichwort Demokratie, S. 344 ff.: "Die während der Bewegungsjahre 1848 und 1849 auch in Deutschland mehrfach vorgekommenen Versuche, das demokratische Princip bis zu jener schwindelnden Höhe hinaufzugipfeln, beziehendlich zu carikiren, dass jeder zufällig zusammengelaufene oder von einem Volksredner herbei gezogene Menschenhaufe sich als die unmittelbare Manifestation der Volkssouveränität darstellte und in dieser Eigenschaft nicht blos Regierung und Kammern der Gliedstaaten, sondern auch die Vertretung der gesammten Nation, das deutsche Parlament für rechtlos zu erklären sich unterfing, waren nichts als blosse Abklatsche französischer Musterbilder; denn dem germanischen Wesen widerstrebt von Haus aus ein solches absolutes despotisches Gebaren durchaus. Nur im engsten lokalen Kreise, in der altgermanischen Gemeinde, finden wir, wie es da natürlich war, die Gesammtheit der freien Männer unmittelbar in der Gemeindeversammlung ihre Angelegenheiten berathen; sobald dagegen das Gemeinwesen sich über diese lokale Beschränktheit zu einer wirklichen staatlichen Gemeinsamkeit ausdehnte, tritt alsbald auch für die demokratischen Elemente die repräsentative (vermittelte) Form der Darstellung und Geltendmachung des VolkswilIens in Kraft, und nicht blos in dem constitutionellen England, sondern selbst in dem republikanischen Nordamerika ist diese Form die durchaus vorherrschende und massgebende geblieben, das Volk hat sich dort wie hier beschieden, nur auf diesem Umwege, durch von ihm gewählte Beauftragte oder Abgeordnete seinen Willen kund zu geben, und weder hat London gleich Paris versucht, die Vertreter der Nation durch Volksaufläufe zu terrorisiren, noch ist man auf die Idee gekommen, das Volk in höchsteigener Person regelmässiger parlamentarischer Verhandlungen die höchsten Angelegenheiten des Staats entscheiden zu lassen." (Hervorheb.d.V.) 56 Vgl. z. B. die gegen die bürgerliche Eigentumsordnung gerichteten Schriften Pierre Proudohns (Begründer der Theorie des Anarchismus) vor allem: Qu'est-que c'est la propriete? (184011905), ferner: Systeme des contradictions economiques ou la philosophie de la misere (1846). Von Proudhon stammt auch der Satz: Eigentum ist Diebstahl. 57 La rebellion de las masas, 1929/31.
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denz zur Anarchie und muß kontrolliert werden (Metternich-Ära), sondern
ist von vornherein gleichbedeutend mit Anarchie, Chaos, Unruhe, Straße, Pöbel, ein Bild, das sich bis heute erhalten hat, wenn Politiker (wie der ehemalige bayerische Ministerpräsident Max Streibl 1992) im Zusammenhang mit plebiszitären Forderungen erklären, sie würden sich nicht dem "Druck der Straße" "beugen". Hier spiegelt sich deutlich die Trennung der Regierenden zwischen "sie" (d. h. Regierung, die ohne weiteres mit "dem Staat", d. h. der Legitimität gleichgesetzt wird), während das Volk gleichbedeutend mit "der Straße" ist und daher aus dem "Staat" ausgegrenzt58 wird. 8. Mit der zunehmenden Emanzipation des Bürgertums, dem Fortschritt im Bildungswesen, wächst die Angst der Regierenden vor dem Volk. Nun, da dieses lesen und schreiben kann, mußte sich die Idee des ausschließlichen Repräsentationsorgans (Parlament) neu legitimieren. Grundlage wurde ein qualitatives Kriterium: Der gute Charakter, den das Volk haben bzw. erringen muß, aus dem das Parlament hervorgeht. Gleichzeitig wandelt sich der Charakter des Parlaments: Es ist nicht mehr nur eine Versammlung Fachkundiger, sondern ist etwas Besseres/Höheres ("veredelter Auszug") als das Volk, wie es der Heidelberger Staatsrechtslehrer Johann Caspar Bluntschli 1864 beschrieben hat59 . Bluntschli spricht nicht, wie noch die Schriftsteller der Aufklärung, von dem "unkundigen" oder "einfältigen 58 In diesen Kontext gehört auch die Angst vor der Räterepublik, die 1918119 für einige Monate in Bayern zur Herrschaft gelangt war. Die Idee Kurt Eisners, die Räte als "nahe Verbindung" zum Volk, als Verkörperung des Volks willens zu installieren, die neben Parlament und Regierung existieren und beide kontrollieren sollten, werden als "Kommunismus" abgelehnt und mit dem sowjetischen System gleichgesetzt; vgl. näher K. H. Pohl, Obrigkeitsstaat und Demokratie, in Manfred Hettling (Hg.), Revolution in Deutschland 1789-1989, S. 46 ff., 64 f. 59 "Die Abgeordneten ferner leiten wohl ihre Erwählung von dem Willen der Wähler ab, aber keineswegs ihre Rechtsstellung und nicht den Umfang ihrer Befugnisse. Die Wähler besitzen das Recht nicht, in die Gesetzgebende Versammlung zu gehen, dort zu berathen und Beschlüsse zu fassen, sie können es also auch nicht auf die Repräsentanten übertragen. (... ) Die Repräsentanten sind daher auch nicht an den Willen der Wähler gebunden, nicht von dert~n Aufträgen abhängig, nicht verpflichtet, Instruktionen von denselben anzunehmen. Der Inhalt der Repräsentantenrechte wird (... ) nicht von der Privatwillkür, sondern von dem Staate bestimmt. Die Abgeordneten sind in erster Linie überhaupt nicht Stellvertreter ihrer Wähler, sondern Repräsentanten des ganzen Volks. Sie sind berufen, nach ihrem besten Wissen und Gewissen das zu beschließen, was dem ganzen Staates frommt, gesetzt auch, die Mehrheit ihrer Wähler wäre damit nicht einverstanden oder würde sogar in ihren Interessen benachtheiligt. Das ist gerade der charakteristische Unterschied der modemen Repräsentativ- von der mittelalterlichen ständischen Verfassung, dass die modemen Repräsentanten vor allen Dingen die Einheit des Volkes und des Staats und die gemeinsamen Interessen vor Augen haben müssen, während die alten ständischen Vertreter zuerst die besonderen Interesen ihrer Stände vertreten hatten. (... )." (Deutsches Staatswörterbuch, herausgegeben von Johann Caspar Bluntschli und Karl Brater, Bd. 8, Stuttgart/Leipzig 1864, S. 587 f.).
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Volk", sondern von Gefahren der Leidenschaft, der Bestechung, der Gängelung etc., der das Volk unterliege. Das Volk und seine ständischen Vertreter sähen immer nur das eigene Interesse. Die Abgeordneten hingegen verträten die Einheit des Volkes; sie orientierten sich am Gemeinwohl, auch wenn die Wähler damit nicht einverstanden seien. Da das Parlament aber etwas "Besseres" als das Volk sein soll, wendet sich Bluntschli auch gegen das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das nicht dem Ideal einer "vollkommenen Repräsentation" entspreche. Die Gefahr unmittelbarer Volksbeteiligung wird somit in der Vermischung zwischen privatnützigen und öffentlichen Interessen gesehen. Die Staatsrechtslehre kommt allerdings in eine Sackgasse, wenn die Volksvertreter sich nicht mehr am Gemeinwohl orientieren. Hier bleibt nur die Zuflucht zu metajuristischen Kategorien: Das ist der "Volksgeist" und der "Volkscharakter", nur sie könnten eine Abwehr gegenüber korrupt gewordenen Repräsentanten darstellen: Bluntschli's Worte zur Gefahr der Korruption des Parlaments und dem Vertrauensverlust des Volkes gegenüber den Repräsentanten: " ... Das Gefühl der Unverantwortlichkeit und der politischen Omnipotenz berauscht nicht bloss absolute Fürsten, es berauscht zuweilen auch grosse repräsentative Versammlungen; und im Übennuthe beschliessen sie verderbliche Dinge und massen sich eine Gewalt an, die ihnen nicht zukommt. (... ) Oder allmählich nistet sich die Korruption ein, die Repräsentanten werden bestochen, bald gröber und unmittelbar, bald feiner und mittelbar durch besondere Vortheile, die man ihnen für ihre Anverwandten, für ihre Freunde, für ihren Wahlkreis u.sJ. verschafft, mit denen man ihre Stimmen erkauft. Eine Erneuerung der Repräsentation von Zeit zu Zeit ist daher durchaus nothwendig, um den Zusammenhang mit der Bürgerschaft zu bewahren und das moralische Verderbniss abzuwehren. . .. Alle Einrichtungen, welche die Staatsverfassung treffen kann, um den Repräsentativkörper gesund zu erhalten, haben nur einen relativen Werth. Sie können die Übel ennässigen, zuweilen heilen, aber nicht verhindern. Das Entscheidende ist auch dann der Volks geist und der Volkscharakter. Ist jener verkommen und dieser verdorben, so kann keine Repräsentation helfen, denn sie wird die Fehler des Volkes - vielleicht sogar in erhöhter Potenz - auch in sich haben ... " Dann gehe das Vertrauen (desVolkes) verloren und dann sei alles verloren ... 60.
haben auch heute, gerade angesichts der jüngsten Spenden- und sonstigen politischen Skandale, geradezu prophetischen Charakter. 9. Die Angst der Regierenden vor dem Volk ist auch in den Regelwerken auf Landesebene nach 1945 spürbar, in denen zwar plebiszitäre Komponenten eingefügt, die Hürden aber meist so hoch angebracht sind, daß sie nur in wenigen Fällen übersprungen werden können 61 , 62, Die Verfassungen der alten Bundesländer, die in ihrer ursprünglichen Fassung aus den ersten 60
Ebenda, S. 588 ff.
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Nachkriegsjahren stammen, sahen schon damals Volksbegehren und Volksentscheide vor, allerdings mit Quoren für Volksbegehren, die in einzelnen Bundesländern so hoch sind wie z. B. Quoren für Volksbegehren in Italien mit ca. 60 Millionen Einwohnern. Bei Volksentscheiden genügt zum Teil die einfache Mehrheit, z. T. werden aber Quoren, die sich nicht an der Zahl der Abstimmenden, sondern der Zahl der Stimmberechtigten orientieren, verlangt, sodaß eine niedrige Abstimmungsbeteiligung den Volksentscheid verhindern kann 63 . 61 Ausnahme: die bayerische Verfassung (1946), die für ein Volksbegehren 10 % der Stimmberechtigten (ca. 850000 Stimmen) verlangt, für die Volksabstimmung selbst aber die einfache Mehrheit der Abstimmenden genügen läßt (Art. 74). 62 Vgl. zusammenfassend: G. Jürgens, Direkte Demokratie in den Bundesländern - Unterschiede - Erfahrungen - Vorbild für den Bund? Stuttgart 1993. 63 So hat z. B. die Landessatzung/Verfassung Schleswig-Holsteins (1946) durch eine Verfassungsänderung 1990 in Art. 41 eine Volksinitiative mit einem Quorum von 20000 Stimmberechtigten, in Art. 42 Volksbegehren mit einem Quorum von 5 % der Stimmberechtigten, für Volksentscheide in Art. 43 allerdings ein Quorum von 25 % der Stimmberechtigten, die positiv votieren müssen, festgelegt. Nordrhein-Westfalen (1949) hat 1992 Volksbegehren, die 20 % der Stimmberechtigten verlangen, eingeführt (bei 17 Millionen Einwohnern wären das 3, 4 Millionen), bei Volksentscheid genügt dann die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 68). Niedersachsen kennt seit 1993 Volksinitiativen, die 70000 Stimmen, Volksbegehren, die 10 % der Stimmberechtigten und Volksentscheide, die 25 % der Stimmberechtigten brauchen (Art. 47-49). In Baden-Württemberg hat das Volk zwar das GesetzesInitiativrecht (Volksbegehren), das von 1/6 der Stimmberechtigten gestellt werden muß, die darauf folgende Volksabstimmung (bei Nichtzustimmung des Landtags) bedarf jedoch der Zustimmung von mindestens 1h der Stimmberechtigten (Art. 60 Verf. Baden-Württemberg 1953). Die bremische Verfassung (1947) sieht für Volksbegehren (auf Erlaß eines Gesetzes) 1/ S der Stimmberechtigten vor, für den Volksentscheid eine Abstimmungsbeteiligung von mindestens 50 % der Stimmberechtigten, wobei dann jeweils die einfache Mehrheit entscheidet (im Fall der Verfassungsänderung braucht es allerdings mehr als 50 % Zustimmung der Wahlberechtigten (Art. 70, 72). Durch eine Verfassungsänderung von 1996 wurde der Volksentscheid für Verfassungsänderungen beschränkt. Anders als früher ist nunmehr eine Verfassungsänderung auch bei fehlender Einstimmigkeit in der Bürgerschaft ohne Volksentscheid möglich. Vgl. hierzu Brem. StGH vom 29.07.96, NVwZ 1996, 264 ff. (Die Antragsteller - 7 Bürger-(innen) aus Bremen - hatten vergeblich unzureichende Infonnationen der Landesregierung geltend gemacht). In Hessen (1946) bedarf das Volksbegehren 1/ S der Stimmberechtigten, beim Volksentscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 124). Rheinland-Pfalz (1947) verlangt für das Volksbegehren (auf Erlaß, Änderung oder Aufhebung eines Gesetzes oder auf Auflösung des Landtags) ein Quorum von 20 % der Stimmberechtigten; beim Volksentscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 109). Das Saarland (1947) verlangt für die Einleitung eines Volksbegehrens die Unterstützung von mindestens 5000 Stimmberechtigten. Es ist zustandegekommen, wenn es von mindestens 20 % der Stimmberechtigten unterstützt wird (Art. 99 Abs. 2). Für den Volksentscheid bedarf es der Zustimmung von mehr als 50 % der Stimmberechtigten (Art. 100 Abs. 3). Die Verfassungen Berlins (1950), Hamburgs (1952) und Niedersachsens sehen keinen Volksentscheid vor.
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Die Verfassungen der neuen Bundesländer kennen Plebiszite in größerem Umfang. Die Hürden zur Volksabstimmung sind niedriger, die Quoren für die Volksabstimmung allerdings ebenfalls beträchtlich 64 . Selbst diese Hürden scheinen jedoch schwer überwindbar zu sein65 . Ganz anders die Volksrechte in ausländischen Staaten mit vergleichbarer föderalistischer Struktur. Die Kantonsverfassung (Bern 1993) kennt z. B. Initiativen für Volksbegehren in vielfältiger Hinsicht66 : Das Quorum ist auf 15000 festgelegt, was leicht zu erreichen sein dürfte, da die Stadt Bern allein ca. 220000 zählt Einwohner und das Quorum - allein auf Bern bezogen - dann lediglich bei knapp 7 % liegt. Für Volksabstimmungen (obligatorische und fakultative) genügt jeweils die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 61 bis 63). Im Kommunalverfassungsrecht sind die Hürden z. T. ebenfalls hoch gehängt; so sind in Baden-Württemberg für ein Bürgerbegehren 15 %, für einen Bürgerentscheid 33 % der Stimmberechtigten vorgesehen (§ 21 Abs. 3 GemO)67, was solche faktisch unmöglich macht, wenn es nicht gelingt, die Mehrheit aller Bürger zu mobilisieren. Schon die "Erfolgsquoten" der Bürgerbehren sind niedrig 68 . Wohl als Ausgleichs- und Befriedungsstrategie 64 Die sächsische Verfassung (1992) verlangt für Volksinitiativen 40000, für ein Volksbegehren 15 % der Stimmberechtigten, mindestens aber 450000 Unterschriften, für den Volksentscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Sachsen-Anhalt (1992) (mit ca. 2,3 Millionen Einwohnern) verlangt für Volksinitiativen mindestens 35000, für Volksbegehren 250000 und für den Volksentscheid 25 % der Stimmberechtigen (Art. 80, 81). Die thüringische Verfassung (1993) verlangt für Volksinitiativen 0,8-1,3 % Stimmen der Stimmberechtigten, für Volksbegehren 14 % der Stimmberechtigten und für den Volksentscheid 113 der Stimmberechtigten (Art. 82) Mecklenburg- Vorpommem (1993) verlangt für Volksinitiativen 15000 Stimmen, für Volksbegehren 140000 Stimmen, und für den Volksentscheid 113 Zustimmung der Stimmberechtigten (Art. 59, 60). Brandenburg (1992) sieht in Art. 22 nur allgemein Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid vor (Art. 22), überläßt jedoch die Details dem einfachen Gesetzgeber. Vgl. den Überblick in M. Vette, Volksgesetzgebung in Brandenburg, in: RuP 4/96, S. 218 ff. 65 So kamen z. B. 1990-1996 Volksbegehren in Brandenburg nicht zustande (Vette, a.a.O., S. 219 f.) 66 Auf "Total- oder Teilrevision" der Verfassung, Erlaß, Aufhebung oder Änderung eines Gesetzes, Kündigung oder Aufnahme von Verhandlungen über Abschluß oder Änderung eines interkantonalen oder internationalen Vertrags, soweit er der Volksabstimmung untersteht" sowie auf Ausarbeitung eines Großrats- (kantonales Parlament) Beschlusses, welcher der Volksabstimmung untersteht. (Art. 60). 67 Art. 21 Abs. 3 S. 5 fordert in Gemeinden unter 50000 Einwohnern die Unterzeichnung durch mindestens 3000 Bürger, in Gemeinden zwischen 50000 und 100000 Einwohnern durch mindestens 6000 Bürger, in Gemeinden zwischen 100000 und 200000 Einwohnern durch mindestens 12000 Bürger, in Gemeinden von mehr als 200000 Einwohnern durch mindestens 24000 Bürger. 68 Das hohe Quorum im Kommunalrecht Baden-Württemberg setzt z.B. voraus, daß sich z. B. bei einer Einwohnerzahl von 60000 und einer Zahl von 50000
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sind jedoch weitere "Bürgerbeteiligungen" in die GemO eingebaut worden, so der Bürgerantrag und Informationspflichten der Gemeinde (§§ 20 und 20 a)69. Ein Blick auf vergleichbare ausländische kommunale Rechtsordnungen zeigt, daß es auch anders geht. Die der Volksabstimmung unterliegenden Materien sind - wie die Kommunalverfassung des Kantons Bem zeigt, sehr weit gefaßt 70 , die Quoren sind niedrig 7l . 10. Der weitgehende Ausschluß plebiszitärer Elemente bzw. deren hohe Hürden führten mit dem zunehmenden Informationsstand der Bevölkerung und den partizipatorischen Strömungen seit Ende der 60-er Jahre (Bürgerrechtsbewegung, ökologische Bewegung, Antiatomwaffenbewegung, Frauenbewegung, plebiszitäre Forderungen) ab Mitte der 80-er Jahre zu einer, wie oben bereits ausgeführt, ständig ansteigenden Frustrationswelle, die durch die Brüsseler Bürokratie, die zwar "bürgernah" sein, aber von Plebisziten nichts wissen will, und durch die Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR 1989/90 noch erheblich verstärkt wurde. Die dramatisch sinkenden Wahlbeteiligungen sind alarmierendes Signal für diese Frustration 72 . Die Regierenden haben dies erkannt und appellieren nun an die Bürger, die Dinge besser zu "verstehen". Es vergeht kein Tag ohne geradezu beschwörende Appelle aus dem politischen Raum und in den Medien, man müsse die Politik dem Bürger "verständlich" machen - insbeStimmberechtigten eine Zustimmungsquote von 16666 ergeben muß, was im idealen Fall eine Beteiligung der Stimmberechtigten von mindestens 32000 ergeben würde, wenn man von ca. 50 % Ablehnung und 50 % Zustimmung ausgeht. Oe facto läge sie natürlich weit höher. 69 § 20 GemO Baden-Württemberg sieht vor, daß "der Gemeinderat ... die Einwohner durch den Bürgermeister über die allgemein bedeutsamen Angelegenheiten der Gemeinde" (unterrichtet) und für die Förderung des allgemeinen Interesses an der Verwaltung der Gemeinde (sorgt). 70 So wählen z. B. die Bürger neben dem Gemeinderat auch die Gemeindeverwaltung. Das Organisationsreglement (vergleichbar in etwa der Hauptsatzung und dem Geschäftsverteilungsplan) unterliegt der Volksabstimmung. Das Gemeindegesetz kann weitere grundlegende und wichtige Gegenstände bezeichnen, die der obligatorischen Volksabstimmung unterliegen. Gemeinden und Gemeindeparlament können selbständig diese Gegenstände auch der fakultativen Volksabstimmung unterstellen (Art. 116). 71 Nach Art. 116 der Kantonsverfassung Bem liegt das Quorum für den Antrag auf Volksabstimmung bei nur 5 %. Nach Art. 117 Abs. I können 1/ 10 der Stimmberechtigten den Erlaß, die Änderung oder Aufhebung von Beschlüssen des Gemeindeparlaments oder der stimmberechtigten Gemeinschaft verlangen. Bei der Abstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Weitere Rechte enthält Art. 117 Abs. 2 und 3 a. a. O. 72 Z.B. (40% z.B. am 24.10.1999 in Baden-Württemberg bei den Kommunalwahlen); bei den EU-Wahlen am 06.Juni 1999: 45 % gegenüber ca. 60 % bei den EU-Wahlen 1995. Auch im Ausland sinkt die Wahlbeteiligung, so bei den schweizerischen Wahlen zum Nationalrat am 14.10.1999: Sie betrug nur 40 %.
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sondere nach verlorenen Wahlen oder sonstigen Negativereignissen für die jeweiligen Beteiligten. Eine weitere Variante der Verunsicherung der Politik sind die ebenfalls zunehmenden beschwörenden Appelle, der Bürger müsse "Vertrauen" in die Politik haben. Das "Verstehen" oder "Vertrauen" genügen aber immer noch nicht, die Regierenden fordern Akzeptanz. Akzeptanz, die in den Zeiten, in denen es keine oder nur eine rudimentäre staatliche Gesetzgebung gab, für den Monarchen von großer Bedeutung73 war, soll nun die Legitimation des Repräsentationsorgans und der Politik sein. Verstehen bzw. akzeptieren wird überhaupt zum Qualitätskriterium für die Politik, aus der Sicht der Regierenden: Die Bürger hätten nicht verstanden, die Presse habe nicht verstanden etc.; die Politik sei nicht verständlich, aus der Sicht des Volkes. Demokratietheoretisch suchen die Regierenden Verstehen und sogar Akezptanz/Zustimmung des Volkes nicht nur in Wahlen, sondern auch während der Legislaturperioden. Dies widerspricht an sich der "reinen", immer noch mehrheitlich verfochtenen Repräsentationstheorie, die des Verstehens, erst recht der Zustimmung oder Akzeptanz der Bürger gerade nicht bedarf. Das wirft Fragen auf: Worin liegt heute die Legitimation der Ausschließlichkeit der "reinen" Repräsentations-theorie, wenn das Volk lesen und schreiben kann, die Dinge "versteht", wenn es die gleiche oder gar bessere Sacbkunde als die Repräsentanten hat oder sich dieselbe (durch die modernen Kommunikationsmittel) verschaffen kann? Die Nichtbeantwortung dieser Grundfrage durch die Rechtswissenschaft führt zu immer stärker wachsenden Forderungen nach Einbau effizienter plebiszitärer Elemente auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene 74, die auch von höchsten Repräsentanten des Staates aufgegriffen wurden, wie etwa die Forderung des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog (1999) zeigt, den Bundespräsidenten direkt durch das Volk wählen zu lassen. Als Fazit bleibt festzuhalten, daß der Widerspruch zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklicbkeit immer stärker zutage tritt. Die Gegner plebiszitärer Volksrechte verlieren dabei nicht nur an theoretischen Argumenten, sondern lassen auch die Erfahrungen mit Volksrechten, d. h. den Erziehungsjaktor und Zeitfaktor, völlig außer Acht. Volksrechte erziehen zur Demokratie, der Frust der Bürger kann kanalisiert, Verantwortung kann gelernt werden, ebenso, daß man eine Entscheidung auch (finanziell oder politisch) vertreten muß. Die Erfahrungen in der Schweiz oder in anderen 73 Das "geheime" Einverständnis zwischen König und Volk - wie es Heinrich Mann in seinem Roman "Die Jugend des Königs Henri IV" und "Die Vollendung des Königs Henri IV" unübertroffen beschrieben hat. 74 Vgl. z.B. die Aktivitäten des Vereins "Mehr Demokratie e. V.", der seit 1998/ 99 versucht, in den Ländern mehr Bürgerbeteiligung auf der kommunalen Ebene über ein Volksbegehren zu erreichen.
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Ländern belegen dies (auch wenn Plebiszite zu teilweise merkwürdigen Ergebnissen führen 75 können). Meist pendeln sich die Dinge auf mittlerer Ebene ein. Plebiszit und Sachentscheidung sind entgegen einer weit verbreiteten Anschauung, kein Widerspruch. Dennoch sind substantielle Verbesserungen bisher nicht erfolgt. In der Gesetzgebung des Bundes und der Länder geht es nicht vorwärts. Es gibt Vorschläge, aber keine substantiellen Änderungen. Die Erfahrung zeigt zudem, daß die plebiszitären Regelungen auf Landesebene anscheinend zu kompliziert oder die Hürden zu hoch angesetzt sind76 • Die Regierenden betrachten plebiszitäre Elemente offensichtlich nicht als wesentliche Komponenten der repräsentativen Demokratie, deren Regelung überfällig ist, sondern als Angelegenheiten des politischen Ermessens, mit denen man sich befassen kann - oder auch nicht; derzeit erscheinen sie keineswegs als vordringlich. Was bedeuten Volksrechte, wenn die Regierenden eifrig an der Entmachtung der Nationalstaaten, d. h. ihrer eigenen Machtpositionen, mitwirken und auf die sog. Internationalisierung, auf die Europäische Ebene oder auf die angeblich unentrinnbare Globlisierung starren und von dort das Heil erwarten? Rousseau's Prophezeiung könnte sich bewahrheiten. 11. Die Angst der Regierenden vor dem Volk ist in anderen Ländern weniger manifest als im deutschen Verfassungsrecht. Während die Verheißung von Volksabstimmungen in Art. 20 Abs. 2 bis heute nicht umgesetzt ist, trauen fast alle ausländischen Verfassungen dem Volk mehr zu, aus dessen Wahlen sie ihre Macht beziehen. Selbst Albanien oder Algerien, um mit der alphabetischen Reihenfolge zu beginnen, kennen mehr Volksrechte 77 als das Grundgesetz, das Volkes Stimme nur für den Fall der Neugliederung des Bundesgebiets für relevant erachtet78 - ganz zu schweigen von der Schweiz, die mit ca. 6,5 Millionen Einwohnern (neben dem obligatorischen) das (negative) fakultative Referendum (Volksbegehren) gegen Bundesgesetze mit einem Quorum von nur 50000 Stimmen oder 8 Kantonen kennt und bei Volksabstimmungen die einfache Mehrheit genügen läßt79 . In der Bundesrepublik Deutschland mit ca. 80 Millionen Einwohnern würde dies einem Quorum von nur ca. 400000 Stimmen (für Volksbegehren) entsprechen; einzelne Bundesländer überschreiten die schweizerischen Quoren um mehr als das Zehnfache80 . Auch viele andere europäische VerWie z. B. 1999 die Abschaffung der Erbschaftssteuer im Kanton Zürich. Vg!. den Überblick bei M. Vette, Volksgesetzgebung im Lande Brandenburg, in: RuP 4/96, S. 218 ff. 77 vg!. den Überblick über Volksrechte in den Staaten der Welt, in: Gesetzgebung heute, Sondernummer Heft I, Bern 1997, S. 15 ff. 78 Art. 29 Abs. 2 bis 6 GG und Ausführungsgesetz vom 30.07.1979 zu Art. 29 Abs. 6 GG, BGB!. I 1317. 79 Art. 141, 142 der Bundesverfassung neu ab 01.01.2000. 75 76
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fassungen wie die Dänemarks 81 , Italiens 82 , Frankreichs 83 , Griechenlands 84 , Österreichs 85 und Spaniens 86 , kennen z. T. sehr weitreichende Volksent80 Schon Bayern mit knapp 9 Millionen Einwohnern, das hinsichtlich der Volksrechte an der Spitze der Bundesländer steht, verlangt für Volksbegehren ca. das Doppelte gegenüber der schweizerischen Regelung, nämlich mindestens ein Zehntel der Stimmen der Stimmberechtigten, was ca. 850000 Stimmen entspricht (Art. 74). Noch eingeschränkter sind die Volksrechte in Baden-Württemberg, das Volksbegehren an die Zustimmung von 1/6 der Stimmberechtigten geknüpft ist, was bei einer Einwohnerzahl von ca. 8 Millionen Einwohnern ca. 1,3 Millionen Stimmen entspricht (Art. 59). Beide Länderverfassungen verlangen also für Volksbegehren ein Quorum, das das Zehnfache und mehr der schweizerischen Regelung beträgt. Der entscheidende "Konfliktpunkt" besteht darin, daß die Regelungen in Deutschland (Bundesländer, Gemeindeverfassungsrecht) für Volksbegehren und meist auch für Volksabstimmungen stets an die Zahl der Stimmberechtigten anknüpfen und damit die Hürden hoch ansetzen, während die Schweiz dieses Junktim nicht kennt und nur eine absolute Zahl von Mindeststimmen festsetzten; das schafft Rechtssicherheit und erleichtert Volksbegehren. 81 Bei Übertragung von Befugnissen auf zwischenstaatliche Einrichtungen entscheidet das Volk, wenn die erforderliche Mehrheit im Parlament (5/6) nicht erreicht ist. (Art. 20 Abs. 2). Auf Antrag eines Drittels der Parlamentsmitglieder kann nach Verabschiedung eines Gesetzes ein Volksentscheid hiergegen beantragt werden. Für die Ablehnung der Vorlage sind allerdings mindestens 30 % der Stimmberechtigten erforderlich (Art. 42). Eine Volksabstimmung ist auch bei Verfassungsänderungen erforderlich (Art. 88). 82 Italien kennt Gesetzesinitiativen mit einem sehr niedrigen Quorum von 50000 (Art. 71 j) ferner ein negatives Referendum auf Verlangen von 500000 Bürgern (entspricht etwa dem Quorum auf Bundesebene in der Schweiz) oder 5 Regionalräten. Die Schaffung neuer autonomer Regionen bedarf des Volksentscheids ebenso falls 1/5 der Mitglieder des Parlamentes oder 500 000 Bürger oder 5 Regionalräte dies verlangen. Beim Volksentscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 71, 75, 132, 138). 83 In Frankreich kann der Präsident auf Vorschlag der Regierung jeden Gesetzesentwurf zum Volksentscheid bringen, der die Organisation der öffentlichen Gewalt, die Reform der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik die sowie die öffentlichen Dienste oder die Ermächtigung zur Ratifizierung eines Vertrages betrifft, der "Auswirkungen auf das Funktionieren der Institutionen hätte" (Art. 11). Der Präsident wird durch das Volk gewählt (Art. 89). 84 Der Präsident der Republik kann mit Beschluß der absoluten Mehrheit des Parlaments per Verordnung eine Volksabstimmung "über besonders wichtige nationale Fragen" anberaumen. Ferner ist ein negatives Referendum (gegen bereits verabschiedete Gesetze zu "wichtigen gesellschaftlichen Fragen") zulässig, falls 3/5 der Abgeordneten des Parlaments dies beantragen (Art. 44 Abs. 2). Der Präsident der Republik kann ferner "unter ganz außergewöhnlichen Umständen" Botschaften an das Volk richten (Art. 44 Abs. 3). 85 Österreich hat auf Bundesebene sehr weitgehende plebiszitäre Regelungen. Gesetzesvorlagen können mit Volksbegehren von 100000 Stimmberechtigten dem Volksentscheid unterworfen werden - das ist eine Erweiterung um mehr als das 10fache gegenüber dem Volksbegehren in der baden-württembergischen Verfassung. Jeder Gesetzesbeschluß kann zur Volksabstimmung durch Beschluß des Nationalrats, oder, wenn es die Mehrheit seiner Mitglieder verlangt, zur Volksabstimmung
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scheide (mit z. T. niedrigen Quoren). Das Rousseau'sche Erbe scheint hier nachzuwirken. Auch Finnland 87 , Irland88 , Portugal 89 , Schweden90 haben Volksabstimmungen in gewissem Ausmaß eingeführt. Zusammenfassend läßt sich feststellen 91 , daß 129 der derzeit 193 anerkannten souveränen Staaten auf der jeweils gesamtstaatlichen Ebene Volksrechte in irgendeiner Form kennen (Volksabstimmung, Referendum, Volksinitiative ), d. h. also fast zwei Drittel. In mehr als der Hälfte aller souveränen Staaten sind diese Rechte verfassungsmäßig verbrieft und zumindest in Teilen echte Oppositionsinstrumente. Geographisch gesehen zeigt sich, daß fast alle europäischen Verfassungen sowie alle Verfassungen des eurasischen Kontinents, ferner Australien, die meisten afrikanischen und in noch höherem Maße fast alle südamerikanischen Verfassungen direkte demokratische Rechte kennen. Angestoßen durch die jüngsten Spenden- und sonstigen Skandale in der politischen Parteienlandschaft ist allerdings die Debatte um Volksrechte in Deutschland auch auf gesamtstaatlicher Ebene wieder in Bewegung geraten - nachdem der Aufschwung der Debatte im Zuge der Wiedervereinigung in den letzten Jahren wieder zum Erliegen gekommen war. Die Angst der Regierenden vor dem Volk bzw. der (mediatisierten) Öffentlichkeit ist durch die jüngsten Skandale gestiegen. Es soll nun offensichtlich durch plebiszitäre Konzessionen beschwichtigt werden. Selbst aus Parteien, die sich im Zuge der Wiedervereinigung mit Händen und Füßen gegen plebiszitäre Elemente in der Verfassungsreform stellten und eine neue Verfassung kraft Volksabstimmung i. S. von Art. 146 GG vehement ablehnten92 , finden nun, die (bisherige) Ablehnung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene sei heute "zu überdenken,m. Plebiszite sollen jetzt als eine "heilsame Bremse gestellt werden. In der Volksabstimmung entscheidet die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 41, 43, 45). Ferner ist eine Volksbefragung über eine Angelegenheit von grundsätzlicher und "gesamtösterreichischer" Bedeutung auf Beschluß des Nationalrats zulässig (Art. 49 b). 86 Spanien kennt Volksinitiativen für Gesetze mit einem Quorum von 500000 Stimmberechtigten, ferner eine konsultative Volksbefragung für politische Entscheidungen "von besonderer Tragweite" sowie Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen auf Antrag von 1/ 10 der Mitglieder des Abgeordnetenhauses oder des Senats, obligatorisch allerdings für Gesamtrevisionen (Art. 87 Abs. 2, 92, 168). 87 Finnland kennt nur eine konsultative Volksbefragung (Art. 22 a). 88 vgl. Art. 27, 46, 47 irländische Verfassung 89 vgl. Art. 118 portugiesische Verfassung 90 vgl. Art. VIII Ziff. 4 (konsultative Volksbefragung), Ziff. 15 (Volksabstimmung über Verfassungsänderung). 91 Vgl. die Synopse in der Sondernummer Heft I zu Gesetzgebung heute, Bern 1997, S. 11 ff. mit dem Titel Volksrechte in den Staaten der Welt (FN 77). 92 SO Z. B. die damalige CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag unter ihrem Vorsitzenden Schäuble. 4 von Amim
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gegen eine allzu üppig um sich greifende Parteienherrschaft" wirken 94 . Konservative Staatsrechtslehrer, die bisher behaupteten, das Grundgesetz habe sich 1949 für "die strikt repräsentative Demokratie entschieden", bezweifeln nun, ob dies heute noch richtig sei95 . Volksrechte werden offensichtlich auch heute noch nicht als notwendiges Element der repräsentativen Demokratie, sondern als Konzession an den "Zeitgeist" verstanden. Der Kontext dieser "wiederbelebten" Debatte mit den jüngsten Parteiskanda1en ist dabei - den Akteuren wohl kaum bewußt - nicht zufallig. Zwar wirken die politischen Parteien bei der politischen Willensbildung nur "mit" (Art. 21 Abs. 1 GG), sie sind de facto jedoch, befördert durch die Rechtsprechung des BVerfG und der von Leibholz geprägten Fonnel von der "Mediatisierung" des Volkes nicht mehr durch das Parlament, sondern durch die Parteien96 , zu Verfassungsorganen geworden, oder umgekehrt: Der Staat ist zum "Parteienstaat" (Leibholz) geworden. Freilich scheint auch bei den derzeitigen Debatten die Angst der Regierenden (in Gestalt einflußreicher Meinungsbildner oder Mandatsträger) vor "dem Volk" - hier in dem Sinn von Öffentlichkeit verstanden - durch, wenn die ,juristische Gegenaufklärung,,97 die Aufklärungsbemühungen der Medien als "Rummel" bzw. als "semantischen Überbietungswettbewerb,,98 qualifiziert oder Verfassungsverstöße und sonstige Verfehlungen auf ein möglichst niedriges Niveau zu senken versucht (und die unmittelbare Geltung einschlägiger Verfassungsbestimmungen abstreitet)99. Freilich, da es derer zur Zeit gar so viele sind, besteht die Chance, daß die Angst der Regierenden vor dem Volk auch einmal positive Wirkungen zeitigt und hilft, V01ksrechte in substantieller Weise zu etablieren bzw. zu verstärken.
93 So Jürgen Rüttgers während des Landtagswahlkampfs in Nordrhein-Westfalen; auf Landesebene müßten die Quoren in Nordrhein-Westfalen gesenkt werden, wobei "bayerische Verhältnisse anzustreben seien", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.02.2000. 94 Vgl. Klaus Stern, Was bei den Finanzierungsregeln nottut, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.02.2000, S. 15. 9~ Stern, a. a. 0., die damalige Konzeption werde "immer zweifelhafter". 96 G. Leibholz war von 1951-1971 Richter des BVerfG. Nach ihm ist der "Parteienstaat" durch Art. 21 Abs. I GG "legalisiert". Der Volkswille erscheine "in der Wirklichkeit des modemen demokratischen großen Staates nur in den Parteien als politischen Handlungseinheiten" (vgl. dazu E. W. Böckenförde, Die Krise unserer Demokratie ... , zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.02.2000, S. 3. 97 So G. Frankenberg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.02.2000, S. 4. 98 1. Isensee, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.01.2000. 99 Isensee, a. a. O.
Schlechte Weimarer Erfahrungen? Von Reinhard Schiffers I. Die "Weimarer Erfahrungen": kein objektiver Maßstab
Wer über die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene diskutiert, begegnet unvermeidlich der Frage, warum das Grundgesetz die direktdemokratischen Verfahren nur auf der Ebene der Länder zugelassen hat. Die Antwort war Jahrzehnte lang die gleiche: Der Parlamentarische Rat habe wegen der negativen "Weimarer Erfahrungen" mit Volksbegehren und Volksentscheid von der Aufnahme direktdemokratischer Verfahren in das Grundgesetz abgesehen und sich für die Einführung einer strikt repräsentativen Demokratie entschieden. Das bekannteste Urteil stammt von Theodor Heuss, der die FDP im Parlamentarischen Rat vertrat. Für Heuss waren Volksbegehren "in der Zeit der Vermassung und Entwurzelung, in der großräumigen Demokratie die Prämie für jeden Demagogen". Die Forschung hat diese zunächst ungeprüfte Aussage, die endgültig zu sein schien, inzwischen korrigiert, indem sie zwei Wege gegangen ist. Zum einen hat sie mit verfeinerten Methoden und auf Grund neuer Quellen die Geschichte der ersten deutschen Republik mit Blick auf die direktdemokratischen Verfahren untersucht. Zum andem ist die Wissenschaft der Frage nach den Motiven und der Reichweite des Verzichts des Parlamentarischen Rates auf Volksbegehren und Volksentscheid nachgegangen. Dabei erwiesen sich die bisherigen Erklärungen nur aus einer Ursache als unzutreffend; als Ergebnis treten vielmehr Ursachengeflechte zutage. Dies gilt für die Beteiligungsformen, Initiatoren und Folgen der Volksbegehren in den Jahren 1922 bis 1932. Und es gilt auch für Pluralität der Meinungen im Parlamentarischen Rat über die unterschiedlichen Abstimmungsgegenstände und Abstimmungsmodalitäten bei direktdemokratischen Verfahren. Dabei ist zu bedenken, daß es die "Weimarer Erfahrungen" als eindeutige objektiv feststehende Erfahrung nicht gibt. Dies mag der Grund dafür sein, daß der Begriff in der Literatur überwiegend in Anführungszeichen gesetzt wird. Hier soll der Hinweis genügen, daß sich die "Weimarer Erfahrungen" trotz der Subjektivität der jeweiligen Standpunkte von ihrem Inhalt her analysieren lassen, so z. B. in den Rückblicken und Schlußfolgerungen der Verfassungsberatenden und -gebenden Versammlungen der Länder 1946-1947 4·
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und in denen des Parlamentarischen Rates 1948-1949. In seinen Argumentationen spielten die "Weimarer Erfahrungen" eine Rolle; interpretiert wurden sie jedoch aus dem jeweiligen parteipolitischen Blickwinkel. Dabei wurden keineswegs nur parlamentarisch-demokratische Verbesserungen des Institutionengefüges angestrebt. Die Berufung auf die "Lehren aus Weimar" diente auch dazu, eigenen Interessen und Zielen Nachdruck zu verleihen. Zu berücksichtigen ist auch, daß die "Weimarer Erfahrungen" an Bedeutung verlieren, zum einen wegen des zunehmenden zeitlichen Abstandes, zum anderen angesichts der überwiegend anerkannten Festigung und Bewährung der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik. In ihr erreichten die politischen Parteien die Anerkennung, die ihnen die Weimarer Verfassung versagt hatte. Im Verlauf von mehr als 50 Jahren wurden die Parteien - trotz eines unstrittigen und vielfach angemahnten Reformbedarfs - zu Elementen der Stabilität. Jeder Versuch, die "Weimarer Erfahrungen" zu bewerten, muß indessen bei der Ausgestaltung der sogenannten Volksrechte durch die Nationalversammlung von 1919 einsetzen.
11. Die direktdemokratischen Verfahren in der Reichsverfassung von 1919: verfassungsrechtliches Neuland und Kompromiß So verschieden die Argumente der Befürworter und Gegner der Volksabstimmung auch waren, gemeinsam war ihnen der Hinweis auf ihre Neuheit; sie wurde häufig als hemmend empfunden. Volksbegehren und Volksentscheid erschienen vielen als eine Größe, mit der man noch gar nicht rechnen konnte. Die Unsicherheit der Parteien äußerte sich in unterschiedlichen Vorstellungen über den Anwendungsbereich Zu dem Hauptargument, die direktdemokratische Beteiligung als Korrektiv des Parlaments einzusetzen, kamen die Motive, mit ihr die Exekutive zu stärken, ihren erzieherischen Wert und ihre besondere demokratische Substanz zu nutzen, dem Rätegedanken entgegenzuwirken und eine verbreitete radikaldemokratische Unterströmung aufzufangen. Übereinstimmung besteht heute darin, daß die Einfügung direktdemokratischer Verfahren in die Reichsverfassung von 1919 das Ergebnis eines Kompromisses zwischen sehr verschiedenen und zum Teil einander entgegengesetzten Bestrebungen war. Es waren weniger praktische Bedürfnisse als vielmehr das Zusammenwirken theoretischer Erwägungen. Dies gilt gleichermaßen für die Verschränkung der sog. Volksrechte mit den Kompetenzen der Legislative und mit denen der Exekutive. Festzuhalten ist auch, daß die Weimarer Reichsverfassung "in der Stunde höchster Not" entstand und eine "Verfassung für die staatliche Normallage" war (c. Gusy). Die Nationalversammlung von 1919 sah - im Wege der Kompromißfindung und als Ausdruck eines gewissen Perfektionismus - das direkt-
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demokratische Beteiligungsverfahren als mit dem parlamentarischen System vereinbar an, und sie baute es als "Korrekturmechanismus" in Art. 73-75 RVein (0. Jung). Keine der an den Verfassungs beratungen von 1919 beteiligten politischen Parteien war vorbehaltlos oder aus voller Überzeugung für Volksbegehren und Volksentscheid eingetreten. Deshalb ließ auch das Ausführungsgesetz zu Art. 73-76 RV auf sich warten. Erst mit dem Gesetz über den Volksentscheid vom 27. Juni 1921 schuf das Reich nach den Ländern Bayern, Mecklenburg-Schwerin, Lübeck, Baden, Lippe, Bremen, Hamburg, Sachsen und Hessen die gesetzlichen Grundlagen für die Anwendung der neuen Rechte. Das erste Volksbegehren auf Reichsebene wurde Ende 1922 zugelassen.
IH. Die direktdemokratischen Verfahren in der Verfassungspraxis 1922-1932: ambivalente Züge und sporadischer Gebrauch Volksbegehren als politischer Nebenschauplatz Nachdem weder die Reichsverfassung von 1919 noch das Gesetz über den Volksentscheid von 1921 etwas über das Rangverhältnis zwischen parlamentsbeschlossenen und volksbeschlossenen Gesetzen gesagt hatten, erwiesen sich die Versuche der Volks gesetzgebung seit 1922 als "ein Verfahren zweiter Wahl" mit unverkennbarem "Protestcharakter" (0. Jung). In der Praxis blieben Volksbegehren und Volksentscheide ein Nebenschauplatz der politischen Auseinandersetzung. Reichstags-, Landtags- und Präsidentenwahlen boten erheblich größere Agitations- und Mobilisierungschancen als die Mehrzahl der Volksbegehren. Somit erwiesen sich auf Reichsebene nur die beiden Volksabstimmungen über die Fürstenenteignung von 1926 und den Young-Plan von 1929 als "ein dramatischer Akt des Verfassungskampfs" (E. R. Huber). Dieser erste historisch-politische Eindruck findet seine Entsprechung in staatsrechlicher Perspektive. Angesichts der vorhandenen politischen und sozialen Spannungen, welche die Weimarer Republik von Anfang an belasteten, blieb die Anzahl der tatsächlich eingeleiteten Volksbegehren bemerkenswert gering. Zudem wurden von den insgesamt acht beantragten Volksbegehren auf Reichsebene lediglich vier vom Reichsminister des Innern zugelassen. Die Feinheiten des äußeren Erscheinungsbildes der sogenannten Volksrechte erschließen sich, wenn man die konkreter gewordenen Pläne für Volksbegehren auf Reichsebene einbezieht. Sie galten unterschiedlichen
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Zielen wie z. B. der Beschaffung von Siedlungsland für Aussiedler aus Polen, der Verbesserung der Kriegsopferversorgung, einer gesetzlichen Mietpreisbindung, der Wiederherstellung der durch die Inflation geminderten oder wertlos gewordenen Vennögen, der Aufhebung des § 218 StGB und der Rückgängigmachung von durch das Präsidialregime verordneten Lohnkürzungen. Daneben erwogen einzelne Parteien auch eine Entscheidung außenpolitischer Fragen durch Volksabstimmung, so vor der Verabschiedung der Gesetze zum Dawes-Plan 1924 und der Verträge von Locarno 1925. Von diesen aus unterschiedlichen Grunden nicht realisierten Aktionen, die zudem nicht alle gleichennaßen öffentIichheitswirksam waren, lassen sich zwar keine "Weimarer Erfahrungen" mit der Volksgesetzgebung gewinnen. Sie sind aber Ausdruck dafür, in weIchem Maße vor allem Verbände der Mittelschichten im Volksbegehren eine Möglichkeit sahen, Ziele zur Sprache zu bringen, deren Verwirklichung unterblieben oder durch TeiIIösungen vertagt worden war. Insgesamt gesehen hat der Gedanke an den Einsatz der direktdemokratischen Beteiligungsrechte die innenpolitische Diskussion "weit nachhaltiger bestimmt, als dies der übliche Verweis" auf die nur acht beantragten Volksbegehren auf Reichsebene "erkennen läßt" (K. Bugiel). Volksbegehren als "Parteibegehren ..
Zum äußeren Erscheinungsbild der Volksbegehren auf Reichs- und Landesebene bis 1933 gehört schließlich, daß alle bedeutenden direktdemokratischen Verfahren von Parteien durchgeführt oder zumindest von ihnen unterstützt wurden. Volksbegehren waren überwiegend "Parteibegehren". Die wenigen Volksbegehren, die beispielsweise mittelständische Gruppierungen in der Phase der relativen Stabilisierung von 1924 bis 1929 planten, blieben gerade deswegen ohne Erfolg, weil sie von den Parteien keine Unterstützung erhielten. Auch die spontane Volksbewegung für die Fürstenenteignung von 1925/26 war keineswegs erfolgsgewiß bis zu dem Augenblick, wo KPD und SPD das Volksbegehren zu organisieren und zu kanalisieren begannen. In der Auflösungsphase der Weimarer Republik ab 1929/30 gingen Volksbegehren fast nur noch von NSDAP und KPD aus, d. h. von auf die Zerstörung der Republik ausgerichteten Parteien. Dies galt nicht nur für den volksbegehrten Gesetzentwurf zum Young-Plan von 1929, sondern auch für die Versuche der volksbegehrten Parlamentsauflösung in den Ländern, denen dasselbe Verfahren wie bei Volksbegehren auf einen Sachentscheid zugrunde lag. Beispiele dafür sind der erfolglose Volksentscheid über die Auflösung des Landtags im größten deutschen Land Preußen 1931 und der
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erfolgreiche Volksentscheid im kleinen Oldenburg 1932. In bei den Fällen wurden formell verfassungsmäßig eingeleitete Volksbegehren als Kampfinstrumente einer antiparlamentarischen Obstruktionspolitik mißbraucht. Während lediglich die SPD 1932 noch einmal einen Sachentscheid des Volkes beantragte, setzten NSDAP und KPD 1931 und 1932 ausschließlich auf volksbegehrte Landtagsauflösungen mit anschließenden Neuwahlen. IV. Die vier großen Fälle versuchter Volksgesetzgebung
Der Fall "Fürstenenteignung"; ein ungelöstes Problem der Revolution von 1918/19
In den direktdemokratischen Verfahren und ihrer Praxis ist eine Ursache für das Scheitern der Weimarer Republik gesehen worden. Deshalb werden hier die vier wichtigsten Fälle versuchter Volksgesetzgebung auf Reichsebene näher betrachtet: Haben sie die Funktionsfähigkeit des politischen Systems beeinträchtigt und konnten sie zu einer Problemlösung beitragen? Beide Fragen schließen einen Blick auf die Stabilisierungsphase und die Auflösungsphase der Weimarer Republik ein. Der 1926 von KPD und SPD gemeinsam gestartete Versuch einer Volksgesetzgebung zur Enteignung der bis 1918 regierenden Fürsten eskalierte zu einer der umfassendsten politischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik seit der Revolution von 1918. Der ungewöhnliche Grad der Mobilisierung drückte sich im Ergebnis des Volksentscheids aus: 1926 stimmte nahezu die Hälfte der bei stärkster Wahlbeteiligung überhaupt verzeichneten Stimmberechtigten, nämlich 14,5 Mio. Bürger, für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten. Unter den Abstimmenden waren - über die Parteigrenzen hinweg - etwa 3,5 Mio. Stimmberechtigte aus Wählerschichten der Mitte und teilweise auch der Rechten. Der Volksentscheid bewirkte keine höhere Beteiligung der Stimmbürger als bei den Reichstagswahlen. Bekanntlich scheiterte der Volksentscheid an dem geforderten Beteiligungsquorum von 50 %, was etwa 20 Mio. Stimmen bedeutete. Die verfahrensrechtlichen Bedingungen und die parteipolitischen Strategien und Taktiken waren so eng miteinander verflochten, daß bis heute umstritten ist, ob der Volksentscheid bei einem niedrigeren Quorum mehr Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Die genannte Verflechtung macht es unmöglich, die Zusammensetzung jener Mehrheit, die den Urnen ferngeblieben war, zuverlässig aufzuschlüsseln: Sie bestand aus Sachgegnern, aus Befürwortern, die durch Boykott bzw. den entsprechenden Sozialdruck zum Fernbleiben genötigt wurden, sowie aus Desinteressierten.
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Eine solche Einschätzung muß kurz an den zugrunde liegenden Sachverhalt erinnern. Der im Herbst 1925 von der SPD vorbereitete Gesetzentwurf für ein Volksbegehren schloß noch kleinere Abfindungen an die Fürsten ein. Die KPD kam dieser Initiative mit dem Zulassungsantrag für ein Volksbegehren zuvor, das die entschädigungslose Enteignung der gesamten Fürstenvermögen zugunsten von Arbeitslosen, Inflationsopfern usw. vorsah. Da das Nebeneinander zweier Volksbegehren jedes einzelne aussichtslos gemacht hätte, schloß sich die SPD (unter dem vermittelnden Einfluß der Gewerkschaften) dem radikalen Begehren der KPD an. Möglich wurde das kommunistisch-sozialdemokratische Zweckbündnis durch die taktische, von der Komintern veranlaßte Rückkehr der KPD zur Einheitsfrontpolitik. Was die innenpolitische Stabilität der Weimarer Republik angeht, so wurde sie durch den ersten deutschen Volksentscheid vom 20. Juni 1926 nicht ernsthaft in Frage gestellt. Die Feststellung, daß auf den maximalen Gebrauch der Volksrechte eine maximale Stabilität der ersten deutschen Republik gefolgt sei, differenziert gewiß zu wenig. Tatsache ist indessen, daß die vor jenem Volksentscheid von der vereinigten Rechten beschworene Staatskrise ausblieb und die parlamentarischen Gremien trotz vorausgegangener Polarisierung bald zur geordneten Gesetzgebung zurückkehrten. Der Volksentscheid von 1926 ist u. a. als eine deutliche Demonstration für die Republik begriffen worden, die zudem den Tod des monarchischen Gedanken gebracht habe. Zumindest hat sie sein Sterben beschleunigt. Was den Beitrag des Volksgesetzgebungsverfahrens im Fall "Fürstenenteignung" zu einer Problemlösung angeht, so ist daran zu erinnern, daß das Verfahren ohne ein gesetzgeberisches Ergebnis zu Ende ging. Damit vermochte der Volksentscheid nicht die Funktion eines Schiedsspruchs zu erfüllen, die die Weimarer Verfassungskonstruktion ihm zugedacht hatte. Gleichwohl erwies sich das Votum von 14,5 Mio. Bürgern als gewichtige Vorgabe: sie veranlaßte die politischen Akteure zu Verhandlungen, auf deren Grundlage dann im Oktober 1926 der Vergleich zwischen dem Land Preußen und dem Haus Hohenzollern zustande kam. Dieses indirekte und nachträgliche Ergebnis nahm sich ohne Zweifel bescheiden aus im Vergleich zu der ursprünglichen Zielsetzung, war aber doch ein konkreter "Erfolg im Scheitern" (U. Schüren). Der Fall "Aufwertung": Verarmung und Protest der Mitte/schichten
Die in den Jahren 1925 bis 1927 vorbereiteten Volksbegehren durch den "Sparerbund - Dr. Best" und die "Reichsarbeitsgemeinschaft der Aufwertungs-, Geschädigten- und Mieterorganisationen" sowie eine geplante Initiative der durch Inflationskäufe Geschädigten zielten vor allem auf die Auf-
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wertung der in festen Geldbeträgen angelegten Vermögenswerte, die durch die Inflation wertlos geworden waren. Denn das Aufwertungsgesetz vom Juni 1925, das nur die Hypotheken mit 25 % aufwertete, alle anderen Schulden dagegen mit geringeren Sätzen, hatte Eigentumsverschiebungen und -zerstörungen nur teilweise rückgängig gemacht. Das Gesetz konnte die Entfremdung zwischen der Republik und den Geschädigten nicht heilen; ihre Probleme fanden in der Sozialdemokratie und bei den Gewerkschaften nur geringes Verständnis. Aber auch die DNVP entzog den Aufwertungsgeschädigten ihre anfängliche Unterstützung. Damit war das Volksbegehren kein "Parteibegehren" mehr. Die reale Erfolgsaussicht des schließlich nicht zugelassenen Volksbegehrens des Sparerbundes unter dem Oberlandesgerichtspräsidenten i. R. Dr. Best wird im Rückblick übereinstimmend als gering eingeschätzt. Von den sehr verschiedenen Gruppen der Mittelschichten schädigte die Inflation die Sparer, Hypothekengläubiger und Inhaber öffentlicher Anleihen am meisten. Diese Gruppen traf die nahezu völlige Entwertung aller Geldvermögen. Sie mußten die totale Entschuldung aller Schuldner einschließlich der öffentlichen Hände tragen. Mit dem Aufwertungsgesetz von 1925 hatten Parlament und Regierung immerhin anerkannt, daß dieser Bevölkerungsgruppe eine bloße Hinnahme des Geschehenen nicht zuzumuten war. Die Forderung des Sparerbundes nach einer 50 %igen Aufwertung erhielt auch insofern Rückhalt, als andere seriöse Vorschläge, z.T. aus dem Parlament, eine 40 %ige Aufwertung vorsahen. Schließlich blieben die beiden Aufwertungsinitiativen von 1925/27 nicht völlig erfolglos. Sie erbrachten immerhin kleine Korrekturen des umstrittenen Aufwertungsgesetzes von 1925. Wie realistisch die Forderung nach einer 50 %igen Aufwertung war, läßt sich weder aus der Sicht der Adressaten (Regierung, Parlamentsmehrheit, Wirtschaftsverbände, Reichsbank) noch aus der Notlagenperspektive der Initiatoren allein abschließend beantworten. Im Hinblick auf die Folgen des volksbegehrten Gesetzes stehen sich zwei Interpretationen gegenüber: zum einen die Bewertung als eine das gesamte politische System belastende "politische Richtungsentscheidung" (S. Meineke), zum anderen die wohl schlüssigere Einschätzung als "ein sekundäres Verfahren zur punktuellen und begrenzten Korrektur parlamentarischer Entscheidungen" (0. Jung). Tatsache ist, daß wenige Volksbegehren die Reichsregierung so in die Defensive drängten wie das Aufwertungsbegehren.
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Der Fall "Panzerkreuzerverbot": im Spannungs/eid zwischen ziviler und militärischer Gewalt
Am Anfang stand ein vier Panzerkreuzer umfassendes Bauprogramm mit einem Kostenaufwand von 500 Mio. Mark. Die zunächst noch in Opposition stehende SPD versuchte bei der Reichstagswahl von 1928, die Wähler u. a. mit dem Argument zu gewinnen, es sei ganz in ihre Entscheidung gelegt, ob diese für damalige Verhältnisse riesige Ausgabe für die Rüstung tatsächlich kommen sollte. Ihre eigene verteilungspolitische Formel lautete dementsprechend: "Kinderspeisung statt Panzerkreuzer". Als aber die SPD nach der Wahl Regierungspartei wurde und den Reichskanzler stellte, stimmten ihre Minister - aus koalitionspolitischen Gründen - im Gegensatz zur eigenen Fraktion für das Rüstungsprogramm, während gleichzeitig die Mittel für die Kinderspeisung gestrichen blieben. Dies bedeutete zweifellos eine Brüskierung vieler SPD-Wähler. In dem widersprüchlichen Taktieren der SPD spiegelte sich ihr ungeklärtes Verhältnis zur bewaffneten Macht seit 1918 wider. Dies bot der KPD eine willkommene Angriffsfläche. Geführt wurde der Angriff mit dem Volksbegehren für das Verbot des Panzerkreuzerbaus. Getroffen werden sollte die SPD als "Hauptfeind" und als "die rechte Gefahr in der Arbeiterbewegung". Daß das Volksbegehren erfolglos blieb, war vor allem der Isolierungsstrategie der drei "Weimarer" Parteien SPD, Zentrum und DDP sowie einer Führungskrise der KPD zuzuschreiben. Barg nun das Volksbegehren die Gefahr, daß mit ihm ein dauerhafter Verzicht auf jegliche maritime Rüstung festgeschrieben würde? Oder handelte es sich um ein normales Verfahren, gerade bei diesem Thema die Ausgaben für soziale und für militärische Zwecke einander gegenüberzustellen? Der eigentliche Grund für diese direktdemokratische Aktion lag tiefer. Nach 1918 war es nicht gelungen, die bewaffnete Macht organisch in die Verfassungsordnung der Republik und in ihre Gesellschaft einzufügen. Deshalb und mit Blick darauf, daß die Reichswehr illegal, unter Umgehung des Parlaments aufrüstete, und daß das Panzerkreuzerprojekt verteidigungspolitisch umstritten war, ist das Volksbegehren seinem Inhalt nach als ein legitimes direktdemokratisches Veto einzuschätzen. Diese Legitimität wurde aber zumindest teilweise dadurch wieder eingeschränkt, daß die KPD das Volksbegehren als Kampfmittel nicht nur gegen die SPD, sondern auch gegen die Republik insgesamt instrumentalisierte. Dieses Einschwenken der KPD auf einen neuen ultralinken Kurs war Ausdruck der von der Komintern im Februar 1928 veranlaßten Rückkehr der KPD zur revolutionären Taktik.
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Der Fall" Young-Plan ",' Die Revision des Versailler Vertrags als Dauerthema
Eine ungleich größere Belastung entstand für Regierung und Regierungsparteien aus dem Volksbegehren gegen den Young-Plan von 1929, der die Reparationsregelung des Dawes-Abkommens von 1924 ablösen sollte. Bei dieser Initiative handelte es sich um die einzige direktdemokratische Aktion der organisierten Rechten auf Reichsebene, die politische Bedeutung erlangte. Nach Auffassung der Reichsregierung und der sie tragenden Parteien, aber auch nach dem Urteil der Forschung, bot die Reparationsregelung im Young-Plan dem Reich Vorteile gegenüber dem damaligen Status quo. Hinzu kam die vertragliche Zusage der früheren Alliierten, daß sie die noch besetzten Teile des Rheinlandes bei Annahme des Young-Plans vorzeitig räumen würden. Trotz der im Vergleich zum Dawes-Abkommen erheblichen Milderung der Reparationsforderungen bot der Young-Plan noch genügend Anlaß zu begründeter Kritik: insbesondere die generationenlange Dauer der Reparationsbelastung und die nach wie vor hohen jährlichen Tilgungsraten. Schon bald nach Bekanntwerden des Young-Plans verbündeten sich seine innenpolitischen Gegner, nämlich DNVP, Stahlhelm, NSDAP, Alldeutsche, der Reichslandbund und kleinere Rechtsgruppen, im "Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren". Der von dem "Reichs ausschuß" als Volksbegehren vorgelegte Entwurf für ein "Gesetz gegen die Versklavung des Deutschen Volkes" (Kennwort "Freiheitsgesetz") ging in seinem Inhalt deutlich über den Bereich der Gesetzgebung hinaus. Der Entwurf forderte in § 1 den Widerruf von Art. 231 des Versailler Vertrags (weil die Anerkennung der Kriegsschuld der historischen Wahrheit widerspreche), in § 2 die unverzügliche Räumung der besetzten Gebiete (ohne Bindung an den Young-Plan). In § 3 untersagte der Gesetzentwurf die Übernahme neuer Lasten und Verpflichtungen gegenüber auswärtigen Mächten auf der Grundlage des Kriegsschuldanerkenntnisses. § 4 des Volksbegehrens forderte die Bestrafung für "Reichskanzler, Reichsminister und deren Bevollmächtigte" als Landesverräter (d. h. mit Zuchthaus), sofern sie den Bestimmungen der §§ 1 bis 3 zuwiderhandelten. Die politische Auseinandersetzung entfernte sich bald von der Kernfrage, nämlich der Abwägung zwischen dem alten und dem neuen Reparationsplan. Die mit der Waffe des Strafrechts bedrohte Reichsregierung bekämpfte ebenso wie die preußische Regierung das Volksbegehren massiv: durch den Einsatz von Geldmitteln zur Gegendarstellung, erstmals auch im Rundfunk, sowie durch die Androhung von Disziplinarmaßnahmen gegen Beamte, die sich dem Volksbegehren anschlossen.
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Das Volksgesetzgebungsverfahren gegen den Young-Plan gilt weithin als Paradebeispiel für die nachteiligen Auswirkungen von Elementen direkter Demokratie auf das Weimarer Regierungssystem. Dies gilt gleichermaßen für die ausdrückliche Kampfansage an den Staat von Weimar, das gezielte Eingreifen in spezifische Regierungsfunktionen, die bedenkenlose Propaganda und Agitation der "Nationalen Opposition" gegen das "System" und die Feststellung, daß Hitler durch seine Aufnahme als gleichberechtigter Partner in die antirepublikanische Front "salonfähig" wurde. Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen Volksbegehren und Volksentscheid gegen den Young-Plan weithin als "Durchbruch" für die NSDAP. Genauer besehen war der Vorgang weniger spektakulär. Der Trend zugunsten der NSDAP bei den Landtags- und Kommunalwahlen hatte bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1929, vor dem Volksbegehren vom September desselben Jahres, eingesetzt. Der darauf folgende Volksentscheid gegen den Young-Plan war für die NSDAP nur eine der von ihr demonstrativ geringschätzig behandelten ,,stimmzettelaktionen" , an denen sie sich zwar beteiligte, auf die sie aber keineswegs ausschließlich setzte. Zudem konnten die Parteien der "Nationalen Opposition" beim Volksentscheid von 1929 ihr Wählerpotential der Reichstagswahl vom Dezember 1928 nur zu 84,5 % ausschöpfen. Konsens besteht über die Kennzeichnung des Volksbegehrens von 1929 als das Gegenteil einer Volksbewegung. Ähnlich wie das Volksbegehren "Panzerkreuzerverbot" hätte das Volksbegehren gegen den Young-Plan eine inhaltliche Legitimität für sich gehabt, wenn die Initiatoren sich auf das zugrunde liegende Reparationsproblem beschränkt hätten. So aber machten sie diese Legitimität zunichte durch die Instrumentalisierung des Volksbegehrens als Kampfmittel, das auf die Zerstörung der Republik gerichtet war. Hier wie in den übrigen Fällen gilt indessen, den Unterschied zwischen den von den Initiatoren verfolgten Zielen und den tatsächlichen Auswirkungen der Volksbegehren im Blick zu behalten.
Folgen und Folgenlosigkeit der Volksbegehren
Ein Rückblick auf die vier bedeutendsten Volksbegehren auf Reichsebene ergibt, daß diese sich nur begrenzt als Beispiele für die Gefahr der Demagogie - so z.B. im Fall "Young-Plan" - heranziehen lassen. Dem generellen Demagogievorwurf steht nicht nur das Argument der unmittelbaren Folgenlosigkeit der Volksbegehren entgegen, sondern auch der konkrete Ausgang der Verfahren. In einem erkennbaren Gegensatz zu der rechtlichen Folgenlosigkeit der Volksbegehren stehen indessen ihre indirekten Auswirkungen.
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So fällt bei den Abstimmungen von 1926 und 1929 auf, daß sie ähnlich wie die Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht nicht zur Überwindung der in der Bevölkerung vorhandenen Gegensätze führten, sondern lediglich die Offenlegung ihrer zahlenmäßigen Stärke und damit eine Verschärfung der Gruppen- und Klassengegensätze bewirkten. Während die Volksentscheide über die Fürstenenteignung und das "Freiheitsgesetz" aus zeitgenössischer Sicht eine marxistische und eine antimarxistische Front gegenüberstellten, rückten die Volksbegehren aus den Mittelschichten deren Isolierung und Krisensituation ins Licht. Auch konnten sich für die Dauer der Abstimmungskampagnen politische Gruppen verbünden, die in ihren weitergehenden politischen Zielen entgegengesetzt und daher zu einer konstruktiven Politik unfähig waren. Eine andere mittelbare Folge lag in einem Legitimitätsverlust der Regierung und der Regierungsparteien insoweit, als ihre Abwehrstrategien gegen die Volksbegehren wiederholt verfassungswidrig oder nicht zweifelsfrei verfassungsgemäß waren. Dies galt etwa für das gegen die Aufwertungsinitiative vorbereitete "Abdrosselungsgesetz" . Dieses zeitgenössische Schlagwort meinte den Entwurf des Reichsministeriums des Innern für ein zweites Gesetz über den Volksentscheid. Dessen Ziel war, die Durchführung von zugelassenen Volksbegehren in weit größerem Umfang als bis dahin üblich den Initiatoren zu überlassen und die Beteiligung amtlicher Stellen auf das unumgängliche Mindestmaß zu beschränken. Der neue, nicht verwirklichte Entwurf hätte die Kosten weitestgehend auf die Antragsteller überwälzt und vor allem künftige Volksbegehren mehr oder weniger ihrer Öffentlichkeitswirkung beraubt. Weitere Beispiele für umstrittenes Regierungshandeln waren das Verlassen der dem Reichspräsidenten an gesonnenen Neutralität im Fall der Fürstenenteignung, das widersprüchliche Taktieren der SPD im Fall "Panzerkreuzerverbot" sowie der Einsatz des nur der Regierung zugänglichen Rundfunks und von Disziplinarmaßnahmen gegen Beamte im Fall "Young-Plan". In den genannten Fällen konnten sich die Gegner der Republik auf die Legalität und den demokratischen Charakter des von ihnen genutzten Volksgesetzgebungverfahrens berufen. Zu dieser Entwicklung hatte die Konzeption der Weimarer Verfassung beigetragen, die wohl verfassungswidrige Methoden, aber keine verfassungswidrigen Ziele gekannt hatte. Damit wurden in dieser Form legale Angriffe auf die Republik möglich. Insoweit sind die Legitimationsprobleme durch die Praxis der Volksgesetzgebung auf Reichsebene nicht geringer, sondern eher größer geworden. Dem ambivalenten Charakter der direktdemokratischen Politikinstrumente ist es zuzuschreiben, daß die Einschätzung ihrer mittelbaren Folgen nicht nur negativ ausfällt. So lag eine stabilisierende Wirkung darin, daß wiederholt oppositionelle Parteien und Gruppen durch ein Volksgesetzge-
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bungsverfahren auf einen verfassungsmäßigen Lösungsweg geführt wurden. Das Beschreiten dieses Weges wurde indessen dadurch erschwert, daß die Volksgesetzgebung in der Weimarer Verfassung eine vergleichsweise aufwendige und schwerfallige Alternative darstellte. Attraktiv genug erschien das Verfahren immer erst dann, wenn das Mißverhältnis zwischen Regelungsversprechen und Regelungskompetenz von Regierung und Parlament auf der einen Seite und den Regelungsmängeln auf der anderen Seite sehr große Ausmaße annahm.
v. Die Begrenztheit der "Weimarer Erfahrungen" Eine Analyse der "Weimarer Erfahrungen", die sich auf die vier bedeutendsten Volksbegehren auf Reichsebene beschränkt, ergibt zweierlei: a) das Erfahrungsgut ist nicht sehr groß und beschränkt sich b) vorwiegend auf die umstrittene Verfahrensgestaltung. Die Forschung ist sich weitgehend einig, daß in der "Fehlgestalt des Volksentscheids" (Tannert 1929) der Hauptgrund dafür lag, daß eine erfolgreiche Initiative zur Volksgesetzgebung praktisch ausgeschlossen war. Das Beteiligungsquorum für einfache und das Zustimmungsquorum für verfassungsändernde Gesetze von jeweils 50 % der Stimmberechtigten hatte zur Folge, daß das Fernbleiben von den Urnen mehr im Interesse der Sachgegner lag als die Mobilisierung von Nein-Stimmen beim Urnengang. Ein organisierter Abstimmungsboykott wie bei den Volksentscheiden von 1926 und 1929 konnte die Stimmbeteiligung weiter senken - und zwar "effektiv" durch die faktische Aufhebung des Abstimmungsgeheimnisses, "billig" durch die Einsparung der Mobilisierungslast und "sicher" durch die interpretative Vereinnahmung sämtlicher Nichterschienenen als überzeugter Sachgegner (0. Jung). Die Schlußfolgerungen aus diesem unbestrittenen Befund sind gegensätzlich. Eine Minderheitsmeinung geht dahin, daß die verfahrenstechnische Ausgestaltung der Volksgesetzgebung grundSätzlich mit nicht lösbaren Problemen belastet sei. Die Mehrheit der Forscher verweist dagegen auf die kaum umstrittene direktdemokratische Praxis in den westdeutschen Ländern seit 1946, vor allen in Bayern (und neuerdings auch in den neuen Bundesländern). Sie gilt als ein Beleg dafür, daß auf Landesebene ein zumindest diskussionswürdiges Erfahrungsgut vorliegt und daß die Verfahrensprobleme auf Landesebene, wenn nicht in allen Fällen als ganz gelöst, so doch nicht als Argument gegen die Volksgesetzgebung anzusehen sind. Eine weitere zentrale Frage betrifft die "Weimarer Erfahrungen" mit dem Parlamentarismus und den politischen Parteien. Wenn seit den achtziger Jahren zunehmend die Einführung von Volksabstimmungen auch auf Bundesebene gefordert wird, geschieht dies häufig mit dem Hinweis auf den defizitären Weimarer Parlamentarismus. Diese Kritik könnte den Gedanken
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nahelegen, dem Parlamentarismus von 1919 bis 1930 sei quasi monokausal das Scheitern der Weimarer Republik zuzuschreiben. Tatsächlich handelte es sich um einen multikausalen Sachzusammenhang. Die Krisen des Parlamentarismus in seiner Weimarer Ausgestaltung erwuchsen wesentlich, aber nicht ausschließlich aus dem Versagen der Parteien und damit auch der Wähler. Wenn das Parlament "nicht besser als seine Wähler" war (K. Schwabe), konnten dann - abgewandelt - die Volksbegehren inhaltlich besser sein als ihre Initiatoren, zumeist eben dieselben Parteien wie im Parlament? Insgesamt betrachtet läßt sich die sporadische Praxis der sogenannten Volksrechte nicht als wesentliche Ursache für die Weimarer Verhältnisse werten. Geht man davon aus, daß die Auflösung der Weimarer Republik das Ergebnis "eines sehr komplexen Ursachengeflechts" (E. Kolb) war, dann gibt es keinen Beleg dafür, daß die vier bedeutendsten Versuche der Volksgesetzgebung auf Reichsebene die allgemeine Radikalisierung "wesentlich begründet oder entscheidend vorangetrieben hätten" (C.-H. Obst). Auch die Sekundäreffekte waren nicht nur negativ. Im Rückblick auf diesen Befund und im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion hat nach wie vor die Einschätzung von Hennan Finer Gewicht: "Auf jeden Fall ist das Problem des Referendums das Problem der Qualität der in einem Lande bestehenden Parteien."
VI. Fazit Das Ergebnis ist eine "mangelnde Eindeutigkeit der historischen Wirklichkeit" (H. Möller). Die "Weimarer Erfahrungen" sind begrenzt und ambivalent. Sie stützen nicht die Befürwortung der Volksgesetzgebung als unentbehrliches Korrektiv der Parlamentsgesetzgebung. Die "Weimarer Lehren" stützen aber auch nicht die prinzipielle Ablehnung der direktdemokratischen Verfahren als ein pennanentes Risiko für das parlamentarische System. Was aktuell bleibt, ist das Problem der verfassungs gemäßen Mehrheiten in direktdemokratischen Verfahren.
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Schlechte Weimarer Erfahrungen?
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Artikel 146 GG. Ein unerfüllter Verfassungsauftrag? Von Hans Meyer
I. Vom Sinn, heute noch über Artikel 146 GG zu sprechen Artikel 146 GG spricht von einer besonderen Fonn der Verfassungsgebung. Nun haben wir seit 50 Jahren eine Verfassung und sie gilt auch "für das gesamte deutsche Volk", wie das Grundgesetz, um es auch dem Dümmsten klarzumachen, gleich an zwei Stellen konstatiert, nämlich in Satz 3 der "neuen" Präambel ebenso wie - wortgleich - in Artikel 146 GG selbst. Sollten wir nun das Volk aktivieren, nur damit es die geltende Verfassung auch offiziell und quasi notariell beglaubigt? Schwächen wir damit nicht nur die geltende Verfassung, weil wir sie auf diese Weise quasi als defizitär bezeichnen, und zwar unabhängig davon, wie hoch die Zustimmung, ja auch nur die Beteiligung an einem solchen Unternehmen wäre? Lohnt es sich überhaupt, dafür das Volk zu aktivieren? Wird es sich nicht für dumm verkauft vorkommen? Ich bejahe diese fast rhetorischen Fragen. Auch sehe ich keinen sonderlichen Sinn darin, aufzuklären, ob die zu Artikel 146 GG im Jahre 1990 vertretenen Rechtsansichten eigentlich dem Mindeststandard eines methodischen Anspruchs entsprechen. Ob zum Beispiel Isensee oder ich im Punkte Vereinigung und Artikel 146 GG recht gehabt haben, mögen Dissertationen klären, ist aber - jedenfalls für mich kein hinreichender Anlaß, mich heute noch mit Artikel 146 GG zu befassen. Man kann an Artikel 146 GG rechtsphilosophische und legitimationstheoretische Trockenübungen machen; man kann es aber auch lassen. Artikel 146 GG ist heute nur noch interessant als ein Instrument der Verfassungspolitik. In diesem Punkte wird er seine Bedeutung auch nicht verlieren; sie kann sogar eine gewisse Brisanz gewinnen. Das bedarf der Begründung. Würde man zum einen die verfassungspolitische Notwendigkeit einer durchgreifenden Verfassungsrefonn nachweisen können und zugleich nachweisen, daß sie nach Lage der Dinge über den nonnalen Weg der Verfassungsänderung nach Artikel 79 GG nicht realisierbar ist, wäre ein lohnendes Feld für Artikel 146 GG gefunden. Ich werde versuchen, diesen doppelten Nachweis zu führen. S*
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11. Zur Notwendigkeit einer Generalüberholung des Grundgesetzes Zunächst also zur Notwendigkeit gravierender Änderungen am Grundgesetz oder gar zu einer Generalüberholung. Ich sehe vier Felder. Das eine Feld ist der Föderalismus oder was aus ihm in den 50 Jahren geworden ist. Das zweite Feld betrifft die Finanzverfassung, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen geht es um ihren föderalen und kommunalen Aspekt und zum anderen um das Schuldenproblem, also um die Gefahr der Selbststrangulierung des politischen Systems. Das dritte Feld betrifft die parteienstaatlichen Wucherungen des Systems, das vierte schließlich das Verhältnis zu Europa. J. Der Zustand des Föderalismus
Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, der jüngste Regierungswechsel durch Wahlentscheid des Volkes und damit die relative Gleichgestimmtheit der Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat hätten, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht zwischenzeitlich wieder verändert hätten, unsere föderalen Probleme erledigt oder wenigstens erträglich gemacht. Ich halte schon die Rederei von der Blockadepolitik so lange der politische Rhetorik geschuldet oder schärfer: für Heuchelei, solange man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes akzeptiert, daß ein Gesetz als Ganzes und nicht nur im Hinblick auf die das Zustimmungsrecht auslösenden Bestimmungen der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Hält man es mit dem Bundesverfassungsgericht, dann ist der Bundesrat - verfassungsrechtlich gewollt - politische Gegenmacht, und man ist zum Kompromiß gezwungen. Freilich halte ich die Rechtsprechung für falsch und für ebenso korrekurbedürftig wie korrekturfahig. Dem Parlamentarischen Rat hat mit Sicherheit nicht vorgeschwebt, er habe mit seinen Zustimmungsregeln weit über die Hälfte der Bundesgesetze dem Veto des Bundesrates ausgesetzt. Das ist gleichwohl nur die äußere Seite des Problems. Wichtiger sind die innenpolitischen Konsequenzen. Mit der Ausweitung der Kompetenzen des Bundesrates wird eine Neigung der Landesfürsten bei "einfarbigen" Regierungen wie bei Koalitionsregierungen verstärkt, statt das politische System im Land zu stärken, die Mitsprache in der Bundespolitik zum Ziel des Strebens zu machen. Dies wird auf das Eleganteste unterstützt durch die Tatsache, daß die dominierenden Medien einen starken unitarischen. also auf den Bund und seine Politik bezogenen Charakter haben. Keines der Länder reklamiert zum Beispiel ein eigenes Steuerrecht. es ist viel schöner. die politische Verantwortung dem Bund zu lassen. Die Ungeheuerlichkeit. daß die Länder über Artikel 74 a GG einen Kernbereich ihrer Eigenstaatlichkeit. die Besoldung ihrer Beamten. aufgegeben haben. hat niemanden ernsthaft aufgeregt. Und die
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fast lächerlichen Vorschläge, die den Ländern für die Nutzung des neuen Artikels 72 III GG vorschweben, haben dieselbe Ursache. Das Verfahren der Länder im Rahmen des Artikels 72 III GG zeigt im übrigen, wie weit die Landesparlamente sich schon selbst aus ihrer ureigenen Funktion, der Landesgesetzgebung, verabschiedet haben. Obwohl es bei Artikel 72 III GG um die Wiedergewinnung von Landesgesetzgebungskompetenz geht, haben die Vorschläge zur Nutzung nicht die Landesparlamente, sondern die Landesregierungen gemacht. Wir haben eine deutliche Tendenz zur objektiven Entpolitisierung der Länder selbst, was die Landtage durchaus unter Legitimationsdruck stellt. Der nicht unerhebliche Aufwand eines parlamentarischen Systems für einen bloßen Verwaltungskörper wird begründungs bedürftig. Die latente Entpolitisierung der Länder hat unter dem Stichwort des Kooperativen Föderalismus zu einer weiteren, eher bedenklichen Tendenz geführt. Die Länder sehen sich - und auch hier wiederum spielen die Medien eine bedeutende Rolle - einem Vergleichsdruck ausgesetzt, dem man durch uniforme Regelungen ausweichen kann. Schwindet der politische Gestaltungswille in einem Land, so kann es sich schwerlich dem Uniformitätsdruck entziehen. Die Konsequenz ist, daß sich die einzelnen Fachminister über die jeweilige Ministerkonferenz zusammen schalten und einvernehmlich Regelungen ausarbeiten, die dann den eigenen Parlamenten mit dem Hinweis, man habe sich mühsam geeinigt und könne jetzt nicht einen Bruch dieser Einigung riskieren, mehr oder weniger oktroyiert werden. Da das Einigungsverfahren zwischen den Ländern sehr aufwendig ist, bedeutet dieses Verfahren zugleich, daß Abänderungen des einmal getroffenen Kompromisses nur mit außerordentlichem Aufwand und unter Inkaufnahme eines hohen Zeitverlustes realisiert werden können. Das Verfahren paralysiert das föderale System, weil es die politische Verantwortung nicht mehr zurechenbar, und es entparlamentarisiert, weil es die Parlamente tendenziell zu Opfern einer Erpressung macht. Diese Fehlentwicklungen besagen natürlich nichts darüber, daß auch der deutsche Föderalismus hinreichende positive Eigenschaften hat, um ihn mit Nachdruck zu verteidigen. Er erweitert die demokratische Teilhabe an den Staatsagenden, ermöglicht eine demokratische Organisation regionaler Angelegenheiten und organisiert insofern regionale Differenzen sinnvoll. Er erlaubt es, gesamtstaatliche Erschütterungen aufzufangen, und er bildet in nicht geringem Umfange das politische Personal für die Bundesebene aus. Für einen Staat in der Größe wie die Bundesrepublik, in dem es zentrifugale Kräfte, die sich selbst ernst nehmen, nicht gibt, scheint mir eine föderale Struktur unabdingbar. Ob freilich der konkrete Föderalismus regionale Differenz sinnvoll organisiert, hängt auch vom Zuschnitt der Bundesländer ab. Der deutsche Föde-
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ralismus in seiner jetzigen Gestalt ist im Westen nicht gewachsen, sondern mehr oder weniger das Produkt besatzungsrechtlicher Besonderheiten, was insbesondere auf die Sorgenkinder, den Stadtstaat Bremen und das Saarland, zutrifft. Daß die Vereinigung Deutschlands nicht als Chance erfaßt worden ist, zu großflächigeren Zusammenschlüssen im Osten und zu einer Revision im Westen zu kommen, erweist sich, je länger die Zeit ins Land geht, als ein Versagen. Die Länder haben ihrerseits bei der zum Teil radikalen kommunalen Territorialreform keine Rücksicht auf gewachsene Gemeinschaften genommen, so daß sie in meinen Augen eine ähnliche Rücksicht auch nicht für sich in Anspruch nehmen können. Die Kunstgebilde wie Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz haben, trotz des eher kuriosen Ausgangspunktes, in relativ kurzer Zei zu ihrer Identität gefunden; es ist nicht einzusehen, warum dies ohne allzu große Erschütterungen nicht auch unter heutigen Bedingungen möglich sein sollte. Das Thema der Länderneugliederung lenkt über auf das zweite Feld der fundamentaleren Reformnotwendigkeit, das ich beackern will. 2. Der Zustand der Finanzverfassung
Es ist sicherlich eine kurzsichtige Annahme, durch föderale Zusammenschlüsse würden finanzstarke Länder geboren. Das finanzschwache Bremen liegt in dem finanzschwachen Niedersachsen und das finanzschwache Saarland grenzt vollständig an das auch nicht gerade finanzstarke Land Rheinland-Pfalz. Und auch der Zusammenschluß ostdeutscher Länder ergäbe nicht schon von selbst ein finanzstarkes Land. Es käme freilich zu einer Entlastung von den Kosten der politischen Führung, wie das Bundesverfassungsgericht sie genannt hat. Sie sind im Verhältnis zum Gesamtbudget um so höher und also belastender, je kleiner das System ist. Größere Länder sind aber eher in der Lage, einen gut ausgebildeten administrativen Zentralapparat zu tragen, der sowohl wegen der innenpolitischen Anforderungen als auch der notwendigen auf Europa gerichteten Aktivitäten wegen für eine qualifizierte Erfüllung der Aufgaben notwendig ist. Die eigentlichen finanzverfassungsrechtlichen Probleme des Föderalismus sind freilich anderer Art. Das Kemübel der Finanzverfassung ist das Auseinanderfallen von politischer Verantwortung auf der einen und politischem Nutzen oder politischem Schaden auf der anderen Seite. Das beginnt bei der Steuergesetzgebung. Sie hat der Bund durch Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung über fast alle denkbaren relevanten Steuerquellen monopolisiert. Die Erträge kommen ihm aber entweder nur zum Teil oder gar nicht zu. An die Steuerbürger kann er also im schlimmsten Fall
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Wohltaten zu Lasten Dritter verteilen. Die Länder wiederum sind für keine Steuererhöhung verantwortlich, die ihnen finanziell und also politisch einen Nutzen bringt. Die Verantwortung trifft allein den Bund als Steuergesetzgeber. Da die Steuern neben der nun wahrlich nicht lobenswerten Schuldenmacherei die relevanten Einnahmequellen bilden, gibt es kein Korrektiv der Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung, wenn die Länder ihre politischen und damit finanziellen Bedürfnisse - von politischer Rücksichtnahme auf die eigene Bevölkerung unbelastet - artikulieren und beim Bund anmelden. Bei dieser Systematik ist die Aufrechterhaltung des Trennsystems, also der Tatsache, daß der Steuerertrag bestimmter Steuern insgesamt den Ländern (oder dem Bund) zukommt. wenig plausibel und als Ausweis der Eigenstaatlichkeit der Länder nachgerade lächerlich. Unter den gegebenen Umständen wäre es sinnvoller, alle Steuererträge in einen Topf zu werfen und einen Verteilungsschlüssel auszuhandeln. Dann würde zu einem der Streit darüber entfallen, wer nun mit der Last der konjunkturabhängigsten Steuer beladen ist. Und zum anderen würde jegliche Korrektur durch den Steuergesetzgeber, handele es sich um eine Erhöhung oder Senkung der Steuersätze oder um die meist als Subvention gedachten Steuerausnahmen, beiden oder allen Steuergläubigern Nutzen oder Schaden bringen. Viel wichtiger und erst Ausdruck echter Eigenstaatlichkeit wäre es, wenn man den Ländern - und im Prinzip auch den Gemeinden - selbst die politische Verantwortung für den Hauptteil ihrer Zwangseinnahmen übertragen würde. Daß dem die Notwendigkeit einheitlicher Steuergesetzgebung im Bund widerspräche, vermag angesichts der Tatsache wenig zu überzeugen, daß zum Beispiel im Gewerbesteuerrecht höchst unterschiedliche Steuersätze von Kommune zu Kommune akzeptiert werden. So kurios das in den Ohren vieler klingen mag, das Problem hat auch mit der Einbeziehung plebiszitärer Elemente zu tun, worauf noch zurückzukommen ist. Unverantwortlich ist aber auch, daß der Bund politisch favorisierte Ziele über die Gesetzgebung durchsetzen kann, während die Kosten dieser Gesetze entweder durch die Belastung der Verwaltung oder bei Geldleistungsgesetzen bis zu einem gewissen Prozentsatz auch durch die Belastung mit Geldleistungen bei den Ländern oder Kommunen liegen. Eines steht jedenfalls fest, durch eine bloße Korrektur unseres jetzigen Finanzverfassungssystems läßt sich der Grundfehler nicht beheben, eine Erkenntnis, die die Antwort auf die noch zu stellende Frage nach der Möglichkeit einer Reform notwendig beeinflußt. Der zweite Reformaspekt der Finanzverfassung betrifft das Haushaltsrecht oder, weil das so hausbacken und nach Rechnungshof riecht, die Kreditfinanzierung. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten eine horrende Staatsverschuldung aufgeladen. Wenn man alles zusammenrechnet, also den
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gesamten öffentlichen Sektor einschließlich der Schattenhaushalte, sind wir mittlerweile bei einer staatlichen Gesamtschuld von über zwei Billionen DM. Hier haben wir den seltenen Fall, daß Nullen einen erschrecken sollten; es sind zwölf an der Zahl. Es ist eine reine Augenwischerei anzunehmen, das seien eben die Kosten der Einigung gewesen. Wäre es so, dann könnte man sich darüber unterhalten, ob sie in dieser Höhe notwendig gewesen und vor allen Dingen, ob sie sinnvoll eingesetzt worden sind. Das wäre eine politische Debatte, aber keine strukurelle. Hier interessiert nur der strukturelle Aspekt. Tatsächlich haben wir selbst im Boomzeiten, also in Zeiten, in denen die Steuereinnahmen außerordentlich hoch waren, mehr ausgegeben, als wir eingenommen haben, ohne daß man auf die Fortdauer dieses Booms hätte spekulieren dürfen, wenn man die Politik nicht als Hasardspiel betrachtet. Das bedeutet nichts anderes, als daß wir erheblich über unsere Verhältnisse gelebt haben. Die Vorstellung, man könne mit den schuldenfinanzierten Ausgaben weiteres Wachstum anlocken, hat sich als Täuschung erwiesen. Man hat selbst dann noch mit der Wurst nach der Speckseite geworfen, als an dem Balken gar keine Speckseiten mehr hingen. Wir haben schlicht unseren Lebensstandard zu Lasten der nächsten Generation erhöht. Wir hatten also keine "Kriegskasse", als die Vereinigung mit ihren Lasten nahte, sondern pfiffen nachgerade schon aus dem letzten Loch, und das gibt keine schöne Melodie. Analysiert man dieses Verhalten, das in beiden großen politischen Lagern und bei den kleineren Koalitionspartnern, im Bund und in den Ländern und selbstverständlich auch in den Kommunen gehandhabt worden ist, so stößt man leicht auf die Erklärung, daß die politische Kaste eher Schulden aufnimmt, als sich der Gefahr einer Wahlniederlage aussetzt. Mit anderen Worten, die Unseriösität ist als eine Art Zwangshaltung zum Prinzip erhoben worden. Wie wir alle wissen, hat die verfassungsrechtliche Vorkehrung des Artikel 115 GG nichts genutzt. Hier ist offensichtlich Remedur angesagt. 3. Zum Zustand des Parteienstaates Der Parlamentarische Rat hat schwerlich die Phantasie besessen, wie fruchtbar sein Gedanke werden würde, die Parteien sollten bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Sie wirken mittlerweile überall anderswo eher mit. Sie wirken über die Ämterpatronage mit in der Verwaltung, haben die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten fest in der Hand, sitzen in der gesamten staatsnahen Wirtschaft, von den Sparkassen über die quasi-privatisierten Kommunalbetriebe bis hin zu den Aufsichtsräten der staatsnahen Unternehmen und in deren Vorständen. Man findet sie in den
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Sportverbänden. Bei den Verbandsvertretern der Wirtschaft wie der Gewerkschaften weiß man nie genau, ob sie zuerst Parteileute und dann Verbandsleute wurden oder umgekehrt. Man kann froh sein, daß sich Hochschulen und Kultur im wesentlichen noch resistent zeigen. Selbst in der Außenpolitik wirken die Parteien über ihre außerordentlich opulent finanzierten Stiftungen mit. Bei soviel Mitwirkung fragt man sich gelegentlich ob sie eigentlich noch Zeit haben, bei der Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Läßt man den letzten Bundestagswahlkampf Revue passieren, immerhin ein rechter Anlaß, das Hauptgeschäft zu betreiben, so hat man eher den Eindruck, daß die Mitwirkung in dem Versuch der reklamehaften Einwirkung sich erschöpfte. Das meiste wäre vielleicht wenig aufregend, wenn die Parteien im Volk wirklich Fuß gefaßt hätten. Die Mitgliederzahlen scheinen aber eher rückläufig zu sein und das bei einem insgesamt schon geringen Organisationsgrad. Eine Partei, die immerhin über 32 Jahre die Politik erheblich mitbestimmt hat wie die eDU, hat um die 600000 Mitglieder. Und wenn man die Nutznießer in den von der Partei eroberten Positionen und die hungrigen Nachfolger abzieht und gar noch die inaktiven Mitglieder, dann bleibt eine ganz schmale Basis für eine lebendige politische Partei. Daß sie den schon früh beschriebenen Oligarchisierungstendenzen in der Partei nicht standzuhalten vermag, ist fast unausweichlich geworden. Diese Tendenzen haben sich unter dem Grundgesetz nicht nur erheblich verfestigt, sondern ihnen ist auch eine feste finanzielle Basis geschaffen worden. Das Erscheinungsbild der ebenso allgegenwärtigen wie schwachen Parteien wird nämlich durch die Stärke jener Parteimitglieder aufgehellt, die es verstanden haben, Politik zu ihrer auch finanziellen Lebensgrundlage zu machen. Zunächst haben die Parteien einen unstillbaren Hunger nach dem Geld des Staates entwickelt, der auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nur mühsam zu stoppen war. In dauernd neuen Anläufen wurde das Gericht gezwungen, seine Rechtsprechung zugunsten der politischen Parteien zu revidieren; daran hat auch nichts geändert, daß zwischenzeitlich erhebliche kriminelle Energie aufgewendet worden ist, die freilich als Kavaliers-Energie verbrämt wurde, um sich bei der Wirtschaft oder anderen Freunden steuermindernd Geld zu besorgen. Als die Strategie gegenüber dem Bundesverfassungsgericht ausgereizt war, sannen die Parteien auf Auswege. Eine Umgehungsstrategie brachte sie schließlich dazu, ihre politischen Stiftungen stärker zu dotieren und, das ist viel wichtiger, die Partei im Parlament, also die Fraktion, zum Träger eines großen Mitarbeiterstabes und vielfältiger Finanzhilfen zu machen. Damit war das Geld da, wo die Parteioligarchien, nämlich die staatsbezahlten Berufspolitiker der Parteien sitzen. Die Fraktionen haben diesen Prozeß
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bis zum Exzeß getrieben und sich selbst die Rechtsform von juristischen Personen gegeben, ohne daß das jemanden sonderlich interessiert hätte. Sie können ihr eigenes Personal anschaffen, Schulden machen, Funktionsträgern Sonderbezahlungen garantieren und noch andere Dinge, die angenehm, aber schwerlich mit dem normalen Parlamentsverständnis zu vereinbaren sind. Mit etwa 2000 Parlamentariern außerhalb des kommunalen Bereichs und etwa 10000 parlamentarischen Bediensteten, von denen die Mehrzahl Parteigänger sein dürften, ist ein Koloß von staatsfinanzierten Parteileuten entstanden, gegen den die normale Mitgliedschaft keine Chance hat. Ich halte diese Entwicklung für korrekturbedürftig. Und Korrekturen sind auch möglich, ohne daß man in eine naive oder gar parteienfeindliche Position zurückfallen müßte. Das System neigt in seiner herrschenden Schicht zu einem beamtenmäßigen Sicherheitsdenken, das für manche Bereiche verständlich, für eine gute Politik aber alles andere als förderlich ist. 4. Zum Zustand der Verfassung im Blick auf Europa Ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, daß wir jahrzehntelang, offensichtlich ohne groß nachzudenken, die Politiker davon haben reden lassen, daß wir voranschreiten sollten zu einem vereinten Europa. Das ist ein schönes Bild der Geradlinigkeit. Was freilich das Ziel dieses Weges betrifft, so sind die Politiker, die so fleißig voranschreiten wollten, die Antwort bisher schuldig geblieben. Ich denke, wir kommen nicht umhin, anzuerkennen, daß wir uns auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat befinden und ich bin ganz sicher, daß wir dort eher ankommen werden als die deutsche Staatsrechtslehre bereit ist anzuerkennen. Auf der vorletzten Staatsrechtslehrertagung wurde ein Arbeitskreis Europäische Verfassung ins Leben gerufen und bei der Vorstellung, was dieser Arbeitskreis nun tun solle, fehlte der Hinweis, daß man, wenn man nicht nur defensiv denkt, sondern - sei es auch nur aus Vorsicht - auch positive Alternativen ins Auge faßt, sich ja vielleicht auch etwas zu unseren Anforderungen an eine europäische Verfassung einfallen lassen soll. Dazu gäbe das Grundgesetz Anlaß genug. Die Präambel sagt, auch nach der Neufassung, daß die Bundesrepublik von dem Willen beseelt sei "als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa" dem Frieden der Welt zu dienen. Es ist hier nicht die Rede von einem einigen Europa, sondern von einem vereinten Europa, und wir wollen nach dieser Präambel, der einige ja nicht müde werden, Normqualität zuzusprechen, gleichberechtigtes Glied in einem solchem vereinten Europa sein. Klingt das nicht wie eine bundes staatliche Vision, und gibt es nicht auch Anlaß, darauf zu pochen. daß wir wirklich gleichberechtigt sind und daher zum
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Beispiel nicht einen Abschlag bei den Abgeordneten des Europäischen Parlaments akzeptieren können, weil wir so groß sind? Auch der neue Artikel 23 GG sagt, daß die Bundesrepublik "bei der Entwicklung der Europäischen Union" mitwirkt, also nicht etwa nur "mitwirken kann". Was ist eine Europäische Union anderes als ein bundesstaatliches Gefüge? Was ihm noch fehlt, ist die eigenständige demokratische Legitimation, und auch hier macht man Schritt für Schritt den Weg zu einem wenigstens andeutungsweise parlamentarischen Regierungssystem. Auf das Bundesverfassungsgericht wird man sich nicht verlassen können. Es hat zwar eine Verfassungsbeschwerde gegen den Maastricht-Vertrag zum Erstaunen vieler für zulässig erachtet, um eine höchst defensive Haltung formulieren zu können; das hat freilich nur so lange gehalten, bis der Euro politisch durchgesetzt war und man nun lieber auf Unzuständigkeit plädierte, um sich nicht peinlichen Gegenfragen ausgesetzt zu sehen. Wir geben wesentliche Politikfelder an Europa ab; mit der Währungsunion werden zwangsläufig weitere große Felder folgen und wir tun dennoch so, als würden wir uns weiterhin an einem kleinen Bündnis beteiligen. Die Politik hat dem selbstverständlich Vorschub geleistet, indem sie jegliche ernstliche Debatte über das Ziel unseres Weges erst gar nicht aufkommen ließ. Der Euro wurde per Propaganda durchgesetzt, nicht kraft Überzeugung. Sollte in dieser Situation nicht eine Reformdebatte über das Grundgesetz Klarheit verschaffen, wie weit wir gehen wollen? 111. Zur Möglichkeit einer Generalüberholung durch Verfassungsänderung nach Art. 79 GG
Wenn Sie mir in der Notwendigkeit einer Generalüberholung des Grundgesetzes auch nicht in allen Punkten gefolgt sind, so glaube ich doch, daß hinreichend viel übrig bleibt und vielleicht der eine oder andere von Ihnen andere Gravamina stärker wertet als ich, so daß sich die Frage der Korrekturmöglichkeit stellt. Es wäre nur frustrierend, der Notwendigkeit ins Auge zu sehen, um dann feststellen zu müssen, daß keine Realisierungschance besteht. Läßt man auch nur die ersten drei der abgehandelten Schwachpunkte Revue passieren, nämlich den Zustand des Föderalismus, den der Finanzverfassung und den des Parteienstaates, so dürfte evident sein, daß eine etwas grundsätzlichere Reform auf dem normalen Weg des Artikels 79 GG, also durch ein Verfassungsänderungsgesetz, zwar theoretisch eine, aber praktisch keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Für keine relevante Änderung, die sich dieser drei Politikfelder annimmt, würde man eine
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Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates erhalten. Das Scheitern wäre vorprogrammiert, keinesfalls freilich in allen Fällen in jedem der bei den Verfassungsorgane. Eine Korrektur des föderalen Systems könnte im Deutschen Bundestag durchaus die notwendige Zweidrittelmehrheit erhalten, schwerlich aber im Bundesrat. Bei der Finanzverfassung würden, wenn nicht eindeutige Vorteile für den Bund oder für die Länder die Folge wären, vermutlich in beiden Verfassungsorganen eine so hohe Mehrheit nicht zustande kommen und bei dem Versuch, die parteienstaatlichen Wucherungen anzugehen, würde der Bundesrat sicher höflicherweise das Scheitern durch den Deutschen Bundestag besorgen lassen. Was die europäische Frage angeht, so schätze ich unsere tapferen Politiker so ein, daß sie lieber die Finger davon lassen als diese Frage zu thematisieren, weil sie in den großen Parteien mit Sicherheit, möglicherweise aber auch in den kleinen Parteien, höchst unterschiedliche Meinungen produzieren würde, die sich schwerlich kompromißhaft wieder zusammenführen lassen. Ich schätze die politischen Parteien so ein, daß es ihnen ganz recht wäre, wenn wir morgens aufwachten und echte europäische Staatsbürger wären und keiner so recht wüßte, wie es nun eigentlich passiert sei. Nun kennt die Verfassung freilich noch eine andere Möglichkeit, über die eine Generalüberholung gelingen könnte, nämlich den von vielen für ominös gehaltenen Artikel 146 GG. Ihn zu nennen, wirkt freilich so, als würde man einem repräsentationssüchtigen Teufel mit dem Weihwasserwedel drohen und dem plebiszitärsüchtigen die schönste Droge anbieten. Setzt man sich jenseits dieser Aufgeregtheiten mit dem Artikel auseinander, so muß man eine Antwort auf drei Fragen finden, nämlich, ob er überhaupt noch gilt, ob die dort vorgesehene Verfassungsgebung, falls das der Fall ist, an die Grenzen des Artikels 79 III GG gebunden ist, und schließlich und durchaus schwieriger, wie denn eine solche Verfassungsänderung zu bewerkstelligen wäre, damit sie überhaupt zustande kommen kann und nicht die selben Hemmnisse eintreten, die wegen der Mehrheitserfordernisse in Artikel 79 11 GG prognostiziert wurden; denn dann könnte man den Artikel 146 GG vergessen und ihn ruhen lassen. IV. Art 146 GG: Eine weginterpretierte Verfassungsnorm? Die erste Frage ist, ob sich Dornröschen aufwecken läßt oder ob der Prinz, schiebt man die Ranken zur Seite, vor einer schönen Leiche steht. In allen Textausgaben ist der Artikel 146 GG noch vorhanden. Er hieß bis zum Einigungsvertrag, also bis zum Jahre 1990: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Veifassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden
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ist." Im Einigungsvertrag ist der Artikel 146 GG um einen Halbsatz ergänzt worden und lautet nun: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit ... " usw. Damit ist der Geltungsanspruch des Grundgesetzes, "für das gesamte deutsche Volk" postuliert. Der Artikel 146 GG schmeckt vielen Kollegen - Kolleginnen haben sich meines Wissens in dem Punkte noch nicht hervorgetan - nicht. Was macht ein Staatsrechtslehrer, wenn er einen Artikel des Grundgesetzes für fatal hält. Er schafft ihn ab. Wie macht man das? Die eleganteste Form ist, man erklärt ihn für obsolet, seine Wirkung habe sich erschöpft. Die Schwierigkeit dieser These besteht darin, daß die Erschöpfung durch Nichtnutzung zustande gekommen sein soll. Das ist natürlich nicht einfach zu vermitteln. Also sagt man, das Grundgesetz hat für die Vereinigung zwei Wege angeboten, der eine Weg führt über Artikel 23 Satz 2 GG a. F. und der andere Weg über 146 GG. Da nun der eine Weg gegangen worden ist, nämlich der über Artikel 23 Satz 2 GG a. F., ist der andere nicht mehr gangbar, da man schon am Ziel ist. Man kann sich eben nicht gleichzeitig mit dem Auto und der Eisenbahn nach Speyer begeben. Das ist durchaus logisch, aber die beste Logik nutzt nichts, wenn die Prämisse falsch ist. Daß sie falsch ist, werde ich im folgenden zu beweisen versuchen. Weder Artikel 23 Satz 2 GG a.F. noch Artikel 146 GG weisen Wege zur Vereinigung der beiden Teile Deutschlands auf. Vielmehr verhalten sich beide zur Frage, was mit dem Grundgesetz in einem solchen Falle passiert oder passieren kann. Die Vereinigung ist ein staatsrechtlicher Akt. Sie wäre auch möglich gewesen, ohne daß Artikel 23 Satz 2 GG a. F. oder Artikel 146 GG aktiviert worden wäre, wenn nämlich das Völkerrechtsubjekt Bundesrepublik Deutschland und das Völkerrechtsubjekt Deutsche Demokratische Republik einen Vertrag geschlossen hätten, in dem sie sich zu einem neuen Staat vereinigten. Wenn man der von mir für falsch gehaltenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Rechtsnormcharakter des entsprechenden Vereinigungsauftrages der alten Präambel zuneigt, dann hätte man kaum Gründe gehabt, ein solches Angebot auszuschlagen. Wir sind davon verschont geblieben, weil die DDR zu marode war, einen solchen Vertrag auch nur anzubieten. Sie war im übrigen so schwach, daß jeglicher Vertrag, der mit ihr geschlossen wurde, und also auch der Einigungsvertrag, ein außerordentlich ungleicher Vertrag werden mußte. Artikel 23 GG a. F. und Artikel 146 GG sind also keine Wege zur Vereinigung, sondern bieten bei einer staatsrechtlichen Vereinigung Modalitäten auf dem Gebiete des Verfassungsrechts an. Eine andere Modalität wäre gewesen, in dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR eine Verfassung zu vereinbaren, wie das in der deutschen Verfassungsgeschichte ja durchaus ein Vorbild hat. In einem solchen Falle hätte man höchstens
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überlegen können, ob die bundesrepublikanische Seite wegen Artikel 146 GG gehalten gewesen wäre durchzusetzen, daß die neue Verfassung das Plazet einer Volksabstimmung oder jedenfalls einer vom Volk gewählten Nationalversammlung erhält. Der Artikel 23 Satz 2 GG a. F. wäre in einem solchen Falle tatsächlich obsolet geworden, weil sich die Möglichkeit von Beitritten erschöpft hat, da wir ja nicht davon ausgehen, daß etwa Ostpreußen oder Schlesien wieder beitreten können. Auch Artikel 23 Satz 2 GG a. F. regelt nicht den Beitritt, sondern setzt ihn voraus. Die DDR ist auch nicht dem Grundgesetz beigetreten, dann wäre ein Inkraftsetzen überflüssig geworden, sondern, wie es in dem DDRGesetz etwas komisch heißt, dem "Geltungsbereich des Grundgesetzes". Nun war der Beitritt mitsamt der Konsequenz der Erstreckung der Geltung des Grundgesetzes auf die beigetretenen Teile Deutschlands die einfachste Lösung, die man ohne großen Aufwand erreichen konnte. Da sich alle unter einem außenpolitischen Zeitdruck wähnten, war diese Variante auch konsequent und nach Lage der Dinge die vernünftigste. Da Artikel 146 GG keinen Weg zur Vereinigung bot, sondern lediglich das Verhältnis des unter ungewöhnlichen und für eine Verfassungsgebung fast desaströsen Bedingungen entstandenen Grundgesetzes zu einer folgenden, unter normalen Bedingungen zustande gekommenen Verfassung regelt, nämlich im Sinne der automatischen Ersetzung des Grundgesetzes, konnte diese Bestimmung weder von dem Beitritt der DDR noch von der Inkraftsetzung des Grundgesetzes, zu dem sich ja die Verfassungsgebung im Sinne des Artikels 146 GG gerade verhalten sollte, berührt werden. Besonders kurios in der Debatte ist, daß die eine Seite behauptet, die Einfügung des Halbsatzes, wonach das Grundgesetz nach der Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, habe die Weitergeltung des Artikels 146 GG bestätigt, weil man ja schließlich keinen Artikel um eine beschreibende Aussage ergänze, den man gerade als obsolet geworden betrachte, während die andere Seite meint, mit diesem Halbsatz sei klargestellt worden, daß wir jetzt eine gesamtdeutsche Verfassung haben und also keine neue brauchten. Ich will Sie nicht mit dem Gehirnschmalz belasten, der auf diese Frage verwendet worden ist, weil die zweite Variante ein solches Maß an Absurdität enthält, daß man sie besser der Vergessenheit anheim fallen läßt. Spätestens der Hinweis, daß der Einschub etwas ganz anderes thematisiert, als Artikel 146 GG selbst regelt, hätte die Abwegigkeit der Überlegung deutlich gemacht. Das "nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands" des Einschubs nimmt Bezug auf den letzten Satz der alten Präambel, der das ganze Deutsche Volk für aufgefordert hält, "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Mit Freiheit ist hier nicht die grundrechtliche Freiheit, also eine der Freiheit verpflichtete Verfassung, sondern
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die Freiheit von Besatzungsmächten gemeint. Nun ist evident, daß nach der Ablösung der letzten besatzungsrechtlichen Regeln die Freiheit und nach dem Beitritt die Einheit vollendet ist. Das alles hat aber nichts damit zu tun, daß das Grundgesetz nicht von dem Deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Vielmehr ist ein unter sehr anderen Bedingungen entstandenes Grundgesetz lediglich in seinem Geltungsbereich auf ganz Deutschland erstreckt worden. Nun wird schließlich noch, um Artikel 146 GG unschädlich zu machen, argumentiert, das deutsche Volk der alten Bundesrepublik habe sich, wie man spätestens an der kontinuierlich hohen Wahlbeteiligung sähe, mit dem Grundgesetz identifiziert und das Volk der Neuen Bundesländer habe eben dies durch den Beitritt getan. Ich will einmal meine Verwunderung darüber, was Kollegen glauben alles über das Volk zu wissen, beiseite lassen und auch die Tatsache negieren, daß keineswegs das Volk der Neuen Bundesländer den Beitritt erklärt hat, sondern der Einigungsvertrag mitsamt seinen Verfassungsänderungen von einer sehr kleinen Gruppe von Politikern und Bürokraten ausgearbeitet und lediglich von der entsprechenden Volksvertretung beschlossen worden ist. Viel einfacher ist der Einwand, daß es bei Artikel 146 GG nicht darum geht, einer schon bestehenden Verfassung zuzustimmen, sondern darum, mindestens die Chance zu haben, als Volk eigene Ideen der Verfassungsgestaltung anzubringen. Als allerletztes "Argument", dem Artikel 146 GG den Garaus zu machen, wird auf die allemal bestehende Verfassungssouveränität des Volkes verwiesen; es könne sich doch sowieso jederzeit eine neue Verfassung geben. Ich will mich zur Abkürzung weder darauf einlassen, wie es mit der Verfassungssouveränität des deutschen Volkes tatsächlich bestellt ist, noch will ich der Frage nachgehen, ob der Artikel wegen dieses Grundes nur überflüssig oder wegen gravierender Unsinnigkeit nichtig wäre. Es genügt der Hinweis, daß Artikel 146 GG die originäre Verfassungsgebung durch das deutsche Volk vor dem Verdikt der Revolution schützt. Die dieses Argument benutzen, wären die ersten, die den Staat zum Eingriff gegen das aufmüpfige Volk aufriefen. Denn bekanntlich sind Revolutionen solange rechtswidrig, solange sie nicht gesiegt haben. Dornröschen ist also keine schöne Leiche, sondern muß nur wachgeküßt werden. Es könnte freilich - seinem Namen auf eine andere Art Rechnung tragend - selbst voller Dornen sein, wenn nämlich die These stimmte, daß für die Verfassungsgebung nach Artikel 146 GG die Regeln des Artikel 79 III GG gelten würden. Dies wird tatsächlich von einigen Kollegen vertreten, wobei der Begründungsaufwand klugerweise gering gehalten wird, wenn er überhaupt für nötig erachtet wird. Gegen diese These könnte man sich schon formal mit dem Hinweis begnügen, daß Artikel 79 III GG nur für Grundgesetzänderungen gilt und
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Artikel 146 GG in seiner Auswirkung eben keine Grundgesetzänderung, sondern die Neuschaffung einer Verfassung thematisiert. In der Sache liegt der Witz des Artikel 146 GG gerade darin, daß das Grundgesetz selbst sich seines Geburtsfehlers bewußt ist und sich deshalb selbstverständlich insgesamt zur Disposition einer Verfassung stellt, die die beiden wesentlichen Handicaps der Entstehung des Grundgesetzes beseitigt, nämlich daß es nicht vom deutschen Volk, sondern von einem Rat beschlossen worden ist, der den Auftrag von den Ministerpräsidenten der Länder und keineswegs vom Volk hatte, und daß dieser Beschluß unter der Oberaufsicht fremder Mächte gestanden hat. Außerdem darf ich darauf hinweisen, daß Artikel 79 III GG sehr unterschiedlich wichtige Materien nennt und es gar nicht einzusehen wäre, daß zum Beispiel "die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung", gemeint ist offensichtlich die des Bundes, für alle Ewigkeit feststehen soll, obwohl man sich eine Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen und der Verwaltungskompetenzen vorstellen könnte, die keinen Sinn gäbe, die Länder an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken zu lassen. Man kann also getrost davon ausgehen, daß das in Artikel 146 GG genannte Deutsche Volk, wenn es denn in freier Entscheidung tätig wird, souverän ist in der Gestaltung der Verfassung.
V. Verfassungshinweise zur Aktivierung des Volksrechtes Daher konzentriert sich alles auf die Frage, wie man denn eine solche Verfassungsgebung bewerkstelligen könnte, ohne daß automatisch die oben gezeigten Schwächen oder vielleicht gar noch schlimmere auftreten. Ich glaube, man muß sich zunächst den einzelnen Aussagen des Artikel 146 GG etwas näher widmen, um zu sehen, welche Fingerzeige die Verfassung selbst gibt. Es ist evident, daß es keinen Sinn gibt, eine Verfassung zur Disposition einer anderen zu stellen, wenn die Entstehungsbedingungen sich kaum voneinander unterscheiden. Deshalb wird man von Artikel 146 GG erwarten müssen, daß es diese Unterscheidungsmerkmale formuliert. Das ist auch der Fall, und zwar sind es zwei Unterscheidungsmerkmale, die nicht miteinander zusammenhängen. Das eine Unterscheidungsmerkmal ist, daß die Verfassung nach Artikel 146 GG "in freier Entscheidung" beschlossen werden muß. Wie wir schon gesehen haben, ist das der Rückgriff auf den letzten Satz der alten Präambel, wonach wir aufgefordert werden, die "Freiheit Deutschlands" zu vollenden. Dies war dem Parlamentarischen Rat nicht möglich, weil sowohl die Erlaubnis zur Verfassungsgebung von den drei westlichen Besatzungsmächten stammte, als auch klar war, daß der Inhalt der Verfassung ihrer Genehmigung unterlag. So ist auch bekannt, daß die Besatzungsmächte in wichtigen Angelegenheiten der Staatsorganisation durchaus und zum Teil massi-
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ven Einfluß ausgeübt haben. Das trifft zum Beispiel alles das, was mit der föderalen Gestaltung des Bundes zusammenhängt. Das zweite Unterscheidungsmerkmal zum Grundgesetz ist, daß die nach Artikel 146 GG zu schaffende Verfassung "von dem Deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen" sein muß. Diese Formulierung reagiert auf das zweite Handicap des Grundgesetzes. Der Wunsch zur Verfassungsgebung ist von den Alliierten ausgegangen. Nach dem Bruch der Allianz gegen Hitler wollten die Westalliierten den von ihnen besetzten Teil Deutschlands in die westliche Allianz einbeziehen. Über den Teil in der Hand des neuen Feindes, der Sowjetunion, konnte man nicht verfügen. Die Einbeziehung in die westliche Allianz setzte aber eine gewisse Eigenständigkeit Westdeutschlands voraus, und dies sollte durch eine Verfassung und damit den Aufbau eines Weststaates ermöglicht werden. Die Ministerpräsidenten der Länder haben sich diesem Ansinnen so lange widersetzt, solange die Regierende Bürgermeisterin von Berlin die These vertrat, daß mit einer isolierten Verfassungsgebung für die westlichen Besatzungszonen Berlin dem sowjetischen Zugriff insgesamt ausgesetzt sei. Erst als der ihr im Amt folgende Ernst Reuter die umgekehrte These vertrat, daß nur ein neu organisiertes und stabiles Westdeutschland wenigstens den Westteil Berlins sichern könne, stimmten die Ministerpräsidenten einer Verfassungsgebung zu. Das Volk ist nicht gefragt worden, ob es überhaupt einen isolierten Weststaat haben wolle, noch, ob es denn und wie es eine Verfassung wünsche. Vielmehr haben die Landtage, die nicht unter diesem Gesichtspunkt gewählt worden sind, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates entsandt, und der Parlamentarische Rat ist sich dieser seiner Legitimationsschwäche durchaus bewußt gewesen. Es sind prominente und des Umstürzlertums gewiß nicht verdächtige Mitglieder des Parlamentarischen Rates gewesen, nämlich Dehler und von Brentano, die - vergeblich - darauf bestanden haben, daß bei diesem Geburtsfehler der Entstehung des Grundgesetzes wenigstens das Volk über das Ergebnis abstimmen müsse. Wie schon gezeigt, ist das nicht geschehen, und zwar aus der Furcht, daß das Volk noch nicht reif sei, eine solche Entscheidung zu fällen. Artikel 146 GG ist insofern die Kompensation für dieses aus der Lage erzwungene rabiate Vorgehen. Von den beiden Fingerzeigen des Artikels 146 GG hat der Hinweis auf die notwendig "freie Entscheidung" des Volkes seine Bedeutung verloren. Deutschland ist souverän, und soweit wir auf Teile der Souveränität etwa zugunsten Europas verzichtet haben, geschah es freiwillig. Es bleibt die Forderung, daß die neue Verfassung Produkt einer freien Entscheidung des Volkes sein soll. Der traditionelle Weg wäre, wenn der deutsche Bundestag ein Ausführungsgesetz zu Artikel 146 GG machte. Vielleicht ist er sogar dazu verpflichtet, solange sich das Volk nicht selbst 6 von Amim
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die Regeln geben kann; denn eine ausführungsfahige, aber nicht ausführbare Bestimmung ist dem Grundgesetz sonst fremd. Das Gesetz könnte den Bundestag zur Erarbeitung eines Entwurfs verpflichten, der dann dem Volk zur Entscheidung vorzulegen wäre, oder aber das Gesetz verlangte die Wahl eines Nationalkonvents, dessen Vorschlag endgültig oder wiederum dem Volk vorzulegen wäre. Letzteres hielte ich für sinnvoller, weil der notwendige Volksentscheid die Arbeit des Konvents disziplinieren und weil dem Artikel 146 GG dadurch im Vollsinne Rechnung getragen würde. Der deutsche Bundestag könnte dem Konvent, was ich für vernünftig hielte, nahe legen, die Verfassungsgebung als eine Art Generalüberholung des Grundgesetzes anzusehen. Dazu verpflichten könnte er ihn schwerlich. Selbstverständlich läßt sich eine Reihe von Variationen denken. Darum kann es hier nicht gehen. Vielmehr ist der Blick zurückzuwenden auf die Reformnotwendigkeiten, die zu Beginn des Referates aufgezeigt worden sind. Könnte ihnen ein solches oder ähnliches Verfahren Rechnung tragen oder sitzen im Nationalkonvent dann doch wieder dieselben Leute, die schon unter der Geltung des Artikels 79 GG jegliche relevante Reform verhinderten? Ich glaube nicht, daß das Unternehmen einen Sinn macht, wenn man nicht bei der Erarbeitung der Verfassung Inkompatibilitäten vorsieht. Es gibt keinen Sinn, Personen über eine Korrektur des Systems entscheiden zu lassen, deren Berufsexistenz von der Entscheidung abhängt oder jedenfalls gravierend betroffen werden kann. Sollte man ernsthaft hohen Ministerialbeamten der Länder oder Abgeordneten von Landtagen abfordern, über die Aufgabe ihres Landes nicht nur nachzudenken, sondern auch positiv zu votieren? Sollte man von staats- oder parteifinanzierten Parteileuten erwarten können, daß sie die Grundlagen ihrer beruflichen Existenz in Frage stellen oder gar gefährden? Zum "Volk" im Sinne des Artikels 146 GG gehören sie selbstverständlich auch und ebenso selbstverständlich dürften sie bei einem Volksentscheid mit abstimmen, aber das Volk sind im wesentlichen die anderen. Da man sowieso bei der Erarbeitung einer neuen Verfassung, ganz gleich, wie man sie organisiert, eines sachkundigen Apparates bedarf, würde auch diese Personengruppe nicht ohne Einfluß sein. Wem dies alles zu revolutionär und im Blick auf den deutschen Bundestag, der das beschließen müßte, auch illusionär erscheint, den darf ich auf eine Konsequenz der schon erwähnten Überlegung, direktdemokratische Elemente im Bund einzuführen, verweisen. Ein drohender Volksentscheid zur Ausführung des Artikels 146 GG könnte dem deutschen Bundestag durchaus Beine machen. Vielleicht sollte man sich auch aus diesem Grunde über die Optionen, die wir haben, unterhalten.
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene * Von Theo Schiller Einleitend nur wenige Bemerkungen zur begrifflichen Klarstellung und zum Zusammenhang demokratischer Beteiligung. Im Zentrum der demokratischen Systeme steht seit langem die "repräsentative Demokratie", konkretisiert in der Parteiendemokratie. Demgegenüber meint "direkte Demokratie" die Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger an den Sachentscheidungen selbst. Solche Formen können heute die Repräsentation nur ergänzen, nicht ersetzen. Zur repräsentativen und nicht zur direkten Demokratie gehören natürlich Formen wie die "Direktwahl" von Bürgermeistern, Ministerpräsidenten oder Staatspräsidenten, auch die vom Wahlvolk in Gang gesetzte Parlamentsauflösung oder Abwahl von Abgeordneten. Auch die verschiedenen Beiräte, etwa Orts beiräte , Ausländer- oder Seniorenbeiräte, sind repräsentativ. Zum Kern direkter Demokratie in diesem Sinne gehören hauptsächlich Sachabstimmungen auf Initiative von unten, auf Kommunalebene also Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, auf die ich mich hier konzentriere. Zum direktdemokratischen Bereich der Bürgerbeteiligung zählen sicherlich weitere Formen, etwa die Bürgerversammlung, der Bürger- oder Einwohnerantrag, terminologisch auch "Bürgerinitiative" (z. B. in Rheinland-Pfalz), die ggf. auch Vorstufe eines Bürgerbegehrens sein können. Mit direkter Demokratie berühren sich vom Partizipationsgedanken her einige förmliche Verfahren der Betroffenenbeteiligung, der öffentlichen Information oder der Teilnahme an Erörterungen wie bei Planungsverfahren, der Stadtentwicklung usw. Auf informeller Ebene wird man hier auch an die gesamte Entwicklung der Bürgerinitiativen und der sozialen Bewegungen denken, die ohne institutionelle Verfahren Teilnahmeansprüche und politische Forderungen aktivierten. Die grundSätzlichen demokratietheoretischen Fragen in diesem Gesamtzusammenhang sind seit langem in der Diskussion über "partizipatorische Demokratie" erörtert worden. I Nur das Grunddilemma sei hier erwähnt:
* Für Erhebung und Aufbereitung der Daten danke ich Dipl. Pol. Frank Rehmet und Dipl. Pol. Volker Mittendorf. I Vgl. etwa Schmidt, Manfred G. 32000: Demokratietheorie, Opladen: Leske+Budrich; Held, David 1987: Models of Democracy, Cambridge u.a.: Polity 6'
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Theo Schiller
einerseits ist Demokratie nur unter Beteiligung aller an den politischen Entscheidungsprozessen legitim vorstellbar, andererseits nimmt die Komplexität der Problemstellungen ständig zu und scheint die Kompetenz der vielen Bürgerinnen und Bürger immer mehr zu überfordern. Können direktdemokratische Entscheidungsverfahren auf kommunaler Ebene dieses Dilemma wenigstens lindern? Im Folgenden soll kurz (1) der historische Hintergrund und die neueste Entwicklung der Kommunalgesetzgebung skizziert werden, dann werden (2) die Verfahrensregelungen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid im Ländervergleich betrachtet und (3) die Nutzungs- und Verlaufsmuster empirisch untersucht. Abschnitt (4) analysiert die Akteursmuster und Beteiligungsprozesse bei den neuen Beteiligungsverfahren, und abschliessend (5) wird in einem Ausblick nach Entscheidungsqualität und Demokratiebeitrag gefragt. I. Historischer Hintergrund und neuere Entwicklung der Kommunalverfassung
Wenn wir heute über Direkte Demokratie auf kommunaler Ebene in Deutschland sprechen können, haben wir es im wesentlichen mit einer neuen Entwicklung im letzten Jahrzehnt zu tun. Doch ist eine kleine historisch Ergänzung angezeigt. So gab es immerhin in Baden ab 1831 die Gemeindeversammlung, die sich in kleinen Gemeinden länger hielt, später auch in Anhalt und Hannover sowie in den Landgemeinden Bayerns? Eine grössere Verbreitung fanden direktdemokratische Regelungen erst in der Weimarer Republik. Begrifflich nicht primär hierzu gehörten die Direktwahl von Bürgermeistern, vor allem aber die Möglichkeit der Abwahl der Gemeindevertretungen, die in der Praxis sehr viel häufiger als Sachbegehren genutzt wurde. 3 In den norddeutschen Länder ausserhalb Preussens gab es 114 Fälle solcher Auflösungsbegehren, besonders zahlreich in Mecklenburg-Schwerin. Demgegenüber werden nur sechs "Sachabstimmungsbegehren" in Braunschweig und sechs weitere in Lippe berichtet. 4 Man sieht Press; Alemann, Ulrich von (Hg.) 1975: Partizipation, Demokratisierung, Mitbestimmung, Opladen: Westdeutscher Verlag; Barber, Benjamin 1994 (eng\. 1984): Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg: Rotbuch; Schma1z-Bruns, Rainer 1995: Reflexive Demokratie. Die demokratische Transformation moderner Politik. Baden-Baden: Nomos. 2 Vgl. Knemeyer, Franz-Ludwig 21997: Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik. Eine Einführung in die Mitwirkungsrechte von Bürgern auf kommunaler Ebene, Landsberg a. Lech: Olzog, S. 39 f. 3 Für Süddeutschland vgl. EngeJi, Christian 1985: Volksbegehren und Volksentscheid im Kommunalverfassungsrecht der Weimarer Zeit, in: Archiv für Sozialgeschichte; Bd. 25/1985; S. 299-331.
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene
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daran, dass die "plebiszitären" Erfahrungen während der Weimarer Zeit in den Kommunen überwiegend mit dem Abwahlinstrument innerhalb des Repräsentationssystems gemacht wurden, in einem Kontext von Antiparlamentarismus und Stossrichtung gegen das demokratische Parteien spektrum. Nach 1945 kam zwar im Süden die Direktwahl der Bürgermeister zum Zuge, nicht aber die Parlamentsauflösung und auch nicht Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Erst 1956 führte Baden-Württemberg als einziges Land Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ein. 5 Zwar konnte man in den 60er bis 80er Jahren in Programmdiskussionen in Parteien oft hören, "plebiszitäre Elemente" würden sich nicht für die Bundesebene, wohl aber für die Kommunal- und die Landesebene eignen. Doch in den Gemeindeordnungen geschah überhaupt nichts. Seit dem Wiederaufbau der Kommunen nach 1945 haben offenbar die Gemeindeverbände, in der ja die kommunalen Exekutiven zusammengeschlossen sind, kontinuierlich und gegenüber den Landesgesetzgebern erfolgreich eine völlig ablehnende Position eingenommen. 6 Erst ab 1990 setzte eine neue Entwicklung ein. 7 Drei Faktoren waren entscheidend: Erstens öffnete Schleswig-Holstein nach der Barschel-Affare seine Landesverfassung wie auch seine Gemeindeordnung (1990) für direktdemokratische Verfahren. Zweitens führten die neuen Bundesländer, wiederum entsprechend der Landesverfassungsebene, in ihren Kommunalverfassungen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ein. Drittens reformierten die westdeutschen Bundesländer ihre Gemeindeordnungen und führten insbesondere die Direktwahl der Bürgermeister ein. Der Einbau von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ist im wesentlichen als Abfallprodukt dieser Entscheidung zustande gekommen. 4 VgJ. Witte, Jan 1997a: Unmittelbare Gemeindedemokratie in der Weimarer Republik: Verfahren und Anwendungsausmaß in den norddeutschen Ländern, BadenBaden: Nomos; Witte, Jan I 997b: Plebiszitäre Elemente und Anwendungserfahrungen in den norddeutschen Kommunalverfassungen der Weimarer Zeit, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 3/1997, S. 425-444. 5 VgJ. Beilharz, Günter 1981: Politische Partizipation im Rahmen des § 21 der Gemeindeordnung von Baden-Württemberg, Tübingen: Selbstverlag (zugJ. Diss. Univ. Tübingen, 1981). 6 VgJ. Rehmet, Frank 1997: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Hessen. Verlaufsmuster und Wirkungen direktdemokratischer Verfahren auf kommunaler Ebene, unveröff. Diplomarbeit (PoJ.wiss.), Univ. Marburg (vervielf.), S. 24-26. 7 VgJ. Jung, Otmar 1999: Siegeszug direktdemokratischer Institutionen als Ergänzung des repräsentativen Systems? Erfahrungen der 90er Jahre, in: v. Amim, H. H. (Hg.) 1999: Demokratie vor neuen Herausforderungen, Berlin: Duncker und Humblot, S. 103-137, hier: S. 107 f., Schiller, Theo (Hg.) 1999: Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Frankfurt a.M.lNew York: Campus.
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86 Land
Jahr
BadenWürttembera Bavern I Berlln Brandenbura Bremen a) Stadt Bremen bl Bremerhaven Hamburg {Bezirke) Hessen MecklenburgVOl'DOmmern NIederlIchlIn NordrhelnWestfalen Rhelnland-Pfalz Saarland Sachsen Sachl8n-Anhalt Schleswlg-Hoistein !Thürlnaen
1956
Gemeln- Stadtden bezirke
X
1995
X
1993
X
1994 1996 1998 1993 1994
X
X X {X)-X X X X
1996 1994
X X
1994 1997 1993 1993 1990 1993
X X X X X X
X
Landkreise
Ratsbegehren I Quoren
X 1213
X
X
X
(Xl XI einfach XI einfach
X
X I einfach
X X X X X X X
X/213 X 1213 X/213
Abb. 1: Übersicht über die vorhandenen Instrumente
Seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre finden wir nunmehr eine völlig veränderte Landschaft vor (Abb. I, Basisübersicht). In allen Bundesländern einschliesslich der Stadtstaaten Bremen und Hamburg sind jetzt auf kommunaler Ebene Bürgerbegehren und Bürgerentscheide möglich (nicht jedoch auf der Bezirksebene in Berlin). Einige Länder bieten diese Möglichkeit auch in den Landkreisen und in den Stadtbezirken grösserer Städte. In acht Ländern können Bürgerentscheide auch durch Entscheidung der Gemeindeparlamente (Gemeinderäte) mit einfacher oder mit qualifizierter Mehrheit in Gang gesetzt werden; solche "Ratsbegehren" stellen allerdings einen Grenzfall direkter Demokratie dar, da die Initiative nicht von Bürgern, sondern "oben" ausgeht.
n. Verfahrensregelungen im Ländervergleich Das Verfahren bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ist zwar im Grundmuster in den Bundesländern ähnlich, doch einige Unterschiede sind hervorzuheben. Sie beziehen sich vor allem auf die Zulässigkeit von Themen, das Unterschriftenquorum für ein Bürgerbegehren, das Zustimmungsquorum beim Bürgerentscheid und eine Reihe von Fristen. 8 8 Vgl. Knemeyer 21997; Schliesky, Utz 1999: Die Weiterentwicklung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, H. 2/1999,
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene und
PooltJ.Iult.log
Baden-WOrtlOmberg
Wk:I1t1ge Gemeindoangolegonlleiten ,$landart!" Off. Einrichtungen • Anderung der Gemelnde- (U_Is-) grenzen -(erweitertler durm HSj Haushllitssatzung
Bayern Bertin BrandenburQ Bramen • Sladt Bramen b) Bramerna.en Hamburg (Bazlrl100.000
Hessen n
5 27
47
22 9 6 116
In %
4,3 226 409 191 7,8 52 1000
Schleswig-Holstein n
69 12 18 10 3 1 113
In%
611 106 15,9 8,8 2,7 09 1000
Abb. 6: Anwendungshäufigkeit nach Gemeindegrößenklasse
116 Bürgerbegehren eingeleitet. Ein differenzierteres Bild ergibt sich aus Abb. 5, wenn man den Anwendungs- bzw. Untersuchungszeitraum berücksichtigt: der bayerische Spitzenplatz bei Bürgerbegehren pro Jahr tritt zunächst noch markanter hervor. Offenkundig muss man jedoch die Zahl der Gemeinden in einem Bundesland berücksichtigen. So gibt es in NRW
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene
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trotz grösserer Gesamtbevölkerung wesentlich weniger Gemeinden (mit höherer durchschnittlicher Einwohnerzahl) als in Bayern. Die statistische Häufigkeit von Bürgerbegehren pro Jahr in Prozent aller Gemeinden führt zu einem realistischeren Häufigkeitsvergleich zwischen den Ländern (Abb. 5, letzte Spalte). Die Werte von Bayern (8,6) und NRW (7,5) nähern sich jetzt stärker an, wobei der bayerische immer noch um ca. 20 % höher liegt, gegenüber Hessen (4,5) sogar doppelt so hoch. In diesen drei Ländern finden freilich immer noch wesentlich mehr (eingeleitete) Bürgerbegehren statt als in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Mecklenburg-Vorpommern, die mehrheitlich unter dem Wert 1 liegen. Ein Vergleich der Anwendungshäufigkeit nach der Gemeindegröße zeigt bei den hier dargestellten Ländern Hessen und Schleswig Holstein erhebliche Unterschiede. Während in Schleswig-Holstein ca. 60 % der Bürgerbegehren in Gemeinden unter 5.000 Einwohnern angestrengt wurden, kamen in Hessen etwa 40 % der Begehren in Gemeinden von 10-20.000 Einwohnern zustande. Auch die Grössenklassen 5-10.000 und 20-50.000 sind hier mit jeweils rund 20 % besetzt (Abb. 6). Diese Gesamtzahlen umfassen allerdings unterschiedliche Veifahrenstypen. In einigen Ländern lassen ja die Gemeindeordnungen zu, daß Ratsmehrheiten Bürgerentscheide veranlassen können ("Ratsbegehren", vgl. oben Abb. 1). Dies kommt allerdings relativ selten vor, in Bayern und Schleswig-Holstein in ca. 10 Prozent der Fälle, in Baden-Württemberg für 1956-1996 insgesamt in 36 Prozent, für 1976 bis 1996 allerdings nur ca. 18 Prozent der Fälle. Wichtig ist zweitens die infonnelle Unterscheidung zwischen Bürgerbegehren als Korrekturbegehren (gegen einen Ratsbeschluss) und Initiativbegehren zugunsten eines neuen, eigenen Vorschlags. Hier überwiegt deutlich der Anteil der Korrekturbegehren (zwischen 80 und 90 Prozent), in Bayern bei 82 % gegenüber 18 % Initiativbegehren, in Hessen bei 85 : 15 Prozent, in Schleswig-Holstein gar bei 92 : 8 Prozent. In Nordrhein-Westfalen halten sich allerdings Initiativbegehren und Korrekturbegehren erstaunlicher Weise etwa die Waage (Abb. 7). Verlahrenstyp (Verhältnis) Ratsbe- Bürger Igehren : begehren Initiativ- Korrekturbegehren: begehren
Hessen
Bayern
SchleswigHolstein
NordrheinWestfalen
64: 581 10%:90%
(4190-10197) (10194-8199) 14: 117 nicht vorhan11 %: 89 % den
105: 476 18%:82%
9: 108 8 %: 92 %
75: 61 55%:45%
(4193-3199)
(1 0195-3199)
nicht vorhanden
17: 98 15%:85%
Abb. 7: Vergleich der Verfahrenstypen
Theo SchilJer
94
Die Aufteilung zwischen Initiativ- und Korrekturbegehren könnte ebenfalls von der Gemeindegrösse beeinflusst sein. Für die Länder Hessen und Schleswig-Holstein ergibt sich noch kein eindeutiges Bild (Abb. 8). Hessen ist etwas aussagefähiger, da bei den Initiativbegehren etwas höhere Fallzahlen zugrundliegen, die bei grösseren Gemeinden auf eine leicht höhere Tendenz zu Initiativbegehren hindeuten.
_ Initiativ-/ Korrekturbegehren Gemeindegröße
-
Fallzahl I in %
< 5.000 5.000-10.000 10.000-20.000
HESSEN InitiativKorrekturbegehren begehren
SCHLESWIG-HOLSTEIN InitiativKorrekturbegehren begehren
n
in~
n
in%
n
in%
n
1
20,0
4
80,0
4
15,4 22
84,6
12
25,5 35
74,5
in%
5
7,2
64
92,8
1
8,3
11
91,7
1
5,6
17
94,4
20.000-50.000
6
27,3 16
72,7
2
20,0
8
80,0
50.000-100.000
3
33,3
6
66,7
1
33,3
2
67,7
>100.000
1
16,7
5
83,3
0
-
1
100
Gesamt
27
23,5 88
76,5
9
8,0
103
92,0
Abb. 8: Initiativ- und Korrekturbegehren nach Gemeindegrößenklassen 2. Themenspektrum
Als zweite Basisinformation interessiert sicherlich das Themenspektrum der bisherigen Bürgerbegehren. Die höchst vielfältigen Gegenstände vorn Hallenbad zu Kindergarten- oder Schulfragen über Hotelbauten, Golfplätze, Fußgängerzonen oder Entsorgungseinrichtugen sind in Abb. 9 in mehrere Sammelkategorien gruppiert. Im Ländervergleich zeigt sich, daß Öffentliche Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen besonders häufig thematisiert werden (Nordhein-Westfalen und Niedersachsen über 50 %, Schieswig-Holstein fast die Hälfte, Hessen ca. ein Drittel, Bayern 21 Prozent). Bezieht man die Entsorgungsprojekte in eine solche Infrastrukturkategorie mit ein, kommt man auch in Hessen auf etwa die Hälfte, in Bayern immerhin auf ein Drittel der Fälle. In Schleswig-Holstein ging es besonders häufig um Schulfragen und um den Anschluss kleinerer Gemeinden an grossräumige Was server- und Entsorgung. Die zweitstärkste Themengruppe bilden die Verkehrsprojekte, die in Bayern und Schleswig-Holstein etwa ein Viertel der Begehren ausmachen. Einen ähnlich gros sen Anteil stellen in Hessen die Wirtschaftsprojekte (Gewerbeansiedlungen, Golfplätze u. ä.), in Bayern
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene
95
dürfte es sich (bei etwas anderer Kategorisierung) um vergleichbare Grössenordnungen handeln. Dass dieser Themenbereich, ebenso wie die Entsorgungsprojekte, in Schieswig-Hoistein, NRW und Niedersachsen jeweils weniger als 10 % der Fälle bilden, reflektiert eindeutig die restriktiven Zulässigkeitskataloge dieser Länder. 100% 80%
60 % -'-----""''------'
c Son"'g. • GebOhren und Abglbln
40%
D Hluptlltzung
20%
• Entsorgung'prollkte a Verkehr.proJekte
D Wohng"blo'lprojok'" • Wlrt,chanaproJekte
a Offlntllch.'n.,..lruktur- und V.rlorgung,.lnrlchtungln
Abb. 9: Themenspektrum von BB in ausgewählten Bundesländern Themen
50.000
Gesamt
IO1Ien~lche
Wlr1sc:haftsInfrastruktur- projektIl und Versorgungsei nrlchlungen
En1sorgUngs- Wohngeblels- Verkehrs- Hauptsatzung projektil projektil projektil
SonstIge
Fallzahl gesamt
3
1
0
0
0
0
1
5
8
8
6
2
0
1
2
27
12
9
3
4
12
4
3
47
10
3
0
2
6
1
0
22
3
5
2
0
1
2
2
15
36
26
8
19
8
116
11
8
Abb. 10: Themen nach Gemeindegröße in Hessen
Abb. 10 zeigt, wie sich am hessischen Beispiel in absoluten Zahlen, wie sich die Themenkategorien auf die verschiedenen Gemeindegrössen verteilen. Die öffentlichen Infrastruktur- und Versorgungsprojekte, die Wirtschaftsprojekte und die Verkehrsprojekte häufen sich bei den (mittleren) Gemeindegrössen mit den höchsten Fallzahlen.
96
Theo Schiller
Die Aufteilung nach Initiativ- und Korrekturbegehren weicht für die beiden Länder Hessen und Schleswig-Holstein auch bei den verschiedenen Themenkategorien nicht stark vom jeweiligen Landesdurchschnitt ab. (vgl. Abb. 11).
~n
HESSEN InitiativKorrekturbegehren begehren
SCHLESWIG-HOLST. InitiativKorrekturbegehren begehren
Themen
Falizahl I in IM
n
n
in%
n
in%
n
in%
17,1
29
82,9
4
7,0
53
93,0
3
11,5
23
88,5
-
-
10
100
Wohngebietsprojekte
2
25,0
6
75,0
1
33,3
2
66,7
Verkehrsprojekte
5
26,3
14
73,7
3
11,1
24
88,9
Entsorgungsprojekte
3
27,3
8
72,7
-
5
100
3
37,5
5
62,5
-
-
Hauptsatzung Sonstige
5
62,5
3
37,5
1
10,0
9
90,0
103
92,0
Öffentliche Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen Wirtschaftsprojekte
6
Fallzah/l Gesamt Durchschnitl 27
in IM
23,5 88
76,5
9
-
8,0
-
-
Abb. 11: Initiativ- und Korrekturbegehren nach Themenkategorien
3. Verlaufsmuster und Ergebnisse
Die dritte Art von Basisdaten betrifft die Verlaufsmuster und Ergebnisse von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden. Hier interessiert einerseits, was aus Bürgerbegehren ohne Entscheid geworden ist, zum anderen das Verfahrensergebnis bei durchgeführten Bürgerentscheiden Begehren ohne Entscheid machen in der Regel etwas mehr als die Hälfte der Fälle aus, abgestimmte Entscheide zwischen 40 und 50 Prozent (Abb. 12). Auffallig ist zunächst der hohe Anteil unzulässiger Begehren: ca. 20 Prozent in Hessen, 32 % in NRW, sogar mehr als ein Drittel in Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg (Abb.13, zum Vergleich Werte aus der Schweiz). Für Bayern kann eine sinkende Rate von Unzulässigkeitserklärungen beobachtet werden. Waren nach einem Jahr noch knapp 25 % aller Begehren unzulässig erklärt worden, sank diese Rate auf mittlerweile knapp 18 % (kumuliert über vier Jahre) ab. Die Ursachen der Unzulässigkeit bedürfen einer genaueren Untersuchung, doch deuten sich der
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene BUNDESLAND (ZEITRAUM)
Baden-Württemberg 190-96) Bayern ( 10/95-10/99) Hessen
BÜRGER BEGEH REN OHNE ENTSCHEID GR Unzulässig positiv erledigt 25 1
79
104
-
323
33
21
29
12
9
104
3
--
-
1
1
5
40
33
18
14
19
124
8
4
4
6
1
23
50
13
43
42
16
164
(06/94~9/96)
Schleswig-Holstein (04/90~3/97)
Abkürzungen: Anmerkungen:
69
46
(06/94~5/97)
Nordrhein-Westfalen {1 0/94- 08/99J Rheinland-Pfalz
GESAMT
94
104/93-10/9~
Meckienburg-Vorp.
BÜRGERENTSCHEIDE NACH BÜRGERBEGEHREN Positiv Negativ Unecht gescheitert 22 21 n.V.
97
BB = Bürgerbegehren, RatsB = Ratsbegehren, GR =Gemeinderat/-vertretung In Bayern und Mecklenburg-Vorpommern wurden auch Landkreise mitgezählt. Es wurden nur ab~eschlossene Verfahren aufgenommen, deren Ergebnis bekannt war, was die Differenzen zu den Daten in anderen Tabellen erklärt.
Abb. 12: Verlaufsmuster und Ergebnisse
Ausschluss von Themen und Mängel beim Kostendeckungsvorschlag als Hauptgründe an. Zweitens ist festzuhalten, daß in einer Grössenordnung von 10 bis 20 Prozent der Fälle Bürgerbegehren durch Gemeinderatsbeschluß positiv enden. Ein positiver Bürgerentscheid kommt in 20-30 Prozent der Fälle zustande (in NRW allerdings nur ca. 15 Prozent), etwa zwei Fünftel der Abstimmungen führen also zum Erfolg. Nimmt man die positiv erledigten Begehren und einen Kompromissfaktor hinzu, so konnten die Initiatoren immerhin bei einem Drittel bis 40 Prozent ein positives Resultat erreichen. Dass überraschender Weise auch in Bayern (obwohl es bisher kein Zustimmungsquorum gab) etwa ein Drittel aller Begehrensfalle an der Abstimmungsurne scheitern, zeigt, dass auch günstige Verfahrensbedingungen keineswegs überwiegenden Erfolg garantieren. Differenziert man die Erfolgsquote beim Bürgerentscheid nach der Gemeindegrösse, so ergeben sich keine allzu grossen Unterschiede, auch nicht zwischen den Bundesländern (Abb.14). In Bayern, Hessen und Schleswig-Holstein waren etwa die Hälfte der Entscheide erfolgreich, ohne Erfolg blieben drei Fälle in Schleswig-Holstein von 50-100.000 Einwohnern, die Grossstadtfalle (über 100.000) in allen Bundesländern sind für sta7 von Amim
98
Theo Schiller
4qO
35,0
~~~----------------~~~~-----------,
3qO
25,0
2QO
15,0 1 Qo 5,0
0,0
Abb. 13: Anteil unzulässiger Bürgerbegehren
GEMEINDE- ANZAHL BÜRGERENTSCHEIDE ERFOLGS- ERFOLGS- ERFOLGSQUOTE GRÖßE HESSEN HESSEN QUOTE QUOTE (EINWOHNE Erfolg Schei Unecht HESSEN SCHLESWIG BAYERN RZAHL) -HOLSTEIN tern 50,0% < 5.000 4 2 2 55,6 % 53,2 % 57,5% 46,4 % 54,4% 5.000-50.000 40 23 9 8
50.000100.000 > 100.000 Gesamt
4
2
1
1
1 28
12
49
-
1
50,0%
-
100,0 %
9
57,1 %
0,0% 50,6%
54,5 %
35,7 % 45,7%
In Schleswig-Holstein (n = 85) sind ratsinitiierte BUrgerentscheide enthalten. In Bayern (n = 311) sind ratsinitiierte sowie landkreisweite BUrgerentscheide nicht enthalten.
Abb. 14: Erfolgsquote von Bürgerentscheiden nach Gemeindegrößenklassen
tistische Aussagen zu selten. Ob in Grossstädten nicht nur die Häufigkeit der Bürgerbegehren, sondern auch der Abstimmungserfolg bei durchgeführten Bürgerentscheiden seltener ist, wird man erst bei einer grösseren Fallzahl besser beurteilen können. Differenziert man den Erfolg von Bürgerbegehren (Übernahme durch Gemeinderat und Bürgerentscheid) nach Themenkategorien, werden grössere Unterschiede sichtbar, auch zwischen Bundesländern (Abb.15 für Hessen
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene
ErfolQ
Irhemen Fallzahl n I in% IOffentliche Infrastrukttur- und Versorgungseinrichtunaen Wirtschaftsprojekte
Ja n
HESSEN Nein
99
SCHLESWIG-HOLST. Ja Nein
n
in%
n
n
in%
11
35,5 20
64,5
21
42,0 29
58,0
14 2 8 4 4 3 Gesamte Erfolgsquote 46
609 9 28,6 5 53,3 7 36,4 7 57,1 3 50,0 3 46,0 54 100
391 71,4 46,7 53,6 42,9 50,0 54,0
1 2 7 2
125 7 66,7 1 26,9 19 40,0 3
875 33,3 73,1 60,0
6 39
60,0 4 38,2 63 102
40,0 61,8
In%
Wohngebietsprojekte [Verkehrsprojekte Entsorgungsprojekte Hauptsatzung Sonstige Fallzahl
in%
-
-
-
Abb. 15: Erfolg von Bürgerbegehren nach Themen
Erfohl im Bürgerentscheid !Themen Fallzahl n I in %
Ja
HESSEN Nein
SCHLESWIG-HOLST. Nein Ja
n
In %
n
in%
n
7
50
7
50
15
9 2
75 50
3 2
25 50
1 2
25 100
3
75
Wohngebietsprojekte Verkehrsprojekte
3
33
6
67
7
50
7
50
50
1
50
-
-
2
29
49 32
51
Öffentliche Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen Wirtschaftsprojekte
Entsorgungsprojekte
2
50
2
50
1
Hauptsatzung
3
75
1
25
Sonstige
3
100
-
-
-
Fa/lzah/l Gesamte 29 Erfolgsquote Fallzahl gesamt
58
21
42
5 31
in%
n
in%
44 19
56
-
71
50
-
-
63
Abb. 16: Erfolg nur Bürgerentscheide nach Themen
und Schieswig-Hoistein). So enden Bürgerbegehren bei öffentlichen Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen in beiden Ländern in rund 60 Pro-
100
Theo Schiller
zent der Fälle negativ. In Hessen ist bei der Mehrheit der Begehren bei Wirtschafts- und bei Verkehrsprojekten ein Erfolg zu verzeichnen, während in Schleswig-Holstein bei diesen bei den Themenbereiche in drei Vierteln der Fälle oder mehr Misserfolge auftreten (für andere Themenbereiche ist die statistische Basis zu schmal). Zur Erklärung dieser grundlegenden Nutzungs- und Verlaufsmuster wird man die Anwendungshäufigkeit und die Themenverteilung in engem Zusammenhang sehen: Bestimmte Themenhäufigkeiten treiben sicherlich die Anwendungszahl insgesamt nach oben und umgekehrt. Zunächst sollte man meinen, daß die jeweilige Struktur des Problernhaushalts in den Gemeinden die Anwendung und das Themenspektrum bestimmt. Einige Unterschiede zwischen den Bundesländern passen aber nicht ganz in eine solche "Normalverteilung". Als erster Faktor liegt daher die landesrechtliche Regelung der Themenzulässigkeit nahe, insbesondere der Ausschluß von Bauleitplanung, Planfeststellungsverfahren und Förmlichen Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung in zahlreichen Bundesländern. Für Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und modifiziert auch für Baden-Württemberg korreliert dies mit der markant niedrigen Häufigkeit (pro Jahr in % aller Gemeinden, vgl. oben Abb. 5). Daß in Schleswig-Holstein eine deutlich kleinere Zahl von Bürgerbegehren Wirtschafts- und Wohngebietsprojekte zum Gegenstand haben, weist in dieselbe Richtung. Ähnliches gilt für Nordrhein-Westfalen, wo im übrigen dieser Einschränkungsfaktor durch die umfangreichere Gemeindegrösse/kleine Gemeindezahl zugunsten häufigerer Bürgerbegehren pro Gemeinde und Jahr ausgeglichen wird. Transparenter wird der Faktor Themenausschluss werden, wenn Anwendungshäufigkeit und Themenverteilung in der Unterteilung nach zulässigen und unzulässig erklärten Begehren berechnet werden können (was bisher noch nicht möglich ist).
IV. Akteursmuster und Beteiligungsprozess
In einer zweiten Betrachtungsweise können Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als Verfahrensform direkter Demokratie auf kommunaler Ebene als demokratischer Beteiligungsprozess untersucht werden. In dieser erweiterten Beteiligungsmöglichkeit liegt ja eine der wesentlichen demokratischen Begründungen dieser Form. Zu fragen ist dann danach, ob und wie sich politische Akteursstrukturen gegenüber dem parlamentarisch-repräsentativen Politikprozess modifizieren, welche Muster politischer Kommunikation und Mobilisierung sich entwickeln, und welche Strukturen der Abstimmungsbeteiligung der Bürger zu beobachten sind.
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene
101
1. Akteursstrukturen
Die politischen Akteursstrukturen in einer Gemeinde sind zunächst einmal durch Parteien, Wählergruppen, Verbände, die Verwaltung, neuerdings meist einen direkt gewählten Bürgermeister sowie die örtliche Mediensituation geprägt, und diese bilden auch den Kontext direkter Entscheidungsverfahren. Ausserdem ist im informellen Bereich mit diversen Bürgerinitiativen, Vereinen und vielleicht Ortsteilkulturen zu rechnen. Im Hinblick auf Bürgerbegehren können vor allem neu gegründete Bürgerinitiativen, besser "Abstimmungsinitiativen", hinzutreten, aber auch Einzelpersonen. Zu denken ist auch an Minderheitsgruppen in Parteien, Verbänden oder Vereinen. Wer wirklich die Initiative ergriffen oder den entscheidenden Anstoss gegeben hat, ist sicherlich sehr vielschichtig und oft auch unübersichtlich - empirisch bisher verläßlich nur in einigen Fallstudien transparent gemacht. Aus einer schriftlichen Befragung von Vertrauenspersonen ergab sich für Bayern und für Hessen folgende Aufgliederung der Initiatoren: INITIATOREN BAYERN IN % DER FÄLLE HESSEN IN % DER FÄLLE Parteien 27,6 27,8 Verbände 23,2 30,6 Vorhandene 11,1 21,4 Bürgerinitiative Neugegründete 41,7 20,5 Abstimmungsinitiative Einze~rsonen
47,3
25,9
Gesamt
140,0
150,0
Quelle: Rehmet/Weber/Pavlovic, S. 147. Fallzahlen: n = 112 für Bayern, n = 36 für Hessen (Mehrfachnennungen möglich). Zeiträume: Bayern: 11195-10/96; Hessen: 04/93--{)3/97.
Abb. 17: Initiatoren von Bürgerbegehren
Dabei fällt die häufige Nennung neuer Abstimmungsinitiativen und von Einzelpersonen auf, auch wenn man die Grössenordnungen mit einem methodischen Abschlag versieht. Relativ häufig wird man bei vertiefter Analyse auf Ad-hoc-Koalitionen (oder auch ,,Netzwerke,,)J5 stossen, an 15 Vgl. Schenk, Michael/Rössler, Patrick 1994: Das unterschätzte Publikum. Wie Themenbewußtsein und politische Meinungsbildung im Alltag von Massenmedien und interpersonaler Kommunikation beeinflußt werden, in: Neidhardt, F. (Hrsg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Sonderheft 34 der Kölner
102
Theo Schiller
denen etablierte Parteien und Verbände auch beteiligt sind, die aber doch Offenheit für weniger fest organisierte Gruppen und Bürger zeigen. An vorhandenen Fallstudien lässt sich immer wieder die erstaunliche Buntheit der themenspezifisch gebündelten Kooperationsnetze ablesen, die im gemeindeparlamentarischen Normalbetrieb oft so nicht vorkommen. Immer wieder ist zu beobachten, daß politische Tagesordnungen oder Entscheidungsalternativen auf diese Weise geöffnet oder neu sortiert werden, vom direktdemokratischen Verfahren also ein deutlicher innovatorischer Impuls ausgeht. Allerdings findet man mit wachsender Gemeindegrösse einen höheren Organisationsgrad und eine grössere "Etabliertheit" der Initiatoren, so daß in Grossstädten die Parteien stärker vertreten und die Koalitionen etwas weniger vielgestaltig sind. 2. Politische Kommunikation
Für direkte Demokratie als politischen Prozess partizipatorischer Willensbildung bildet unzweifelhaft politische Kommunikation eine zentrale Dimension. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als themenzentriertes Verfahren fokussieren auf das zu entscheidende Sachproblem, auch wenn weitere Aspekte wie Partei- und Personenfragen hinzukommen werden. Demgegenüber sind im repräsentativen Wahlkampf meist eine Mehrzahl von Sachfragen in allgemeinere Programmrichtungen, Parteienimages sowie Kompetenz- und Glaubwürdigkeitsansprüche von Personen und Organisationen verpackt. Themenzentrierte Kommunikation heißt dennoch nicht nur "sachlich-objektiv", auch nicht nur "verständigungsorientiert", sondern durchaus wert- und interessenbezogen und strittig bezüglich Realisierbarkeit, Kosten-Nutzen-Relation und Folgenproblemen. Auch direktdemokratische Kommunikation verläuft auf den zwei Ebenen medienvermittelter Öffentlichkeit und interaktiver Kommunikation. Sowohl vorhandene Fallstudien als auch erste quantitative Erhebungen legen die These nahe, daß es auf beiden Ebenen zu einer Intensivierung der Kommunikation kommt. 16 Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 261-295; Ohlemacher, Thomas 1993: Brücken der Mobilisierung. Soziale Relais und persönliche Netzwerke in Bürgerinitiativen gegen militärischen Tiefflug, Wiesbaden (zugleich Diss. Universität FU Berlin). 16 V gl. etwa Lackner, Stefanie 1999: Willensbildungsprozesse im Rahmen von Bürgerentscheiden, in: Schiller, T. (Hg.) 1999: Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. 2, Frankfurt a.M.lNew York: Campus, S. 69-114; Rössler, Udo 1993: Kommunale Planung und Partizipation in Ulm. Erfolgsbedingungen, Planungskapazität und "Lemeffekte" von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in einer baden-württembergischen Großstadt. Eine Fallstudie, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Tübingen; Kampwirth, Ralph 1999: Volksentscheid und Öffentlichkeit. Anstöße zu einer kommunikativen Theorie der direkten Demokratie, in: Schiller, T. (Hg.) 1999: Direkte Demokratie in
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene
103
Infonnationsrnittel und Werbeaktivitäten wie Flugblätter, Infostände, Veranstaltungen und persönliche Ansprache müssen bereits während der Phase des Bürgerbegehrens stark eingesetzt werden, um die Unterstützungsunterschriften für das Einleitungsquorum zu erreichen. Leichter lässt sich die Vennittlung über die Medienöffentlichkeit erfassen, in den meisten Gemeinden vor allem von der Presse geprägt und allenfalls in Grossstädten durch Lokalradio und etwas Fernsehen ergänzt. Die meisten Artikeltypen sind häufiger vertreten als sonst bei einzelnen Sachfragen üblich: Redaktionsberichte und Kommentare, Erklärungen der Initiatoren und vor allem Leserbriefe, nicht zuletzt die kontroverse Gegenüberstellung von Positionen und Argumentationen. Auszählungen in Einzelfällen zeigen, daß die Publikationshäufigkeit von Kommunalwahlen regelmässig erreicht wird, die Tendenz geht sogar eher darüber hinaus. Bei näherer Betrachtung der Kommunikationsprozesse fällt auf, daß nicht nur die Initianten erwartungsgemäss stark aktiv werden, sondern daß auch die Gegner eines Begehrens insbesondere für die Abstimmungsphase herausgefordert werden, ihre Position sehr viel ausführlicher als zuvor darzulegen. 17 Mehrere Fallstudien haben ausserdem ergeben, daß in der Öffentlichkeit beträchtliche Infonnationsgewinne verfügbar wurden, wenn z. B: Planungsdaten, Kostenrechnungen, Vertragsbeziehungen oder Interessenhintergründe offengelegt werden mussten (z. B. Paust 1999). Auch wenn hier noch erheblicher Forschungsbedarf besteht, kann man doch bereits jetzt von einer klaren Tendenz für eine Qualifizierung der öffentlichen politischen Diskussion zum Thema eines Bürgerentscheids sprechen. Das schliesst im Einzelfall sicher demagogische oder populistische Versuchungen nicht aus, jedoch nach bisherigen Indizien nicht häufiger als unter parteipolitisch-repräsentativen Bedingungen. 3. Abstimmungsbeteiligung
Sinn und Zweck direkter Demokratie auf Gemeindeebene muss es sein, eine relevante Abstimmungsbeteiligung der Bürger auch tatsächlich zu erreichen. Ich lasse zunächst offen, ob die Wahlbeteiligungen bei Kommunalwahlen und neuerdings Direktwahlen von Bürgenneistern und Landräten hier als Massstab gelten können - aber selbst dann ist zu berücksichtigen, daß dieses Beteiligungsniveau seit einiger Zeit absinkt. Mehr als 65-70 ProTheorie und kommunaler Praxis, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. 2, Frankfurt a.M.lNew York: Campus, S. 17-68, sowie Beilharz 1981. 17 Vgl. Rehmet/Weber/Pavlovic 1999, Mittendorf, Volker: Direktdemokratische Verfahren im Prozeß - Verkehrsberuhigung in Winterthur (Schweiz), in: Schiller, T. (Hg.) 1999: Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. 2, Frankfurt a. M.lNew York: Campus, S. 169-208.
104
Theo Schiller
zent werden schon seit längerem nicht mehr erreicht, in den letzten Jahren ist eher von 60-50 Prozent auszugehen. Bürgermeister-Direktwahlen liegen oft noch etwas niedriger. Bei Bürgerentscheiden finden wir als Gesamttrend Grössenordnungen von knapp 50 Prozent Abstimmungsbeteiligung. Eine Differenzierung nach Gemeindegrösse zeigt jedoch am Beispiel von Bayern und Hessen deutliche Unterschiede (siehe Abb. 18). In Gemeinden unter 5.000 Einwohnern beteiligen sich im Durchschnitt 60-65 Prozent an den Abstimmungen, in der Kategorie 5.000-50.000 knapp 50 Prozent, in Grossstädten (über 100.000) ca. ein Drittel der Bürger oder weniger. Viele Indizien sprechen dafür, dass es sich hier um einen verallgemeinerbaren Trend handelt. Vermutlich ist ein Teil der Themen in Grossstädten (Bauprojekte, Verkehrsprobleme u. ä.) etwas assymetrisch lokalisiert und führt zu räumlich ungleicher Betroffenheit. Auch das Organisations- und Kommunikationspotential der Initiatoren dürfte in grösseren Gemeinden eher an Grenzen stossen. Auf der Suche nach Erklärungen darf man jedoch keinesfalls die politischen Faktoren übersehen, die zu niedriger Beteiligung führen können. Da in den meisten Ländern - seit 1999 auch in Bayern - ein Zustimmungsquorum (häufig: 25 %) besteht, wird von den Gegnern eines Begehrens immer wieder die Strategie verfolgt, Nichtbeteiligung an der Abstimmung zu empfehlen. Ob im Einzelfall erfolgreich oder nicht, wird damit in der Kumulation der Einzelfälle insgesamt die Statistik der Stimmbeteiligung erheblich gedrückt, vermutlich in der Grössenordnung von 5-10 Prozent. Etwas gemildert wird dieser Effekt, weil die Initianten gezwungen sind, die Hürde des Zustimmungsquorums durch eine hohe Zustimmungsmobilisierung zu überspringen. Negativ wirken sicher administrative Einschränkungen bei der Durchführung der Abstimmung. Wenn keine Briefwahl ermöglicht und nur wenige Abstimmungslokale eingerichtet werden, ja wenn nicht einmal Abstimmungsbenachrichtigungen verschickt werden, wird die Stimmbeteiligung auf seiten der Befürworter wie der Gegner eines Begehrens hinter dem Potenzial zurückbleiben. Solche Randbedingungen der Abstimmungen müssen bei Vergleichen mit Wahlbeteiligungen und bei daraus gezogenen legitimatorischen Schlussfolgerungen berücksichtigt werden. Für einen Einfluss der Themen auf die Abstimmungsbeteiligung ergeben sich aus Abb. 19 keine starken Indizien. In Hessen sind die Schwankungen um den Durchschnitt relativ klein, in Schleswig-Holstein spiegelt die durchschnittlich höhere Beteiligung eher die Ortsgrösse (kleinere Gemeinden), während bei den Grenzwerten die Fallbasis noch zu schmal ist. Dennoch wird es eine Reihe mit dem Entscheidungsthema verbundener politischer Aspekte geben, die die Abstimmungsteilnahme beeinflussen, ins-
Die Praxis der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene EINWOHNER ZAHL
< 5.000 5.000 - 50.000 50.000 100.000
HESSEN
105
BAYERN
Anzahl der BE Beteiligung % Anzahl der BE Beteiligung % 4 65,4 152 61,1 39 47,7 193 47,7 4 41,5 15 28,4
> 100.000 Gesamt
1
36,2
23
48
48,4
383
27,8
51,1
Quelle: Rehrnet/Weber/Pavlovic, S. 149. Zeiträume: Bayern: 10/95-3/99, Hessen: 4/93-3/99. In Bayern lagen 383 von 389, in Hessen 48 von 49 Er~ebnissen der Bürgerentscheide vor. Anmerkung: In Bayern sIDd Ratsbegehren sowie Bürgerbegehren auf Landkreisebene enthalten.
Abb. 18: Durchschnittliche Abstimmungsbeteiligung
- ----
Abstimmungsbeteiligung
[Themen Öffentliche Infrastruktur- und [versorgungseinrichtungen Wirtschaftsprojekte
HESSEN Fallzahl Durchschnittlichin % 13
48,4 %
SCHLESWIG-HOLST. DurchschnittFallzahl lieh in % 27
65,3
11
52,8%
4
52,5
Wohngebietsprojekte
4
41,1 %
2
61,4
[verkehrsprojekte
9
46,3 %
11
59,7
Entsorgungsprojekte
4
44,7%
2
77,2
Hauptsatzung
4
39,9 %
-
-
Sonstige
3
64,7%
4
53,1
48
48,4%
50
62,4
Gesamte Fallzahl/Durchschnitt
Abb. 19: Abstimmungsbeteiligung nach Themen
besondere die Vorgeschichte und Konfliktträchtigkeit des Themas selbst sowie die Organisationskraft und die Polarisierung der agierenden Lager. Die Häufigkeit der Berichterstattung in Medien scheint in grösseren Gemeinden die Beteiligung zu beleben. In grossen Städten wird verschiedentlich beides zusammenkommen: ein Bürgerentscheid kann durch parteipolitische Polarisierung angeheizt werden und dann sicher auch stärkere Medienresonanz finden, so dass auch die Abstimmungsmobilisierung steigt.
106
Theo Schiller
Jenseits der quantitativen Aspekte der Abstimmungsbeteiligung wäre nach sozialstrukturellen Beteiligungsmustern zu fragen. Gelegentlich ist die These von einer sozialen Selektivität bei Bürgerentscheiden zugunsten der Mittelschichten zu hören. Das mag für aktive Beteiligung an Initiatorenkreisen ebenso plausibel sein wie bei Parteien und anderen politischen Aktivitäten. Für die Abstimmungsteilnahme gibt es bisher keine empirischen Nachweise eines Mittelschichten-Bias, zumal in Deutschland eine empirische Abstimmungsforschung für Bürger- und Volksentscheide in Analogie zur etablierten Wahlforschung überhaupt noch nicht begonnen hat (vgl. aber die VOX-Analysen in der Schweiz). Es bietet sich an, zunächst einmal von der Hypothese auszugehen, dass bei direktdemokratischen Abstimmungen ähnliche Beteiligungsmuster wie bei Wahlen zustandekommen (bekanntlich mit etwas geringeren Teilnahmehäufigkeiten unterer Sozialschichten oder auch junger Wähler). Zusätzlich kann sich allerdings die Themenspezifik eines Bürgerbegehrens auch sozialstrukturell auf die Beteiligung auswirken. Jedoch ist keineswegs immer eine einseitige Mobilisierung von Mittelschicht-Stimmbürgern zu erwarten, denn z.B. bei Verkehrsfragen oder bei besonderen Infrastrukturvorhaben kann die schichtspezifische oder auch die sozialräumliche Betroffenheit zu anderen Aktivierungsmustern führen. Hierzu lassen sich verlässliche Aussagen erst dann machen, wenn neben dem Wahlbürger auch der "Stimmbürger" zum Normalfall der Demoskopie und der bisher wahlsoziologischen, künftig beteiligungssoziologischen Forschung geworden ist.
V. Ausblick: Entscheidungsqualität und Demokratiebeitrag Zusammenfassend wäre nun sicher eine Beurteilung der Bürgerbegehren und Bürgerentscheide zu ihrem Beitrag für die Qualifizierung der Demokratie und die Qualität der Politikergebnisse wünschenswert. Dies ist bisher nur fragmentarisch möglich, doch möchte ich auch die offenen Probleme wenigstens anreissen. Die aufgezeigten Nutzungsmuster, Themenstrukturen, Erfolgsbilanzen und Handlungsmuster im Willensbildungsprozess besagen noch wenig darüber, ob im "Output" gute oder schlechte Politikergebnisse produziert wurden. Manche Urteile in der Literatur orientieren sich eher an punktuellen eigenen Präferenzen, nicht selten wird auch von den vermuteten Kompetenzdefiziten der Stimmbürger als Laienpolitiker in der Tendenz auf eine schlechtere Entscheidungsqualität geschlossen - oder auch umgekehrt ein "positives Vorurteil" transportiert. Dafür wird man auch ein gewisses Verständnis haben, weil eine wissenschaftlich objektivierende Beurteilung von Politikresultaten trotz Policyforschung und manchen Evaluationsansätzen noch immer zu den systematischen Schwachstellen der Politikwissenschaft
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und anderer Disziplinen gehört. In demokratischen Systemen gibt es wegen der Präferenzhoheit der Wahlbürgerschaft zusätzliche Schwierigkeiten zur Lösung dieser Probleme. Dennoch darf die Demokratieforschung die Ergebnisdimension nicht ausblenden. 18 Ein umfassender Demokratiebegriff stützt sich (hier ohne nähere Begründung) auf fünf Prinzipien: (1) grundlegende Menschenrechte, (2) Offenheit der Machtstruktur, (3) politische Gleichheit, (4) Transparenz und Rationalität, (5) politische Effektivität. Die ersten drei sind stärker prozessbezogen ausgerichtet, die Prinzipien Rationalität und Effektivität stärker ergebnisbezogen. 19 Daran gemessen, fällt es nach dem oben Ausgeführten nicht schwer, den direktdemokratischen Verfahren einen Beitrag zu grösserer Offenheit der Machtstruktur und zu politischer Gleichheit (Ausweitung verbindlicher Entscheidungsrechte) zuzusprechen. Auch die Entscheidungstransparenz wird erkennbar gesteigert. Rationalität und Effektivität sind schwerer zu fassen, müssen sie doch - in der Differenzierung von PolicyKomponenten - an moralisch-sozialen Qualitäten ebenso bemessen werden wie an Wissenqualitäten. Im Komponentenspektrum zwischen Werten und Wirkungen trifft man etwa auf den Kernbereich eines Entscheidungsthemas von Interessen, Zielen und Ressourceneinsatz. Nur wenn solche Elemente eines Policy-Konflikts zwischen Bürgerbegehren und Ratsmehrheit einer Rationalitätsprüfung (inkl. Ressourceneffizienz) und Effektivitätsbeurteilung unterzogen werden, kommt man zu vertretbaren Bewertungen der Entscheidungsresultate. Wir verfügen weder für den Output der repräsentativen Gemeindeorgane noch für die Ergebnisse der Bürgerentscheide über erprobte Evaluationskonzepte oder gar geprüfte Bilanzen. Viele, aber nicht alle direktdemokratisch geforderten Infrastruktureinrichtungen stützen sich auf hinreichend breite Nutzerinteressen in der Gemeinde. Nicht jede Verhinderung privater Investitionsprojekte muss per se irrational sein. Nicht jede Platzierung einer Entsorgungseinrichtung steht von vornherein dem Gemeinwohl näher als die entgegenstehende Folgenvermeidung. Echte Zielkonflikte sind häufiger anzutreffen als das Schwarz-Weiss von Allgemeininteresse vs. privates Minderheiteninteresse. Eine eindeutige Bewertungsrichtung ergibt sich für die bisherigen Bürgerentscheide noch nicht. 2o Nur in 18 VgJ. insgesamt Berg-Schlosser, Dirk/Giegel, Hans-Joachim (Hg.) 1999: Perspektiven der Demokratie. Probleme und Chancen im Zeitalter der Globalisierung, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. I, Frankfurt a. M.: Campus. 19 VgJ. Schiller, Theo 1999: Prinzipien und Qualifizierungskriterien von Demokratie, in: Berg-Schlosser, Dirk/Giegel, Hans-Joachim (Hg.) 1999: Perspektiven der Demokratie. Probleme und Chancen im Zeitalter der Globalisierung, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. I, Frankfurt a.M.: Campus, S. 28-56. 20 VgJ. auch den seltenen Bilanzierungsansatz auf sehr schmaler Basis bei Wagschal, Uwe 1997: Direct Democracy and Public Policy Making, in: Journal of Public Policy, Jg. 17, H. 2, S. 223-245.
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Bezug auf Ressourceneinsatz und Kosteneffizienz deutet sich bei den Stimmbürgern eine Neigung zu stärkerer Sparsamkeit an. Für Besorgnisse der Minderheitendiskriminierung durch Bürgerentscheide gibt es bisher in den deutschen Gemeinden keine Anhaltspunkte. Auch Mobilitätsbeschränkungen oder wirtschaftliche Entwicklungsblockaden lassen sich als Entscheidungstendenz nicht festmachen, umgekehrt darf man die Erwartungen an umweltfreundliche Bürgerentscheide nach den bisherigen Erfahrungen nicht allzu hoch ansetzen. Zu einer angemessen Bewertung der Entscheidungsqualität wird man insgesamt erst kommen, wenn über die Berücksichtigung der Themenschlagworte hinaus eine genauere Erfassung der jeweiligen lokalen Entscheidungskonstellation und der im Bürgerbegehren angelegten Wirkungsdynamik auf breiter empirischer Grundlage möglich sein wird. Die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in den deutschen Kommunalverfassungen hat - mit unterschiedlicher Intensität in verschiedenen Ländern - eine rege Nutzung dieser neuen direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeit in Gang gesetzt. Selbstverständlich handelt es sich um eine Ergänzung und nicht um eine Verdrängung der repräsentativen Demokratie im kommunalpolitischen System, und die Integration dieser themenzentrierten Entscheidungsverfahren in den kommunalpolitischen Handlungsrahmen ist in der Praxis noch keineswegs überall vollzogen. In erheblichem Umfang findet dabei auch eine Verschränkung mit der herkömmlichen Parteiendemokratie statt. Dennoch lassen sich nach Themenstrukturen, Initiatorengruppen und Intensivierung lokaler politischer Öffentlichkeit wichtige Impulse für die politischen Willensbildungsprozesse in zahlreichen Städten und Gemeinden feststellen. Erst längerfristig wird sich zeigen, ob strukturelle Verschiebungen und qualitative Erweiterungen der Kommunalpolitik mit diesen beteiligungsfreundlichen Entscheidungsverfahren stabilisiert werden können. Direktdemokratische Teilnahmeformen sind in Deutschland in den 90er Jahren in einer Zeit zugänglich geworden, in der gleichzeitig auch andere Beteiligungsmodelle der "diskursiven Demokratie" bzw. der "deliberativen Demokratie" in die praktische Erprobung gingen. Mit Verfahren der Mediation, der Planungszelle, der Bürgerforen oder des kooperativen Diskurses wird versucht, der Komplexität sachlicher Zusammenhänge ebenso wie der Vielfältigkeit sozialer Interessenlagen gerecht zu werden.2 1 Diese Verfah21 Vgl. Renn, Ortwin/Webler, Thomas 1998: Der kooperative Diskurs. Theoretische Grundlagen, Anforderungen, Möglichkeiten, in: Renn, O. u. a. (Hg.): Abfallpolitik im kooperativen Diskurs. Bürgerbeteiligung bei der Standortsuche für eine Deponie im Kanton Aargau, Zürich: vds, Hochschulverlag an der ETH Zürich, S. 3-103; Zilleßen, Horst (Hg.) 1998: Mediation. Kooperatives Konfliktmanagement in der Umweltpolitik, Opladen: Westdeutscher Verlag; Feindt, Peter Henning/Ges-
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rensmodelle setzen auf die Intensivierung der Kommunikation bei relativ kleinen Teilnehmerzahlen und stehen damit in einem gewissen Kontrast zur "extensiven" Entscheidungsbeteiligung der Stimmbürger. Beide Entwicklungsrichtungen reflektieren allerdings Funktionsdefizite der repräsentativen Parteiendemokratie und bieten spezifische Lösungswege an. Für die Qualifizierung der Demokratie wäre am meisten dann gewonnen, wenn diese Ansätze nicht gegeneinander ausgespielt würden, sondern mit ihren jeweiligen Potentialen wirksam werden könnten. Dabei ist auch an eine Kombination der Verfahren zu denken, da sie sich in ihren Stärken in verschiedenen Verfahrensstufen durchaus ergänzen können. Die Stimmbürger werden in dem Maße zu einer qualifizierten Beteiligung bereit sein, in dem sie auch die Erfahrung guter Politikergebnisse machen können. Literaturverzeichnis Alemann, Ulrich von (Hg.) 1975: Partizipation, Demokratisierung, Mitbestimmung, Opladen: Westdeutscher Verlag Barber, Benjamin 1994 (eng\. 1984): Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg: Rotbuch Beilharz, Günter 1981: Politische Partizipation im Rahmen des § 21 der Gemeindeordnung von Baden-Württemberg, Tübingen: Selbstverlag (zug\. Diss. Univ. Tübingen, 1981) Berg-Schlosser, Dirk/Giegel, Hans-Joachim (Hg.) 1999: Perspektiven der Demokratie. Probleme und Chancen im Zeitalter der Globalisierung, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Campus Engeli, Christian 1985: Volksbegehren und Volksentscheid im Kommunalverfassungsrecht der Weimarer Zeit, in: Archiv für Sozialgeschichte; Bd. 25/1985; S. 299-331 Feindt, Peter Henning/Gessenharter, Wolfgang/Birzer, Markus/Fröchling, Helmut (Hg.) 1996: Konfliktregelung in der offenen Bürgergesellschaft, Dettelbach: Röll Geitmann, Roland 1999: Der Siegeszug der kommunalen Direktdemokratie, in: Heußner, H. K./Jung, O. 1999: Mehr direkte Demokratie wagen, München: Olzog, S. 237-254
Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 1999: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Nordrhein-Westfalen. Bericht: Oktober 1994 - August 1999, Düsseldorf Jung, Otmar 1999: Siegeszug direktdemokratischer Institutionen als Ergänzung des repräsentativen Systems? Erfahrungen der 90er Jahre, in: v. Amim, H. H. (Hg.) 1999: Demokratie vor neuen Herausforderungen, Berlin: Duncker und Humblot, S. 103-\37
senharter, Wolfgang/Birzer, Markus/Fröchling, Helmut; (Hg.) 1996: Konfliktregelung in der offenen Bürgergesellschaft, Dettelbach: Röll.
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Kampwirth, Ralph 1999: Volksentscheid und Öffentlichkeit. Anstöße zu einer kommunikativen Theorie der direkten Demokratie, in: Schiller, T. (Hg.) 1999: Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. 2, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 17-68 Knemeyer, Franz-Ludwig 2 1997: Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik. Eine Einführung in die Mitwirkungsrechte von Bürgern auf kommunaler Ebene, Landsberg a. Lech: Olzog Lackner, Stefanie 1999: Willensbildungsprozesse im Rahmen von Bürgerentscheiden, in: Schiller, T. (Hg.) 1999: Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. 2, Frankfurt a. M./New York: Campus, S. 69-114 Lackner, Stefaniel Mittendorf, Volker 1999: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Niedersachsen: wenig bürgerfreundlich, in: Heußner, H. K./Jung, O. 1999: Mehr direkte Demokratie wagen, München: Olzog, S. 319-333 Mittendorf, Volker: Direktdemokratische Verfahren im Prozeß - Verkehrsberuhigung in Winterthur (Schweiz), in: Schiller, T. (Hg.) 1999: Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. 2, Frankfurt a. M./New York: Campus, S. 169-208 Ohlemacher, Thomas 1993: Brücken der Mobilisierung. Soziale Relais und persönliche Netzwerke in Bürgerinitiativen gegen militärischen Tiefflug, Wiesbaden (zugleich Diss. Universität FU Berlin) Paust, Andreas 1999: Direkte Demokratie in der Kommune. Zur Theorie und Empirie von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, Reihe: Beiträge zur Demokratieentwicklung von unten, Bd. 14., Bonn: Stiftung Mitarbeit, (zug!. Diss. Hagen 1999) Rehmet, Frank 1997: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Hessen. Verlaufsmuster und Wirkungen direktdemokratischer Verfahren auf kommunaler Ebene, unveröff. Diplomarbeit (Po!.wiss.), Univ. Marburg (vervielf.) Renn, OrtwinlWebler, Thomas 1998: Der kooperative Diskurs. Theoretische Grundlagen, Anforderungen, Möglichkeiten, in: Renn, O. u. a. (Hg.): Abfallpolitik im kooperativen Diskurs. Bürgerbeteiligung bei der Standortsuche für eine Deponie im Kanton Aargau, Zürich: vds, Hochschulverlag an der ETH Zürich, S. 3-103 Rössler, Udo 1993: Kommunale Planung und Partizipation in Ulm. Erfolgsbedingungen, Planungskapazität und "Lerneffekte" von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in einer baden-württembergischen Großstadt. Eine Fallstudie, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Tübingen Schenk, MichaellRössler, Patrick 1994: Das unterschätzte Publikum. Wie Themenbewußtsein und politische Meinungsbildung im Alltag von Massenmedien und interpersonaler Kommunikation beeinflußt werden, in: Neidhardt, F. (Hrsg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Sonderheft 34 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 261-295 Schiller, Theo 1999: Prinzipien und Qualifizierungskriterien von Demokratie, in: Berg-Schlosser, Dirk/Giegel, Hans-Joachim (Hg.) 1999: Perspektiven der Demo-
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kratie. Probleme und Chancen im Zeitalter der Globalisierung, Reihe: Studien zur Demokratieforschung, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Campus, S. 28-56 Schiller, Theo/Mittendorf, Volker/Rehmet, Frank 1998: Bürgerbegehren und Bürger Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Hessen - Eine Zwischenbilanz nach fünfjähriger Praxis. Daten und Analysen zu direktdemokratischen Verfahren im Zeitraum von April 1993 bis März 1998 (vervielfältigtes Manuskript), Marburg Schiller, Theo (Hg.) 1999: Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Frankfurt a. M.lNew York: Campus Schliesky, Utz 1999: Die Weiterentwicklung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, H. 2/1999, S. 91-122 Schmalz-Bruns, Rainer 1995: Reflexive Demokratie. Die demokratische Transformation moderner Politik. Baden-Baden: Nomos Schmidt, Manfred G. 32000: Demokratietheorie, Opladen: Leske+Budrich; Held, David 1987: Models of Democracy, Cambridge u.a.: Polity Press Spies, Ute 1999: Bürgerversammlung - Bürgerbegehren - Bürgerentscheid. Elemente direkter Demokratie im Hessischen Kommunalrecht, Diss. Univ. Marburg. Wagschal, Uwe 1997: Direct Democracy and Public Policy Making, in: Journal of Public Policy, Jg. 17, H. 2, S. 223-245 Wilte, Jan 1997a: Unmittelbare Gemeindedemokratie in der Weimarer Republik: Verfahren und Anwendungsausmaß in den norddeutschen Ländern, BadenBaden: Nomos Wilte, Jan 1997b: Plebiszitäre Elemente und Anwendungserfahrungen in den norddeutschen Kommunalverfassungen der Weimarer Zeit, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 3/1997, S. 425~. Zilleßen, Horst (Hg.) 1998: Mediation. Kooperatives Konfliktmanagement in der Umweltpolitik, Opladen: Westdeutscher Verlag
Politische Klasse ohne demokratische Kontrolle? Die Pathologien der politischen Professionalisierung und die Zukunft der Demokratie Von Jens Borchert
Einleitung*
Als in der späten römischen Republik der Wahlbetrug und die Korruption überhand nahmen, wurden drastische Strafen für derartige Verfehlungen eingeführt, u. a. der Verlust des passiven Wahlrechts für öffentliche Ämter. Aber noch ein weiterer Handlungsanreiz wurde geschaffen: Wer die bürgerlichen Ehrenrechte aufgrund dieser Regelung verloren hatte, konnte sie wiedererlangen, wenn er einen anderen eines ähnlichen Vergehens überführte l . Der Versuch, durch Sanktionen und Handlungsanreize das Verhalten politischer Akteure in akzeptable Bahnen zu lenken, ist also nichts Neues. Eine entsprechende Ausgestaltung politischer Institutionen kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn zuvor die zu bekämpfenden Pathologien richtig diagnostiziert wurden. Für die modemen westlichen Demokratien scheint eine solche Analyse gerade angesichts des CDU-Spendenskandals und der durch ihn ausgelösten Debatte besonders notwendig zu sein. Die Zukunft der Demokratie ist ja keineswegs bereits dadurch geklärt, daß es seit über zehn Jahren keine System-Konkurrenz mehr gibt. Im Gegenteil: Für die Demokratie westeuropäischer und nordamerikanischer Prägung kann es nicht mehr genügen, auf die fundamentalen Fehler anderer Systeme zu verweisen; sie muß sich nun mehr denn je an zwei sehr viel höheren Hürden messen lassen: ihren eigenen Versprechungen und den Erwartungen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Und dies mag auch schon die erste wichtige Einsicht sein in einer Zeit, in der zunehmend als ,modem'
* Dieser Artikel entstand im Rahmen der von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsgruppe "Politik als Beruf'. Der Verfasser hat - wieder einmal Klaus Stolz und Stefan Lessenich für kritische Hinweise zu danken. I Wolfgang Schuller, Ambitus in der späten römischen Republik: Wahlbestechung oder Entscheidungshilfe?, in: Jens Borchert, Sigrid Leitner und Klaus Stolz (Red.), Politische Korruption, Jahrbuch für Europa und Nordamerika-Studien 3, Opladen 2000, S. 188. 8 von Amim
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empfunden wird, was doch nur modisches Talmi der Unternehmensberater ist: die Bürgerinnen und Bürger nämlich umzudefinieren zu "Kunden". Festzuhalten, daß dies entgegen der landläufigen Auffassung einer Degradierung gleichkommt, ist m. E. eine wichtige Aufgabe von Sozialwissenschaftlern in der gegenwärtigen Diskussion. Die Kritik an der politischen Klasse, um die es in diesem Artikel geht, ist jedenfalls eine, die von Bürgerinnen und Bürgern kommt, nicht von Kunden. Es ist auch keine Reklamation, die mit dem Recht auf Umtausch - Gerhard Schröder eine Nummer kleiner oder größer - oder der ,Geldzurück-Garantie' zu bearbeiten wäre. Die Kritik an der politischen Klasse erweist sich vielmehr bei näherem Hinsehen als ein sehr fundamentaler Zweifel an der repräsentativen Demokratie, wie wir sie kennen, und wirft die Frage institutioneller Reformen auf. Dabei ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß diese Kritik gleichermaßen alt und neu ist. Sie ist alt, weil alle Topoi, die heute vorkommen, spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts bekannt sind? Neu ist sie insofern, als die Bündelung dieser Kritik im Begriff der politischen Klasse relativ jungen Datums ist. Der vom italienischen Sozial wissenschaftler (und Politiker) Gaetano Mosca in den 1880er Jahren als neutrale Kategorie eingeführte Begriff war auch in der deutschen Sozialwissenschaft Anfang dieses Jahrhunderts durchaus präsent, geriet später jedoch in Vergessenheit. In den romanischen Ländern, speziell in Italien, blieb er gebräuchlich und war stets gleichermaßen mit einem kritischen Unterton wie der fatalistischen Einsicht in die Unabänderlichkeit der Existenz einer solchen politischen Klasse verbunden. In Deutschland kam er in den 80er Jahren wieder in Gebrauch, zunächst vorwiegend journalistisch-publizistisch und mit einem deutlich abwertenden Beigeschmack. Weil das so ist, muß man auch heute noch stets extra darauf verweisen, wenn man ihn - in Anlehnung an die frühe sowialwissenschaftliche Diskussion - in neutraler, analytischer Absicht gebraucht. I. Die Kritik an der politischen Klasse und ihre Bezugspunkte Unter politischer Klasse möchte ich hier die Gesamtheit der Berufspolitiker eines Landes oder eines anderen fest umgrenzten Gebietes verstehen, sofern sie so etwas wie ein gemeinsames Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zu dieser Klasse und gemeinsame Interessen entwickelt haben. 3 Welches 2 Die Kritik an Politikern ist natürlich viel älter, erhält jedoch mit der Demokratisierung und Parlamentarisierung der Politik erst ihren modernen Gegenstand. Vgl. dazu etwa Werner Sombart, Die Politik als Beruf, in: Morgen, Vol. I, Nr. 7, 26. Juli 1907, S. 195 ff.
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sind nun die Kritikpunkte an dieser politischen Klasse? Und welche Refonnvorschläge gibt es, um die diagnostizierten Mißstände zu beheben? Schließlich: welche möglichen nicht-intendierten Konsequenzen wären bei einer Verwirklichung dieser Reformkonzepte zu erwarten? Im einzelnen lassen sich zehn Gegenstände der Politikerkritik ausmachen, die in der Praxis in vielfältigen Kombinationen vorkommen, die sich jedoch analytisch trennen lassen und die man auch getrennt betrachten sollte, um sie auf ihren jeweiligen Gehalt hin überprüfen zu können 4 : -
die Professionalisierung der Politik, die mangelnde Repräsentativität der Politiker, die mangelnde Qualität der Politiker, zu hohe Diäten, zu hohe Versorgungsleistungen und Nebeneinkünfte von Politikern, das Privileg, die eigenen Bezüge selbst festlegen zu können, die Ausdehnung des Parteienzugriffs auf Staat und Gesellschaft, die fehlende Abwählbarkeit, fehlende Responsivität der Politiker gegenüber den Bürgern, die Abgehobenheit der Politikfonnulierung. 11. Die Kritik an der politischen Professionalisierung
1. Die Professionalisierung der Politik: Die grundSätzlichste Kritik ist die am Berufsstand des Politikers. Hier wird die Tatsache an sich, daß Politik, wie Max Weber bereits 1919 feststellte, zum Beruf geworden ist, für unvereinbar mit den Prinzipien der repräsentativen Demokratie gehalten. Warum?
Nun, wenn Politik eigentlich eine Angelegenheit aller Bürgerinnen und Bürger einer Gebietskörperschaft ist, die sie nur aus pragmatischen Grün3 Vgl. konzeptionell zur Kategorie der politischen Klasse Jens Borchert, Lutz Golsch, Die politische Klasse in westlichen Demokratien: Rekrutierung, Karriereinteressen und institutioneller Wandel, in: Politische Vierteljahresschrift, 36, 1995, 609 ff. sowie Jens Borchert, Politik als Beruf, in: ders. (Hrsg.), Politik als Beruf, Opladen 1999, S. 7 ff. 4 Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, scheint mir aber bei aller Willkürlichkeit doch die wichtigsten Aspekte zu erfassen. In der Diskussion in Speyer ergänzte der Thüringische Landtagsabgeordnete und frühere Landtagsvizepräsident Roland Hahnemann (PDS) die Aufzählung um den Punkt der mangelnden Transparenz. Dies wäre in der Tat ein weiterer Gegenstand der Kritik, der sich jedoch stärker gegen die Institution Parlament als gegen die einzelnen Politiker richtel.
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den - Zeitaufwand, Problem der großen Zahl etc. - an ihre Vertreter in den Parlamenten delegieren, dann sollte prinzipiell jede und jeder die Möglichkeit haben, irgendwann in ihrem oder seinem Leben einmal im Parlament zu sitzen. Das in vielen politischen Kulturen verbreitete Leitbild des ,citizen legislator' definiert das Politikerdasein als in seiner zeitlichen Ausdehnung und vom zeitlichen Aufwand - also in puncto Extensität und Intensität - eher eng begrenzte Tätigkeit, die jeder und jedem offenstehen sollte. Das Parlament, so die Prämisse, sollte ein verkleinertes Abbild der Bevölkerung sein, dessen personelle Zusammensetzung einer starken Auktuation unterworfen ist, um so möglichst viele zu beteiligen. Politik ist hier Bürgerpflicht - in einem ganz ähnlichen Sinne wie etwa der Dienst als Geschworener. Ein solches Verständnis ist in sonst so unterschiedlichen Ländern wie Schweden und den USA tief in der politischen Kultur verwurzelt5 • Am stärksten ist es wohl in der Schweiz ausgeprägt, wo vom "Miliz-Parlament" gesprochen wird, die Abgeordnetentätigkeit also dem gleichen Prinzip zugeordnet wird wie der Militärdienst.6 Aus der Sicht eines solches Demokratieverständnisses ist das Problem offenkundig, wenn Politik zum Beruf wird: Politiker werden zu einer abgrenzbaren Gruppe von Menschen, die versuchen, "dauerhaft" ihren Lebensunterhalt aus der Politik zu bestreiten. Wie bei allen anderen Berufen auch entstehen Sonderinteressen der Politiker als Berufsgruppe gegenüber dem Rest der Gesellschaft - nicht anders, als das auch bei Ärzten, Architekten oder Juristen der Fall ist. Die Politiker werden zu einer Gruppe für sich, die ihre eigenen Interessen verfolgt. 7 Eine solche Entwicklung ist für die Verfechter des Amateurpolitikertums keinesfalls hinnehmbar, da sie ihren Vorstellungen nicht nur zuwiderläuft, sondern sie dauerhaft unterminiert: Gibt es erst einmal eine Berufspolitikerschaft, wird es sehr schwer, sie wieder abzuschaffen. Dennoch hat genau diese Professionalisierung der Politik in allen westlichen Demokratien einschließlich der Schweiz - stattgefunden. Damit stellt sich die Frage, ob die Kritik an der Professionalisierung der Politik heute noch mehr sein S Vgl. Magnus Hagevi, Sweden: Popular Participation Demands and Professional Politics, in: Jens Borchert, Jürgen Zeiß (Hrsg.), Politics as a Vocation (i. E.); Jens Borchert, Gary Copeland, USA: Eine politische Klasse von Entrepreneuren, in: Borchert (Hrsg.), a. a. 0., S. 456 ff. 6 Vgl. Reto Wiesli, Schweiz: Miliz-Mythos und unvollkommene Professionalisierung, in: Borchert (Hrsg.), a.a.O., S. 415 ff. 7 Bereits Sombart spricht von der "Entstehung eines selbständigen politischen Gewerbes, einer Zunft von Berufspolitikern". Vgl. Sombart, a.a.O., S. 196. Zur Professionalisierung der "professions" und ihren Folgen allgemein vgl. die Beiträge in Howard M. Vollmer, Donald L. Mills (Hrsg.), Professionalization, Englewood Cliffs 1966, zu den Besonderheiten der Professionalisierung der Politik Alfio Mastropaolo, Saggio sul Professionismo Politico, Mailand 1984.
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kann als eine romantische Reminiszenz an längst vergangene Tage. Zu einem beträchtlichen Anteil ist diese Frage zu verneinen. Eine Rückkehr zu einer nicht-professionellen Organisation der Politik erscheint ausgeschlossen. Dennoch wird genau das immer wieder eingefordert. Die amerikanische Debatte um "term limits" etwa richtet sich klar gegen das Berufspolitikerturn und zielt ganz explizit auf eine Deprofessionalisierung der Parlamente, um damit wieder Platz für den Amateurpolitiker zu schaffens. Am Beispiel der term limits-Diskussion läßt sich auch sehr gut zeigen, wie wenig manche Reformforderungen ihre nicht-intendierten Konsequenzen mit reflektieren. Denn welche Auswirkungen auf die Machtverteilung in einem modemen politischen System ergeben sich, wenn man die Legislative mit Abgeordneten bestückt, die ihren Dienst dort nur kurzzeitig und halbberuflich versehen? Das Resultat dürfte keineswegs eine Steigerung des Bürgereinflusses auf die Politik sein, wie immer wieder behauptet wird. Vielmehr werden diejenigen dieses Vakuum nutzen, die dauerhaft und professionell in der Politik tätig sind - in diesem Fall also die Exekutive, die Bürokratie und die Interessengruppen. Eine solche Entwicklung ist demokratietheoretisch genauso wenig wünschenswert wie die weitergehende Forderung, dann müsse man eben die Politik insgesamt deprofessionalisieren, realistisch ist. Arbeitsteilung und soziale Differenzierung sind konstitutive Elemente moderner Gesellschaften. Dahinter kann auch die Politik nicht zurückfallen, deren regulative Bedeutung für Ökonomie und Gesellschaft immens gewachsen ist, was auch durch den Globalisierungsdiskurs, der zuweilen das Gegenteil postuliert, nicht verdeckt werden kann. Selbst die Grünen, die doch angetreten waren, der Professionalisierung der Politik mittels Ämterrotation Einhalt zu gebieten, mußten sehr schnell die Erfahrung machen, daß a) die Komplexität politischer Prozesse für eine längerfristige Tätigkeit spricht und b) die Wählerinnen und Wähler nicht nur Repräsentativität, sondern auch Sachkompetenz erwarten und sich keinesfalls mit einer Politik des "avanti i dilettanti" zufriedengeben mögen. Vor allem aber machten sie eine sehr interessante dritte Erfahrung: Aus der Teilung eines Mandates in zwei Arbeitsplätze - für die Mandatsinhaberin und ihren Nachrücker - entstanden in der Regel zwei Berufspolitiker. D. h., die Grünen professionalisierten sich doppelt so schnell wie andere Parteien. Und dieses sicherlich ungewollte Ergebnis des Rotationsverfahrens war organisationssoziologisch betrachtet auch noch höchst funktional: Anders wären die vielen gewonnenen Mandate gar nicht qualifiziert zu besetzen gewesen. 8 Vgl. etwa George Will, Restoration. Congress, Term Limits, and the Recovery of Deliberative Democracy, New York 1992.
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Ein grundlegendes Paradox der Diskussion um die politische Klasse lautet daher, daß die Professionalisierung der Politik unurnkehrbar ist, während sich ein Großteil der Kritik an der politischen Klasse - ob von links, von rechts oder aus liberaler Perspektive - gerade an dieser Professionalisierung festmachen läßt. Das Unbehagen an der Tatsache des Berufspolitikertums - auf das wir noch zurückkommen werden - ist vermutlich ebenso unvermeidlich wie die Professionalisierung selbst. Indes wäre es schon gut, wenn politische Professionalisierung in der Wissenschaft, in der Publizistik und auch in der Öffentlichkeit als das gesehen würde, als was sie Max Weber schon vor 80 Jahren charakterisiert hat: als ein letztlich unaufhaltsamer gesellschaftlicher Makrotrend - wie die Industrialisierung oder die Demokratisierung. Damit aber entzieht sich die Professionalisierung notwendigerweise der demokratischen Kontrolle. llI. Die Kritik am politischen Personal
2. Die mangelnde Repräsentativität der Politiker: Hier richtet sich die Kritik gegen die personelle Zusammensetzung der Politiker. Auch dieses ist ein sehr altes Thema und Grundlage für Politikerschelte aus jeder denkbaren politischen Richtung. Basis der Kritik kann sowohl die soziale und berufliche Herkunft der Politiker sein - man denke etwa die Kritik am Bundestag als Beamtenparlament - wie ihre inhaltlichen Anschauungen, meistens jedoch der Zusammenhang zwischen beidem. Die Kritik an der Repräsentationsleistung der Abgeordneten verbindet typischerweise Input-orientierte Aspekte ("was sind das für Leute?") mit Output-orientierten ("was machen die für eine Politik?"). Der gemeinsame Nenner, auf den sich diese Kritik an der Zusammensetzung der politischen Klasse bringen läßt, ist in der Regel: "die" sind zu wenig wie "wir", die unterscheiden sich zu sehr von uns und werden daher auch unsere Interessen nicht in angemessener Weise berücksichtigen. Wird diese Kritik jenseits bloßen Eigeninteresses erhoben, zielt sie auf eine möglichst genaue Abbildung der Gesellschaft im Parlament. Was auf den ersten Blick wie eine demokratietheoretisch durchaus angemessene Vorstellung anmutet, ist bei näherem Hinsehen doch recht problematisch. Jeder Mensch vereinigt in sich eine Vielzahl von Identitäten - Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, regionale Herkunft, Religion, sexuelle Präferenz, organisatorische Zugehörigkeit, politische Überzeugung. Sollen diese multiplen Identitäten nun parlamentarisch repräsentiert werden, ergibt sich ein kaum lösbares Problem. In der Praxis wird dieses Problem dadurch umgangen, daß zu bestimmten Zeiten immer nur eine Repräsentationslücke entdeckt und deren Schließung angemahnt wird. Die Quotierung von Kandidatenlisten nach Geschlecht ist so Ausdruck einer bestimmten gesellschaftli-
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chen und politischen Prioritätensetzung - oder auch Durchsetzungskraft. Nur: Prinzipiell wird es immer Gruppen geben, die unterrepäsentiert sind. Darüber hinaus muß ja auch jede Abgeordnete und jeder Abgeordneter eine ganze Reihe von Identitäten repräsentieren und dabei im Einzelfall Prioritäten setzen, die auch das elaborierteste Quotensystem nicht berücksichtigen kann. Die Frage, ob und wie sich die personelle Zusammensetzung des Parlamentes auf die Politikinhalte auswirkt, muß dabei noch offen bleiben. Die bisherigen Erkenntnisse zu diesem Thema sind durchaus widersprüchlich9 . Vor allem aber müßte ein System, das versucht, größtmögliche Repräsentativität zu erreichen, darauf verzichten, seinen Bürgerinnen und Bürgern noch eine echte Wahlmöglichkeit zu lassen. Die Zusammensetzung von Repräsentativorganen ergäbe sich quasi von selbst. Demokratische Kontrolle und Verantwortung würden damit also deutlich verringert. 3. Die mangelnde Qualität der politischen Klasse: In eine ganz andere Richtung zielt die Kritik am Qualitätsdefizit der Politikerschaft. Hier ist die Prämisse, daß Politik von den Besten einer Gesellschaft gemacht werden sollte. Die nicht besonders überraschende Diagnose ist dann, daß dies tatsächlich nicht der Fall ist. Diese besonders von konservativer und altliberaler Seite vorgebrachte Kritik - die jedoch auch breiten Widerhall in der Bevölkerung findet - richtet sich gegen vorherrschende Rekrutierungswege und vennutet institutionelle Barrieren, durch welche die eigentlich Prädestinierten davon abgehalten werden, in die Politik zu gehen. Negativ vennerkt wird hier in aller Regel das Parteienmonopol und die Anforderung der sog. ,Ochsentour', durch die fähigere Leute von politischen Positionen femgehalten werden. Auch die starke Vertretung des öffentlichen Dienstes wird als Zeichen des Verfalls betrachtet und moniert. Wer aber sollte Politiker sein, wenn nicht die, die es jetzt sind? Im wesentlichen lassen sich hier zwei Richtungen unterscheiden. Die einen wollen die Politik den Experten überantworten. An die Stelle des ,Parteiengezänkes' sollen ,sachgerechte' Entscheidungen von Leuten treten, die ,etwas davon verstehen'. Auch dies ist ein sehr altes Thema der deutschen Politikerkritik: Es ist die Kritik an der Politik schlechthin, an der Demokratie zumal, die in den Traum von der apolitischen und ach so harmonischen Technokratie mündet, mit dem wir uns hier wohl nicht weiter befassen müssen. Ernster zu nehmen ist die zweite Richtung der Qualitätskritiker. Sie fordern den Seiteneinsteiger. Das gesellschaftliche Potential an Wissen und Fähigkeiten, das der Politik verschlossen bleibt, soll genutzt, ,gestandene' Männer und Frauen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen in die 9 Vgl. etwa Sue Thomas, How Women Legislate, New York 1994 vs. Carol Swain, Black Faces, Black Interests, Cambridge/Mass. 1993.
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Politik gebracht werden. Diese Forderung basiert auf der richtigen Erkenntnis, daß in der Bundesrepublik die Durchlässigkeit zwischen der Politik und anderen gesellschaftlichen Bereichen recht gering ist. Ist diese Forderung aber auch realistisch? Die Beispiele von Seiteneinsteigern, die wir kennen, stimmen skeptisch. Das gilt für den kurzzeitigen Kandidaten für das Wirtschaftsministerium, Stollmann - wer erinnert sich überhaupt noch an den ? - wie für viele andere. Und selbst die Erfahrungen mit dem aus einem politiknahen Feld rekrutierten Walter Riester im Amt des Bundesarbeitsministers drängen einen nicht unbedingt zur massenhaften Wiederholung dieser Praxis. Nun könnte man ja sagen, daß dies eben ein Ergebnis des bundesdeutschen Systems ist, das derartiges einfach nicht zulässt und eben deshalb der Reformen bedarf. Der oft eingeforderte Blick in die USA belehrt uns jedoch schnell eines besseren. Auch hier, wo Kandidaten für politische Ämter sich im wesentlichen selbst rekrutieren, wo der Einfluß von Parteien auf die Kandidatenkür minimal ist, gibt es entgegen landläufiger Vorstellungen kaum Seiteneinsteiger. Im Gegenteil: Die meisten Berufspolitiker beginnen ihre Laufbahn deutlich früher als hierzulande und haben nach dem College oder der Universität nie etwas anderes als Politik gemacht. Andere werden gar schon als Politiker geboren, sind die Erben politischer Dynastien wie jetzt wieder George Bush, Jr. und Al Gore. Und selbst die wenigen, aber oft zitierten Fälle, in denen "Schauspieler, Sportler und Astronauten" - wie Ronald Reagan, Bill Bradley, Jack Kemp und John Glenn - in die Politik gehen, sind bei genauerer Betrachtung kein starker Beleg für die These vom Seiteneinsteiger, da selbst sie i. d. R. schon lange in der Politik tätig sind, bevor sie höhere Ämter erringen 10. Politik ist mehr als neutrale Problemlösung. Sie erfordert spezifische Kenntnisse und Erfahrungen, die nur in der Politik erworben werden können. Der Seiteneinsteiger als Außenseiter, der alles anders und besser macht als das herkömmliche Personal, ist insofern ein Mythos. Die Kavallerie, die im entscheidenden Moment die Szene betritt und die Dinge wieder in Ordnung bringt, gibt es nicht. Keine Demokratie der Welt hat einen nennenswerten Anteil an Seiteneinsteigern aufzuweisen. Diktaturen sind da erfolgreicher - bei der ,Generalskonversion'. Davon unberührt bleibt freilich die allgemeine Feststellung, daß berufliche Karrieren in Deutschland ungewöhnlich undurchlässig sind und auch der Politik eine etwas größere Durchlässigkeit nur nützen könnte. Daß damit auch unbeabsichtigte, aber durchaus folgenreiche Nebenwirkungen verbunden sein können, zeigen 10 Vgl. David Canon, Actors, Athletes, and Astronauts. Political Amateurs in the United States Congress, Chicago 1990 sowie Jens Borchert, Seiteneinsteiger als Normalfall? Erfahrungen aus den USA, Vortrag, Tutzing, 1999, unveröff. Mskr.
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sowohl das amerikanische Beispiel der "revolving door" zwischen Politik und Interessengruppen wie das französische Exempel der zwischen Politik, Verwaltung und Wirtschaft rochierenden ENA-Absolventen 11.
IV. Die Kritik an der Bezahlung 4. Zu hohe Diäten: Daß Politiker zu gut bezahlt werden, gehört längst zum Allgemeingut der öffentlichen Diskussion. Seit es Diäten gibt - also in Deutschland seit 1906 -, werden ihre Höhe und die dafür erbrachten Gegenleistungen in der Öffentlichkeit kritisiert. Bereits aus der Weimarer Politik ist das Lamento eines Reichstagsabgeordneten über diese Kritik überliefert 12. Politikern wird Geldgier unterstellt - und die Möglichkeit, sie zu befriedigen. Hier kommt wiederum die Ambivalenz gegenüber der Professionalisierung der Politik zum Tragen.
Wenn man akzeptiert, daß Politik - auch - ein Berufsfeld ist, und zumal eines von erheblicher Bedeutung, sollte die Bezahlung eigentlich nicht der entscheidende Punkt sein. Dies gilt zumal dann, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der lange Kampf um die Einführung von Diäten historisch auf das Engste mit dem Kampf um die Demokratie verbunden war l3 • Gerade wenn man den Zugang zum Parlament demokratisieren wollte, mußte man qua angemessener Diäten die Abkömmlichkeit der Abgeordneten sicherstellen. Dies gilt im Kern auch heute noch, so daß die Kritik an der Höhe der Diäten m. E. nicht gerechtfertigt ist. Natürlich kann man über die Bedeutung des Begriffes "angemessene Höhe" trefflich streiten. Und wenn Politiker beklagen, sie würden im Vergleich zu Spitzenmanagern zu wenig verdienen, muß man schon fragen, wie vielen von ihnen dieser Weg denn offengestanden hätte. (Nebenbei bemerkt verdienen - aufgrund völlig anderer Mechanismen - ja vielleicht auch Spitzenmanager unangemessen viel.) Die Forderung nach dem "low budget"- oder "Discountpolitiker" verkennt jedoch die daraus resultierende Ungleichheit unter den Abgeordneten wie auch die dann noch größere Neigung, sich legale oder illegale Nebeneinkünfte zu erschließen. 5. Zu hohe Versorgungsleistungen: Eng mit der Kritik an den Diäten und ihrer Höhe verbunden ist die Kritik an den Versorgungsleistungen (Pensio11 Vgl. dazu etwa Ezra Suleiman, Les elites de I'administration et de la politique dans la France de la ye Republique, in: ders. und Henri Mendras (Hrsg.), Le recrutement des elites en Europe, Paris 1997, S. 19 ff. 12 Walther Lambach, Der Abgeordnete, in: Paul Löbe (Hrsg.), Der Deutsche Reichstag, Berlin 1929, S. 19 ff. 13 Vgl. dazu Christian Jansen, Selbstbewußtes oder gefügiges Parlament? Abgeordnetendiäten und Berufspolitiker in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 25, 1999, S. 33 ff.
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nen, Übergangsgelder, Privilegien etc.). Hierzu hat Hans Herbert von Arnim bereits so viel gesagt 14, daß dem wenig hinzuzufügen ist. Festzuhalten bleibt lediglich, daß die Existenz solcher Leistungen durch die relative Unsicherheit des Berufes "Politiker" prinzipiell gerechtfertigt ist. Die Frage ist hier, wie man unbestrittenen Versorgungsexzessen - vgl. etwa die Fälle Yzer und zuletzt Hintze - beikommt. Und damit sind wir auch schon bei dem Punkt, der in der Frage der Diäten und sonstigen Bezüge von Politikern eigentlich der zentrale ist.
V. Die Kritik an der fehlenden demokratischen Kontrolle 6. Die Regelungskompetenz in eigener Sache: Das öffentliche Mißtrauen gegenüber der Besoldung öffentlicher Mandats- und Amtsträger richtet sich mehr noch als gegen die absolute Höhe der Bezüge gegen die Möglichkeit, diese Höhe selbst festzulegen. Diese im Berufsleben in der Tat ziemlich einmalige Situation ist es, die den Eindruck der ,Selbstbedienungsmentalität' entstehen läßt und immer wieder Kritiker auf den Plan ruft. Hier scheint es in der Tat einen Mangel an demokratischer Kontrolle zu geben. Wie aber könnte eine solche Kontrolle aussehen? In der Praxis werden immer wieder zwei Reformvorschläge diskutiert. Der eine sieht die Einrichtung unabhängiger Kommissionen vor, die über eine Anpassung der Bezüge entscheiden. Das andere Modell ist das einer automatischen Kopplung der Diäten an wahlweise den Inflationsindex oder die Bearnten- oder Richterbezüge. Aber auch diese Modelle haben ihre Tücken: Wer z. B. sitzt in einer solchen ,unabhängigen' Kommission? Es ist praktisch niemand denkbar, der nicht selbst umgekehrt auf politische Entscheidungen - und das heißt, auf das Entgegenkommen eben derjenigen, über deren Bezüge er oder sie befinden würde - angewiesen ist. In gewisser Weise würde eine solche Regelung einer Institutionalisierung der Korruption gleichkommen. Hier wäre eine automatische Anpassung der bessere Weg. Der Nachteil wäre dabei jedoch zum einen, daß strukturelle Defizite der Politikerbesoldung - etwa das Verhältnis von Diäten und steuerfreier Aufwandsentschädigung - auf diese Weise wohl nie korrigiert werden könnten. Zum anderen würde so die Diskussion um die Diäten ein für allemal beendet. Was manchen wünschenswert erscheinen mag, würde jedoch in Wahrheit den effektivsten Schutz gegen eine zu hohe Besoldung beseitigen, denn die Diätendiskussion schafft gleichzeitig Öffentlichkeit für die grundlegenden Fragen, die in einer Demokratie in der Tat immer wieder diskutiert werden sollten. Obwohl also die Diskussion um die Diätenhöhe und das Einkommen von 14 Vgl. zuletzt Hans Herbert von Arnim, Diener vieler Herren, München 1998, bes. Kapitel 6 und 7.
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Politikern häufig allzu kritisch verläuft, ist es jedoch gerade sie, die den effektivsten Kontrollmechanismus in dieser Frage bietet. Wenn man hier eine Reform vornehmen will, sollte sie allenfalls in der Einrichtung einer Kommission bestehen, die diese Diskussion immer wieder dadurch anstößt, daß sie einen regelmäßigen Bericht zu Diäten und anderen Bezügen von Politikern veröffentlicht. 7. Der Parteienstaat: Ein ewiger Topos der deutschen - wie der internationalen - Politikkritik ist die Parteienkritik l5 • Konkreter Gegenstand dieses Unbehagens ist in der bundesdeutschen Gegenwart das, was Beyme die "Kolonialisierung" von Staat und Gesellschaft genannt hat. Parteien haben nicht nur ein Monopol auf die Besetzung öffentlicher Ämter, ihr Zugriff reicht tief in die staatliche Verwaltung und in gesellschaftliche Institutionen hinein. Zum einen werden dabei Positionen selbst auf unteren Ebenen als Verfügungsmasse betrachtet und nach Patronagegesichtspunkten verteilt. Zum anderen dienen leitende Funktionen - etwa in Aufsichts- und Verwaltungsräten - als Rückfallposition für die Inhaber öffentlicher Ämter bzw. als Möglichkeit, ,ein bißehen was dazu zu verdienen'. Beides geschieht in Form eines Parteienkartells, das sich im Wege des Proporzes über die Vergabe von Positionen verständigt. Elmar Wiesendahl hat diese Zusammenhänge im Rahmen des letzten Speyerer Demokratieforums so treffend analysiert, daß ich ihn hier nicht zu wiederholen brauche l6 • Das Problem der parteienstaatlichen Vereinnahmung ist ein reales, selbst wenn man - wie ich das ausdrücklich tun möchte - die Interessenaggregation durch Parteien bejaht und für notwendig hält. Die Patronagemacht der Parteien in der Verwaltung sollte beschränkt werden. Ebenso sollten leitende Positionen in staatlichen oder gesellschaftlichen
15 Vgl. etwa Thomas Mergel, Gegenbild, Vorbild, und Schreckbild. Die amerikanischen Parteien in der Wahrnehmung der deutschen politischen Öffentlichkeit 1890-1920, in: Dieter Dowe, Jürgen Kocka und Heinrich A. Winkler (Hrsg.), Parteien im Wandel, München 1999, S. 363 ff. sowie international das Themenheft The Politics of Anti-Party Sentiment des European Journal of Political Research, Vol. 29, Heft 3, 1996, herausgegeben von Thomas Poguntke und Susan Scarrow. Historisch ist auf Moisei Ostrogorski zu verweisen, der die Entwicklung moderner Parteien im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts ausführlich beschrieb und analysierte, um dann ihre Abschaffung zu fordern. Ersetzt werden sollten sie durch ad-hoc-Koalitionen. Vgl. Moisei Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties, New York 1902. Die von ihm nicht ausreichend bedachten Probleme einer solchen Lösung betreffen übrigens auch manchen Vorschlag zur Einführung direktdemokratischer Elemente. 16 Vgl. seinen sehr lesenswerten Beitrag: Elmar Wiesendahl, Parteien in Deutschland auf dem Weg zu Kartellparteien?, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für ..gute" und bürgernahe Politik? Berlin 1999, S. 49 ff.
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Einrichtungen nicht als Versorgungsposten für abgewählte oder in der eigenen Partei weggelobte Politiker mißbraucht werden. Bei den Reformen, die dies bewerkstelligen sollen, gilt es allerdings darauf zu achten, daß das Parteienmonopol nicht durch ein Verbändemonopol ersetzt wird. In Deutschland gibt es eine starke Tradition des Verbändezugriffs auf jene Bereiche, die von den Parteien unbesetzt geblieben sind. Dies ist jedoch noch kritischer zu beurteilen als die dominante Rolle der Parteien, da Verbände qua Definition Partikularinteressen vertreten und sich zudem keinem Wähler stellen müssen. Daher ist Skepsis angebracht, wenn es etwa heißt, die Rolle der Parteien in einem Rundfunkrat solle begrenzt werden, indem mehr "Vertreter gesellschaftlicher Gruppen" berücksichtigt werden. Demokratische Kontrolle verwirklichen heißt hier Organisationsmacht neutralisieren, sowohl jene der Parteien als auch jene der Verbände oder der Kirchen - aber natürlich auch jene von Initiativen, die im städtischen Kontext durchaus in der Lage sein können, eine solche Organisationsmacht zu mobilisieren. Hinter der modischen Rede von der Zivilgesellschaft verbergen sich nur allzu oft nicht weiter legitimierte, aber um so mächtigere Vertreter von Partikularinteressen. Daß Parteien mindestens mehr sein können, verdient bei aller Parteienkritik festgehalten zu werden und macht die Parteien auch in Zukunft unentbehrlich. 8. Die Abgehobenheit der Politikformulierung: Nur angerissen werden kann hier ein weites Feld der Kritik, das sich um fehlende Partizipationsmöglichkeiten bei der Formulierung der Politikinhalte richtet. Warum ist sich die politische Klasse so einig darin, die Bürger möglichst wenig zu beteiligen, wenn sie sich doch andererseits inhaltlich in aller Regel nicht einig ist? Die Antwort liegt in der Motivationsstruktur von Politikern. Die Diäten- und Spendendebatten verdecken zuweilen, daß es den Akteuren durchaus nicht nicht primär ums Geld geht. Macht, Prominenz, Einfluß auf Inhalte sind starke Motive, die allesamt an die Besonderung der Politiker gegenüber dem Rest der Bevölkerung gebunden sind. Die Uneinigkeit der Parteien (und ihrer Flügel) ist kalkulierbar, auf jeden Fall ist man/frau Mitspieler (und schon damit wichtig); die Bürgerinnen und Bürger andererseits sind weniger kalkulierbar, und ihre Mitwirkung würde der Exklusivität des Spiels doch merklich Abbruch tun. Meine Sympathien liegen deutlich auf der Seite direktdemokratischer Elemente in der repräsentativen Demokratie. Deren Ausgestaltung und Realisierungschancen sind andernorts ausführlicher erörtert worden 17. Aber bei aller 17 Vgl. unter vielen Shaun Bowler, Todd Donovan, Caroline J. Tolbert (Hrsg.), Citizens as Legislators. Direct Democracy in the Uni ted States, Columbus 1998; lan Budge, The New Challenge of Direct Democracy, Cambridge 1996; Wolfgang Luthardt, Direkte Demokratie, Baden-Baden 1994; Silvano Möckli, Direkte Demokratie, Bern 1994; Theo Schiller (Hrsg.), Direkte Demokratie in Theorie und kom-
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Begeisterung wäre es unehrlich, nicht auf einige potentielle Nachteile direktdemokratischer Verfahren hinzuweisen. Die vier wichtigsten sind m. E.: - die Gefahr populistischer Kampagnen, - die Umsetzung finanz starker Interessen in politische Macht, - der überproportionale Einfluß kleiner Gruppen, - die Gefahr schlechterer Politik. Zum Populismus brauche ich nicht viel zu sagen, die Gefahr ist ziemlich offenkundig; andererseits beobachten wir gegenwärtig ja auch genügend populistische Aktivitäten, ohne daß wir direktdemokratische Verfahren hätten. Wichtiger scheint mir die kalifornische Erfahrung mit finanzstarken Interessen, die Volksabstimmungen mittels ihrer PR-Maschinerie zu ihren Gunsten entscheiden. 18 Hier bedürfte es mit Sicherheit Beschränkungen. Aus der Schweizer Erfahrung wiederum wissen wir, daß bei geringer Wahlbeteiligung kleine Gruppen eine besonders gute Chance haben, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen. Anderseits dürfen wir hier vielleicht auf einen Lerneffekt bei den Stimmberechtigten hoffen. Die Gefahr schlechter Politik ist wohl das grundsätzlichste Gegenargument - und es ist m. E. nicht von der Hand zu weisen, wenngleich die Befürworter direktdemokratischer Reformen umstandslos von einer automatischen Verbesserung nicht nur der demokratischen Verfahren, sondern auch der Inhalte und der Ergebnisse der Politik auszugehen scheinen. Direktdemokratische Verfahren bedürfen der Vereinfachung komplexer Sachverhalte, und die große Mehrheit der Abstimmenden hat relativ geringe Kenntnisse über die jeweilige Materie. 19 Daß es hier leichter zu Fehlentscheidungen kommen wird als in rein repräsentativen Verfahren, dürfte offenkundig sein. Die Frage ist nur, ob man dazu bereit ist, das aufgrund des demokratischeren Entscheidungsverfahrens - einschließlich der Möglichkeit, Fehlentscheidungen zu korrigieren - und der damit verbundenen Integration der Gesellschaft in Kauf zu nehmen. Persönlich kann ich sagen, daß ich dazu bereit bin. Es handelt sich hier jedoch um einen , trade-off' zwischen Input und munaler Praxis, Frankfurt 1999. Viele der Kritiker direktdemokratischer Elemente sind in Günther Rüther, Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie - eine Alternative?, Baden-Baden 1996 versammelt. Ebenfalls zu einem kritischen Urteil kommt nach einer recht abgewogenen Diskussion Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, Opladen 1995, S. 253 ff. 18 Vgl. David McCuan et al., California's Political Warriors: Campaign Professionals and the Initiative Process, in: Bowler, Donovan, Tolbert (Hrsg.) a. a. 0., S. 55 ff. sowie Elizabeth Gerber, Pressuring Legislatures through the Use of Initiatives, in: ebenda, S. 191 ff. Elizabeth Gerber, The Populist Paradox, Princeton 1999, betont besonders die Obstruktionsmacht finanzstarker Interessen bei Referenden. 19 Daß das bei Abgeordneten nicht notwendigerweise besser sein muß, zeigt Geraid Häfner in seinem Beitrag in diesem Band.
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Output der Politik. Je nachdem, was man höher gewichtet, wird man sich unterschiedlich entscheiden. Vermutlich sind hier jedoch gerade in Deutschland mit seiner stark output-orientierten politischen Kultur20 - die sich ja bezeichnenderweise sowohl in den Argumenten der Befürworter wie in jenen der Gegner direktdemokratischer Elemente an prominenter Stelle wiederfinden - die zu überwindenden Hürden besonders hoch. 9. die mangelnde Responsivität: Politiker verwechseln Responsivität oft mit Präsenz und wundem sich über eine Kritik, die ihre physische Anwesenheit bei so vielen Terminen in ihren Wahlkreisen nicht honoriert. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten aber zunehmend, daß sie mit ihren Anliegen ernst genommen werden und daß sich diese Anliegen in den Aktivitäten ihrer Abgeordneten niederschlagen. Erwartet wird der folgenreiche Zugang zum Abgeordneten?l Realisieren läßt sich dies auf ganz unterschiedliche Weise. Einen Weg markiert die amerikanische Praxis: Die Abgeordneten fungieren als Ombudsleute ihrer Wahlkreise. Ihre Büros sind überwiegend mit ,casework' beschäftigt, also damit, die Probleme ihrer Wählerinnen und Wähler mit staatlichen Stellen zu bearbeiten. Ein Vorbild für Deutschland? Kaum: ,constituency service' ist zu einem wichtigen Faktor für die Wiederwahl amerikanischer Kongreßabgeordneter geworden. Und hier liegt auch das Problem: Die Tätigkeit als ,ombudsman' ersetzt die inhaltliche Auseinandersetzung und Darstellung, so daß Wahl und Politikinhalte noch weiter entkoppelt werden. Responsivität allein kann auch Depolitisierung und damit notwendigerweise auch Entdemokratisierung heißen. Ich würde stattdessen eher einer Strategie zuneigen, die direktdemokratische Elemente mit einer begrenzten Personalisierung des Wahlrechtes verbindet und so auf doppelte Weise den Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu politischen Entscheidungsprozessen zu sichern sucht. Insofern korrespondiert dieser Punkt mit dem letzten: 10. der fehlenden Abwählbarkeit der Politiker: Die Frustration der Bürgerinnen und Bürger resultiert auch daraus, daß die gleichen Politiker immer wieder auftauchen, bzw. daß ihre Karrieren sich offenbar völlig unabhängig von ihrer Zustimmung bei den Wählern vollziehen. Auf der anderen Seite leiten Politiker aus ihrer Wiederwahl häufig ein Mandat ab, daß sie über20 Das Gegenmodell ist eine eher prozeßorientierte politische Kultur, wie wir sie etwa in den angelsächsischen Ländern finden. Vgl. zu dieser Unterscheidung vor allem die Beiträge von Karl Rohe, so etwa Zur Typologie politischer Kulturen in westlichen Demokratien, in: Heinz Dollinger et al. (Hrsg.), Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus, Münster 1982, S. 581 ff. 21 Im Gegensatz zum "Angebot folgenloser Beteiligung", das Greven schon in den 70er Jahren der Parteiendemokratie attestierte. Vgl. Michael Th. Greven, Parteien und politische Herrschaft, Meisenheim 1977, S. 164.
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haupt nicht besitzen. Wer entsprechend auf der Landesliste einer der bei den großen Parteien plaziert ist, kann de facto nicht abgewählt werden. Paradoxerweise ist die einzige Ausnahme ein besonders großer Wahlsieg der eigenen Partei, die dann keine Listenmandate mehr erhält. In der Praxis gibt es am Wahlabend kaum ein Mitglied des Deutschen Bundestages, das sich völlig überraschend abgewählt sieht. Die hinteren Listenplätze werden typischerweise von Newcomern eingenommen. Retrospektives Wahlverhalten, die Belohnung oder auch Abstrafung der Amtsinhaber - laut Wahlforschung ein wichtiges Motiv der Wähler - kann praktisch nicht stattfinden. Dabei ist die Möglichkeit, jemanden abzuwählen, ein zentrales demokratisches Grundrecht, ein unmittelbares Korrelat des Wahlrechts. Erst durch die Möglichkeit der Abwahl wird die Wahlentscheidung bedeutungsvoll. Warum besteht diese Möglichkeit nicht? Die Erklärung liegt in dem erfolgreichen Bemühen der politischen Klasse, sich gegenüber der Abwahldrohung zu immunisieren. Hier spielt sicherlich auch das Motiv eine Rolle, die eigene Berufstätigkeit abzusichern und dem Wählervotum zu entziehen. Daß Beruflichkeit der Politik und Wahl der Amtsträger widersprüchliche Prinzipien sind, ist dabei eine richtige und außerordentlich wichtige Erkenntnis. Politiker in nahezu allen westlichen Demokratien haben dieser Erkenntnis Rechnung getragen, indem sie den latenten Konflikt auf unterschiedliche, dem jeweiligen Wahlsystem angepaßte Weise einseitig zu ihren Gunsten gelöst haben. Die Wiederwahlquoten für erneut kandidierende Abgeordnete sind in ganz unterschiedlichen Systemen - dem amerikanischen Mehrheitswahlrecht ebenso wie in reinen Proporzsystemen oder dem deutschen Mischsystem - sehr hoch und liegen in den meisten Ländern bei oder über 80 Prozent. 22 Das jedoch wirft eben das Problem der ,accountability,23 - der Verantwortlichkeit der Politiker gegenüber ihren Wählern auf und bedarf der Bearbeitung durch institutionelle Reformen.
22 Vgl. die leider nicht systematisierten Beiträge in Albert Somit et al. (Hrsg.), The Victorious Incumbent, Aldershot 1994. 23 Vgl. dazu jetzt auch die Beiträge in: Adam Przeworski, Susan C. Stokes und Bernard Manin (Hrsg.), Democracy, Accountability, and Representation, Cambridge 1999, die allerdings "accountability" mit der Abwahl der Regierung gleichsetzen, da sie Repräsentation ausschließlich auf Regierungshandeln beziehen, was m. E. viel zu kurz greift.
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VI. Die Kritik an der politischen Klasse als Reformanlaß Die zehn genannten Kritikpunkte lassen sich in vier Blöcke gruppieren: - Die Professionalisierungskritik ist dabei die grundlegendste, die häufig auch die anderen speist. Das ist insofern völlig rational, als sich in der Tat alle anderen Diagnosen aus der Professionalisierung ergeben. Ohne Professionalisierung der Politik wäre es vermutlich zu den beklagten Problemen nicht gekommen. Auf der anderen Seite ist diese Kritik irreführend, da die Professionalisierung selbst notwendige Folge gesellschaftlicher Modernisierung und daher auch durch institutionelle Reformen nicht angemessen zu bearbeiten ist. Politik ist ein Beruf - damit sollten wir uns allmählich abgefunden haben! - Die Kritik am politischen Personal - seiner Repräsentativität und Qualität - kann ebenfalls nur in sehr begrenztem Maße durch Reformen abgebaut werden. Die Qualität der Politiker bot schon immer - also lange vor der Professionalisierung - Anlaß zur Klage, und vollständige Repräsentativität läßt sich nicht herstellen. D. h. natürlich nicht, daß man dort, wo offenkundige Defizite bestehen, nicht vorübergehend zu geeigneten Maßnahmen wie der geschlechtsspezifischen Quotierung greifen kann. - Der Kritik an der Versorgung und Finanzierung der Politiker kommt funktional eine wichtige Bedeutung zu, da sie einer Überversorgung entgegenwirkt. Grundlegender Reformbedarf besteht hier jedoch allenfalls bei der Parteienfinanzierung und der Doppelversorgung ausgeschiedener Amts- und Mandatsträger. - Am wichtigsten scheint mir die vierte Gruppe von Kritikpunkten - und damit auch von möglichen Reformen - zu sein. Diese Punkte beziehen sich allesamt auf einen Mangel an demokratischer Kontrolle und markieren damit einen akuten strukturellen Reformbedarf. Dabei gibt es jedoch keine einfache Lösung, nicht die eine institutionelle Reform, die ,alles wieder in Ordnung bringt'. In jedem Fall gibt es nicht-intendierte Konsequenzen, die vorher reflektiert und im Reformprozeß mit bedacht werden sollten. Warum und wie kommt es aber überhaupt zu einem solchen Verlust demokratischer Kontrolle? Wir können diese zu Recht kritisierten Punkte als Pathologien der politischen Professionalisierung verstehen. Sie lassen sich sämtlich auf die drei zentralen Karriereinteressen von Berufspolitikern zurückführen: Einkommenssicherheit, Karrieresicherheit, Aufstiegsmöglichkeiten. Hier liegt auch die rationale Ursache des Unbehagens an der politischen Professionalisierung: Die Verselbständigung der politischen Klasse ist durchaus nicht unbemerkt geblieben. Dennoch müssen diese Pathologien als solche bearbeitet werden - eben indem institutionelle Handlungsanreize und
---
Überversorgung
Versorgung
senken bzw. Reform begrenzen
Quotierung
Reformvorschlag
Seiteneinsteiger
die falschen zu schlechte zu hohe Leute Leute Diäten
Diäten
Bezahlung
Diagnose
Gegenstand Repräsenta- Qualität tion
Personal
Kolonialisierung
Partzipationsdefizit
Politikformulierung
direktdem. WahlrechtsElemente, reform Wahlrechtsreform
kein Einfluß Abwahl nicht möglich
Responsivi- Abwählbartät keit
Fehlende Kontrolle
Kommission Dekoloniali- direktoder sierung demokratiAutomasche Eletismus mente
Selbstbedienung
Regulierung Parteienstaat
Professionalisierung
Abbildung I Die Kritik an der politischen Klasse: Gegenstand, Diagnose und Reformvorschläge
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-restriktionen geschaffen werden, die ihnen entgegenwirken (vgl. Schaubild 1). Wie bereits angesprochen, halte ich eine Kombination aus WahlrechtsreAbbildung 2 Die Interessen der politischen Klasse und ihre institutionelle Einhegung Interessen der politischen Klasse
Zielrichtung institutioneller Refonnen
materielle Reproduktion
sichern; Exzesse verhindern
Karrieresicherung
Abwahlmöglichkeit sicherstellen; Versorgungsjobs abbauen
Aufstiegsmöglichkeit
innerhalb des politischen Institutionensystems erhalten; Zugriff auf Staat und Gesellschaft abbauen; Partizipationsmöglichkeiten und Responsivität herstellen
form und direktdemokratischen Elementen für geeignet, den Pathologien der Professionalisierung entgegenzuwirken. Wie könnten nun aber solche Reformen aussehen? M.E. müßte man zum einen das Wahlrecht so verändern, daß es die Wahl einer Partei mit Elementen einer echten Persönlichkeitswahl kombiniert. D. h., vor allem müßten die Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit haben, zwischen verschiedenen Kandidaten einer Partei zu wählen. Nur so ist die Chance gegeben, eine Person abzuwählen und trotzdem die präferierte Partei zu wählen. Eine Möglichkeit wären also ausreichend große Mehrpersonenwahlkreise - möglicherweise mit Präferenzstimmgebung - oder aber ein System mit wirklich offenen Listen. Beide Optionen würden für die Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit schaffen, strategische Entscheidungen zu treffen und damit über die Auswahl des politischen Personals - das ja immer noch von den Parteien vorselektiert würde - mitzubefinden. Im einen Fall könnte man an das irische Wahlsystem des Single Transferable Vote anknüpfen 24 : Jede Wählerin und jeder Wähler hat innerhalb eines Wahlkreises, in dem mehrere Abgeordnete gewählt werden, eine Stimme, gibt jedoch eine Präferenzfolge an. Bei der Auszählung werden zunächst nur die Erstpräferenzen berücksichtigt. Ergibt sich hier nicht die notwendige Wahlzahl 25 für einen Kandidaten, wird der 24 Vgl. dazu Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 1989, S. 221 ff. 2S Die Wahlzahl ergibt sich aus der Formel abgegebene Stimmen: (Zahl der Mandate + l) +1. Vgl. ebenda, S. 222.
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Kandidat oder die Kandidatin mit dem schlechtesten Ergebnis gestrichen und seine oder ihre Stimmen gemäß der zweiten Präferenz auf die übrigen Kandidaten verteilt - und so weiter, bis die zu wählende Anzahl von Abgeordneten eine Mehrheit erzielt hat. Geht man von größeren Wahlkreisen aus als in Irland, so verbindet dieses Wahlsystem eine ganze Reihe von Vorteilen miteinander: Die Proportionalität von abgegebenen Stimmen und Mandaten ist sehr hoch, die Hürde für kleine Parteien ist nicht höher als in unserem jetzigen Wahlsystem, keine Stimme wird ,verschenkt' und die gezielte Abwahl von Politikern wird möglich. Besonders die beiden letzten Punkte haben einen sowohl demokratisierenden als auch tendenziell partizipationssteigernden Effekt, da sie die Folgenlosigkeit der Stimmabgabe entscheidend verringern. Der Zusammenhang zwischen Wahlentscheidung und Zusammensetzung des Parlamentes wird sehr viel unmittelbarer, als das gegenwärtig der Fall ist. Ähnliches gilt für die zweite Variante, ein Listenwahlsystem mit offenen Listen. D. h., daß die Wähler zwar eine Partei wählen, zusätzlich jedoch auch eine Kandidatin oder einen Kandidaten dieser Partei. Dieses auf kommunaler Ebene schon vielerorts praktizierte Verfahren verhindert ebenfalls sichere Sitze für die vorn auf den Listen Plazierten und schafft die Möglichkeit der Abwahl. Es kann zusätzlich mit dem ebenfalls kommunal bereits praktizierten Kumulieren (mehrere, i. d. R. drei Stimmen können auch auf einen Kandidaten ,gehäuft' werden) und Panaschieren (die Stimmen können auch auf Kandidaten mehrerer Parteien verteilt werden) kombiniert werden. Entscheidend ist aber, daß ein solches System nicht - wie in Niedersachsen geschehen - dadurch ausgehebelt wird, daß man alternativ auch für die ganze Liste stimmen kann und durch dieses ebenso unmoralische wie gezielt auf die Bequemlichkeit der Wähler setzende Angebot die Präferenzstimmen zur Makulatur gemacht werden. Aber auch die potentiellen Probleme einer solchen Wahlsystemreform sollen nicht verschwiegen werden. Das Hauptproblem wären - neben den Parteien, denen so die Kontrolle über die Auswahl des politischen Personals teilweise entzogen würde - m. E. die Medien, da bei diesen Wahlsystemen eine verläßliche Prognose wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale nicht möglich ist und das amtliche Endergebnis erst einige Tage später vorliegen kann. Dies widerspricht den Anforderungen des Mediensystems so stark, daß hier mit Widerständen zu rechnen wäre. Schon bei Kommunalwahlen haben wir in der Vergangenheit immer wieder erlebt, daß komplexe - aber eben auch faire und demokratische - Wahlsysteme bei Journalisten auf wenig Gegenliebe stoßen und schlicht für überflüssig erklärt werden. Eine weitere Schwierigkeit wäre die Notwendigkeit, daß die Wählerinnen und Wähler sich eine Meinung über eine relativ große Zahl von Kandida9"
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tinnen und Kandidaten bilden müßten. Dieses Problem wird jedoch m. E. oft überschätzt: Für kaum einen Wähler stehen prinzipiell Kandidaten aller Parteien ernsthaft zur Wab!. D. h., es gibt vermittelt durch die Parteizugehörigkeit eine Vorauswabi, die das ganze durchaus handhabbar erscheinen läßt. Im übrigen ist mit der steigenden Möglichkeit, etwas zu beeinflussen, ja möglicherweise auch mit einem steigenden Interesse zu rechnen. Drittens schließlich müßten sich die Kandidatinnen und Kandidaten auch persönlich profilieren, um ihre Wablchancen zu erhöhen. D. h., eine gewisse Personalisierung der Wahlkämpfe wäre unausweichlich. Dennoch ist wohl kaum zu erwarten, daß damit den Profilneurotikern jeder Couleur der Boden bereitet würde; hier sollte man den gesunden Menschenverstand der Wähler nicht unterschätzen. Auf der anderen Seite ist natürlich auch zu erwarten, daß persönlich gewählte Politikerinnen und Politiker ihrer eigenen Partei gegenüber selbstbewußter auftreten würden. Aber das wäre ja eine durchaus positive Begleiterscheinung. Auf jeden Fall wäre es sinnvoll, wieder in eine Wablrechtsdiskussion einzutreten. Diesmal würde die Scheidelinie jedoch nicht zwischen den Zielen der Herstellung von parlamentarischen Mehrheiten und der möglichst genauen Abbildung des Wählerwillens verlaufen, sondern zwischen Parteiautonomie und demokratischer Kontrolle. Sicherlich mindestens ebenso notwendig ist eine gründliche Diskussion über direktdemokratische Elemente in der repräsentativen Demokratie. Dabei geht es vor allem darum, diese neuen Elemente so auszugestalten, daß sie mit dem jeweils vorhandenen Typus repräsentativer Demokratie kompatibel sind 26 . Dies ist deshalb so wichtig, weil direkte Demokratie in unserer komplexen Gegenwart ja keinesfalls geeignet ist, die Aufgaben von Parlamenten einfach zu übernehmen. Selbst eine Schwächung der Parlamente kann man nicht ernsthaft wollen, wenn es einem um mehr demokratische Kontrolle geht, da unter diesem Gesichtspunkt Parlamente allen nicht-gewählten Körperschaften ebenso vorzuziehen sind wie der Verwaltung, der Justiz, den Medien, partikularen Interessengruppen oder auch neuen sozialen Bewegungen. Trotzdem sind direktdemokratische Verfahren bei Sachentscheidungen eine geeignete Möglichkeit, mangelnder Responsivität und einer abgehobenen Politikformulierung entgegenzuwirken. Dies ist gerade auf Bundes- und Landesebene notwendig, sollte also keineswegs nur, wie häufig vorgeschlagen, auf den kommunalen Bereich beschränkt werden. Zweitens geht es darum sicherzustellen, daß die wirklich wichtigen Grundsatzentscheidungen 26 Vgl. dazu das Mannheimer Dissertationsprojekt von Sabine Jung. Einen ersten Eindruck vermitteln ihre Vorüberlegungen in: Lijpharts Demokratietypen und die direkte Demokratie. in: Zeitschrift für Politikwissenschaft. Vol. 6, 1996, S. 623 ff.
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einem Bürgervotum zugeführt werden und hier nicht nur Schaukämpfe auf Nebenkriegsschauplätzen ausgefochten werden, während die großen Zukunftsentscheidungen andernorts getroffen werden. Zu diesem Zweck ist es sicherlich notwendig, die Zahl der Volksabstimmungen insgesamt in Grenzen zu halten, um so eine Überforderung zu verhindern und einen konzentrierten öffentlichen Diskurs über die zentralen Themen zu ermöglichen - ein Diskurs im übrigen, der auch zur Repolitisierung und zur politischen Bildung in einem breiten Sinne beitragen könnte. Politik, selbst demokratische Politik insgesamt ist sicher nicht als Deliberation zu organisiseren; hier jedoch hätte ein solcher ,öffentlicher Ratschlag' seinen Sinn. Wie aber verhindert man ein Zerfasern der öffentlichen Beteiligung in eine Vielzahl von Einzelanliegen und eine gegenseitige Blockade von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie? Hier stellt sich zunächst die Frage nach der geeigneten Form plebiszitärer Elemente. In der Literatur wird wieder und wieder unterschieden zwischen einer Beteiligung von oben qua Referendum, die rein manipulativen Charakter habe, und einer Beteiligung von unten qua Volksbegehren und Volksinitiative, die allein als, wahre' Form direkter Demokratie gelten könne. Ich finde diese Unterscheidung in keiner Weise überzeugend; es kommt vielmehr auf die Ausgestaltung an. Volksbegehren und Volksinitiative sind im wesentlichen wirksame Kontroll- und Korrekturinstrumente gegenüber der Gesetzgebung der Parlamente. D. h. in der Praxis, daß die Schwellen für die Zahl der zu sammelnden Unterschriften weder zu hoch noch zu niedrig angesetzt sein dürfen. Sie dürfen nicht zu niedrig sein, um das Instrument nicht durch Überstrapazierung zu entwerten. Und sie dürfen nicht zu hoch sein, um es überhaupt zu einem wirksamen Instrument auch für spontane Bürgergruppen - aber eben nicht nur für gut organisierte und mitgliederstarke Interessengruppen - zu machen. Was die Quoren für Beteiligung und Ja-Stimmen bei Volksabstimmungen angeht, so wäre eine Regelung anzustreben, die eine taktische Nicht-Beteiligung nicht noch ermutigt. Aus den Erfahrungen in Italien wissen wir ja, daß es bei einem doppelten Quorum (also etwa über 50 Prozent Zustimmung bei über 50 Prozent Beteiligung) häufig für die Gegner einer Initiative erfolgversprechender ist, nicht zur Abstimmung zu gehen als dagegen zu stimmen. Andererseits bewirken niedrige Quoren potentiell eine starke Zunahme der Initiativen gerade von Partikularinteressen. Hier könnte ein ,kompensatorisches Quorum' Abhilfe schaffen, das es ermöglicht, eine niedrigere Beteiligung durch eine höhere Zustimmung auszugleichen. Auf diese Weise würde die strategische Stimmenthaltung sehr viel riskanter. So könnte ein gezielter institutioneller Anreiz geschaffen werden, sich an der Abstimmung zu beteiligen - und auch die vorausgehende öffentliche Diskussion mit dem gebotenen Ernst zu bestreiten.
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Was die technische Durchführung von Volksabstimmungen angeht, könnte man sicherlich vieles aus den Schweizer Erfahrungen lernen, etwa was die Information der Abstimmenden betrifft. Nicht geeignet erscheinen mir Volksabstimmungen, um tatsächlich gesetzgeberisch tätig zu werden, sprich Gesetzestexte zu verabschieden: Die nach demokratischen Verfahren zu kommunikativer Macht verarbeitete öffentliche Meinung kann nicht selber ,herrschen', sondern nur den Gebrauch der administrativen Macht in bestimmte Kanäle lenken. 27 ,Volksgesetzgebung' führt zwangsläufig zu einer unterkomplexen Gesetzeslage bzw. zu Gesetzeslücken, die u. U. sogar gezielt geschaffen werden könnten. Die Formulierung von Gesetzestexten wird so zu einer völlig intransparenten Angelegenheit. Was aber ist nun mit den Befragungen der Bürgerinnen und Bürger durch die Politik selbst? Im Gegensatz zu vielen halte ich dies nicht für bedenklich, sondern sogar für eine systemkonforme Ergänzung der repäsentativen Demokratie. Der manipulative Einsatz ist dabei durchaus einzudämmen - zumal dann, wenn es nicht nur der Regierung bzw. der Parlamentsmehrheit möglich wäre, Sachfragen zur Abstimmung zu stellen. So wäre es doch denkbar, daß jede im Parlament vertretene Partei pro Legislaturperiode ein bestimmtes Kontingent an Volksabstimmungen erhält. Die Parteien könnten dann ihre Responsivität gegenüber den Bürgern u. a. dadurch beweisen, indem sie bereits im Wahlkampf Zusagen darüber machen, zu welchen Themen sie den Bürgern das Wort erteilen bzw. die grundsätzliche Richtungsentscheidung überlassen werden. Damit würde auch eine enge Verknüpfung zwischen der Wahlentscheidung als konstitutivem Akt der repräsentativen Demokratie und der plebiszitären Partizipation geschaffen. Umgekehrt böte die verbesserte Abwahlmöglichkeit von Mandatsträgern auch die Gewähr dafür, daß nicht gehaltene Wahlversprechen in diesen wie in anderen Fragen nicht folgenlos bleiben müßten. Das hier notwendigerweise nur skizzenhaft und anhand einiger noch recht vager Ideen entwickelte Modell ist zweifellos ein anspruchsvolles, gerade auch im Hinblick auf die demokratische Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger. Und es verlangt einen hohen Preis von den Berufspolitikern, nämlich jenen der verstärkten Unsicherheit. Dafür verbindet es demokratische Partizipations- und Wahlmöglichkeiten mit einer Akzeptanz professioneller Politik in der repräsentativen Demokratie, die nicht nur ein bloßes Sichfügen in einen unabänderlichen Mißstand ist, sondern positive Einsicht in den Sinn einer Arbeitsteilung auch in der Politik. Die Bürgerinnen und Bürger können von derartigen Reformen nur profitieren, ebenso die Demokratie als lebendiges Organisationsprinzip. Daß auch die Berufs27 Jürgen Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt 1997. S. 290.
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politiker erheblich gewinnen würden - an Legitimität nämlich -, wenn sie eine Beschränkung ihrer Handlungsautonomie hinnehmen würden, ist vielleicht weniger offenkundig. Aber der gegenwärtig spürbare Kontrast zwischen demokratischem Anspruch und elitistischer Abkopplung 28 ist einfach zu kraß, um auf Dauer innerhalb eines Gemeinwesens ausgehalten und ausbalanciert zu werden. Die Professionalisierung der Politik ist eine funktionale Notwendigkeit - die Abkopplung einer selbstreferentiellen politischen Klasse, die sich der lästigen Fesseln demokratischer Kontrolle längst entledigt hat, ist es nicht.
28 Vgl. dazu Yves Meny, The People, the Elites and the Populist Challenge, in: Michael Th. Greven (Hrsg.), Demokratie - eine Kultur des Westens? Opladen 1998, S. 289 ff.
Kontrolle der politischen Klasse durch direkte Demokratie? Von Manfred Zach Meine Damen und Herren, wenn Sie gestatten, beginne ich mit einer persönlichen Reminiszenz. Bei der Vorbereitung dieses Vortrages interessierte mich natürlich auch die Frage, wie es denn in meiner beruflichen Heimat Baden-Württemberg um Volksbegehren und Volksentscheide bestellt ist. Zu meiner Überraschung erfuhr ich auf diese Weise, daß es bei uns 1985 den Versuch gegeben hat, ein Volksbegehren gegen die Stationierung von Pershing lI-Raketen zu initiieren. Überrascht war ich deshalb, weil ich mich an diesen Vorgang überhaupt nicht mehr erinnern konnte, obwohl ich seinerzeit in der Stuttgarter Staatskanzlei Leiter der Grundsatzabteilung war und die Aktion der Friedensbewegung mit Sicherheit mitverfolgt habe. Meine Gedächtnislücke läßt darauf schließen, daß uns dieses Geschehen damals politisch wenig aufgeregt hat. Er wurde ja auch vom zuständigen Innenministerium - unter Hinweis auf die fehlende außen- und sicherheitspolitische Kompetenz des Landes - schnell und programmgemäß zu Fall gebracht. Anderes ist mir dagegen besser im Gedächtnis geblieben - beispielsweise die periodischen Meinungsumfragen, die wir in jener Zeit durchführen ließen. SPD, FDP und Grüne, die damaligen Oppositionsparteien, wollten unbedingt Einblick in die beim Staatsministerium verwahrten Daten nehmen, insbesondere was ihre eigenen Popularitäts- und Kompetenzwerte betraf - kein ganz unverständliches Verlangen. Wir informierten sie jedoch nur über ihr entmutigend schlechtes Abschneiden bei der Wahlsonntagsfrage - zeitgleich mit der Presse, versteht sich. Genauso zugeknöpft verfuhren wir im übrigen mit den eigenen Regierungsmitgliedern. Während sie über ihr persönliches Bekanntheits- und Beliebtheitsranking stets im Unklaren gelassen wurden, durften sie die Bestnoten des Regierungschefs jeweils taufrisch der Presse entnehmen. Vor wenigen Wochen las ich in einem Bericht der ,Stuttgarter Zeitung', daß die jetzige Mannschaft der Stuttgarter Staatskanzlei immer noch nach
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demselben bewährten Muster verfährt. Wissen ist eben Macht, und Nichtwissen macht Hierarchie-Abstufungen besonders deutlich - daran hat sich bis heute nichts geändert. I.
Kontrolle der politischen Klasse durch direkte Demokratie? Wenn man sich - wie an diesem kleinen Beispiel - vor Augen hält, wie mit Volkes Stimme umgegangen wird, möchte man von vornherein skeptisch abwinken. Aber vielleicht ist es doch hilfreich, sich zunächst einmal vor Augen zu führen, wie sich denn gegenwärtig politische Kontrolle organisiert und wer sie ausübt - wobei dies in dem vorgegebenen Rahmen notgedrungen holzschnittartig erfolgen muß. Da gibt es zum einen die jedennann bekannte, aus dem Prinzip der Gewaltenteilung abgeleitete Kontrolle der Exekutive durch Legislative und Judikative. Sie verkörpert die klassische demokratische Machtbalance, die aber, wie wir wissen, in der Praxis durchaus ihre Tücken hat. Die Kontrollfunktion des Parlaments etwa relativiert sich stark angesichts eines Kräftespiels von Mehrheitsfraktionen, die aus Gründen des Machterhalts und nicht selten gegen bessere Einsicht den Kurs der Regierung stützen müssen, und Oppositionsparteien, die zwar tapfer Mißstände kritisieren dürfen, jedoch kaum je die Chance erhalten, sie abzustellen - jedenfalls solange sie stimmenmäßig in Unterzahl sind. Die Judikative wiederum, politisch bedeutsam vor allem in Gestalt höchstrichterlicher Instanzen, verfügt zwar über die nötige Unabhängigkeit und Autorität, darf aber nur tätig werden, wenn sie angerufen wird. Ob und von wem ein solcher Schritt getan wird, hängt - insbesondere bei politischen Organen - oft mehr von parteipolitischer Opportunität als von juristischen Erwägungen ab, was der Verfassungsgerichtsbarkeit zuweilen die Tragikomik eines gefesselten Gulliver verleiht. Ein weiteres Kontrollinstrument, faktisch wohl das bedeutsamste von allen, sind die Medien. Weil sie wie niemand sonst in der Lage sind, Öffentlichkeit herzustellen, spielen sie im politischen Leben eine überragende Rolle. Allerdings haben Journalisten das Handicap des generalistischen Multa non multum-Wissens und des selektiven, vielfach auch politisch gesteuerten Infonnationszugangs. Zudem hat sich ihr Tätigkeitsfeld in den letzten Jahren unter dem Druck eines scharfen ökonomischen Wettbewerbs merklich verändert - es ist, speziell im elektronischen Bereich, weniger auf Politik, dafür um so mehr auf Unterhaltung ausgerichtet. Der investigative politische Journalismus befindet sich gegenüber dem oberflächlich agierenden
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Infotainment auf dem Rückzug, was nicht ohne Auswirkungen auf die Durchschlagskraft politischer Berichterstattung geblieben ist. Neben diesen tradierten, verfassungsrechtlich gestützten und geschützten Kontrollmechanismen haben sich in der Verfassungswirklichkeit zwei weitere gesellschaftliche Bereiche herausgebildet, die zwar nicht de jure, wohl aber de facto großen politischen Einfluß ausüben. Der eine Sektor umfaßt kapitalkräftige Unternehmen und mitgliederstarke Interessenverbände, deren Wirken - man denke nur an den kürzlichen Bittgang des grippekranken Kanzlers zum Gewerkschaftstag der IG Metall -, durchaus politikbestimmend genannt werden kann. Soweit solche Insistenz kontrollierend wirkt, geschieht dies aber fast ausschließlich lobbyistisch, was zu einem krassen Mißverhältnis zwischen partikularem und gesamtstaatlichem Benefit führen kann. Der andere Bereich - und diese Einordnung mag Sie überraschen - ist die Exekutive selbst, genauer gesagt ihre Ministerialverwaltung. Die Massierung ministeriellen Fachverstands, verbunden mit der Komplexität moderner Verwaltungsmaterien, präjudiziert viele politische Prozesse. Nicht nur Parlament und Öffentlichkeit, auch die Regierung selbst ist dadurch dem beamteten Spezialistentum in hohem Maße ausgeliefert. Die hieraus erwachsende Kontrolle erfolgt zwar ,bottom up', was demokratietheoretisch in Ordnung geht, an der plebiszitären Legitimationsbasis sind aber doch berechtigte Zweifel angebracht. Das Volk wählt seine Beamten nicht, und es liebt sie auch nicht übermäßig. Und für Ministerialbeamte rangiert das Ressortprinzip ganz oben, was dem Gemeinwohlinteresse durchaus widerstreiten kann. Betrachtet man dieses System als Ganzes, so fällt auf, daß in ihm Kontrolle fast nur von denen ausgeübt wird, die vermöge ihrer politischen Relevanz selbst zur, soziologisch gesprochen, politischen Klasse gehören. Schon das muß mißtrauisch stimmen, denn ein sich selbst kontrollierendes System neigt dazu, sich zu verselbständigen. Und diese Systemimmanenz wird dadurch weiter verfestigt, daß der theoretisch mögliche Kontrollrahmen kaum je ausgeschöpft, sondern fast immer anlaß- oder interessenbezogen fragmentiert wird. Dies fördert die Versuchung, sich untereinander zu arrangieren, was das Gegenteil einer objektiven und effizienten Kontrolle ist. So gesehen, wäre eine nachhaltige und dauerhafte Einwirkung von Bürgern, die nicht berufsmäßig mit Staat und Politik verwoben sind, ein Systemkorrektiv von allergrößtem Nutzen. Es würde den eingespielten Verfahrensabläufen und Riten des parteipolitischen Do-ut-des-Geflechts ein Momentum erfrischender Spontaneität und Unvorhersehbarkeit entgegensetzen, was die Vertreter der tradierten Politikhierarchie zu mehr Flexibilität und Diskursbereitschaft, aber auch zu größerer Vorsicht im Umgang mit den vorhandenen Machtstrukturen veranlassen könnte.
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Die Frage ist nur: Läßt sich dies mit dem vorhandenen direktdemokratischen Instrumentarium überhaupt leisten? 11. Bilanziert man die bisherigen Volksbegehren und Volksentscheide, fällt das Resultat nicht sehr ermutigend aus. Von einer gewachsenen direktdemokratischen Praxis kann bislang nicht einmal in Bayern die Rede sein, dem Land mit der längsten volksgesetzlichen Tradition. Ein Dutzend zugelassene Volksbegehren seit 1967, davon sechs erfolgreiche Volksentscheide - das unterschreitet die Zahl der in diesem Zeitraum abgehaltenen Bundestags- und Landtagswahlen immer noch erheblich. Trotzdem ist der Freistaat bekanntlich der deutsche Musterknabe in Sachen direkter Demokratie, was weniger der CSU als den schweizerischen Emigrantenerfahrungen des Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner, einem der Verfassungsväter Bayerns, zu verdanken ist. In den übrigen Bundesländern, alten wie neuen, haben nur Hamburg und Schleswig-Holstein im Jahr 1998 jeweils einen erfolgreichen Volksentscheid vorzuweisen. Größer ist die Anzahl von Volksbegehren und Volksinitiativen, die zwar stattgefunden, aber nicht zum Ziel geführt haben. Doch auch hierbei handelt es sich jeweils um singuläre Ereignisse, die zwar von außerordentlicher bürgerschaftlicher Mobilisierung zeugen, aber kaum als nachhaltig wirkende Politikkontrolle aufzufassen sind. Wie letztere aussehen könnte, zeigt ein Blick hinüber in die Schweiz, dem Mutterland der direkten Demokratie. Dort liegt die Zahl volksgesetzlicher Initiativen seit Jahrzehnten zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Anträgen pro Legislaturperiode; allein im Jahr 1996 wurden sieben Volksbegehren eingereicht. Auch wenn die Quote der letztlich angenommenen Volksentscheide nur etwa 10 Prozent beträgt, schafft eine derartig hohe Abstimmungsfrequenz natürlich ein ganz anderes Bevölkerungsbewußtsein, auch außerhalb von Wahlgängen politisch initiativ werden zu können, als das in Deutschland der Fall ist. Solch ein Bewußtsein gar nicht erst entstehen zu lassen, scheint das Ziel der meisten landesgesetzlichen Regelungen zu sein. Teilweise groteske Unterschriftenquoren und verfahrensrechtliche Schikanen aller Art sollen die Lust des einzelnen, sich mit eigenen Ideen ins Geschäft der politischen Profis einzumischen, schon im Ansatz ersticken. Lieber vier Jahre lang frustrierte Bürger ertragen, die mit der Faust in der Tasche herumlaufen, als sich von ihnen die Hand führen lassen - das ist, ausgesprochen oder nicht, die Devise der Parteiendemokratie. Besonders ärgerlich ist dabei die mangelnde Offenheit - im Schwäbischen würde man sagen: Verdrucktheit -, mit der der parlamentarische
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Gesetzgeber seine Aversion gegen die Bürgerdemokratie zu kaschieren sucht. Obwohl jedermann weiß, daß eine wirkungsvolle Bürgerbeteiligung sowohl den Verzicht auf strangulierende Unterschriftenquoren als auch die Anerkennung des ,Mehrheit entscheidet'-Prinzips voraussetzt, gibt es diese Kombination lediglich in Bayern und, mit Abstrichen, in Sachsen, und auch das nur für einfachgesetzliche Volksentscheide. Die meisten anderen Bundesländer dagegen - z.B. Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein - täuschen zwar durch relativ niedrige Einstiegshürden bürgerfreundliche Spendierhosen vor, doch wenn es um die entscheidenden Voten geht, treten sie in der klirrenden Rüstung von Zustimmungsklauseln auf, die selbst die sogenannten Volksparteien bei Wahlen kaum je erreichen. Der Verdacht, auf diese Weise dem Volk den Spaß an Volksabstimmungen endgültig verleiden zu wollen, ist sicher nicht unbegründet. Aber auch das umgekehrte, von Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz praktizierte Verfahren ist kaum seriöser: Wer innerhalb von nur vierzehn Tagen die Unterschriften von 20 Prozent aller Wahlberechtigten einfordert, um sich mit einem Volksbegehren überhaupt auseinanderzusetzen, kann beim Volksentscheid gefahrlos Großzügigkeit demonstrieren, weil die Zeit nach menschlichem Ermessen nicht ausreichen wird, die gerade am Anfang einer Aktion besonders wichtige und schwierige Überzeugungsarbeit in der geforderten Breite zu leisten. Fast ist man da geneigt, das Saarland zu loben: 20 Prozent Unterschriftenerfordernis für ein Volksbegehren und 50 Prozent GesetzesklauseI beim Volksentscheid zeigen wenigstens unzweideutig an, daß an der Saar direkte Demokratie unerwünscht ist. Fußangeln und Fallstricke wie das Verbot freier Unterschriftensammlungen, ministerielle Zulässigkeitsprüfungen und Tabuthemen-Kataloge komplettieren die Abwehrfront des Parteien staats gegen zuviel bürgerschaftlichen Initiativgeist. Spätestens hier ist es dann auch mit der bayerischen Gemütlichkeit vorbei: Fast jedes direktdemokratische Begehren wurde vom Staatsministerium des Inneren erst einmal als unzulässig abgelehnt. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof setzte die Bürger dann zwar in etlichen Fällen wieder in ihre Rechte ein, doch tat er es selten ohne gleichzeitiges Hinzufügen bestimmter begrenzender Interpretationen des liberalen Verfassungstextes. Ein besonderes Lehrstück ist insoweit die jüngst ergangene Entscheidung vom 17. September 1999, in der die Verfassungsrichter gegen den Wortlaut der Verfassung und gegen ihre seitherige Rechtsprechung ein Quorum für verfassungsändernde Volksentscheide verlangen. Daß ein solches Quorum nicht ausdrücklich vorgeschrieben sei, stelle eine - ich zitiere aus den Leit-
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sätzen - ,planwidrige Unvollständigkeit des Verfassungstextes dar, eine Lücke, die im Wege der Auslegung zu schließen ist'. Dies scheint mir denn doch eine ziemlich dreiste Bevormundung des historischen Verfassunggebers zu sein, und es fragt sich, wer außer der Regierungspartei CSU bisher eine solche Lücke im Verfassungstext verspürt hat. Der Souverän, das Volk, bestimmt nicht. Aber laut Martin Kriele gibt es in einem Verfassungsstaat ja gar keinen Souverän mehr, weil sich dessen Aufgabe mit dem Akt der verfassunggebenden Gewalt bereits erschöpft habe. Damit läßt sich das Problem natürlich auch lösen, es fragt sich nur, ob man dann das Volk nicht besser gleich in Urlaub statt noch ab und zu an die Wahlurnen schicken sollte. Festzuhalten bleibt, daß es die etablierten politischen Kräfte im geltenden, repräsentativen System sehr viel leichter haben, ihren Willen gegen die Bürger durchzusetzen, als umgekehrt. Will man direktdemokratische Kontrolle als nachhaltig verändernde Einflußnahme der Bürger auf konkrete Entscheidungen ihrer politischen Vertreter verstehen, so hat sie in der bisherigen Praxis nur in wenigen Ausnahmefällen zum Erfolg geführt. III.
Aber vielleicht muß man die Dinge ja von einer ganz anderen Warte aus betrachten. Die Zahl erfolgreicher Volksbegehren zum alleinigen Maßstab effizienter Politikkontrolle zu machen, ist wohl doch eine unzulässige Verkürzung des politischen Geschehens auf normative Bereiche, so als ob man eine Regierung allein an der Zahl der von ihr initiierten Gesetze messen würde. Dies tut niemand, weil Politik weit mehr prozessuales Geschehen als abschließende Ergebnissetzung ist. Nicht ohne Grund hat Max Weber das Bohren dicker Bretter und nicht die Anzahl der gebohrten Löcher zum politischen Qualitätskriterium erhoben. Es kommt also wohl mehr darauf an, was direktdemokratische Aktionen, ob erfolgreich oder nicht, in den Köpfen der gewählten Politiker bewirken, welche Reflexionen und Reaktionen sie bei ihnen auslösen und ob sich ihre Einstellung gegenüber dem Bürger auf diese Weise verändern läßt oder nicht. Meine These ist, daß die etablierte Politik durch direktdemokratische Aktionen gezwungen wird, erstmals die Existenz gleichrangiger Politiksubjekte außerhalb ihrer konkludenten Beziehungshierarchien anzuerkennen. Dieser für das Selbstverständnis von Parteipolitikern ungewohnte und bedrohlich erscheinende Systembruch wird zunächst gefürchtet und bekämpft, könnte aber mit fortschreitender Gewöhnung und Ausdifferenzierung als neues Kommunikationsmedium auch von den Parteien akzeptiert und sogar aktiv unterstützt werden.
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Zum Verständnis dieser These ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß es in einem streng repräsentativen System oberhalb der kommunalen Ebene keinen real erfahrbaren, in großer Zahl akkumulierten Bürgerwillen mehr gibt. Die sogenannte öffentliche Meinung ist etwas grundlegend anderes, da sie als veröffentlichte Meinung allenfalls eine vermutungsweise Annäherung der Medien an das, was Bürger interessiert und bewegt, bietet. Gleichwohl hat es sich politisch ,eingebürgert' - um dieses semantische Paradoxon zu gebrauchen -, als maßgeblichen Indikator für den Bürgerwillen das mediale Meinungsspektrum aufzufassen, weil es als Machtfaktor anerkannt, als Informationsquelle unersetzlich und als Ansprechpartner jederzeit verfügbar ist. Folgerichtig sind die Medien die eigentlichen Adressaten politischen Handeins geworden, sie zu überzeugen und für die eigene Politik zu gewinnen ersetzt den Diskurs mit den Bürgern. Aufgrund dieser totalen Mediatisierung hat sich die in einer repräsentativen Demokratie ohnehin angelegte Bürgerferne der Politik so verfestigt, daß das Volk als originäre politische Bezugsgröße ebenso unkenntlich wie unerreichbar geworden ist. Bürger treten nur noch in Selbstvertretung individueller Anliegen auf, als lästige Bittsteller im Wahlkreis, als zu hofierende Funktionsinhaber, als fordernde Berufsgruppenangehörige, aber nicht mehr pars pro toto. Jenseits dieser Vereinzelung, die das politische Machtgefüge nicht in Frage stellt, sondern eher stärkt, beginnt die Anonymisierung. Der adäquate politische Umgang mit dieser gesichtslosen Masse sind periodische Popularitätsabfragen in Wahlgängen von hohem Emotions- und geringem Informationsgehalt, nicht aber inhaltliche Beteiligungsverfahren. Politisch handelnde und kompetent argumentierende Bürgerinitiativen durchbrechen diese Anonymisierung. Aus einem virtuellen wird plötzlich wieder ein realer, klar zu verortender Souverän, der Gesicht und Stimme hat und sich nicht nur befragen läßt, sondern selbst Fragen stellt. Dies löst bei den angestammten Vertretungsorganen, die sich in ihrer Mittlerfunktion bedroht sehen, enorme Konkurrenz- und Existenzängste aus - übrigens nicht nur bei den Parteien, sondern teilweise auch bei den Medien, wie die wütende Gegnerschaft der Hamburger Spriilgerpresse gegen die dortigen Volksbegehren im Herbst letzten Jahres zeigte. In einträchtiger Allianz von Rathaus und Redaktionsstuben wurde für den Fall des Obsiegens der Bürgerrechtler der Bankrott des Wirtschaftsstandorts Hamburg mit dem Verlust von vielen Tausend Arbeitsplätzen prophezeit. Angst- und Chaosparolen bestimmten auch etliche andere Auseinandersetzungen, beispielsweise den bayerischen Abstimmungskampf um ,Das bessere Müllkonzept' im Jahr 1990, in dem die CSU die Bürger in millionenteuren Anzeigen mit apokalyptischen Visionen von Bränden, Giftbrühen und Rattenplagen überzog. So ärgerlich derartig hemmungslose Demagogien sind, so entlarvend sind sie doch auch. Berufspolitiker, die dem Volk die Kompetenz zu verständi-
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gern, besonnenem und abwägendem politischem Handeln absprechen, pfeifen im Wald, weil sie fürchten, die eigene Unzulänglichkeit offenlegen zu müssen, mit der das liebevoll gepflegte Image des freien Volksvertreters so wenig gemein hat. Welcher Parlamentarier könnte denn auch guten Gewissens von sich behaupten, daß er alles versteht, was er beschließt? Fast homerisch sind die vertraulichen Klagen einfacher Abgeordneter über den Zwang, ergeben abnicken zu müssen, was Regierung, Fraktions- und Parteispitze in kleinem Kreis beschließen. Und wo wird mehr plumpe Emotionalisierung betrieben als bei Wahlen? Bürgerbeteiligung zwingt Berufspolitiker dazu, ins Spiegelbild eigener Schwächen zu schauen, Bürgermobilisierung macht die Verkrustung partei politischer Trampelpfade schmerzhaft deutlich - das ist das große Trauma der politischen Klasse gegenüber den neuen Politikkonkurrenten. In diesem Sinne bewirkt jedes Volksbegehren, das bis zum Stadium einer politisch-inhaltlichen Auseinandersetzung gedeiht, eine Veränderung. Das Spielfeld, auf dem Politik ausgetragen wird, ist nicht mehr dasselbe wie zuvor, weil neue Mitspieler auftreten, die die Regeln durcheinanderbringen und die man trotzdem nicht einfach des Feldes verweisen kann. Gerade für erfolgsverwöhnte, allein regierende Parteien ist dies eine bestürzende Erfahrung, zeigt sie doch Grenzen ihrer Machtausübung auf, die bisher nicht vorhanden waren. Die Unsicherheit über den Ausgang einer Volksabstimmung vermag selbst bei machtabonnierten Parteien wie der CSU eine beachtliche Kompromißbereitschaft zutage zu fördern, wie sich 1972 und 1977 bei den Volksbegehren ,Rundfunkfreiheit' und ,Lernmittelfreiheit' gezeigt hat. Sogar die Drohung mit einem Volksbegehren habe einige Landtage schon davon abgehalten, geplante Diätenerhöhungen vorzunehmen, sagt der Bund der Steuerzahler. Auch wenn eine stringente Kausalität in diesen Fällen schwer nachzuweisen ist, kann doch als sicher unterstellt werden, daß spätestens mit dem Erreichen des verfahrenseinleitenden Zustimmungsquorums die Alarmglocken in den Parteizentralen schrillen. Hier manifestiert sich tatsächlich ein Stück politischer Kontrolle, und sei es auch nur dadurch, daß Regierung und Fraktionen sich erstmals ernsthaft mit den Argumenten von Bürgerinitiativen auseinandersetzen.
IV. Voreiliger Optimismus ist gleichwohl nicht angebracht. Solange die landesgesetzlichen Regelungen derart unterschiedlich sind, daß in einer Reihe von Ländern ein erfolgreicher Volksentscheid seltener ist als eine totale Sonnenfinsternis, hat direkte Demokratie es schwer, sich zu entprovinzialisieren. ThemensteIlung, Verfahrenserfolge und Bewußtseinsveränderungen bleiben regional verhaftet und strahlen auf die politische Kultur des
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Gesamtstaates, die von Wahlzyklen und Parteienmonopol durchdrungen ist, wenig aus. Es ist daher vernünftig, wenn Bürgerrechtsgruppierungen wie der bundesweit organisierte Verein ,Mehr Demokratie e. V.' zunächst einmal versuchen, über Volksabstimmungen eine anwenderfreundliche Angleichung der diversen Rahmengesetze zu erreichen. Oberstes Ziel muß dabei natürlich die verfassungsrechtliche Verankerung von Volksbegehren und Volksentscheiden im Grundgesetz sein. Erst dann lassen sich auch jene Privilegien ins Visier nehmen, die die Parteienoligarchie zementieren, wie etwa das Gesetz zur Parteienfinanzierung. Die Parteien mit 245 Millionen Mark jährlich fürstlich zu alimentieren, den Direktdemokraten dagegen jeden Kostenersatz zu verweigern, wie dies in der Mehrzahl der Bundesländer noch üblich ist, dürfte sich dann verfassungsrechtlich kaum mehr begründen lassen. Die Parteien wissen um das Ungemach, das ihnen drohen könnte. Deshalb haben sie nach der Wende alle Versuche, die direktdemokratischen Impulse der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung zur Stärkung der Bürgerrechte über den status quo hinaus zu nutzen, vereitelt - sei es offen, wie CDU und FDP, sei es durch halbherziges Taktieren, wie die SPD in der Gemeinsamen Verfassungsrefonnkomrnission von 1992/93. Es sieht gegenwärtig auch nicht so aus, als ob es die rot-grüne Koalition mit der Umsetzung ihrer Koalitionsvereinbarung vom Herbst 1998 zur Einführung der Volksgesetzgebung besonders eilig hätte. Allerdings ist gerade in jüngster Zeit einiges in Bewegung geraten, was den zweiten Teil meiner These - daß nämlich die Parteien nach einer Phase des Abblockens allmählich doch Geschmack am direktdemokratischen Instrumentarium finden könnten - nicht ganz so utopisch erscheinen läßt, wie es zunächst klingen mag. Wie erinnerlich, hat die Union dank ihrer umstrittenen Unterschriftensammlung zur doppelten Staatsbürgerschaft die Landtagswahl in Hessen für sich entscheiden können. Davon beflügelt, denkt sie nun auch über die Mobilisierung der Rentner gegen die Rentenrefonnpläne der Bundesregierung nach. Die Grünen haben ihrerseits Überlegungen, das Thema Waffenexport zum Gegenstand einer bundesweiten Befragungsaktion zu machen, zwar zunächst vertagt, ganz vom Tisch sind sie aber noch nicht. Unabhängig von Inhalt und Methode solcher außerparlamentarischer Populismen, über die sich manch Kritisches sagen ließe, ist es doch bemerkenswert, daß im politischen Kalkül der Parteien die dokumentierte Unterstützung durch Volkes Stimme einen größeren Stellenwert zu besitzen scheint, als noch vor wenigen Jahren. Fast sieht es so aus, als besännen sich einige Wahlkampfstrategen darauf, daß Volksbegehren nicht nur des Teufels sind, sondern in 10 von Arnim
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den sechziger und siebziger Jahren z. B. in Bayern und Hessen durchaus auch von den Parteien selbst initiiert worden sind. Ob dies ein echter Sinneswandel ist oder nur eine momentane Spielart im permanenten politischen Ringen, läßt sich noch nicht mit hinreichender Sicherheit ausmachen. Doch scheint einiges dafür zu sprechen, daß sich Parteien, die ihre Position auf parlamentarischem Wege nicht durchsetzen können, mit dem Medienbild eines Verlierers nicht länger klaglos abfinden wollen - vor allem dann nicht, wenn sie sich in der Sache von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wähnen. Die vollkommene Mediatisierung der Politik, von der bereits die Rede war, beginnt, ihre Kinder zu fressen dies ist eine Entwicklung, die das Volk als unmittelbaren Adressaten der Politik plötzlich wieder ins Blickfeld rückt. Es ist indes schwer vorstellbar, daß sich die Bürger auf Dauer damit abfinden werden, befragt, aber nicht gehört zu werden. Deshalb könnte, je schwieriger und fragiler politische Grundentscheidungen und Koalitionsbündnisse werden, die Neigung wachsen, Volksabstimmungen als Schiedsspruch zu akzeptieren. In der Unvorhersehbarkeit solcher Prozesse läge sowohl ein einigermaßen ausgewogenes Chancenpotential als auch die Möglichkeit, starre parteipolitische Fronten aufzubrechen. Der Weg vom unterstützenden Parteienreferendum zur echten volksgesetzlichen Mitbestimmung dürfte dann aber nur noch eine Frage der Zeit sein. Dies sind bislang kaum mehr als Spekulationen, und es ist nicht einmal sicher, ob es überhaupt wünschenswert wäre, daß sich der Weg zur direkten Demokratie auf diese Weise beschleunigt. Denn damit verbunden wäre eine starke parteipolitische Instrumentalisierung der Volksbegehren. Andererseits läßt sich dies auch jetzt schon nicht verhindern, wie die Praxis, Volksbegehren durch konkurrierende Landtagsbeschlüsse zu unterlaufen, zeigt. Auch Bürgerinitiativen benötigen insoweit noch viel taktisches Know-how, um mit parteipolitischen Winkelzügen wie der Aufsplittung von Ja-Stimmen auf mehrere Gesetzesvorlagen ähnlicher Zielsetzung umgehen zu können. Vielleicht ist es daher eher von Vorteil, wenn sich die Einführung weitreichender direktdemokratischer Rechte wie in der Schweiz oder in Kalifornien noch eine Weile verzögert. Aber daß die Parteiendemokratie herkömmlicher Prägung das nächste Jahrhundert nicht mehr überdauern wird, scheint mir gewiß. Sie hat ihren Beitrag zum Aufbau des Staates geleistet. Nun, da ihre Grenzen täglich offenkundiger werden, ist es Zeit, einen Teil der Verantwortung in die Hände der Bürger zurück zu legen.
Die Reform der Landesverfassungen Von Brun-Otto Bryde Im Programm einer Tagung über direkte Demokratie würde ein Beitrag über die Verfassungsreform in den Ländern das Tagungsthema sprengen, wenn er alle denkbaren Gegenstände möglicher Verfassungsreform in den Blick nehmen würde. Auf der anderen Seite will ich das Thema auch nicht, obwohl vielleicht nahe liegend, so eng verstehen, daß ich nur die Einführung und Erweiterung direkt-demokratischer Elemente in den Landesverfassungen behandele. Es geht mir vielmehr um die dem verfassungspolitischen Engagement für direkte Demokratie zugrunde liegende Anliegen der Überwindung von Demokratiedefiziten durch die stärkere unmittelbarere Einwirkung der Bürger auf die Politik. Mit diesem verfassungspolitischen Ziel möchte ich denkbare Verfassungsreformen auf Landesebene untersuchen. Ein Beitrag zur Verfassungspolitik der Länder steht vor einer doppelten Schwierigkeit: Zum einen ist er unauflöslich mit der verfassungspolitischen Diskussion im Bund über Föderalismusreform verbunden. Es spricht ja viel dafür, daß die Struktur des deutschen Föderalismus als solche verantwortlich für Demokratiedefizite in der Bundesrepublik ist und das nicht erst neuerdings, sondern seit 1871, als Bismarck den Bundesstaat bewußt als Sicherung gegen die Parlamentarisierung des Reiches konstruierte. 1 Demokratische Nachfolgeverfassungen übernahmen dann wesentliche Elemente dieses Modells (Vollzugsföderalismus,2 exekutiv besetzten Bundesrat), ohne über diesen Zusammenhang zu reflektieren. Die Länder als bürgernähere und damit an sich aus der Sicht effektiver Partizipation geeignetere Ebene,3 haben eigene Gesetzgebungskompetenzen Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, 2. Auf!. 1993, S. 92 ff. Zu diesem Modell und seinem Unterschied zum amerikanischen Trennungsföderalismus: Bothe, Die Kompetenzstruktur des modemen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht, 1977, S. 224 ff.; zur historischen Grundlegung des Modells 1871: Nipperdey, a.a.O. (Fn. 1), S. 87; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, 1963, S. 961 ff. 3 Bryde, Auf welcher politischen Ebene sind welche Probleme vorrangig anzugehen? In: B. Sitter-Li ver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung. Die Schweiz im globalen Kontext, Freiburg/Schweiz, 1999, S. 223 ff., 230. 1
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weitgehend verloren, und zwar sowohl durch die Abwanderung von Kompetenzen zum Bund (in der Regel mit Zustimmung der Länder im Bundesrat), wie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts z. B. zu Art. 72 GG4 und zur Rahmengesetzgebung5 und schließlich durch die freiwillige Selbstkoordination in kooperativen Gremien wie der KMK, deren Ergebnisse von den Landtagen nur noch zu ratifizieren sind. 6 Auf der anderen Seite haben sie solche Kompetenzverluste durch Mitwirkungsrechte auf Bundesebene kompensiert, auch hier mit kräftiger Hilfe des Bundesverfassungsgerichts z. B. in der Rechtsprechung zu Art. 77 und 84 GG7 , so daß auch der Parlamentarismus im Bund geschwächt wurde. Ergebnis ist, was Ellwein schon in den 70er Jahren einen "Verschiebebahnhof für parlamentarische Verantwortung"S nannte: Die Gesetzgebung liegt weitgehend beim Bund (und zunehmend bei der Europäischen Union), die Ausführung aber bei den Ländern. Anders, als im klassischen parlamentarischen Modell vorausgesetzt, kann die "Legislative" die "Exekutive" überhaupt nicht kontrollieren, da die Bundesgesetze nicht von der Bundesregierung, sondern von Landesexekutiven ausgeführt werden, über die der Bundestag keine Kontrolle hat, die Landesregierungen sich ihren Parlamenten gegenüber aber häufig auf verbindliche Bundesvorgaben berufen können. Die dem Bundestag verantwortliche Bundesregierung wiederum braucht für die Durchsetzung ihrer Politik die Zustimmung der Landesregierungen im Bundesrat, wobei sich diese Politikaufgabe der Landesregierungen, ebenso wie die Mitwirkung des Bundesrates an der europäischen Rechtsetzung, weitgehend der parlamentarischen Kontrolle entzieht. 9 4 Nachweise zur Rechtsprechung zur alten Fassung des Art. 72 bei Kunig, in: von Münch/Kunig, GGK III, 3. Aufl. 1996, Art. 72, Rn. 22; bei Maunz, in: MIDI HIS, Art. 72, Rn. 17 S Dazu Kunig, in: von Münch/Kunig, GGK III, 3. Aufl. 1996, Art. 75, Rn. 10 ff. 6 Umfassend Pietzcker, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: eh. Starck (Hrsg.), Zusammenarbeit der Gliedstaaten in Bundesstaaten, 1988, S. 17 ff.; vgl. auch Hesse/Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1997, S. 98 ff.; zur Kritik H.-J. Vogel, HdbVerfR, 2. Aufl. 1995, S. 1096; H. Eicher, Der Machtverlust der Landesparlamente, 1988, S. 76 ff. 7 Vor allem die entscheidende Weichenstellung, nach der eine einzige zustimmungspflichtige Vorschrift das gesamte Gesetz zustimmungspflichtig macht: st. Rspr seit BVerfGE 8, 274, 294; Bryde, in: von Münch/Kunig, GGK III, 3. Aufl. 1996, Art. 77, Rn. 21 m.w.N.; kritisch neuerdings wieder Maurer, Staatsrecht, 1999, S. 567. 8 Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1973,
S.74.
9 Zum Problem auch von Arnim, Staat ohne Diener, 1993, S. 301 ff.; Hesse/Ellwein, a. a. O. (Fn. 6), S. 97 ff.; Bryde, Verfassungsreform der Länder unter bundesverfassungsrechtlichem Unitarisierungsdruck, in: EicheIlMöller, 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen - eine Festschrift, 1997, S. 433,435.
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Geht man vom demokratischen Ideal größtmöglicher Selbstbestimmung der von der Politik Betroffenen aus,1O dann ist solche Verflechtung nicht in erster Linie ein Problem der Entscheidungsfahigkeit, als die es in der verfassungspolitischen Diskussion vor der letzten Bundestagswahl in der Regel behandelt wurde,11 sondern der mangelnden Zurechenbarkeit von Entscheidungen und damit der Unmöglichkeit, Verantwortung deutlich zu machen. 12 Verfassungspolitisches Ziel muß ein engerer Zusammenhang zwischen Entscheidung, Verantwortung und Kontrolle sein, auch um die Beziehung zwischen politischer Leistung und Belohnung und Bestrafung durch den Bürger so transparent wie irgend möglich zu machen. Auch wenn dies zunächst ein Problem der Föderalismusreform auf Bundesebene zu sein scheint, ist es doch für unser Thema relevant, denn welche Änderungen man auf Landesebene vorschlägt, wird auch davon abhängen, welche Hoffnungen man sich für eine Reform auf Bundesebene macht. Damit sind wir bei der zweiten Schwierigkeit, die eine grundlegende methodische Schwierigkeit jeder verfassungspolitischen Argumentation im Unterschied zur verfassungsrechtlichen ist, nämlich der Frage, wieweit man die Realisierungschancen in seine Überlegungen miteinbezieht, mit vornehmeren Worten, ob man sich auf systemimmanente Vorschläge beschränkt oder, dem Vorwurf akademischer Weltferne trotzend, auch systemtranszendente Vorschläge macht. Die beiden genannten Schwierigkeiten sind bei unserem Thema auf bemerkenswerte Weise verschränkt. Ausgangspunkt meiner verfassungspolitischen Überlegungen ist, daß die Verfassungsstruktur der Länder, die eine Kopie eines nationalstaatlichen parlamentarischen Systems ist, ihrer augenblickliche Aufgabenstruktur (wenige eigene Gesetzgebungskompetenzen, Hauptaufgabe die Verwaltung als Ausführung fremder Gesetze und Mitwirkung an der Rechtsetzung der höheren Ebenen) unangemessen ist,13 und zwar vor allem unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten. Gelänge eine Föderalismusreform auf Bundesebene, die nach in der Föderalismusdiskussion inzwischen ziemlich einhelliger Auffassung eine kräftige Erweiterung eigener Gesetzgebungskompetenzen der Länder im Austausch gegen den Abbau von Mitentscheidungsrechten im Bund bringen sollte 14, dann (und nur dann) könnte man sich für die Landesebene mit Dazu Bryde, a. a. O. (Fn. 3), S. 228 ff. ("Demokratie als Optimierungsgebot"). Henkel, FAZ v. 2.1.98, S. 13; R. Scholz, Focus Nr. 38/97 v. 15.9.1997; Kirchhof, Die Welt v. 4.8. 1997. 12 Das war schon das Thema der Debatte über ,,Politikverflechtung": grundlegend F. Scharpf/Reissert/Schnalbel, Politikverflechtung, 1976; 1. Hesse (Hrsg.), Politikverflechtung im föderativen Staat, 1978. 13 Vgl. schon Bryde, a.a.O. (Fn. 9), S. 435 f.; von Arnim, a.a.O. (Fn. 9), 10
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S. 322 ff.
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systemimmanenten Reformen des parlamentarischen Systems zufrieden geben, da dieses durch die Reform auf Bundesebene wieder an Funktionalität für die Landesebene gewönne. Aber dieses aus der Landesperspektive realistischere Programm beruht auf eher unrealistischen Annahmen über die Reformierbarkeit des Föderalismus auf Bundesebene. Richtet man sich aber darauf ein, daß Verfassungsreformen auf Bundesebene sehr viel schwerer sind als auf Landesebene und daß eine Föderalismusreform im Bund daher unwahrscheinlich ist, dann muß man für die Landesebene systemtranszendente Vorschläge machen. Da man um ziemlich mutige Annahmen also ohnehin nicht herumkommt, werde ich mich auch nicht auf systernimmanente Vorschläge beschränken, sondern auch grundlegende Reformen diskutieren und die Perspektive von Bundesreformen in die Überlegungen einbeziehen. Wenn man nämlich fragt, wie sich bürgerschaftliches Engagement stärken läßt, muß man Klarheit darüber haben, an was für Entscheidungen die Bürgerinnen beteiligt werden sollen. Was wir unter den Bedingungen von Politikverdrossenheit überhaupt nicht brauchen können, sind Scheinreformen, die den Bürgerinnen nur vorgaukeln, sie würden stärker beteiligt. Die Verbesserung der Mitwirkung an der Gesetzgebung ist daher vom Ausbau der Gesetzgebungskompetenzen der Länder abhängig, gelingt dies nicht, muß man fragen, wie sich ein ..Verwaltungsstaat" demokratisieren läßt, was erheblich mehr Phantasie verlangt. I. Direkt-demokratische Institute
Der geschilderte Zusammenhang zeigt sich besonders deutlich bei direktdemokratischen Elementen in den Landesverfassungen. Die Vermutung, daß Verfassungsreformen auf Landesebene einfacher sind, wird vielleicht besonders eindrucksvoll durch den - angesichts der langjährigen Tabuisierung von plebiszitären Elementen im deutschen Verfassungsrecht geradezu sensationellen - Siegeszug solcher Einrichtungen im Landesverfassungsrecht bestätigt. Inzwischen haben alle Bundesländer direkt-demokratische Institutionen eingeführt. 15 In der verfassungsrechtlichen Diskussion wird das noch wenig reflektiert: Wird über das deutsche Demokratieprinzip gesprochen, wird noch immer dessen streng repräsentativer Charakter betont,16 als ob es diese Entwicklungen auf Landesebene überhaupt nicht gegeben habe. 14 Parteiübergreifend: Eichel, Antrittsrede des Hessischen Ministerpräsidenten als Präsident des Bundesrates, 6.11.1998; U. Männle, Bayern in Deutschland und Europa, in: dies. (Hrsg.), Föderalismus zwischen Konsens und Konkurrenz 1998, S. 11 ff. IS Vgl. die Beiträge in H. K. Heußner/O. Jung (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, 1999; Überblick bei J. Ipsen, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 11. Aufl., 1999, § 3 IV; Degenhart, Staatsrecht, 14. Aufl. 1998, § 1 Rn. 29 ff.
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Kritiker - vor allem solche, die schweizer oder amerikanische Verhältnisse zum Vorbild nehmen - werden hinsichtlich der genannten Landesreformen sofort anmerken, daß die Ausübung häufig an hohe Quoren gebunden ist und vielerlei Einschränkungen unterliegtP Vor allem Entscheidungen über Geld werden den Bürgern fast nirgends zugetraut. Trotzdem ist nicht das Landesverfassungsrecht verantwortlich, wenn diese abstrakt gesehen in vielen Ländern durchaus großzügige Ausstattung der Bürger mit Instrumenten zur Politikeinmischung zu keiner neuen Qualität des politischen Prozesses geführt hat. Hauptgrund ist vielmehr, daß die Länder ihren Bürgern Mitentscheidungsrechte in der Gesetzgebung eingeräumt haben, selbst aber kaum noch Gesetzgebungskompetenzen haben. Daß in den wenigen verbliebenen Reservaten (eigenes Verfassungsrecht, Kommunalrecht, Kultur, Polizeirecht, Bauordnungsrecht und kleiner werdende Teilbereiche des Umweltrechts) nicht dauernd Volksbegehren stattfinden, ist wenig überraschend. Die interessantesten Materien sind noch das Landesverfassungsrecht, mit spektakulären Erfolgen in Bayern,18 und das Schulrecht. Immerhin ist die Möglichkeit landesverfassungsrechtlicher Initiativen für unser Thema insofern interessant, als sie auf Landesebene, anders als auf Bundesebene eine zivilgesellschaftlich initiierte Verfassungsreform denkbar macht. Aber insgesamt ist die Tatsache, daß die umfassende Eröffnung von Volksgesetzgebung auf Landesebene für die bundesrepublikanische Demokratie nicht als stilprägend angesehen wird, durchaus verständlich. Nehmen wir die USA als Gegenbild, wo es ebenfalls auf Bundesebene keine Volksgesetzgebung gibt, diese aber in vielen Bundesstaaten eine große Rolle spielt, so würde heute wohl jeder Beobachter des politischen Systems der USA diese plebiszitäre Komponente betonen. 19 Die steuerpolitischen Initiativen z. B. in Kalifornien haben ja Weltgeschichte gemacht. Zyniker könnten vermuten, daß hier durchaus ein Zusammenhang besteht und die breite Durchsetzung direkt-demokratischer Modelle auf Landesebene trotz des anti-plebiszitären Tabus im verfassungsrechtlichen Diskurs der Bundesrepublik deshalb so leicht war, weil die Bürgerinnen auf dieser Ebene nicht ernsthaft gefährlich werden können. Eine Föderalismusreform in der angegebenen Richtung (Zurückholen von Landeskompetenzen) würde daher auch automatisch die Qualität der bundesrepublikanischen Demokratie verändern, da die LandesverfassungsreforHesse/Ellwein, a. a. O. (Fn. 6), S. 129. Vgl. Zach, in diesem Band. 18 Hahnzog, in: Heußner/Jung, a. a. O. (Fn. 15), S. 159 ff.; durch die willkürliche Einführung eines in der Verfassung nicht vorgesehenen Quorums durch den bayVerfGH (BayVBI 1999,719 ff.) in Zukunft erschwert. 19 Heußner, in diesem Band. 16 17
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men nachträglich neues Gewicht gewönnen. Gehen wir mit dem zitierten Zyniker davon aus, daß diese Reformen nur möglich waren, weil die Länder so wenig Gesetzgebungskompetenzen hatten, wäre da durchaus die List demokratischer Vernunft am Werk. Dazu bedürfte es z. T. nicht einmal einer Grundgesetzänderung, sondern lediglich weniger engmaschiger Formulierungen in Rahmengesetzen und zurückhaltendem Gebrauchmachen von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz, vor allem aber einer weniger bundesfreundlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In seiner Rechtsprechung zur Bedürfnisklausel des Art. 72 a. F. GG hat das Gericht die Prüfung des Bedürfnisses fast vollständig in das Ermessen des Bundesgesetzgebers gestellt, ob es zur neuen Erforderlichkeitsformel strengere Maßstäbe aufstellen wird, ist noch offen. 2o Ebenfalls sehr bundesfreundlich war das Gericht immer in dem Ausmaß, indem es in bundesgesetzlichen Teilregelungen eine Sperre ganzer Materien für den Landesgesetzgeber, wenn nötig durch "absichtsvollen Regelungsverzicht,,21 oder unter dem Gesichtspunkt der "Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung,,22 sah. Vor allem diese Rechtsprechung engt die direkte Demokratie auf Landes- und Gemeindeebene ein. Wenn die Entscheidung zur VerpackungsVO dem Bundesabfallrecht ein ganz vages und konturloses Programm ("Kooperationsprinzip") entnimmt und dann unter dem nicht weniger vagen Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung kompetentiell eigentlich zulässige Maßnahmen von Ländern und Gemeinden verbietet, weil sie sich nach der politischen Wertung des Gerichts nicht in dieses Programm einpassen, dann ist mit solchem Vorgehen - sollte es Schule machen 23 - Bundesstaatlichkeit radikal in Frage gestellt. 24 Bleibt die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern aber wie sie ist, oder wandern darüber hinaus noch weitere Kompetenzen nach oben ab, dann bringt der Ausbau der direkten Demokratie auf Landesebene keine wirkliche Verbesserung bürgerlicher Partizipationschancen. Verstärkte Einwirkung der Bürger muß vielmehr dann dort ansetzen, wo die politischen Skeptisch die Literatur: Kunig, a. a. O. (Fn. 4); Rn. 28. BVerfGE 98,265, LS2, S. 300 ff. - baySchwangerenhilfeergänzungsgesetz. 22 BVerfGE 98, 125 ff. - kommunale Verpackungssteuer. 23 Und der Erste Senat hat diese Vorlage des Zweiten - sicher gegen dessen Intentionen - in der Entscheidung zum bayerischen Sonderweg in Fragen des Schwangerschaftsabbruch ja sofort aufgegriffen: BVerfGE 98, 265, 301. 24 Mit Recht hat gerade dieser Aspekt in der Literatur ziemlich breite und scharfe Kritik erfahren: Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung? Eine Reise nach Absurdistan, NJW 1998, S. 2875; R. Schmidt/Diederichsen, Anmerkung JZ 1999, S. 37 ff.; Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 225 ff. 20
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Kompetenzen der Länder liegen, in der Exekutive und der Mitwirkung an höherstufiger Rechtsetzung.
11. Wahl der Exekutive Fragt man nach Möglichkeiten der Einwirkung auf die Exekutive, bietet sich zunächst einmal die Bestellung der Exekutive an. Daß das für in erster Linie exekutiv tätige demokratische Systeme nahe liegt, zeigt schon die Tatsache, daß inzwischen die Direktwahl der Bürgermeister einen bundesweiten Siegeszug angetreten hat. Da die Direktwahl der Regierung durch das Volk Thema eines eigenen Vortrags ist 25 , will ich sie weniger in der Perspektive der Stärkung der Demokratie durch ein zusätzliches unmittelbares Entscheidungsinstrument der Bürger thematisieren, sondern mehr in ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Aufgaben- und Organisationsstruktur der Länder. Wie eingangs festgestellt, fragt sich ja ganz grundsätzlich, ob für eine demokratische Ebene, die wenige eigene Gesetzgebungskompetenzen hat, das parlamentarische System die geeignete Regierungsform ist. Im Vergleich zu echten gewaltenteilenden (zur Vermeidung von Mißverständnissen sollte man vielleicht besser sagen: gewaltentrennenden) Systemen wie Präsidialsystem oder Direktorats- und Magistratsverfassung, ist das parlamentarische System durch die institutionalisierte Übereinstimmung von Regierung und Parlamentsmehrheit gekennzeichnet und hat seine besondere Leistungsfähigkeit daher, wenn es um die effektive Durchsetzung von Gesetzgebungsprogrammen im Parlament geht. Es ist daher das geeignete System für einen Gesetzgebungs- nicht einen Verwaltungsstaat. Wegen der Identität von Regierung und Parlamentsmehrheit ist das parlamentarische System hingegen nicht besonders leistungsfähig in bezug auf die Kontrollfunktion des Parlaments,26 aber auch eine diskursive politische Willensbildung ist regelmäßig durch den ritualisierten Schlagabtausch zwischen Mehrheit und Opposition ersetzt. Im Gesetzgebungsstaat werden diese Defizite durch die Mitwirkungsmöglichkeiten im Gesetzgebungsprozeß, der durchaus auch kontrollierende und diskursive Elemente unter Einschluß der Opposition enthält,27 teilweise kompensiert. 25 Esterbauer, in diesem Band. Mein eigener Ansatz unterscheidet sich allerdings deutlich. Anders als Herr Esterbauer bin ich kein Gegner des parlamentarischen Systems, sondern halte es für politische Systeme, in denen vor allem Gesetzgebungsprogramme durchgesetzt werden müssen, für sinnvoll. 26 Hesse/Ellwein, a. a. O. (Fn. 6), S. 260 ff. 27 Schulze-Fielitz; Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 292 ff.
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Im politischen System der Länder ist dieses System hinsichtlich der Gesetzgebungsfunktion nicht erforderlich. Wenn es hart auf hart geht, braucht man auf Landesebene eine Mehrheit für die Wahl der Regierung und den Haushalt, im übrigen läßt sich auch ohne Parlament regieren. Langjährige Minderheitsregierungen im Saarland und in Hamburg und nunmehr auch in Sachsen-Anhalt haben das belegt. Dagegen treten die Nachteile dieses Systems in bezug auf die Kontrollfunktion verschärft zutage. Die Kontrollmöglichkeiten, die in der Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren liegen, greifen nicht. Darüber hinaus ist die Regierung wegen der beschriebenen Möglichkeiten, ihre Mitgestaltungsrechte auf höheren Politikebenen gegen das Parlament auszuspielen, noch stärker als in echten parlamentarischen Systemen. Schließlich wird mit Hilfe der Berufung auf den GewaItenteilungsgrundsatz versucht, der Regierung zusätzliche kontrollfreie Räume zu verschaffen. 28 Im deutschen Landesverfassungssystem werden damit in bemerkenswerter Weise zugunsten der Exekutive die Vorteile des parlamentarischen Systems mit denen der Gewaltenteilung und des Bundesstaates verwoben. Ergebnis ist eine inzwischen vielfach erkannte Agonie des Landesparlamentarismus. 29 Insofern erscheinen Reformvorschläge wie die Direktwahl des Ministerpräsidenten30 zwar wegen ihres Bruches mit deutschen Traditionen systemtranszendent, eigentlich aber sind sie systemgerecht. Wenn Hauptfunktion nicht die Gesetzgebung, sondern die Verwaltung ist, ist es konsequent, den Bürger an der Bestellung dieser Gewalt unmittelbar zu beteiligen, auch der Exekutive unmittelbare demokratische Legitimation zu verleihen. Mindestens ebenso wichtig ist aber die Befreiung der in diesem System primären Kontrollfunktion des Parlaments von der Notwendigkeit, die von der Mehrheit bestellte Regierung zu stützen. Insofern ist das gegen die Direktwahl der Ministerpräsidenten denkbare Argument, es würde eine ohnehin schon übermächtige Exekutive zusätzlich stärken, nicht überzeugend. In gewaltenteilenden Systemen sind Parlamente in der Regel selbstbewußter und kontrollfreudiger als im parlamentarischen. 31 Außerdem würde der Wegfall des dem parlamentarischen System immanenten Gefolgschaftszwangs politische Diskussionslinien, die auf Landesebene gelegentlich wichtiger sind als parteipolitische, wie z. B. regionale, offener ins politische Forum bringen. Vgl. z.B. BVerfGE 9,268 (281); 34, 52 (59 f.). von Amim, a.a.O. (Fn. 9), S. 301 ff.; Eicher, a.a.O. (Fn. 6). 30 Für die Direktwahl des Ministerpräsidenten (allerdings in diesem Punkt bei den Zeichnern besonders str.) die Frankfurter Intervention, in: Recht und Politik 1995, S. 16 ff.; von Arnim, a.a.O. (Fn. 9), S. 324 ff. 31 So richtig von Arnim, a. a. O. (Fn. 9), S. 325 ff. 28 29
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Kritik ist für solche Vorschläge vor allem wegen der nicht unberechtigten Befürchtung zu erwarten, daß die ohnehin schon stark auf Landesfürsten zugeschnittenen politischen Systeme der Länder zusätzlich personalisiert würden. Diesem Bedenken ließe sich mit einem Vorschlag begegnen, der der deutscher Tradition allerdings noch fremder ist, nämlich die Volkswahl nicht nur des Regierungschefs, sondern der gesamten Regierung wie in schweizer Kantonen 32 und - bezogen auf wichtige Regierungspositionen auch in amerikanischen Bundesstaaten. 111. Wahl des Parlaments Korrespondierend zur Direktwahl der Exekutive sollte der Bürgereinfluß auf die personelle Zusammensetzung auch bei den Landtagswahlen verstärkt werden, z. B. durch offene Listen,33 aber auch durch persönlichkeitsbezogene Verhältniswahlsysteme, wie sie das angelsächsische Recht kennt. 34 Auch hier geht es nicht einfach nur um bessere Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen, sondern um die Funktion der Landesparlamente: Für die Erfüllung der Kontrollfunktion gegenüber einer ohnehin übermächtigen Exekutive ist möglichst viel eigene, parteiunabhängige Legitimation wichtig, und für die Einbringung nicht partei politischer, sondern z. B. regionaler Interessen gilt das gleiche. Der Übergang zu einem gewaltenteilenden System mit eigener Legitimation der Exekutive würde verfassungsrechtlich zwingend (wie im Kommunalrecht) zum Wegfall der 5 %-Klausel führen. Mir ist klar, daß die 5 %Klausel, ähnlich wie der Verzicht auf plebiszitäre Elemente, in einem üblicherweise ziemlich kurzschlüssigen historischen Vergleich mit Weimar zu den Grundpfeilern der Stabilität der Bundesrepublik gerechnet wird. Aber man sollte sich immer mit derselben Schärfe, wie es das Bundesverfassungsgericht bei seiner grundlegenden Entscheidung zur Sperrklausel getan hat fragen, wieweit die in ihr liegende Verletzung der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist. Das wurde damals in einer noch ungefestigten Demokratie mit erheblichen Anstrengungen unter Verweis auf Weimar mit überragenden staatspolitischen Notwendigkeiten getan?5 Später haben das Gericht selbst (besonders grotesk in seiner Entscheidung zur Europawahe 6) 32 G. Schmid, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1988), S. 92 (98 ff.). 33 Frankfurter Intervention, a. a. O. (Fn. 30), S. 17; von Amim, a. a. O. (Fn. 9), S. 329 ff. 34 Guter Überblick bei Seifert, Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, S. 7 ff. 35 BVerfGE 1,248 (256). 36 BVerfGE 51, 222 (237); überzeugende Kritik bei Murswiek, JZ 1979, S. 48; vgl. auch Bryde/Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, JURA 1999, S. 36, 42.
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und h. L. die Zulässigkeit der Sperrklausel unbefragt zur Routine gemacht. Die jüngeren, teils heftig kritisierten Entscheidungen von Landesverfassungsgerichten, die sie für Kommunalwahlen in Frage gestellt haben,37 waren daher überfallig. 38 Aber auch auf Landesebene fragt sich, selbst ohne die beschrieben Reform, ob die Begründung für den Bund trägt, da auch hier Minderheitsregierungen und Mehrparteienparlament noch nicht in den Staatsnotstand führen. Senkt man zusätzlich, was dringend zu wünschen wäre, die Zahl der Abgeordneten, dann würden allzu kleine Splitter ohnehin vom Parlament ferngehalten: Bei einem Landtag mit 50 Mitgliedern haben wir eine 2 %Klausel, was zur Vermeidung allzu extremer Zersplitterung ausreicht. IV. Demokratisierung der Verwaltung
Weitere Wege, die Verwaltung zu demokratisieren, sind zu prüfen. Auf Landesebene könnten sich z. B. wie auf kommunaler Ebene 39 Bürgerentscheide auch auf bedeutende Infrastrukturmaßnahmen, vor allem Planungen für Großanlagen, beziehen. Wenn auf Landesebene politische Gestaltungsspielräume bestehen, kann dabei nicht allein die Tatsache, daß Bundesrecht vollzogen wird, die Zulässigkeit direkt-demokratischer Bindung des Landesverhaltens ausschließen. Weitere Reformmöglichkeiten bestünden in kollegialen Mitwirkungsorganen auf zentraler Ebene z. B. nach dem Vorbild der traditionellen Einrichtung der Deputationen in den Hansestädten40 oder amerikanischen BoardModellen z. B. im Kulturverwaltungsrecht. In solchen Institutionen wird externer, pluralistischer und damit kontrollierender Einfluß auf die Verwaltung zur Geltung gebracht. Die hansischen Deputationen sind zwar einerseits historische Restbestände einer kollegialen Verwaltungsführung, aber als Instrument der "Mitwirkung des Volkes an der Verwaltung", wie Art. 56 der hamburgischen Verfassung formuliert - zukunftsfahig. Von der hier befürworteten Perspektive einer aufgabenzentrierten Reform der Demokratie in "Regierungsstaaten" aus sind sie nämlich höchst modern. In Staaten, die vor allem Verwaltungsfunktionen haben, können Mitwirkungsorgane VerfG Berlin DVBI 1997,757; VerfGHNRW, NwVBI 1999, S. 383 ff. H. Meyer, Wahlgrundsätze und Wahlverfahren, HdbStR II, 1987, § 38, Rn. 28 f.; Bryde/Kleindiek, a. a. O. (Fn. 36), S. 42. 39 Schiller, in diesem Band; Geitmann, in: Heußner I Jung, a. a. O. (Fn. 15), S. 237 ff. 40 H. P. Bull, Mitwirkung des Volkes an der Verwaltung durch die Deputationen der hamburger Fachbehörden, Fs. für Ipsen, 1977, S. 299 ff.; Bryde, a.a.O. (Fn. 9), S. 442 f. 37
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innerhalb der Exekutive mehr für demokratische Legitimation und Kontrolle tun als die Übertragung bundesverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehaltstheorien auf die Länder.
V. Demokratisierung von Mitentscheidungsrechten Am stärksten dürfte sich die Funktion der Mitentscheidung an der Rechtsetzung höherer Ebenen gegen eine Demokratisierung sperren. Wie gezeigt, wurde in den letzten Jahrzehnten für die Länder der Verlust an eigenen Kompetenzen durch den Ausbau solcher Mitentscheidungsrechte in Bund und EU kompensiert. Begünstigt durch diese Entwicklung sind aber die Landesregierungen, während diejenigen, die die Kompetenzen verloren haben, Landtage und Volk als Gesetzgebungsorgane, nicht nur keine Kompensation erhalten haben, sondern im Gegenteil durch den Machtzuwachs, den solche Beteiligung für die Exekutive bedeutet, zusätzlich geschwächt worden sind. Er erlaubt nämlich den Regierungen, die eigenen Parlamente durch auf der höheren Ebene mitgestaltete Entscheidungen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Außerdem führt solcher Beteiligungsföderalismus zur Verunklarung der Verantwortung auf der höheren Ebene. Auch hier stellt sich wieder die Frage, ob die demokratischen Defizite auf Bundes- oder Landesebene anzugehen sind. Käme es auf Bundesebene zum Abbau von Mitentscheidungsrechten der Länder im Gegenzug zur Rückholung eigener Rechte, wäre dem demokratischen System auf beiden Ebenen geholfen. 41 Bleibt es bei der augenblicklichen Situation, fragt sich, ob und wie sich diese Mitwirkungsfunktion der Länder für den demokratischen Willensbildungsprozeß öffnen läßt. Ansatz könnte die Einflußnahme auf das Bundesratsverhalten der Landesregierungen sein. Nach einem zunächst in der niedersächsischen Verfassungsreform entwikkelten Modell sehen heute eine Reihe von Landesverfassungen eine frühzeitige Information des Landtages über die von der Regierung im Bundesrat zu treffenden Entscheidungen vor. 42 Baden-Württemberg geht für Euro41 Immerhin scheint die neue Bundesregierung stärker auf das (zulässige: Bryde, in: von Münch/Kunig [Fn. 4], Art. 77, Rn. 23) - Instrument der Aufspaltung von Gesetzesvorlagen zurückzugreifen. Bei der Refonn der Staatsangehörigkeit wagte sie das noch nicht, beim Sparpaket dann doch. Vielleicht noch bemerkenswerter ist, daß die Opposition auf Vorwürfe wie den der .. Umgehung des Bundesrates" verzichtete. 42 Art. 94 Verf. Brandenburg; Art. 25 Verf. Niedersachsen; Art. 22 Verf. Schleswig-Holstein; Art. 39 Verf. Mecklenburg-Vorpommem; Art. 67 (4) Verf. Thüringen; Art. 62 Verf. Sachsen-Anhalt.
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paangelegenheiten darüber hinaus und verlangt die Berücksichtigung der Auffassung des Landtages. 43 Jedenfalls eine solche Berücksichtigungspflicht ließe sich im Landesverfassungsrecht generell für das Bundesratsverhalten der Landesregierungen festschreiben. Eine darüber hinausgehende Instruktion der Landesregierungen durch Landesparlament oder Landesvolk ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts44 und der ganz h. L. 45 nicht möglich. In der Frühgeschichte der Bundesrepublik wurde diese Frage durchaus noch offener diskutiert als heute, es gab gewichtige Stimmen wie Friesenhahn, die ein Instruktionsrecht nach Landesverfassungsrecht bejahten. 46 Das Bundesverfassungsgericht hat im 8. Band über die Anti-Atomwaffen-Volksbefragungen in Hamburg und Bremen nicht nur konsultative Volksbefragungen zum Stimmverhalten der Landesregierung im Bundesrat, sondern in einem obiter dictum unnötigerweise gleich auch noch eine Instruktion durch den Landtag abgelehnt. 47 M. E. greift das Gericht hier viel zu weit in den Verfassungsraum der Länder ein. Wie diese die Bindung ihrer Regierung organisieren, ist zunächst einmal ihre Sache. 48 Kurios ist dabei, daß in der Literatur die Bindung des Stimmverhaltens im Bundesrat durch Parlament oder Volk49 zwar für unzulässig, die durch Koalitionsverträge aber für zulässig gehalten wird. 50 Interessanterweise hat sich im Hinblick auf den Rat der Europäischen Union die vergleichbare Auffassung, die Regelung des EG-Vertrages über den Rat als Vertretung der Regierungen schließe Instruktionen durch die Parlamente der Mitgliedsstaaten aus,51 nicht durchgesetzt. 52 Richtig ist Artikel 34a Verf. Baden-Württemberg (1) Die Landesregierung unterrichtet zum frühestmöglichen Zeitpunkt den Landtag über alle Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union, die für das Land von herausragender politischer Bedeutung sind und wesentliche Interessen des Landes unmittelbar berühren, und gibt ihm die Gelegenheit zur Stellungnahme. (2) Bei Vorhaben, die Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder wesentlich berühren, berücksichtigt die Landesregierung die Stellungnahmen des Landtags. Entsprechendes gilt bei der Übertragung von Hoheitsrechten der Länder auf die Europäische Union. (3) Einzelheiten der Unterrichtung und Beteiligung des Landtags bleiben einer Vereinbarung zwischen Landesregierung und Landtag vorbehalten. 44 BVerfGE 8, 104 (120 f.). 45 Krebs, in: von Münch/Kunig, GGK 11, 3. Aufl. 1995, Art. 51, Rn. 14; Maunz, in: MDHS, Art. 51, Rn. 18; Bauer, in: Dreier, GG, Art. 51, Rn. 23, jeweils m.w.N. 46 Friesenhahn, VVDStRL 15 (1958), S. 9, 72. 47 BVerfGE 8, 104 (120 f.). 48 So im Ansatz richtig Stern, Staatsrecht 11, 1980, S. 138, der dann aber doch mit dem Gewaltenteilungsprinzip (für die Landesebene durch Art. 28 bundesverfassungsrechtlich abgesichert) ein Instruktionsrecht ablehnt. 49 Bauer, a. a. O. (Fn. 45), Rn. 23: "oder gar das Landesvolk". 50 Bauer, a. a. O. (Fn. 45), Rn. 24 m. w. N. 43
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nur, daß eine instruktionswidrige Stimmabgabe nach Bundesverfassungsrecht (bzw. EG-Recht53 ) gültig ist. Auch ließe sich unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Bundes- bzw. Unionsorgans wohl gegen absolute Bindungen argumentieren, die Kompromisse auf der höheren Ebene ausschließen. Aber eine "maßgebliche", nur unter besonderen Umständen zu durchbrechende Bindung sowohl an Instruktionen des Parlaments wie des Volkes erscheint denkbar, wenn das Landesverfassungsrecht sie vorsieht. Obiter dicta in einer sehr zeitgebundenen, hochpolitischen Entscheidung, sollten hier die Denkbereitschaft nicht auf alle Zeit lähmen. Der konsequenteste Schritt wäre natürlich eine Senatslösung auf Bundesebene und damit - in unserer Fragestellung - die demokratische Wahl der Träger föderalistischer Mitentscheidungsrechte durch die Landesvölker. Zwar entspricht das Bundesratssystem der Logik des Vollzugsföderalismus, indem er diejenigen, die die Gesetze ausführen müssen, an der Gesetzgebung beteiligt. 54 Zwingend ist das jedoch, wie das schweizer Beispiel lehrt, nicht, wo Vollzugsföderalismus mit einem volksgewählten Ständerat verbunden ist. Die Ersetzung des Bundesrates durch ein volksgewähltes Organ verlangte natürlich eine Änderung des Grundgesetzes, aber nach manchen Auffassungen würde eine solche Änderung an Art. 79 III GG scheitern, weil die Ewigkeitsgarantie der "Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung" das Bundesratsmodell garantiert. 55 Das halte ich zwar für eine überzogene Auslegung des nach allgemeiner Auslegung eng auszulegenden Art. 79 III GG 56 , aber es belegt zum Schluß noch einmal sehr plastisch, welche bundesverfassungsrechtliche Hindernisse bei Föderalismusreformen zu überwinden sind. Wenn ich damit nun, im Schatten des Art. 79 III GG bei Vorschlägen angekommen bin, die Sie für allzu wirklichkeitsfremd halten, darf ich zur Verteidigung an meine Ausgangsüberlegungen erinnern: Die Alternative ist der Abbau von Mitentscheidungsrechten. Ein in seiner Bedeutung deutlich reduzierter Bundesrat könnte exekutiv besetzt bleiben und braucht nicht in einen Senat verwandelt zu werden. Ich komme zum Schluß und gleichzeitig zum Ausgangspunkt: Die demokratiegefährdenden Aspekte des deutschen Föderalismus sind so stark in verfassungsrechtlichen Traditionen auf Bundes- und Landesebene verwurVgl. Nicolaysen, EuR 1989, S. 215 (218 f.). Oppennann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 120. 53 Oppennan, ebendort. 54 Bryde, Stationen, Entscheidungen und Beteiligte im Gesetzgebungsverfahren, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 861. 55 Maunz/Dürig, in: MDHS, Art. 79, Rn. 36 Fn. I; Evers, BK, Art. 79 II1, Zweitbearbeitung, Rn. 220. S6 Bryde, in: von Münch/Kunig (Fn. 4), Art. 79, Rn. 32. 5\
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zelt, daß man sich dem Vorwurf unrealistischer Praxisferne aussetzt, obwohl man nur, eigentlich gerade wirklichkeitsnah, die Konsequenzen aus der tatsächlich bestehenden Aufgabenstruktur der Länder für ihre Staatsorganisation zieht: Systemgerechtigkeit fordert systemtranszendente Vorschläge. Die Reform kann auf Bundes- oder Landesebene ansetzen, möglicherweise auch in einer Kombination von kleinen Schritten auf beiden Ebenen, aber irgendwo muß sie ansetzen, damit die Bundesstaatlichkeit der Bundesrepublik aus ihrem Spannungsverhältnis zur Demokratie befreit und statt dessen wird, was sie eigentlich sein sollte, Mittel zur Verwirklichung bürgemaher Demokratie.
Volkswahl der Regierung? Thesen zu einem demokratischeren und stabileren Regierungssystem Von Fried Esterbauer Es ist üblich, unter Demokratiereform kaum mehr als eine Wahlrechtsreform, die Einführung der Volkswahl des nur die Parlamentsmehrheit antizipierenden Staatsoberhauptes oder die Einführung der Volkswahl des Regierungschefs ohne Änderung des übrigen Regierungssystems zu verstehen. Es wird übersehen, dass die Schwächen der Demokratien mit nur indirekt demokratisch legitimierten Regierungen, besonders die Schwächen sogenannter parlamentarischer Regierungssysteme mit ihren vorn parlamentarischen Misstrauensrecht abhängigen Regierungen, wohl nur durch eine von der Parlamentswahl getrennte Volkswahl der Regierung zu überwinden sind. Es wird dies wohl deshalb übersehen, weil diese durch eine Demokratisierung der Monarchie in Großbritannien als Vorbild entstandene Regierungsform als parlamentarische Demokratie schlechthin gesehen wird. Und schließlich muss an eine Auswahl aus kandidierenden Teams gedacht werden, wenn die Einpersonenherrschaft des sogenannten präsidentiellen Regierungssystems oder das Fehlen eines Teamcharakters und eines Regierungsprogramms bei der Volkswahl der einzelnen Regierungsmitglieder (Schweizer Kantone) vermieden werden sollen. Eine Änderung des Wahlsystems, das Wählerstimmen in Parlamentssitze umsetzt, hat keine Überwindung der Nachteile einer nur indirekten demokratischen Legitimation der Regierung über das Parlament zur Folge, außer dass "regierungsfähige" Mehrheiten im Parlament und damit "Stabilität" von den Parteien eher erreicht werden können, allerdings auf Kosten von Wahlgerechtigkeit, von Gleichbehandlung der Wähler, sowie auf Kosten von Pluralismus und Minderheitenfreundlichkeit. Ferner ist es ziemlich bedeutungslos, ob im Falle des "parlamentarischen" Regierungssystems ohne präsidentiellen Einschlag, ohne Regierungsbildungsfunktion und Regierungsvorsitz des Staatspräsidenten, ein direkt oder ein indirekt gewähltes oder ein monarchisches Staatsoberhaupt den Partei führer bzw. den präsentierten Regierungschefkandidaten, der das Ver11 von Amim
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trauen einer absoluten Parlamentsmehrheit braucht, zum Regierungschef ernennt und mit der Regierungsbildung beauftragt. Im Falle Deutschlands wird zudem der Bundeskanzler ohnehin vom Bundestag gewählt. Auch mit der Volkswahl des Vorsitzenden bzw. Chefs der Regierung ohne Änderung des übrigen Regierungssystems, sohin mit der Beibehaltung der nur indirekten demokratischen Legitimation, insbesondere der parlamentarischen Vertrauensabhängigkeit, der übrigen Regierung (Frankreich, Israel), bestehen die mangelhafte demokratische Legitimation der Regierung, die Krisenanfälligkeit, der Parteienstaat mit seinen Auswirkungen und die weiteren Nachteile fort. Es kommt hier überdies eine zusätzliche Gefahr einer Instabilität, die zwischen dem Vorsitzenden der Regierung und der übrigen Regierung, hinzu, wenn die beiden miteinander nicht können. Ohne auf Details einzugehen, die grundlegenden Schwächen nur indirekter demokratischer Legitimation der Regierung, vor allem "parlamentarischer" Regierungssysteme, sind der Mangel an Legitimation durch die Wähler, die Krisenanfälligkeit, die Notwendigkeit der Umkehrung der Vertrauensabhängigkeit durch Parteienherrschaft, damit (entgegen der Bezeichnung als "parlamentarisches Regierungssystem" oder sogar als "parlamentarische Demokratie") die Regierungschef- und Parteiführerdemokratie, der weitgehende Verlust der tatsächlichen Gesetzgebungshoheit des Parlaments, das weitgehende Fehlen faktischer Gewaltenteilung und Kontrolle sowie eine Vervielfachung der Schwächen durch Dezentralisation und Föderalismus. Das sind sieben Thesen der Schwächen der nur parlamentarisch legitimierten Regierung und ihrer Überwindung durch die Volkswahl der Regierung. These 1: Ein Mangel an Legitimation durch die Wähler ist die Folge der nur indirekten demokratischen Legitimation der Regierung.
Der Mangel an Legitimation durch die Wähler betrifft am sichtbarsten die Regierung, aber faktisch auch die Parlamentarier, da kaum mehr daran gedacht wird, dass Parlamentarier für die Gesetzgebung zu wählen sind: Es geht im Wesentlichen um Partei führer und Regierungschefkandidaten, noch dazu mit Blankovollmachten für die Regierungsbildung durch Feilschen und Taktieren. Und sogar die vorzeitige Auflösung des Parlaments, des immer noch formellen Gesetzgebers, muss in das Taktieren um Mehrheiten und Stimmenzuwächse durch Neuwahlen einbezogen werden, obwohl es als Demokratiewidrigkeit gesehen werden müsste, dass die durch die parlamentarische Volksvertretung Legitimierten ihre Legitimationsgrundlage für ihre Zwecke missbrauchen und sogar auflösen.
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Wenn keine Partei bzw. kein Parteibündnis bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit erreicht, was bei einern einigennaßen gerechten Wahlsystem die Regel ist, muss eine möglichst stabile Koalitionsregierung ausverhandelt werden, weil eine Minderheitsregierung, die allerdings auch eine Parlamentsmehrheit als Vertrauensbasis braucht, in der Regel keine dauerhafte Lösung ist und weil eine Regierung, die gleich durch ein Misstrauensvotum gestürzt wird, nicht riskiert werden kann. Dabei ist das Ergebnis des Feilschens um Abstriche von den den Wählern vorgelegten Programmen und von zu Wahlkampfzwecken gegeneinander aufgebauten Positionen sowie um Posten und Ressortzuständigkeiten weniger nach sachlichen als nach proporzmäßigen Kriterien nicht als Wählerwille anzusehen, eher als "Demokratie ohne Volk" zu kennzeichnen, um einen treffenden Buchtitel von Arnims heranzuziehen. Es ist bloß eine Fiktion, dass eine Regierung dem Wählerwillen entspräche. Besonders gilt all dies, wenn vor den Wahlen nicht klare Koalitionsaussagen gemacht werden, sondern wenn die Nichtfestlegung geradezu kultiviert wird (weil der Wähler zu entscheiden habe oder weil das demokratische Entscheidung sei) oder wenn bestenfalls gewisse Koalitionen ausgeschlossen werden. Aber selbst wenn bei Parlamentswahlen eine Partei oder ein Parteibündnis die absolute Mehrheit erreicht und kein Koalitionsgefeilsche für die Regierungsbildung gebraucht wird, ist das Regierungsprogramm mehr Gegenstand von Verhandlungen und Auseinandersetzungen von Parteifunktionären und Strömungen als Berücksichtigung eines klaren Wählerauftrags. Im Gegensatz dazu ermöglicht die Volkswahl der Regierung eine echte Legitimation durch die Wähler und größere Transparenz für die Wähler.
Die Legitimation durch die Wähler und damit die demokratische Substanz des Regierungssystems werden wesentlich vennehrt, wenn die Wahl des Parlaments nicht in die Erteilung einer Blankovollmacht zur Bestellung der Regierung bzw. eines Regierungschefs umfunktioniert wird. Die Zusammensetzung und das Programm der Regierung beruhen durch eine Volkswahl der Regierung unmittelbar und unzweifelhaft auf dem Wählerwillen, unabhängig von den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen. Und die Parlamentarier erhalten ihren unvernUschten Wählerauftrag. Das Volk ist gegenüber der Regierung nicht nur fonnell der Souverän, sondern auch faktisch: Der Volks auftrag liegt nicht nur einzelnen Entscheidungen, wie im Falle plebiszitärer Demokratie, sondern dem Regierungsprogramm und insbesondere den Richtlinien der Politik ohne nachträgliches
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Gefeilsche innerhalb der Parteien und zwischen diesen zugrunde, wodurch substantiell auch mehr direkte Demokratie gegeben ist als durch gelegentliche plebiszitäre Demokratie, so sehr diese in Form von Volksabstimmungen, etwa für die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, grundlegend und unerlässlich ist. These 2: Das sogenannte parlamentarische Regierungssystem ist besonders krisenaruallig. Die Möglichkeit eines Misstrauensvotums im "parlamentarischen" Regierungssystem bewirkt Krisenanfälligkeit. Gegenmaßnahmen, wie ungerechte Wahlsysteme, können die Krisenanfalligkeit mehr oder weniger verringern, nicht aber die anderen Nachteile "parlamentarischer" Regierungssysteme. Und im Schweizer Regierungssystem wird die Stabilität durch das demokratische Defizit der fixen Amtszeit einer nicht direkt legitimierten Regierung erkauft. Letztlich trägt das "parlamentarische" Regierungssystem, vor allem mit einem möglichst gerechten Verhältniswahlrecht bei den Parlamentswahlen, den Keim der Regierungskrise in sich. Jede Parlamentswahl und jede Regierungsbildung ist ein Russisches Roulette: Sogar existentielle Regierungskrisen, die schon zum Untergang von Demokratien geführt haben, wenn auch Neuwahlen keine Lösung bringen, können nicht ausgeschlossen werden. Der Einbau von gleichheitswidrigen Schranken (wie der Sperrklauseln) in das Proporzwahlrecht und noch mehr das Mehrheitswahlrecht verkleinern, beseitigen aber nicht das Risiko. Eher gelingt es dem konstruktiven Misstrauensrecht des Parlaments in Deutschland, das eine Regierung nur bei gleichzeitiger Neuwahl eines Regierungschefs zu Ende gehen lässt, eine Reduzierung der Krisenanfälligkeit ohne Wahlungerechtigkeit zu erzielen. Damit kommt es wenigstens zu keinem völligen Russischen Roulette, die anderen Schwächen "parlamentarischer" Regierungssysteme bleiben aber bestehen und weitere Schwächen, wie mögliche Lähmungen im Regierungskabinett, können dazukommen. Zur Verringerung der Krisenanfalligkeit braucht das "parlamentarische" Regierungssystem "Gegenmittel" gegenüber dem Parlament: einen möglichst disziplinierenden Parteienstaat, das Instrument der Parlamentsauflösung oder - was nicht alle "parlamentarischen" Regierungssysteme kennen und auch nicht so gegen den demokratischen Rechtsstaat gerichtet ist - das Mittel der Vertrauensfrage. Trotz aller problematischen Einschränkungen parlamentarischer Demokratie kann aber die Krisenanfälligkeit nicht ganz ausgeschaltet werden.
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Die Volkswahl der Regierung schafft demgegenüber ein stabiles Regierungssystem, ohne sonstige Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.
Mit der direkten demokratischen Legitimation der Regierung wird der Keim für Regierungskrisen, die in "parlamentarischen" Regierungssystemen die Gesetzgebung miteinbeziehen und unter gewissen Umständen bis zu Staats- und Demokratiekrisen gehen können und schon gegangen sind, vermieden. Die Stabilität muss nicht mit allen möglichen Tricks und Ungerechtigkeiten gegen das Parlament angestrebt werden. Jede Parlaments wahl und jede Regierungswahl bringt klar den Volks willen zum Ausdruck. Weiters müssen die Funktion der Arbeitsteilung und die Ermöglichung von Spezialisten durch das Proporzwahlrecht sowie von umfassend engagierten Persönlichkeiten, von "Generalisten", durch Einerwahlkreise bzw. die Kombination der Vorteile beider Wahl systeme bei der Parlamentswahl nicht zur Krisenvermeidung von einem Parteienstaat überlagert werden. Es muss nicht ein möglichst disziplinierender Parteienstaat die Parlamentarier entmündigen, um die Stabilität des Regierungssystems zu sichern, die trotz allem bei weitem nicht dasselbe Ausmaß erreichen kann wie durch die Volkswahl der Regierung oder zumindest eines seine dem parlamentarischen Misstrauensrecht nicht ausgesetzte Regierung bildenden Regierungschefs. Auch ohne weitere "Gegenmittel" gegen das Parlament, den disziplinierenden Parteien staat, die Parlamentsauflösung oder das Stellen der Vertrauensfrage, kommt es zu keinen Regierungskrisen.
These 3: Die Umkehrung der Vertrauensabhängigkeit durch den Parteienstaat ist die Folge nur indirekter demokratischer Legitimation der Regierung. Die nur indirekte demokratische Legitimation der Regierung über das Parlament zwingt zum Parteienstaat, zu Parteien nicht nur als Wahlmotoren, die für eine Demokratie unverzichtbar sind, sondern auch als exekutive und legislative Staatsorgane beherrschende Machtapparate. Auch in der Schweiz sind auf Bundesebene (trotz des Fehlens eines parlamentarischen Misstrauensrechts) wegen der erfolgenden Wahl des Bundesrates durch die Parteien der Bundesversammlung Loyalitätsverhältnisse zwischen den Regierungsmitgliedern und den im Parlament vertretenen Parteien unvermeidlich, wodurch auch zuviel Parteienstaat gebraucht wird und dieser selbst die Volkswahl der kantonalen Regierungsmitglieder großteils überlagert. In Regierungssystemen mit parlamentarischem Misstrauensrecht geht der Parteienstaat aber noch weiter:
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Um Regierungskrisen zu vermeiden, muss zumindest vertrauensmäßig, wenn schon nicht in der personellen Zusammensetzung, eine parlamentarische Mehrheit möglichst geschlossen hinter der Regierung stehen und darf die Regierung nicht wirklich von der Parlamentsmehrheit abhängig sein. Bei Koalitionsregierungen muss ein Mindestmaß an Geschlossenheit zwischen den Regierungsparteien hinzukommen, wenn auch vor Wahlen zwischen Koalitionspartnern Auseinandersetzungen als Vorwahl- und Wahlgeplänkel die Regel sind und in der Folge zum vielfachen Wortbruch zwingen. Und selbst Oppositionsparteien müssen durch möglichste Geschlossenheit potentielle Regierungsfähigkeit und damit Wählbarkeit beweisen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Da das "parlamentarische" Regierungssystem ohne weitgehende Unterwerfung des Parlaments unter die leitenden Parteigremien und vor allem unter die Parteiführer und Regierungschefs nicht regierbar ist, kann ein geradezu moralischer Anspruch auf den disziplinierenden Parteienstaat, auf Parteienherrschaft und Geschlossenheit hinter Parteiführern und insbesondere hinter den Regierungschefs und solchen, die es werden wollen, erhoben werden. "Wilde" Mandatare, die sich nicht entmündigen lassen, sondern an das freie Mandat halten, werden daher nicht nur von den Parteigremien, sondern mehr oder weniger auch von der Öffentlichkeit mit dem Nimbus der politischen Unmoral, die die für die Regierungsfähigkeit oder potentielle Regierungsfähigkeit notwendige Fraktions- und Parteidisziplin in Frage stellt, versehen. Hinzu kommt noch die Notwendigkeit einer zweiten politischen Untugend des Parteienstaates, nämlich die, Wahlgerechtigkeit, Gleichbehandlung der Wähler, Pluralismus und Minderheitenfreundlichkeit mit dem Vorwurf der "Parteienzersplitterung", mit "Begünstigung kleiner Parteien statt stabilerer Machtverhältnisse" oder sonstwie herabwürdigen zu müssen, obwohl im Parteien staat des "parlamentarischen" Regierungssystems die unbeschränkte Verhältniswahl das einzig gerechte Wahlsystem ist. Die Volkswahl der Regierung lässt hingegen keinen Paneienstaat aufkommen.
Der Dualismus des Regierungssystems durch die mit eigener Volkswahl getrennte demokratische Legitimation der Regierung hat eine freie parlamentarische Willensbildung ohne Gefahr für die Regierungsfahigkeit, aber auch für die Gesetzgebung, und ohne Notwendigkeit der Rechtfertigung des Verzichts auf das freie Mandat zugunsten von Parteienherrschaft zur Folge. Parteien, die als wahlwerbende Gruppen mit echter Konkurrenz Vorausset-
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zung für Demokratie sind, werden nur als Wahlmotoren, nicht als möglichst geschlossene Herrschaftsapparate gebraucht. Der Parteien staat mit möglichst geschlossenen Regierungs- und Oppositionsparteien wird nicht gebraucht. Es gibt keine Unterwerfung der Parlamentarier unter Parteigremien und vor allem unter Parteiführer und Regierungschefs. Die Entscheidungsbildung im Parlament geht quer durch die Parteien. These 4: Das sogenannte parlamentarische Regierungssystem ist eine Regierungschef- und Parteiruhrerdemokratie.
Auch wenn Verfassungen nicht wie das Bonner Grundgesetz dem Vorsitzenden der Regierung eine Richtlinienkompetenz übertragen, sondern wie etwa die österreichische Bundesverfassung eine kollegiale Regierungsstruktur vorgeben, so als ob der Regierungschef ein gewöhnliches Regierungsmitglied wäre, brauchen die "parlamentarischen" Regierungssysteme eine Regierungschef- und Parteiführerdemokratie. Der Bestand der Regierungen trotz des parlamentarischen Misstrauensrechts und die potentielle Regierungsfähigkeit und damit größere Wählbarkeit von Oppositionsparteien hängen von der Geschlossenheit der Parteien hinter ihren Regierungschefs bzw. ihren Parteiführern ab. Diese Geschlossenheit muss vor allem durch die Spitzenfunktionäre der Parteien, die Parlamentarier und die Regierungsmitglieder gegenüber ihren Vorsitzenden bzw. Regierungschefs (samt deren mit ihnen notwendigerweise "cohabitation" praktizierenden Stellvertretern im Falle von Koalitionspartnern) hergestellt werden. Die Geschlossenheit stellt eine Hierarchisierung unter den Parteiführern (Spitzenkandidaten) und vor allem unter den Regierungschefs in Parteien, Fraktionen und Kabinetten dar, eine Hierarchisierung, die nicht nur die vollziehende, sondern auch die gesetzgebende Staatsgewalt erfasst und damit über das "präsidentielle" Regierungssystem mit dem Musterbeispiel der USA hinausgeht, dessen Präsident Chef der Regierung, aber nicht der Gesetzgebung und im Übrigen auch nicht einer Partei ist. Die jedenfalls faktisch bestehende Richtlinienkompetenz, die sich aus der Vorsitz- und Regierungsbildungsfunktion ergibt, die Regierungschefdemokratie ("Kanzlerdemokratie", "prime ministerial government" bzw. Landesvaterdemokratie ), geht daher wesentlich weiter als die Macht des Präsidenten im "präsidentiellen" Regierungssystem, und zwar gerade auf Kosten rechtsstaatlicher Gesetzgebung. Ein mit dem Regierungschef dissentierender Minister muss gehen, wie im "präsidentiellen" Regierungssystem; bei mehreren dissentierenden Mi-
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nistern kommt eher der Regierungschef mit der gesamten Regierung in Schwierigkeiten. Aber auch eine bei der Gesetzgebung und Kontrolle mit ihm dissentierende Parlamentsmehrheit wird aufgelöst und Neuwahlen ausgesetzt, sodass sich die Parlamentarier der Regierungspartei(en) eher dem Willen des Regierungschefs unterwerfen. Um sich als künftige Regierungschefkandidaten anzubieten und damit die Wahl aussichten ihrer Parteien zu verbessern, müssen auch die Parteiführer der Oppositionsparteien möglichst geschlossene Parteien samt deren Spitzenfunktionäre und Parlamentarier hinter sich haben. Die Volkswahl der Regierung ermöglicht im Gegensatz dazu wirkliche Regierungsteams.
Die Volkswahl der Regierung als Auswahl aus - ihre Vorsitzenden, ihre weiteren Ressortleiter und ihre Regierungsprogramme präsentierenden Kandidatenteams (spätestens mit einer Stichwahl) kann den Teamcharakter und die kollegiale Struktur mit einem Vorsitzenden als "primus inter pares" und einem von den Wählern in Auftrag gegebenen Regierungsprogramm aufrechterhalten. Es können die Verwirklichung des Regierungsprogramms (Richtlinien der Politik) und die eventuell notwendige vorzeitige Nachbesetzung von Regierungsmitgliedern mit Mehrheitsbeschlüssen erfolgen; es braucht keine (noch dazu die Gesetzgebung einschließende) Einpersonenherrschaft und im Vorfeld dazu auch keine Vergatterung hinter den Parteiführern. Der Teamcharakter kann aber nicht nur an die Stelle einer Einpersonenherrschaft treten, sondern auch unabhängig von taktischen Überlegungen gegenüber den Parlamentariern, vor allem aber gegenüber politischen Parteien, bestehen. These 5: Das Parlament ist fast nur mehr formeller Gesetzgeber. Von der "Demokratie ohne Volk" ist sogar die Gesetzgebung erfaßt. Mit der Überlagerung der Gewaltenteilung bzw. mit der Umkehrung der Vertrauensabhängigkeit und der Dominanz durch die Entmündigung der Parlamentarier mittels Fraktionszwang und Parteidisziplin zum Zwecke der Sicherung des Bestandes der Regierung, der Regierungsfähigkeit, ist auch der Verlust der faktischen Gesetzgebungshoheit des Parlaments, der Haupterrungenschaft des Rechtsstaates, verbunden. Über die Ausarbeitung der allermeisten Gesetzesentwürfe hinaus wird die Regierung und insbesondere der Regierungschef zum faktischen Gesetzgeber. Die schon unverblümte Sprache, dass Regierungen und vor allem ihre
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Chefs die Gesetze machen, entspricht der Realität. Das weitgehend entmündigte Parlament wird zur bloßen Redebühne der Parteisprecher und zur Registrierkammer der Parteibeschlüsse mit mehr oder weniger Öffentlichkeitswirkung. Von Parlamentariern kommen fast nur Abänderungsanträge. Wechselnde Mehrheiten im Parlament, besonders quer durch die Parteien, sind unmöglich, weil schon wenige Abstimmungsniederlagen bzw. bereits eine gravierendere Abstimmungsniederlage der Regierung als Äquivalente eines Misstrauensvotums zu Regierungssturz und Neuwahlen führen. Können die Parlamentarier der Regierungspartei(en) nicht diszipliniert werden, wird die Regierung regierungsunfähig und gibt es auch keine Gesetzgebung mehr, vielmehr müssen sich (als Perversion des Rechtsstaates) die Parlamentarier vorzeitigen Neuwahlen stellen, um ihre legislative Aufgabe fortsetzen zu können, obwohl es um ein Versagen der derart gebildeten Regierung geht. Der Verlust der faktischen Gesetzgebungshoheit des Parlaments wiegt besonders schwer im Bereich der Verfassunggebung, der auf eine erhöhte Bestandsgarantie angewiesenen Grundordnung des Rechtsstaates, die ebenfalls zu einem Verhandlungsobjekt zwischen Funktionären der Regierungsund Oppositionsparteien verkommt. Im Falle einer Regierung, die eine für Verfassungsänderungen erforderliche Mehrheit im Parlament hinter sich hat, ist sie sogar faktischer Verfassunggeber, womit der letzte Rest eines mehr als bloß formalen Rechtsstaates - abgesehen vom Rechtsschutzstaat - verschwindet. Im Falle der österreichischen "Besonderheit" der Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen wird dann zudem sogar die Grenze zwischen Verfassungsrecht und einfachen Gesetzen fast vollständig beseitigt. Aus der Volkswahl der Regierung ergibt sich eine auch faktische Gesetzgebungshoheit des Parlaments.
Ein durch die Volkswahl der Regierung dualistisches Regierungssystem, das ohne Entmündigung der Parlamentarier auskommt, ermöglicht eine auch faktische Gesetzgebungshoheit des Parlaments, nicht bloß das Registrieren der legislativen Selbstbindung der Regierung. Selbst wenn die Mehrzahl der Gesetzesentwürfe immer noch von der Regierung ausgearbeitet wird, hat das Parlament in einem freien Kräftespiel mit wechselnden Mehrheiten auch quer durch die Parteien die tatsächliche Entscheidungshoheit, die Gesetzesentwürfe anzunehmen oder abzulehnen, ohne dass die Regierung stürzt, selbst bei häufigerem Ablehnen und bei für die Regierung wichtigen Gesetzesvorhaben.
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Es erfolgt daher keine Aushöhlung von Gesetzgebung oder sogar Verfassunggebung des Parlaments durch die Regierung, keine Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit. These 6: Faktische Gewaltenteilung zwischen der Legislative und der Exekutive sowie parlamentarische Kontrolle fehlen. Mit der Demokratisierung der Regierung nur über das Parlament wurde auf eine über die formelle Gewaltenteilung hinausgehende auch faktische Gewaltenteilung, einen Dualismus zwischen Parlament und Regierung, verzichtet. Zum Unterschied von der getrennten demokratischen Legitimation im "präsidentiellen" Regierungssystem (Hauptbeispiel: USA) und in den Schweizer Kantonen (durch den Parteienstaat des Bundes in abgeschwächter Form) bedeutet der Monismus "parlamentarischer" Regierungssysteme daher einen Mangel an (auf die Teilung staatlicher Macht angewiesenem) demokratischem Rechtsstaat. Die an die Stelle eines Dualismus zwischen Parlament und Regierung tretende (selbst bei sogenannten Minderheitsregierungen) vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Identität von Parlamentsmehrheit und Regierung und der dadurch notwendige Parteienstaat überlagern die Teilung der Staatsgewalt in gesetzgebende und vollziehende Organe und haben einen Monismus, eine legislative und exekutive Machtkonzentration in der Hand der Regierung bzw. der Regierungsparteien zur Folge. Verschärft wird der Monismus durch die (zumindest faktische) Richtlinienkompetenz der Regierungschefs, die auch die personelle Zusammensetzung der Regierung - im Falle von Koalitionen zusammen mit den Führern der Koalitionspartner - einschließt. Der Monismus zugunsten der Regierung verhindert wirksame parlamentarische Kontrolle, solange es der Öffentlichkeit gegenüber durchgehalten werden kann, um die Regierungsfähigkeit zu erleichtern. Wenn Kontrolle durch die Parlamentsmehrheit (z. B. durch Budgetverweigerung) doch einmal wirksam zustandekommt, was als implizites Misstrauensvotum gilt, wodurch ebenfalls die Regierung stürzt und vorzeitige Neuwahlen (des Parlaments!) ausgeschrieben werden müssen, werden die Parlamentarier bestraft, weil sie um ihre Wiederwahl bangen müssen. Eine solche Perversion des Rechtsstaates ist zudem gegeben, wenn Regierungen bzw. Regierungsparteien nicht bloß bei ihrer Erfolglosigkeit, sondern auch beim Gegenteil, bei einem für sie günstigen Meinungsklima, die Parlamentarier aus bloß taktischen Gründen nach Hause schicken bzw. Neuwahlen aussetzen.
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Die Volkswahl der Regierung ermöglicht eine auch faktische Gewaltenteilung und Kontrolle.
Die Volkswahl der Regierung, statt ihrer nur indirekten demokratischen Legitimation über das Parlament, eröffnet einen echten Dualismus und als Folge ein besseres Kontrollsystem. Eine Überlagerung von Gewaltenteilung durch einen parteipolitisch erzwungenen Monismus mit dem Mittel der Entmündigung der Parlamentarier mit Fraktions- und Parteizwang kann nicht gerechtfertigt werden. Dies bedeutet die Beschränkung der Macht der Regierung bzw. des Regierungschefs auf die exekutive Staatsgewalt. Es gibt eine tatsächliche Trennung von der Gesetzgebung des Parlaments, auch wenn die Regierung ein Initiativrecht hat, das etwa dem US-Präsidenten formell nicht zusteht, und wenn die Regierung - zum Unterschied vorn US-Präsidenten - kein Vetorecht hat. Es fehlt zwar das Misstrauensrecht des Parlaments als Kontrolle, aber gerade deshalb können - ohne Notwendigkeit der Entmündigung der Parlamentarier - auf der Grundlage des echten Dualismus als Voraussetzung für wirksame Interorgankontrolle die anderen Kontrollmittel, vor allem der Parlamentsmehrheit gegenüber der Regierung, umso wirksamer werden, einschließlich der Möglichkeit eines Antrags beim Verfassungs gericht auf Absetzung von Regierungsmitgliedern wegen Rechtswidrigkeiten von Regierungsakten ("impeachment").
These 7: Dezentralisation und Föderalismus vervielfachen die Nachteile bloß parlamentarisch legitimierter Regierungen. Auch die Dezentralisation und der Föderalismus (Verfassungs autonomie auch der Teilsysteme) müssen durch den zum Zentralismus tendierenden Parteienstaat, der für die über Parlamente erfolgende Legitimation der Regierungen, vor allem für "parlamentarische" Regierungssysteme, unverzichtbar ist, Schaden leiden. Insbesondere werden die regionalen bzw. gliedstaatlichen Wahlen zu Testwahlen der zentralstaatlichen Parteien und wird überhaupt regionale bzw. gliedstaatliche Politik zu weniger wichtiger Aufgabenstellung und eher zum Übungsobjekt der Politiker für den zentralen Parteienstaat. Besonders deutlich zeigt sich das auch an Ländervertretungen, wie am deutschen oder am österreichischen Bundesrat, die weit mehr Parteien- als Ländervertretungen sind, sodass das bundespolitisch Interessanteste an Landtagswahlen die Auswirkung auf die Parteienmehrheit im Bundesrat ist.
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Dabei fällt kaum ins Gewicht, dass im Falle des deutschen Bundesrates unter Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips Landesregierungen mit Zustimmungsrechten an der Bundesgesetzgebung beteiligt sind, im Falle des österreichischen Bundesrates die Landtage den Bundesrat beschicken und damit formell das Gewaltenteilungsprinzip nicht verletzt wird. Auch in den österreichischen Bundesländern mit ihren "parlamentarischen" Regierungssystemen sind nämlich die Landesregierungen die faktischen Gesetzgeber und die Parteien die Kommandozentralen der Bundesratsmitglieder, sodass die Beschickung des Bundesrates durch die Landtage auch in rechtsstaatlieher Hinsicht nichts bringt. Die größere Bürgernähe regionaler bzw. gliedstaatlicher Gemeinschaften wird durch die nur indirekte demokratische Legitimation und den Parteienstaat viel zu wenig ausgenützt. Und durch Dezentralisation und Föderalismus werden die Nachteile parlamentarisch legitimierter Regierungen bzw. "parlamentarischer" Regierungssysteme sogar vervielfacht, wenn die Regionen und die Länder bzw. Gliedstaaten solche Regierungssysteme aufweisen wie der Zentralstaat. Nicht bloß ein Verzicht auf den Beispiel- und Wettbewerbseffekt und auf weitere Vorteile, sondern geradezu eine Absurdität ist daher gegeben, wenn eine zentralstaatliche Verfassung und sogar eine Bundesverfassung, wie die österreichische, die nur indirekte demokratische Legitimation der regionalen bzw. der gliedstaatlichen Regierungen vorschreiben. Die Volkswahl zentraler und regionaler Regierungen stellt eine Vervielfachung parlamentarischer Demokratie und weiterer Vorteile dar.
Die Dezentralisation demokratischer Systeme und vor allem der Föderalismus dienen der Ausdifferenzierung von Mehrheiten, der - zum Unterschied etwa von Belgien - echte Föderalismus (mit seiner Verfassungsautonomie der Teilsysteme) sogar in Form der Gleichordnung mit dem Zentralstaat. Zudem bedeutet die Ausdifferenzierung von Mehrheiten und von auch den Minderheiten dienendem Pluralismus mehr Bürgernähe und kürzere Entscheidungswege in den dezentralen Systemen, sodass der direkte Volksauftrag für deren Regierungen und Regierungsprogramme in vervielfachter Weise Demokratie mit einem Volk und nicht ohne ein solches darstellt und auch eher Gleichwertigkeit regionaler bzw. gliedstaatlicher Politik mit zentralstaatlicher Politik durch direkte Wähleraufträge erreicht wird. Und eine die gliedstaatlichen Gesetzgebungen durch Rahmengesetze als eine Art Selbstkoordination koordinierende und harmonisierende gliedstaat-
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liehe Bundesvertretung kann in rechtstaatlich einwandfreier Weise mehr gliedstaatliche Zuständigkeiten eröffnen. Zusammenfassung zur Grundstruktur einer notwendigen Demokratiereform
Bei der Suche nach einem möglichst demokratischen und möglichst stabilen Regierungssystem führt kein Weg an der Überwindung des Monismus der nur indirekten demokratischen Legitimation der Regierung über das Parlament durch die von der Parlamentswahl getrennte Volkswahl der Regierung, durch einen echten Dualismus, vorbei. Dadurch wird eine klare Legitimation der Regierung durch die Wähler in Form von - nicht nur auf die Partei führer bezogen - deutlicher echten Persönlichkeitswahlen erreicht, auch bei den Parlamentswahlen. Bei diesen kann das bundesdeutsche Modell der zur Hälfte in Einerwahlkreisen und zur anderen Hälfte mit (unbeschränktem) Verhältnis- bzw. Listenwahlsystem gewählten Parlamentarier dann wirklich sowohl umfassend Wahlkreise vertretende "Generalisten" als auch arbeitsteilende Spezialisten und die adäquate Vertretung von Minderheiten sowie von für eine dynamische Demokratie notwendigen neuen wahlwerbenden Gruppen wirksam werden, ohne dass dies durch Hörigkeit gegenüber den Parteien unterlaufen werden muss. Es ist dies zugleich ein Beitrag zur größeren Glaubwürdigkeit der Politiker, wenn sie nicht die in den Wahlen aufgezeigten Unterschiede mit Regierungsprogrammen, vor allem von Koalitionen, die bei halbwegs gerechten Wahlsystemen die Regel sind, vergessen müssen, wie dies bei der nur indirekten demokratischen Legitimation der Regierung der Fall ist. Parlamentarische Demokratie, die bei nur indirekter demokratischer Legitimation der Regierung und vor allem im sogenannten parlamentarischen Regierungssystem unterentwickelt ist, und Rechtsstaatlichkeit, die hinsichtlich der tatsächlichen Gesetzgebungshoheit des Parlaments bzw. der Teilung von legislativer und exekutiver Macht im "parlamentarischen" Regierungssystem ebenfalls unterentwickelt ist, kommen ohne Gefahr für die Regierungsfähigkeit und ohne Notwendigkeit des Parteienstaates durch die Volkswahl der Regierung zur vollen Entfaltung. Und nicht zuletzt müssen die Dezentralisation und der Föderalismus durch die direkte Volkswahl auch der regionalen bzw. der gliedstaatlichen Regierungen genutzt werden, um die Machtteilung und die Vermehrung des Zugangs des Volkes zum politischen System noch wesentlich zu vergrößern, vor allem der Föderalismus mit seiner größtmöglichen Ausdifferenzierung von Mehrheiten sowie von auch den Minderheiten dienendem Pluralismus und als größtmögliche Subsidiarität und Bürgernähe auf der Ebene der
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Gleichordnung der Gliedstaaten mit dem Bund, sohin als Höchstmaß an substantieller Demokratie. Der Dualismus durch getrennte Parlaments- und Regierungswahlen und seine Vorzüge zeigen sich besonders deutlich am Beispiel der USA, wo vor allem kein die Parlamentarier entmündigender Parteienstaat besteht und der Kongress nicht nur fonnell der Gesetzgeber und ein "Arbeitsparlament" (nicht bloß ein "Redeparlament" für die Gesetzgebung und die Kontrolle) ist, was einem nicht bloß fonnalen, sondern auch materiellen Rechtsstaat entspricht (wenn auch das Vetorecht des Präsidenten gegen die Gesetzesbeschlüsse des Kongresses gegen die Gewaltenteilung verstößt und kein Vorbild ist). Im Falle der Schweizer Kantone wird dies durch den von der Bundesebene sich fortsetzenden, die kantonalen Regierungssysteme noch weitgehend überlagernden Parteienstaat nicht ganz so deutlich. Allerdings könnte auch hinsichtlich der Regierung eine präsidentielle Einpersonenherrschaft durch eine Kollegialstruktur ersetzt werden, die demokratischer ist als die monokratische Regierungsstruktur. Die kollegiale Regierungsstruktur wird mit der Volkswahl der einzelnen Schweizer Kantonsregierungsmitglieder aber auch noch nicht voll erreicht, da der Teamcharakter fehlt. Die Volkswahl der Regierungen als Auswahl aus Teams (mit eventueller Stichwahl) auf allen politischen Ebenen wäre demgegenüber ein Höchstmaß an Demokratie.
Direkte Demokratie - aus schweizerischer Sicht Dinner Speech am Speyerer Demokratieforum, Schloss Hambach, 28. Oktober 1999 Von Hugo Bütler Sie, meine Damen und Herren, haben den ganzen Tag gearbeitet, und ich nehme Ihre Zeit in Anspruch beim Abendessen. Das ist eine für die direkte Demokratie im schweizerischen Milizsystem typische Situation. Direkte Demokratie ist zeitaufwendig und sehr oft eine Veranstaltung zur Feierabendzeit und am Wochenende. Ohne Einsatz freier Bürger zur Bildung einer freien Meinung auch in der berufsfreien Zeit kann direkte Demokratie nicht funktionieren. Vom amerikanischen Präsidenten Lincoln stammt die vielleicht denkwürdigste aller Kennzeichnungen der Demokratie, die mit dem vielmissbrauchten Begriff "Macht des Volkes" oder "Herrschaft des Volkes" nicht zureichend gekennzeichnet ist. Lincolns berühmte Formel für Demokratie lautete: "Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk." Giovanni Sartori hat in seiner intelligenten Demokratietheorie gezeigt, dass auch die scheinbar schlagende Formel von Lincoln in der politischen Praxis missbraucht oder missdeutet werden kann. Ich will Ihnen heute abend meinerseits keine Demokratietheorie vorlegen. Vielmehr will ich über direkte Demokratie aus praktischer Erfahrung reden. Ich tue dies als Zeitungsmann aus der Schweiz, wo die politischen Zeitungen und elektronischen Medien im demokratischen Kommunikations- und Meinungsbildungsprozess eine etwas besondere Rolle spielen. Zu den spezifischen Erkenntnissen, die man als politischer Journalist im Land mit der wohl am stärksten entwickelten direkten Demokratie gewinnt, gehört die Einsicht, dass veröffentlichte Meinung nicht mit der öffentlichen Meinung gleichzusetzen ist. Und die öffentliche Meinung, die zu bestimmten Themen per Umfrage durch Demoskopen erhoben wird, ist keineswegs immer oder gar voll identisch mit der öffentlichen Meinung, die sich bei Urnenentscheiden oder bei offenen Abstimmungen in Versammlungen manifestiert. Was man als Befragter zur Antwort gibt, ist nicht unbedingt identisch mit dem, was man beim geheimen Entscheid an der Urne kundtut. Und nicht alle, die befragt werden, gehen zur Urne und umgekehrt; das
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"Sampie" der Befragten spiegelt oft keineswegs repräsentativ die Schichten der Urnengänger. Direkte Demokratie baut als Methode der politischen Entscheidung auf die Urteilsfähigkeit und die Vernunft der Bürger. Die Mitglieder eines Gemeinwesens, Frauen wie Männer, sollen direkt in die Verantwortung für die Gestaltung der res publica involviert werden. Sie geben nicht nur der formellen Ordnung, der Verfassung ihre Zustimmung, sondern fällen direkt konkrete Entscheide, bestimmen insbesondere auch über das Ausrnass der aufzubringenden Finanzmittel und über ihre Verwendung. Dabei steht in der verfassungsmässig festgelegten direktdemokratischen Ordnung der Schweiz den Bürgern nicht nur das Recht zu, Anträge der regierenden Behörden anzunehmen oder zu verwerfen. Die Stimmberechtigten haben sich im Laufe der späteren Ausgestaltung des 1848 gegründeten modemen Bundesstaates neben dem Referendumsrecht auch das Initiativrecht erkämpft. Das bedeutet, dass Gruppen von Bürgern unter bestimmten Voraussetzungen (Unterschriftsquoren u. a.) eigene Vorschläge in den politischen Entscheidungsprozess einbringen können. Das Ideal des mündigen Bürgers
Ein wesentliches Element in der schweizerischen Erfahrung ist zweifellos, dass die direkte Demokratie aus dem energischen politischen Kampf der Bürger um ihre Entscheidungsrechte hervorgegangen ist. Die Volksrechte wurden nicht von den liberalen Gründern der modemen Schweiz von 1848 in die Verfassung eingeführt, sondern später, oft gegen die dominierende Regierungselite, schrittweise erkämpft. Inzwischen haben die Liberalen mit der direkten Demokratie gut leben gelernt. Der freisinnige schweizerische Nationaldichter des 19. Jahrhunderts, Gottfried Keller, der mit seinem grossen politischen Sinn und seiner Trink- und Festfähigkeit am Hambacher Fest von 1832 gewiss seine helle Freude gehabt hätte, schrieb 1865 aus Anlass von Verfassungsrevisionskämpfen im Kanton Zürich: "Uns scheinen jene Verfassungen die schönsten zu sein, in welchen, ohne Rücksicht auf Stil und Symmetrie, ein Concretum, ein errungenes Recht neben dem andern liegt, wie die harten glänzenden Körner im Granit, und welche zugleich die klarste Geschichte ihrer selbst sind."
Direkte Demokratie setzt also auf den mündigen Bürger, der für seine Rechte kämpft und sie ausübt. Das ist eine Idealvorstellung. Die liberalen Väter des modemen schweizerischen Bundesstaates suchten die Realität diesem Ideal anzunähern, indem sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Kantonen die obligatorische Schulpflicht durchsetzten. 1848 wurde der eidgenössische Bundesstaat jedoch, wie angetönt, als parlamentarische Demokratie mit einem Zweikammersystem nach amerikanischem
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Vorbild eingerichtet. Die starke demokratische Bewegung der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Kantonen stellte dann wichtige Weichen in Richtung direkte Demokratie, deren Prinzip sich mit dem Referendumsrecht in der vollkommen revidierten Bundesverfassung von 1874 durchsetzte. (Von der alten Landsgemeindedemokratie in den Bergkantonen sei hier jetzt nicht die Rede). Seither hat das Volk nicht bloss das Recht, über Verfassungsänderungen und bestimmte Gesetze obligatorisch zu entscheiden. Es kann mit dem Instrument der Unterschriftensammlung (fakultatives Referendum) bestimmte weitere Gesetze und Beschlüsse der Regierung bzw. Vorlagen des Parlaments seiner direkten Entscheidung unterwerfen. 1891 wurde das Instrumentarium der direkten Demokratie auch auf Bundesebene durch das Initiativrecht erweitert. Seit 1874 hat das Volk auf der Ebene des Bundes Hunderte von politischen Entscheidungen gefällt. Und Tausende von Gesetzes- und Sachentscheiden (inklusive Steuern und Ausgaben) wurden und werden in den Kantonen und Gemeinden von der zuständigen Stimmbürgerschaft an offenen Gemeindeversammlungen oder an der Urne getroffen. Das schweizerische Staatswesen, seine Art des Entscheidens beruht also letztlich auf dem Vertrauen in den politischen Souverän, in die Stimmbürgerschaft, die zu allem das letzte Wort hat beziehungsweise sich das letzte Wort vorbehält, und dies seit 1920 auch in aussenpolitischen Fragen. Damals ging es zuerst um die "Gotthard-Verträge" mit Italien und Deutschland zwecks Finanzierung des Alpentransits und sodann um die - erfolgreiche - Abstimmung über den Beitritt zum Völkerbund. Die Regelung des schweizerischen Verhältnisses zur Europäischen Union untersteht heute ebenso dem Volksentscheid wie die Frage des Beitritts zur Uno. Darauf komme ich später zurück. Berechtigtes Vertrauen?
Verdienen die Bürger und Bürgerinnen, verdient das Volk so viel Vertrauen? Man kann zwar unter Schweizern selbstverständlich immer Leute antreffen, die einzelne vom Volk gefällte Entscheide falsch finden und missbilligen, aber man wird kaum jemanden finden, der die legislative Souveränität dem Volk entwinden und an das Parlament zurückgeben möchte. Diese tiefe Verankerung der direkten und konkreten Volkssouveränität hat mit der inzwischen langen Erfahrung ebenso zu tun wie mit der Überzeugung, dass unsere Regierungsform der halbdirekten Demokratie im ganzen gute Ergebnisse zeitigt. Dabei messen sich gute Ergebnisse nicht nur im Ja oder im Nein zu einer Vorlage in der Volksabstimmung. Insbesondere gilt diese Feststellung für die Volksinitiativen, die ausschliesslich Verfassungsänderungen zum Gegenstand haben können. Sie haben in der 12 von Amim
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Geschichte relativ selten Erfolg gehabt bei der Abstimmung. Aber auch wenn sie am Schluss scheitern oder von den Initianten zurückgezogen werden, entfalten Volksinitiativen (übrigens auch Referendumsdrohungen gegen Gesetze) im politischen Prozess oft Vorwirkungen und indirekte Effekte, indem das Parlament mit Blick auf die potentielle Vetornacht von Interessen- und Bürgergruppen berechtigte Anliegen in seine gesetzgeberische Arbeit aufnimmt. Weder die faktische Urteilsfähigkeit des Einzelnen noch das Vertrauen in die politische Mündigkeit der Bürger sind als Voraussetzungen ab einem historischen Tag X gegeben. Sie bilden sich vielmehr als Resultate eines beharrlich artikulierten Willens der Bürgerschaft und eines langen politischen Erfahrungs- und Erziehungsprozesses. Der Streit darüber, was zuerst gegeben sein muss, das Entscheidungsrecht des Volkes oder seine Urteilsfähigkeit, ist wohl so müssig wie der Disput um Henne und Ei. Dass direktdemokratische Rechte ein gutes Instrument der politischen Erziehung sind und bleiben, davon ist man in der Schweiz weitherum überzeugt. Dazu ein anekdotisches Beispiel aus der Gemeinde Stein am Rhein aus den sechziger Jahren. Damals wanderten bekanntlich zahlreiche Italiener als Fremdarbeiter in unser Land ein. Ausländer können als solche zwar in den meisten Fällen nicht am politischen Leben der Gemeinde direkt teilnehmen. (Einzelne Gemeinden haben ihnen allerdings das Stimmrecht eingeräumt.) Aber als Bürger der in diesem Fall katholischen Kirchgemeinde konnten sie selbstverständlich bei der Festsetzung der kirchlichen Angelegenheiten (Steuerfuss, Pfarrerwahl usw.) mitwirken. Es ergab sich, dass die Italiener an einer Kirchgemeindeversammlung in der Überzahl waren. Etwas übermütig setzten sie einen Antrag durch, den Kirchensteuerfuss auf Null herabzusetzen. Das entsprach wohl italienischem Denken über den eigenen Staat, der in der Geschichte lange Zeit der Staat von Fremdherrschern, also der Feind, gewesen war. Nach diesem politischen Überraschungscoup haben die Schweizer Kirchgemeindemitglieder den Italienern erklären müssen, dass es ohne Kirchgemeindesteuern keinen Pfarrer, keinen Gottesdienst, keine Hochzeitsfeiern, keine Tauffeiern und keine Beerdigungen in der Kirche mehr geben könne. Ein paar Monate später haben dann auch die Italiener einem leicht reduzierten Steuerfuss für die katholische Kirchgemeinde zugestimmt. Direkte Beteiligung an politischen Entscheiden schärft also den Sinn für die Verantwortung, die Einsicht in das, was zur Erhaltung und Pflege der res publica notwendig ist, aber auch für das, was letztlich den Interessen (inklusive dem persönlichen Geldbeutel) des einzelnen Bürgers zuwiderläuft. Bleiben wir einen Moment beim Innenleben unserer rund 3000 Gemeinden, unserer 26 Kantone und unseres Bundesstaates.
Direkte Demokratie - aus schweizerischer Sicht
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Dezentrale Finanzverfassung
Eine wesentliche Voraussetzung für die Lebendigkeit und Tragfähigkeit der direkten Demokratie auf den Ebenen der Gemeinde, der Kantone und des Bundes ist sicher die Übereinstimmung von formeller Zuständigkeit und realer Verantwortung, insbesondere was die Aufbringung und Verwendung der Finanzmittel betrifft. In der Schweiz werden Steuern von der Gemeinde, vom Kanton und vom Bund erhoben. Jedes Gemeinwesen legt seinen Steuerfuss in eigener Verantwortung fest, allenfalls via Volksentscheid. Auch die dem Bund zufliessende Mehrwertsteuer (und ihr Satz in der Höhe von 7,5 %), welche die frühere Waren umsatzsteuer ablöste, wurde nach harten Auseinandersetzungen an der Urne vom Volk gutgeheissen. Faktisch verfügen die drei staatlichen Ebenen je über rund einen Drittel aller öffentlichen Mittel. Der sogenannte Finanzausgleich bzw. Transferzahlungen verwischen zwar da und dort die saubere Trennung; aber das Prinzip der dezentralen Aufbringung und Verteilung der Mittel bleibt gewahrt. Gesunder Steuerwettbewerb
Diese föderalistische Finanzordnung gibt den Gemeinden und Kantonen viel echte Selbstverantwortung und ermöglicht faktisch einen steuerpolitischen Standortwettbewerb unter Gemeinden und Kantonen. Sie haben ihre Steuer- und Finanzpolitik mit einem ständigen Blick auf Verhältnisse in benachbarten Gebieten und andern Landesteilen zu gestalten im Bestreben, für steuerzahlende Bürger als Wohnsitz und für Unternehmen als Firmensitz und Produktionsstandort attraktiv zu bleiben. Wir halten in der Schweiz diesen Wettbewerb, zu dem natürlich auch die Attraktivität und die Kostengünstigkeit der öffentlichen Leistungen gehören, im ganzen für eine Wohltat. Sicher ist dieser Wettbewerb hilfreich im Kampf gegen ein überhöhtes Steuerniveau. Gerechtigkeits- und Gleichheitsfanatiker finden es natürlich zuweilen stossend, dass Bürger, die zwei Kilometer entfernt wohnen, weniger oder eben mehr Gemeinde- bzw. Kantonssteuern bezahlen müssen. (Nur die Bundessteuer hat überall die gleichen GrÖssenordnungen.) Aber die grosse Mehrheit akzeptiert diese Ausgangslage. Wer der Meinung ist, dass die Steuern zu hoch sind, kann den politischen Kampf für einen niedrigeren Steuerfuss aufnehmen oder eben umziehen und so Steuern sparen. Er kann aber auch Überlegungen zu seiner Lebensqualität machen und in einer Stadt wie Zürich wohnen bleiben, obwohl sie etwas höhere Steuern einzieht als die meisten Vorortsgemeinden. Der Wettbewerb der Kommunen und Kantone in bezug auf Steuern und Finanzpolitik ist insofern sehr gesund, als davon natürlich Vorwirkungen auf das politische Verhalten von Regierungen ausgehen. Die Kommunalregierungen und Kantone, die steuer- bzw. ausgabenpolitisch zu üppig 12'
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werden, sehen sich nicht bloss mit direktdemokratischer Opposition, sondern früher oder später auch mit Bewegungen in der Bevölkerung und bei Firmen konfrontiert, die einen neuen Lebens- bzw. Standort suchen. Die Unterschiede der Steuerbelastungen variieren zwischen den Kantonen, von einem Durchschnittsniveau 100 aus betrachtet, bis gegen 50 Prozent nach unten und 30 Prozent nach oben. Einen etwas ausgleichenden Gegenfaktor bilden allenfalls die örtlichen Wohn- und Lebenshaltungskosten. In wohlhabenden Gemeinden wohnt es sich meist teurer, weil sie auf dem Markt "attraktiver" sind. Globalisierung und direkte Demokratie
Nach diesem Blick ins innenpolitische Getriebe könnte ich auf kulturpolitische oder bemerkenswerte sozialpolitische Erfahrungen in der direkten Demokratie zu sprechen kommen. Ich denke an die vom Volk mehrfach gestützte Abgabe von Ersatzdrogen an Heroinabhängige. (Natürlich weiss das Volk um die Doppeigesichtigkeit dieser Einrichtung. Aber eine gute Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen zieht das kleinere Übel, nämlich die Abgabe von aus Steuernrnitteln finanzierten Ersatzdrogen vor, um die Drogenabhängigen aus der Beschaffungskriminalität zu befreien und den Aktionsradius der Drogenhändler und der Drogenmafia einzuengen.) Vor Augen habe ich aber auch denkwürdige Volksabstimmungen über die Finanzierung des Opernhauses oder des Schauspielhauses in Zürich oder die Errichtung des neuen Konzerthauses für die Internationalen Musikfestwochen in Luzern. Dort haben die Stimmbürger der 60000-Einwohnerstadt den grössten je bewilligten städtischen Projektkredit von rund 100 Millionen Franken ausgerechnet für ein Konzert-, Kunst- und Kongresshaus von hohem Anspruch gutgeheissen. (Dazu kamen 30 Millionen Franken vom Kanton ebenfalls durch Volksbeschluss - und über 50 Millionen Franken aus Spenden Privater.) Ich ziehe es aber in diesem Kreis vor, einige Bemerkungen zum Spannungsfeld zwischen Aussenpolitik und direkter Demokratie vorzutragen, um auch auf die Tempobeschränkung und auf Begrenzungen des Handlungsradius in den Aussenbeziehungen aufmerksam zu machen, die sich hier aus der direktdemokratischen Mitsprache des Volkes ergeben. Entscheidungsrechte in der Aussenpolitik haben sich die Bürger im Gefolge des Ersten Weltkrieges ebenfalls mit Initiativen zur Verfassungsänderung hart erkämpft, denn ursprünglich waren nach 1848 Regierung und Parlament dafür allein zuständig gewesen. Zuerst möchte ich an einigen Beispielen zeigen, wie die direkte Demokratie der Schweiz auf Themen reagiert, die mit der Globalisierung und dem internationalen Standortwettbewerb zusammenhängen. Dann füge ich
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ein paar Bemerkungen über die schweizerische Stellung zu Europa bei, eine Stellung, die entscheidend von der Tradition des neutralen Aussenseiters einerseits und vom direktdemokratischen Souveränitätsbegriff anderseits geprägt ist. Offen
mr wirtschaftliche Einbindung
Es gibt in der Schweiz wie in hochentwickelten EU-Staaten in manchen Kreisen ein durchaus weltbürgerliches politisches Bewusstsein, das der realen weltweiten Existenzverflechtung des kleinen Landes entspricht. Solches Weltbürgertum wird unter anderem manifest in einem starken privaten bzw. nichtgouvernementalen Engagement vieler Bürger und gesellschaftlicher Organisationen in humanitären und Entwicklungseinsätzen in der Dritten und Vierten Welt. Die Schweiz arbeitet auch in allen humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Spezialagenturen der Vereinten Nationen mit und beteiligt sich an ihnen auch finanziell in vollem Ausrnass. Das gleiche gilt übrigens auch für den Europarat in Strassburg, wo sich die Schweiz besonders für menschenrechtliche Fragen engagiert. Dazu kontrastiert nun augenfällig die Tatsache, dass der schweizerische Kleinstaat bisher weder Mitglied der Europäischen Union (EU) noch der Vereinten Nationen (Uno) ist. Die Stimmbürger haben 1986 den von Regierung und Parlament praktisch einhellig unterbreiteten Vorschlag, der Uno als Vollmitglied beizutreten und an der jährlichen Generalversammlung in New York nicht länger neben dem Vatikan nur als blosser Beobachter teilzunehmen, mit drei Vierteln der abgegebenen Stimmen abgelehnt - dies obwohl praktisch alle national tätigen Politiker und praktisch sämtliche Medien, etwa 220 Zeitungen sowie die Programme von Radio und Fernsehen in allen vier Landessprachen, den Beitritt klar befürworteten oder auf jeden Fall mit Sympathie behandelten. Den Ausschlag für das Votum gegen die politische Mitgliedschaft in der Uno gaben damals, 1986 - also noch in der Zeit des Kalten Kriegs -, vor allem zwei Gründe: einerseits wohl ein negatives Vorurteil gegen die in Krisenfällen wegen des Ost-West-Gegensatzes im Sicherheitsrat immer wieder am Handeln verhinderte, "ohnmächtige" Uno; anderseits und in einem gewissen Widerspruch dazu die Befürchtung, die neutrale Schweiz könnte unter Umständen doch einmal zum Mitmachen bei kollektiven militärischen Zwangsmassnahmen der Uno gedrängt werden. (Das Urteil über eine Mitgliedschaft in der Uno wäre heute, nach dem Ende des Kalten Kriegs und auf Grund der positiven Rolle der Uno im Golfkrieg, in der schweizerischen Bevölkerung gewiss günstiger als vor elf Jahren.) Aktives Engagement beim Aushandeln der neuen Welthandels verträge und Teilnahme des Landes als Mitglied der neuen WTO wurde in der
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schweizerischen Öffentlichkeit dagegen im Unterschied zum Thema UnoVollmitgliedschaft gut aufgenommen. Obwohl insbesondere die Subventionen und die Schutzzölle für die schweizerische Landwirtschaft infolge der WTO-Regeln stark abgebaut werden mussten, wurde gegen die entsprechenden Gesetzesvorlagen trotz einigem politischem Murren kein Referendum ergriffen. Gute Akzeptanz der wirtschaftlichen Globalisierung beim Bürger zeigt sich auch im Faktum, dass der von Regierung und Parlament vorgeschlagene Beitritt zur Weltbank und zum Internationalen Währungsfonds (lMF) im Frühjahr 1992 vom Volk gutgeheissen wurde. Mehrheiten rur wirtschaftsliberale Anliegen
Die zuletzt erwähnten politischen Schritte zeigen, dass auch ein Gemeinwesen mit direkter Demokratie durchaus fahig und bereit ist, sich offenzuhalten und in die Rechtsformen der weltwirtschaftlichen Zusammenarbeit zu integrieren. Dass die Schweiz als Land ohne eigene Rohstoffe, aber mit den höchsten Löhnen und einem der allerhöchsten Pro-Kopf-Einkommen unter den Industrieländern, ihre besonderen Handlungs- und Leistungsstärken bewahren muss, scheint der Bürgergesellschaft dieses Landes meist durchaus bewusst zu sein. Die politischen Bürger folgen bei Entscheiden mit wirtschaftspolitischer Tragweite in ihrer Mehrheit meistens nicht den gewerkschaftlichen Vorstellungen, sondern mehr den liberalen, vom unternehmerischen Denken gefarbten Ideen. Mitte der siebziger Jahre wurde eine Initiative des Gewerkschaftsbundes, die nach deutschem Muster in der Schweiz die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene einführen wollte, von fast 75 Prozent der Stimmenden verworfen. 1985 erfuhr ein gewerkschaftlicher Vorstoss für eine kräftige Verlängerung der Urlaubszeiten auf gesetzlicher Basis Ablehnung bei gut zwei Dritteln der Urnengänger. 1988 sagte das Volk mit 65 Prozent Anteil Nein zur Herabsetzung des Pensionsalters von 65 Jahren auf 62 für Männer bzw. von 60 auf 58 Jahre für Frauen; inzwischen hat eine klare Bevölkerungsmehrheit einer Heraufsetzung des Frauenrentenalters von 62 auf 64 Jahre zugestimmt, um die Finanzierung der staatlichen Säule der Altersversicherung auf eine solidere Basis zu stellen. (Wichtiger als diese "erste Säule" der Altersvorsorge sind für viele Mitbürger übrigens die ebenfalls obligatorischen, aber rein privat von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierten privaten Pensionskassen, die sogenannte "zweite Säule"; auch sie wurden per Volksabstimmung gutgeheissen.) 1992 wurde ein Vorstoss von Tierschützern, welche Tierversuche in der medizinischen Forschung stark einschränken wollten, verworfen - die Wissenschaft und die chemische Industrie haben also für ihre weltweiten Tätigkeiten Sympathie bei der Bevölkerung, und man konnte zugleich die dro-
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hende Verlegung von Forschungsarbeitsplätzen ins Ausland venneiden. 1993 war eine Initiative, welche Tierversuche ganz verbieten wollte, dann total chancenlos. Im gleichen Jahr haben zwei Drittel der Stimmenden die Einführung einer Mehrwertsteuer (mit einem Satz von 6,5 Prozent) gutgeheissen, welche die vorherige Warenumsatzsteuer ersetzt, die den Export von Gütern belastet und erschwert hatte. Die Bürger waren also mehrheitlich bereit, die eigenen Konsumausgaben mit Steuern zu belegen. Die Bürger zeigen bei Urnenentscheiden meist ein sehr realistisches Urteilsvermögen; es ist manchmal besser als jenes von Politikern, die oft zu stark vom Wunsch bestimmt sind, wiedergewählt zu werden und deshalb gern Geschenke verteilen. Vorsicht gegenüber politischer Integration und Souveränitätstransfer
Die heikelste politische Frage, welche die schweizerische Öffentlichkeit seit Jahren intensiv beschäftigt, ist jene der europäischen Integration bzw. des Beitritts zur Europäischen Union. Das ist natürlich auch ein wichtiger Aspekt von Offenheit und Globalisierung. Zur Klärung eines oft vorhandenen Missverständnisses stelle ich vorweg fest, dass die Schweizer Regierung den Beitritt zur EU schon vor Jahren als strategisches Ziel der schweizerischen Aussenpolitik bezeichnet hat. Das Volk, der politische Souverän, hat aber bisher nicht über eine EU-Mitgliedschaft zu entscheiden gehabt. Das Vorhaben wurde politisch vorderhand aufs Eis gelegt, nachdem im Dezember 1992 der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in der Volksabstimmung knapp gescheitert war. Der Grund für diese Niederlage der Regierung und des Parlaments vor dem Souverän in einer wichtigen europapolitischen Weichenstellung ist gewiss nicht in einer Abneigung der Stimmbürger gegen die wirtschaftliche Integration an sich zu suchen. Die Opposition gegen den EWR-Beitritt entwickelte ihre Schubkraft trotz aller Empfehlungen der Regierungsparteien und der Medien aus der Befürchtung, dass das Ja zum EWR später zwingend ein Ja zur Mitgliedschaft in der EU nach sich ziehe. Unklugerweise hatten Regierungsstellen damals solchen Befürchtungen mit bestimmten Äusserungen Nahrung gegeben. Wenn es um die EU-Mitgliedschaft der Schweiz geht, sind viele Stimmbürger vorderhand noch ziemlich distanziert, vor allem weil sie befürchten, mit einem Ja ihre politische Souveränität auf lange Sicht portionenweise an Brüssel abzutreten, ohne nachher selber noch einen wesentlichen Einfluss auf den politischen Gang der Dinge nehmen zu können. Derzeit und auf mittlere Sicht hätte der EU-Beitritt bei der Mehrheit der Stimmbürger wohl keine Chance. Daher legt die Regierung die Frage dem Volk gar nicht vor;
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sie sah sich statt dessen nach dem EWR-Nein vorläufig auf den Weg bilateraler Verhandlungen verwiesen. Inzwischen ist ein Abkommen zu sieben zentralen Bereichen, unter anderem auch zur vollen Personenfreizügigkeit Schweiz - EU, vorn Parlament verabschiedet worden. Und es hat beste Chancen, in einer allfälligen Referendumsabstimmmung Zustimmung der Mehrheit im Volke zu finden *. Um die zögernde Haltung der Schweiz gegenüber der Europäischen Union verständlich zu machen, habe ich einmal das Bild gebraucht, die Schweiz sei "aussenpolitisch zu Fuss unterwegs". Das Land braucht für alle wesentlichen Beschlüsse die Zustimmung einer Mehrheit des Volkes. Daher ist Integration nur in Schritten, als langsame Annäherung an die EU möglich. Viele Bürger wollen das "letzte Wort", ihre direktdemokratische Souveränität in diesen Dingen (noch) nicht aus der Hand geben. Denn es ist ein Stück ihrer politischen Zuständigkeit, das sie bei einern EU-Beitritt an Brüssel abzugeben hätten, ohne selber direkt vorn politischen Souveränitätstausch profitieren zu können. Die Wahrnehmung der Mitentscheidungsrechte in Brüssel läge im Falle einer Mitgliedschaft nämlich nicht mehr beim Bürger direkt, sondern bei den von Bern entsandten Diplomaten, Ministern, Kommissaren oder Parlamentariern. So zwingt die direkte Demokratie die Schweiz auf einen etwas eigenwilligen Sonderweg, der aber sicher nicht ein antieuropäischer Weg ist. Lehren und Empfehlungen für andere?
Lassen sich schweizerische Erfahrungen und Institutionen der direkten Demokratie auf andere Länder übertragen? Gewiss nicht im Sinne eines direkten Exports. Aber es wäre umgekehrt auch überheblich, Bürgern und Politikern in andern Staaten die Fähigkeit zur Ausübung direktdemokratischer Verantwortung absprechen zu wollen. Wichtig ist sicher erstens die Erkenntnis, dass direkte Demokratie nach schweizerischem Modell auf Entscheidungsrechten des Volkes beruht, die in Verfassung und Gesetz klar festgelegt sind. Es geht nicht um plebiszitäre Akklarnationsveranstaltungen, die von Regierungen je nach politischer Opportunität angeordnet oder unterlassen werden können - etwa nach der Art von de Gaulles Plebiszit. Zweitens sollen Abstimmungen echte Entscheidungen bringen. Missversteht man sie oder missbraucht man sie zum Zwecke blosser Meinungsbefragung zuhanden der Politiker, so schafft die folgenlose Inanspruchnahme des politischen Bürgers Verdruss. Drittens ist direkte Demokratie im kleinen Gemeinwesen sicher besser praktizierbar als in der grossen Dimension. * Am 21. Mai 2000 wurden die bilateralen Verträge mit der EU vom Schweizer Volk mit einem la-Stimmen-Anteil von 67,2 Prozent angenommen.
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Für ihre Einübung eignen sich Kommunen und Länder besser als der Bundesstaat: Je konkreter die Fragestellungen sind, desto besser vennag sich der Stimmbürger ein Bild über die Sache zu machen und die Folgen seines Entscheids zu überblicken. Direkte Demokratie ist von unten zu entwickeln und aufzubauen. Ihre Praxis will von Bürgern getragen und geprägt sein; sie wächst nicht aus der Anordnung von oben. Viertens sollten die materiellen Ressourcen, über die man direktdemokratisch entscheidet, aus dem Kreis der Bürgerschaft stammen, die ihren Einsatz festlegt. Verantwortungssinn entsteht nur, wenn finanzielle und andere Folgen einer Entscheidung auch das Gemeinwesen treffen, das für die Entscheidung verantwortlich zeichnet. Direkte Demokratie ohne entsprechend zugeschnittene Finanzverfassung entbehrt der Glaubwürdigkeit. Fünftens - und dies zum Schluss ist direkte Demokratie in aussenpolitischen Belangen ein Instrument, das schnelles Handeln eher bremst und Regierung wie Diplomatie des eigenen Landes beim politischen Disponieren zur Umsicht und Vorsicht nach Art der Bergführer zwingt.
Mögliche Antworten auf Demokratiedefizite in der Europäischen Union Von Heidrun Abromeit Im Folgenden will ich Ihnen - notgedrungen knapp - die "Doppelnatur" des europäischen Demokratiedefizits skizzieren (2.); die Frage andiskutieren, ob denn transnationale ("entgrenzte") Demokratie überhaupt möglich ist (3.); und mich dann den "möglichen Antworten" auf transnationale Demokratiedefizite zuwenden (4.). Hier werde ich zunächst die These begründen müssen, daß "bloße" Parlamentarisierung das Defizit nicht ausreichend zu lösen vermag (a). Einige andere Demokratisierungs-Optionen kann ich wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nur benennen, nämlich Modifikationen des parlamentarischen Prinzips (b) sowie die Übertragung des Prinzips deliberativer Demokratie auf die EU (c). Etwas ausführlicher werde ich schließlich eine direktdemokratische Option darstellen (d). Doch bevor wir uns mit "möglichen Antworten" beschäftigen, sollten wir die Frage präzisieren; d. h. zu Beginn werde ich Ihnen mein Demokratieverständnis explizieren.
J. Was ist Demokratie? Demokratie ist nicht identisch mit Parlamentarismus und/oder Mehrheitsherrschaft: Dies sind mögliche Verfahren der praktischen Umsetzung von Demokratie; sie sind nicht begriffsnotwendig mit ihr verknüpft. Wörtlich heißt Demokratie "Volksherrschaft" - aber warum sollte das Volk eigentlich "herrschen"? Die Begründung liegt in der Selbstbestimmung der Individuen, die die Realisierung ihrer Präferenzen einschließt. Sofern die Realisierung der individuellen Präferenzen (die sich auch auf "kollektive Güter" richten) Entscheidungen für die Gesamtheit erfordert, folgt aus dem Prinzip der Selbstbestimmung, daß jeder an den Entscheidungen, die ihn betreffen (denen er "unterworfen" ist), beteiligt ist - und erst daraus leitet "Volksherrschaft" sich ab. Der Kern von Demokratie (d. h. zugleich: ihr unhintergehbares Minimum) ruht daher in der Bindung von Entscheidungen an die Zustimmung der von den Entscheidungen Betroffenen. Als essentielles Kriterium von Demokratie ist damit das der Kongruenz definiert: Kongruenz
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des Kreises der Entscheidungs-Beteiligten mit dem der EntscheidungsBetroffenen. Mit dieser Begriffsbestimmung befinde ich mich allerdings etwas abseits des mainstreams der (deutschen) demokratietheoretischen Debatte. Dessen eine Richtung bindet Demokratie an das "gute Regieren" (s. für viele Schmalz-Bruns 1995), das sich aus vernunftgeleiteter Deliberation ergibt. Es erfordert "Auto-Paternalismus", läßt aber auch Paternalismus zu: Regierung für das Volk, ohne das Volk. Das diskurstheoretische Demokratieverständnis gerät in BegTÜndungsnot bei der Frage, wer denn darüber entscheidet, welches Regieren "gut" ist, wenn sich darüber kein Konsens einstellt. In ähnliche Not gerät die zweite mainstream-Richtung, die das "Partizipations-Effizienz-Dilemma" (Dahl 1994) tendenziell zur Seite der Effizienz hin auflöst (s. für viele: Scharpf, in zahlreichen Veröffentlichungen; zuletzt 1999). Denn was nützt die effizienteste Regierung/Verwaltung, wenn die Ergebnisse an den Präferenzen der Entscheidungs-Unterworfenen vorbeilaufen? Es ist daher unerläßlich, auf dem Erfordernis der Zustimmung der Entscheidungsadressaten zu insistieren. Die Zustimmung kann allerdings auf unterschiedlichen Wegen erfolgen. Sie fordert vor allem unterschiedlich ausgefeilte Verfahren: um so ausgefeilter, je heterogener die Gesellschaft.
11. Was macht das europäische Demokratiedefizit aus? Die Europäische Politie stellt sich zunächst eine eigene, "autonome" Rechtsetzungsebene dar: 1 Sie existiert (rechtlich betrachtet) unabhängig von den Mitgliedstaaten; das europäische Recht ist dem mitgliedstaatlichen übergeordnet und ist in den Mitgliedstaaten unmittelbar gültig. 2 Der eigenen Rechtsordnung entsprechen eigene Institutionen für Gesetzgebung und Regierung. Die Frage ist: wie steht es mit der eigenständigen (europäischen) Legitimation? Allgemein wird beklagt, daß es dem europäischen Gesetzgebungsprozeß an demokratischer Qualität mangele. Dabei gibt es ein von den europäischen Völkern direkt gewähltes Parlament, das an der Gesetzgebung beteiligt ist - seit Amsterdam sogar in der großen Mehrzahl der Gesetzgebungsmaterien (der "ersten Säule"). Der Punkt, den die Kritiker monieren, ist der, daß das Europäische Parlament eben nur beteiligt ist: Es entscheidet gemeinsam mit dem Ministerrat (Mitentscheidungs-Verfahren, Art. 252 I So der Europäische Gerichtshof schon in frühen Urteilen: RS 30159 De Gezamenlijke Steenkolemijnen, Sig. 1961, S. 47; RS 13/61, Bosch, Sig. 1962, S. 110; RS 6/64 Costa vs E.N.E.L., Sig. 1964, S. 1969. 2 Auch die Doktrinen ,supremacy' und ,direct effect' wurden vom EuGH entwikkelt; vgl. u. a. Weiler 1996.
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EGV) und hat letztlich nur ein Blockade-, kein Gestaltungsrecht. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß es auch nach der letzten Vertragsrevision über kein Initiativrecht verfügt. Seine Bedeutung als "europäischer Gesetzgeber" wird weiter durch die Komitologie geschmälert: Als - streng genommen Implementationsausschüsse übernehmen die Komitologie-Ausschüsse gewissermaßen die Detail-Gesetzgebung am Parlament vorbei. Seit Maastricht und Amsterdam hat das EP auch in puncto Kontrolle der Exekutive eine Aufwertung erfahren: Es bestätigt die Kommission "als Kollegium" (Art. 214), darf der Kommission das Mißtrauen aussprechen (Art. 201) und hat die Kommission alljährlich zu entlasten (Art. 200). Wiederum gehen Kritikern die parlamentarischen Befugnisse nicht weit genug. Zum einen ist die Kommission nicht "Regierung", sondern nur "Geschäftsführung"; zum Regierungsbereich zählt eigentlich auch der Rat, der an der Schnittstelle zwischen Legislative und Exekutive steht. Zum zweiten hat das EP bisher keinen Einfluß auf die Auswahl der Kommission. Zum dritten ist sein Budgetrecht noch unterentwickelt. Gleichwohl ist das Bild, trotz der aufgezählten Mängel, nicht gar so negativ wie manchmal dargestellt; im Vergleich mit der parlamentarischen Situation in einigen Mitgliedsländern kommt Europa nicht einmal schlecht weg. Warum wird trotzdem immer wieder vom europäischen Demokratiedefizit gesprochen? a) Ein entscheidender Grund hierfür liegt darin, daß die neue europäische Rechtsetzungsebene den mitgliedstaatlichen Parlamentarismus partiell entwertet. Entscheidungen auf dieser Ebene fallen in so komplexen wie undurchsichtigen Verhandlungen (im Rat wie in bereichsspezifischen Politiknetzwerken). Ex ante-Kontrolle ist hier unmöglich, aber auch nachträglich können mitgliedstaatliche Regierungen für ihre "europäischen" Entscheidungen faktisch kaum zur Rechenschaft gezogen werden, weil die komplizierten Verhandlungspakete sich nur schwer wieder aufschnüren lassen; kurz: Parlamente werden zur Zustimmung quasi genötigt. Mit den Entscheidungen, die in Politiknetzwerken fallen (z. B. bei der Strukturfondsförderung), sind Parlamente von vornherein erst gar nicht befaßt. Ebenso entfällt parlamentarische Verantwortlichkeit, wenn im Rat mit Mehrheit entschieden wird. Europäische Politik ist in der Praxis - trotz der vermehrten Befugnisse des EP - überwiegend eine exekutivische Veranstaltung; das große Problem liegt darin, daß in der Folge auch in den Mitgliedstaaten die Gewichte sich noch weiter zur Exekutive hin verlagern, als das im allgemeinen ohnehin schon der Fall ist. Die Regierungen (die ihrerseits nicht an Einfluß verlieren, da sie sich durch Beteiligung an den Ratsentscheidungen schadlos halten können) gewinnen an "interner Autonomie" (Wolf 1997, 2000), sie sind ihren Bürgern nur noch begrenzt verantwortlich. Innerstaatliche Partizipationsrechte laufen partiell leer; damit aber ist die Kongruenz-
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Bedingung der Demokratie nachhaltig verletzt. Da die europäischen Partizipationsrechte der Bürger (zumeist) nicht gleichwertig sind, ist das Demokratiedefizit ein doppeltes: ein europäisches wie ein mitgliedstaatliches. b) Die Partizipationsrechte auf europäischer Ebene sind vor allem deshalb nicht gleichwertig, weil es an der entsprechenden Infrastruktur (noch) fehlt. Es gibt keine genuin europäischen Gruppierungen und Parteien, die den Bürgern einen Zugang zu europäischer Politik vermitteln und mit denen die Bürger sich ihren Präferenzen gemäß identifizieren könnten. Folgerichtig hält "der europäische Bürger" sich bei EP-Wahlen denn auch vornehm zurück: Das "Raumschiff Europa" landet nirgends erkennbar auf seinem Planeten. Das wirft die Frage auf, ob denn weitere Parlamentarisierung überhaupt eine geeignete Strategie zur Behebung des Demokratiedefizits sein kann (s. u.). c) Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund für die berechtigte Klage über das Demokratiedefizit soll wenigstens kurz benannt werden: Wichtige, wenn nicht die wichtigsten Entscheidungen in Europa, nämlich Entscheidungen von (quasi-)Verfassungsqualität, fallen ohnehin ohne jegliche demokratische Beteiligung, nämlich im Europäischen Gerichtshof, der sich die Fortentwicklung der "autonomen" europäischen Rechts- (und Verfassungs-)Ordnung zur vornehmsten Aufgabe gesetzt hat. III. Ist transnationale Demokratie überhaupt möglich?
Vor allem in Deutschland wird seit einigen Jahren die Frage diskutiert, ob denn Europa überhaupt demokratisierbar sei. Anders herum formuliert lautet sie: Ist Demokratie nicht begriffsnotwendig an den Nationalstaat gebunden? a) Das theoretische Argument hierzu (s. bes. Kielmansegg 1994) lautet: Demokratie bedarf eines "Demos", der zu konzeptualisieren ist als eine "kollektive Identität", d.h. eine Werte- und Erfahrungsgemeinschaft, geeint durch die gemeinsame politische Kultur und jedenfalls ein Mindestmaß an Homogenität. Ohne dies sei nicht der für eine funktionierende Demokratie nötige "Gemeinsinn" zu erwarten, keine Solidarität, weder (im majoritären Kontext) die Bereitschaft der Überstimmten, Abstimmungsergebnisse zu akzeptieren, noch die Bereitschaft der Majorität, die Loyalität der Überstimmten nicht überzustrapazieren. b) Ein eher pragmatisches Argument (z.B. Grimm 1994) verweist darauf, daß Demokratie öffentliche Diskussion erfordere. Wie aber soll die stattfinden, wenn es an einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamen Medien fehlt?
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c) Das empirische Argument schließt hieran unmittelbar an: Es fehlt in Europa nicht nur an der Öffentlichkeit, sondern an der gemeinsamen Infrastruktur (s.o.). Es gibt keine europäische "Zivilgesellschaft"; Parteien und Verbände sind lose Föderationen der jeweiligen nationalstaatlichen Organisationen ohne europäische "Basis", d. h. ohne europäische (Problem-)Wahrnehmung und Identifikation seitens der Mitgliedschaft; vor allem die Partei-, aber auch die Gewerkschafts-Föderationen sind weitgehend lahmgelegt durch nationalstaatliche Interessendivergenzen. Entsprechend orientiert sich das Partizipations- (sprich: Wahl-)Verhalten der europäischen Bürger nicht an europäischen, sondern an innerstaatlichen issues: EP-Wahlen sind kaum mehr als "Denkzettel wahlen" für innerstaatliche Regierungen. Wenn all diese Argumente stichhaltig sind, dann ist die (demokratische) "input-Legitimierung" europäischer Politik unmöglich (Scharpf 1999). Wenn man nicht dem Konzept der "output-Legitimation" anhängt, bleibt einem dann nur die Folgerung, die Rückkehr zum Intergouvernementalismus, die Abschaffung zumindest der Mehrheitsentscheidungen im Rat, aber auch das Zurückstutzen der Kompetenz-Kompetenz des EuGH und generell eine Zurückdrängung europäischer Politik (hinsichtlich der Eingriffs-Breite und -Tiefe) zu fordern. Unglücklicherweise ist in Sachen europäischer Integration der "point of no return" aber wohl längst überschritten. Doch läßt sich den hier wiedergegebenen Argumentationen auch einiges entgegensetzen: (1) Ebenso läßt sich nämlich argumentieren, daß mehr Beteiligungsmöglichkeiten mehr Beteiligungsbereitschaft erzeugen und daß erst mit praktizierter Beteiligung, dem Gebrauch von Rechten, "Identifikation" wachsen kann. Ähnlich wird von Befürwortern weiterer Parlamentarisierung der EU unter dem Stichwort "Initialzündung" darauf verwiesen, daß die nötige Infrastruktur sich quasi-automatisch entwickeln werde, wenn denn das EP erst einmal zum wirklichen Machtfaktor geworden sei. (2) Es wird gern übersehen, daß die genannten Probleme historisch betrachtet eher "normale" beim Entstehen von Staaten, insbesondere von Föderationen sind (s. das Beispiel Schweiz). (3) Ganz generell ist festzuhalten, daß sich "die Frage der Demokratie ... nicht dort (stellt), wo es ein Volk gibt, sondern dort, wo Macht entsteht" (Puntscher Riekmann 1998, 204). Transnationale Demokratie ist denn wohl nicht grundsätzlich (denk)unmöglich. Sie zu denken, erfordert allerdings ein gewisses Maß an Imagination: Die gewohnten Denkschienen repräsentativer Demokratie werden sich nicht unmodifiziert anwenden lassen. Wenn Demokratie tendenziell "grenzenlos" zu konzipieren ist, verliert die eingeübte repräsentative Variante viel von ihrem Sinn, denn Repräsentation ist kaum möglich, wenn die "Grundgesamtheit" unbekannt ist. 3 3
Generell zum Problem "entgrenzter Demokratie" vgl. Abromeit/Schmidt 1998.
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IV. Wie kann man das Demokratiedefizit beheben? 1. Warum weitere Parlamentarisierung nicht ausreicht
Die Mehrzahl der im Umlauf befindlichen Vorschläge zur Behebung des Demokratiedefizits setzen auf weitere bzw. "vollständige" Parlamentarisierung. Welche Gründe sprechen gegen die Tauglichkeit dieses Lösungsversuchs - abgesehen davon, daß eine Reihe von Mitgliedstaaten diese Variante ohnehin nicht mit tragen wird? (1) Hier kommt die schon mehrfach erwähnte fehlende Infrastruktur ins Spiel: Sie muß kein Dauerproblem sein; aber solange die Funktionsbedingungen eines parlamentarischen Systems nicht gegeben sind, wird volle Parlamentarisierung ebenso wie derzeit die nur partielle in "symbolische Politik" münden - l' art pour l' art im Raumschiff Europa.
(2) Parlamentarismus ist gleichbedeutend mit "Mehrheitsdemokratie"; die Mehrheitsdemokratie wiederum setzt ein hohes Maß an Homogenität voraus, jedenfalls die Abwesenheit struktureller Minderheiten, soll sie denn legitimitätsstiftend und akzeptanzfördernd sein. Jede "europäische Mehrheit" aber ist auf Grund der enormen Heterogenität der europäischen Gesellschaft nicht nur kurz- und mittelfristig, sondern voraussichtlich auf Dauer künstlich: Mehrheiten werden Minderheitenkoalitionen bzw. "unheilige Allianzen" sein. Die schon heute bestehende Dauer-"Große Koalition" im EP wird sich notgedrungen weiter verfestigen und zugleich problematisiert, nämlich durch Koppelgeschäfte zusammengehalten werden. Das intransparente Verhandlungssystem im Rat wird sich damit im EP verdoppeln. Verantwortlichkeit, Responsivität und demokratische Legitimität werden sich auf diese Weise kaum herstellen lassen. (3) Parlamentarisierung impliziert unvermeidlich weitere Zentralisierung. In einer heterogenen Gesellschaft bewirkt dies Delegitimierung an den Peripherien, wo man sich unvermeidlich und zunehmend "unvertreten" fühlen wird. Hinzu kommt, daß dies die jetzt schon bestehenden Inkompatibilitäten mit den Verfassungssystemen einiger Mitgliedstaaten (insbesondere mit denen der Föderationen) verstärken wird. (4) Ein wichtiges Kennzeichen europäischer Politik (und der Hauptgrund dafür, daß die europäische Politie gern als eine "sui generis" charakterisiert wird) ist ihre "variable Geometrie". Europäische Normen und Entscheidungen gelten nicht in allen Mitgliedsländern bzw. betreffen nicht alle EUBürger: Es gibt Teilabkommen, "opt-outs", unterschiedliche Reichweiten sektoraler Regelungen, etc. (ein Phänomen, das sich mit der Osterweiterung noch weiter ausprägen wird). Parlamentarische - und damit zentrale, die Gesamtheit betreffende - Mitsprache wird darum das Kongruenzproblem
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nicht lösen, sondern eher verschärfen, und es wird zunehmend im Nebel verschwimmen, wer denn zu Recht wen ,,repräsentiert". Mit all dem ist indessen nicht gesagt, daß das EP eigentlich überflüssig ist. Auch in der europäischen Politik hat es seinen sinnvollen Platz vor allem in Sachen Kontrolle der Exekutive. Seine Mitsprache wird immer dort ihren Sinn haben, wo keine Probleme "variabler Geometrien" bestehen, also Recht für die Gesamtheit gesetzt wird. Und es kann ggf. eine "positive", sprich gestaltende Rolle spielen, während die meisten anderen Demokratisierungsvorschläge letztlich "negativen" Charakter tragen, also Blockaden vorsehen für "Gestaltung", die anderen Orts erfolgt. Hier wird nicht grundSätzlich gegen das Parlament argumentiert; der Punkt ist vielmehr der, daß Parlamentarisierung für die Demokratisierung der EU nicht ausreicht, sondern der Modifikationen und Ergänzungen bedarf. 2. Modifikationen des parlamentarischen Prinzips
So sieht denn eine ganze Reihe der vorliegenden Demokratisierungsvorschläge mehr oder weniger gravierende Abweichungen von der normalen, "vollen" Parlamentarisierung vor. Die wichtigsten seien hier kurz aufgeführt. (1) In verschiedenen Varianten werden parlamentarische Mehrkammersysteme vorgeschlagen: z. B. die Ergänzung des (virtuellen) Zweikammersystems aus EP und Rat durch eine zusätzliche Kammer aus nationalen Parlamentariern (einen "Senat", It. Guena-Report) oder durch eine zusätzliche Kammer aus Regionalvertretern (durch entsprechende Aufwertung des Ausschuß der Regionen) oder gar durch beides (European Constitutional Group 1993). Ohne in Detailprobleme einzutreten, läßt sich hierzu generell sagen, daß die Funktionsfähigkeit solcher Drei- bis Vier-Kammersysteme in Frage steht. Das mutmaßliche Ergebnis einer entsprechenden Ergänzung ist weniger ein Gewinn an demokratischer Legitimation als vielmehr eine Verstärkung der nationalstaatlichen Konfliktlinien und damit eine Quasi-Verdoppelung des Rats. Hinzu kommt - als ebenso generelles Argument -, daß wie auch immer geartete Kammern "im Zentrum" die Tendenz haben, sich zu Zentralisierungs- (Unitarisierungs-)Agenturen zu entwickeln.
(2) Der Vorschlag einer Direktwahl der nationalen Vertreter im Rat (Zürn 1998), um auf diese Weise dem Rat zu eigenständiger (europäischer) Legitimation zu verhelfen und größere Transparenz und Verantwortlichkeit herzustellen, wird in den Mitgliedstaaten die Parlamente weiter entwerten und dort überdies allerlei regierungsinterne Probleme nach sich ziehen ggf. zu innerstaatlich ansonsten durchaus unerwünschten Großen Koalitionen führen. 13 von Arnim
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(3) Der von einer Gruppe von europäischen "eIder statesmen" um Jacques Delors gemachte Vorschlag einer Direktwahl des Kommissions-Präsidenten (um "Europa ein Gesicht zu geben") ist im wesentlichen unter "symbolische Politik" abzubuchen. (4) Einige der genannten Vorschläge fallen wohl auch von der Intention her in die Rubrik "window-dressing". Dagegen versucht der Vorschlag einer "losen Kopplung" verschiedener politischer Arenen (Benz 1998 a, 1998 b) das Problem zunehmenden Auseinanderfallens von parlamentarischer (Legitimations-)Arena und den Arenen anzugehen, in denen tatsächlich die relevanten Entscheidungen fallen (i. e.: den diversen Verhandlungssystemen). Der Vorschlag ist noch nicht hinreichend konkretisiert, um Aussagen über seine Auswirkungen in der Praxis zu erlauben. Absehbar ist immerhin zweierlei: das Parlament wird zum Stichwortgeber, und/oder es wird zum ,,rubber stamp" für andernorts getroffene Entscheidungen. Ein Legitimationsgewinn steht schon allein deshalb in Frage, weil der Vorschlag auf eine erhebliche "Verdünnung" der repräsentativen Demokratie hinausläuft, handelt es sich bei den nicht-parlamentarischen Arenen doch um nichtrepräsentative Eliten-Veranstaltungen. 3. Der "deliberative Supranationalismus"
Vertreter der deliberativen oder auch assoziativen Demokratietheorie (Schmalz-Bruns 1997, 1999; Joerges/Neyer 1998) haben, wie es scheint, geringe Probleme damit, Quellen demokratischer Legitimation im europäischen Entscheidungskontext selbst zu entdecken. Ihnen geht es um "gutes Regieren", das aus vernunftgeprägter Diskussion bzw. Deliberation ("arguing" statt "bargaining") erwächst. Eben dies machen sie im europäischen Ausschußwesen aus: Hier sind die Experten unter sich - als Fachleute und Wissenschaftler allesamt Vernunftgründen zugänglich. In zweifellos unfairer Verkürzung läuft diese Demokratisierungsvariante auf eine Uminterpretation und demokratietheoretische Aufwertung der Realität hinaus. Auch wenn man den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag berücksichtigt - sie kreisen um die Sicherung höherer Inklusivität, d. h. Einbeziehung möglichst aller jeweils tangierter Gruppen und Interessen -, verbleibt man hier im elitären "Raumschiff Europa"; das Resultat bleibt die "Demokratie ohne Demos". 4. Eine direkt-demokratische Option
Wie könnte nun eine Demokratisierungs-Variante aussehen, die den Demos - besser: die "multiplen Demoi" (Weiler 1996) - ernst nimmt? Bevor ein solcher Vorschlag (vgl. Abromeit 1998a, 1998b) skizziert wird,
Mögliche Antworten auf Demokratiedefizite in der Europäischen Union
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tut es gut, sich das Anforderungsprofil zu vergegenwärtigen und sich zudem auf den (oben definierten) Kern von Demokratie rückzubesinnen, der in der Zustimmung der Entscheidungsbetroffenen zu diesen Entscheidungen besteht. (1) Die EU ist (noch) kein Staat, sondern ein supranationales Entscheidungssystem, das in jeder Hinsicht unfertig ist (s. die zweite und dritte Säule; die zu erwartenden Neu-Beitritte). Zu Recht (und unter Einbeziehung aller entscheidungsrelevanten Akteure) wird die neue Politie als "dynamisches Mehrebenensystem" (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996) charakterisiert. Es verändert sich, ist ständig im Huß. Vorschnelle institutionelle Verfestigung (wie sie etwa bei voller Parlamentarisierung vorläge) wird darum Probleme aufwerfen und den erhofften Legitimationsgewinn in Frage stellen. Vielmehr muß jeder Demokratisierungsversuch dem Erfordernis der Flexibilität genügen.
(2) schen sollte schon
Die EU bindet Verfassungsstaaten mit unterschiedlichen demokratiSystemen zusammen. Eine Demokratisierung des neuen Bundes sich darum am Postulat der Kompatibilität orientieren (- die indes jetzt nicht gewährleistet ist).
(3) Auch auf längere Sicht haben wir nicht mit einem europäischen Demos zu tun, sondern mit einer Pluralität von Demoi. Diesen Demoi müssen ihre Partizipationsrechte nicht nur "zu Hause" erhalten, sondern sie müssen in die europäische Entscheidungsebene hinein verlängert werden. (4) Die europäische Gesamtgesellschaft zeichnet sich durch enorme Heterogenität aus; Mehrheiten sind hier nur als "künstliche" denkbar. Durchgängig majoritäre Verfahren verbieten sich daher; vielmehr ist nach konkordanten Verfahren zu suchen. (5) Die "variablen Geometrien" europäischer Politik erfordern auch im Hinblick auf Partizipation differenzierte Verfahren, damit nicht NichtBetroffene über Betroffene verfügen. (6) Europäische Politik ist schließlich mehrdimensional, sowohl territorial als auch funktionallsektoral geprägt. Parlamentarische Verfahren berücksichtigen nur die territoriale Dimension. Die weitere Demokratisierung darf die andere, die sektorale Dimension nicht ignorieren. (7) "Unfertig" ist die EU vor allem auch als Verfassungssystem: In dieser Hinsicht befindet sie sich gewissermaßen im Zustand eines "constitutional contract in being". Mindestens seit der Einheitlichen Europäischen Akte sind Vertragsrevisionen als "iterierte Gesellschaftsverträge" zu verstehen, von denen die Demoi bisher indessen weitgehend ausgeschlossen sind. Dem Prinzip der Volkssouveränität entsprechend sind Europas "multiple Demoi" als "pouvoirs constituants in Permanenz" zu konzipieren (vgl. Abromeit/Hitzel-Cassagnes 1999).
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Diesem Anforderungsprofil folgend, sieht der von mir 1998 vorgelegte Vorschlag eine Ergänzung des europäischen Entscheidungssystems durch ein differenziertes System direktdemokratischer Instrumente vor, nämlich (1) ein obligatorisch-konstitutionelles Referendum bei jedem Vertragsschritt, und zwar in zwei Varianten:
A. Bei Vertragsschritten, die die Union als ganze betreffen, wäre die Zustimmung der Mehrheit der Abstimmenden (ohne Quorum) in allen Mitgliedsländern erforderlich. Dies wäre die direkt-demokratische Version des nationalstaatlichen Vetos.
B. Wo immer es um Teilabkommen geht, hätten die Stimmbürger der beteiligten Länder wie unter A. zuzustimmen. Indessen sollten auch die Stimmbürger in den übrigen Mitgliedsländern über die Möglichkeit eines "opt-in" abstimmen können (mit hohem Quorum, d. h. mindestens der Mehrheit der Stimmberechtigten). Die Negativ-Version des demokratischen Zustimmungs-Erfordernisses ist das Recht auf Widerspruch. Dieses Recht ist von besonderer Relevanz in einer (segmentierten) Gesellschaft, die im wesentlichen aus Minderheiten besteht. Die beiden anderen Instrumente sind darum als Vetorechte konzipiert: (2) Das regionale Veto betrifft nur die Föderationen unter den Mitgliedstaaten4 ; es soll den "regionalen Demoi" die Möglichkeit geben, Widerspruch anzumelden, wenn europäische Entscheidungen ihren (innerstaatlich) verfassungsmäßig garantierten Autonomiebereich tangieren. Das vorgeschlagene Verfahren sieht zwei Schritte vor: - eine Abstimmung innerhalb der betreffenden Region; hierfür ist ein hohes Quorum anzusetzen. - eine zweite Abstimmung im betreffenden Mitgliedstaat, in der dessen übrige Regionen gewissermaßen darüber urteilen, wie berechtigt der Widerspruch gegen den Kompetenzverlust ist. In dieser Abstimmung wäre kein Quorum nötig - d. h. um das regionale Veto zu Fall zu bringen, müßten auch seine Gegner zur Urne gehen. (3) Die geeignete Form des sektoralen Vetos ist (den schweizerischen Erfahrungen folgend) das fakultative Referendum. Mit ihm könnten von Bereichsregelungen Betroffene abgelöst von nationalstaatlichen Grenzen Widerspruch gegen solche Regelungen anmelden. Die Quoren sowohl für die Initiierung solcher Referenda wie für die eigentliche Volksabstimmung müßten zum einen niedrig sein, zum anderen aber grenzüberschreitend, d. h. die festzulegenden Quoren hätten eine Beteiligung aus mindestens zwei (für 4 Es handelt sich hier also um einen Spezial fall , der in der Praxis wohl eher seiten eintreten wird.
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das Begehren) bzw. drei Mitgliedsländern (für das Referendum) vorzusehen. 5 Europa-weite Quoren allerdings wären in diesem Zusammenhang kontraproduktiv; sie widersprächen der intendierten Logik des Minderheitenschutzes. Auch sollte man das sektorale Veto nicht an das Tätigwerden eines Verbandes knüpfen und schon gar nicht mit einem Verbands-Veto gleichsetzen. Verbandsführungen haben recht gute Chancen, sich in die europäischen Politiknetzwerke, z. T. auch in die Komitologie einzubringen. Dagegen soll dieses Veto nicht nur der jeweiligen "Basis" die Möglichkeit eröffnen, Elitenkartelle aufzubrechen, sondern zugleich der jeweils "zweiten Seite" eines Sektors (d. h. zumeist: den Betroffenen) die Chance des Widerspruchs gewähren. Der hier skizzierte Vorschlag entspricht weitgehend dem oben erläuterten Anforderungsprofil. Die direktdemokratischen Instrumente sind flexibel anwendbar und erlauben differenzierte Beteiligung; setzen keine "Staatswerdung Europas" (Wildenmann 1991) und keine fixen Grenzen voraus; berücksichtigen die Mehrdimensionalität europäischer Politik; verletzen keine Kompatibilitätsregeln. Sie beschneiden keine existierenden Partizipationsrechte, sondern erhalten sie und schaffen neue. Vor allem scheinen sie das einzige Mittel, dem Kongruenzproblem moderner und grenzüberschreitender Demokratie gerecht zu werden. Obendrein erfordert ihr Einsatz kaum institutionellen Aufwand; sie setzen keine vorgefertigten institutionellen Apparate und institutionelle Verfestigung voraus, sondern bauen auf Selbstorganisation. Und schließlich sollte ihr mutmaßlicher mittelfristiger Effekt nicht unterschätzt werden: Nichts dürfte die Herausbildung eines "europäischen Demos" so befördern wie der transnationale Gebrauch wirksamer Partizipationsrechte. Literaturverzeichnis Abromeit. Heidrun 1998a: Democracy in Europe - Legitimising Politics in a NonState Polity. Oxford/New York: Berghahn Books.
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Benz. Arthur 1998a: Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiemodell. In: Beate Kohler-Koch (Hrsg.); Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29, Opladen/Wiesbaden, S. 345-368.
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Züm. Michael 1998: Regieren jenseits des Nationalstaates. Frankfurt a. M.
Wurzeln und Durchsetzung direktdemokratischer Verfahren in den USA Von Hennann K. Heußner I. Einleitung
Die Tradition der direkten Demokratie währt in den USA nun mittlerweile bald 400 Jahre. Neben der Schweiz ist es das Land mit der längsten direktdemokratischen Geschichte und der größten direktdemokratischen Praxis. Im Folgenden sollen die wichtigsten Wurzeln und die Durchsetzung dieser direktdemokratischen Verfahren skizziert werden. Angesichts der Vielschichtigkeit der Entstehungsbedingungen l ist dies sicher nur holzschnittartig möglich. Im Mittelpunkt stehen Verfahren direktdemokratischer Sachentscheidungen. Die Volkswahl und Abwahl ("recall,,)2 von Amtsträgem, insbesondere der Exekutive und Judikative 3 , werden nicht behandelt. Die direktdemokratische Geschichte der USA zeigt, unter welchen Bedingungen direkte Demokratie Durchsetzungschancen besitzt und welche Funktionen ihr zukommen. Bei aller Unterschiedlichkeit des politischen Systems und der historischen Entwicklungen der USA und Deutschlands kann auf Grund der gleichwohl bestehenden Gemeinsarnkeiten4 ansatzweise versucht werden, diese Erkenntnisse für die Diskussion in Deutschland nutzbar zu machen. I Vgl. insoweit Jürgen Gebhardt: Direkt-demokratische Institutionen und repräsentative Demokratie im Verfassungsstaat, in: APuZG, B 2311991, S. 16 ff., 28.; Ulrich Glaser: Direkte Demokratie als politisches Routineverfahren. Volksabstimmungen in den USA und in Kalifomien, Erlangen und Jena 1997, S. 66. 2 Vgl. näher Hermann K. Heußner: Der "Recall" in den USA - Eine Anregung für die Bundesrepublik Deutschland, in: KJ 1993, S. 21 ff.; Ulrich Glaser: Direktdemokratische Elemente in den Wahlverfahren der USA: Das "Recall"-Verfahren, in: Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft, Bd. 31, 1991, S. 45 ff.; The Council of State Govemments: The Book of the States, Bd. 32, 1998-99, Lexington/Kentucky 1998, S. 223 ff. 3 Vgl. näher Constanze Stelzenmüller: Direkte Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika, Baden-Baden 1994, S. 69 ff., 99 ff., 117 ff., 173 ff., 274 ff.; The Council of State Govemments: (Fn. 2), S. 17 ff., 129 ff., 151 ff. 4 Zur Vergleichbarkeit s. Hermann K. Heußner: Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland, Köln etc. 1994, S. 8 f.; kritischer Glaser, Demokratie, (Fn. I), S. 381 f.
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11. Town Meeting Das "town meeting" entstand in Neuengland zu Beginn der Kolonialzeit. Es wurde zuerst 1632 in Cambridge und dann in den allermeisten Gemeinden Neuenglands praktiziert5 . Es verbreitete sich anfanglich auch in weiteren Teilen der USA, etwa in Pennsylvania, New York und Michigan 6 • In vielen kleineren Gemeinden existiert das town meeting bis heute 7 . Noch 1967 wurde es in Massachusettes in 270 von insgesamt 312 Gemeinden abgehalten8 . Das town meeting ist die Versammlung der Gemeindebürger. Dort werden alle wichtigen Gemeindeanliegen entschieden. Stimmberechtigt waren spätestens ab 1700 fast alle weißen, männlichen, volljährigen Bürger9 . Das town meeting hat starke Wurzeln im Calvinismus und Puritanismus, deren Kirchenstruktur auf die Urkirche (Apostelgeschichte) zurückgeht 10. Die ersten Siedler wanderten nämlich nach Amerika aus, um ihren reformierten Glauben in "purified congregations of their own" zu verwirklichen. Ihr Glaube basierte auf dem Grundsatz der Volkszustimmung (common assent)11 , die Gemeinde konnte nur auf der freien Zustimmung ihrer Mitglieder gründen (true consent). Die puritanischen Kolonien beruhten deshalb meist auf einem Vertrag der Siedler, dem "covenant" oder "compact,,12. Berühmt ist der "Mayf1ower compact" der Plymouth Pilgrims vom 11. November 1620 13 • Die Selbstbestimmung in Form des town meetings entsprach jedoch nicht nur diesen religiösen Vorgaben. Denn zum einen spiegelten sich hier die Selbstverwaltungserfahrungen, die die Auswanderer in den Gilden und Genossenschaften ihrer englischen Heimatgebiete gemacht hatten und dort stark ausgeprägt waren 14. Auch schweizerische Frühformen der direkten Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 41. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 133,63, 82. 7 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 133. 8 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 105. 9 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 47. 10 Vgl. Hans Küng: Das Christentum, München, Zürich 1994, S. 664 ff. 11 Vgl. im Hinblick auf die notwendige Volkszustimmung bei der Berufung von Amtsträgem der Kirche Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion (Institutio Christianae Religionis), 4. Buch, 3. Kap., 15. Abschnitt, deutsche Übersetzung von Otto Weber, Neukirchen 1955, S. 723 f.; Charles Sumner Lobingier: The People's Law, New York 1909, S. 28 ff., 39 ff., 70. 12 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 45. 13 Abgedruckt in: William F. Swindler: Sources and Documents of Uni ted States Constitutions, Bd. 5, New York 1975, S. 15. 14 Lobingier, (Fn. Il), S. 19 ff., 41 ff., 45 ff., 70. S
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Demokratie könnten über den Calvinismus, der ja in Genf seinen Ausgang genommen hatte, eingeflossen sein l5 . Zum anderen entsprach es bei der zunächst in England als Handelsgesellschaft gegründeten Massachusetts Bay Company dem zivilen Gesellschaftsrecht, jedem Anteilseigner in den neuen Siedlungen ein Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung zu geben l6 . Schließlich ermöglichte das town meeting, einen belastbaren Konsens und damit starken inneren Zusammenhalt unter den Siedlern herzustellen. Dieser war notwendig, um in der neuen, ungesicherten und zum Teil feindlichen neuen Umwelt überhaupt bestehen zu können 17 • Den ersten puritanischen Siedlern ging es nicht darum, eine Demokratie im modernen Sinne, noch dazu in unmittelbarer Form, zu errichten. Ihr vordringliches Anliegen bestand vielmehr darin, ihren Glauben möglichst rein zu leben. Andersgläubige wurden ausgegrenzt. Immer neue Einwanderungswellen machten die Puritaner jedoch zur Minderheit und erzwangen ein neues Miteinander. Aufgrund des eingeübten direktdemokratischen Verfahrens konnte ein neuer Konsens ohne Ausgrenzung hergestellt werden 18. Insofern kann das koloniale town meeting mit Constanze Stelzenmüller als "protodemokratische Institution" beschrieben werden, als "Verfahren der allgemeinen politischen Partizipation, das sich als Modell und Vehikel für spätere Demokratisierungen herausstellen sollte,,19.
111. Constitutional Referendum Im "constitutional referendum", d.h. dem Verfassungsreferendum werden die Bürger aufgerufen, über die Gültigkeit eines Verfassungsentwurfs bzw. einer Verfassungsänderung verbindlich zu entscheiden. Das Verfassungsreferendum ist eine amerikanische Innovation. Im Gefolge der Unabhängigkeit vom Mutterland wurde es zum ersten Mal 1778 in Massachusetts 20 und 1779 in New Hampshire 21 veranstaltet. Beide Male lehnte das Volk den Entwurf jedoch ab 22 . In Massachusetts wurde ein zweiter Entwurf erst 1780 angenommen 23 . Diese Verfassung ist in den Grundzügen noch heute in Lobingier, (Fn. 11), S. 26 ff., 39 ff., 78, 99 ff., 102 ff., 338. Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 45, Fn. 14. 11 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 51. Dies betont auch Ellis Paxson Oberholtzer: The Referendum in America, New York 1912, S. 109. 18 Vgl. Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 60. 19 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 51 f., 53. 20 Lobingier, (Fn. 11), S. 166. 21 Lobingier, (Fn. 11), S. 182 ff., 184 f. 22 Lobingier, (Fn. 11), S. 166 f., 185. 23 Lobingier, (Fn. 11), S. 175 f. 15 16
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Kraft 24 und die wohl älteste, noch geltende geschriebene Verfassung der Welt. In New Hampshire wurde sogar erst eine vierte Vorlage 1783 angenommen, die 1784 in Kraft trat25 . Daß das Verfassungsreferendum gerade in Neuenglandstaaten erstmalig stattfand, ist kein Zufall. Einmal gab es dort die bereits dargestellte direktdemokratische Tradition der town meetings, in denen nun seit über 150 Jahren direkte Demokratie praktiziert worden war. Diese Einrichtung war in Massachusetts und New Hampshire besonders stark26 . Zum anderen hatten bereits zur Kolonialzeit in den verschiedenen Territorien Neuenglands Referenden über Gesetze stattgefunden27 . Diese frühen Formen von "popular legislation" atmeten denselben puritanisch-calvinistischen Geist wie das town meeting. Bekanntes Beispiel sind die "Fundamental Orders" von Connecticut, die 1639 in einer in Hartford abgehaltenen Volksversammlung angenommen worden waren 28 . Materiell stellt diese Grundordnung wohl die erste, vom Volk direkt verabschiedete Verfassung dar. Formell gilt dies nicht, da Connecticut eine Kolonie und kein Staat war29 . In der Präambel der Verfassung von Massachusetts aus dem Jahre 1780 bezeichnet diese den "body politic" als "covenant", als "voluntary association,,3o. Sie knüpft also einerseits ausdrücklich an die erwähnte calvinistische Bundestradition an. Andererseits reflektiert sie jetzt die neueren Ideen der Aufklärung und deren Vertragstheorien. Dabei war der im Volk fest verwurzelte Glaube an die Vernunft des Normalbürgers treibende Kraft 3l . Im Verfassungsreferendum verschmolzen somit die alten calvinistischen Traditionen, die eine lange direktdemokratische Kultur begründet hatten, und die neuen aufklärerischen Ideen der Volkssouveränität und des Vertragsprinzips. Diese spezifische Konstellation erklärt, warum zunächst nur in Massachusetts und New Hampshire diese Ideen der Aufklärung wirklich ernst genommen und "handfest" umgesetzt wurden. Constanze Stelzenmül!er drückt dies treffend so aus: Das Verfassungsreferendum "war das Kind eines alten Brauchs und einer neuen Idee,,32. Vgl. The Council of State Govemments, (Fn. 2), S. 3. Lobingier, (Fn. 11), S. 185 ff., 187; Oberholtzer, (Fn. 17), S. 106. 26 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 55, FN. 67. 27 Vgl. Hennann K. Heußner, Entstehung direktdemokratischer Verfahren in den USA, in: ZParl 1992, S. 131, 132 f. 28 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 133. 29 Vgl. auch Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 44, Fn. 11. 30 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 56, Fn. 73. 31 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 58. 32 Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 58. 24
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In den anderen Staaten spielte es in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit entweder so gut wie gar keine Rolle, oder wurde lediglich erwogen oder gefordert, jedoch nirgends verwirkliche 3 • Erst 1818 folgten Maine und 1819 Connecticut34 • Jetzt beginnt auch erst das Verfassungsreferendum über Verfassungsänderungen der Legislative Fuß zu fassen 35 . Dem entsprach es, daß auch die US-Verfassung von 1787 lediglich in Rhode Island 1788 einem Referendum unterzogen wurde und dort unter dem Einfluß der Anti-Federlists auch prompt auf Ablehnung stieß36 . Der Einfuß der Federalists unter der Führung Madisons dominierte. Die Verfassungs beratungen in Philadelphia waren geprägt von den Ideen eines repräsentativen Republikanismus, der auf die besonderen Fähigkeiten gewählter Volksvertreter setzte und den Emotionen und der Unwissenheit der einfachen Bürger in einer "pure democracy" mißtraute 37 • Das Repräsentationsprinzip war deshalb keine Notlösung für große Staaten, sondern die an sich bessere Staatsform38 . Folgerichtig sah Art. 7 der streng repräsentativ-demokratisch ausgestalteten US-Verfassung die Ratifizierung in "conventions" der Gliedstaaten und nicht in Volksabstimmungen vor. Alle Staaten mit der Ausnahme Rhode Islands, das erst 1790 eine convention einberief, folgten dieser Vorgabe 39 . Bedeutende Schubkraft erhielt das Verfassungsreferendum auf Staatenebene in der "Jacksonian"-Ära. So wurden ab 1831 die meisten Verfassungen und Verfassungsänderungen einem Referendum unterworfen40• Motiviert vom Kampf gegen das elitäre Ostküstenestablishment und dessen geballte Macht, bestätigt durch katastrophales Mißmanagement und Korruption in den Staatenparlamenten, verlangte man nach mehr Mitsprache des einfachen Bürgers und einen möglichst kleinen staatlichen Apparat41 •
Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 135 f. Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 134. 3S Vgl. Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 77. Glaser, Demokratie, (Fn. 1), S. 66; Lobingier, (Fn. 11), S. 199 f. 36 Vgl. Heußner, Entstehung, S. 136 f.; Patrick T. Conleyl Albert T. Klyberg: Rhode Island's Road to Liberty, Providence 1987, S. 11; Lobingier, (Fn. 11), S. 191 f.; weiterhin Jackson Turner Main: The Anti-Federalists, New York 1974, S. 212 f. 37 Vgl. Federalist No. 10 (Madison), No. 57 (Madison), in: The Federalist, hrsgg. von Jacob E. Cook, Middletown/Connecticut 1961, 3. Aufl. 1987, S. 61 ff., 384 f.; Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 136; Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 68; Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 66 f. 38 Vgl. Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 67. 39 Vgl. Conley/Klyberg, (Fn. 36), S. 13, 15; Main, (Fn. 36), S. 288. 40 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 137. 41 Vgl. Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 69 ff., 76 ff. 33
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Heute hat sich das Verfassungsreferendum bei parlamentarischen Verfassungsänderungen mit der Ausnahme von Delaware in allen US-Staaten durchgesetzt42 • Ihm kommt legitimatorische Funktion in verfassungspolitischen Grundsatzentscheidungen ZU43 • Es wird sehr oft angewendet, so z. B. in Kalifornien im Hinblick auf die heute gültige Verfassung von 1879 schon 826 mal44 . Häufig werden Gegenstände geregelt, die eigentlich einfachem Gesetzesrecht entsprechen. Dadurch hat das Verfassungsreferendum zum Teil einen Funktionswandel durchlaufen und stellt materiell insoweit ein Gesetzesreferendum dar45 • IV. Gesetzesreferendum Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte sich in vielen Gliedstaaten auch das einfache Gesetzesreferendum für bestimmte Gegenstände der Gesetzgebung durch. Dies galt beispielsweise für Wahlrechtsprobleme (Wahlkreiseinteilung, Wahlrecht für bislang nicht wahlberechtigte Personen) und für die Frage, wo wichtige Staatsinstitutionen angesiedelt werden sollten. Bei diesen brisanten Themen kam dem Volk eine Schiedsrichterfunktion zu, um Befriedung herzustellen46. Viele Staatenparlamente gingen auch ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung bzw. Verpflichtung dazu über, brisante Fragen dem Volk zur Entscheidung vorzulegen, so z. B. Prohibitionsgesetze. Dies wurde von den meisten Gerichten jedoch als verfassungswidrige "delegation of power" eingestuft47 • Die Parlamente wichen deshalb teilweise auf konsultative Referenden aus48 , die - soweit ersichtlich - von den Gerichten aus landesverfassungsrechtlicher Sicht nicht verboten wurden49 • Insbesondere in finanzpolitischen Fragen mißtraute man den Parlamenten, so daß auf diesem Themenfeld in vielen Staaten die Entscheidungs42 vgl. The Council of State Governments, (Fn. 2), S. 5. Auch von Verfassungskonventen verabschiedete Verfassungen müssen in der Regel dem Volk vorgelegt werden, vgl. näher Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 138. 43 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 143. 44 Council of State Governments, (Fn. 2), S. 3. Im Zeitraum 1884 bis 1896 wurden dem Volk 28 Amendments vorgelegt, vgl. Lobingier, (Fn. 11), S. 345. Im Zeitraum 1899 bis 1908 waren es in 46 Staaten insgesamt 450 Verfassungsentscheide, vgl. Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 102, Fn. 308. 4S Vgl. Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 78, 103 f.; Glaser, Demokratie, (Fn. 1), S. 69; Gebhardt, (Fn. 1), S. 28. 46 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 139, 143 f. 47 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 139 f.; Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 25. 48 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 140. 49 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 22.
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kompetenz auf dem Weg obligatorischer Referenden (mandatory referenda) dem Volk zugewiesen wurde. Finanzreferenden hatten somit eine Sicherungsfunktion. Völlig überhöhte staatliche Schuldenaufnahmen und chaotische Finanzpolitik der Parlamente hatten in den 30er Jahren nämlich zum Börsencrash von 1837 beigetragen und dazu geführt, daß viele Staaten die Steuerlast rapide erhöhten und teilweise auch die Rückzahlung der aufgenommenen Kredite verweigerten. Rhode Island war 1842 der erste Staat, der Verschuldungsgrenzen einführte und das Finanzreferendum in der Verfassung verankerte. Ähnliche Restriktionen galten für Steuererhöhungen, z. B. ab 1876 in Colorado5o . Heute existiert insbesondere das obligatorische Finanzreferendum in vielen US-Staaten; 22 schreiben es z. B. für die Ausgabe bestimmter Staatsanleihen (Bonds) vor51 . V. Volksgesetzgebung
Volksgesetzgebung in Form der Initiative ermöglicht dem Volk bzw. Gruppen aus dem Volk, Gesetze bzw. Verfassungsänderungen selbst vorzuschlagen und an der Urne zu entscheiden. Das fakultative (popular) Referendum ermöglicht es, Parlamentsgesetze zu verhindern. Volksgesetzgebung hat also die Funktion, das Parlament - zur Not umgehen zu können. Es hat Protest-, Oppositions- und Innovationsfunktion 52 • 1. Der Kampf um Volksgesetzgebung
Wegen seiner Umgehungsfunktion ist Volksgesetzgebung in vielen USStaaten Ende des letzten und zu Beginn dieses Jahrhunderts erstritten worden, weil man sich davon wesentliche Hilfe im Kampf gegen die Folgen der industriellen Revolution versprach: gegen soziale Verelendung, gegen gesellschaftlich-politische Vermassung und gegen Korruption in Parteien und Parlamenten53 • Gegen die Verelendung breiter Bevölkerungskreise kämpften im Rahmen des sog. "populist" und später "progressive movement" Farmer- und Arbeiso Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 138f.; Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 78 f. u. Fn. 177, S. 156; Oberholtzer, (Fn. 17), S. 182 ff. SI Vgl. Glaser, Demokratie (Fn. 1), S. 55. Je nach Quelle differieren die Angaben über die Anzahl der Staaten mit "mandatory referenda", vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 24; Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 152 f.; Glaser, Demokratie, (Fn. I), S.55. S2 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 143. 53 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 43.
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terorganisationen, die sich einem Staats- und Parteien apparat gegenüber sahen, der ihren Anliegen nur sehr bedingt entgegen kam. Als Ursache galt der erdrückende Einfluß der "party machines", die häufig unter der Herrschaft weniger "bosses" standen, welche wiederum eng mit der "lobby" von Wirtschaftsunternehmen verfilzt waren. Insbesondere die Kommunen und Staatenparlamente wurden als ineffektiv und korrupt wahrgenommen. Die Konzerne, die häufig eine MonopolsteIlung besaßen, waren in der Lage, die von den korrupten Parteien aufgestellten Kandidaten mit verschiedensten Arten der Bestechung für sich zu gewinnen. Dabei machte man häufig die Erfahrung, daß auch dann, wenn neue Kandidaten ins Parlament gewählt wurden, die bisher noch in keiner Verbindung mit "special interests" gestanden hatten, diese über kurz oder lang den Versuchungen der Lobby ebenfalls erlagen54 . Die "Southern Pacific Railroad" in Kalifornien stach besonders hervor. Diese Eisenbahngesellschaft hielt den gesamten kalifornischen Staat in ihrem Griff. Über ihre Mittelsmänner bestimmte sie nicht nur die Kandidaten für die verschiedenen Staatsämter, sondern diktierte auch Parteiprogramme55 . Um diese Blockaden vor allem für Sozial- und Arbeitsgesetzgebung zu durchbrechen, forderte zuerst die "Socialist Labor Party" in ihrem Manifest von 1883 und ihrer "platform" von 1885 unter dem Einfluß der Programmatik der deutschen Sozialdemokratie Initiative und Referendum. 1891 und 1892 folgten, inspiriert vom Vorbild der Schweiz, die großen Gewerkschaftsorganisationen "Knights of Labor" und "American Federation of Labor" und die aus Farmer- und Arbeiterorganisationen hervorgegangene "People's Party" (Populist party)56. Im Verlangen nach Änderung des politischen Systems trafen sich Farmer mit vielen Bürgern der gehobenen städtischen Arbeiter und Mittelklasse. Diese sahen im Zurückdrängen der geballten und unpersönlichen Macht der Konzerne die Chance, die individualistischen "yankee-protestant ideals of personal responsibility" der vorindustriellen Zeit, von der man annahm, daß in ihr der Einzelne eher in der Lage gewesen sei, am sozialen und politischen Leben teilzunehmen, von neuem zum Leben zu erwecken. Zusammengeschlossen in "direct legislation"-Bündnissen auf nationaler und Staa54 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 43 f.; Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 84 f.; Thomas E. Cronin: Direct Democracy, Cambridge/Massachuseus, London 1989, S. 54, der auch Kritiker dieser Analyse zitiert. 55 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 142; Glaser, Demokratie (Fn. 1), S. 70; V. O. Key Jr./Winston W. Crouch: Initiative and Referendum in California, Berkeley 1939, S. 426 ff.; George Mowry: The California Progressives, New York 1951, S. 1 ff., 16 ff. 56 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 44 f.
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tenebene kämpfte man, der Schweiz nacheifernd und an die dargestellten, nun bereits lange praktizierten amerikanischen direktdemokratischen Traditionen anknüpfend, überparteilich für VOlksgesetzgebung57 • Die Diskussionen jener Tage über das Pro und Contra direkter Demokratie ähneln in vielem der heutigen Debatte in Deutschland. Die jeweiligen Argumente sind im Kern dieselben 58 • Der Durchbruch der Volks gesetzgebung gelang vor fast genau einhundert Jahren 1898 in South Dakota. Das populist movement war hier besonders stark59 • Die Volks gesetzgebung trat nun einen wahren Siegeszug an 60 . Allein bis 1918 folgten weitere 21 US-Staaten 61 . 1911 schloß sich auch Kalifornien an, heute mit ca. 30 Millionen Einwohnern der bei weitem größte und wirtschafts stärkste US-Gliedstaat. Eine breite Koalition aus Gewerkschaftern, Farmerorganisationen, Prohibitionisten, Sozialisten, Freiberuflern und Geschäftsleuten unter Einschluß der bei den großen Parteien, die Volksgesetzgebung in ihre Wahlkampfplattformen aufgenommen hatten, konnte den Einfluß der "Southern Pacific Railroad" bei den Wahlen 1910 und durch Einführung von Volksgesetzgebung 1911 brechen62 • Ab 1959 sind noch sechs weitere Staaten hinzugekommen, zuletzt Mississippi, das 1992 die Verfassungsinitiative einführte63 . Die Gesetzesinitiative besteht heute somit in 22 US-Staaten64 , die Verfassungsinitiative in 1865 und das fakultative Gesetzesreferendum in 25 Staaten66 . Die eine oder andere Form der Volks gesetzgebung existiert in 28 Gliedstaaten67 • Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 45 f.; Cronin, (Fn. 54), S. 43 ff. Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 47 ff.; Gebhardt, (Fn. I), S. 29; Stelzen müller, (Fn. 3), S. 97 f. 59 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 3), S. 45 u. Fn. 15. 60 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 141. 61 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 46, 480: Utah (1900), Oregon (1902), Oklahoma (1907), Maine, Missouri (1908), Arkansas, Colorado (1910), Idaho, Kalifomien, Montana, New Mexico (191l), Arizona, Nebraska, Nevada, Ohio, Washington (1912), Michigan (1913), North Dakota (1914), Kentucky, Maryland (1915), Massachusetts (1918). Vgl. auch Cronin, (Fn. 54), S. 50 ff. 62 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 142; Glaser, Demokratie (Fn. 1), S. 70. 63 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 480: Alaska (1959), Wyoming (1968), Illinois (1970), Florida (1972), District of Columbia (Hauptstadt Washington) (1977), Mississippi (1992). 64 Heußner: Ein Jahrhundert Volksgesetzgebung in den USA, in: Hermann K. Heußner/Otmar Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen, München 1999, S. 102: Alaska, Arizona, Arkansas, Kalifomien, Colorado, District of Columbia (Hauptstadt Washington), Idaho, Maine, Massachusetts, Michigan, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, North Dakota, Ohio, Oklahoma, Oregon, South Dakota, Utah. Washington, Wyoming. 57
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Nicht alle, aber die meisten Volksgesetzgebungsstaaten, liegen im Westen der USA. In den anderen Regionen war es wesentlich schwieriger oder gar nicht möglich, Initiative und Referendum zu etablieren. Gründe hierfür sind u. a., daß das progressive movement im Osten und Süden wesentlich schwächer war und sich die westlichen Staaten zu Beginn des Jahrhunderts noch in den frühen Phasen ihrer politischen Entwicklung befanden und deshalb für Neuerungen offener waren 68 • Es ist also kein Wunder, daß sich nur in Massachusetts und Maine als einzigen der Ostküstenstaaten Volksgesetzgebung aufgrund der dortigen besonders starken direktdemokratischen Traditionen Neuenglands durchsetzen konnte. 2. Durchsetzung in der Praxis von Anfang an Volks gesetzgebung hat sich von Anfang an auch in der Praxis durchgesetzt und in der politischen Kultur der USA fest etabliert69 . Sie genießt bis heute eine hohe Wertschätzung in der Bevölkerung7o • Insbesondere die Gesetzes- und Verfassungs initiative sind sehr populär. Ihre Nutzung hat erneut seit Beginn der 70er Jahre stark zugenommen 71. Die Qualifikationsquoren sind relativ niedrig 72 , Abstimmungsquoren fehlen in den meisten Staaten73 und auch Finanzfragen sind zulässig 74 • So kamen in den verschie65 Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 102: Arizona, Arkansas, Kalifomien, Colorado, Florida, Illinois, Massachusetts, Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, North Dakota, Ohio, Oklahoma, Oregon, South Dakota. 66 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 64), S. 38: Alaska, Arizona, Arkansas, Kalifomien, Colorado, District of Columbia (Hauptstadt Washington), Idaho, Kentucky, Maine, Maryland, Massachusetts, Michigan, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New Mexico, North Dakota, Ohio, Oklahoma, Oregon, South Dakota, Utah, Washington, Wyoming. 67 Vgl. vorangegangene drei Fußnoten; Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S.480. 68 David B. Magleby: Direct Legislation in the American States, in: David Butler/Austin Ranney (Hrsg.): Referendums around the World, Washington 1994, S. 223; Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 382 f., 398; Glaser, Demokratie (Fn. 1), S. 69. 69 Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 107. Seit 1910 kamen zunächst alle zehn Jahre insgesamt zwischen zwei- und dreihundert Initiativen auf den Stimmzettel. Vgl. auch Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 90 ff., 96. 70 In den Jahren 1979 bis 1991 hielten zwischen 83 und 62 % der kalifornischen Bevölkerung die Initiative für eine gute Sache, vgl. Philip L. Dubois/Floyd Feeney: Lawmaking by Initiative, New York 1998, S. 4; Glaser, Demokratie (Fn. 1), S. 90 ff. 71 Vgl. Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 107. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 384 ff.; Magleby, (Fn. 68), S. 229 ff. 72 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 265 ff., 281 ff. 73 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 362 f.
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denen Bundesstaaten bis 1996 insgesamt 1.817 Vorschläge zur Abstimmung, 39,6 % hatten Erfolg75 • Die Gestaltungschancen, die sich hier bieten, sind wesentlich größer als in Wahlen, bei denen es nicht selten vorkommt, daß 90 % der Amtsinhaber wiedergewählt werden 76 . Volks gesetzgebung hat zwar nicht alle Träume des progressive movements wahr werden lassen. Sie behielt jedoch anhaltende Attraktivität, weil sie ein wirksames Instrument ist, Korruption zu verbannen und die jeweiligen brisanten Themen der Zeit auf die politische Tagesordnung zu setzen und zum Teil auch erfolgreich zu verabschieden 77 • Dazu zählen etwa politische Reformen und modeme Sozialgesetze in den ersten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts, weitere Sozialgesetze im Gefolge der Weltwirtschaftskrise, Reformen des öffentlichen Dienstes und Schulwesens in den 50er und 60er Jahren, und in den letzten 20 bis 30 Jahren u. a. Begrenzungen der Steuerlast, Umweltschutz, Antiatomgesetze, Regulierung der Wahlkämpfe und die Begrenzung der Wiederwahlmöglichkeiten von Abgeordneten 78.
3. "Konstruktionsfehler" von Anfang an Das amerikanische System der Volksgesetzgebung weist allerdings auch von Anfang an einige "Konstruktionsfehler" auf. So ist das Parlament in den meisten Staaten nicht in das Volksgesetzgebungsverfahren integriert, kann also nur unter erschwerten Bedingungen einen Kompromiß aushandeln 79 • Weiterhin prüfen die Gerichte Volksgesetze nur dann auf ihre Verfassungsmäßigkeit, wenn sie vom Volk tatsächlich verabschiedet wurden. Dann lastet auf den Gerichten jedoch ein weit höherer politischer Druck8o • Auch gibt es für Verfassungsänderungen keine besonderen Abstimmungsquoren 81 • Dies alles trägt insbesondere dazu bei, daß in den USA wiederholt Volks vorlagen verabschiedet wurden, die durchsetzungsschwache Minderheiten negativ berührten 82 . 74 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 161 ff.; Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 110. 75 Heußner, Jahrhundert, (Fn. 4), S. 101 f.; Dubois/Feeney, (Fn. 70), S. 32. 76 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 438; David D. Schmidt: Citizen Lawmakers, Philadelphia 1989, S. 27. 77 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 435, 437 ff., 387 ff. 78 Vgl. Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 106 ff. 79 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4) S. 286 ff., 305 ff. Die in Deutschland übliche indirekte Initiative, bei der das Parlament den Volksvorschlag mitberät und gegebenenfalls eine eigene Vorlage zur Abstimmung stellen kann, ist vorzugswürdig, vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 292 ff., 305 ff. 80 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 233 ff., 247 ff. Hier ist die in Deutschland übliche präventive Normenkontrolle der Verfassungsgerichte vorbildlich, vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 239 ff., 247 ff. 14 von Amim
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In den USA werden die Qualifikation von Volksbegehren und die Abstimmungskämpfe häufig von einseitig großer Finanzkraft getragen 83 . Da die Unterschriften - auch durch gewerbliche Sammler - frei gesammelt werden dürfen 84 und politische Werbung im Rundfunk zulässig ist85 , führt dies dazu, daß gerade "special interests" durch kommerzielle Sammler ihre Vorlagen qualifizieren können 86 und wohl ca. 10-16 % der Volksentscheide durch einseitige Finanzüberlegenheit entschieden werden87 • Ein weiteres Problem ist die teilweise deutlich unterproportionale Abstimmungsbeteiligung von Unterschichtsangehörigen 88 . Dazu trägt bei, daß die Qualifikationsschwellen in vielen US-Staaten zu niedrig sind 89 und damit die Anzahl der abzustimmenden Vorlagen zu hoch 90 . Als Beispiel sei Kalifornien angeführt: Allein 1996 gelangten dort 17 Volks vorlagen auf den Stimmzettel91 , die übrigen 10 staatlichen92 und die nach Gemeinde variierenden kommunalen Vorlagen noch gar nicht mitgezählt93 . 81 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 362. Zustimmungsquoren, die allerdings fair ausgestaltet sein müssen und keine prohibitive Höhe haben dürfen, sind zu empfehlen, vgl. Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 120. 82 Vgl. Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 112 ff.; Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 117 ff. 83 Vgl. näher Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 116 ff., Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 325 ff. 84 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 257 ff., 277 ff. 85 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 326, 338 f. 86 Vgl. Glaser, Demokratie (Fn. 1), S. 106; Daniel Lowenstein/Robert H. Stern: The First Amendment and Paid Initiative Petition Circulators, in: 17 Hastings Constitutional Law Ouarterly (1989), S. 199 f.; Dubois/Feeney, (Fn. 70), S. 94 ff. 87 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 330; Schmidt, (Fn. 76), S. 35 f. - Um den Einfluß finanzieller Überlegenheit einzudämmen, empfehlen sich deshalb u. a. die in Deutschland überwiegend üblichen amtlichen Eintragungsverfahren, vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 269 ff., 274 ff., und sollte das Verbot kommerzieller Rundfunkwerbung gern. Art. 7 VII des Rundfunkstaatsvertrages, abgedruckt in: Stefan Engel-flechsigl Alexander Roßnagel (Hrsg.): Multimedia-Recht, München 1998, S. 106, 114, streng beibehalten werden, vgl. Heußner, Jahrhundert (Fn. 64), S. 117 f.; Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 345 ff. 88 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 372 ff. Für die Schweiz gilt tendenziell dasselbe, vgl. Wolf Linder: Schweizerische Demokratie, Bern etc. 1999, S. 283 ff. 89 In Kalifornien sind für die Qualifikation einer Gesetzesinitative effektiv nur 2,25 % und für eine Verfassungsinitiative effektiv nur 3,6 % der Stimmberechtigten notwendig, vgl. Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 120; Dubois/Feeney, (Fn. 70), S. 110, wobei die Unterschriften frei gesammelt werden können und fünf Monate zur Verfügung stehen, vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 257, 260. 90 Vgl. Dubois/Feeney, (Fn. 70), S. 99; Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 282; Heußner, Jahrhundert, (Fn. 64), S. 120. 91 Vgl. Glaser, Demokratie, (Fn. I), S. 389 ff. 92 Vgl. Glaser, Demokratie, (Fn. I), S. 389 f.
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VI. Bundesebene Auf Bundesebene blieben die Türen in den USA für alle Fonnen direktdemokratischer Sachentscheidungsverfahren trotz wiederholter Einführungsbemühungen bis heute verschlossen. Bereits 1861 hatte es im Kongreß den erfolglosen Versuch gegeben, die Sklavenfrage durch eine konsultative Volksbefragung zu lösen94 . In der Zeit des populist und progressive movements hatten verschiedene Parteien Volks gesetzgebung in ihre nationalen Wahlprogramme aufgenommen, darunter im Jahre 1900 auch die Demokraten95 , die es im Jahre 1904 jedoch schon wieder fallen gelassen hatten96 . Im Kongreß kamen die Befürworter von Volks gesetzgebung trotz einer zeitweiligen Anhängerschaft von mehr als 100 Abgeordneten nicht zum Zuge97 • Eine weitere Welle direktdemokratischer Versuche bezog sich auf Volksabstimmungen über den Kriegseintritt der USA. Insbesondere der 1935 und erneut 1937 vom Repräsentantenhausabgeordneten Louis Ludlow eingebrachte Vorschlag eines "war referendums" unterlag nur relativ knapp mit 188 zu 209 Stimmen98 • Den in der jüngeren Vergangenheit chancenreichsten Vorstoß unternahmen 1977 der republikanische US-Senator Hatfield und sein demokratischer Kollege Abourezk. Sie stammen aus den direktdemokratischen Traditionsstaaten Oregon und South Dakota und hatten sich von der Bürgeraktion "Initiative America" motivieren lassen99 • "Initiative America" war durch den starken Anstieg direktdemokratischer Aktivitäten in den Gliedstaaten seit Beginn der 70er Jahre ennutigt worden. In dieser Bewegung drückten sich Gefühle politischer Einflußlosigkeit bei vielen Amerikanern aus, die u. a. in Folge des Watergate Skandals und des Vietnamkriegs entstanden waren 100. Der Geist der Federalists erwies sich jedoch als überlegen. Diese Vorschläge führten zwar immerhin zu Kongreßhearings. Darüber hinaus war ihnen jedoch kein Erfolg beschieden 101. 93 Im November 1988 mußten die Bürger von San Francisco - neben den Personalentscheidungen! - 52 Sachfragen entscheiden, vgl. Glaser, Demokratie, (Fn. 1), S. 149. 94 Vgl. Hermann K. Heußner: National Initiative and Referendum: Die verfassungspolitische Diskussion in den USA zur Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene, in: ZG 1992, S. 62 ff., 63. 9S Vgl. Heußner, National Initiative, (Fn. 94), S. 64. 96 Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 45, Fn. 15. 97 Vgl. Heußner, National Initiative, (Fn. 94), S. 64; Glaser, Demokratie, (Fn. 4), S. 87, Fn. 2. 98 Vgl. Heußner, National Initiative, (Fn. 94), S. 65 ff.; Glaser, Demokratie, (Fn. 1), S. 87. 99 Vgl. Heußner, National Initiative, (Fn. 94), S. 68. 100 Vgl. Heußner, National Initiative, (Fn. 94), S. 67. 14·
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Obwohl sich Volksgesetzgebung auf Bundesebene nicht durchsetzen konnte, hat sie dennoch in den gesamten USA große Bedeutung. Denn zum einen besitzen die Gliedstaaten umfangreiche Gesetzgebungszustandigkeiten lO2 • Und zum anderen strahlen Volksgesetzgebungskampagnen auch auf Gliedstaaten ohne Volksgesetzgebung und auf den Bund aus. Prominentestes Beispiel ist die sog. "tax-revolt" der 70- und 80er Jahre, ausgelöst 1978 in Kalifomien durch die berühmte Initiative "Proposition 13", die zu umfangreichen Steuerentlastungen führte und auch auf Bundesebene große Beachtung fand 103 • VII. Positive Gesamtbilanz Trotz der aufgezeigten Mängel die durch intelligente Reformen weitgehend behoben werden könnten 104 , flillt die amerikanische direktdemokratische Gesamtbilanz positiv aus 105. Insbesondere Volksgesetzgebung kann das repräsentativ-demokratische System wirkungsvoll ergänzen: Protest läßt sich artikulieren, Innovationen setzen sich durch, parlamentarisches Versagen wird überwunden (Korruption, politische Kartelle, Durchsetzungsschwächen von ,,Jedermannsinteressen") 106. Es werden viele Bürger aktiviert, die im rein parlamentarischen System passiv geblieben wären lO7 • VIII. Durchsetzungschancen in Deutschland auf Bundesebene aus vergleichender Perspektive 1. Durchsetzungsbedingungen in den USA
Betrachtet man die dargestellte politische Lage und Entwicklung in den USA zur Zeit des populist und progressive movements lO8 , so lassen sich 101 Vgl. Heußner, National Initiative, (Fn. 94), S. 68 f.; Glaser, Demokratie, (Fn. 1), S. 87 f. 102 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 109 ff. 103 Vgl. Magleby, (Fn. 68), S. 238. 104 Vgl. o. Fn. 79 ff.; Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 4), insbesondere S. 82 ff., 452 ff.; Glaser, Demokratie, (Fn. 1), S. 382 ff. lOS So - mit Abweichungen im Einzelnen - im Ergebnis wohl auch Glaser, Demokratie, (Fn. 1), S. 363 ff., 379 ff., der aber zu Recht vor übertriebenem Optimismus warnt. Skeptischer erscheint im Ergebnis Stelzenmüller, (Fn. 3), S. 291 ff.; ambivalenter Silvano Möckli: Direkte Demokratie in den USA, in: JöR 1996 (Bd. 44), S. 565 ff., 578 ff.; Silvano Möckli: Direkte Demokratie, Bern etc.1994, S. 370 ff. 106 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 435, 438 ff. 107 Vgl. Betty Zisk: Money, Media and the Grass Roots, Newbury Park etc. 1986, S. 256, 267. lOB Vgl. o. V. 1.
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u. a. folgende Merkmale feststellen, die für den Erfolg der direktdemokratischen Bewegung wesentlich gewesen sein dürften lO9 : 1. Enormer sozialer und wirtschaftlicher Problemdruck; 2. verbreitete Korruption in Parteien und Parlamenten; 3. Reformblockaden; 4. relativ ungefestigte politische Strukturen in den neuen Staaten des Westens; 5. eine relativ intensive und lange direktdemokratische politische Kultur; 6. ein breites gesellschaftliches Reformbündnis über Parteigrenzen hinweg. Dieser Befund reizt - bei aller Unterschiedlichkeit der Verhältnisse und der nötigen Vorsicht llO - zu einem Vergleich mit der heutigen Lage in Deutschland 111 : 2. Durchsetzungschancen in Deutschland
Auch in Deutschland besteht heute ein enormer, viele Politikfelder erfassender Problemdruck. Dieser beruht u. a. auf der dramatischen Überalterung der Bevölkerung 112 , der zunehmenden Konkurrenz in Folge von Globalisierung und revolutionärer Entwicklungen im Bereich der Kommunikationsund Informationstechnologien 113 , weiterhin bestehenden großen Umweltgefahren 114, kaum gebremster staatlicher Verschuldung 115 und nach wie vor bestehender Massenarbeitslosigkeitl1 6 • Wenngleich hierdurch Dank des noch funktionierenden Sozialstaats (bisher) keine Massenarmut entstanden 109 Vgl. mit ähnlichem Ansatz unter Einschluß der Schweiz bereits Andreas Gross: Nur die Bürger können die Volksrechte erkämpfen, in: ZmD Nr. 41, 4/1998, S. 32 ff. 110 Vgl. o. bei Fn. 4. 111 Vgl. Heußner, Entstehung, (Fn. 27), S. 144. 112 Vgl. etwa Robert K. v. Weizsacker: Staatsverschuldung, Rentenversicherung und Bildung: Zukunftsschwächen der Wettbewerbsdemokratie im Lichte des demographischen Wandels, in: Hans Herbert v. Amim. Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für "gute" und bürgemahe Politik?, S. 103 ff. 113 Vgl. z.B. Helmut Schmidt: Globalisierung, Taschenbuchausgabe, Berlin 1999, S. II ff.: Herbert H. Henzle Lothar Späth: Die zweite Wende, Taschenbuchausgabe, München 1999, S. 31 ff. 114 Siehe dazu etwa BUND/Misereor (Hrsg.): Zukunftsfähiges Deutschland, Basel etc. 1996. IIS Vgl. v. Weizsacker, (Fn. 112), S. 118 ff.: Ame Boecker: So schwer zu manövrieren wie ein Tanker, SZ v. 4.1.1999, S. 2. 116 Dazu etwa Hubert KleinertlSiegmar Mosdorf. Die Renaissance der Politik, Taschenbuchausgabe, Berlin 1998, S. 105 ff.
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ist, die mit der Verelendung im Zuge der Industrialisierung vergleichbar wäre, so werden die bestehenden Strukturen doch zunehmend brüchiger. (2) Die Parteien und Parlamente begegnen diesen Herausforderungen nur mangelhaft. Zwar ist der aktuelle Zustand der deutschen Parteien und Parlamente sicher nicht mit dem der amerikanischen vor 100 Jahren vergleichbar: Bei aller berechtigter Kritik kann nicht ernsthaft behauptet werden, sie befänden sich im Griff von Konzernen und Korruption sei der bestimmende Faktor der Politik ll7 . Dennoch sind Verselbständigungstendenzen festzustellen, die in den bestehenden Mängeln der Institutionen und Strukturen des Parteien staats und Parlamentarismus wurzeln 11 8. Insbesondere bilden sich politische Kartelle über Parteigrenzen hinweg. Bestimmte Probleme werden von keiner oder den meisten Parteien nicht aufgegriffen, weil dies zu Nachteilen für alle Parteien bzw. deren Mitglieder führen würde ll9 . "Jedermanns"- und Zukunftsinteressen haben es besonders schwer, weil sie sich gegenüber der parlamentarischen Lobby von "special interests" im Hintertreffen befinden 12o. Die Konstruktionsmängel der rein repräsentativen Parteiendemokratie führen dazu, daß die Eigeninteressen der Politiker die notwendigen Reformen zu blockieren drohen 121 • (3) Folgerichtig sind in Deutschland seit Jahren Reformblockaden und Reformstaus zu konstatieren l22 . Zwar beginnt die seit 1998 regierende rotgrüne Bundesregierung mit Reformen 123. Diese sind jedoch bei weitem nicht ausreichend, um z. B. die horrende Staatsverschuldung durchschlagend abzubauen, die Sozialsysteme dauerhaft zu sichern, den Umweltverbrauch 117 Dies gilt auch nicht, wenn man die seit Ende 1999 zu Tage getretene Parteispendenaffare der CDU in den Blick nimmt. Sie macht die Refonnbedürftigkeit des Parteien staates allerdings besonders augenfällig. Deshalb von einer Staatskrise zu sprechen, so Johannes Willms: Was Osterreich lehrt - Die westeuropäische Parteiendemokratie muß refonniert werden, in: SZ v. 8.2.2000, S. 15., erscheint aber zumindest noch - zu hoch gegriffen. 118 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 76 ff. Siehe ausführlich verschiedene Beitrage in v. Arnim, Institutionen, (Fn. 112). 119 Vgl. Hans Herbert v. Arnim: Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. 272 ff. 120 Vgl. v. Arnim, Staatslehre, (Fn. 119), S. 293, 304 ff. 121 Hans Herbert v. Arnim: Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse - selbstbezogen und abgehoben, Taschenbuchausgabe, München 1999, insbesondere S. 19 ff. 122 Siehe etwa Erwin K. Scheueh: Perspektiven für Demokratie und Wirtschaft Die Vordergründigkeit des Diskurses in unserer Politik, in: Hans Herbert v. Arnim (Hrsg.): Demokratie vor neuen Herausforderungen, BerIin 1999, S. 46 ff. 123 Kritisch zum turbulenten ersten Regierungsiahr Heribert Prantl: Rot-Grün, \. Aufl., Hamburg 1999.
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nachhaltig einzudämmen und die Bevölkerungsstruktur zu stabilisieren. Es ist mehr als zweifelhaft, ob das bestehende, rein repräsentative System den langen "Reformatem" aufbringen kann, der notwendig ist, um den anstehenden "Dauerlauf' durchzuhalten 124 . (4) Die Bundesrepublik Deutschland ist kein "neuer" Staat wie die jungen "Pionierstaaten" des Westens der USA zu Beginn dieses Jahrhunderts. Dennoch liegt die Wiedervereinigung erst 10 Jahre zurück. Das "Vereinigungsexperiment" dauert an 125, die Vereinigung ist noch lange nicht verarbeitet. Deutliches Indiz dafür ist die starke Position der PDS in den neuen Ländern, die zum großen Teil von Protestpotential profitiert. Es ist deshalb nicht auszuschließen, daß von der Wiedervereinigung im Zusammenspiel mit den beschriebenen Reformnotwendigkeiten "strukturlockernde" Wirkungen ausgehen werden. (5) Im Gegensatz zu den US-Staaten am Anfang dieses Jahrhunderts, die seit Beginn ihrer jeweiligen Staatlichkeit in jeweils unterschiedlicher Ausprägung auf eine relativ lange und intensive direktdemokratische Tradition in Form des town meetings, des Gesetzes- und des Verfassungsreferendums zurückblicken konnten 126, ist in Deutschland eine entsprechende Tradition nicht vorhanden 127. Seit 1989 erlebt die direkte Demokratie freilich einen Aufschwung, ja hat sie geradezu einen "Siegeszug" angetreten, so daß sich sowohl Bürgerbegehren und Bürgerentscheid 128 als auch Volksgesetzgebung flächendeckend in allen Bundesländern durchsetzen konnten 129. Insbeson124 So ist z. B. für die Beendigung der Staatsverschuldung ein wahrer "nationaler Kraftakt" notwendig, die Einsparungen in Höhe von 30 Mrd. DM im Etat 2000 sind erst ein Anfang, vgl. Oliver Schumacher: Am Anfang eines langen Weges, SZ v. 24.11.1999, S. 4. 125 Kurt Sontheimer/Wilhelm Bleek: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 9. Auf!. 1997, S. 111 ff. 126 Vgl. o. I. bis IV. 127 So hat es seit 1945 in den alten und seit 1989 in den neuen Bundesländern in 55 Jahren insgesamt lediglich 26 Verfassungsreferenden gegeben, vgl. Heußner, Volksgesetzgebung, (Fn. 4), S. 467; Otmar Jung: Das Quorenproblem beim Volksentscheid, in: ZPol 1999, S. 888 f. In Bayern waren es bis heute insgesamt fünf, vgl. Klaus Hahnzog: Bayern als Motor für unmittelbare Demokratie, in: Heußnerl Jung, (Fn. 64), S. 166. - Volksentscheide als Abschluß eines Volksgesetzgebungsverfahrens gab es seit Beginn der Bundesrepublik bis heute insgesamt nur neun: zwei jeweils 1998 in Schleswig-Holstein und Hamburg und fünf in Bayern, vgl. Andreas Schimmer: "Ihre Stimme für den Bußtag, weil Feiertage unbezahlbar sind", in: Heußner/Jung, (Fn. 64), S. 269 ff.; Brigitte Kliegis/Ulrich G. Kliegis: Der Volksentscheid über die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein 1998, in: Heußner/Jung, (Fn. 64), S. 287 ff.; Michael Ef!er. Der Kampf um Mehr Demokratie in Hamburg, in: Heußner/Jung, (Fn. 64), S. 205 ff.; Hahnzog, (Fn. 127), S. 164 f. Bis 1990 waren Bürgerentscheide allein in Baden-Württemberg zulässig, 255 fanden in den 42 Jahren von 1956 bis 1997 statt, vgl. Roland Geitmann: Der Siegeszug der kommunalen Direktdemokratie, in: Heußner/Jung, (Fn. 64), S. 241.
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dere auf kommunaler Ebene machen deshalb nun sehr viele Menschen nicht nur sporadische direktdemokratische Erfahrungen 13o . (6) Insgesamt betrachtet weist die heutige Lage in Deutschland einige Ähnlichkeiten mit der in den US-Staaten zu Beginn des Jahrhunderts auf, wenngleich sie glücklicherweise (noch) nicht so zugespitzt ist. Dem entspricht es, daß es bisher erst Entwicklungen hin zu einem breiten, überparteilichen direktdemokratischen Reformbündnis gibt. Diese sind jedoch vielversprechend und spiegeln den überwältigenden demoskopischen Mehrheitswunsch nach Einführung von Volksgesetzgebung auf Bundesebene wider 131 • So gehört die Einführung von Volks gesetzgebung zum Regierungsprogramm der neuen Bundesregierung 132, gibt es auch innerhalb des Unions lagers erste Anzeichen für einen Positionswechsel 133 und befindet sich die Vereinigung "Mehr Demokratie e. V." in der Aufbauphase für eine bundesweite Kampagne zur Durchsetzung von Volksgesetzgebung auf Bundesebene 134 • Dieser Kampagne haben sich immerhin schon 26 Organisationen als Unterstützer angeschlossen 135 • 128 Vgl. Geitmann, (Fn. 127), S. 237 ff. Lediglich Berlin auf Bezirksebene macht noch eine Ausnahme, vgl. Geitmann, (Fn. 127), S. 239. 129 Vgl. Otmar Jung: Siegeszug direktdemokratischer Institutionen als Ergänzung des repräsentativen Systems?, in: v. Arnim, Herausforderungen, (Fn. 122), S. 103 ff., der von "Aufschwung" und "starke(r) Ausweitung" spricht. 130 So fanden allein in Bayern in ca. dreieinhalb Jahren seit Herbst 1995 737 Bürgerbegehren und Bürgerentscheide statt, in Hessen innerhalb von 6 Jahren seit 1993 mindestens 115, in Nordrhein-Westfalen seit 1994 145 und in Sch1eswig-Ho1stein innerhalb von siebeneinhalb Jahren seit 1990 161, vgl. Frank RehmetlTim Weber/Dragan Pavlovic: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Bayern, Hessen und Schleswig-Ho1stein, in: Theo Schiller: Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, S. 117, 135; SZ v. 26.10.1999, S. 6. 131 Nach einer Forsa-Umfrage vom Januar 1999 waren 70 % der Befragten für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene, vgl. ZfDD, Sonderausgabe Herbst 1999, S. 8. 132 ZRP 1998, S. 499. 133 So sprach z. B. der bayerische Ministerpräsident Stoiber um die Jahreswende 1998/99 im Zusammenhang mit der von der neuen Bundesregierung favorisierten doppelten Staatsbürgerschaft zeitweilig davon, einen Volksentscheid anstreben zu wollen, vgl. SZ v. 7.1.1999, S. 6. - Im Zuge der CDU-Spendenaffare gewinnt die Forderung nach mehr direkter Demokratie weitere Unterstützung. So fordert jetzt z. B. der FDP-Generalsekretär Westerwelle die Einführung von Volksentscheiden, vgl. SZ v. 15.116.1.2000, S. 6. 134 Vgl. Thomas Mayer/Tim Weber: Die Kampagne zur Einführung des Volksentscheids auf Bundesebene - Anregungen und Vorschläge, wie das gehen könnte, in: Heußner/Jung, (Fn. 64), 5. 351 ff.: Britta Kurz: Ein Vorschlag für die Bundesebene: Der Gesetzentwurf von Mehr Demokratie e. V. zur Einführung einer bundesweiten Volksgesetzgebung, in: Heußner/Jung, (Fn. 64), S. 363 ff. 13S Vgl. ZfDD, Sonderausgabe Herbst 1999, S. 8.
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Entscheidend für den Erfolg dürfte letztlich das Durchhaltevermögen und die Überzeugungskraft vieler engagierter BürgerInnen sein. Es muß "Druck von unten" entstehen. Dies zeigen gerade die amerikanischen Erfahrungen J36 . Auch dort dauerte es - je nach Staat unterschiedlich - zum Teil mehrere Jahrzehnte, bis der Durchbruch gelang. Die Tatsache, daß sich auch in den USA zu Beginn des Jahrhunderts Volksgesetzgebung auf Bundesebene nicht durchsetzen konnte, spricht schließlich nicht gegen die Erfolgsaussichten heute in Deutschland. Denn in Deutschland muß sich der direktdemokratische Reformdruck zwangsläufig auf die Bundesebene auswirken, weil - im Gegensatz zu den US-Staaten, die relativ große Gesetzgebungskompetenzen besaßen und besitzen 137 - den Bundesländern nur geringe Gesetzgebungszuständigkeiten verblieben sind. Die übergeordnete Bedeutung der EU führt außerdem tendenziell dazu, daß sich heute in Deutschland die Bundesebene in einer ähnlichen Lage befindet, wie die US-Staaten zu Anfang des Jahrhunderts im Hinblick auf die dortige Bundesebene.
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Vgl. Gross, (Fn. 109), S. 32, 34. Vgl. o. Fn. 102.
Autorenverzeichnis Heidrun Abromeit, Dr., Universitätsprofessorin, Technische Universität Darmstadt. Hans Herben von Amim, Dr., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Jens Borchen, Dr., Universität Göttingen. Brun-Otto Bryde, Dr., Universitätsprofessor, Justus-Liebig-Universität Gießen. Hugo Bütler, Dr., Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung. Fried Esterbauer, Dr., Universitätsprofessor, Universität Innsbruck. Jürgen Gebhardt, Dr., Universitätsprofessor, Universität Erlangen-Nümberg. Hermann K. Heußner, Dr., Professor, Katholische Fachhochschule Norddeutschland, Osnabrück. Diemut Majer, Dr., Universitätsprofessorin, Universität Bem und Fachhochschule des Bundes - Fachbereich Bundeswehrverwaltung - Mannheim. Hans Meyer, Dr., Dr. h.c., Universitätsprofessor, Präsident der Humboldt-Universität Berlin. Reinhard Schiffers, Dr., Universitätsprofessor, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e. V., Bonn. Theo Schiller, Dr., Universitätsprofessor, Philipps-Universität Marburg. Manfred Zach, Ministerialdirigent und Schriftsteller, Sozialministerium Baden-Württemberg, Stuttgart.