Reform der Parteiendemokratie: Beiträge auf der 5. Speyerer Demokratietagung vom 25. bis 26. Oktober 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428510559, 9783428110551

Der vorliegende Band enthält die Referate, die auf der 5. Speyerer Demokratietagung Ende Oktober 2001 gehalten wurden, s

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Reform der Parteiendemokratie: Beiträge auf der 5. Speyerer Demokratietagung vom 25. bis 26. Oktober 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428510559, 9783428110551

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 157

Reform der Parteiendemokratie Beiträge auf der 5. Speyerer Demokratietagung vom 25. bis 26. Oktober 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

Reform der Parteiendemokratie

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 157

Reform der Parteiendemokratie Beiträge auf der 5. Speyerer Demokratietagung vom 25. bis 26. Oktober 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-11055-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Von dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzog stammt das Wort, Reformen seien in der Bundesrepublik kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Dabei sind umfassende Reformen bei uns besonders dringend, weil Staat und Gesellschaft an die geänderten Verhältnisse und die neuen Herausforderungen angepasst werden müssen: die demographische Umwälzung, die Globalisierung, den Wertewandel und manches andere. Der Titel „Reform der Parteiendemokratie" meint zum einen Reformen von Organisationen und Verfahren der politischen Willensbildung selbst, also der Institutionen der Parteiendemokratie, zum Beispiel Änderungen des Wahlrechts oder die Erweiterung direktdemokratischer Entscheidungsmöglichkeiten. Zum anderen geht es um Reformen in einzelnen ausgewählten Politikfeldern, etwa Steuern oder Soziales, deren Durchsetzung wiederum die vorherige institutionelle Erleichterung politischen Handelns voraussetzt. Der Schlüssel für die Erreichung von Handlungsfähigkeit und Bürgernähe der Politik ist die Herstellung von politischer Verantwortlichkeit, und dem stehen unsere Institutionen bisher im Wege. Der vorliegende Band enthält die überarbeiteten Referate der 5. Speyerer Demokratietagung und die Protokolle der Diskussionen. Der wissenschaftliche Leiter der Tagung und Herausgeber dieses Buchs dankt den Referenten, den Diskussionsleitern, den Verfassern der Diskussionsbeiträge und nicht zuletzt allen Teilnehmern, die die Veranstaltung und diesen Tagungsband erst ermöglicht haben. Er dankt besonders Herrn Ass. iur. Stefan Kleb, Mag.rer.pubi., der den Band redaktionell betreut und die Tagung - zusammen mit dem bewährten TagungsSekretariat der Hochschule unter Herrn Amtsrat Helmut Bucher - organisatorisch vorbereitet hat. Speyer, im September 2002

Hans Herbert von Arnim

Inhaltsverzeichnis Begrüßung durch den Rektor Von Rudolf Fisch

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Einführung in die Tagung Von Hans Herbert von Arnim

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Parteienstaat in der Krise? Von Jochen Abr. Frowein

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Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Jochen Abr. Frowein Von Stefan Koch

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Ochsentour, Seiteneinsteiger oder ungenutzte Chance der Parteien Von Anton-Andreas Guha

31

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Anton-Andreas Guha Von Marion Weschka

41

Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid, Kumulieren und Panaschieren auf Bundesebene? Von Gerald Hafner

47

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gerald Häfner Von Oliver Graf

57

Die Durchsetzbarkeit von Reformen des Sozialstaats in der Demokratie Von Meinhard Mie gel

61

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Meinhard Miegel Von Stefanie Gille

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Präsidialsystem und direkte Demokratie in der Europäischen Union? Von Frank Decker

79

8

Inhaltsverzeichnis

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Frank Decker Von Ramona Betz

97

Das Hambacher Fest - Vergangenheit und Vergangenheitspolitik Von Stefan Fisch

103

Die Durchsetzbarkeit von Steuerreformen in der Demokratie Von Peter Bareis

109

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Peter Bareis Von Alexandra Unkelbach

127

Demokratie 2.0? Politische Online-Kommunikation und digitale Politikprozesse Von Claus Leggewie und Christoph Bieber

135

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Claus Leggewie Von Hans-Peter Wabro

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Parteienfinanzierung: Mängel und Reformchancen Von Martin Morlok

155

Bericht über die Abschlussdiskussion Non Stefan Kleb

Verzeichnis der Autoren und Diskussionsleiter

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Begrüßung durch den Rektor Von Rudolf Fisch

Es ist für einen, der eine Tagung einleitet und ein Grußwort entrichten soll, immer eine Gratwanderung, auf das Thema hinzuführen, ohne in der notwendigen Kürze flach zu sein und ohne das vorweg zu nehmen, was thematisch in der Tagung ausführlich behandelt wird. Daher habe ich ein bisschen gezögert, ob ich das Wort an Sie richten soll. Andererseits diskutieren wir hier im Hause sehr intensiv Fragen der Demokratieentwicklung. Aus dieser Diskussion möchte ich einen Gedanken einbringen. Ob Sie ihn in Ihren Gesprächen aufnehmen oder nicht, wird sich ergeben. In Deutschland bestehen die Parlamente bekanntlich nur zum Teil aus direkt gewählten Persönlichkeiten. Ein Gutteil der Parlamentarier kommt über die Listen der Parteien ins Parlament. Auf diese Weise haben die Parteien die Möglichkeit, über populäre Volksvertreter hinaus auch Fachleute für bestimmte Fragen in ihrer Fraktion zu haben und diese Personen in Fachausschüsse zu entsenden. Ich habe mir sagen lassen, dass es sich dabei in der Regel um Personen handelt, die vielleicht rhetorisch nicht so überzeugend sind, dass sie direkt gewählt würden, aber dennoch sehr gute Arbeit zu leisten vermögen. Nach meinem Wissen wird von diesem Personenkreis solide Arbeit geleistet. Wir hören davon, wenn Fraktionen verschiedener Landtage sich hier in Speyer an der Hochschule in Gesprächen mit den Professoren über neueste Themen und Interessenlagen informieren. Oder wenn sie Abgeordnetenseminare besuchen, die hier in Speyer, insbesondere von meinem Kollegen Prof. Dr. Hermann Hill, veranstaltet wurden und werden. Oder, was auch vorkommt, wenn ein Parlamentarier hier in Speyer ein sogenanntes Speyersemester absolviert. Ich hatte das Vergnügen im vergangenen Sommersemester - unser ganzes Seminar hat davon profitiert, und die betreffende Person auch. Es gibt also ein Bemühen, mehr über die Schnittstelle Staat - Verwaltung zu erfahren. Dieses Thema ist unsere Speyerer Spezialität. Aber: Weiß die Bevölkerung von solchen Aktivitäten, weiß sie um dieses Bemühen? Wahrscheinlich leider nicht. Sichtbarer durch die bekannten Medien ist stets dagegen Menschliches, ja allzu Menschliches in den Parteien. Parteien sind soziale Gebilde mit bekanntermaßen ausgeprägtem Eigenleben und dynamischen Eigeninteressen. Wenn diese eher parteiinternen Phänomene und Prozesse, die manchmal gar nichts mehr mit dem eigentlichen Auftrag, für das Volk da zu sein, zu tun zu haben scheinen, im Erschei-

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Rudolf Fisch

nungsbild einer Partei die Oberhand gewinnt, bekommt der gelernte Demokrat und nachdenkliche Bürger das Gefühl der Entfremdung vom Geschehen in einer Partei. Er fühlt sich nicht mehr angemessen repräsentiert von Volksvertretern, von denen er im übrigen die meisten auch nicht kennt. Ob es daran liegt oder an anderen Phänomenen, dass eine zunehmende Erosion des Vertrauens in die demokratischen Institutionen zu konstatieren ist? Wenn ich richtig verstanden habe, will die Tagung zur Reform der Parteiendemokratie hier ansetzen, um nach Ansatzpunkten für die Umsetzung für Reformideen zu suchen. Es geht wohl vorwiegend um den Umsetzungsaspekt, um das Ziel, den Bürgern eine Regierungsform zu geben, in die sie mehr Vertrauen entwickeln können und bei der sie auch mehr direkte Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie in diesem Bemühen Fortschritte machen und dass Sie am Ende der Tagung gedanklich gut gerüstet und voller Tatendrang wieder an Ihren Heimatort fahren, um dann gute, tragfähige Vorstellungen umzusetzen. Im Geleitwort zum Programm stand ja, dass unser Problem in Deutschland die Umsetzung ist, nicht die Ideen. Das klingt sehr bekannt. Ich bin als Wissenschaftler in ein Hochschulsystem hineingewachsen, das reformiert werden sollte. Ideen dazu gab und gibt es viele, aber das Umsetzen ist das Langwierige und Schwierige. Dass Sie aus Speyer den Willen zur Tat mitnehmen mögen, wünsche ich Ihnen von Herzen. In diesem Sinne wünsche ich eine gute Tagung, gute Gespräche am Rande und einen angenehmen Aufenthalt in Speyer!

Einführung in die Tagung Von Hans Herbert von Arnim

Seit dem 11. September stehen nur noch die Außen- und Sicherheitspolitik auf der publizistischen Agenda. Die vielen anderen innenpolitische Probleme sind beinahe vollständig zurückgetreten, zumindest kurzfristig. Fast hat man den Eindruck, als sei das manchen Politikern ganz recht. Frühere Skandale und Skandälchen scheinen plötzlich vergessen. Jetzt kann man sogar Steuern erhöhen und das sogenannte Bankgeheimnis aufweichen, also Dinge tun, gegen die sich vorher eine Protestwelle erhoben hätte. Doch die innenpolitische Probleme sind keineswegs aus der Welt, sondern nehmen sogar noch zu, und man sollte deshalb - trotz aller Hysterie - nicht aufhören, sich damit zu beschäftigen. Das Thema unserer Tagung lautet „Reform der Parteiendemokratie". Reformen sind einerseits nötig, um die staatlichen und politischen Institutionen immer wieder an geänderte Verhältnisse und neue Herausforderungen anzupassen. Andererseits ist die politische Durchsetzung derartiger Reformen besonders schwierig. Vom früheren Bundespräsidenten Roman Herzog stammt das Wort, Reformen seien kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Die Schwierigkeiten beruhen auf formalen Gründen, wie etwa den qualifizierten Mehrheiten, die in den Parlamenten für Verfassungsänderungen erforderlich sind. Es geht aber auch um allgemeinmenschliche Beharrungstendenzen; oft stehen handfeste etablierte Interessen Reformen entgegen. Ob Reformer sich - trotz der Widerstände - schließlich durchsetzen können, hängt natürlich auch von der Verfassung ab, also von der Reformfähigkeit des politischen Systems. Eine große Rolle spielt darüber hinaus natürlich auch die jeweilige Situation: In mehr oder weniger „normalen" Lagen ist es unendlich viel schwieriger, Reformen durchzusetzen, als in offensichtlichen Krisensituationen. In Krisen kann sich die Reformproblematik sogar umkehren, indem in übertriebener Hysterie und HauRuck-Manier politisch überreagiert wird. Die 5. Speyerer Demokratietagung will die typischen Probleme, denen sich Reformer gegenübersehen, am Beispiel ausgewählter Bereiche behandeln. Dabei geht es zum einen um Reformen der Institutionen der Parteiendemokratie selbst, ζ. B. durch Einschränkung von Amterpatronage oder von Missbräuchen der Parteienfinanzierung, durch Änderung des Wahlrechts oder durch Einführung oder Erweite-

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Hans Herbert von Arnim

rung direktdemokratischer Entscheidungsmöglichkeiten. Zum anderen geht es um die Durchsetzung von Reformen in einzelnen Politikfeldern. Dabei wird sicher auch die Rolle der öffentlichen Medien und der wissenschaftlichen Politikberatung zu diskutieren sein. Den Eröffnungsvortrag hält Jochen A. Frowein zum Thema „Der Parteienstaat in der Krise?4' Herr Frowein, Professor an der Universität Heidelberg und Direktor des dortigen Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, ist zugleich Vorsitzender der Staatsrechtslehrervereinigung und war einer der „Drei Weisen", welche die Europäische Union nach Osterreich entsandt hatte, um - nach Beteiligung der Haider-Partei an der dortigen Bundesregierung - die „demokratische Zuverlässigkeit" dieses Landes zu überprüfen; außerdem war er lange Vizepräsident der Europäischen Kommission für Menschenrechte. Herr Frowein hat sich - neben vielen anderen Publikationen - zum Thema Parteienstaat wiederholt geäußert, auch sehr öffentlichkeitswirksam. 1 Der Beitrag von Anton-Andreas Guha, Redakteur bei der Frankfurter Rundschau, schließt unmittelbar an mit der Frage, wie man in Deutschland Politiker wird. So abschreckend einfach wie das früher einmal ein ausgesprochener Demokratieverächter, der Deutschland ins Elend führte, beschrieb - „Und ich beschloss, Politiker zu werden" - ist das heute nicht. Die vielbeklagte sogenannte Ochsentour innerhalb der Parteien dauert in der Regel viele, viele Jahre, wobei die Kriterien und Mechanismen für ein parteiinternes Vorwärtskommen für Außenstehende ziemlich unübersichtlich sind. Kritische Insider sprechen davon, dass „Zeitreiche und Immobile" die besten Chancen hätten.2 Herr Guha hat darüber eine anschauliche Satire geschrieben.3 Zwei große Sachreformthemen sind Steuern und Soziales. Beide hängen eng zusammen wie Eustachische Röhren: Via Steuern werden die Mittel aufgebracht, die dann für soziale Zwecke verausgabt werden können. Die Frage der „Durchsetzbarkeit von Steuerreformen in der Demokratie" behandelt Peter Bareis, Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Prüfungswesen, an der Universität Hohenheim. Herr Bareis hat selbst einschlägige praktische Erfahrung: Er wurde noch unter der Regierung Helmut Kohl vom damaligen Bundesfinanzminister Waigel zum Vorsitzenden der (nach ihm benannten) Sachverständigen-Kommission berufen, deren Vorschläge aber in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr realisiert wurden. Inzwischen gibt es mit der Steuerreform der Regierung Schröder/Eichel und den sehr viel weitergehenden Vorschlägen z. B. des sog. 1 So z. B. in einem ganzseitigen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. 9. 1996 mit dem Titel „Die Macht, die übers Geld gebietet". 2 Ulrich Pfeiffer, Eine Partei der „Zeitreichen und Immobilen. Folgerungen für eine Strukturreform, Die neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 1997, 392 ff. 3 Anton-Andreas Guha, Seiteneinsteiger oder die ungenutzte Chance der Parteien zur Regeneration, Vorgänge 1998, 54 ff.

Einführung in die Tagung

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Karlsruher Entwurfs, den der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof mit Peter Bareis und anderen zusammen entwickelt hat, weitere wichtige Reformvorschläge. 4 Der „Durchsetzbarkeit von Reformen des Sozialstaats" widmet sich Meinhard Miegel, der Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, in Wissenschaft und Publizistik weithin bekannt für seine scharfsinnigen Analysen. Herr Kollege Miegel war Vorsitzender der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen und warnte zusammen mit Kurt Biedenkopf schon vor Jahrzehnten, dass die Renten - angesichts der sich schon damals abzeichnenden demoskopischen Entwicklung - in der bisherigen Form auf Dauer nicht mehr finanzierbar sind.5 Diese Erkenntnis hat sich erst allmählich durchgesetzt und hat ja auch der jüngsten Rentenreform zugrunde gelegen. Hier wird deutlich, wie sehr und wie lange Politiker vor unbequemen Wahrheiten oft die Augen zu schließen versuchen. Unmittelbar die politische oder genauer: die staatliche Willensbildung berühren Reformen des Wahlrechts und der direkten Demokratie. Zu diesem Komplex spricht Gerald Häfner, profilierter Bundestagsabgeordneter und „Demokratiepolitischer Sprecher" der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Das Thema „Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid, Kumulieren und Panaschieren auf Bundesebene?" ist Herrn Häfner geradezu auf den Leib geschneidert, weil seine Partei, aber auch er ganz persönlich, beide Fragen immer wieder gepuscht und auf die politische Tagesordnung gesetzt haben.6 In der Diskussion werden wir dann sicher auch auf Parallelfragen auf Landesebene eingehen können. In allen sechzehn Ländern stehen den Bürgern Volksbegehren und Volksentscheide offen - und bei ihrer Entwicklung hat Herr Häfner ebenfalls ganz persönliche Verdienste. Zyniker meinen jedoch, das sei alles nur deshalb möglich gewesen, weil die Länder ohnehin kaum Gesetzeskompetenzen 4

Herr Kirchhof hat seine Vorstellungen gerade erst auf der Jubiläumstagung zum 25jährigen Geburtstag des Forschungsinstituts unserer Hochschule vorgetragen. Siehe Paul Kirchhof, Staatsmodernisierung und Steuerreform, Vortrag auf der wissenschaftlichen Arbeitstagung „Perspektiven der Verwaltungsforschung" aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Forschungsinstituts für Öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 2001. 5 Meinhard Miegel, Die eigentliche Reformaufgabe liegt noch vor uns - Grundsicherung im Alter, Arbeits- und Sozialpolitik 1989, 74 ff.; ders., Das Versagen des Sozialstaates, Zahnärztliche Mitteilungen 1996, 12 f.; Meinhard Miegel/Stefanie Wahl, Solidarische Grundsicherung, private Vorsorge: der Weg aus der Rentenkrise, 1999. 6

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Gesetzentwurf des Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 11/5918 vom 29. 11. 1989); Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Volksantrag, Volksbegehren und Volksabstimmung im Grundgesetz, Gesetzentwurf der Abgeordneten Gerald Häfner, Joseph Fischer, Kerstin Müller und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 24. 3. 1998 (Bundestagsdrucksache 13/10261); SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Koalitionsvereinbarungen vom 20. 10. 1998, Kapitel IX, Punkt 13, 1998.

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Hans Herbert von Arnim

besäßen, die Hürden oft sehr hoch seien und notfalls die Landesverfassungsgerichte übermütige Bürger, die die Volkssouveränität probten, schon auf den Boden der repräsentativen Demokratie zurückholen würden. Denn die Richter werden allein von der politischen Klasse bestellt, gegen deren Vorstellungen sich die Volksbegehren und Volksentscheide regelmäßig richten. Ein ähnliches Thema auf europäischer Ebene behandelt Frank Decker. Herr Decker ist Privatdozent an der Universität der Bundeswehr Hamburg und hat jüngst mit einschlägigen Veröffentlichungen aufhorchen lassen.7 Das Thema „Präsidialsystem und direkte Demokratie in der Europäischen Union?" galt lange als Tabu, bis Außenminister Joschka Fischer in seinem berühmten Vortrag in der Humboldt Universität Berlin das Eis gebrochen hat.8 Zwischen den beiden Ebenen Verfassungsrecht und einfaches Gesetzesrecht steht das Thema „Parteienfinanzierung: Mängel und Reformchancen", das Martin Morlok, Professor an der FernUniversität Hagen, behandelt. Herr Morlok ist - als Vorstand des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht - in Fachliteratur und Publizistik als Kenner der Materie ausgewiesen.9 Auch dieses Thema ist „heiß". Erst im Juli hat eine von Bundespräsident Johannes Rau berufene Kommission eine Reihe von Reformvorschlägen unterbreitet. 10 Von besonderer Aktualität ist natürlich auch das Thema „Elektronische Demokratie?", das Claus Leggewie, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen behandelt. Herr Leggewie hat über diese Fragen intensiv geforscht. 11 Er ist zugleich glänzend ausgewiesener Kenner der USA 1 2 und wird Chancen und Risiken des neuen Mediums für die Demokratie im deutsch / amerikanischen Vergleich darstellen. Ein weiteres Glanzlicht soll der heutige Abend bringen, an dem mein Speyerer Historiker-Kollege Stefan Fisch mit seiner Dinner Speech unserer Tagung sozusagen den historischen Lorbeer flicht. Wir finden uns - im Rahmen der Speyerer 7 Frank Decker, Demokratie und Demokratisierung jenseits des Nationalstaates. Das Beispiel der Europäischen Union, Zeitschrift für Politikwissenschaft 2/2000; ders., Mehr Demokratie wagen: Die Europäische Union braucht einen institutionellen Schritt nach vorn, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 5/2001. 8 Joschka Fischer, Vom Staatenbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration (Rede am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität Berlin), Bulletin der Bundesregierung Nr. 29 vom 24. 5. 2000. 9 Martin Morlok, Gutachten. Vorschläge zur Neuregelung des Rechts der Parteienfinanzierung, Anlage zur Bundestagsdrucksache 14/6710, 2001. 10 Deutscher Bundestag, Unterrichtung durch die Kommission unabhängiger Sachverständiger zu Fragen der Parteienfinanzierung, Bundestagsdrucksache 14/6710. 11 Siehe ζ. B. Claus Leggewie, Demokratie auf der Datenautobahn, in: Claus Leggewie/ Christa Maar (Hg.), Internet und Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie, 1998, 15 ff. 12 Claus Leggewie, America first? Der Fall einer konservativen Revolution, 1997; ders., Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen, 2000.

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Einführung in die Tagung

Demokratietagungen - jetzt schon schon zum fünften Mal auf dem Hambacher Schloss zusammen. Da wird es höchste Zeit, dass wir aus berufenem Munde etwas wirklich Fundiertes über die Geschichte und die Symbolkraft dieser „Wiege der Demokratie" erfahren. Allerdings, viele mögliche Reformthemen können nicht durch ein eigenes Referat behandelt werden; sonst würde die Tagung hoffnungslos überfrachtet. Ich nenne als Beispiele für Themen, die wir gerne auch noch hineingenommen hätten: - Schule und Hochschule, - Föderalismus, einschließlich Gemeinschaftsaufgaben, Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern,

Finanzausgleich und

- die Reform der Kommunalverfassungen in den 90er Jahren, - die durch das Gebot marktwirtschaftlichen Wettbewerbs des EG-Vertrages angestoßenen Reformen, etwa in Sachen Energie und Sparkassen, - die Modernisierung der Verwaltung, insbesondere in Richtung auf das sogenannte Neue Steuerungsmodell und natürlich auch - Reformen zur Erhöhung der inneren Sicherheit in Reaktion auf die Terroranschläge des 11. Septembers. Aber es kommt ja - nach der Konzeption dieser Tagung - überhaupt nicht auf Vollständigkeit der Reformbereiche an, sondern auf die Analyse der politischen Schwierigkeiten von Reformen und auf die Erarbeitung von Strategien zu ihrer möglichen Überwindung. Und die stellen sich vermutlich fast überall in ähnlicher Weise. Im Übrigen steht es Ihnen, meine Damen und Herren, natürlich frei, in der Diskussion, für die ausreichend Zeit reserviert wurde, alle möglichen Reformthemen anzusprechen. Die Diskussion wird übrigens mitgeschnitten und soll diesmal auch im gedruckten Tagungsband ihren Platz finden. Mein besonderer Dank gilt allen Referenten, ebenso aber auch den Kollegen, die die Moderation der Diskussionen übernommen haben, den Asisstentinnen und Assistenten, die die Diskussionsbeiträge für den Tagungsband festhalten, dem Tagungssekretariat unter Herrn Amtsrat Bucher für die professionelle Vorbereitung der Tagung und Herrn Sprengard, der für die Technik verantwortlich ist. Ganz besonderen Dank aber verdient mein Assistent, Herr Ass. Mag. rer. pubi. Stefan Kleb, der die organisatorische Hauptlast am Lehrstuhl bei Vorbereitung der Tagung getragen und hervorragend bewältigt hat. Nicht zuletzt aber gilt mein Dank schon jetzt Ihnen allen, meine Damen und Herren, die Sie durch Ihre Teilnahme unserer Tagung erst ihren Sinn geben. Ich wünsche uns allen einen anregenden und fruchtbaren Verlauf!

Parteienstaat in der Krise?1 Von Jochen Abr. Frowein Magnifizenz, lieber Herr von Arnim, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe mich auf die Bitte von Herrn von Arnim gerne bereit erklärt, hier mit einem Fragezeichen, auf das ich Wert lege, über das vorgeschlagene Thema zu sprechen, weil ich die Fragestellung für außerordentlich wichtig halte. Die Arbeit, die Herr von Arnim auf diesem Gebiet leistet, ist sehr anerkennenswert und eigentlich in unserem demokratischen System nicht mehr hinwegzudenken. Ich glaube, es gibt keinen Öffentlichrechtler, der für sich in Anspruch nehmen kann, dass eine so hohe Zahl von Gesetzen auf der Grundlage seiner Analysen von Landtagen und auch vom Bundestag geändert worden sind. Dieses ist ein besonderer Verdienst für unser demokratisches System. Ich unterscheide mich von Herrn von Arnim manchmal in der Wortwahl. Ich habe mit etwas Beklemmung zur Kenntnis genommen, dass sein letztes, sehr eindrucksvolles Buch „Das System" überschrieben ist. Dieser Begriff „System" ist im Kampf gegen die Weimarer Republik benutzt worden. Aber ich glaube nicht, dass man Herrn von Arnim dahin missverstehen darf, dass er hieran anknüpfen wollte. Und wir müssen uns alle klar sein: daran wollen wir nicht anknüpfen. Aber wir wollen sehr wohl immer wieder an der Verbesserung unseres freiheitlich-demokratischen Verfassungssystems arbeiten. Lassen Sie mich ein paar Worte zu meinem eigenen Hintergrund sagen, weil ich das hier für sinnvoll und wichtig halte. Herr von Arnim hat netterweise darauf hingewiesen, dass ich im vorigen Jahr eine besondere Aufgabe übernommen habe. Das habe ich gerne getan. Ich habe immer dazu gesagt, ich brauche nicht zu dementieren, dass ich zu einem Weisenrat gehörte, weil das ohnehin niemand glaubt. Ich habe immer wieder damit zu tun gehabt, Probleme des Verfassungsrechts und auch des Völkerrechts für unterschiedliche Bundes- und Landesregierungen beratend mitzubehandeln. Ich habe dabei immer auf meine Unabhängigkeit großen Wert gelegt. Ich habe nie einer politischen Partei angehört. Ich habe Ihnen ein paar Thesen vorgelegt, die Sie in Ihrer Mappe finden und Sie werden erkennen, dass ich mich in meinem kurzen Referat an die dort auch zum Ausdruck kommende Gliederung halten werde. In Deutschland funktioniert die Demokratie in Bund, Ländern und Gemeinden, insgesamt, so meine ich, gut. Der Wähler kann aussagekräftige Entscheidungen 1

Der Vortragsstil wurde bewußt beibehalten.

2 von Arnim

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Jochen Ahr. Frowein

treffen. Neue Parteien können sich durchsetzen. Das hat besonders das Beispiel der Grünen gezeigt, vor allem aber kürzlich das Beispiel der Schill-Partei in Hamburg. Wenn die etablierten Parteien bestimmte, von den Bürgern als wichtig angesehene Bereiche vernachlässigen, ist die Reaktion des Wählers nicht nur möglich, sondern sie erfolgt relativ deutlich. Das deutsche Verhältniswahlsystem mit seinen Besonderheiten ist nach meiner Auffassung im Grundsatz besser geeignet, die Reaktion auf neue Fragen zu ermöglichen, als das für das Mehrheitswahlsystem gilt. Im Übrigen muss man sich aber klar machen, dass die Diskussionen über die Vor- und Nachteile der großen Wahlsysteme nicht ohne die historische Komponente sinnvoll geführt werden können. Hier muss man sagen, dass in Deutschland die Einführung des echten Mehrheitswahlsystems chancenlos ist und von unserem politischen System insgesamt nach meiner festen Überzeugung nicht verkraftet werden könnte, weil es zu einer völlig revolutionären Veränderung des Parteiensystems führen würde. Die 1968 diskutierte Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen, zu der ich damals, gerade junger Professor an der Ruhr-Universität Bochum, ein Gutachten vorgelegt habe, übrigens veröffentlicht zusammen mit dem Gutachten des späteren Bundespräsidenten Roman Herzog - die Gutachten sind aber völlig selbständig voneinander entstanden ist nicht eingeführt worden. 2 Diese Diskussion, die damals verfassungsrechtlich zu dem Ergebnis führen musste, dass die Möglichkeit gegeben wäre, hat meines Erachtens politisch aus guten Gründen nicht zu einer Veränderung geführt, und ich denke, diese Diskussion kann man als abgeschlossen ansehen. Dagegen sollte immer wieder über eine stärkere Möglichkeit des Wählers nachgedacht werden, auf Parteilisten Einfluss zu nehmen und auf die Kandidatenauswahl in geordneten Verfahren frühzeitig Wirkungen ausüben zu können. Es spricht meines Erachtens alles dafür, dass Parteien sich stärker um in der Bevölkerung akzeptierte Kandidaten kümmern müssen, wenn derartige Mechanismen wirksam werden. Natürlich hat Magnifizenz Fisch völlig Recht: Es muss die Möglichkeit bleiben, dass die Parteien Personen, die sich - wenn man es simplifizierend sagt nicht so leicht verkaufen, als Fachleuten auch die Chance geben müssen, in Parlamente zu kommen. Der Vergleich mit allen anderen uns vergleichbaren demokratischen Systemen zeigt, dass dieses sehr wohl möglich bleibt, und da sollte unsere Sorge nach meiner Meinung nicht zu groß sein. Die Amerikaner machen uns mit ihren Primaries, die man aus vielen Gründen natürlich nicht so übertragen kann, schon in eindrucksvoller Weise vor, wie diejenigen, die noch nicht mal Parteimitglieder sein müssen, dennoch Einfluss auf die Kandidatenauswahl ausüben können. Das ist eine hochinteressante und meines Erachtens bei uns im Grunde zu wenig offen erörterte Frage, wenn man an Reformen denkt.3

2

Bundesminister des Innern (Hg.), Rechtsgutachten zu der Vereinbarkeit der Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen (Dreier-Wahlkreissystem) mit dem Grundgesetz, erstellt von J. A. Frowein und R. Herzog, 1968.

Parteienstaat in der Krise?

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Die Aufgaben der Parteien hinsichtlich von Regierungsbildung und Auswahl des politischen Personals sind in der Demokratie von grundlegender Bedeutung. Dieses politische Personal muss den Kurs in Regierungen und Parlamenten jeweils durch Mehrheiten bestimmen. Und natürlich muss das auch für die Menschen attraktiv sein. Man stellt sich einer solchen Verantwortung nicht und nimmt nicht diese Belastung auf sich, wenn das nicht attraktiv, bis hin zum Finanziellen attraktiv ist. Aber das Problem ist, dass in Deutschland die Machtausübung der politischen Parteien erheblich weiter geht, insbesondere bei der Vergabe von Beamtenstellen, Richterstellen und sonstigen gut dotierten Posten. Hier liegt ein Problem, dessen Bedeutung zwar vielfach erkannt wird, das aber offenbar außerordentlich schwer in der Realität verändert werden kann.4 Mir scheint es notwendig, hier auch über die juristischen Lösungsmöglichkeiten ernsthaft nachzudenken, und ich bin sehr froh, dass wir zur Zeit einen ganz besonders erfreulichen Fall haben, in dem sich Verwaltungsgerichte ihrer Verantwortung stellen. Ich halte es wirklich für einen Markstein, dass in dem zur Zeit anhängigen Verfahren hinsichtlich der Ernennung eines vom Präsidialrat des Bundesgerichtshofes als ungeeignet eingestuften Bundesrichterkandidaten, der dann aber vom Wahlausschuss berufen wurde und ernannt werden sollte, die Verwaltungsgerichte sich ihrer Verantwortung stellen.5 Das Oberverwaltungsgericht Schleswig hat am 15. Oktober einen Beschluss gefasst, der sich für jeden Juristen, der sich mit diesen Dingen beschäftigt, wirklich genau zu lesen lohnt. Das Oberwaltungsgericht Schleswig, das mit der Beschwerde gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Schleswig angerufen worden war, erörtert, wie das Verfahren der Wahlausschusswahl von Bundesrichtern und der Ernennung durch den Bundesminister oder die Bundesministerin der Justiz rechtlich zu würdigen ist. Es muss sich dabei mit der Frage auseinandersetzen, ob Artikel 33 GG, der gleiche Zugang zu öffentlichen Amtern, in diesem Zusammenhang gilt oder nicht gilt. Ich betrachte es als einen Tiefpunkt unserer juristischen Auseinandersetzung, dass die Bundesregierung in dem Verfahren offiziell vorgetragen hat, Artikel 33 gelte nicht, denn es handle sich genau wie bei der Wahl des Bundeskanzlers, wie bei der Wahl eines Oberbürgermeisters in einer Gemeinde, um eine reine politische Wahlentscheidung. Man muss sich das wirklich auf der Zunge zergehen lassen, wenn man liest, wie das formuliert worden ist: Die politische Führungsauslese in der parlamentarischen Demokratie kennt kein rechtliches Vorzugskriterium, sondern dokumentiert einen politischen Vertrauensbeweis. 6 Daher vollziehen sich die Wahlen von Abgeordne3

Vgl. W. Heun, JZ 2001, 421; J. W. Davis, U.S. presidential primaries and the caucus-convention system, 1997; E. Kölsch, Vorwahlen: zur Kandidatenaufstellung in den USA, 1972. 4 Vgl. W. Blümel, in: J. Isensee IP. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band IV, 1990, § 102 Rdnr. 23 m. w. N. 5 OVG Schleswig, NJW 2001, 3495 ff. 6 OVG Schleswig, a. a. O., 3496. 2*

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ten in Bund, Ländern und Gemeinden selbstverständlich außerhalb von Art. 33 Abs. 2 GG. Hier wird die These vertreten, dass dasselbe für die Wahl von Bundesrichtern gelte. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig lehnt das ab und weist darauf hin, dass es bisher keinen Fall gegeben habe, wo irgendwo in Bund und Ländern die These vertreten worden ist, dass Artikel 33 für den Zugang zum Richteramt einschließlich des höchsten Richteramts nicht gelte. Für das Bundesverfassungsgericht besteht eine verfassungsrechtliche Sonderregelung. Die Regierung des Landes Baden-Württemberg will die Berufung der Richterinnen und Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes zum Gegenstand einer besonderen gesetzlichen Regelung machen, die Art. 33 Abs. 2 bestätigt. In Deutschland haben wir lange Zeit das, was die Franzosen seit eh und je hier als einen besonderen Kontrollmechanismus gegen Partei- oder sonstigen unzulässigen Einfluss bei Beamtenernennungen praktiziert haben, nämlich die Konkurrentenklage, als eigentlich in unser System nicht passend angesehen. Es war eine verbreitete Auffassung, dass es hier entweder an dem subjektiven Recht desjenigen fehle der als Konkurrent tätig werde, oder kein Rechtsschutzbedürfnis vorliege usw.7 Meines Erachtens ist die Möglichkeit, die von dem Oberverwaltungsgericht Schleswig in dieser Ausführlichkeit diskutiert und positiv entschieden worden ist, ein besonders wichtiges Beispiel, wie Gerichtsbarkeit, wie juristische Kontrolle und Analyse diesem Problem zu Leibe rücken können. Wenn zwei überragend geeignete Kandidaten da sind und die These vertreten werden kann, dass unterschiedliche Schattierungen im Bundesgerichtshof vertreten sein sollen, dann ist das natürlich völlig legitim und für die Richterwahlausschüsse verwendbar. Dass aber ein Kollege, dessen Ruf als Verfassungsrechtler unzweifelhaft ist, nämlich der Kollege Rupert Scholz, seines Zeichens Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, die erstinstanzliche Verwaltungsgerichtsentscheidung als evident falsch bezeichnet, weil es sich um eine politische Wahl handle, halte ich für erstaunlich.8 Ich habe mit großem Interesse in der Süddeutschen Zeitung gestern, 24. Oktober, gelesen, dass der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, Herr Clement, in der Auseinandersetzung um die Wahl des Intendanten des ZDF ausdrücklich erklärt hat, es sei notwendig, von den parteipolitischen Strickmustern wegzukommen, nach denen viel zu lange und viel zu oft Personal strukturen gewirkt werden. Ich weiß nicht, ob hier ein bestimmter Personenstreit im Hintergrund steht, wobei vielleicht der nordrhein-westfälische Ministerpräsident auch Interessen im Auge hat, die nicht fern von seiner parteipolitischen Ausrichtung sind. Das mag wohl sein. Mich interessiert, dass der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, immerhin der des größten Bundeslandes, sagt: Wir müssen von den parteipolitischen Strickmustern in diesen Sachen weg. Das ist meines Erachtens genau der richtige ι Überblick bei F. O. Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, 12. Auflage 2000, § 42 Rdnrn. 49 und 148; Kernbach, Die Konkurrentenklage im Beamtenrecht, 1995, S. 67 ff. und 102 ff. 8 FAZ Nr. 241 vom 17. Oktober 2001, S. 4.

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und wichtige Weg. Die Konkurrentenklage ist eine Möglichkeit, um diesem Problem zu Leibe zu rücken. Ich komme zum Problem der Parteienfinanzierung. Sie wird durch einen besonderen Sachkenner erörtert werden. Ich bleibe stichwortartig, sage allerdings auch einiges, was ich für kritisch halte. Die auf Transparenz angelegte Regelung der deutschen Parteienfinanzierung ist der undurchsichtigen Selbstfinanzierung, die immer noch in einer Reihe von Ländern Europas existiert, meines Erachtens deutlich vorzuziehen. Die Bedeutung der politischen Parteien für das Funktionieren des demokratischen Gemeinwesens rechtfertigt grundsätzlich eine nicht unerhebliche staatliche Parteienfinanzierung. Die vom Bundesverfassungsgericht nach langen Schwankungen gefundene Linie der hälftigen Parteifinanzierung erscheint durchaus vertretbar. 9 Hier hat Gerhard Leibholz ein Erbe hinterlassen, das nicht in allem unproblematisch ist, das aber in der Grundsatzrichtung in diesen Punkten nach meiner Meinung vollen Beifall verdient. 10 Auf der anderen Seite ist im deutschen System, und das hat Herr von Arnim immer wieder klar gemacht, die Gefahr der Uberfinanzierung der Parteien da ohne wirkliche Opposition entschieden wird, deutlich zu erkennen.11 Diese Überfinanzierung ergibt sich aus einer merkwürdigen Gemengesituation, wo in Bund und Ländern in einem häufig wenig transparenten verdeckten Verfahren wichtige Regelungen über Finanzierung einschließlich der individuellen Finanzierung getroffen werden. Vor allem erscheint die Umgehung der Grenzen der Parteifinanzierung, etwa durch die sehr großzügige Finanzierung von Fraktionen und Fraktionsmitarbeitern in Bund, Ländern und Gemeinden ein besonderes Problem. Je mehr direkte und indirekte Parteiangestellte existieren, desto mehr besteht die Gefahr der von Anfang an nach außen abgeschlossenen parteipolitischen Karriere. Hier ist das gegenwärtige deutsche System in grundlegender Weise problematisch. Man kann sogar sagen, dass die Fünfzig-Prozent-Regel, die das Bundesverfassungsgericht gefunden hat, in gewissem Sinne aufgelöst wird durch die hohe Zahl von Mitgliedsbeiträgen, die von Leuten kommen, die ihrerseits Parteiangestellte sind. Denn eines ist ja völlig klar: Je mehr Parteiangestellte ihre Mitgliedsbeiträge aus im Grunde staatlichen Geldern abführen, desto eher haben wir eine zusätzliche staatliche Parteifinanzierung, die über die Fünfzig-Prozent-Finanzierung hinausgeht. Dieses sind Fragen, die meines Erachtens deutlicher erörtert werden müssen. Sie müssen zusammen gesehen werden mit der Möglichkeit, schon in der Phase, in der man in den Jugendorganisationen der Parteien tätig ist, finanziell gefördert zu wer9 BVerfGE 8, 51; 20, 56; 24, 300; 52, 63; 73, 40; 85, 264. 10 Prof. Dr. Gerhard Leibholz war von 1951 - 1971 Richter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts und hat unter anderem an den ersten drei der genannten Entscheidungen mitgewirkt. 11 Vgl. insgesamt H. H. von Arnim, Aus Politik und Zeitgeschichte 2000, Bd. 16, S. 30, 32; ders., DVB1. 1999, 417, 421 ff.; ders., Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, 1996, ders., Parteienfinanzierung, 1982.

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den. Die Parteistiftungen sind in der Lage, Karrieren praktisch von der Schule an auf Parteitätigkeit zuzuschneiden. Jeder weiß, dass die sogenannte Hochbegabtenförderung der Parteistiftungen in der Universität keine Hochbegabtenförderung ist. Hier wird ein Begriff, der im Rahmen der Studienstiftung des Deutschen Volkes eine große Bedeutung bekommen hat, im Grunde missbraucht. Mir hat vor einiger Zeit ein 25j ähriger Referendar erzählt, er sei in die Partei eingetreten, der er schon lange nahe stand. In seiner lokalen Parteiorganisation sei er nach dem Beitritt als „Quereinsteiger" bezeichnet worden, als er mit denjenigen zusammentraf, die bereits seit dem 18. Lebensjahr Mitglieder waren. Je stärker innerhalb der Parteien eigene nach außen abgeschlossene Karrieren existieren, desto schwerer fällt es den Parteien, an der politischen Willensbildung des Volkes im Sinne von Artikel 21 GG mitzuwirken. Diese Mitwirkung setzt ja voraus, dass zwischen dem Wähler und der Partei eine offene Beziehung besteht. Je stärker die Partei sich abschließt, desto weniger kann diese Funktion wirklich wahrgenommen werden. Warum bemühen sich in Deutschland Parteien nicht darum, angesehene Persönlichkeiten von außen anzuziehen? Wenn man die Situation vergleicht mit der noch in den siebziger Jahren existierenden, so war es damals so, dass eine große Zahl von wichtigen Politikern früher erfolgreich in der Wirtschaft, in freien Berufen oder in sonstiger Funktion tätig gewesen war. Viele hatten die Zeit der Diktatur in Deutschland in schwieriger Situation erlebt. Damit hatten sie eine Lebenserfahrung, die heute fast allen Politikern fehlt. Es erscheint besonders wichtig, sich in diesem Zusammenhang auch der besonderen Problematik der deutschen Partei Stiftungen anzunehmen. Sie sind vom Bundesverfassungsgericht in einer nach meiner Auffassung geradezu fahrlässigen Entscheidung aus dem Kontrollbereich der Parteienfinanzierung herausgenommen worden. 12 In Wahrheit ist die Parteinähe der Parteistiftungen aber vollkommen eindeutig. Sie bereiten einmal die Parteikarriere vor. Zum anderen stehen sie zur Verfügung, um Persönlichkeiten aus dem Parteibereich, die aus irgendeinem Grunde zeitweilig oder auf Dauer nicht mehr in vorderer Linie tätig werden können oder wollen, mit gut dotierten Posten, zu denen oft noch eine Pension kommt, und sonstigen Möglichkeiten abzufinden. Die Parteistiftungen tragen ihre Bezeichnung zu unrecht. Sie werden voll aus Steuergeldern finanziert, was die meisten Deutschen auf der Straße nicht wissen. Sie haben keinerlei Stiftungskapital. Sie sind im Grunde Durchlauferhitzer für Steuergelder. Die Finanzierung durch Steuergelder erfolgt proportional zur Sitzverteilung im Deutschen Bundestag und wird damit ganz unproblematisch entschieden, ohne dass in irgendeiner Weise Opposition aufkommt. Es gibt in den letzten Jahren einen schwachen Rückgang in der Finanzierung, weil wir insgesamt eine Sparwelle haben. Aber dieser Rückgang ist verglichen mit dem, was an Aufbau 12

BVerfGE 73, 1; vgl. M. Morlock, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur staatlichen Stiftungsfinanzierung, in: Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht, Heft 6, S. 7 ff.

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nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgt ist, vernachlässigenswert. Ich halte es für einen echten Skandal, und ich wäge meine Worte hier genau, dass in den letzten Jahren Goethe-Institute im Ausland in erheblichem Umfang geschlossen worden sind, während Repräsentanzen von Parteistiftungen in den Hauptstädten nah und fern eröffnet worden sind. Ich bin Mitglied des Präsidiums des Goethe-Instituts. Sie mögen mich daher in diesem Punkt für befangen halten. Es ist aber unbestritten, dass das Goethe-Institut als deutsche Kulturvertretung im Ausland überall ein besonders wichtige und anerkannte Rolle spielt. Diese Rolle kann von Partei Stiftungen unter keinen Umständen übernommen werden. Dennoch ist es dazu gekommen, dass Goethe-Institute wegen der Kürzungen im Bundeshaushalt in erheblichem Umfang geschlossen worden sind, Parteistiftungsvertretungen dagegen eröffnet wurden. In vielen Hauptstädten haben wir heute Parteistiftungsrepräsentanzen in drei- bis fünffacher Ausfertigung, das gesamte Spektrum der existierenden. Das ist meines Erachtens eine nicht vertretbare Verschwendung von Steuergeldern, die kein Land in vergleichbarer Weise kennt. Ich bestreite dabei nicht, dass Partei Stiftungen zum Teil sinnvolle Arbeit machen. Das gilt für Entwicklungsarbeit in neuen Demokratien und die Vermittlung von Kenntnissen über das deutsche System in vielen Bereichen. Ich bin aber nicht davon überzeugt, dass es dazu ständiger Repräsentanzen in den Staaten bedarf und noch viel weniger, dass es gerechtfertigt ist, Goethe-Institute, die nach deutschem Recht formellen Auslandsvertretungen für die deutsche Kultur, geschlossen werden, um solche Vertretungen aufzumachen. Auch das scheint mir ein besonderes Beispiel dafür zu sein, dass wir einen Sonderweg eingeschlagen haben, der in seiner Berechtigung dringend überdacht werden sollte. Ich will gerne sagen, dass ich selbst an Veranstaltungen von Parteistiftungen teilgenommen habe. Diese Veranstaltungen waren zum Teil durchaus sinnvoll. Das hindert mich aber nicht daran, meine Kritik, die ich schon vor langer Zeit geäußert habe, an der grundsätzlichen Entwicklung mit aller Deutlichkeit zu formulieren. Wenn man versucht, die deutsche Lage zu vergleichen mit der in anderen Ländern, dann kann man vielleicht vereinfachend folgendes sagen: In den USA, Großbritannien und Frankreich gibt es jeweils besser funktionierende Gegengewichte gegen den Parteieinfluss. In den USA ist bekannt, dass die Rolle der Bundesparteien schwach ist. Dagegen ist die Rolle, die der einzelne Politiker spielt und spielen kann, stark. Sehr typisch ist die Tatsache, dass man etwa einzelne Senatoren auch bei uns mit ihrem Namen kennt, Senator Helms, Senator Nunn, obwohl sie nie ein Regierungsamt bekleidet haben. Sie sind sehr unabhängige und im amerikanischen System wirksame Politiker. In Großbritannien dürfte vor allem der große Einfluss der nicht parteilich bestimmten gesellschaftlichen Organisationen, etwa die Organisation der Juristenschaft, von erheblicher Bedeutung dafür sein, dass der Parteieinfluss mediatisiert wird. In Frankreich besteht die Tradition der hohen Beamtenschaft nach wie vor in stärkerer Weise als in Deutschland. Diese Beamtenelite sieht

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sich in besonderer Weise auf den Staat verpflichtet und als Gegengewicht gegen die politische Parteien struktur. Wenn man an Reformmöglichkeiten denkt, so ist die Einführung einer kontrollierenden Volksgesetzgebung eine ernsthafte Frage. Ich neige zu der Auffassung, dass wir uns durch die Sicht in der Zeit der Verabschiedung des Grundgesetzes auf den Missbrauch der Volksgesetzgebungsmöglichkeiten in der Weimarer Zeit nicht allein bestimmen lassen sollten. Ich habe ein Beispiel erlebt, das ich nie vergessen werde. Als ich im Lande Nordrhein-Westfalen tätig war, wurde ich darum gebeten, als nicht Parteigebundener den Vorsitz in einem Volksbegehrenskomitee zu übernehmen gegen die Schulgesetzgebung, die im Lande Nordrhein-Westfalen damals vom Landtag versucht wurde. Innerhalb von wenigen Wochen war klar, dass im Lande ein Volksentscheid erfolgreich gegen den Versuch der Zerschlagung der Gymnasien durchgeführt werden würde. Der Landtag hat selbstverständlich sofort dieses Gesetz geändert. Solche kontrollierenden Mechanismen sind nach meiner Meinung diskussionswürdig, auch wenn ich nicht verkenne, dass auf der Bundesebene besondere Fragen eine Rolle spielen. Direktwahlen des Regierungschefs, vor allen Dingen der Ministerpräsidenten in den Bundesländern, ein Vorschlag, den Herr von Arnim schon lange diskutiert, können anknüpfen an die ausgezeichneten Erfahrungen der Direktwahl der Oberbürgermeister in süddeutschen Ländern und jetzt immer weiter ausgreifend in den deutschen Gemeindeverfassungen. Ich bin allerdings bisher nicht davon überzeugt, dass diese Wahl wirklich für die Ministerpräsidenten der Länder anzustreben wäre. Ich will noch ein paar Worte über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts sagen, das ja eine unserer wichtigsten Kontrollinstanzen auch in diesem Zusammenhang ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in Deutschland zur Begrenzung des Parteieinflusses durchaus wichtige Marksteine gesetzt. Ein besonderes Beispiel ist das berühmte Wahlwerbungsurteil, mit dem der amtierenden Regierung verboten wurde, als Regierung mit den Finanzmitteln der Regierung in den Wahlkampf einzugreifen. 13 Das war wirklich ein Sieg der Vorstellung, dass die Partei nicht den Staatsapparat insoweit gewissermaßen überwältigen darf. Es gibt aber leider auch eine Reihe von Beispielen, wo das Bundesverfassungsgericht nicht deutlich genug erkannt hat, inwieweit Ausführungen in Urteilen, die sich zur Ausnutzung durch alle Parteien im Proporz anbieten, sofort auf fruchtbaren Boden fallen und umgesetzt werden. In der Wahlrechtsrechtsprechung haben wir dafür ganz besonders kritische Beispiele. Bestimmte Dikta des Bundesverfassungsgerichts führten in den sechziger Jahren dazu, dass man in Nordrhein-Westfalen der Meinung war, man brauche die freien Wählervereinigungen in den großen nordrhein-westfälischen Städten nicht am Verhältnisausgleich teilnehmen zu lassen. Der Gesetzgeber reagierte sofort und nur noch die Parteien durften daran teilnehmen.14

13 BVerfGE 44, 125; 63, 230.

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Es dauerte zehn Jahre, bis das Bundesverfassungsgericht die Chance bekam, sich zu korrigieren. 15 Man darf sogar sagen, es hatte das nie gesagt. Das war nur rausgelesen worden aus bestimmten Formulierungen, dass die Parteien auch auf der kommunalen Ebene eine zentrale Rolle spielen. Zehn Jahre später wurde in Karlsruhe festgestellt, Wählervereinigungen in dem kommunalen Bereich haben den Anspruch auf die Teilnahme am Verhältnisausgleich. Zu diesem Zeitpunkt waren in den großen nordrhein-westfälischen Städten - und das sind nicht ganz wenige - alle Wählervereinigungen kaputt. Es gab keine mehr. Und sie sind nie wieder in die Rolle gekommen, in der sie vor dieser Entwicklung waren. Das ist meines Erachtens ein besonders kritisches Beispiel dafür, wie unter Umständen die Rechtsprechung unseres obersten Verfassungsgerichts manchmal dysfunktional wirkt. Dasselbe gilt übrigens von der berühmten Geigerschen Diätenentscheidung, die das Saarland betraf. 16 Für das Saarland, wo man die Hauptstadt aus jedem Zipfel des Landes in einer bis anderthalb Stunden im Auto erreichen kann, wurde der Landtagsabgeordnete als Inhaber eines Fulltime-Jobs bezeichnet mit der Konsequenz, dass damit natürlich die Steuergelder für den Fulltime-Job automatisch vorhanden sein mussten. Das ist ebenfalls ein unglückliches Beispiel für Wirkung von Verfassungsgerichtsentscheidungen in unserem Zusammenhang. Meine Damen und Herren, Politik muss vernünftig finanziert werden. Das ist der sinnvolle Ansatz des deutschen Parteienfinanzierungssystems. Auf der anderen Seite ist es aber ebenso wichtig, dass die Finanzierung nicht zu einer Funktionsunfähigkeit des Parteiensystems führt.

14 Vgl. u. a. das Gesetz über die Kommunal wählen im Lande Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Juni 1960 (GVB1. 1960, S. 187) und das Wahlgesetz für die Gemeinde- und Kreisvertretungen in Schleswig-Holstein vom 25. März 1959 (GVB1. 1959, S. 13). 15 BVerfGE 11,351; 13, 1. 16 BVerfGE 40, 296.

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Jochen Abr· Frowein Diskussionsleitung: Dieter Beck Von Stefan Koch

Privatdozent Dr. Dieter Beck, FÖV Speyer, eröffnete die von ihm geleitete Diskussion mit dem Hinweis auf die Verbesserung unseres freiheitlich demokratischen Verfassungssystems als Oberziel der Tagung. Demnach sollten die von Prof. Dr. Dres. h.c. mult. Jochen Abr. Frowein angesprochene Analyse der Schwierigkeiten bei politischen Reformen sowie die Strategien zu deren Überwindung Gegenstand der Diskussion sein. Daraufhin widersprach zunächst Karl H. Berkemeier, Stadtverordneter a.D., Frankfurt am Main, den Thesen des Referenten, die Demokratie in Deutschland würde gut funktionieren und die Auswahl des geeigenten politischen Personals durch die Parteien wäre gewährleistet. Es sei zwar formal korrekt, dass die Demokratie funktioniere, da regelmäßig Wahlen stattfänden. Während der Legislaturperioden seien die Bürger aber zur Untätigkeit verdammt, was mit einem Verständnis der Demokratie als Lebenshaltung und permanenter Prozess nicht zu vereinbaren sei. In die gleiche Richtung wirkten sinkende Wahlbeteiligungen, das Desinteresse der Politik an dieser Tatsache, die Tendenz zur Verlängerung von Legislaturperioden und die mangelnden Aktivitäten der Regierung zur Umsetzung basisdemokratischer Elemente auf Bundesebene. Der zweite Einwand Berkemeiers bezog sich darauf, dass das Prozedere der Personalauswahl in den politischen Parteien mitnichten so beschaffen sei, dass sich Qualität durchsetze. Als Beispiel wurde angeführt, dass seinerzeit der CDU-Vorsitzende Kohl seinen Nachfolger demonstrativ nach Ende eines Sonderparteitages im kleinen Kreis vor der Presse bekanntgegeben habe. Auch sei die Direktwahl des SPD-Vorsitzenden Scharping mit einer einfachen Mehrheit von lediglich einem Drittel erfolgt, eine Stichwahl unterblieb. Frowein entgegnete, dass die angeführten Argumente das grundsätzliche Funktionieren der Demokratie nicht in Zweifel zögen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sei das Ausmaß der Dysfunktionalitäten und Skandale in der Deutschen Parteiendemokratie nicht dramatisch. Jüngste Beispiele der Wahlen in Hamburg und Berlin hätten sogar wachsende Wahlbeteiligungen gezeigt, sobald die Bürger über bestimmte Themen beunruhigt seien.

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Stefan Koch

Als Problemfelder der Parteiendemokratie sprach Jürgen Schroeder, Dortmund, die unkontrollierte Ausweitung der steuerfreien Unkostenpauschale durch die Parlamentarier an, während Dr. Hartwin Vieweg, Stadtdirektor a.D., Neuwied, die Einbindung der Medien in die Parteipolitik durch Wahlspots thematisierte. Siegfried Lessing, Unternehmer, Obersulm, schloss sich dem Diskussionsbeitrag von Berkemeier aus der Perspektive des mittelständischen Unternehmers insofern an, als die Auswahl des politischen Personals in den Parteien für den Mittelstand intransparent sei. Vertreter des Mittelstandes würden im geltenden Proporz nicht berücksichtigt, eigene Versuche des Engagements in einer politischen Partei seien dort auf wenig Interesse gestoßen. Diese Situation führe beispielsweise dazu, dass in der Entwicklung innovativer Technologien tätige Unternehmen des Mittelstandes - im Gegensatz zu Großkonzernen - kaum Chancen hätten, in den Genuss von öffentlichen Forschungsgeldern zu kommen. Frowein sah dies als Bestätigung für seine Überlegung, dass sich politische Parteien personell nach außen abschotteten und sich nicht bemühten, Personen aus der Wirtschaft und anderen Bereichen für eine Mitarbeit zu gewinnen. Beck eröffnete die zweite Runde der Diskussion mit der Anregung, nun die Strategien zur Sprache zu bringen, mit denen die genannten Schwierigkeiten überwunden werden könnten. Udo Terjung, Rickenbach, stellte daraufhin folgenden Vergleich an: Wenn eine Bahnstrecke unrentabel sei, werde häufig gefordert, weniger Züge einzusetzen. Die Erfahrung zeige jedoch, dass wenn umgekehrt das Angebot verbessert und die Taktzahl erhöht werde, die Nachfrage überproportional steige. Übertragen auf die Politik: Seien die Landtagsabgeordneten in seinem Wahlkreis nicht präsent und legten keine Rechenschaft über ihr Tun ab, ginge dem entsprechend das Interesse der Bürger an der Politik zurück. Er sehe hier einen Teufelskreis des Rückzugs der Politik aus der Öffentlichkeit, den es umzukehren gelte: Die Politik müsse mehr Werbung für sich selbst machen. Frowein merkte hierzu an, dass es auch Aufgabe der Bürger sei, von ihren gewählten Vertreter während der Legislaturperiode aktiv Rechenschaft zu fordern. Dr. Jürgen Poeschel, Oberbürgermeister der Stadt Oldenburg, nannte als Beispiel einer gelungenen Reform des politischen Systems die Direktwahl der kommunalen Hauptverwaltungsbeamten in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und den neuen Bundesländern. Er ging auf das im Vortrag von Frowein angeführte Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig zu der Frage ein, ob die Richterwahl eine rein politische Entscheidung - wie die Wahl des Bundeskanzlers - oder eine Entscheidung nach fachlicher Qualifikation zu sein habe. Poeschel betonte, dass das vom OVG wie von Frowein konstatierte Primat der fachlichen Qualifikation von Richtern auf direkt gewählte Hauptverwaltungsbeamte (Bürgermeister) zu übertragen sei. Zwar sei nirgendwo festgeschrieben, dass Bürgermeister eine formale Qualifikation aufweisen müssten. Durch die Verlagerung von Verwaltungsaufgaben seien die Kommunen jedoch zu der Verwaltungsinstanz schlechthin geworden, die nur zum Teil mit kommunaler Selbstverwaltung befasst sei. Daher sei bei den Hauptverwaltungsbeamten ein hohes Maß an Sachkenntnis erforderlich

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und auch verfassungrechtlich relevant. Die innere Konstitution der Kommunalverwaltung verlange als Hauptverwaltungsbeamten einen Fachmann, allerdings müsse die fachliche Qualifikation mit einer demokratischen Wahl kombiniert sein. Claudia Brillmann, Richterin am Verwaltungsgericht Frankfurt, Mitglied des Hessischen Landtags, bestätigte, dass am Grundsatz der Unabhängigkeit der Richterwahl in der Praxis auf allen Ebenen Zweifel angebracht seien. Die Erfahrungen nach der letzten Landtags wähl wiesen darauf hin. Brillmann schlug eine Evaluation der Vorgänge in Hessen vor, die die Unabhängigkeit der Richterschaft diskreditierten. Die Eignung des Verfahrens könne bezweifelt werden, weil Besetzungsvorschläge der Personalreferenten von Richterwahlausschüssen beschlossen würden, die nach Parteienproporz zusammengesetzt seien. Brillmann fragte nach Erkenntnissen, wie diesem Problem begegnet werden könne, und verwies auf die bedingte Eignung der Konkurrentenklage. Frowein merkte dazu an, dass genau aus diesem Grunde die Entscheidungsprozesse in Richterwahlausschüssen Gegenstand der politischen Diskussion werden sollten. Die Besetzung nach politischem Proporz führe dazu, dass alle Parteien ein gemeinsames Interesse daran hätten, Verschwiegenheit über diese Entscheidungsprozesse zu üben, und dieses Schweigen müsse durchbrochen werden. Prof. Dr. Manfred Groser, Universität Bamberg, ging nochmals auf den internationalen Vergleich mit den USA und Frankreich ein, was die politische Unabhängigkeit der jeweiligen Beamtenschaft angehe. Nach seiner eigenen Analyse bestehe in den USA eine beträchtliche Abhängigkeit von Partikularinteressen, die lokale Gruppen, die Wirtschaft usw. vertreten. Für besondere Intransparenz sorge der Brauch des Stimmentauschs bei politischen Entscheidungen, der das Abstimmungsverhalten kaum nachvollziehbar mache. Dem widersprach Frowein entschieden, da im bundespolitischen System der USA der Typus der unabhängigen Politikerpersönlichkeit bestimmend sei. In Bezug auf Frankreich führte Groser weiter aus, dass eine weit größere Unabhängigkeit der Beamtenschaft zu konstatieren sei, die aus der Ausbildung der Verwaltungselite in den Grandes Écoles und dem daraus resultierenden Selbstverständnis resultierte. In Deutschland schließlich sei die Tendenz zur Politisierung der Beamtenschaft nicht allein auf die politischen Parteien zurückzuführen, sondern auch auf die Einflussnahme einer Vielzahl von gesellschaftlichen Interessengruppen. Dies werde im Begriff der „verhandelnden Verwaltung" deutlich.

Ochsentour, Seiteneinsteiger oder ungenutzte Chance der Parteien Von Anton-Andreas Guha

Ein möglicher Weg der Parteikarriere, der zumindest in den 60er, 70er und 80er Jahren nicht untypisch war und mit nur wenigen Differenzierungen auch heute noch für alle Parteien der so genannten demokratischen Mitte (also einschließlich der SPD) gelten darf, könnte durchaus Stoff für eine Satire bieten; er wäre dann etwa so zu beschreiben: Der Parteinovize gibt sich bescheiden, er bezeugt älteren Parteimitgliedern grundsätzlich Respekt, vor allem aber solchen, die Ämter und Würden bekleiden oder eine erfolgreiche Ära verkörpern, also als „Urgestein" oder Veteranen betrachtet werden und deshalb noch über Einfluss verfügen. Er sucht sich in diesem Kreis einen Förderer oder Mentor aus. Der Parteinovize ist enorm fleißig. Er besucht regelmäßig nicht nur die Veranstaltungen der jeweiligen Jugendorganisation der Partei (Junge Union bei der CDU, Jungsozialisten bei der SPD), sondern auch die des Ortsverbandes (CDU) oder Ortsvereins (SPD), also die Basis. Vor allem ist er bei den Vorstandssitzungen möglichst stets präsent, sofern diese parteiintern für Mitglieder offen sind, was aber seit einigen Jahren zunehmend der Fall ist. Oft sind, nicht nur in ländlichen Regionen, Vorstandssitzungen und sonstige Parteiveranstaltungen identisch oder werden zeitverschoben zu einer abendlichen Veranstaltung zusammengefasst, da es schlicht an Mitgliedern und am Interesse fehlt. Der Parteinovize zeigt dabei ein starkes Interesse am Gedeihen der Partei, was er praktischerweise dadurch bekundet, dass er sich zu Tätigkeiten meldet, die sonst niemand verrichten will: Plakatekleben in Wahlkampfzeiten, Flugblätter verteilen, Saalordner spielen, Wahlkampf- bzw. Infostände in der Innenstadt oder auf dem Markt besetzen und höflich mit Passanten diskutieren. Früher war das monatliche Kassieren der Mitgliedsbeiträge eine ebenso unbeliebte wie karrierefördernde Tätigkeit, weil sie erstens die zur Schau gestellte Begeisterung des Freiwilligen erheischte, zweitens aber doch manch wertvollen Kontakt einbrachte. Die Teilnahme an den Vorstandssitzungen ermöglichen dem Parteinovizen erste Einblicke in Stärken und Schwächen der örtlichen Führungsspitze, in Vorlieben, Argumentationsmuster und Themenschwerpunkte. Er behält das zumindest im Hinterkopf. Zunächst aber bringen die freiwilligen Tätigkeiten dem Parteinovizen das ungeteilte Wohlwollen der Führungsspitze wie auch der Parteimitglieder an der Basis des Ortsvereins oder Orts Verbandes. Wohlwollen ist wichtig, denn es

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kann als positives Vorurteil, das sich mühelos in Nachsicht wandelt, von erheblichem Nutzen sein, zumal wenn sich der Parteinovize in den Versammlungen zu Wort meldet und zu aktuellen politischen Problemen, lokalen wie überregionalen, Stellung nimmt. Das durch Präsenz und Fleiß erworbene Wohlwollen der älteren Parteimitglieder bewirkt, dass man es gelassen hinnimmt, wenn seine Ausführungen ins Stocken geraten, die auch dann nicht als Blödsinn abgetan werden, wenn er sich ideologisch vergaloppiert, sondern dass man ihnen zuhört, auch wenn sie sich eher durch gedankliche Armut und sprachliche Dürftigkeit auszeichnen sollten. Die ersten Rede- oder auch Diskussionsbeiträge zeigen dem Novizen, dass klare und laute Artikulation von Vorteil ist. Wer leise und zurückgenommen wie ein englischer Butler spricht, erregt Unwillen. Von großem Vorteil wäre, wenn bereits eine gewisse Dynamik erkennbar wäre, die den Duktus des Beitrags und die Körpersprache synchronisiert. Der Lohn dieser Anstrengungen ist die Wahl in den Vorstand des Ortsvereins oder Ortsverbandes, im allgemeinen nach einer Wartezeit von drei oder vier Jahren. Heute geht es vielfach wesentlich schneller, da junge Leute in den Parteien fehlen, die überalterten Vorstände aber unbedingt das eine oder andere Mitlied aus der eigenen Jugendorganisation vorweisen müssen. Für die weitere Parteikarriere entscheidend kann jedoch die Wahl zum Delegierten für die nächsthöhere Ebene, den Unterbezirks- oder Kreisparteitag, sein. Auf dieser an sich „nur" mittleren Ebene fallen nämlich de facto die wesentlichen Entscheidungen über Parteikarrieren, hier werden die Kandidaten für die Landtage oder den Bundestag nominiert und die Kandidaturen für das Europaparlament vorentschieden, ferner die Delegierten für den Bezirks- bzw. Landes- und den Bundesparteitag bestimmt. Wer sich hier zu profilieren vermag, kann unter Umständen sogar auf den Ruf in ein Ministerium hoffen, sofern seine Partei das Bundesland regiert. Auf dieser Ebene werden beispielsweise auch die Landräte nominiert - ein besonders beliebter und gerne angestrebter Posten. Auch auf dieser Ebene gilt und ist entscheidend: unter allen Umständen auf sich aufmerksam machen. Auch hier sind Fleiß und häufige Wortmeldungen, Stellungnahmen zu Allem und Jedem wichtige Tugenden, zumal in der Vermittlung von Dynamik, Zähigkeit, Forschheit und dennoch wohlbedachter Verbindlichkeit, die Flexibilität nicht scheut. Dabei ist zu beherzigen, was auch jeder Journalist bei seiner Arbeit in Rechnung stellen muss: Kritik hat einen Gradienten. Auf einen Staatschef der Dritten Welt oder den russischen Präsidenten lässt sich kühn eindreschen - auf die Opposition und ihre Vertreter allemal, hier ist Härte geboten - ohne Folgen gewärtigen zu müssen. Kritik am Bundes Vorsitzenden der eigenen Partei oder die eigene Bundestagsfraktion ist schon weniger ratsam, wenngleich noch tolerabel. Vorsicht und sorgfältiges Kalkül sind aber dann angeraten, ζ. B. wenn Wahlen anstehen. Kritik am Unterbezirksvorsitzenden oder einen einflussreichen Lokalpolitiker bedeutet hingegen in aller Regel den Karriereknick (eine Einschränkung hinsichtlich des Gradienten ist neuerdings freilich zu machen: Kritik an den weit entfernt liegenden USA wird mit Antiamerikanismus gleichgesetzt und ist zur Zeit schwierig, weil nicht opportun. Denn wir sind neuerdings alle Amerikaner.)

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Auf dieser Unterbezirks- bzw. Kreisebene spielen Flügel und Lager und damit Personalfragen eine wichtige und letztlich unvermeidbare Rolle. Der Parteinovize ist gut beraten, sich zunächst aus solchen für ihn noch undurchsichtigen Händeln herauszuhalten, weil bereits unbekümmert dahergesagte Bemerkungen missverstanden oder eindeutig interpretiert werden können. Er darf also nicht expressis verbis für oder gegen Parteifreunde, Flügel oder Lager Stellung beziehen, falls die Machtverhältnisse auf dem Parteitag nicht richtig eingeschätzt werden können. Er sollte sich am Mentor orientieren, diesen aber gleichzeitig im Auge behalten. Denn wenn sich der Mentor zu weit aus dem Fenster hängt, sind seine Schutzbefohlenen ebenfalls sichtbar und damit weitgehend ohne Deckung. Erlaubt sind scharfe Worte nur gegen Loser, gegen Entmachtete oder solche falls denn ein gewisser Nervenkitzel sein soll - die vorhersehbar keine Chance haben, weil sie aus irgendwelchen Gründen als exzentrisch gelten. Davon zu unterscheiden ist klare politische Meinungsäußerung, die tunlichst vermieden werden muss, falls sich kein Haupttrend oder mainstream abzeichnet, da man sonst, oft nolens volens, einem Lager oder Flügel zugerechnet werden kann; und nichts ist bekanntlich schwieriger, als von einem Negativimage wieder los zu kommen. Die klare Meinungsäußerung sollte und müsste ersetzt werden durch Floskeln, standardisierte Redewendungen, Stereotypen usw. ( wobei es immer wieder erstaunlich ist zu beobachten, wie rasch ehrgeizige Parteinovizen diesbezüglich lernen und sich die entsprechende „Grammatik" aneignen. Es bedarf dazu keines Planes und keiner Strategie, sondern nur des Instinkts, allenfalls einer feinen Witterung). „Der vom Ortsverein Mitte eingebrachte Antrag enthält eine Reihe richtiger Ansätze, muss aber noch fortentwickelt werden..." (heißt so viel wie: totaler Schwachsinn). „Was jetzt vordringlich ist, liebe Parteifreunde, ist Geschlossenheit, um dem politischen Gegner keine Angriffsfläche zu bieten" (bedeutet Verstoß gegen Grundüberzeugungen der Partei, zumindest Ahnungslosigkeit in taktischen Fragen). „Ich warne davor, sich zu weit aus dem Fenster zu hängen. Wir sollten statt dessen noch einmal im Ausschuss darüber diskutieren" (die Motive der Antragsteller sind suspekt). - „Ich unterstelle den Befürwortern dieser Baumaßnahme ja durchaus gute Absicht, darf aber doch die Frage nach der Akzeptanz durch die Bevölkerung aufwerfen" (Blauäugigkeit). Auf diese Weise gibt sich der mittlerweile längst zum Parteifreund oder Genossen Gereifte den Anschein eines neutralen und obendrein nicht selten kompetenten Genossen oder Parteifreundes, um den die Exponenten der Flügel oder Lager werben werden. Wenn jetzt die Fähigkeit entwickelt werden könnte, bei innerparteilichem Streit, vor allem bei Personalquerelen, schlichtend einzugreifen, wäre dies von unschätzbarem Wert. Und während man umworben wird - damit ist immer Wohlwollen verbunden, altes aus der Frühphase und frisch hinzu erworbenes - beginnt sich, auch wenn es noch längst nicht spruchreif ist, ein Preis herauszubilden, der später, aber doch in näher rückender Zukunft, angeboten wird oder gefordert werden kann. (Gut macht es sich, zumal für ein Jungmitglied, wenn auf dem Höhepunkt einer strittig geführten und allmählich ermüden3 von Arnim

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den Debatte nach dem „Ende der Rednerliste" oder gar „Schluss der Rednerliste" gerufen wird. In der Regel hat der Rufer eine große Mehrheit an seiner Seite, da die meisten Delegierten sich an der Debatte nicht beteiligt haben, nicht wissen, worum es geht, müde sind oder nachhause wollen. Sie sind daher erleichtert und dankbar. Der Antragsteller aber gewinnt durch sein Begehren, auch wenn er selber keinen Ton von sich gegeben hat, die Statur eines Kämpen nach Art der Nibelungen in Etzels Burg, der bis zur Erschöpfung gestritten hat, nun aber ermattet das Schwert sinken lassen muss). Ansonsten ist der zu schönen Hoffnungen Berechtigende, aber noch auf dem Status eines Parteisoldaten Verharrende gut beraten - und er weiß das nunmehr in der Regel auch - zu allen „lagerneutralen", innerparteiliche Konflikte, die Flügel und / oder einflussreiche Parteifreunde nicht berührenden Problemen etwas zu sagen, Stellung zu nehmen, möglichst vom Podium herab, wo er gut sichtbar ist. Er muss jetzt Duftmarken setzen und selbst dann „in die Bütt gehen", wenn die meisten Delegierten über so viel Unbedarftheit den Kopf schütteln, einige gar „Quatsch" oder „aufhören" rufen und den Saal verlassen sollten, um sich draußen über den Schwachkopf zu mokieren. Eine solche Erfahrung bleibt kaum einem Aufwärtsstrebenden erspart, doch gilt die Devise, dass, wer Gold gewinnen will, zuvor möglichst viel Sand, Geröll und Erde bewegt haben muss. Im übrigen gelten häufige Redebeiträge bald, zumindest für den einen nicht unerheblichen Teil der Delegierten, durchaus als Ausweis von Interesse an der Parteiarbeit. Sie haben Langzeitwirkung. Das Geheimnis dieses scheinbaren Paradoxons - und damit der Chancen für den aufstrebenden Parteifreund - liegt darin, dass im nächsten oder im übernächsten Jahr, wenn sich der Parteisoldat um einen Vorstandsposten (meist als Beisitzer) bewirbt, mindestens ein Viertel der Delegierten eines Unterbezirks / Kreisverbandes neu gewählt worden ist. Für die Neuen ist der Aufstrebende ein alter Hase, der Rest erinnert sich nicht mehr an die übereifrigen Redebeiträge des Kandidaten, sondern hat nur seinen Namen im Ohr, wenn die Vorschläge für die Vorstandskandidaten auf dem Wahlzettel notiert werden müssen. Der einzelne Delegierte kennt im Durchschnitt maximal die Hälfte der vorgeschlagenen Kandidaten und ist auf etwa zwei Drittel festgelegt. Die restlichen wählt er je nachdem, ob sich ein Name in seinem Ohr festgesetzt hat. Allein dass ein Name präsent ist, im Gegensatz zu den anderen vorgeschlagenen, ist das entscheidende Plus, auch wenn man mit ihm weiter nichts Konkretes in Verbindung bringen kann. Der Name wird angekreuzt. Freilich muss der aufstrebende Parteifreund schon damit rechnen, dass seine erste Bewerbung um ein Mandat im Unterbezirks- Kreis Verbands vorstand nicht gleich von Erfolg gekrönt ist. Er landet mit einer Handvoll Stimmen weit abgeschlagen „unter ferner liefen." Doch was andere deprimiert zur Aufgabe veranlasst hätte, ist für ihn Ansporn, denn Zähigkeit ist eine Tugend, die zählt. Er versucht es daher im nächsten Jahr wieder, wobei sich die beschriebene Konstellation in jedem Jahr günstiger für ihn auswirkt. Nach dem dritten oder vierten Male kann es dann geschafft sein: er sitzt im Vorstand.

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Und nun, auf dieser Ebene, gilt es, die Fähigkeiten im personaltaktischen Kungeln unter Beweis zu stellen, wobei derjenige im Vorteil ist, der diese Fähigkeit gleichsam phylogenetisch mitgebracht und auch ontogenetisch erworben hat; sie ist für Führung und Machtausübung unerlässlich. Ergänzt oder zumindest teilweise ersetzt werden die Fähigkeiten durch das Talent des aufstrebenden Parteifreundes, sich beliebt zu machen und an Ansehen zu gewinnen. Er hat, begleitet von Erfolgen und Misserfolgen, nunmehr eine Menge von der hohen Kunst des Taktierens gelernt. Hat beispielsweise bei der SPD und der bayerischen CSU - im ländlichen Raum ebenso wie in den städtischen Metropolen - derjenige einen enormen Vorsprung, sich beliebt zu machen und so an Ansehen zu gewinnen, der im jeweiligen Milieu als Kumpel gilt, überwiegt bei der CDU und der FDP derjenige Typus, dessen Eltern bzw. Familie ein hohes Sozialprestige vorweisen können und etwas davon bereits auf den Nachwuchs vererbt haben. Davon abgesehen ist der Parteifreund allmählich an einem Entwicklungspunkt angelangt, der die Neubestimmung des Verhältnisses zum Mentor erfordert. Wenn der Förderer kein karriereblockierender Konkurrent (mehr) ist, kann das Verhältnis in (Partei-) Freundschaft übergehen, andernfalls darf ein rascher und tiefer Schnitt nicht gescheut werden. Der aufstrebende Parteisoldat sollte dabei die Initiative in der Hand behalten, da es für das Ansehen misslich wäre, wenn der Mentor, der normalerweise in der Hierarchie immer noch weiter oben steht, von sich aus den Prozess der Abnabelung einleiten würde. Diese manchem Leser möglicherweise als Satire erscheinende Darstellung einer bestimmten parteiinternen Auswahlprozedur von Führungseliten - die Ochsentour - erhebt gleichwohl den Anspruch, realistisch und objektiv zu sein, objektiv auch in dem Sinne, dass es eine geeignetere kaum zu geben scheint, weil es an alternativen Kriterien für das parteiinterne Auswahlverfahren fehlt. Der fleißige, taktisch gewiefte, präsente, eifrig zu allen großen und kleinen Sachfragen Stellung beziehende, zumindest zeitliche Opfer auf sich nehmende Parteifreund bzw. Genösse wird belohnt für ein Verhalten, die er als Leistung auch für die Partei einbringt. Seine intellektuellen und/oder charakterlichen Voraussetzungen für möglicherweise hohe politische Amter stehen dabei zunächst nicht auf dem Prüfstand. Parteiämter und politische Funktionen werden an diejenigen vergeben, die sich bemerkbar machen, die auffallen, die sich nach Ansicht anderer im Dienste der Partei bewährt haben. Anders kann Auslese unter den hier gegebenen Bedingungen offenbar gar nicht funktionieren. Wer ein besseres (er-)fände, erwiese der Demokratie insgesamt einen gewaltigen Dienst. Dabei ist es in den Parteien, zumal in den beiden großen Volksparteien SPD und CDU mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern, kein Geheimnis, dass eine Vielzahl von Mitgliedern verfügbar wäre, die sich intellektuell und charakterlich weitaus besser für eine herausgehobene politische Laufbahn eignen würden als der skizzierte aufstrebende Parteifreund. Doch dieser macht in der Regel das Rennen, weil die Geeigneteren (auch als Parteineulinge) häufig nur reden, wenn sie etwas zu sagen haben, dann aber der Qualität der Argumente den Vorzug geben vor 3=

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rhetorischen Glanzlichtern und somit in der Gefahr sind, langweilig zu wirken, was auf ohnehin meist langweiligen Parteiveranstaltungen oder Parteitagen mit Missfallen registriert wird. Obendrein sind sie in der Regel auch im Studium oder Beruf erfolgreich, was erstens ihren parteipolitischen Ehrgeiz in Grenzen hält und zweitens ihre Zeit limitiert. Dennoch holt die Qualifizierten bald der Frust ein, etwa wenn sie feststellen müssen, dass Parteiämter nach Absprachen und erfolgreichen Kungeleien, ja, nicht selten auf Grund von Verleumdungen und Denunziationen vergeben werden. Oder aber, dass der Typ, der sich, aus welchen Gründen auch immer, größerer Beliebtheit erfreut, bei der Vergabe von Parteiämtern eher zum Zuge kommt, einfach deshalb, weil er bekannt ist und daher gewählt wird. Bekannt-Sein, zuweilen auch Beliebt-Sein, sind wichtige Voraussetzungen für politische Karrieren, eine reichlich banale Feststellung, denn nur das bzw. der Bekannte kann gewählt werden. Frustrierend wirkt auch, dass auf Parteitagen die Fähigkeiten zur analytischen Differenzierung eines Sachverhaltes nicht gerade als conditiones sine qua non gefragt sind, sofern sich daraus keine Munition gegen den politischen Widersacher oder den missliebigen innerparteilichen Flügel herstellen lässt. Wenn der Gescheite etwas sagen will - gut; wenn nicht: auch gut. Daneben gibt es aber auch den Typus des jugendlichen politische Talents, das durchaus kritisch und intelligent in die (Partei-)Politik einsteigt und dort auf Grund günstiger Umstände auch rasch Karriere macht, indem es ζ. B. ein Landtags- oder Bundestagsmandat erringt, dabei wesentliche Etappen der Ochsentour überspringend. Der Jungpolitiker mit Ende Zwanzig / Anfang Dreißig wird dann Berufspolitiker (meist haftet ihm das Prädikat „politisches Talent" zu lange an, bis es sich ins Gegenteil verkehrt), ohne dass seine berufliche Entwicklung abgeschlossen wäre. Bleibt seine Partei in der Opposition, wird die Ochsentour auf schmerzliche Weise nachgeholt, denn eine (bescheidenere) politische Karriere lässt sich nunmehr nur noch in der Fraktion machen, falls nicht der Regierungschef eines Bundeslandes auf ihn aufmerksam wird. Gleichzeitig verliert er den Anschluss an die für seinen Beruf relevanten Entwicklungen, was ihn wiederum an sein Mandat kettet, um das er nun mit allen Mitteln kämpfen muss und das ihn nun erst recht in seine Rolle als Berufspolitiker zwingt. Ziemlich rasch beginnt für den talentierten Jungpolitiker die Phase der Stagnation, nicht nur Stagnation der Karriere, sondern auch Stagnation der personalen Entwicklung. Erstes Fazit, das zumindest für die großen Volksparteien gilt: Die bestehenden Kriterien für die Auswahl und Heranbildung von Führungseliten funktionieren innerparteilich formal und organisatorisch befriedigend, vom Ergebnis her gesehen hingegen nicht, wobei, wie erwähnt, vorerst niemand zu sagen wüsste, welches Verfahren das bestehende und praktizierte ablösen könnte oder sollte. Und doch sollten, ja müssten geeignetere Rekrutierungsverfahren entwickelt werden. Dies läge nicht nur im Interesse des Staates, sondern auch der Parteien selbst, denn das Reservoir an politischen Begabungen ist bereits in der Mitgliedschaft

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größer, als durch die bestehenden Auswahlverfahren ausgeschöpft werden kann. Diese Verfahren sind nicht in der Lage, die wirklich Besten zu ermitteln. Vermutlich war bereits die Athener Demokratie nicht (immer) in der Lage, im Wortsinne die „aristoi", die Besten wie Perikles oder Militiades, zu ermitteln und in die entscheidenden Ämter zu bringen (abgesehen davon, dass Frauen weder das aktive noch passive Wahlrecht hatten und auf der agora auch nicht das Wort ergreifen durften). Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass häufig eben Blender und Populisten wie etwa Alkibiades Zustimmung fanden. Die bestehenden Kriterien, Ansprüche, Bedingungen und Sachzwänge für die Vergabe von Parteiämtern und Funktionen - Voraussetzung für die Vergabe der meisten politischen Ämter - schrecken politische Köpfe und Begabungen eher ab. In fast allen Ortsvereinen / Ortsverbänden ließen sich Leute finden, die vom Intellekt, Wissen, beruflichen Erfolg, politischem Denken und vom Charakter her qualifizierter wären als die Amtsinhaber. Seriöse politikwissenschaftliche Untersuchungen haben zu Tage gefördert, dass von den Abgeordneten der großen Volksparteien im Bundestag oder in den Landtagen etwa fünf, höchstens zehn Prozent das nötige Interesse und daher Engagement für ihr Amt aufbringen oder intellektuell-politisch seinen Anforderungen gerecht zu werden vermögen. Der große Rest wird als Hinterbänkler bezeichnet. Viele von diesen verfügen aber in ihren Wahlkreisen über erheblichen Einfluss; sie zählen dort zur Elite. In Berlin oder in der Landeshauptstadt blasse Typen, eben Hinterbänkler, verwandeln sie sich in ihrer Region in kleine Fürsten, die nicht nur in der Lokalpresse ständig präsent sind und ohne die wenig läuft. Den Prototypen des mächtigen Hinterbänklers verkörperte in den 60er und 70er Jahren der SPDBundestagsabgeordnete Hermann Schmitt-Vockenhausen. Zwar hatte er es in Bonn zeitweise zum Vorsitzenden des einflussreichen Innenausschusses gebracht, der federführend bei der Formulierung der Notstandsgesetze tätig war, doch strebte er in der Bundespolitik offenbar keine herausragenden Ämter an, sein Einfluss erwuchs ihm aus seiner dominierenden Stellung im Main-Taunus-Kreis und den umliegenden Gebieten. „HSV" hatte sich offenbar Gaius Iulius Caesar zum Vorbild genommen, der als kleiner Provinzstatthalter in Spanien bekannte: „Lieber in Sagunt der Erste als in Rom der Zweite". Er bekleidete etwa 30 diverse politische Ämter oder Funktionen, und ohne seine Zustimmung konnte westlich von Frankfurt a. M. kein Quadratmeter Straße geteert und kein Bundesverdienstkreuz verliehen, geschweige denn ein Bürgermeister nominiert und damit gewählt werden. Man darf davon ausgehen, dass die Hinterbänkler - ihrerseits in allen Parteien eine einflussreiche Gruppe, womöglich die einflussreichste - kein allzu großes Interesse daran haben, an den innerparteilichen Auswahlverfahren und -kriterien Grundlegendes ändern zu lassen, etwa zu dem Zweck, das politische Intelligenzpotenzial, das in der Partei vorhanden ist, auch auszuschöpfen. Die Maßstäbe für politische Qualifikation würden ja nur höher gelegt. Nur in Ausnahmefällen hat es sich bisher eine Bundesparteiführung leisten können, auf die Parteigliederungen unterer Ebenen mit der Absicht einzuwirken, eine ihr als profiliert erscheinende Persönlichkeit, die als Parteimitglied über die Ochsentour keine Chance hätte, als

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„Seiteneinsteiger" für eine Bundestags- oder Landtagskandidatur zu nominieren vorbei an der Warteschlange der auf der Ochsentour Befindlichen. Ausnahmen waren und sind möglich, vor allem dann, wenn Wahlkreise aus irgendwelchen Gründen frei werden. Ansonsten wäre ein Aufstand an der Basis die Folge. Als Beispiele wären in diesem Zusammenhang der renommierte Ökologe Ulrich von Weizsäcker und der stellvertretende IG-Metall-Vorsitzende Walter Riester zu nennen, die 1998 ohne Ochsentour in den Bundestag einzogen. Der Seiteneinsteiger bleibt aber die Ausnahme. In der Regel stellt ein Bundeskanzler oder ein Länder-Ministerpräsident sein Kabinett zusammen, in Kooperation mit der Partei- und Fraktionsspitze. Dabei muss der Regierungschef schon über ein erhebliches Maß an unumstrittener Autorität verfügen, wenn er bei der Auswahl der Regierungsmitglieder das entscheidende letzte Wort behalten will. Abermals zeigen historische Beispiele, dass Seiteneinsteiger meistens „Treffer" waren, d. h. sich bewährt haben. Der schon legendäre politische Erfolg des hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn wäre nicht denkbar ohne die Berufung der Minister Hemsth (Finanzen) und Schütte (Kultus). Der Widerstand in Partei und Fraktion der SPD gegen diese „selbstherrliche" Entscheidung Zinns war seinerzeit erheblich, auch die Berufung Ludwigs von Friedeburg zum Kultusminister fand nicht den ungeteilten Beifall. Auch die frühere Pädagogikprofessorin Rita Süssmuth wird heute als Glücksfall verbucht, sogar noch innerhalb der CDU. An ihr und an den anderen Seiteneinsteigern werden mehrere Aspekte deutlich, die diese Form der Berufung in politische Amter als wünschenswerte, ja notwendige Alternative zur bestehenden Praxis erscheinen lassen. Da ist zum einen ein meist erhebliches Maß an „innerer" Unabhängigkeit zu erwähnen, ein Charakteristikum, das als Grundvoraussetzung für Souveränität gelten kann. Der Seiteneinsteiger hat nicht die psychischen Beschädigungen davongetragen, die vor allem der Berufspolitiker während der Ochsentour, seiner politischen Sozialisation, davonträgt, zumal wenn er mit jungen Jahren an ein Abgeordnetenmandat gekommen ist. Der Seiteneinsteiger kann mächtigen Fraktionschefs, Parteivorsitzenden, Ministern oder gar dem Regierungschef schon mal widersprechen und eine abweichende Meinung auch zur Mehrheit der Partei äußern. Er kann es sich leisten, weil er unabhängig ist und sich mögliche Sanktionen für Renitenz in Grenzen halten. Sie zerstören oder bremsen seine beruflichen Perspektiven nicht und tangieren auch sein Selbstwertgefühl, seine Identität als Persönlichkeit, weniger. Meistens hat er mit der Berufung in ein politisches Amt ohnehin auf ein weitaus höher dotiertes Einkommen, zumindest aber auf eine sichere Position verzichtet und sich voll auf die Risiken, aber auch auf die Faszination des politischen Amtes eingelassen. Der frühere SPD-Bundesfinanzminister Alex Möller konnte als Bankier, der ehemalige SPD-Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller als Universitätsprofessor oder der Bundesverteidigungsminister Georg Leber als Gewerkschaftsführer weitaus souveräner agieren - und dann auch leichter zurücktreten, nachdem es (ihnen) angebracht erschien - als die meisten ihrer Nachfolger, die auch aus finanziellen Gründen am Amt klebten. Darüber hinaus bringt der Seiten-

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einsteiger neben seinem Fachwissen Methoden der Zusammenarbeit und der Entscheidungsfindung mit, die sich primär an der Sache orientieren, statt, wie im Rahmen einer Partei nicht selten der Fall, an allen möglichen Interessen ausgerichtet und letztlich auch mit der Bürokratie abgestimmt werden müssen. Er wird auf Effizienz und Erfolg seiner politischen Arbeit schon deshalb dringen, weil er normalerweise weder in der Partei noch in der Fraktion über eine nennenswerte „Hausmacht" verfügt, mit deren Hilfe Fehler, auch schwerwiegende, den fälligen Konsequenzen entzogen werden können. Seine politische Existenz beruht, zumindest in der ersten Zeit, nur auf seiner fachlichen Kompetenz. Das Fehlen einer innerparteilichen und innerfraktionellen Hausmacht kann freilich für den Seiteneinsteiger auch zum Problem werden. Nicht jeder verfügt über die Robustheit, sich durchzusetzen oder sich innerfraktionelle Mehrheiten von Fall zu Fall zu verschaffen. Auch hier zeigt die Vergangenheit, dass es zwar fachlich qualifizierte Seiteneinsteiger gegeben hat, die aber isoliert blieben und die Formulierung der Politik, ja sogar die erfolgreiche „Vermarktung" der Ergebnisse gegenüber den Medien und der Öffentlichkeit anderen - Berufpolitikern - überlassen mussten. Das öffentliche Urteil lautet dann, sie seien blass geblieben. Das gilt für den früheren SPD-Bundeswohnungsbauminister Lauritz Lauritzen ebenso wie für den einstigen FDP-Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig oder den früheren Arbeitsminister Walter Riester. Allerdings kann der Seiteneinsteiger im machtpolitischen Kalkül auch missbraucht werden. Wenn sich etwa die Flügel einer Fraktion nicht auf einen Kandidaten für ein Ministeramt einigen können oder ein Regierungschef mächtige, aber kompetente Fachleute in der Fraktion aus welchen Gründen auch immer zügeln will, wird der Seiteneinsteiger zur Notlösung, die aber schwerlich Frieden stiftet, sondern die Spannungen in einer Fraktion und/oder der Parteiführung verstärkt. Trotz möglicher Solidarität durch den Regierungschef wird er dann kein Profil gewinnen können. Die Berufung des Gewerkschafters Riester hatte unter anderem die Funktion, den einflussreichen Sozialpolitiker und „natürlichen" Anwärter auf das Arbeitsminiterium, Rudolf Dreßler, auszubooten, mit dem Bundeskanzler Gerhard Schröder „nicht konnte". Obwohl Riester an der Desavouierung Dreßlers keinen Anteil hatte, blieb er „blass", zumal er in der Bundestagsfraktion über keine Hausmacht verfügte. In Staaten mit gering ausgeprägter Parteiidentität wie etwa in den USA wird von der Möglichkeit und den Chancen des Seiteneinstiegs viel häufiger Gebrauch gemacht. Gouverneure, Kongressabgeordnete oder Senatoren werden sogar relativ selten in hohe Staatsämter berufen, häufiger sind es erfolgreiche „Werktätige". Erfolgreiche Karrieren in Wirtschaft und Verwaltung finden ihre - endgültige oder meist sogar nur vorübergehende, aber in jedem Fall krönende - Fortsetzung in der Politik Das allgemeine Urteil neigt dazu, diese Praxis aus dem systemimmanenten Blickwinkel als äußerst erfolgreich zu bezeichnen. Fragezeichen sind allerdings angebracht. Die Berufung einflussreicher Industriekapitäne, Manager oder Banker in hohe politische Funktionen kann zu einer problematischen Verquickung von

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Politik und Wirtschaft führen, quasi zu einem legalisierten Verhältnis potentieller Korrumpierung. Die Industrie- und Wirtschaftslobby erhält direkten Zugang zur Staatsmacht. Auf verschiedenen Gebieten, am aktuellsten auf dem Gebiet der Rüstungs- und Sicherheitspolitik, hat dies bereits zu ernsten Befürchtungen geführt, formuliert von berufenem Munde: kein Geringerer als US-Präsident Dwight Eisenhower warnte 1959 leidenschaftlich vor dem „militärisch-industriellen Komplex", da nicht mehr die Politik, sondern Absatz- und Finanzinteressen die Rüstungspolitik bestimmten. Zweites Fazit: Solange die innerparteilichen Auswahlkriterien für die Rekrutierung des politischen Führungsnachwuchses und aktuell von Führungseliten nicht befriedigend funktionieren, ist die Praxis, Seiteneinsteiger zu berufen, ein dringend notwendiges Korrektiv. Sie hat sich bislang im Allgemeinen bewährt, auch wenn Fehlberufungen oder fragwürdige „taktische" Motive bei der Berufung nicht ausgeschlossen werden können. Da der - politisch unbelastete - Seiteneinsteiger meist ein hohes Maß ein Prestige und Glaubwürdigkeit mitbringt, täten sich die Parteien in Zeiten der Partei- und Politikverdrossenheit selber den größten Gefallen, dieses Reservoir an Kompetenz intensiver zu nutzen.

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Anton-Andreas Guha Diskussionsleitung: Karl-Peter Sommermann Von Marion Weschka Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann, Speyer, dankte zunächst dem Referenten für seine plastische Schilderung von Politikerkarrieren, bei der man sich fragen dürfe, ob sie tatsächlich nur eine Satire sei oder ob und inwieweit hier nicht die Wirklichkeit analysiert und vorgetragen worden sei. Anschließend kontrastierte er die von Dr. Anton-Andreas Guha, Frankfurter Rundschau, genannten Eigenschaften für eine Politikerkarriere, die teilweise noch nicht einmal als Sekundärtugenden zu bezeichnen seien, mit den von Max Weber als Voraussetzungen für einen Berufspolitiker angefühlten Tugenden. An erster Stelle nenne Max Weber die Leidenschaft in der Sache. Als zweiten Punkt führe er Verantwortungsbewusstsein an, worunter auch die Bereitschaft falle, Verantwortung für politische Entscheidungen zu übernehmen. Der dritte Punkt, der im vorliegenden Kontext der wichtigste sei, sei das Augenmaß. Der Politiker müsse sowohl Distanz zu den Dingen haben, über die er zu entscheiden hat, als auch Distanz zu Personen und Distanz zu sich selbst. Demzufolge sei die schlimmste Sünde für einen Politiker Eitelkeit oder Machtgier. Diese von Weber angeführten Rationalitätskriterien stehen nach der Analyse von Sommermann den von Guha genannten Eigenschaften diametral entgegen. Nach diesen einleitenden Worten eröffnete Sommermann die Diskussion. Prof. Dr. Erhard Lange, Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Brühl, ergänzte die Ausführungen von Guha, der vor allem individuelle Faktoren, die zum Politiker befähigen, in den Vordergrund gerückt habe, um den Aspekt der Milieubindung. Seiner Ansicht nach spiele diese für viele Politiker eine ganz wichtige Rolle, die sich von Jugend an durch das ganze Leben hindurchziehe, wogegen Herausforderungen durch andere Milieus nur eine geringe Rolle spielten. So seien viele Politiker bereits vom Elternhaus vorgeprägt, suchten sich ihre Jugendfreunde sehr stark unter Jugendlichen in ihrem politischen Milieu und engagierten sich in Schülergruppen. Diese Milieubindung setze sich auch bei der Berufswahl fort, so dass man sich ζ. B. im Studium einen Professor suche, der dem eigenen politischen Lager nahe stehe, dort auch promoviere und für die Promotion häufig ein parteinahes Thema wähle. Als Jurist absolviere man seine Anwaltsstage bei einem parteinahen Anwalt. Dies gehe bis zur Wahl des Ehepartners, der auch häufiger parteinah gesucht werde, als dies bei anderen Personen der Fall sei. Lange wertete diese

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Milieubindung als wesentlichen Aspekt, der zu einer gewissen kritiklosen Haltung innerhalb der Partei führe, da Herausforderungen dadurch, dass man in andere Milieus hingeworfen werde, bei Politikern häufig nicht die Rolle spielten wie bei anderen Menschen, bei denen sich Milieuerfahrungen viel stärker mischten. Im Anschluss daran kritisierte Siegfried Lessing, Unternehmer, Obersulm, dass Guha nur die großen Parteien erwähnt habe, während die Grünen, die PDS und die FDP außer Acht gelassen worden seien. Die Grünen seien jedoch interessant, da sie keine Kaderstrukturen hätten. Die Strukturen, die Guha erwähnt habe, trügen dazu bei, dass weniger Demokratie und Transparenz zustande komme und dass die einzige echte Öffentlichkeit die Presse sei. Gegen diese richtete sich auch die Hauptkritik von Lessing. Die Presse trage eine wesentliche Mitschuld an den intransparenten und undemokratischen Verfahrensweisen der Parteien. Ein Journalist, der nicht immer wieder ans kalte Buffet eingeladen werde, werde von der Politik - wenn er nicht ohnehin schon eine Persönlichkeit darstelle - schlicht ignoriert. Es stelle sich also die Frage, was man tun könne, um dies zu ändern. Von Prof. Dr. Peter Bareis, Hohenheim, wurde unter Zugrundelegung der Analyse von Guha die Frage aufgeworfen, warum es keine Partei gebe, die - wie es bei Unternehmen üblich sei - die Chance nutze, um leistungsfähiges Personal zu rekrutieren und damit Wahlen zu gewinnen. Vigdis Nipperdey, Vorsitzende des Hochschulrates der TU München, Icking, stellte als langjähriges Parteimitglied amüsiert fest, dass Guhas Satire der Wirklichkeit sehr nahe komme. Sie selbst sei auch nicht gerade ein Erfolgsmodell als Mitglied einer politischen Partei, da ihr dafür eine Reihe von Tugenden, wie z. B. viel zu reden, ohne eine eigene Meinung zu haben, fehle, und man ohne diese Eigenschaften in einer Partei nichts werden könne. Ihr Hauptanliegen lag jedoch in einer Warnung davor, den Seiteneinsteiger zu einer Lösungsmöglichkeit aufzuwerten. Ihrer Einschätzung nach habe der Seiteneinsteiger, der Substanz, eine gewisse intellektuelle Fähigkeit und weitere Dinge mitbringe, die beim normalen politischen Personal einer Partei nicht vorkommen, heutzutage weniger Chancen in einer Partei als dies je in der Geschichte der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland der Fall gewesen sei. Der Grund dafür sei bei den Delegierten zu suchen, da die innerparteilichen Regeln die Rekrutierung des Personals durch Delegiertenversammlung und entsprechende Wahl vorsehen. Früher hätten die Parteioberen bei dieser Gelegenheit noch Tipps geben können, so dass es auch eine nicht sehr öffentlichkeitswirksame Figur habe schaffen können, als Fachmann in das Spektrum der Abgeordneten einzurücken. Diese Zeiten seien jedoch vorbei, da das Selbstbewusstsein der Delegierten enorm gestiegen sei. Es gehe keineswegs um die Auswahl der Besten, sondern nur um die Auswahl der Gleichen. Das Spektrum der Delegierten, die ziemlich homogen eine bestimmte Schicht und einen gewissen Zusammenhang repräsentierten - hier könne sie der zuvor genannten Milieuthese nur zustimmen - solle möglichst genau auch bei denen, die sie zu wählen haben, also bei den künftigen Abgeordneten, widergespiegelt werden. Es werde immer schwieriger, Leute, die den falschen Stallgeruch haben, in diesem Parteien Spektrum in

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irgendeiner Form zum Erfolg zu bringen. Dies sei ihrer Ansicht nach bei allen großen Parteien so, könne bei den Grünen aufgrund ihrer Geschichte jedoch anders sein. Die Zukunft liege jedenfalls nicht beim Seiteneinsteiger. Wo die Zukunft liege, könne sie zwar auch nicht sagen, aber so lange die bürgerlichen Schichten nicht einer Partei angehörten sondern eher stolz darauf seien, dass dies nicht der Fall sei, werde sich dies nicht ändern. Prof. Dr. Martin Morlok, Hagen, stimmte zwar sowohl Guhas Beschreibung als auch dessen Kritik zu, wollte aber dennoch eine gegenläufige Sicht vertreten. Die beschriebenen Phänomene seien nämlich nicht nur negativ zu sehen, sondern vielmehr notwendige Begleiterscheinungen eines Politikbetriebes, wie er in einer komplizierten Gesellschaft notwendig, ja unvermeidlich sei. So wie alles andere werde auch die Politik bei uns spezialistisch betrieben, so dass kein Weg an Spezialisten für die Politik vorbeiführe. Unter diesen Voraussetzungen müsse das Handwerk der Politik auch gelernt werden. Die Stichworte „Ochsentour" und „Stallgeruch" seien bezeichnend dafür, dass jemand das Handwerk gelernt habe, was auch seine Zeit brauche. Auf Guhas Kritik daran, dass Wahlen ausgekungelt werden, entgegnete er, dass es naiv sei, irgendetwas anderes anzunehmen. Eine Mehrheit von 50 % plus einer Stimme falle eben nicht vom Himmel, sondern müsse organisiert werden, indem Interessen getauscht werden, seien es Sachinteressen oder Interessen personeller Art. All dies werde in langen Jahren gelernt, und die Bezeichnung als Kungelei verkenne, dass dies zur notwendigen Logik einer Mehrheitsentscheidung gehöre. Seiteneinsteiger hätten vielleicht interessante persönliche Eigenschaften, ihnen fehle jedoch die Hausmacht. Man mache es sich zu leicht, wenn man verkenne, dass auch Politik unausweichlich spezialistisch betrieben werden müsse. Die eigentliche Frage sei, wie man die Folgekosten einer spezialisierten Politik vermeiden könne, die spezialisierte Politik selbst vermeiden zu wollen, sei dagegen naiv. Auf die zuvor gestellte Frage von Bareis Bezug nehmend, die genau in diese Richtung gehe, vertrat Morlok die Ansicht, dass es kein Zufall sei, dass nicht eine Partei antrete, die völlig anders sei. Auch bei den Grünen könne man sehen, wie sich allmählich Strukturen herkömmlicher Parteien einschlichen, da es eine Art Sachlogik gebe, die für diese Strukturen spreche. Von den angesprochenen Themen griff Guha zunächst den Beitrag von Lange auf und bestätigte dessen Ausführungen zur Milieubindung. Es handele sich dabei jedoch um ein allgemeines soziales Phänomen. Gesellschaftliche Gruppen, wie ζ. B. Adel, Großbürgertum, Handwerker und Bauern, die sich durch bestimmte Strukturen und Verhaltensweisen, wie ζ. B. Herkunft und Tradition, auszeichneten, verhielten sich eben so. Innerhalb dieser Milieus vollzögen sich dann natürlich auch Karrieren und berufliche Entscheidungen. Die Sozialisation spiele auch in einer offenen Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Auch hier bestimme die Sozialisation Berufswahl, Verhaltensweisen, usw. In den Parteien sei dies nicht anders. Vor Lessing rechtfertigte Guha seine Konzentration auf die großen Parteien damit, dass diese den entscheidenden Einfluss hätten, und wenn es gelänge, die Rekrutierung von politischem Nachwuchs anders zu gestalten, voraussichtlich auch eine

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Vorbildfunktion übernähmen. Volle Unterstützung durch Guha fand jedoch das von Lessing angerissene Problem der unseligen Symbiose von Politik und Presse. Es sei erschütternd, wie sich Journalisten durch die Ankündigung von Statements und Interviews und durch diskrete Abende bei Wein und Bier in irgendwelchen Vertretungen in Bonn bzw. Berlin, aber auch auf regionaler Ebene einbinden ließen. Das Angewiesensein auf Informationen, die dem beruflichen Fortkommen dienen, führte zur Aufgabe der journalistischen Unabhängigkeit und sei die Ursache dafür, dass ein stillschweigender politischer Konsens entstehe, der sich auch in der Berichterstattung der Presse zeige, wo über Politiker nichts Negatives geschrieben werde. Als aktuelles Beispiel führte Guha die Kriegsberichterstattung an. Es stehe unter Fachleuten absolut fest, dass die modernen Waffen ein Opferverhältnis von zehn getöteten Zivilisten zu einem getöteten Soldaten hervorrufen. Trotzdem glaube man, einen Krieg mit dem Hinweis legitimieren zu können, bei einer militärischen Intervention würden chirurgische Schläge ausgeteilt, die nur Militäreinrichtungen träfen. Dies sei jedoch aufgrund der Wirkung der Waffen nicht möglich. Wenn man für eine militärische Intervention sei, müsse man diese Relation von zehn zu eins in Rechnung stellen. Dies alles wüssten zwar die Fachleute, aber durch die Vermittlung der Politik erschienen diese Informationen nicht in der Presse. Guha forderte, diese Symbiose von Politik und Presse aufzuheben, gestand aber gleichzeitig ein, dass er keine Chance dafür sehe. Zur bereits von Frau Nipperdey beantworteten Frage von Bareis, warum die Parteien kein leistungsfähiges Personal rekrutierten, ergänzte Guha, dass die Parteiführungen es sich nicht leisten könnten, Seiteneinsteiger zu rekrutieren. Dies sei in den momentanen Strukturen nicht möglich und könne - wenn überhaupt - nur gelingen, wenn sich die Presse stärker dafür einsetzte. Im positiven Sinne habe er bereits das Beispiel Zinn erwähnt, der qualifiziertes Personal von außen, aus Nordrhein-Westfalen, Bayern, usw. bis hinunter auf die Ministerialdirigentenebene geholt habe, sowie die Vorzeigeminister Schütte und Hemsath, deren Struktur- und Finanzpolitik Hessen als Flächenstaat seine zusammen mit anderen Ländern führende Stellung in sozialer, struktureller und ökonomischer Hinsicht verdanke. An Morlok gewandt nahm Guha im Hinblick auf die Spezialistenfrage auf sein Militärbeispiel Bezug und ergänzte dies um das Beispiel der Fachleute in der Umweltpolitik. Er könne darüber hinaus eine ganze Reihe von Beispielen nennen, in denen sich Spezialisten gerade deshalb, weil sie Spezialisten seien, nicht durchsetzen könnten. Dies sei wie in der Evolution: Solange die Umwelt gut sei, fühle sich der Spezialist wohl und habe ein gutes Einkommen. Die Umweltbedingungen dürften sich jedoch nicht ändern, sonst sei der Spezialist wirklich sehr bedauernswert. Wenn der Spezialist nicht nachgefragt werde, sei er als Politiker erledigt, kaltgestellt und habe nichts mehr zu sagen. Es sei ein Irrtum zu glauben, die Spezialisten hätten auch dann, wenn sie nicht nachgefragt würden, politische Wirkung, nur weil sie Spezialisten seien. Von Arnim zog das Resümee, dass Guhas Satire zwar von allen Diskussionsteilnehmern als sehr real angesehen worden sei, dass jedoch ebenso bei allen Beteiligten eine gewisse Ratlosigkeit herrsche im Hinblick auf die Frage, wie dieser Zu-

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stand verändert werden könne, und Morlok habe sogar ausgeführt, man könne ihn gar nicht verändern, denn das Ganze habe System. Das sei jedoch genau der springende Punkt. Nach von Arnims Ansicht müsse eben das System verändert werden, ζ. B. das Wahlrecht. Man könne die innerparteiliche Rekrutierungsweise wahrscheinlich nur dadurch verändern, dass man Kräften außerhalb der Parteien mehr Einfluss gebe, was zum einen von unten geschehen könne, indem man das Wahlrecht verändere. Frowein habe ja bereits die Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens angesprochen. Interessant seien auch die Direktwahlen der Bürgermeister, die es in Bayern und Baden-Württemberg immer schon gab. In einer empirischen Analyse von Wehling und Siebert zeige sich, dass die Bürger hier typischerweise eine gelungene Mischung aus politischem Charisma und aus Spezialisten mit Fachverstand wählten. Der direkt gewählte Bürgermeister sei - von Ausnahmen abgesehen - ein Erfolgsmodell, das inzwischen auch von den anderen Bundesländern übernommen wurde. Dort gebe es zum Teil zwar noch nicht so gute Erfahrungen, das Modell müsse sich jedoch erst einmal einspielen. Demnach könne sich - so von Arnims Gegenthese - von unten über direkten Einfluss der Bürger eine Verbesserung der Rekrutierung ergeben. Dies sei außerdem auch von oben möglich, wenn die Ministerpräsidenten oder die Regierungschefs auf Bundesebene mehr von der Möglichkeit Gebrauch machten, auch die sog. „Seiteneinsteiger", also auch Leute, die nicht die „Ochsentour" durchlaufen haben, ins Kabinett hineinzunehmen. Von den beiden Referenten Frowein und Guha sei zwar gesagt worden, dass es sich dabei nur um Ausnahmen handele, dies sei aber nicht richtig. Eine an seinem Lehrstuhl durchgeführte empirische Untersuchung habe ergeben, dass fast die Hälfte der Regierungsmitglieder im Bund und in den Ländern kein Abgeordnetenmandat hätten, so dass die Regierungschefs also nicht unter dem Druck ihrer Fraktionen Fraktionsmitglieder gewählt hätten. Große Teile, manchmal sogar die Mehrheit der Regierungen, hätten kein Abgeordnetenmandat, und dies gelte nicht nur für die Länder, wo die Kopplung von Amt und Mandat verboten sei, wie in Hamburg und Bremen. Die Frage sei also, ob man nicht das System ändern müsse durch Wahlrechtsänderungen und mehr Direktwahlen, und ob man nicht den Ministerpräsidenten Mut machen müsse, mehr qualifizierte Leute von außen zu rekrutieren. Abschließend nahm Guha nochmals zu von Arnims Anregungen Stellung, indem er an der Möglichkeit zweifelte, allein schon durch Wahlrechtsänderungen das System zu verändern. Es sei jedenfalls erforderlich, das Grundgesetz zu verändern, und ob dies mit den bestehenden politischen Konstellationen möglich sei, könne er nicht beurteilen. Außerdem sei es problematisch, Kräften außerhalb der Parteien in Konkurrenz zu den Parteien mehr Gewicht zu geben oder Kräfte von außen in die Parteien hineinzuholen, denn schließlich seien die Parteien vom Grundgesetz her dazu berufen, an der politischen Willensbildung mitzuarbeiten und niemand sonst sei dazu legitimiert. Man müsse also - jedenfalls nach seinem Verständnis - andere Legitimationskriterien und Verfahren einführen, wenn man in Konkurrenz zu den Parteien außergesellschaftliche Kräfte für die politische Willensbildung heranzie-

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hen wolle. Mit der Direktwahl von Bürgermeistern und Oberbürgermeistern habe er in Langzeitbeobachtungen und aufgrund seiner empirischen Kenntnisse auch negative Erfahrungen gemacht, weil immer wieder von charismatischen Oberbürgermeistern Eigenschaften erwartet würden, die sich nur unter dem Stichwort Populismus zusammenfassen ließen. Charismatische und erfolgreiche Bürgermeister seien auch nicht immer die besten gewesen, die es tatsächlich geschafft hätten, Strukturen zu verändern. Außerdem könne auch die Bevölkerung nicht immer unterscheiden, ob Charisma, Kumpelhaftigkeit und Volksnähe auch etwas mit Durchblick, Energie, Durchsetzungsfähigkeit und gesellschaftspolitischer Kompetenz zu tun hätten. Die Direktwahl der Bürgermeister sei allerdings durchaus eine diskutierenswerte Möglichkeit. Bezüglich der von von Arnim angeführten empirischen Studie über Nicht-Mandatsträger im Kabinett als Beweis für den Erfolg von Seiteneinsteigern berichtigte Guha, dass er natürlich nicht gemeint habe, dass nur Politiker mit Abgeordnetenmandat in die Regierung berufen werden, sondern dass es sich in aller Regel um Parteifreunde handele. So habe ζ. B. Hans Eichel kein Mandat, sei aber trotzdem Bundesfinanzminister und gehöre zu dem Typ von Politikern, die den Stallgeruch haben müssten und insofern natürlich auch keine Seiteneinsteiger seien. Sommermann schloss die Diskussion mit dem Dank an den Referenten für die Präzisionen und den stimulierenden Vortrag und dankte auch den Diskussionsteilnehmern für die rege Beteiligung.

Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid, Kumulieren und Panaschieren auf Bundesebene?1 Von Gerald Häfner

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ergebnis meines Vortrags steht gewissermaßen schon im Titel. Ich will mit Ihnen zusammen versuchen einen Weg dorthin zu beschreiten. Zunächst einmal: Wer die Demokratie stärken will, wer gar mehr Demokratie möchte in unserem Land, der steht immer in der etwas merkwürdigen Situation, dass er begründen soll und muss, warum. Und dass er vor allen Dingen dann in diesen Begründungen belegen muss, so jedenfalls erlebe ich die Diskussion etwa im Deutschen Bundestag, warum dies zu erheblich besseren Politikergebnissen führen und negative Folgen dabei auf keinen Fall zu befürchten seien. Wobei mit besseren Politikergebnissen die Gesprächspartner in der Regel meinen, dass dasjenige, was sie selbst wollen, sich politisch im Ergebnis auch durchsetzt und mit Nachteilen in der Regel meinen, dass sich etwas anderes durchsetzen könnte als das von ihnen für richtig Gehaltene. Schon dies ist ein etwas merkwürdiger Zugang zur Idee der Demokratie. Aber eben auch etwas, was die Diskussion dann in der Praxis schwierig macht. Ich möchte mich hier deshalb heute bemühen, nicht auf dieser Ebene zu argumentieren, auch nicht so sehr empirisch, sondern ich möchte den Versuch machen, einen etwas anderen Weg zu beschreiten, einen etwas grundlegenderen Weg zum Thema. Zunächst einmal meine ich, dass man Demokratie nicht nur unter Praktikabilitätsgesichtspunkten beurteilen darf. Auch wenn die Demokratie auch in dieser Hinsicht langfristig mit Sicherheit unschlagbar ist, das lässt sich meines Erachtens zeigen, so ist dies doch nicht der zentrale, nicht der übergeordnete Gesichtspunkt. Ich meine, dass es gewichtigere Gründe, dass es sogar anthropologische Gründe für die Notwendigkeit einer funktionierenden Demokratie gibt. Demokratie ist deshalb auch mehr als die beste aller schlechten Staatsformen. Sie ist meines Erachtens in einer Gesellschaft, die die Würde, die Freiheit und auch die Idee der prinzipiellen Gleichheit jedes Menschen anerkennt, die einzig mögliche Staatsform. Denn aus der Würde, aus der Freiheit und auch aus der Idee der gleichen Rechte jedes Menschen resultiert notwendig die Folgerung, dass an dem, was für alle verbindlich gelten soll, auch alle der Möglichkeit nach beteiligt sein müssen. Das heißt, dass 1

Der Vortragsstil wurde bewusst beibehalten.

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nicht die einen über die anderen herrschen, sondern dass aus dem gemeinsamen Entschluss aller hervorgeht, was für alle verbindlich gelten soll. Menschliches Wissen, menschliches Bewusstsein und menschliche Gesellschaft verändern sich. Gesetze, Regelungen, die früher galten, müssen heute nicht mehr richtig sein. Wenn Sie sich zurückerinnern - das hat nun im Raum keiner mehr zu Lebzeiten erlebt, aber wir können es nachlesen - , dann war noch vor gut hundert Jahren das Wahlrecht etwas, was keineswegs allen Menschen zukam, es waren auch nicht alle Menschen gleich vor dem Recht, sondern da gab es durchaus Unterschiede und es dauerte lange, bis zum Beispiel Frauen ebenso wie Männer mitwählen und abstimmen durften. Oder, wenn Sie sich zurückerinnern, es ist kaum ein Vierteljahrhundert her, dass zum Beispiel Homosexualität strafbar war. Heute empfinden wir das überwiegend, die Rechtsordnung jedenfalls sieht es so, als etwas, was in den Bereich der persönlichen Lebensführung gehört und keinen Strafanspruch des Staates begründet. Man könnte das in vielen Bereichen weiterführen. Das heißt, dass das, was Recht ist und dass das, was für alle gelten soll, sich ständig weiterentwickeln muss mit den Menschen. Und eine Demokratie ist so leistungsfähig wie sie dieses schafft und sie ist so schwach, so fragil, so gefährdet, wie sie vor dieser Aufgabe versagt. Natürlich gilt auch, dass die Demokratie selbst nie fertig, nie an ihrem Ziel ist, sondern es geht bei der Demokratie um eine ständige Annäherung an ein Ideal, das nie vollständig wird erreicht werden können. Gerade deshalb aber ist es nötig, sie immer wieder zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Ich möchte einen nächsten Gesichtspunkt ansprechen. Zwei große, zwei dominierende Trends bestimmen meines Erachtens die politische Entwicklung gegenwärtig, und zwar weltweit. Das eine ist das, was man - das auszuführen bleibt mir jetzt schon aus Zeitgründen versagt - schlagwortartig zusammenfassen kann unter dem Begriff der Individualisierung. Und das zweite ist das, was man unter dem Begriff der Globalisierung zusammenfassen kann. Beides könnte große Chancen für die Demokratie beinhalten. Beides ist aber zunächst einmal und vor allem eine Gefahr für die Demokratie und zwar dann, wenn Demokratie sich unter den aktuellen Bedingungen nicht verändert. Der erstgenannte Gesichtspunkt, also die Individualisierung, führt dazu, dass gewachsene Strukturen, Milieus, immer mehr zerfallen. Milieus, aus denen Demokratie und demokratische Institutionen sich in einem großen Maß rekrutiert und gespeist haben. Familie, Nachbarschaft, Kirche, Religion und Schichtzugehörigkeit, all das war früher von weitaus entscheidenderer Bedeutung als heute und es ist interessant und wichtig festzustellen, dass unsere politischen Parteien als die zentralen Institutionen zur Verteilung von Macht und Entscheidungsmöglichkeiten im politischen Bereich ganz und gar auf diesem eben geschilderten Element fußen. Die Idee der Partei ist eben ursprünglich die eines Zusammenschlusses von prinzipiell gleichgesinnten, der Herkunft, der Struktur, der Denkungsweise nach Menschen mit gleichen oder relativ gleichgerichteten Interessen, um diese Interessen besser und erfolgreicher durchsetzen zu können. Sie können allen unseren Parteien

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diese Herkunft aus bestimmten Milieus noch deutlich ansehen, sie können das auch historisch studieren. Diese Idee der Partei als parce, also Teil der Gesellschaft, der seine Interessen gegen die anderer Teile der Gesellschaft durchsetzt, erodiert immer mehr und sie erodiert notwendigerweise. Denn die Menschen fühlen sich immer weniger solchen traditionellen Schichten, Milieus, Gruppen zugehörig, sondern, und das ist ein Zug dieser eben genannten Individualisierung, die Menschen bewegen sich immer mehr aus solchen Zusammenhängen heraus und suchen ihren Standort nicht nur im Leben, sondern auch in der Gesellschaft, auch im Bewusstsein und im Denken zunehmend selbst. Das heißt, dass das, was früher lange Zeit galt, also einmal Sozialdemokrat, immer Sozialdemokrat oder katholisch aufgewachsen - gerade in dem Landstrich, dem ich entstamme - , deswegen immer schon CSU gewählt, dass das schon in der Gegenwart nicht mehr gilt und für die Zukunft immer weniger Bedeutung haben wird. Heute wählt die katholische Jugend überwiegend ODP oder Die Grünen und heute wählen Menschen, die bei der letzten Wahl SPD gewählt haben zwischendurch Schill oder andere. Das ist jetzt immer nur sozusagen beispielhaft gemeint, das heißt, diese mehr kollektivistisch organisierte Form von Demokratie ist für die Zukunft weniger und weniger tragfähig. Das betrifft nicht nur das Wahlverhalten, sondern das gilt insbesondere für das Problem, über das Herr Guha heute morgen ja auch schon gesprochen hat, nämlich für die Frage der Rekrutierung von politischem Personal. Vor allem, wenn Sie junge Menschen anschauen, dann haben die immer weniger Lust auf diese Milieus, in die man sich begibt, wenn man traditionellen oder auch jüngeren Parteien beitritt. Sie haben auch immer weniger Lust, jede Woche einen Abend oder jeden Monat zwei Abende damit zu verbringen, in irgendeinem Ortsverband zu sitzen und dann möglicherweise einen Kassierer zu wählen. Übrigens, Herr Guha, an dem Punkt glaube ich, dass die Literatur zum Teil revidiert werden muss. Das Plakatekleben ist nicht mehr überall notwendiger und selbstverständlicher Bestandteil der Ochsentour, denn selbst dazu finden die Parteien häufig kein eigenes Personal mehr. In der Regel werden heute Plakate von dafür bezahlten Firmen geklebt. Es ist leichter, das Geld dafür einzusammeln und eine Firma zu beauftragen, als die Menschen zu finden, die mit Begeisterung nachts mit dem Kleisterpinsel herausfahren und dort diese Sperrholzwände beschmieren, um dann ihre Parteikollegen dort für die nächsten Monate draufzukleben. Also, was eine bestimmte Generation noch als ganz selbstverständlich empfunden hat, das versteht eine jüngere Generation immer weniger. Und das heißt, dass wir eben auch bei der Rekrutierung von Personal in Parteien, und zwar quer durch alle Parteien, das Problem beobachten, dass immer weniger Menschen sich solchen Gemeinschaften dauerhaft anschließen möchten. Gerade bei jungen Menschen ist es so, dass sie - und das zeigen die einschlägigen Untersuchungen - oftmals durchaus in hohem Maße informiert, durchaus auch politisch interessiert sind, aber keinerlei Neigung zeigen, einer Partei beizutreten, sondern viel eher das Interesse haben, punktuell, da wo es sie interessiert, da wo es ihnen wichtig ist, sich einmal für eine begrenzte Zeit wirklich massiv zu engagie4 von Arnim

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ren, sei es zum Thema Klima, sei es zum Thema direkte Demokratie oder zu anderen Themen, aber eben nicht einem Verein beizutreten, der dann seinerseits nach Jahren jemanden benennt, der dann wieder seinerseits an anderer Stelle irgendwann einmal über politische Fragen mitreden und mitentscheiden kann. Das heißt, dass alles das, was darauf basiert, und das tut eben vor allem unser Parteiwesen und das darauf gegründete Wahlrecht in Deutschland in hohem Maße, dass Menschen sozusagen gruppenzugehörig sind und diese Gruppen dann wiederum im Parlament repräsentiert sind und unter sich das ausmachen, was für das Land gelten soll, dass dies notwendigerweise und berechtigterweise mehr und mehr an ein Ende kommt. Ich will zu dem zweiten Punkt Globalisierung nicht so lange ausführen wie zu dem ersten, sondern nur in ganz wenigen Stichworten dazu etwas sagen. Auch die Globalisierung ist eine Gefahr für Demokratie und politische Institutionen so, wie wir sie gegenwärtig kennen und betreiben, also nicht notwendigerweise, sondern in der bestehenden Form und in bestehenden Verfahren. Die enorme Dynamik und Macht der Ökonomie drängt die Politik mehr und mehr in die Defensive. Immer mehr Fragen werden in Gremien entschieden, in denen die Bürger nicht vorkommen oder die nicht oder bestenfalls nur sehr indirekt demokratisch legitimiert sind. Auch das kann die Demokratie aushöhlen. Und auch hier besteht deshalb eine enorme Gestaltungsaufgabe für die Weiterentwicklung der Demokratie, auch über die nationalen Grenzen hinaus. Ich will das aber nur andeuten und ebenfalls andeutend einen dritten Problempunkt benennen. Das ist die mediale Inszenierung von Politik oder die Rolle von Medien insgesamt. Auch hier sehe ich eine tendenzielle Gefährdung von Demokratie. In den Medien finden politische Debatten sehr zeitnah statt. Sie können praktisch jeden Abend eine, ja sogar mehrere Talkshows in den verschiedenen Fernsehkanälen verfolgen. Aber sie finden eben als mediales Ereignis statt, dem Sie lediglich in der Zuschauerrolle beiwohnen dürfen. Das heißt, Sie als Bürger sind dabei zur Ohnmacht verdammt. Und die Debatten werden nicht dort geführt, wo sie hingehören, also in politischen, in demokratisch legitimierten Gremien und Organen, etwa im Parlament, sondern sie werden eben im Fernsehen auf dem Bildschirm geführt und es entsteht mehr und mehr bei manchen Bürgern der Eindruck, jedenfalls ist das meine Angst dabei, es handle sich bei Politik um eine riesige Soap-Opera mit relativ illustren, oft aber eben auch sehr lauten, nicht immer gut erzogenen Menschen, die zwar die Rollen wechseln, aber im Grunde doch immer wieder die gleichen Akteure sind und die dann vor den Augen der Bürger untereinander diskutieren, was richtig wäre und was nicht. Zumal diese Sendungen sich auch, was die Auswahl des Personals und die Art der Fragestellung betrifft, außerordentlich beschränken auf bestimmte, festgelegte Ritualisierungen, Themen, Fragestellungen usw. Das heißt, wir stehen, wenn wir nicht wachsam sind, durchaus vor der Gefahr einer schleichenden Entdemokratisierung. Und wenn wir nichts verändern, wird diese Gefahr Wirklichkeit werden: Politik dann gewissermaßen als der Restbestand

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politischer Entscheidungen, der angesichts der realen Macht der Ökonomie und des Abwanderns fundamentaler Entscheidungskompetenzen an vorpolitische oder supranationale Instanzen noch verbleibt, ausgeübt und medial in Szene gesetzt von einer Schar von Zeitgenossen. Dem Bürger kommt die Rolle als Zuschauer zu, der alle vier oder immer öfter eben nur noch alle fünf Jahre die Möglichkeit hat, die Rollen unter den Akteuren teilweise neu zu verteilen, wobei die Akteure selbst aber weitgehend dieselben bleiben. Es gibt aber eben noch eine andere Option, nämlich die, die Demokratie so weiterzuentwickeln, dass sie genau diesen Trends etwas entgegensetzt, dass sie zeitgemäße Antworten auf die Grundfrage nach der Demokratie gibt. Und die Grundfrage nach der Demokratie ist ja im Artikel 20 des Grundgesetzes klar formuliert in dem knappen Satz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Die Frage ist, wie soll das geschehen? Das Grundgesetz gibt darauf zwei Antworten. Sie, also alle Staatsgewalt, wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Das sind die beiden Formen unmittelbarer Ausübung der Staatsgewalt durch die Bürger und durch besondere Organe, so heißt es dann weiter, der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung. Diese beiden, Wahlen und Abstimmungen, sind also die beiden Säulen, auf denen die Demokratie steht. Wenn Sie die anschauen, dann werden Sie relativ rasch feststellen: Abstimmungen zum Beispiel hat es bis heute auf Bundesebene nie gegeben. Dieser Satz im Grundgesetz ist bisher durch keinerlei politische Wirklichkeit oder Praxis gestützt. Und was die Wahlen betrifft, sind sie eben so geregelt, dass die Auswahlmöglichkeit der Bürger ausgesprochen gering bleibt und damit die Möglichkeit realer Veränderung sehr, sehr eingeschränkt ist. Denn was ist das Wesen der Wahl im Unterschied zu den Abstimmungen? Bei Abstimmungen geht es um Sachfragen, bei Wahlen geht es um Personen. Politik wird von Menschen gemacht. Nichts ist also bei den Wahlen wichtiger, als die richtigen Menschen zu finden. Die richtige Auswahl derjenigen Menschen, die da für einen politisch handeln und entscheiden sollen, die für eine bestimmte Zeit von vier oder bald fünf Jahren Verantwortung für unser Land, für unser Gemeinwesen tragen sollen, ist wahrlich nicht leicht und dies ist die Frage, um die es eigentlich bei den Wahlen gehen sollte. Nun stellen wir fest, bei den Wahlen auf Bundesebene gibt es zwar einen Haufen von Namen auf diesen Listen, aber wir können keinen davon ankreuzen. Wir können nicht bei einem einzigen dieser Menschen, die uns angeboten werden, sagen: ja, den oder die will ich, den will ich nicht, den finde ich nicht gut, sondern wir können eben nur pauschal die ganze Liste ankreuzen. Das ist so, wie wenn man ein Fahrrad kaufen möchte, dann aber den ganzen Versandhauskatalog sozusagen mit einkauft. Es ist nicht immer so, dass man mit allem gleich einverstanden ist, was auf einer solchen Liste steht. Gerade wenn Sie sich bewusst machen, was ich vorhin gesagt habe, dass die traditionelle politische Verortung und damit auch die Zuweisung von Rollen der politischen Parteien wie sie aus den geschilderten Milieus stammt, dass die immer weniger zutreffend ist, dann wird auch deutlich, dass ins4*

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besondere zwischen den großen Volksparteien, aber insgesamt zwischen den Parteien die Unterschiede mit der Zeit immer geringer werden. Umso größer und umso wichtiger werden die Unterschiede innerhalb der Parteien. Ich glaube, ich verrate Ihnen da kein Geheimnis, dass es innerhalb einzelner Parteien Persönlichkeiten gibt, die weit mehr auseinanderliegen als dies sozusagen zwischen dieser Partei und einer anderen häufig der Fall ist. Beispiele sind immer willkürlich und ob man jetzt zum Beispiel Heiner Geißler wählen würde oder Helmut Kohl, um ein paar der älteren zu nennen, das bedeutet durchaus die Wahl sehr verschiedener politischer Denkweisen, Konzepte usw. und das kann man sich in allen Parteien so ansehen. Es kann nicht nur sein, dass Sie beim Wählen gerne sagen würden, bei dieser Partei finde ich die Außenpolitik gut, aber die Wirtschaftspolitik schlecht, da würde ich lieber die andere wählen. Es kann auch sein, dass Sie sagen, bei dieser Partei finde ich diesen Außenpolitiker gut, aber einen anderen zum Beispiel finde ich ganz furchtbar. Also den würde ich gerne wählen, jenen aber nicht. Dies ist wie gesagt heute nicht möglich. Ich habe deshalb schon Ende des Jahres 1989 einen Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag eingebracht, der den Bürgern diese Möglichkeit geben sollte. Er ist natürlich, wie Sie sich vorstellen können, damals von der Mehrheit abgelehnt worden. Nach meiner Vorstellung sollten die Bürger künftig die Möglichkeit haben, nicht nur eine Liste pauschal anzukreuzen, sondern auch innerhalb der Liste durch Kumulieren und Panaschieren auszuwählen, das heißt, dass man einzelne Personen auf der Liste ankreuzt. Ich meine auch, dass die Möglichkeit des Häufeins bestehen sollte, wie sie sich in mehreren Ländern, und vor allem auch in den Kommunalwahlen mehrerer Länder, durchaus bewährt hat. Das heißt, dass man bis zu drei Stimmen einem Kandidaten gibt - so hatte ich das damals in diesem Gesetzentwurf formuliert - und dass auch die Möglichkeit bestehen sollte, Kandidaten von der Liste zu streichen, Kandidaten, die man definitiv nicht wählen möchte. Dies ist deshalb wichtig, weil die Möglichkeit, die Liste insgesamt anzukreuzen, nach meiner Auffassung jedenfalls vorläufig erhalten bleiben sollte. Es wird immer behauptet, das Kumulieren und Panaschieren sei für die Leute zu kompliziert. Die Erfahrung zeigt dies nicht unbedingt. Die Erfahrung zeigt aber, dass nicht alle davon Gebrauch machen, sondern dass es eben auch viele Bürger gibt, die sagen, ich will weiterhin die Liste einer Partei so wählen, so bestätigen, wie diese Partei sie aufgestellt hat. Dann macht man eben ein Kreuz oben bei der Liste. Aber man sollte künftig auch die Möglichkeit haben, einzelne Kandidaten gezielt auszuwählen, solche nach vorne zu wählen, die die Partei aus wohl erwogenen Gründen nach hinten geschoben hat. Oder solche vorne wegzustreichen, die sich möglicherweise in der Partei durchgesetzt haben, in der Öffentlichkeit aber nicht die nötige Unterstützung finden. Und ich meine schließlich, dass auch die Möglichkeit bestehen sollte, zwischen verschiedenen Listen hin und her zu springen, das heißt, dass es nicht mehr zeitgemäß ist zu sagen, wer beispielsweise die SPD wählt, der soll nicht auch ein Kreuz bei einem Kandidaten der Union oder der Grünen machen können, sondern dass auch die Möglichkeit bestehen sollte, quer durch die Listen der Par-

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teien solche Menschen zu wählen, die man selbst für gut und für unterstützenswert hält. Natürlich gibt es auch Nachteile dabei. Eine Sorge ist zum Beispiel, dass dies möglicherweise erheblich dazu beitragen könnte, dass das Bedürfnis von Politikern, sich öffentlich zu profilieren, noch stärker werden könnte und dass das nicht immer in der seriösesten Weise geschehen würde. Eine andere Befürchtung ist, dass überwiegend äußerliche Merkmale, also etwa Berufszugehörigkeit oder das Geschlecht, den Ausschlag geben würden. All dieses gibt es, aber all dieses gibt sich auch mit der Zeit, zeigen die Erfahrungen. Die Bürger sind durchaus in der Lage, unterschiedliche Persönlichkeiten zu beurteilen und zu bewerten. Und wenn solche mehr kollektivistischen Gesichtspunkte aus Sicht der Bürger eine Rolle spielen sollen, dann gibt es auch keinen Grund, dies zu unterbinden, wie zum Beispiel den Gesichtspunkt des Geschlechts. Das sage ich hier in Klammern, weil die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens überwiegend dazu geführt hat, dass zu Zeiten, als die Parteien fast ausschließlich Männer auf ihren Listen aufgeführt hatten, die Bürger, insbesondere die Bürgerinnen, Frauen nach vorne gehäufelt haben. Das heißt, es gab lange vor der Einführung der Quote eine Möglichkeit, gezielt Frauen stärker in politische Amter und politische Verantwortung zu bringen. Und es gibt auch wirklich außerordentlich beachtenswerte, bewundernswerte Persönlichkeiten in der deutschen Politik - ich nenne als Beispiel Hildegard Hamm-Brücher - , die ihre Zugehörigkeit zu einem Parlament ausschließlich dieser Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens verdanken. Hildegard HammBrücher ist ursprünglich von ihrer Partei soweit hinten platziert worden, dass sie nur durch das Häufeln der Wählerinnen und Wähler nach vorne gebracht worden ist. Später und insbesondere auf Bundesebene hat sich das dann geändert. Aber hier zum Beispiel verdankt ein Mensch, der - das kann man mit Fug und Recht sagen - nicht immer stromlinienförmig alles das vertreten hat, was die Führung seiner Partei zur jeweiligen Zeit für richtig gehalten hat, seinen Einfluss mehr der Zustimmung der Bürger als der Auswahl der Partei. Es gibt die große Angst, das ist sicherlich der massivste Einwand, der größte Nachteil, dass die Parteien einen Großteil ihres Einflusses auf die Kandidatenaufstellung und auch auf die Kandidaten, das heißt auch später dann auf die Abgeordneten, verlieren würden. Denn ein Abgeordneter, der nicht ganz und gar dem Diktat der Partei unterworfen ist, dessen Wiederwahl nicht ausschließlich in die Hände seiner Partei gelegt ist, sondern der vor allen Dingen die Bürgerinnen und Bürger auf seiner Seite weiß und auf seiner Seite braucht, um gewählt zu werden, wird sich anders verhalten als einer der weiß, es kommt ausschließlich darauf an, dass meine Partei, dass die Gremien meiner Partei, das was ich mache, gut finden und mich wieder aufstellen. Das heißt, es wird zu einem anderen Politikstil führen. Ich kann nachvollziehen, dass das in den Parteien mit großer Skepsis gesehen wird und das scheint mir denn auch der Hauptgrund für die bisher immer noch fast durchgängige Ablehnung zu sein. Ich meine aber, dass genau dieser Nachteil der größte Vorteil der Sache wäre. Denn mehr Unabhängigkeit nicht nur von Kandida-

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ten, sondern auch von Abgeordneten, täte der politischen Landschaft und täte vor allem der Politik selbst gut. Schließlich - ich habe vorhin gesagt, es geht um diese beiden Punkte Wahlen und Abstimmungen - meine ich, dass es dringend notwendig ist und halte dies auch für den wichtigsten gegenwärtig erforderlichen Innovationsschritt, dass die Abstimmungen, die im Grundgesetz dem Prinzip nach bereits verankert sind, dass diese Abstimmungen endlich auch Wirklichkeit werden. Und zwar deshalb, ich komme zurück auf den Gesichtspunkt der Individualisierung, wenn es eben so ist, dass Sie nicht mit allem immer einverstanden sein können, was eine Partei in ihren Programmen fordert, sondern wenn es so ist, dass Sie sagen, hier finde ich das sinnvoll, da das sinnvoll, hier bin ich für einen ganz anderen Gesichtspunkt, der noch bei keiner Partei vorkommt. Dann ist es nötig, dass Sie dem auch differenziert Ausdruck geben können. Sonst wird der Verdruss über die Politik und die Politiker immer größer werden. Das heißt, wir brauchen neben den Wahlen die Möglichkeit zu Sachabstimmungen. Direkte Demokratie hat ja nun in vielen Ländern der Welt und auch in den meisten Bundesländern durchaus bewiesen, dass die mit ihr verbundenen Ängste, hier würden kleinste Minderheiten die Mehrheit terrorisieren, hier würden Staaten unregierbar, hier würde der Irrationalismus sich Bahn brechen und anderes mehr, nirgendwo und in keinem einzigen Punkt von der Wirklichkeit gedeckt sind. Das gilt jedenfalls für die Bundesländer, in denen sie funktioniert. Verankert ist sie ja gegenwärtig in allen deutschen Bundesländern, aber real funktionieren tut sie nur in wenigen, weil die Regelungen häufig so getroffen worden sind, dass die Sache nicht funktionieren kann. Dort also, wo sie funktioniert, zeigen die Erfahrungen, dass hier ein hohes Maß an staatsbürgerschaftlicher Vernunft und Verantwortung waltet und vor allem, dass es einem Gemeinwesen gut tut, dass es einem Gemeinwesen sehr gut tut, wenn die Bürger nicht das Gefühl haben: Politik - das machen die Politiker, also nicht das Gefühl haben: wir können doch sowieso nichts machen, die da oben machen sowieso was sie wollen, sondern wenn die Bürgerinnen und Bürger real erleben, dass es um ihre eigenen Angelegenheiten in der Politik geht und dass sie selbst verantwortlich sind, mitverantwortlich sind für das, was geschieht oder was unterlassen wird. Das heißt, die zentrale politische Frage, die gegenwärtig übrigens quer durch alle Parteien von nachdenklichen Menschen in immer größerer Schärfe gestellt wird, wie schaffen wir es denn, dafür zu sorgen, dass sich die Menschen wieder mehr mit dem Gemeinwesen identifizieren, wie schaffen wir es denn, dafür zu sorgen, dass sie sich auch wieder mehr engagieren, also nicht nur fragen, was kann ich sozusagen vom Staat für mich rausholen, sondern auch fragen, was kann ich beitragen zu diesem Gemeinwesen, auf diese Frage findet man meines Erachtens hier eine Antwort. Also nicht in Appellen, in Worten zum Sonntag oder in Ruckreden irgendwelcher wohlmeinender Bundespräsidenten, sondern sie findet dort eine Antwort, wo es eben nicht bei einem bloßen Appell bleibt, wo der Bürger dann, wenn er es versucht, merkt, ja ich kann doch sowieso nichts tun, ich bin so-

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wieso nicht beteiligt, ich kann eben nur alle fünf Jahre meine Stimme abgeben im doppelten Wortsinn - und für den Rest der Zeit zuschauen, nein, sondern da, wo der Bürger merkt, es geht tatsächlich nicht nur um meine Angelegenheiten, sondern ich selbst kann persönlich etwas bewegen, etwas verändern. Ich kann einen Gesetzentwurf formulieren und einbringen und zur Debatte stellen auf dem Wege der Volksinitiative. Ich kann auf dem Wege des Volksentscheides über Gesetze verbindlich abstimmen. Das sorgt für wesentlich mehr Kommunikation und Diskussion in der Gesellschaft. Es sorgt für mehr Identifikation und Verantwortungsübernahme. Es führt zu einer Entmonopolisierung der Macht, das heißt, statt Befehlen und Gehorchen oder Ausführen zu einem sehr viel diskursiveren Verständnis von Politik. Es ermöglicht Initiativen aus der Bevölkerung, was gegenwärtig nicht möglich ist, und es ist die modernste Integrationsmöglichkeit für eine Gesellschaft heute. Und wir brauchen eine solche Identifikationsmöglichkeit vor allem dann, wenn Blut, Herkunft, Religion und anderes mehr als verbindendes Band in einem Gemeinwesen wie dem unseren nicht mehr taugen. Das heißt, ich wünsche mir mehr Mut zu mehr Demokratie und das heißt vor allen Dingen auf Bundesebene Einführung des Kumulierens und Panaschierens, damit es eine wirkliche Wahl gibt bei den Wahlen und Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid.

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Gerald Häfner Diskussionsleitung: Roland Geitmann Von Oliver Graf Als Leiter der Diskussion eröffnete Prof. Dr. Roland Geitmann, Kehl, diese mit der Anregung an das Plenum, bei der Diskussion über die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid sowie Kumulieren und Panaschieren auch die Landesebene mit einzubeziehen. Zu dem vom Referenten angesprochenen Plakatieren merkte Dr. Hartwin Vieweg, Stadtdirektor a.D., Neuwied, an, dass nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte Parteimitglieder nur die Pflicht hätten, ihre Beiträge zu zahlen, nicht aber Plakate aufzuhängen. Er wandte sich im weiteren gegen die Einführung des Kumulierens und Panaschierens, da dies dazu führen würde, dass die Wahlergebnisse in den Gemeinden erst nach einigen Tagen vorliegen würden. Entsprechende, für dieses Wahlsystem geeignete Computer seien nicht vorhanden. Mit der derzeit vorhanden technischen Ausstattung sei bei der Einführung des Kumulierens und Panaschierens die Gefahr von Wahlfälschungen gegeben. Anschließend stellte Udo Terjung, Rickenbach, basierend auf seinen Erfahrungen fest, dass sich der Politikstil in der Schweiz von dem in der Bundesrepublik Deutschland wesentlich unterscheide. Die Politiker dort müssten aufgrund der Besonderheiten des Systems in der Bevölkerung für ihre Vorschläge werben, da sie sonst, d. h. ohne das Verständnis und die Unterstützung der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, im Gesetzgebungsverfahren scheitern würden. Dies sei ein Vorteil der direkten Demokratie. Die Einführung direktdemokratischer Elemente sei ein positiver Ansatz, so Hans-Jürgen Hofrath, Koblenz, doch müssten auch die Medien in diesen Demokratisierungsprozess mit einbezogen werden. Diese stellten zwar die vierte Gewalt im Staat dar, doch fehle ihnen der notwendige Binnenpluralismus. Zudem seien sie politisch nicht legitimiert, bestimmten jedoch, welche Parteien erwähnt, wie sie dargestellt und welche Themen behandelt würden. Dadurch würden insbesondere kleine Parteien im politischen Wettbewerb benachteiligt. Prof. Jost Goller, Ludwigsburg, fragte sodann, ob auch die Steuergesetzgebung und der Haushalt dem Plebiszit unterworfen werden sollten und wie ein Informa-

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tionssystem auszusehen habe, das den Bürger in die Lage versetze, entsprechende Entscheidungen zu treffen. Hinsichtlich der Schwierigkeiten der Stimmenauszählung in Wahlsystemen mit der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens entgegnete Häfner, dass es zumindest in Bayern die angesprochenen Computerprobleme nicht gebe. Er begrüße die Idee, auch die Medien zu demokratisieren, man müsse jedoch noch Konzepte zur Umsetzung entwickeln. Auch die Steuergesetzgebung sollte in die direkte Demokratie einbezogen werden, so Häfner. Gerade die Kompliziertheit des Steuerrechts sei ein Beispiel dafür, wie Politik heute funktioniere. Radikale Ideen zur Vereinfachung des Steuersystems hätten auf plebiszitärem Wege viel größere Chancen, durchgesetzt zu werden, als auf dem derzeitigen, da man als Politiker immer ein bestimmtes Klientel oder bestimmte Wählergruppen berücksichtigen müsse. Diese Gesichtspunkte würden hingegen bei einer Volksabstimmung keine Rolle spielen, da es dann nicht mehr um einzelne Privilegien, sondern ein vernünftiges und überzeugendes Steuersystem gehe. Untersuchungen zeigten, dass Staaten mit direkter Demokratie effizienter mit den Steuermitteln umgingen, gleichzeitig aber auch die Steuermoral höher sei. Auch im Hinblick auf die erforderlichen Informationen sei die Schweiz ein gutes Beispiel, so Häfner. Dort erhalte jeder Stimmbürger mit der Wahlbenachrichtigung ein so genanntes „Abstimmungsbüchlein", in dem Pro und Contra des zur Abstimmung stehenden Vorschlags in gleichem Umfang dargestellt würden. Aber auch die Medien spielten eine große Rolle bei der Information der Bevölkerung. Entscheidend sei jedoch, dass genügend Zeit für Diskussionen über das betroffene Thema zur Verfügung stände. Siegfried Lessing, Unternehmer, Obersulm, stellte die Aussage Häfners, die Macht der Ökonomie dränge die Politik in die Defensive, in Frage. Er sei gegen eine solche Stigmatisierung der Ökonomie, da es auch eine für die Natur, die Umwelt und die Menschen sinnvolle Ökonomie gebe. Er vermisse im übrigen ein Konzept, das die Rolle der Schulen, insbesondere der Grund- und Hauptschulen, in ihrer Schlüsselposition bei der Vermittlung von Verständnis für die parlamentarische und direkte Demokratie bei den zukünftigen Wählern berücksichtige. Einen Vorteil direkter Demokratie sah Prof. DE Hans Herbert von Arnim, Speyer, darin, dass auch radikale Reformen möglich würden. Ein Beispiel hierfür sei die Durchsetzung der süddeutschen Kommunalverfassung in den Flächenländern. Die Direktwahl des Bürgermeisters, die Einführung des Bürgerbegehrens und Bürgerentscheids sowie teilweise des Kumulierens und Panaschierens sei durch Volksbegehren und Volksentscheid oder ihr glaubwürdiges Androhen durchgesetzt worden. Darüberhinaus fragte er nach der Realisierung der in der Koalitionsvereinbarung vorgesehenen Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene. Dr. Anton-Andreas Guha, Journalist bei der Frankfurter Rundschau, wies darauf hin, dass der Begriff „Individualisierung" nicht den Prozess der Individuation meine, d. h. der Autonomiewerdung im Sinne Kants, bei der der Mensch im Zuge

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der Anthropogenese aus der Gruppe heraustrete und sich sein eigenes Normenund Wertesystem gebe. Es sei vielmehr schlicht ein euphemistischer Begriff für Vereinzelung. Der Mensch verfüge über eine Phylogenese, eine Stammesgeschichte, mit seinen genetisch erworbenen Verhaltensweisen, und gleichberechtigt eine Ontogenese, also erworbene Verhaltensweisen, Werte und Normen, die jedoch nicht deckungsgleich seien. Phylogenetisch sei der Mensch ein aggressives Wesen, das den Artgenossen töte, ontogenetisch aber sei der Mensch auf Milieus, wie Familie, Religionsgemeinschaften und soziale Milieus, existenziell angewiesen, da der Mensch auch ein soziales Wesen sei. Bei dem gegenwärtig zu beobachtenden Zerfall dieser Milieus käme es zur Vereinzelung des Menschen. Diesen Prozess der massenhaften Vereinzelung, der sich seinen Weg in neuen Gemeinschaftsformen suchen werde, mit einem System der Politisierung durch Volksentscheid und direkte Demokratie zu überziehen, werfe die Frage auf, ob dadurch nicht erst recht der politisierte Mensch gefordert werde, der durch den Zerfall der Milieus aber nicht zu erreichen sei. Dies könne dazu führen, dass 10% der Wähler die Politik bestimmten, während die übrigen 90% mit Politik nichts mehr zu tun hätten. Damit würde durch die Hintertür eine Form von politischen Entscheidungsmechanismen eingeführt, die zwar den Anschein direkter Demokratie trügen, tatsächlich aber mit Demokratie nichts mehr zu tun hätten. Der Optimismus, dass Bürgerinitiativen zu mehr Reformfreude und Reformfähigkeit führen würden, müsse nicht unbedingt geteilt werden, so Regierungsvizepräsident Klaus Jürgen Fenske, Hannover. Bürgerinitiativen spiegelten nur die tatsächliche Gesellschaft wieder, die nicht unbedingt reformfreudig sei. Nicht die Androhung von Volksbegehren allein habe zur Kommunalverfassungsreform geführt, vielmehr sei den Medien, zumindest in Niedersachsen, eine wichtige Rolle zugefallen. Ihr Einsatz habe dazu geführt, dass eine Art politischer Überbietungswettbewerb zwischen den Parteien bei den Reformen stattgefunden habe. Volksbegehren und Bürgerinitiativen könnten auch das Gegenteil von Reformfähigkeit und Reformfreudigkeit bewirken. So sei in Niedersachsen die erforderliche Abschaffung von Ausstattungsstandards bei den Regelungen im Kindertagesstättengesetz, über die sich alle Parteien und Interessenverbände einig gewesen seien, an dem Widerstand der Kindergärtner, der sich in Großdemonstrationen artikuliert habe, gescheitert. Dies habe zu einer Lähmung des Reformwillens auf diesem Gebiet geführt. Dies belege, dass Bürgerinitiativen nicht per se für mehr Reformfreudigkeit und -fähigkeit ständen. Abschließend nahm Häfner zu den Diskussionsbeiträgen Stellung. Er habe keine Stigmatisierung der Ökonomie beabsichtigt, vielmehr sei er ein glühender Verfechter einer leistungsfähigen Wirtschaft. Es sei ihm vielmehr darum gegangen, aufzuzeigen, dass viele Entscheidungen nicht mehr im nationalen Rahmen fielen, sondern vor einem internationalen Hintergrund, so dass die Spielräume des nationalen Gesetzgebers immer geringer würden. Andererseits sei aber auch in einigen Gebieten der Rückzug der Politik aus dem Bereich der Ökonomie notwendig. Politik sei jedoch die einzige Möglichkeit, den rechtlichen Rahmen so zu gestalten, dass das,

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was unter ökonomischen Gesichtspunkten geschehe auch vernünftig im Hinblick auf eine Gemeinwohlorientierung sei. Des weiteren sei auch er der Ansicht, dass der Bildung und der Erziehung zu freien, selbstbewussten Menschen, die in der Lage seien, ihre eigenen Interessen zu erkennen und wahrzunehmen, im politischen Gesamtsystem eine entscheidende Rolle zukomme. In Erwiderung auf von Arnim führte er aus, dass zwar in der Koalitionsvereinbarung die Einführung direktdemokratischer Elemente verbindlich als Projekt der gegenwärtig amtierenden Koalition verankert worden sei, ein entsprechender Gesetzentwurf jedoch noch nicht vorliege, da niemand das Projekt vorangetrieben hätte. Seit er selbst in den Bundestag nachgerückt sei, verfolge er dies jedoch nachdrücklich und führe auch entsprechende Verhandlungen. Der Widerstand sei dabei stark, so dass er keinen exakten Zeitpunkt für die Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs nennen könne. Auch sei die für die Grundgesetzänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit noch nicht ersichtlich. Eingehend auf Guha stimmte er diesem zu, dass Individualisierung zu Vereinzelung führen könne, gleichzeitig aber gewährleiste sie auch ein höheres Maß an Freiheit und Selbstbestimmung. Die Frage sei daher, wie man staatliche Gemeinschaft neu fundieren könne. Dies gelänge nur, wenn man den Menschen die reale Möglichkeit gebe, Mitverantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Die Gefahr, dass nur noch ein kleiner Teil der Bürger die Politik bestimme, sei um so größer, je länger mit der Einführung der direkten Demokratie gewartet werde. Die Erfahrungen aus Bayern mit direkter Demokratie zeigten, dass die Bürger ihr Gemeinwesen wieder als ihre eigene Angelegenheit erkennen und sich engagieren würden. Bezüglich des Diskussionsbeitrages von Fenske erwiderte Häfner, dass Demokratie und demokratische Entscheidungen nur so gut seien, wie die Gesellschaft, in der sie stattfänden. Er sei jedoch der Ansicht, dass der unterschiedliche Weg zu diesen Entscheidungen auch unterschiedliche Qualitäten der Entscheidungen hervorbringe. Es gehe in der Demokratie letztlich nicht um die Frage von gut oder falsch, sondern darum, ob das geschehe, was die Menschen auch wollten.

Die Durchsetzbarkeit von Reformen des Sozialstaats in der Demokratie Von Meinhard Miegel

Die Frage nach der Durchsetzbarkeit von Reformen des Sozialstaats in der Demokratie ist auf zwei Ebenen angesiedelt: einer allgemeinen und einer besonderen. Auf der allgemeinen Ebene geht es um die Reformierbarkeit von Gesellschaft und gesellschaftlichen Institutionen schlechthin; auf der besonderen um die Reform des Sozialstaats in der Demokratie. Dabei zeigt sich, dass letzterer Sachverhalt nicht etwa die Ausnahme von einer Regel ist, sondern ein Unterfall der allgemeinen Reformfähigkeit oder vielleicht auch -Unfähigkeit von Gesellschaft. Zunächst ist jedoch zu klären, was im folgenden unter Reform verstanden werden soll. Im gegebenen Zusammenhang plädiere ich dafür, mit diesem Begriff erkenntnisgesteuertes, vorausschauendes und vor allem evolutionäres Handeln zur Anpassung von Gesellschaft und gesellschaftlichen Institutionen an sich ändernde Lebensbedingungen zu belegen. Diese begriffliche Eingrenzung erscheint mir wichtig, da erfahrungsgemäß jede Gesellschaft, die überdauert, sich den sich ändernden Lebensbedingungen anpasst. Die Frage ist nur, ob diese Anpassung spontan, revolutionär, oder vorausschauend, evolutionär, geschieht. Unterbleibt die Anpassung ganz, erledigt sich die Angelegenheit durch den Untergang der Gesellschaft von selbst. Wie also ist es um die evolutionäre Anpassung durch erkenntnisgesteuertes, vorausschauendes Handeln bestellt? Im allgemeinen schlecht. Zumeist rumpeln Gesellschaften samt ihrer Institutionen so lange vor sich hin, bis sie in unlösbare Widersprüche zu ihrer Umwelt geraten sind. Diese Widersprüche können in allen Lebensbereichen auftreten, von der Politik über die Wirtschaft bis hin zur Religion. Haben sie die Grenze des Erträglichen überschritten, kommt es zur Entladung, die nicht selten durch Kriege ausgelöst wird oder in Kriege einmündet. Das alles lässt sich schon bei den politischen Denkern der griechischen und römischen Antike nachlesen. Aber so weit brauchen wir gar nicht zurückzugehen. Der reformunfähige französische Absolutismus versank aus eher läppischem Anlass in einer blutigen Revolution. Das Preußen Friedrichs des Zweiten ging schon 20 Jahre nach seinem Tod in Jena und Auerstedt zu Bruch, weil auch hier die Herrschenden die Zeichen der Zeit nicht erkannt hatten. Gleiches gilt für das deutsche Kaiserreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder das britische Empire. Überall sucht man vergebens nach rechtzeitigen Anpassungen an die sich ändernde Wirklichkeit.

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Das Lehrstück aus unserer Zeit ist der Untergang der Sowjetunion einschließlich aller ihrer Satelliten, an deren Spitze die DDR. Der Grund ist wiederum die gänzliche Reformunfähigkeit keineswegs nur der Herrschenden im engeren Sinne, sondern großer Teile der Gesellschaft. Diese Gesellschaften rasten auf eine Wand zu und niemand konnte oder wollte sie vor dem Aufprall bewahren. Dabei wurden nicht alle von einem Airbag aufgefangen. Die Osteuropäer beispielsweise erlitten schmerzhafteste Verletzungen, unter denen sie bis heute leiden. Nüchtern betrachtet bewegen sich Gesellschaften wie Autoscooter durch Zeit und Raum. Wie diese werden sie immer nur auf kurze Distanzen absichtsvoll gesteuert. Dann kollidieren sie mit einem anderen Fahrzeug oder der Bande und diese Kollisionen bestimmen den Verlauf der Fahrt. Das sah auch der frühere britische Premier Macmillan so, als er einem politischen Novizen beschied, es seien Events, Ereignisse, die den Gang der Politik ausmachten. Die Ereignisse der letzten Wochen haben dies eindrucksvoll bestätigt. Die Kollision des 11. September hat einiges verändert, was zuvor unveränderbar schien. Plötzlich ist beispielsweise wieder höchst offiziell von „Asylanten" die Rede. Jahrelang war dieser Begriff verpönt. Ganz offensichtlich hat die Gesellschaft einen anderen Drall bekommen. Geht man den Gründen dieser verbreiteten Reformunfähigkeit oder zumindest unwilligkeit nach, wird man an vielen Stellen fündig. Der 29-jährige Goethe sieht in seinem „Egmont" politisch gestaltendes Handeln weitgehend darauf beschränkt, „ . . . bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder wegzulenken". Und beinahe resignierend lässt er seinen Helden hinzufügen: „Wohin es geht, wer weiß es?" Weitaus konkreter war 1525 der große politische Denker Niccolo Machiavelli geworden. In seinem berühmten Buch „Vom Fürsten" schreibt er: „Es ist gewiß kein geringes Wagestück und sehr zweifelhaft im Erfolg und äußerst gefährlich, neue Gesetze aufzustellen. Wer solche einführt, hat alle die, welche sich bei den vorigen wohl befanden, zu Feinden und nur sehr laue Freunde an denen, welchen die neuen Vorteile bringen; die Lauheit, die teils durch die Furcht vor denen erzeugt wird, welche mit den vorigen zufrieden sind, teils aber auch durch das Vorurteil, das gegen alle neuen Einrichtungen sich so lange erhebt, bis man dieselben gewohnt geworden. Bei jeder Gelegenheit greifen also erstere sie mit aller Parteileidenschaft an, während die anderen sie nur schwach verteidigen..." Ergo, so meine Schlußfolgerung, unterbleibt die gebotene Reform, bis die Mehrheit sie als unumgänglich erkannt hat. Das aber kann dauern. Deshalb verkürzt sich die Zeitachse mitunter so sehr, dass evolutionäre Lösungen, die ja bekanntlich Zeit erfordern, nicht mehr möglich sind. Was bleibt ist die revolutionäre Lösung oder der Untergang. Damit ist der Weg frei, von der allgemeinen auf die besondere Ebene überzuwechseln. Was für die Durchsetzbarkeit gesellschaftlicher Reformen im allgemeinen gilt, gilt in noch höherem Maße für Reformen des Sozialstaates in der Demo-

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kratie. Freiheitliche Demokratien und Sozialstaat stehen nämlich in einem gewissermaßen symbiotischen Verhältnis zueinander. Sie bilden ganz buchstäblich eine Lebens- und Nutzengemeinschaft. Zwar können sie unabhängig voneinander existieren, aber ihre Existenz ist fragil. Die Demokratie ist der Wurzelgrund des Sozialstaates, der Sozialstaat schützt und stützt die Demokratie. Das zeigt bereits ihre Genesis. Beide sind beinahe zeitgleich entstanden. Man kann es auch anders wenden. Alle gesellschaftlichen Ordnungen sind geprägt von Herrschaft. In der Demokratie - so heißt es - sei dies die Herrschaft des Volkes. Ich ziehe diese Volksherrschaft nicht in Zweifel. Aber sie ist wenig fassbar. Beim Versuch, sie dingfest zu machen, verflüchtigt sie sich. Handfester ist hingegen der Sozialstaat. Er dürfte die konkrete Ausgestaltung demokratischer Herrschaft sein. Als Herrschaftsform hat der Sozialstaat eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit anderen Herrschaftsformen. Insbesondere ist er wie diese auf das herrschaftsbegründende Wechselspiel von Geben und Nehmen hin angelegt. Er nimmt den Bürgern, um ihnen geben zu können, und er gibt ihnen, um auf diese Weise seinen und den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung aufrecht zu erhalten. Wie eng dieses Beziehungsgeflecht ist zeigen einschlägige Untersuchungen. Sprudeln Sozialleistungen reichlich, steht die freiheitlich-demokratische Ordnung hoch im Kurs. Fließen sie spärlicher, wird sehr schnell die Systemfrage gestellt. Das trifft besonders auf Deutschland zu. Zugleich hat der Sozialstaat aber auch Eigenheiten, die ihn von anderen Herrschaftsformen unterscheiden. Die wichtigste: er ist besonders tief in der Natur des Menschen verwurzelt. Menschen sind von Natur aus sozial, zu deutsch: gesellige, gesellschaftliche Wesen. Gesellschaft im weitesten Wortsinn ist Grundlage menschlichen Daseins. Wo das Soziale beschädigt wird, nimmt das Menschsein selbst Schaden. Die Kehrseite: Weil der Sozialstaat so tief in der Natur des Menschen verwurzelt ist, vermag er diese besonders leicht zu deformieren. Die Protagonisten staatlicher Herrschaft haben das früh erkannt. Bei aller Einsichtigkeit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung - sie war aus vielerlei Gründen geboten - hatte sie von Anfang an auch die Aufgabe, die gesellschaftlich unruhigsten Gruppierungen, die Industriearbeiter, an den Staat zu binden oder weniger freundlich formuliert: sie zu korrumpieren. Die Führer der damaligen Arbeiterbewegung sahen diese Gefahr und sprachen sie offen an. Aber wer kann und will schon gegen soziale Wohltaten vorgehen? Das Ende des Ersten und mehr noch das des Zweiten Weltkrieges schob diese Entwicklung kraftvoll an. In vielen europäischen Ländern, namentlich aber in Deutschland, waren vormals verlässliche gesellschaftliche und staatliche Strukturen zerbrochen und an ihre Stelle trat in einem mitunter recht unspezifischen Sinn „Soziales". Der Staat - sonstiger Herrschaftsinstrumente weitgehend bar - wandte sich dem Gesellschaftlichsten in der Gesellschaft zu, eben dem Sozialen. In der

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ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Soziale verstaatlicht. In der zweiten Hälfte erklimmt diese Verstaatlichung immer neue Höhepunkte. Zwingend war diese Entwicklung nicht. Die freiheitlichen Demokratien hätten seit den fünfziger Jahren auch einen anderen Kurs einschlagen können. Eine historisch einzigartige Wohlstandsexplosion hatte ihnen eine Option eröffnet, von der sie zuvor nicht zu träumen wagten. Zum ersten Mal in der Geschichte konnte der Staat mit einem hohen Grad an Glaubwürdigkeit den Bürgern nicht nur eine lebensstandardsichernde Versorgung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Erwerbsunfähigkeit oder im Alter in Aussicht stellen, sondern auch noch zahllose weitere Wohltaten von staatlich subventionierten Zoobesuchen für Kinderreiche und Betagte bis hin zu Fischkoch- und Blumensteckkursen an staatlich geförderten Volkshochschulen. Das alle zehrt natürlich an der individuellen und kollektiven Wirtschaftskraft. Wie die spätere Geschichte zeigt, benötigt der Staat in Deutschland rund ein Drittel aller erwirtschafteten Güter und Dienste, um die versprochenen Leistungen erbringen zu können. Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wenden heute weit mehr als 40 Prozent ihrer Bruttoarbeitslöhne und -gehälter auf, um die Sozialkassen auch nur zu zwei Dritteln zu füllen. Für das restliche Drittel werden sie als Steuerbürger herangezogen. Alles in allem bringen sie auf diese Weise jährlich 665 Milliarden € auf. Das entspricht einer durchschnittlichen Belastung aller 15- bis 65-Jährigen von 11.800 € im Jahr. Das aber reichte und reicht, um ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte einer Gesellschaft, die aufgrund ihrer Individualisierung abnehmend soziale Funktionen auszuüben in der Lage war, einige dieser Funktionen zurückübertragen zu können. Denn dank jener Wohlstandsexplosion sind das Individuum und die Kleingruppe wirtschaftlich leistungsfähiger als zuvor die Sippe. An sich konnte damit Soziales, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus einsichtigen Gründen verstaatlicht worden war, teilweise wieder privatisiert oder zumindest vergesellschaftet werden. Die Demokratien standen an einer Wegscheide. Sie konnten wählen zwischen Staats- und Bürgergesellschaft. Sie wählten nicht alle gleich, und ehe sie wählten, wurde um die richtige, oder wohl zutreffender die angemessenere Entscheidung gerungen. Auch wir Deutsche taten uns - sofern wir überhaupt die Möglichkeit der Wahl hatten - keineswegs leicht. Der Verfassungsgeber beispielsweise wusste noch nicht, wohin die Reise ging, als er höchst nebulös von Deutschland als einem sozialen Bundesstaat sprach. Diese Phase großer Unsicherheit ist uns Heutigen fast völlig aus dem Blick geraten. Für uns ist der Sozialstaat in seiner derzeitigen Erscheinungsform so etwas wie ein Naturgewächs, etwas beinahe Zwangsläufiges. Das aber ist er durchaus nicht. Vielmehr ist er das Produkt beinharter politischer Auseinandersetzungen, in deren Verlauf immer deutlicher wurde, worum es eigentlich ging: Macht. Einzelheiten sind bei Ludwig Erhard und anderen nachzulesen, für die der Sozialstaat,

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wie er damals zu keimen begann und sich mittlerweile zu voller Größe entfaltete, ein Gräuel war - ineffizient, ungerecht und freiheitsbedrohend. Adenauer - um nur einen statt vieler zu nennen - dachte, nicht zuletzt unter dem Druck der sozialdemokratischen Opposition, anders - und setzte sich durch. Er und seine politischen Freunde sahen die Chance, durch den Aus- und Aufbau eines staatlich initiierten, organisierten und administrierten Sozialgefüges, dessen tragende Säule die gesetzliche Rentenversicherung von 1957 wurde, den kriegsmorbiden Staat zunächst an die Gesellschaft anzulehnen und dann in großen Teilbereichen mit ihr zu verschmelzen. Von nun an war das Soziale sowohl Kondensationskern als auch Instrument politischer, staatlicher und gesellschaftlicher Macht. Diese Umformung des Sozialen zum Instrument von Herrschaft hatte weitreichende Folgen für den Einzelnen, die Gesellschaft und den Staat. Der Einzelne wurde noch mehr als bisher seiner mitmenschlichen Pflichten entbunden. Wer nicht wollte, brauchte sich nicht mehr um Kranke, Pflegebedürftige oder alte Familienangehörige zu kümmern. Selbst Kinder sollten ihren Eltern nicht länger im Wege stehen, wenn diese ihren eigenen Interessen folgten. Staatliche Einrichtungen fingen sie auf. Auch brauchte der Einzelne nicht mehr für die Notfälle des Lebens oder das eigene Alter individuell vorzusorgen. Das alles übernahm der Staat. Er erwarb die soziale Allzuständigkeit. Dadurch verminderte sich die wirtschaftliche und soziale Bedeutung von Familienverbänden, Nachbarschaften und gesellschaftlichen Sozialeinrichtungen. Die großen Wohlfahrtsverbände wie die Caritas oder Diakonie verwandelten sich trotz aller verbaler Gegenwehr - zu staatlichen Sozialagenturen. Ohne Staat ging bei ihnen kaum noch etwas. Das beschleunigte die Lockerung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wozu noch spenden, wohltätige Einrichtungen unterstützen oder sich als Mäzen von Kunst und Wissenschaft betätigen? Das alles war jetzt Angelegenheit des Staates. Dafür zahlte man Steuern und Sozialbeiträge und zwar reichlich. Der Staat wiederum mutierte zu einem weit verzweigten Unternehmenskonglomerat zur Erbringung von Sozialleistungen. Andere Aufgaben traten dahinter zurück. Mittlerweile dienen knapp 60 Prozent der von der öffentlichen Hand ausgegebenen Mittel sozialen Zwecken. Werden noch die Zinsen berücksichtigt, die heute der Staat für seine Schulden aufbringen muss, verbleibt ihm für alle sonstigen Bereiche wie Schulen und Universitäten, öffentliche Verwaltung und Bundeswehr, Polizei und Justiz, Straßen und Brücken, Entwicklungshilfe und anderes mehr gerade einmal ein Drittel aller öffentlichen Einnahmen. Der Sozialbereich dominiert alles. Um diese Dominanz dauerhaft zu gewährleisten, bedient sich der heutige Sozialstaat der Mittel aller Herrschaft: Angst, Intransparenz und Solidaritätsappelle. Angst. Die Sozialpolitiker aller Parteien hämmern inzwischen in der dritten Generation auf der Klaviatur historischer Katastrophen. Noch in den neunziger Jahren 5 von Arnim

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wurden sozialpolitisch motivierte Beihilfen für den deutschen Steinkohlebergbau mit dem Hinweis abgestützt, die Bergleute hätten uns schließlich in den kalten Wintern nach dem Krieg vor dem Erfrieren bewahrt. Dass die Beihilfen Menschen zugute kamen, die im Schnitt erst nach 1960 geboren worden waren und zum größten Teil aus der Türkei stammten, schien kaum jemanden zu stören. Alten Mütterchen trieb die Beschwörung früherer Zeiten Tränen in die Augen. Der Zweck war erreicht, die Beihilfen konnten weiter fliessen. Intransparenz. Sie ist noch wichtiger als die Angst. Denn die Angst verflöge bei vielen, wenn sie das System durchschauen würden. Zugleich hätte es als Herrschaftsinstrument ausgedient. Der Bestand des Sozialstaates erfordert, das Verhältnis von Leistungen und Gegenleistungen zu verschleiern. Den Bürgern muss glauben gemacht werden, vom Sozialstaat mehr zu erhalten als sie ihm geben. Dass das schon aus Gründen der Logik unmöglich ist, darf nicht bewusst werden. Und noch tabuisierter ist die Frage, wie groß eigentlich der sozialstaatliche Herrschafts-, Verwaltungs- und Sickeraufwand ist, den die Bürger zu tragen haben. Fände er Eingang in die Bilanz zeigte sich, was ohnehin selbstverständlich ist: Der Sozialstaat nimmt den Bürgern mehr als er ihnen gibt. Und schließlich Solidaritätsappelle. Sie bilden die ethische Krönung jeder gelungenen Herrschaft, auch und besonders der sozialstaatlichen. Die Stärke dieser Appelle ist: Solidarität ist gesellschaftsgründend. Keiner kann sich ihr verweigern, ohne die Gesellschaft zu beschädigen. Hierüber besteht Konsens. Kontrovers ist jedoch wie sie zu definieren, zu organisieren und auszuüben ist. Um diese Kontroverse schlichten zu können, müsste bekannt sein, wer was von wem bekommt. Das aber weiß niemand. Wiederholt haben hochrangig besetzte Expertengremien den heroischen Versuch unternommen, die verschlungenen Knoten der sozialstaatlichen Sozialtransferströme zu lösen. Sie sind allesamt gescheitert. Das alles hat dazu geführt, dass der Sozialstaat und die Gesellschaft nicht mehr in dem ursprünglichen symbiotischen Verhältnis zueinander stehen, sondern miteinander verbacken sind, gewissermaßen eine Sintermasse bilden. Abgrenzungen zwischen Staat und Gesellschaft sind im Sozialbereich kaum noch möglich oder zumindest äußerst schwierig. Deshalb setzt sich jeder, der Reformen des Sozialstaats anzustoßen versucht, dem durchaus nicht unbegründeten Verdacht aus, die Gesellschaft selbst verändern zu wollen. Denn es stimmt ja, dass sich eine Gesellschaft, die zum Beispiel die Hälfte der Vorsorge für die Fährnisse des Lebens individuell trägt, grundlegend von einer Gesellschaft unterscheidet, die dies - wie derzeit die Deutschen - im Durchschnitt nur zu einem Sechstel tut. Diese beiden Gesellschaften nehmen ihre Umwelt unterschiedlich wahr, haben andere Interessen und Bedürfnisse und setzen verschiedene Prioritäten. Über kurz oder lang werden die Brücken zwischen ihnen schmal. Sie haben sich immer weniger zu sagen. Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Amerikanern und Europäern ist eine Illustration hierfür. Bei der Reform des Sozialstaates in der Demokratie geht es also immer dann, wenn der Sozialstaat - wie in Deutschland und dem größten Teil Europas - mit der

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Gesellschaft verschmolzen ist, zugleich auch um gesellschaftliche Reformen. Und was über deren Möglichkeiten und Grenzen zu sagen ist, habe ich zu Beginn Machiavelli entliehen. Gesellschaften sind nicht reformfreudig. Sie hängen am Hergebrachten so lange es geht. Evolutionäre Veränderungen sind - ich wiederhole es in Kernbereichen eher die Ausnahme. Lieber entließ die katholische Kirche um noch einmal eine Quasi-Gesellschaft zu bemühen - im 16. Jahrhundert halb Europa aus ihrem mütterlichen Schoß als das sie ihren alten Trott aufgab. Gibt das dem überkommenen Sozialstaat - von revolutionären Umbrüchen abgesehen - eine Art Bestandsgarantie? Die nach dem zuvor Gesagten vielleicht paradox wirkende Antwort: Nein. Der überkommene Sozialstaat ist sogar besonders fragil. Der Grund hierfür mag wieder paradox erscheinen: Gerade weil der Sozialstaat Soziales, sprich Gesellschaftliches, mit Herrschaft und Macht verquickt hat, ist er nur so lange stabil, wie er als Herrschaftsinstrument taugt. Das aber ist abnehmend der Fall. Denn mit Sozialem lässt sich eine Gesellschaft nur so lange an den Staat binden als ihr mehr und immer noch mehr in Aussicht gestellt werden kann oder wenigstens keine Abstriche vorgenommen werden müssen. Müssen hingegen aus objektiven Gründen wie dramatischen Veränderungen im Bevölkerungsaufbau individuelle Leistungen gekürzt werden, ist der Charme staatlicher Herrschaft dahin. Unter solchen Bedingungen gerät Sozialpolitik zum Spießrutenlauf. Wer setzt sich dem schon freiwillig aus? Deshalb meine Prognose: Der Sozialstaat wird - wenn überhaupt - nur mäßig reformiert, das heißt evolutionär der sich ändernden Wirklichkeit angepasst werden. Er wird aber wohl auch kaum revolutionär zerschlagen werden. Vielmehr wird er eines Tages ganz einfach aufhören zu sein. Wer will mag das evolutionär nennen. Aber es ist sicher eine recht spezielle Form der Evolution. Die Politik sucht schon nach Alternativen ihrer Legitimation. Vielleicht wird es das Thema Sicherheit. Auszuschliessen ist das jedenfalls nicht. Vom Sozial- zum Sicherheitsstaat! Die nächsten Jahre könnten hier Erstaunliches zeitigen.

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von Meinhard Miegel Leitung: Rainer Pitschas Von Stefanie Gille

Zu Beginn der Diskussion griff Eberhard Pfisterer, Stuttgart, die Aussage von Miegel auf, dass der heutige Sozialstaat existenzbedrohend sei, zum allgemeinen Brotherrn würde und alles dominiere. Er frage sich nunmehr, in welchem Zusammenhang der technologische Fortschritt, konkret die sich ständig erweiternde Mikrotechnologie und der vielzitierte „Shareholder Value", dazu stehe. Im Hinblick auf das Zitat der Freiheitsbedrohung verwies Miegel auf dessen Schöpfer Ludwig Erhard. Vor dem Hintergrund der modernen Technologien und „Shareholder Value" sei anzumerken, dass diese Entwicklungen im engen Kontext stünden mit dem „It is fading away" des Sozialstaates (um nicht vom Absterben zu sprechen). Dies stelle einen schleichenden Prozeß dar, weil es seiner Meinung nach weder mit einem großen Knall zuende gehen noch der Sozialstaat sich ganz organisch evolutionär weiterentwickeln werde. Er werde vielmehr immer weniger greifbar werden, weil er von den Herrschenden immer weniger als taugliches Instrument eingesetzt werden könne. Dies habe nun wiederum zu tun mit solchen Phänomenen wie der Globalisierung und mit ihr verbunden der Rolle der Kapitalmärkte, Individualisierungsprozessen usw. Dies alles fließe da ein und führe letztendlich dazu, dass es dem Sozialstaat in seiner tradierten Funktion - und er denke hier an den Sozialstaat, wie er sich seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt habe - in den vor uns liegenden Dekaden nicht mehr annähernd die Gestaltungs- und Herrschaftsmöglichkeiten verleihen könne, wie dies in der Vergangenheit der Fall gewesen sei. In einer Unterhaltung mit einem Sozialpolitiker habe dieser ihm gestanden, dass er wohl das falsche Feld gewählt habe, auf dem nicht mehr viel zu bestellen sei. Nach seiner, Miegels, Auffassung sei dies richtig, weil die eigentlich spannenden Fragen mittlerweile eher auf einen anderen Ebene lägen. Die große Zeit der Sozialpolitik sei vorbei. Prof. Dr. Peter Bareis, Hohenheim, stimmte dem Grundansatz von Miegel zu, vor allem dem, dass der Sozialstaat reformiert werden müsse. Dennoch griff er die Bemerkung an, dass der Staat aus logischen Gründen nicht mehr geben könne als er nehme. Dies sei für ihn als Ökonom nicht einsichtig. Der Staat könne und solle öffentliche Güter bereitstellen, die man als Privater niemals bereit wäre, zu finan-

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zieren (Trittbrettfahrerproblem u. a.). Ihm fehle in dem Beitrag von Miegel eine Differenzierung zwischen den ureigensten Staatsaufgaben, den öffentlichen Gütern, den „dringend notwendigen" staatlich organisierten Sozialleistungen und denen, die der Staat nicht übernehmen müsse, weil die private Wirtschaft in der Lage wäre, sie zu übernehmen. Ein Beispiel dafür sei die Diskussion um die Existenzsicherung für das Alter im Gegensatz zur momentanen Lebensstandardsicherung durch den Staat. Zustimmend bemerkte Miegel hierzu, dass der Staat einen großen Aufgabenbereich habe, der von den einzelnen auch in ihrer kollektiven Verbindung nicht erbracht werden könne. Zu Recht habe Bareis das Stichwort öffentliche Güter angesprochen. Er selbst habe hier von dem spezifisch gesellschaftlichen gesprochen, dass der Staat übernommen habe, das sei seine Eingrenzung für den Gesamtvortrag gewesen. Es gehe also nur um den Austausch in diesem Segment und in diesem Segment könne der Staat nicht mehr geben, als er genommen habe. Auf einen Schwachpunkt wies Udo Terjung, Rickenbach, hin und bezog sich auf eine von ihm gelesene Aussage, dass 9/10 aller Bundesbürger irgendwie am Sozialtransfer teilnähmen, soziale Leistungen erhielten und sich dessen vielfach gar nicht bewusst seien. Im übrigen würden - laut dieser Aussage - über 90 staatliche Sozialtransfers von etwas mehr als 45 offiziellen Staatsstellen verwaltet, was natürlich auf ein völliges Chaos hindeute. Ohne genau zu wissen, ob es tatsächlich 90 Leistungen seien, die durch 45 Stellen administriert würden, pflichtete Miegel dem bei, dass die Größenordnungen in etwa stimmen dürften. Hinter dem ganzen stecke aber schon System, weil die Bevölkerung eben die Wirkung des Sozialstaates nicht durchschauen solle. Sie solle nicht genau sehen, was von ihr eingefordert würde und sie solle auch nicht so genau wissen, was sie nun im einzelnen bekomme. Wäre der einzelne in der Lage, eine Soll-Haben-Rechnung vorzunehmen, eine Bilanz aufzustellen, könne er unschwer sagen, ob er auf der Verlierer- oder Gewinner-Seite stehe und in vielen Fällen könne er auch sagen, dass er ungefähr das wiederbekomme, was er in den Sozialstaat hineingegeben habe. Dies würde dem einzelnen allerdings keine besondere Befriedigung geben und deswegen bestehe eine ganz wichtige Aufgabe nicht nur aber auch - des Sozialstaates darin, dass das, was der Bürger an den Staat transferiere, möglichst gering erscheine und das, was der Staat an den Bürger transferiere, möglichst groß. Wenn er betone, dass dies nicht nur Aufgabe des Sozialstaates sei, so liege dies darin begründet, dass dies Ausdruck jedweder Form staatlicher Herrschaft sei. Momentan stecke man in einer Phase, in der sich immer mehr Bürger fragten, ob sie nicht mehr aufbrächten, als sie zurückbekämen. Diese Frage werde immer kritischer gestellt und münde dann ein in Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung, also Symptome, die man als Krankheitssymptome identifiziert habe. Siegfried Lessing, Unternehmer, Obersulm, stellte an Miegel die Frage, ob der eventuelle Kollaps des momentanen Systems nicht vielleicht dann eintreten werde,

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wenn die wirtschaftlichen, monetären Leistungen nicht mehr erbracht werden könnten. Dabei gebe es das ganz spezielle Problem, dass Deutschland im EuropaVergleich bzw. im Vergleich mit den westlichen Industrieländern den geringsten Anteil an Existenzgründern bzw. Selbständigen habe. Es gebe 100.000 Unternehmen, die nicht mehr übernommen werden wollten, niemand wolle sich also mehr selbständig machen. Seine provokative Frage gehe nun dahin, warum man nicht den neu gegründeten Unternehmen einfach soziale Leistungen anbiete und ob dies nicht eine Möglichkeit wäre, wieder mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Der mittelständische Unternehmer trage immer ein Risiko bis zur Pleite, es gebe keine Möglichkeit zur sozialen Absicherung für ihn. Wenn man den Unternehmer in den Sozialstaat integriere, würden vielleicht mehr Existenzgründungen und Arbeitsplätze geschaffen und der Sozialstaat hätte wieder vollere Töpfe. Als provokante Anmerkung wollte Miegel die Frage nach der Finanzierbarkeit des Sozialstaates über die Existenzgründer verstanden wissen und gab zu bedenken, dass genau an diesem Punkt die Sache anfinge, sich im Kreis zu drehen. Dies zeige auch, an welchen Punkt man mittlerweile gekommen sei, dass man sage, man müsse die Kühe mit Sozialleistungen füttern, damit sie die Milch geben würden, mit der man dann wiederum Sozialleistungen finanzieren könne. Die ganze Sache finge an, sich immer schneller zu drehen, was ein untrügliches Zeichen dafür sei, dass ein System sich erschöpft habe. Er wolle allerdings diese Frage zum Anlaß nehmen, ein möglicherweise im Raum stehendes Missverständnis auszuräumen. Er plädiere keineswegs dafür, dass man das Soziale zurückdrängen oder relativieren solle bzw. gar Abschied nehmen solle vom Sozialen. Das sei überhaupt nicht seine Botschaft. Er habe vielmehr an zwei Stellen in seinem Vortrag bereits darauf hingewiesen, dass das Soziale essentieller Bestandteil von Gesellschaft sei. Eine Gesellschaft, die aufhöre, sozial zu sein, sei keine Gesellschaft mehr, weil dies den Kitt, die Ligamente (wie Dahrendorf sagen würde) für eine Gesellschaft darstelle. Ohne Soziales, ohne Solidarität - als eine spezielle Spielart - gäbe es keine Gesellschaft. Es gehe also nicht gegen das Soziale, sondern gegen die Verstaatlichung des Sozialen. Einen Hinweis auf das Grundgesetz brachte Prof. Dr. Roland Geitmann, Fachhochschule Kehl in die Diskussion ein, indem er darauf verwies, dass dieses vielleicht klüger sei, als man bisher angenommen habe, weil der Begriff Sozialstaat dort gar nicht auftauche. Das Soziale tauche vielmehr als Eigenschaft bzw. Zielvorstellung des Staates in den Begriffen „sozialer Rechtsstaat", „sozialer Bundesstaat" auf und nicht als Aufgabe, es zu organisieren oder selbst zu bewirken. Dahingehend wäre zu fragen, ob es nicht Aufgabe des Staates sei, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sich das Soziale realisieren und ereignen könne. Es könne sich sowieso nur dort ereignen, wo die Menschen kraft ihrer Fähigkeiten und Neigungen füreinander arbeiten wollten und dies auch täten. Dies sei in der Wirtschaft so und somit sei das Soziale Aufgabe der Wirtschaft. Diese spiele sich allerdings nicht so ab, dass sich das Soziale auch wirklich ereigne. Sowohl die Erde als auch die menschlichen Fähigkeiten würden eigentlich genug bieten. Das

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Entstehen immer stärkerer Ungleichgewichte könnte u. a. darin begründet liegen, dass die eigentliche Aufgabe des Staates, allen Menschen den gleichen Zugang zu dem zu geben, was allen gehöre, unerfüllt sei. Dies seien die Schätze dieser Erde und vielleicht auch das Geld, was nur dazu da sei, dass Menschen wirtschaftlich miteinander kommunizierten. Merkwürdigerweise laufe die Gestaltung momentan so, dass sich dieses immer dort vermehre, wo sowieso schon zu viel sei und nicht dort, wo der Bedarf ungedeckt bliebe. Gerade darin sähe er eine Aufgabe des Staates und dies vor allem vor dem Hintergrund der schon angesprochenen Vision vielleicht auch Schreckensvision - des Sicherheitsstaates. Dies klinge eher nach Angstabwehr und nicht so sehr nach einer positiven, konstruktiven Aufgabe des Staates. Die Verteilungsaufgabe traue er, Geitmann, dem Staat durchaus zu, wobei er aber das Gefühl habe, dass auch die Wissenschaft in diesem Zusammenhang ihre Aufgabe noch nicht erkannt habe. Bezeichnend sei ja, dass der Paradigmenwechsel in der Wissenschaft, auch in der Ökonomie, offenbar genauso schwierig sei wie Anpassungsfähigkeit in der Gesellschaft. Was das Soziale angehe, stimmte Miegel dem völlig zu, dass der Verfassungsgeber wahrscheinlich unterbewusst klüger gewesen sei, als die, die ihm nachfolgten, weil er das Soziale in Form eines Adjektivs aufgenommen habe. Es sei Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen herzustellen, die es der Gesellschaft ermöglichten, sozial zu sein. Sozial heiße in Wirklichkeit ja nichts anderes, als gesellschaftlich zu sein, weswegen es eigentlich paradox wäre, vom Sozialstaat zu sprechen, weil der Sozialstaat eigentlich der gesellschaftliche Staat sei. Er würde dafür plädieren, dass man in einer gesellschaftlichen Gesellschaft lebe und nicht in einem gesellschaftlichen Staat. Abgesehen von dieser Art von Begriffsverwirrungen, meine er, dass es in den individualisierten Gesellschaften im globalen Kontext dringend erforderlich sei, dass der Staat der Gesellschaft ermögliche, sozial zu sein. Er sei nicht sicher, ob eine Ausdrucksform dieser Rahmengestaltung darin bestehe, dass der Staat jedem den gleichen Zugang zu den Gütern dieser Erde oder zu Geld verschaffe. Das könne eine Utopie sein, was er in keiner Weise abwertend meine. Eine Gesellschaft brauche Utopien, Utopien sollten auch sichtbar bleiben. Er halte es allerdings nicht für einen realistischen Zugang zur Gestaltung einer gesellschaftlichen Ordnung. Was die Dinge im Kontext der Anpassung von Wirtschaft oder ähnlichem anginge, stimme er Geitmann vollkommen zu. Es sei eben nicht nur ein Problem der Politik oder von gesamtgesellschaftlich veränderten Wirklichkeiten, sondern die Wirtschaft habe die gleichen Schwierigkeiten. Er habe auf die Religion und die Kirche bereits hingewiesen, die ebenfalls die gleichen Schwierigkeiten hätten. Jede gesellschaftliche Institution, jede Gesellschaft tue sich ungeheuer schwer, sich ändernde Wirklichkeiten erstens zur Kenntnis zu nehmen und zweitens darauf zu reagieren. Sie versuche diese Form von Anpassung solange es irgend gehe, zu vermeiden und weil dies so sei, ende ein solcher Prozeß nicht selten im Chaos. Mit der Bitte um Differenzierung der „Breitseite" gegen den Sozialstaat an einigen Stellen trat Anne Ulrich, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, in die Diskussion ein.

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Sie habe gehört, dass Miegel den Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Individualisierung in der Weise aufgenommen habe, dass die Entwicklung des Sozialstaates als Herrschaftsinstrument die Individualisierung in einem starken Maße produziere. Sie selbst würde es aber eher so verstehen, dass die Individualisierung den Sozialstaat begleitet habe. So etwas wie die Vervielfältigung von Lebenslagen, wie sie in der Bundesrepublik und in der DDR stattgefunden habe, sei nicht einfach ein Produkt der Sozialstaatsentwicklung. Auch so etwas wie Frauenberufstätigkeit sei ohne institutionelle Absicherung nicht vorstellbar und eine Kinderbetreuung ζ. B. sei eine Forderung, die nur zu dem Preis aufgegeben werden könne, dass man so etwas wie eine Idylle von Großfamilie wieder herbeirede, die in unserem Leben nicht mehr vorkomme und durch Wollen nicht wieder herstellbar sei. Die Auflösung dessen habe auch nicht die Entwicklung Sozialstaat mit sich gebracht. Es wäre eine lange Diskussion, was dafür erforderlich sei, die Leute in die Lage zu versetzen, soziale Belange auch selber wahrnehmen zu können. In diesem Zusammenhang verwies sie noch einmal auf die Aussage Miegels, dass es einen Unterschied im gesellschaftlichen Klima ausmache, ob sich eine Gesellschaft um die Hälfte ihrer Sozialbelange selber kümmere oder nur um ein Sechstel. Es wäre wahrscheinlich spannend, darüber zu reden, was die Hälfte sei, die der Staat an Sozialleistungen stelle und welche Hälfte es nicht mehr sei. Sie interessiere, worin die Hälfte liege, für die Miegel den Staat auch weiterhin verantwortlich machen wolle. In einer Richtigstellung formulierte Miegel in seiner Antwort, dass es sich um ein Missverständnis handele, wenn Ulrich ihn so verstanden habe, dass durch die Entwicklung des Sozialstaates als Herrschaftsinstrument die Individualisierung vorangetrieben worden sei. Vielmehr stimme er ihr zu, dass zunächst einmal der Individualisierungsprozeß eingesetzt habe, der dazu geführt habe, dass Sozialfunktionen, die von der Gesellschaft in früheren Phasen in ganz unterschiedlicher Art und Weise als heute wahrgenommen worden seien, nicht mehr hätten wahrgenommen werden können. Er habe schon angedeutet, dass es für die Bismarck'schen Sozialreformen durchaus gute Gründe gegeben habe und dahinter habe gestanden, das der Individualisierungsprozeß so weit vorangeschritten gewesen sei, dass der Staat vernünftigerweise habe intervenieren müssen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die Verstaatlichung des Sozialen ein einsichtiger Prozeß gewesen, wobei er darauf verweise, dass man in den 50er Jahren dann aber eine Option gehabt habe. Damals habe man zum ersten Mal eine Situation gehabt, in der materieller Wohlstand in einer Weise explodiert sei, die man bis dahin nicht gekannt habe. Innerhalb kürzester Zeit sei eine Versechsfachung dessen erfolgt, was pro Kopf zur Verfügung gestanden habe. In dieser Phase sei der einzelne und die Kleingruppe in eine ökonomische Situation geraten, die stärker gewesen sei als die ökonomische Situation der Großsippe im 19. Jahrhundert. Man hätte an dieser Stelle alternativ sagen können, dass man eine Reihe von Dingen, die aus guten Gründen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstaatlicht worden seien, wieder zurücknähme und in eigener Regie durchführe. Darüber sei auch die politische

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Kontroverse gegangen und auf deren Ausgang habe er, Miegel, bereits verwiesen: der Staat habe praktisch die Total Versorgung übernommen. Den Hinweis auf die Frauenberufstätigkeit beantwortete er damit, dass es nicht zwingend sei, dass dies staatlich organisiert werde, sondern es genauso gut gesellschaftlich organisiert sein könne, was man gar nicht erst versucht habe. Für ihn, Miegel stelle eine der dramatischsten Veränderungen die Verwandlung der Wohlfahrtseinrichtungen zu staatlichen Agenturen dar. Dies sei keine zwangsläufige staatliche Entwicklung gewesen, es hätten gesellschaftliche Agenturen bleiben können. Stattdessen seien Instrumente der Ausführung von staatlichen Sozialvorstellungen geschaffen worden. Wenn man von einer hälftigen Teilung der Aufgaben zwischen Gesellschaft und Staat spreche, wolle er nicht im einzelnen darstellen, dass bestimmte Funktionen beim Staat und andere wiederum bei der Gesellschaft lägen. Er denke dabei vielmehr an Größenordnungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme, in denen es in Deutschland de facto so sei, dass der Staat lebensstandardsichernde Versorgung sicherstelle. Dies stelle aber nach seiner, Miegels, Ansicht eine Perversion dar, dass Lebensstandardsicherung von Seiten des Staates postuliert werde. Er sei der Auffassung, der Staat könne nicht nur, sondern müsse eine Grundsicherung bereitstellen, aber was darüber hinausgehe, sei nicht mehr Angelegenheit des Staates. Da fände man aber tatsächlich auch zwei Gesellschaftstypen. Wenn man die Schweizer, Briten und Amerikaner im Vergleich sehe, seien diese eben in der hälftigen Beteiligung, wohingegen in Deutschland die Absicherung zu 5 / 6 durch den Staat übernommen werde. Noch sei man nicht am Ende - wie Prof. Dr. Rainer Pitschas, Speyer, an dieser Stelle festhielt, obwohl dies alles bereits eine eindrucksvolle Schilderung sei. Man müsse nur in die USA sehen, um sich dessen gewiß zu werden, dass Los Angeles die größte Stadt der Dritten Welt sei, weil man von Verstaatlichung abgesehen habe. Unter Bezugnahme auf das ausgesprochen interessante Referat, dem man in weiten Teilen auch zustimmen könne, stellte Gerald Häfner, Mitglied des Deutschen Bundestages, Berlin, fest, dass es ihn am Ende doch etwas ratlos hinterlassen habe. Durch die bisherige Diskussion sei man aber schon ein Stück näher an das herangekommen, in welche Richtung seine Frage nun gehe. Es sei unbestreitbar, dass das, was früher gewesen sei - das Soziale aus der Familie, der Großgruppe, der Kirche - nicht dauerhaft so habe funktionieren können. Der Staat habe eingegriffen und sich dies zur Aufgabe gemacht, was dann schließlich zu dem Moloch geführt habe, den man heute beobachten könne - mit allem Anspruchsdenken und vielem mehr. Ihn würde jetzt vielmehr interessieren, in welche Richtung Miegels Vision gehe, wie die Gesellschaft - um dies auch ein wenig mehr auszudifferenzieren - in Zukunft mehr Träger des Sozialen werden könne. Er frage sich, ob man es nicht ein bisschen mehr ausbuchstabieren könne, wie es gelingen solle, dass die Gesellschaft mehr Träger würde, was also die Zukunft des Sozialen wäre, wenn es nicht der Sozialstaat hergebrachter Form sei. Wenn er das durch eine Zuspitzung noch anreichern dürfe, dann wolle er noch einmal darauf hinweisen, dass man momentan in einer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung stünde, die dazu

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führe, dass die Schere immer weiter auseinanderdrifte. Es gäbe ζ. B. das Phänomen, dass - nicht was die Zahl der Einkommensbezieher, aber was die Summe der Einkommen betreffe - mittlerweile in manchen Staaten der Erde über 50% der Einkommen nicht mehr aus Arbeit, sondern aus Kapitalanlagen kämen. Das Geld wachse aber nicht von selbst, sondern es seien dann andere Menschen tätig, die das an Werten hervorbrächten, was man selbst - mit dem, was man verdiene - durch die Anlage des eigenen Kapitals an Waren und Dienstleistungen wiederum beziehen könne. Ihn würde interessieren, wie man diesem Problem in irgendeiner vernünftigen Form Herr werden könne, ohne den Staat weiter aufzublähen. Direkt daran anschließend merkte Frank Decker, Privatdozent an der Universität der Bundeswehr, Hamburg, an, dass ihm in Miegels Vortrag die vergleichende Perspektive etwas gefehlt habe. Zwar habe dieser über die Schwierigkeit der Durchsetzung von Sozialstaatsreformen in der Demokratie gesprochen, wobei dies auf Deutschland bezogen worden sei. Nun existierten in Europa aber durchaus Beispiele fortgeschrittener Sozial- und Wohlfahrtsstaaten, in denen es zu Reformen gekommen sei. Er denke dabei an die skandinavischen Staaten sowie die Niederlande, die auch in der deutschen Sozialstaatsdiskussion immer als Vorbild gerühmt worden seien. Von daher stelle er sich die Frage, wie sich denn solche Unterschiede erklärten, ob dies mit den institutionellen Strukturen sowohl des politischen Systems als auch des Sozialstaates zu tun habe. Man habe es in Skandinavien und in der Bundesrepublik - um dies einmal gegenüberzustellen - mit völlig unterschiedlichen Sozialstaatsmodellen zu tun. Eine Hypothese wäre mithin, dass vielleicht das steuerfinanzierte Modell der skandinavischen Länder für Reformen eher geeignet sei als das beitragsfinanzierte Modell in der Bundesrepublik. Eine andere Hypothese der institutionellen Strukturen des politischen Systems (die beispielsweise von dem früheren BDI-Präsidenten Henkel angedeutet worden sei) sei auch, dass eventuell die verkrusteten Strukturen des Föderalismus dafür verantwortlich gemacht werden könnten, dass Sozialstaatsreformen in Deutschland eben nur sehr schwer möglich seien. Um dies zuzuspitzen, wäre zu fragen, ob man dem grundsätzlichen Reformpessimismus, den Miegel in seinem Vortrag gezeigt habe, nicht entgegentreten könne, indem man stärker auf die Institutionen schaue und dort nach Anknüpfungspunkten suche, um solche Reformen möglich zu machen. In der Abschlussstellungnahme ging Miegel noch einmal auf die europäische Problematik ein, indem er feststellte, dass immer wieder europäische Vorbilder herangezogen werden würden. Dabei würde eben häufig bemerkt, dass es in anderen Ländern gelungen sei, den Sozialstaat zu reformieren und es würde bezeichnenderweise immer auf Skandinavien verwiesen. Interessanterweise sei hier als Kontrapunkt der Föderalismus als Problem in Deutschland dargestellt worden. Das sei insofern überraschend, als er auch genau andersherum argumentieren könne. Er könne sagen, überall da, wo sehr überschaubare, kleine Gemeinwesen existierten, gelänge so etwas wie - er wolle nicht sagen die Reform des Sozialstaates aber der geordnete Rückzug des Sozialstaates. Man könne auch noch andere Beispiele nennen, ζ. B. Island oder Neuseeland. Dies seien Länder, in denen wirklich Verän-

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derungen eines sehr stark entwickelten Sozialstaates gelungen seien, aber ausnahmslos in beschränkender Richtung. Zufälligerweise sei er sehr vertraut mit der schwedischen Entwicklung und hier gäbe es eine massive Rückführung des Sozialstaates. In den Niederlanden sehe es ein wenig anders aus. Für ihn sei bemerkenswert, dass es ganz offensichtlich eine der Voraussetzungen für die Wiedervergesellschaftung des Sozialstaatlichen sei, dass diese Gesellschaften sich - methaphorisch geprochen - am Küchentische des Ministerpräsidenten finden könnten, ganz konkret beieinander säßen. Diese 10-30 Leute könnten dann in Ruhe damit anfangen, die Gesellschaft wie einen Sauerteig zum Gären zu bringen. Er glaube nicht, dass der Föderalismus in Deutschland das Hindernis sei, sondern dass dessen Schwäche in Deutschland ein wesentlicher Grund dafür sei, dass die wesentlichen Sozialstaatsreformen nicht durchgeführt werden könnten, weil der Sozialstaat zum allergrößten Teil eine bundesstaatliche Angelegenheit sei. Dies sei der eigentliche Widerspruch, das man andere politische Strukturen als Verantwortlichkeiten habe und dies nicht zusammenpasse. Diese müsste man passgenau machen. Würde man den Sozialstaat herunterbrechen können auf die Länderebene, wäre wahrscheinlich eine Reform viel leichter möglich. Dabei handele es sich um einen Herzenswunsch der CSU seit vielen Jahren, mehr sozialstaatliche Funktionen auf bayrisches Terrain zu holen, was ihnen vehement verweigert werde. Er glaube, es wäre eine eigene spannende Diskussion, wie Gesellschaften heute beschaffen sein müßten, damit sie reformfähig würden. Nach seiner Meinung sei die ganze Sache um so reformfähiger, je kleiner die Einheit wäre, je größer die Einheit sei, umso schwieriger werde es. Häfner habe im übrigen eine Vision angemahnt. Dazu könne er, Miegel } in der Tat darauf verweisen, dass es eine Fülle von Dingen gebe, die er nicht angesprochen habe, weil das Thema so uferlos groß sei, dass man sich auf irgendwelche Aspekte beschränken müsse. Die Entstaatlichung des Sozialen schreite bereits voran, da brauche er gar keine Vision zu entwickeln. Ein Beispiel dafür sei, dass wenn nicht ganz nebenbei, aber doch en passant - eine Rentenreform durchgeführt werde, in der nun 1 / 8 dessen, was man Vorsorge, künftig durch Kapitalbildung geschehen solle und der Staat in diesem Bereich keine Lebensstandardsicherung mehr versprechen würde. Ein weiteres geschehe, wenn es heiße, man müsse im Bereich der Krankenversorgung zu größeren Selbstbehalten kommen, im Bereich der Arbeitslosigkeit Veränderungen in der Richtung vorgenommen würden, dass der einzelne künftig mehr tragen müsse als bisher. Dies alles seien kleine Schrittchen, die aber in ihrer Summe Veränderungen des ganzen darstellten, nur sei dies nicht Reform des Sozialstaates, sondern eben Entstaatlichung des Sozialen. Ob dies nun gut sei oder nicht, wolle er erst einmal dahingestellt sein lassen, das sei wieder eine eigene Debatte. Er könne nur beobachten, dass nach dem unglaublich kräftigen Erblühen des Sozialstaates - und er betone immer wieder das Staatliche an dem ganzen - nunmehr eine Phase des Welkens begonnen habe, was das Staatliche angehe. Häfner habe darauf verwiesen, dass es doch offensichtlich noch einen Bedarf an sozialstaatlichen Aktivitäten gebe, wenn Gesellschaften existierten, in denen 50%

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der Einkünfte aus Kapitalanlagen stammten. Ihm, Miegel seien solche Gesellschaften nicht bekannt, die niedrigste Lohnquote, die er kenne, liege bei 70% und je ärmer das Land sei, umso höher liege die Lohnquote. In Indien sei diese seines Wissens nach ca. 94%, d. h. alles was dort erwirtschaftet würde, fließe in Löhne. Wenn man eine Kapitalquote in einer Größenordnung von 20-21% habe, sei dies extrem viel und an sich - gemessen am Kapitaleinsatz moderner Volkswirtschaften - keineswegs übermäßig. Man müsse sich vor Augen führen, wo das Kapital herkomme. Bezugnehmend auf die vorher bereits angesprochene Problematik des Auseinanderdriftens von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft, müsse man sehen, dass sich das Problem in seiner Schärfe nicht stellen würde, wenn man eine funktionierende Vermögensbildung in Deutschland gehabt hätte. Aus seiner Sicht sei es möglicherweise die verhängnisvollste Konsequenz des sozialstaatlichen Handelns der Vergangenheit, dass der Sozialstaat den Bürger zumindest psychisch davon abgehalten habe, sich durch Kapitalbildung an der Wertschöpfungskapazität des Kapitals zu beteiligen. Der Staat habe deutlich gemacht, dass er für den Bürger sorge, dass er guter Vater und gute Mutter sei und der Bürger dies alles nicht brauche. Der Staat habe das Bild aufrecht erhalten, dass er aus der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit so viel herausziehe, wie die Bürger brauchen würden, um ihren Lebensstandard halten zu können. Indem der Staat dies getan habe, habe sich der größte Teil der Gesellschaft recht wohlig zurückgelehnt. Es habe auch eine ganze Weile funktioniert und dann seien eben diese Entwicklungen geschehen, die bereits aufgegriffen worden seien, Shareholder Value u. ä. So stelle man also plötzlich fest, dass diejenigen Bevölkerungsgruppen, die nicht durch Kapital an der Wertschöpfungskapazität der sich ändernden Volkswirtschaft teilnehmen könnten, zurückfielen und die Schere immer größer werde. Dies sei nun eine Konsequenz aus 50 Jahren verfehlter Sozialstaatspolitik, was keine Globalkritik am Sozialstaat und seinem Wirken darstelle. Man müsse nüchtern feststellen, der Sozialstaat habe gravierende Fehler begangen, so wie jede staatliche Ordnung solche Fehler begehe, dass sie irgendwann einmal an ihren Fehlern zugrunde gehe. Zum Abschluss bedankte sich Pitschas bei Miegel für seine zündende, wenn auch sehr einseitige Hypothese zum Sozialstaat. Man werde in späteren Tagungen finden, dass auch das Gegenteil vorgetragen werde und das sei gut so, weil man in Speyer immer den Austausch der Meinungen pflege.

Präsidialsystem und direkte Demokratie in der Europäischen Union? Von Frank Decker Einleitung In keinem anderen politischen System der westlichen Welt dürfte die Forderung nach „mehr Demokratie" größere Berechtigung haben als in der Europäischen Union. Dass in der europäischen Politik ein eklatantes Defizit an demokratischer Struktur herrscht, ist in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion gänzlich unstreitig. Unterschiedliche Ansichten bestehen allerdings über die Ursachen des Defizits und die Möglichkeiten, es zu bekämpfen. Die Eurooptimisten betrachten das Demokratiedefizit in erster Linie als institutionelles Problem. Einen demokratischen Umbau des europäischen Institutionensystems halten sie für möglich, wenn nur der Wille dazu bei den nationalen Mitgliedsstaaten gegeben sei. Die Europessimisten sehen für das Demokratiedefizit tiefer gehende Ursachen, die durch institutionelle Reformen allein nicht behoben werden könnten. Von daher raten sie zu behutsameren Schritten bei der künftigen Integration, um das Problem nicht ohne Not weiter zu verschärfen. Hauptansatzpunkt für dessen Bekämpfung sei eine bessere Rückbindung der europäischen an die nationale Politik. Eine realistische Sichtweise wird beide Positionen zusammenführen müssen. So berechtigt die Forderung der Eurooptimisten nach einer institutionellen Demokratiereform ist, so richtig ist auch, dass sich die nationalen Demokratiestandards auf die europäische Ebene nicht ohne weiteres übertragen lassen. Nach einer einleitenden Bestimmung der in der Literatur uneinheitlich verwandten Begriffe „Demokratisierung" und „direkte Demokratie" möchte ich im zweiten Teil des Aufsatzes aufzeigen, warum die von den Optimisten favorisierte Parlamentarisierungsstrategie (mehr Rechte für das Europäische Parlament bei der Gesetzgebung und Bestellung bzw. Abberufung der Kommission) den eigentlichen Charakter des EU-Demokratiedefizits verfehlt. Im anschließenden dritten Teil werden die Einführung direktdemokratischer (plebiszitärer) Entscheidungsverfahren sowie die Direktwahl der exekutiven Entscheidungsorgane als mögliche Alternativen der Demokratisierung erörtert. Wie der abschließende vierte Teil zeigt, sprechen die meisten Argumente dabei für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Diese hat den Vorteil, dass sie sich in die vorhandenen institutionellen Strukturen am vergleichsweise besten ein-

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passt. Die EU würde sich damit dem Modell des amerikanischen Präsidentialismus annähern.

I. Demokratisierung und direkte Demokratie: Überlegungen zur Begrifflichkeit Der Begriff der direkten Demokratie kann in einem weiteren oder engeren Sinne aufgefasst werden. Im weiteren Sinn bezeichnet er alle Maßnahmen, die auf eine Demokratiserung des politischen Systems abzielen, wofür als Gegenstand entweder die staatlichen Wahlen oder die Parteien in Betracht kommen.1 Mit Blick auf die Wahlen lassen sich als Formen der Demokratisierung unterscheiden: - erstens die Ausdehnung des Wahlrechts auf die gesamte mündige Bevölkerung. Den letzten Schritt in diese Richtung markierte historisch gesehen das Frauenwahlrecht, das in den meisten Verfassungsstaaten bis spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg errungen war, wenn man von der bemerkenswerten Ausnahme der Schweiz (erst 1971 !) einmal absieht; - zweitens die Verwirklichung des demokratischen Gleichheitsprinzips („one man, one vote"). Dieses Prinzip hat sich bisher nur im nationalstaatlichen Rahmen durchsetzen lassen, wobei es allerdings wahlsystembedingt zu beträchtlichen Abweichungen kommen kann (das Problem der Wahlkreiseinteilung). Bei den Wahlen zum Europaparlament wird der Grundsatz weiterhin verletzt. Die Sitzzuweisung an die Mitgliedsstaaten folgt hier dem politischen Kalkül einer als angemessen erachteten Proportionalität, die das Stimmenverhältnis zwischen kleinen und großen Ländern stark verzerrt; 2 - drittens die Ablösung der mittelbaren durch die direkte Wahl. Wird eine Wahlentscheidung nicht mehr durch delegierte Vertreter, sondern unmittelbar vom Wahlvolk getroffen, steigt ihre Legitimationskraft. Prominente Beispiele für die nachträgliche Einführung der direkten Volkswahl sind der amerikanische Senat (1913), der französische Staatspräsident (1962) und - inzwischen wieder abgeschafft - der israelische Premierminister (1992). In anderen Fällen bleibt der indirekte Wahlmodus zwar formell bestehen; er verliert aber an realer Bedeutung, weil sich die Vertreter an das Votum des Volkes politisch gebunden fühlen. In 1 Demokratisierungsmaßnahmen in anderen gesellschaftlichen Bereichen können an dieser Stelle ausgeklammert werden, da sie nicht primär auf das politische Entscheidungssystem gerichtet sind. 2 Vgl. Winfried Steffani, Das Demokratie-Dilemma der Europäischen Union. Die Rolle der Parlamente nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: ders./Uwe Thaysen (Hg.), Demokratie in Europa, Opladen 1995; S. 38 ff. Durch die Neuvereinbarung der Stimmenverteilung im Nizza-Vertrag wurde die Disproportionalität nur unwesentlich korrigiert. Nimmt man den Luxemburger Wähler zum Maßstab, so hat nach dem derzeit gültigen Schlüssel weiterhin ein Luxemburger das gleiche Stimmgewicht wie 16 deutsche Wähler.

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den USA bringt der Begriff der „Präsidentschaftswahr 4 diese Tatsache unmittelbar zum Ausdruck (in Wirklichkeit entscheiden die Wähler ja nur über die Zusammensetzung des electoral college). In Europa wird sie durch den Begriff der parlamentarischen Demokratie eher verdeckt, obwohl sich die Parlamentswahlen auch hier vielerorts de facto zu Premierminister- oder Kanzlerwahlen herausgebildet haben; - viertens die Personalisierung der Parteien wählen. In den parlamentarischen Systemen Europas richten die Wähler ihre Wahlentscheidungen in erster Linie an der Parteizugehörigkeit des oder der Kandidaten aus. Ob ihnen darüber hinaus weitere Auswahlchancen in personeller Hinsicht zuwachsen, hängt vom Wahlsystem ab. Während die Wahlmöglichkeiten bei Einzelkandidaturen (im Mehrheitswahlsystem) oder starren Listen (bei der Verhältniswahl) gegen Null streben, erhöht das in den meisten europäischen Ländern praktizierte Verhältniswahlrecht mit lose gebundenen Listen den Wählereinfluss, da das Volk hier auch über die Rangfolge der Bewerber mitbestimmen kann. Noch größer sind die Einflusschancen bei der freien Liste, die bislang allerdings nur in wenigen Ländern Anwendung findet (Schweiz, Finnland, Luxemburg); diese erlaubt es dem Wähler, seine Stimmen zu bündeln und / oder auf Kandidaten verschiedener Parteien zu verteilen (Kumulieren und Panaschieren). Repräsentative und plebiszitäre Komponenten des Verfassungsstaates stehen in einem notwendigen Ergänzungsverhältnis. Mangelt es dem Volk an direkten Einflussmöglichkeiten auf das Regierungsgeschehen, so wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich die plebiszitäre Komponente auf anderem Wege - über die politischen Parteien - Bahn bricht. Das Verhältnis der Parteien zur Demokratie besitzt eine Innen- und eine Außenseite. Die Innenseite bezeichnet den inneren Zustand der Parteien, von dem Ernst Fraenkel einmal gesagt hat, er entscheide über den Zustand der Demokratie insgesamt.3 Die Außenseite manifestiert sich im Parteienwettbewerb. Mit dem Verschwinden der alten Weltanschauungsparteien haben sich die Gewichte zwischen beiden Seiten verschoben. Anstelle der Binnenorientierung auf Mitglieder und Funktionäre ist eine zunehmende Außenorientierung der Parteien auf die Wählerschaft getreten, die den plebiszitären Charakter der Politik verstärkt. Auch die jüngsten Versuche der bundesdeutschen Parteien, sich mittels neu eingeführter Urwahlen und Mitgliederentscheide zu demokratisieren, dürften in erster Linie der Attraktivitätssteigerung nach „draußen" gedient haben. Eine besonders weitreichende Form der parteiinternen Demokratisierung stellt das amerikanische Vorwahlsystem dar, weil sich hier neben Mitgliedern und Sympathisanten auch ganz normale Wahlberechtigte an den Auswahlprozessen beteiligen können. Zu Beginn des Jahrhunderts eingeführt, um die Macht der lokalen Par3

Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 6. Auflage, Stuttgart u. a. 1974, S. 151. Das vollständige Zitat lautet: „Der Bestand der Demokratie im Staat hängt ab von der Pflege der Demokratie in den Parteien. Nur wenn den plebiszitären Kräften innerhalb der Verbände und Parteien ausreichend Spielraum gewährt wird, kann eine Repräsentativverfassung sich entfalten." 6 von Arnim

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teimaschinen zu brechen, sind die Primaries zu einem immer wichtigeren Selektionsmechanismus der Präsidentschaftskandidaten geworden: Bei Demokraten wie Republikanern werden inzwischen drei Viertel der Delegierten eines Nominierungskonvents unmittelbar von den Wählern bestimmt. Von direkter Demokratie im engeren Sinne spricht man beim Vorhandensein plebiszitärer Entscheidungsrechte und Verfahren (auf der Wählerebene). Der Begriff Plebiszit wird in der Literatur unterschiedlich verwandt. Einige Autoren verstehen darunter lediglich Entscheidungen über Sachfragen, während andere den Begriff für sämtliche Abstimmungen benutzen, die außerhalb der regulären Wahlen stattfinden. 4 Letztere Sprachregelung ist insofern sinnvoller, als sie auch solche Personalvoten mitumfasst, die - wie das Abberufungsrecht (recall) in den Vereinigten Staaten - von den Bürgern in eigener Initiative betrieben werden. Bei den Sachplebisziten gilt es zwischen Initiativ- und Entscheidungsrechten zu unterscheiden. Das stärkere Mittel der Volksinitiative kennt in Westeuropa auf nationaler Ebene allein die Schweiz; auf der einzelstaatlichen Ebene ist das Instrument darüber hinaus in Deutschland und Österreich verbreitet. Aufgrund ihrer föderalen Struktur tun sich die Letztgenannten leichter als andere europäische Staaten, solche Initiativrechte in den Bundesländern vorzuhalten. Allgemeinheit (staatliche) Wahlen

Gleichheit Unmittelbarkeit Personalisierung

im weiteren Sinne (= Demokratisierung) direkte Demokratie

Vorwahlen (primaries) Parteien

Urwahlen Mitgliederentscheid sonstige Mitgliederrechte Abberufung (recall)

im engeren Sinne (= plebiszitäre Elemente)

Volksinitiative (-begehren) Volksentscheid Referendum

Abb. 1 : Formen direkter Demokratie 4

Für die erste Position vgl. Silvano Möckli, Direktdemokratische Einrichtungen und Verfahren in den Mitgliedstaaten des Europarates, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29 (1998) H.l, S. 90-107; für die zweite Leonhard Neidhart, Interessen Vermittlung im schweizerischen Regierungssystem, in: Ralf Kleinfeld / Wolfgang Luthardt (Hg.), Westliche Demokratien und Interessen Vermittlung, Marburg 1993, S. 114-130.

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Als letzte und schwächste Beteiligungsart wäre der eigentliche Volksentscheid zu nennen. Mit Ausnahme der Niederlande und Belgiens, die diese Form der direkten Demokratie nicht oder allenfalls auf der lokalen Ebene kennen, ist die Möglichkeit des Referendums heute in sämtlichen westlichen Demokratien gegeben. Große Unterschiede bestehen allerdings bei der Nutzungshäufigkeit. Bildete man eine Rangfolge unter den Ländern, würden Kalifornien und die Schweiz an der Spitze liegen, während andere Staaten (etwa Großbritannien oder Norwegen) das Referendum nur im Ausnahmefall anwenden. Eine mittlere Position hinsichtlich ihrer Referendumspraxis nehmen Dänemark, Österreich, Frankreich und Italien ein. Auch die Bundesrepublik gehört in diese Kategorie, obwohl sie das Instrument bisher ausschließlich auf der Länderebene eingesetzt hat.5

II. Warum das parlamentarische Demokratiemodell für die EU nicht taugt Als prozedurale Idee besagt Demokratie, dass die Bürger - und zwar alle Bürger in gleichem Maße - die Möglichkeit besitzen müssen, politische Entscheidungen in relevanter Weise zu beeinflussen. Daraus lassen sich die folgenden Mindestanforderungen an ein demokratisches System ableiten:6 - Das politische Führungspersonal (die Regierung) muss vom Volk autorisiert (eingesetzt) werden; - Die Entscheidungen der Führung müssen repräsentativ sein, d. h. den Interessen des Volkes möglichst weitgehend entsprechen; und - die Führung muss sich vor dem Volk verantworten, dem das letzte Wort über die Regierungspolitik zusteht. Es bedarf keines großen Aufwands zu zeigen, dass diese Bedingungen in der Europäischen Union nicht erfüllt sind. Zwar gibt es in Europa seit 1979 ein direkt gewähltes Parlament, das bei der Auflistung der Organe im EG-Vertrag entsprechend an erster Stelle (noch vor Ministerrat und Kommission) steht. Ginge es nach der tatsächlichen Stellung, müsste es allerdings umgekehrt sein. Der Grund dafür liegt nicht, wie in der Literatur oft angenommen, in fehlenden Gesetzgebungskompetenzen. Das Gesetzgebungsrecht der Union wird bekanntlich primär vom Ministerrat und erst in zweiter Linie vom Europäischen Parlament ausgeübt. Genauer gesagt teilt sich der Rat die Gesetzgebungsfunktion mit der Kommission, da von der Letzteren sämtliche Gesetzesinitiativen ausgehen. Dass die Gesetzgebungsprozesse in der EU von der Exekutive beherrscht werden (auch der Rat stellt ja von der Struktur her ein Exekutivorgan dar), ist dabei zunächst nichts Ungewöhnliches, sondern ein Kennzeichen fast aller parlamentarischen Regierungssysteme. Im Ver5 6

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Vgl. den Überblick bei Möckli, ebd. Christopher Lord, Democracy in the European Union, Sheffield 1998, S. 15.

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gleich der legislativen Funktionen schneidet das Europäische Parlament in mancherlei Hinsicht sogar besser ab als die meisten nationalen Parlamente. Zwar verfügt es anders als diese nur in bestimmten Bereichen der Gesetzgebung über ein dem Rat gleichberechtigtes Beschlussrecht. Dort, wo es mitentscheiden kann, sind seine faktischen Einwirkungsmöglichkeiten jedoch keineswegs gering. 7 Der demokratische Makel des Europäischen Parlaments besteht darin, dass es über das wichtigste Recht einer Volksvertretung im parlamentarischen System nicht oder nur unvollständig verfügt: Das Recht, die Regierung zu bestellen und abzuberufen. Neben dem auch von nationaler Seite nur unzureichend legitimierten Ministerrat betrifft das vor allem die Kommission, die die wichtigsten Exekutivfunktionen der Gemeinschaft wahrnimmt. Diese bedarf zwar inzwischen der förmlichen Bestätigung und kann durch das Parlament auch abgesetzt werden, doch handelt es sich dabei weniger um ein politisches als um ein rechtliches Verfahren, wie man am (gescheiterten) Misstrauensanstrag gegen die Santer-Kommission im Januar 1999 zuletzt wieder hat sehen können. Nach wie vor sind es die Vertreter der nationalen Regierungen, die über die Mitglieder der Kommission und ihren Präsidenten entscheiden (so auch bei der seither amtierenden Prodi-Kommission). Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament spielen für deren Zusammensetzung also so gut wie keine Rolle. Die Tatsache, dass es eine parlamentarisch verantwortliche Regierung in Europa nicht gibt, liefert eine gute (und nur scheinbar paradoxe) Erklärung für die „starke" Position des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsprozess. Weil das EP die Regierung (Kommission) nicht „kreiert", wie in einem parlamentarischen System normalerweise üblich, kann es dieser vergleichsweise unbefangen gegenübertreten.8 Die schwach ausgeprägten Loyalitätsbeziehungen zwischen Kommission und Parlament in der EU erinnern insoweit an das präsidentielle System der USA, wo das legislative Gewicht des Kongresses ebenfalls auf der formellen Unabhängigkeit von der Exekutive gründet. Das Verlangen des Europäischen Parlaments nach mehr Entscheidungsrechten (bis zur völligen gesetzgeberischen Gleichstellung mit dem Ministerrat) macht vor diesem Hintergrund Sinn: Solange die europäische Regierung keine parlamentarische ist, liegt darin die einzige Möglichkeit, das politische System der EU zu „parlamentarisieren". 9 Ob dies die EU schon zu einem demokratischen System machen würde, bleibt allerdings fraglich. Die bei der letzten Europawahl (im Juni 1999) auf ein Rekordtief gefallene Wahlbeteiligung kann offenbar nur so gedeutet werden, dass sich der Machtzu7

Vgl. Renaud Dehousse, Constitutional Reform in the European Community: Are There Alternatives to the Majority Avenue?, in: West European Politics 18 (1995) H.3, S. 122. 8 Vgl. Fulvio Attinâ, The Voting Behaviour of the European Parliament Members and the Problem of the Europarties, in: European Journal of Political Research 17 (1990), S. 557 f. 9 Vgl. Axel Misch, Legitimation durch Parlamentarisierung? Das Europäische Parlament und das Demokratiedefizit der EU, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 6 (1996) H.4, S. 969-995.

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wachs des EP bis zu den Wählern noch nicht herumgesprochen hat. Sinkende Wahlbeteiligungen sind heute auch in den nationalen politischen Systemen an der Tagesordnung, beeinträchtigen allerdings nicht deren grundsätzliche demokratische Legitimität. In der EU bleibt die Akzeptanz des Institutionensystems hingegen so schwach, dass eine wirkliche Legitimation des Integrationsprozesses daraus nicht erwachsen kann. Das demokratische Problem der EU besteht darin, dass die supranationalen Merkmale ihres Institutionensystems an der gesellschaftlichen Basis - bei Parteien und Wählern - kaum Widerhall finden. Obwohl die Abgeordneten des EP seit 1979 unmittelbar von den Bürgern bestimmt werden können, sind die Europawahlen bis heute „second order elections" geblieben.10 Damit ist zweierlei gemeint: Erstens fallen die Wahlen zum EP in ihrer Bedeutung hinter den nationalen Parlamentswahlen zurück, denen nach wie vor das Hauptinteresse des Wählerpublikums gebührt. Zweitens - und hier liegt das gravierendere Problem werden sie von den Parteien ganz oder überwiegend unter nationalen Gesichtspunkten geführt und zum Teil als „Zwischenwahlen" regelrecht missbraucht. Der mit Maastricht eingetretene Integrationssprung und die ihn begleitende Aufwertung des Parlaments haben daran nichts Nennenswertes verändert. Damit ist die Frage natürlich noch nicht entschieden, ob die Verantwortung für das Demokratiedefizit eher bei den Parteien oder bei den Wählern zu suchen sei. Die Antwort dürfte wohl in der Mitte liegen. Aufgrund der vergleichsweise geringen Bedeutung der Europawahl geraten die Parteien zwangsläufig in die Versuchung, diese für nationale Zwecke zu benutzen. Dieses Verhalten ist verständlich, wenn man das Demokratieproblem des EP von der Wählerseite her betrachtet. Bedeutet Demokratie, dass die in Wahlen bestellten Politiker das Volk repräsentieren und sich vor ihm verantworten müssen, dann bedarf das Parlament, um diese Pflicht zu erfüllen, eines breiten Unterbaus an gesellschaftlichen Vermittlungsinstitutionen, wozu neben den Parteien auch Interessen Vertreter, Bürgerinitiativen und die Medien gehören. Dass sich diese Institutionen bislang ausschließlich oder vor10 Vgl. Jean Blondel/Richard Sinnott/Palle Svensson, People and Parliament in the European Union. Participation, Democracy, and Legitimacy, Oxford 1998, S. 14. Institutionellen Ausdruck findet die nachrangige Bedeutung der Europawahlen zum einen in der Verletzung des Gleichheitsprinzips bei der Sitzverteilung, zum anderen in der Tatsache, dass jedes Land bei den Wahlen sein eigenes Wahlrecht praktizieren kann - im nationalstaatlichen Rahmen wäre das eine völlig absurde Vorstellung. Zwar sind die gröbsten Unterschiede mittlerweile beseitigt, nachdem Großbritannien bei der jüngsten Wahl zum EP erstmals das ihm un vertraute Verhältniswahlsystem angewendet hat. Von der Schaffung eines einheitlichen Wahlverfahrens - wie in den Gemeinschaftsverträgen vorgegeben - sind die Mitgliedsstaaten aber nach wie vor weit entfernt. Die unterschiedlichen Wahlverfahren verursachen unter demokratiepolitischen Aspekten mindestens soviel Schaden wie die disproportionale Sitzzuweisung, weil sie die nationale Uberlagerung der Europawahlen in institutioneller Hinsicht präjudizieren. Für den Alltag des europäischen Parlamentarismus bedeutet dies, dass die Abgeordneten aus den einzelnen Mitgliedsländern über die eigentliche Parlamentsarbeit hinaus kaum gemeinsame Erfahrungen ausbilden können: Kandidatenaufstellung, Programmatik und Wahlkampfführung bleiben ganz oder überwiegend in den Händen der nationalen Parteiorganisationen.

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wiegend in nationalem Rahmen bewegt haben, ist kein Zufall und kann durch noch so gut gemeinte Reformen nicht behoben werden. Es rührt aus dem Fehlen eines gemeinsamen öffentlichen Adressaten, auf den der demokratische Willensbildungsprozess in der EU Bezug nehmen könnte. Mit zunehmender Bedeutung der europäischen Politik ist zwar davon auszugehen, dass sich die nationalen Interessengruppen auch europaweit organisieren und betätigen werden, so wie es die Parteien heute ansatzweise schon tun. „Ebenso zuverlässig kann man freilich voraussagen, dass es sich dabei um eine Europäisierung auf der Leitungs- und Funktionärsebene, nicht auf der Mitgliederebene der Parteien und Verbände handeln würde. Der Abstand zwischen Basis und Spitze droht größer zu werden. Davon werden besonders stark Parteien betroffen sein, die eher Unterschichten als Oberschichten vertreten und Verbände, die Interessen von Personen statt von Unternehmern repräsentieren. Mit einer Europäisierung der Medien wäre vollends nicht zu rechnen." 11

I I I . Alternativen der Demokratisierung im Überblick Ein Großteil der Vorschläge zur institutionellen Fortentwicklung der EU kranken daran, dass sie die Gemeinschaft an der falschen Elle der parlamentarischen Demokratie messen, die auf der nationalstaatlichen Ebene existiert. In der letzten Zeit mehren sich allerdings die Stimmen, die den bisher eingeschlagenen Weg der Parlamentarisierung für eine Sackgasse halten und nach Alternativen der Demokratisierung suchen. Gemeinsamer Ausgangspunkt der Vorschläge ist es, die Outputlastigkeit des jetzigen Systems zu überwinden und das „Volk" der EU mit mehr Entscheidungsrechten auszustatten. Mit Blick auf die institutionellen Adressaten der Demokratisierung lassen sich mindestens vier Reformstrategien unterscheiden: 1. Die erste Strategie sieht vor, das bisher strikt repräsentative Entscheidungssystem der EU durch die Einführung direktdemokratischer Verfahren (auf Unionsebene) zu ergänzen. In diese Richtung weisen ζ. B. die Vorschläge von Edgar Grande und Michael Zürn 12 , die damit unmittelbar an das Schweizer Modell anknüpfen. Der Nutzen der europaweiten Plebiszite wird einerseits in ihrer responsivitätssteigernden Funktion gesehen ( indem sie dem Bürger ein potenzielles Drohinstrument gegenüber den Gemeinschaftsorganen an die Hand geben); zum anderen erhoffen sich die Befürworter von ihnen eine stärkere Europäisierung der Willensbildungsprozesse, was wiederum zur Schaffung eines gemeinsamen demokratischen Bewusstseins beitrage.

11 Dieter Grimm, Der Mangel an europäischer Demokratie, in: Der Spiegel Nr. 43 vom 19. Oktober 1992, S. 59. 12 Edgar Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration, in: Leviathan 24 (1996) H.3, S. 339-360; Michael Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, in: Politische Vierteljahresschrift 37 (1996) H.l, S. 27-55.

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So wie sie von Grande und Zürn angedacht sind, werfen die plebiszitären Elemente allerdings mehr Fragen auf als sie Antworten versprechen. Völlig ungeklärt ist ζ. B., wer überhaupt die Möglichkeit erhalten soll, Volksabstimmungen zu veranlassen: die Regierungen bzw. Staatsorgane oder auch das Volk selbst. Die Ausgestaltung als Volksinitiative würde bedeuten, dass das Volk in bestimmten Bereichen der Gesetzgebung an die Stelle (und nicht nur an die Seite) der Vertretungsorgane tritt. Über die demokratischen Nachteile eines solchen Arrangements existiert eine reichhaltige Literatur, die hier nicht weiter ausgebreitet werden kann. 13 Erinnert sei aber an die Tatsache, dass selbst das Mutterland der plebiszitären Demokratie in Europa - die Schweiz - die Gesetzesinitiative bis heute nur als Verfassungsinitiative kennt. Die von Grande und Zürn erhoffte präventive Wirkung könnte natürlich auch bei einer zurückhaltenderen Ausgestaltung des plebiszitären Instruments - etwa als Vetoinitiative - erzielt werden, die am Primat der parlamentarischen Repräsentation festhält. Auch hier stellt sich jedoch die Frage, ob ein solches Arrangement in das vorhandene Institutionensystem hineinpassen würde. Die Möglichkeit, mit dem Plebiszit zu drohen, setzt ja die demokratische Verantwortlichkeit der Vertretungsorgane bereits voraus, die aber im Falle der Europäischen Union gerade nicht (oder nur unzureichend) gegeben ist. Die Eröffnung direktdemokratischer Beteiligungschancen würde demnach bedeuten, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. 2. Die nächste Strategie folgt ebenfalls dem plebiszitären Modell, möchte dessen Anwendung aber in territorialer und sachlicher Hinsicht begrenzen. Der bislang am weitest gehende Vorschlag in diese Richtung stammt von Heidrun Abromeit 14 , die sich damit vom Mainstream der Literatur bewusst abkoppelt. Abromeit geht davon aus, dass unions weite Mehrheitsentscheidungen in einer so fragmentierten polity wie der europäischen auf Dauer kaum legitimierbar wären, gleichviel, ob sie auf plebiszitäre oder repräsentative Weise zustande kommen. Um die Selbstbestimmung der in der EU zusammengebundenen „demoi" zu gewährleisten, schlägt sie ein dreiteiliges System direktdemokratischer Verfahren vor, das die nationalen, regionalen und sektoralen Einheiten der Gemeinschaft mit eigenen Vetorechten ausstatten würde. Eine offenkundige Schwäche dieses Modells liegt auch nach Abromeits eigener Einschätzung darin, dass es das Spannungsverhältnis von demokratischer Effizienz und Partizipation zugunsten des Partizipationsziels einseitig auflöst, worunter die Funktionstüchtigkeit des gesamten Entscheidungssystems leiden könnte. Darüber hinaus ist nicht einzusehen, warum ein System, das die Abstimmungsberechtigten auf territoriale und sektorale Untereinheiten einschränkt, ausgerechnet zu einer 13

Vgl. statt vieler Frank Decker, Das Kreuz mit der direkten Demokratie, in: Berliner Republik 3 (2001) H.4, S. 52-62. 14 Heidrun Abromeit, Ein Vorschlag zur Demokratisierung des europäischen Entscheidungssystems, in: Politische Vierteljahresschrift 39 (1998) H.l, S. 80-90.

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Stärkung der gesamteuropäischen Identität beitragen sollte, wie Abromeit mit Blick auf die gemeinsam geteilten Partizipationserfahrungen annimmt. Selbst wenn die auf dieser Basis stattfindenden Abstimmungen um europäische Themen geführt werden, neigen plebiszitäre Verfahren in der Regel dazu, Minderheiten und gut organisierte Interessengruppen zu bevorzugen. So korrespondiert ζ. B. die häufige Nutzung der Volksabstimmungen in der Schweiz mit einer zumeist nur geringen Abstimmungsbeteiligung, die an der demokratischen Höherwertigkeit des Instruments zweifeln lässt. Beim sektoralen Veto, das im Unterschied zu den nationalen und regionalen Abstimmungen ausdrücklich als trans-nationales Entscheidungsverfahren konzipiert ist, stellt sich zudem das Problem, wie die relevanten „demoi" identifiziert werden sollen. Abromeit begnügt sich hier mit dem - wenig überzeugenden - Hinweis, dass die sektorale Begrenzung gleichsam automatisch eintrete (indem diejenigen, die sich von einer Angelegenheit nicht betroffen fühlen oder daran interessiert sind, der Abstimmung ohnehin fernbleiben). In diesem Falle wäre die Einrichtung eines speziellen sektoralen Vetos allerdings verzichtbar. Nicht von ungefähr ist das Verfahren auch auf nationalstaatlicher Ebene bisher nirgendwo eingeführt worden. 3. Die dritte Strategie, die sich dem repräsentativen Demokratiemodell verpflichtet fühlt, strebt eine demokratische Aufwertung der territorialen Gemeinschaftsorgane an. In diesem Sinne hat ζ. B. Michael Zürn vorgeschlagen, dass die „nationalen Vertreter des Ministerrats ... von ihren nationalen Konstituenten direkt und getrennt von der Bestellung der nationalen Regierung gewählt werden (sollten). Dadurch würde die Legitimationskette des Ministerrats dramatisch verkürzt und er würde zudem als kollektives Organ legitimiert. Sowohl die nationalen Regierungen als auch die nationalen Vertreter im Ministerrat müssten dann ihre Politiken getrennt voneinander in der nationalen Öffentlichkeit rechtfertigen." 15 Das Vorbild für eine solche Konstruktion sind natürlich die USA, wo das territoriale Vertretungsorgan auf der Bundesebene - der Senat - seit 1913 in direkter Volkswahl unabhängig von der Wahl der Legislativen und Gouverneure der Einzelstaaten bestellt wird. Die Analogisierung geht allerdings an den ganz unterschiedlichen Voraussetzungen der beiden Systeme vorbei. 16 Im dualföderalistischen System der USA bedarf es einer territorialen Interessenvertretung auf der Ebene des Bundes nur eingeschränkt, weil die Zuständigkeiten zwischen Bund und Einzelstaaten hier von vorneherein getrennt sind. Dies gilt sowohl unter materiellen Aspekten (für die einzelnen Politikfelder) als auch in funktioneller Hinsicht, indem beide in ihren Kompetenzbereichen über je eigene Verwaltungen und Gerichte verfügen. Die Europäische Union stellt demgegenüber den Extremfall eines verbundföderalistischen Systems dar. Solche Systeme sind dadurch charakterisiert, dass die ad15 Zürn (Anm. 12), S. 50 f. 16 Vgl. Alberta M. Sbragia, Thinking about the European Future. The Uses of Comparison, in: dies. (Hg.), Euro-Politics, Washington, DC 1992, S. 285 ff.

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ministrative Durchführung der zentral getroffenen Entscheidungen nicht durch die Zentrale selbst besorgt wird, sondern den einzelnen Mitgliedsstaaten obliegt. In der EU zeigt sich dieses Prinzip besonders ausgeprägt. Ein Teil der Entscheidungen - die sog. Richtlinien - bedürfen hier sogar der legislativen Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten, weshalb die europäischen Instanzen auf deren Kooperationsbereitschaft in hohem Maße angewiesen bleiben. Allein aus diesem Grund wird man die Vertreter der nationalen Regierungen von den zentralen Entscheidungsprozessen nicht einfach ausschließen können, wie es bei einem direkt gewählten Senat der Fall wäre. 4. Das vierte Modell setzt bei der supranationalen Kommission an. Es sieht vor, deren Verantwortlichkeit dadurch zu gewährleisten, dass der Kommissionspräsident in einem eigenen Wahlakt unmittelbar vom Volk bestimmt wird. Statt sie wie im parlamentarischen Modell miteinander zu verschränken, würde die Legitimation von Parlament und Regierung in diesem Falle getrennt besorgt: Das Parlament wäre auf die Funktion einer Legislative beschränkt und die Regierung (Kommission) könnte von der Volksvertretung nicht abberufen werden - zumindest nicht aus politischen Gründen. Auch hier liefert die Vorlage, wie man unschwer erkennen kann, das präsidentielle Regierungssystem der USA.

Demokratiemodell

plebiszitär

repräsentativ

funktional

europaweite Referenda

Direktwahl des Kommissionspräsidenten

territorial

nationale und regionale Referenda

Senat

Integrationsmodus

Abb. 2: Demokratisierungsstrategien der EU

IV. Entscheidung für die präsidentielle Option In ihrer derzeitigen institutionellen Struktur bildet die EU eine Art Gemengelage zwischen dem parlamentarischen und dem präsidentiellen Modell. Die Beziehungen zwischen Parlament und Regierung (Kommission) weisen sogar eine größere Affinität zum präsidentiellen System auf, die durch die starke Position des Ministerrates noch verstärkt wird. Angesichts dieser Ausgangslage ist es verwunderlich,

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dass die présidentielle Option in der Literatur kaum Beachtung gefunden hat. 17 Dabei liegen ihre Vorteile für Europa auf der Hand. Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten wäre zwar ein gewaltiger Reformschritt, würde aber an der Grundstruktur des vorhandenen Systems nichts ändern. Insbesondere auf der parlamentarischen Seite bliebe alles beim alten: Das Europäische Parlament könnte sich als Volksvertretung weiter demokratisieren (durch ein einheitliches und gleiches Wahlrecht), seine Gesetzgebungsbefugnisse im Verhältnis zum Ministerrat ausbauen und auch seine bisherigen Kontrollrechte gegenüber der Kommission behalten. Letzteres gilt vor allem für das Recht, die Kommissionsmitglieder vor ihrer Ernennung zu bestätigen, das ein typisches Element der Gewaltenverschränkung darstellt und in ähnlicher Form auch in den USA anzutreffen ist. Das présidentielle Modell würde an eine Europäisierung des Parteiensystems deutlich geringere Ansprüche stellen als das parlamentarische Modell. Letzteres beruht bekanntlich auf der politischen Verbindung von Regierung und Parlamentsmehrheit. Die Regierung wird von den Fraktionen bestellt und im Amt gehalten, die aus den Parlamentswahlen als Mehrheit hervorgegangen sind, während die parlamentarische Minderheit die Rolle der Opposition übernimmt. Damit dieses Spiel funktioniert, müssen die Parteien ein hohes Maß an ideologischem und organisatorischem Zusammenhalt aufweisen - eine Bedingung, die das heutige europäische Parteiensystem nicht erfüllt. Anders im präsidentiellen System: Hier verfügt der Regierungschef durch die Direktwahl über eine vom Parlament unabhängige Legitimation, bleibt er also auch ohne dessen Zustimmung im Amt. Ein politischer Gleichklang zwischen den Organen, der die Abgeordneten zur Einhaltung der Partei- und Fraktionsdisziplin verpflichtet, ist deshalb nicht erforderlich. Ein présidentielles System würde demnach auch ohne festgefügte Parteienstrukturen auskommen. Manche Autoren sehen in der eben aufgezeigten Option einer präsidentiellen Demokratisierung nicht nur eine Abkehr vom bisherigen institutionellen Entwicklungspfad der Gemeinschaft; sie halten das Modell auch deshalb für ungeeignet, weil es den vorherrschenden institutionellen Strukturen in den Mitgliedsstaaten zuwiderlaufe. „Die Regierungssysteme der Mitgliedssaaten zählen zum Typus der parlamentarischen Systeme. Dies hat wichtige Auswirkungen auf die Erwartungen und Zielvorstellungen gesellschaftlicher und politischer Akteure, die in dieser Tradition politischer Systeme leben. Hiervon abweichende Ideen der Ausgestaltung des europäischen Mehrebenensystems [ . . . ] sind mit diesen Leitbildern nur schwer zu vereinen und damit politisch kaum legitimierbar." 18 So plausibel dieses Argu17 Lobenswerte Ausnahmen sind Vernon Bogdanor, The Future of The European Community: Two Models of Democracy, in: Government and Opposition 21 (1986) H. 2, S. 161 — 176 und Simon Hix, Elections, Parties and Institutional Design. A Comparative Perspective on European Union Democracy, in: West European Politics 21 (1998) H.3, S. 19-52. 18 Katharina Holzinger /Christoph Knill, Institutionelle Entwicklungspfade im europäischen Integrationsprozess. Eine konstruktive Kritik an Joschka Fischers Reformvorschlägen, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 11 (2001) H.3, S. 1003.

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ment auf den ersten Blick erscheint, so wenig ist es durch die tatsächliche institutionelle Wirklichkeit gedeckt: Erstens sind präsidentielle Elemente auch in den parlamentarischen Systemen in unterschiedlicher Beimischung vorhanden. In einigen Ländern (Finnland, Frankreich, Osterreich, Portugal und - mit Einschränkungen - Irland) wird das Staatsoberhaupt direkt gewählt und von der Verfassung mit mehr oder weniger weit reichenden Kompetenzen ausgestattet. Andere Staaten kennen das präsidentielle System zumindest unterhalb der staatlichen Ebene. So sind ζ. B. in der Bundesrepublik die Kommunen heute fast alle zur Direktwahl ihrer Bürgermeister übergangen. Daneben mehren sich die Stimmen, die dieses Modell auch auf der Länderebene einführen wollen. 19 Zweitens lassen sich in den parlamentarischen Demokratien Entwicklungen feststellen, die auf eine schrittweise „Präsidentialisierung" der Regierungssysteme hinauslaufen. Ablesbar sind sie an der Aufwertung der Position des Regierungschefs und - damit verbunden - der Herausbildung der Parlamentswahlen zu quasi-plebiszitären Premierminister- oder Kanzler wählen. Manche Autoren ziehen daraus den Schluss, dass sich die parlamentarischen Systeme auf das präsidentielle Modell auch in ihrer Funktionslogik zubewegen könnten.20 Drittens - und dieser Punkt ist am wichtigsten - hat das präsidentielle Modell den Vorzug der größeren demokratischen Eingängigkeit für sich. Nicht nur, dass der Wahlmodus der Regierung einfacher ist; auch das Verhältnis von Exekutive und Legislative lässt sich im präsidentiellen System besser begreiflich machen als im parlamentarischen System. Untersuchungen für die Bundesrepublik belegen, dass dessen Funktionslogik von der Mehrzahl der Bürger bis heute nicht durchschaut wird; eine beachtliche Minderheit (18 Prozent) wähnt sich hierzulande sogar in einem präsidentiellen System, und immerhin ein Drittel wünscht sich ein solches herbei. 21 Niemand hat daraus bisher die Forderung abgeleitet, das parlamentarische durch ein präsidentielles System zu ersetzen. Dennoch machen die Zahlen deutlich, dass die angeblichen parlamentarischen Traditionen in der Bundesrepublik auf schwachen Füßen stehen. Als Argument gegen die Einführung eines präsidentiellen Systems auf der europäischen Ebene taugen sie jedenfalls nicht.

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Vgl. Hans Herbert von Arnim (Verf.), Wege aus der Krise des Parteienstaates, in: Recht und Politik 31 (1995) H.l, S. 16-26; ders., Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung - am Volk vorbei, München 2000, S. 156 ff.; Frank Decker, Direktwahl der Ministerpräsidenten?, in: Recht und Politik 37 (2001) H.3, S. 154 ff. 20 Vgl. Thomas Poguntke, Präsidiale Regierungschefs: Verändern sich die parlamentarischen Demokratien?, in: Oskar Niedermayer / Bettina Westle (Hg.), Demokratie und Partizipation. Festschrift für Max Kaase, Wiesbaden 2000, S. 356-371. 21 Vgl. Werner J. Patzelt, Ein latenter Verfassungskonflikt? Die Deutschen und ihr parlamentarisches Regierungssystem, in: Politische Vierteljahresschrift 39 (1998) H.4, S. 725757.

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Bleibt als Letztes die Frage, welches Modell für die demokratische Weiterentwicklung der EU größere Chancen bereithält. Auch hier dürften die Vorteile eher auf Seiten des präsidentiellen Systems liegen. Damit soll nicht behauptet werden, dass das präsidentielle System per se demokratischer ist. Zwar verfügt der Regierungschef (chief executive) dort durch die Direktwahl über eine höherwertige Legitimation als sein parlamentarisch bestellter Kollege; daraus muss jedoch nicht schon eine höherwertige Legitimation des gesamten Systems erwachsen. Die gewaltentrennende Logik des Präsidentialismus bewirkt nach Ansicht von Juan Linz 2 2 eher das Gegenteil: Während die Verschränkung von Parlamentsmehrheit und Regierung im parlamentarischen System für Verlässlichkeit und klare Fronten sorgt, muss sich der chief executive im präsidentiellen System die Zustimmung zu seinen Gesetzesplänen bei der Legislative immer wieder von neuem besorgen. Die Zurechenbarkeit politischer Verantwortung, die zu den Wesensmerkmalen der Demokratie gehört, wird dadurch erschwert. 23 Dem steht allerdings entgegen, dass der Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition auch in den parlamentarischen Demokratien nur selten in Reinform vorkommt (und funktioniert). Obwohl man es die Mutter aller Demokratien genannt hat, bleibt das britische Westminstermodell unter den parlamentarischen Systemen die Ausnahme. Erinnert sei nur an die bis Mitte der 90er Jahre „blockierte" Demokratie Italiens oder den „Parteienbundesstaat" in der Bundesrepublik. Der Unterschied zwischen den präsidentiellen und parlamentarischen Systemen liegt in der Art und Weise, wie sie die Gewaltenteilung institutionell realisieren. Im präsidentiellen System drückt sich diese bereits im formellen Verhältnis von Exekutive und Legislative aus, im parlamentarischen System wird sie durch anderweitige (formelle und informelle) Systemelemente besorgt, die das mehrheitsdemokratische Prinzip des Parlamentarismus in Richtung Konsensdemokratie transformieren. 24 Die Vereinbarkeit von mehrheits- und konsensdemokratischen Prinzipien birgt von daher im parlamentarischen System größere Probleme als im Präsidentialismus. Im Extremfall kann das soweit gehen, dass die parlamentarischen Strukturen nur noch als Fassade dienen, um den konsensuellen Charakter des Systems zu verbergen. Die Vorteile des präsidentiellen Systems liegen im Falle der EU aber auch auf der mehrheitsdemokratischen Seite. Indem sie den Bürgern die Möglichkeit gibt, 22 Juan J. Linz, Presidential or Parliamentary Democracy: Does It Make a Difference?, in: ders./Arturo Valenzuela (Hg.), The Failure of Presidential Democracy, Baltimore / London 1994, S. 3-87. 23 Zusätzlich verschärft wird das Problem durch die konstitutionelle Vorkehrung der Amtszeitbegrenzung, die (in den meisten Fällen) nur eine einmalige Wiederwahlmöglichkeit vorsieht: ,,[T]here is no way to hold accountable a president who cannot be presented for reelection. Such a president can neither be punished by the voters by defeat nor rewarded for success by reelection with the same or larger vote than in the previous election." Linz, ebd., S. 12. 24 Vgl. Arend Lijphart, Presidentialism and Majoritarian Democracy: Theoretical Considerations, in: Linz/ Valenzuela (Anm. 22), S. 102.

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mit der Wahl einer Person zugleich eine politische Richtungsentscheidung zu treffen, würde von der Direktwahl des Kommissionspräsidenten ein bedeutender Legitimationsschub für die europäische Politik ausgehen. So wie es sich derzeit darstellt, ist das Institutionensystem der EU nur begrenzt in der Lage, im Regierungsprozess programmatische Alternativen zu entwickeln oder andere als zwischenstaatliche Konflikte abzubilden.25 Genau hierin besteht aber die Crux einer demokratischen Wahl: Dass für die Wähler etwas auf dem Spiel stehen muss, um das sich politisch zu ringen lohnt. Die Direktwahl würde dem Rechnung tragen. Ein vom Volk ins Amt getragener Regierungschef hätte das Vorrecht und die Bürde der politischen Initiative, könnte sich also nicht mehr ohne weiteres hinter seinen Beamten oder den Vertretern des Ministerrats verstecken; des weiteren wäre er derjenige, der die Einheit der Gemeinschaft institutionell verkörpert, ihre politischen Ziele nach innen und außen vertritt. Beide Funktionen laufen in der geschlossenen Exekutive eines präsidentiellen Systems üblicherweise zusammen. In der EU werden sie heute noch größtenteils von den Mitgliedsstaaten und der jeweiligen Ratspräsidentschaft ausgeübt. Auf der anderen Seite würde die Direktwahl mit dem bisherigen „second order" Charakter der Europawahlen Schluss machen. Die Parteien wären gezwungen, sich nationenübergreifend auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen und mit einem personellen und programmatischen Gesamtangebot in die Wahl zu ziehen. Bei den Kandidaten könnte es sich ζ. B. um amtierende oder ehemalige Regierungschefs handeln, die auch über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus bekannt sind. Die europäische Politik bekäme dadurch endlich ein Gesicht. Allein die Bedeutung des zu besetzenden Amtes würde dafür sorgen, dass die Wahl des Kommissionspräsidenten tatsächlich um europäische Themen geführt wird, statt wie bisher um nationale Themen. Die Folge wäre ein höherer Mobilisierungsdruck, der das Zusammengehörigkeitsgefühl der Unionsbürger stärken, die Herausbildung eines europaweiten Parteiensystems unterstützen und sich natürlich auch auf die weiterhin stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament auswirken würde.

Schlussbemerkung Anders als einige Autoren vermuten, stellt die Einführung eines präsidentiellen Systems keinen Bruch mit der bisherigen institutionellen Entwicklung der Europäischen Union dar. Die Direktwahl des Kommissionpräsidenten würde sich im Gegenteil in deren vorhandene Strukturen besser einfügen als ein parlamentarisches System; das Reformkonzept beweist insofern durchaus Realitätssinn. Ob es in absehbarer Zeit auch realisiert werden kann, ist eine andere Frage. Die Direktwahl wäre ja in institutioneller Hinsicht wenn kein „Pfadsprung", so doch ein gewaltiger 25 Vgl. Philipp Genschel, Markt und Staat in Europa, in: Politische Vierteljahresschrift 39 (1998) H.l, S. 76 f.

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„Sprung nach vorne" 26 . Ihre Einführung würde die politischen Gewichte von den Staats- und Regierungschefs in Richtung des europäischen „Volkes" verschieben und die Gemeinschaft damit auf dem Weg zur Demokratie entscheidend voranbringen. Die Frage ist berechtigt, weshalb die nationalen Regierungen sich auf einen solchen Schritt einlassen sollten, der ihre eigene Machtposition schwächen würde. Politologen neigen ja gelegentlich zu kühnen Reformideen, ohne deren voluntaristische und interessenabhängige Voraussetzungen genügend mitzubedenken. In diesem allgemeinen Sinne lässt sich die Kritik der Europessimisten durchaus teilen. Ob sie auch auf den Direktwahlvorschlag zutrifft, ist jedoch zweifelhaft. Zunächst muss daran erinnert werden, dass die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses völlig offen ist. Von daher ist es nicht nur statthaft, sondern auch notwendig, sich über die Finalität in institutioneller Hinsicht Gedanken zu machen. Je mehr der Reformdruck wächst, um so wichtiger ist es, dass Blaupausen für das künftige Institutionensystem bereitgehalten werden. Der Beitrag der Politikwissenschaft ist dazu gerade bei der Frage „parlamentarisches oder präsidentielles System" gefordert. Gegen die Reformpessimisten spricht zudem, dass die Direktwahl unter den Europapolitikern immer mehr Befürworter findet. Nachdem der deutsche Außenminister Joschka Fischer in mehreren Reden öffentlich für den Vorschlag eingetreten ist 2 7 , haben sich kürzlich auch der belgische Premierminister Guy Verhofstadt und seine luxemburgischen und niederländischen Amtskollegen dafür ausgesprochen, ebenso der aus Österreich stammende EU-Agrarkommissar Franz Fischler. Die Idee beginnt also ihre eigene Dynamik zu entfalten. Von daher könnte sie früher auf die Tagesordnung gelangen, als die Europessimisten vermuten und den Bremsern im Integrationsprozess lieb ist. Die Befürworter der Direktwahl sind sich allerdings sehr wohl bewusst, dass ihre Reformvorstellungen keine Chance auf Realisierung hätten, wenn man sie in allen Mitgliedsländern gleichzeitig durchführen wollte. Die Kluft zwischen den integrationswilligen und integrationsskeptischen Staaten ist ja schon in der derzeitigen 15er Gemeinschaft immens und würde sich bei der beabsichtigten Erweiterung auf 25 oder 30 Mitglieder sicher noch weiter vergrößern. Joschka Fischer hat daher in seiner Berliner Rede die Bildung eines „Gravitationszentrums" vorgeschlagen, das bei der institutionellen Weiterentwicklung der EU die Vorreiterrolle übernehmen soll: „Eine solche Staatengruppe würde einen neuen europäischen Grundvertrag schließen, den Nukleus einer Verfassung der Föderation. Und auf der Basis dieses Grundvertrages würde sie sich eigene Institutionen geben, eine Regierung, 26 Vgl. Frank Decker, Mehr Demokratie wagen. Die Europäische Union braucht einen institutionellen Sprung nach vorne, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 5 (2001), S. 33-37. 27 Joschka Fischer, Vom Staaten verbünd zur Föderation: Gedanken über die Finalität der europäischen Integration (Rede in der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000), abgedruckt in: Christian Joerges/Yves Mény/J.H.H. Weiler (Hg.), What Kind of Constitution for What Kind of Polity? Responses to Joschka Fischer, San Domenico 2000 (European University Institute), S. 5 - 17.

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die innerhalb der EU in möglichst vielen Fragen für die Mitglieder der Gruppe mit einer Stimme sprechen sollte, ein starkes Parlament, einen direkt gewählten Präsidenten. Ein solches Gravitationszentrum müsste die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein und bereits alle Elemente der späteren Föderation umfassen." 28 Schon heute verdankt die Gemeinschaft einen Teil ihrer Dynamik der differenzierten Integration. Institutionell lassen sich dabei zwei Spielarten unterscheiden. Im einen Fall findet die Integration im Rahmen des vorhandenen Institutionensystems statt, nur dass ein Teil der Mitgliedsstaaten sich aus der Verfolgung bestimmter Integrationsziele „ausklinken" (Beispiel Währungsunion). Im anderen Fall bildet eine Gruppe von Staaten außerhalb des vorhandenen Systems neue Institutionen, um weiter gehende Integrationsziele zu erreichen (Beispiel Schengen). Beiden Spielarten der Flexibilisierung ist gemeinsam, dass sie eine Vertiefung der materiellen Integration anstreben; die institutionellen Aspekte bleiben untergeordnet bzw. werden auf das materielle Integrationsziel hin ausgerichtet. Das Reformkonzept Joschka Fischers würde diese Logik umkehren und die institutionelle Integration gleichsam auf sich selbst anwenden. Wofür die neu geschaffenen Institutionen der Kerngruppe genau zuständig sein sollten, ist in dem Konzept aber kaum geklärt; ebenso das Verhältnis der neuen zu den bereits bestehenden Institutionen. Die von Fischer angedachten Bereiche einer verstärkten Zusammenarbeit - Wirtschaftspolitik, Umweltschutz, Verbrechensbekämpfung, Einwanderung / Asyl sowie Außen- und Sicherheitspolitik - sind ja schon heute Gegenstand der europäischen Politik. Ob ihre Forcierung den Aufbau eines parallelen Institutionensystems rechtfertigen würde, ist insofern keineswegs ausgemacht. Für die künftige EU-Forschung liegt hier ein wichtiges Desiderat.

28 Fischer, ebd., S. 15 f.

Bericht über die Diskussion zum Vortrag von r e e Leitung: Siegfried Magiera Von Ramona Betz

Prof. Dr. Siegfried Magiera, Speyer, eröffnete die Diskussion und gab einleitend zu bedenken, dass die jeweilig vertretene Meinung in der Debatte um das Demokratiedefizit in der Europäischen Union sowohl bei der Frage nach den Ursachen als auch bei der Suche nach Lösungen stets eng mit der Grundposition als Förderer oder als Gegner der europäischen Integrationsentwicklung verbunden und dementsprechend auch vor diesem Hintergrund zu sehen sei. Magiera machte zudem deutlich, dass auch der Definition des zugrunde gelegten Demokratiebegriffs entscheidende Bedeutung zukomme. Man könne Demokratie zunächst ganz allgemein als Volksherrschaft umschreiben. Dabei stelle sich aber zugleich die Frage, was denn das Volk sei. Dies greife ein Problem auf, das man immer wieder deutlich hervorheben müsse, denn das Volk an sich gebe es nicht. Es gebe lediglich einzelne Individuen, deren verschiedenen Interessen zu verbindlichen Entscheidungen zusammengefasst werden müssten. Insoweit habe die Demokratie gegenüber der Diktatur zunächst den prinzipiellen Vorteil, dass es sich um eine Herrschaft der Mehrheit und nicht um die einer Minderheit handele. Gleichzeitig müsse man aber gerade in der Demokratie auch Sorge für den Schutz der Einzelnen und der Minderheiten tragen. Mit diesen Überlegungen komme man dann aber in weitere Dimensionen des Demokratiebegriffs. Hierzu betonte Decker, dass die Europäische Union ja nicht an einem Zu viel an Mehrheitsdemokratie leide, sondern, ganz im Gegenteil, eine ausgesprochene Konsensdemokratie sei. Das beste Beispiel seien insoweit die Abstimmungsmodalitäten im Ministerrat, wo für viele Bereiche die Abstimmung mit den hohen Hürden qualifizierter Mehrheit festgelegt sei. Dies stelle eine starke Relativierung des Mehrheitsprinzips dar. Damit gebe es also zu wenig mehrheitsdemokratische Elemente in der Europäischen Union, und der Vorschlag der Direktwahl des Kommissionspräsidenten sei ein Versuch, das bestehende konsensdemokratische System um ein mehrheitsdemokratisches Element zu ergänzen. Hinsichtlich des im Referat von Decker als Alternative zur parlamentarischen Demokratie favorisierten Präsidialsystems nach dem Vorbild der USA als die für die Europäische Union geeignetere Demokratisierungsstrategie wies Magiera dar7 von Arnim

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auf hin, dass diese Form der Demokratie in keinem europäischen Staat verwirklicht sei, so dass der Rückgriff auf das amerikanische System im Gegensatz zu den in Europa bestehenden parlamentarischen Regierungssystemen insoweit eine interessante Lösung darstelle. Decker führte dazu ergänzend aus, dass der Hinweis, es gebe in der Europäischen Union auf der nationalstaatlichen Ebene nur parlamentarische Systeme, häufig mit Zweifeln darüber verbunden werde, wie Bürger innerhalb solcher parlamentarischer Systeme denn plötzlich mit dem ganz andersartigen politischen System der präsidentiellen Demokratie auf der supranationalen Ebene vertraut gemacht werden sollen. Dieser Einwand sei jedoch nicht besonders stichhaltig, wenn man sich daran erinnere, dass natürlich auch in den parlamentarischen Systemen Westeuropas in unterschiedlicher Ausprägung präsidentielle Elemente vorzufinden seien. So könne man zum einen auf die Wahl des französischen Staatspräsidenten verweisen; zum anderen könne man aber auch die Länderebene oder die Kommunalebene in der Bundesrepublik heranziehen. Hier erfolge ζ. B. flächendeckend eine Direktwahl der Bürgermeister, was nichts anderes als ein präsidentielles System im Miniformat bedeute. Darüber hinaus sei das präsidentielle System für den Bürger auch einfacher zu verstehen als das parlamentarische System. Dies belegten Untersuchungen, wonach viele Bürger die Funktionslogik des parlamentarischen Systems, die Symbiose von parlamentarischer Mehrheit und Regierung, überhaupt nicht verstehen. Einige Bürger gingen sogar davon aus, in der BRD bestehe ein präsidentielles System. Zudem sei unter demokratischen Gesichtspunkten für die Bürger das entscheidend, was man als subjektive politische Kompetenz bezeichne. Die Wähler müssten das Gefühl haben, dass sie mit ihrer Wahlentscheidung auch etwas bewirken können, und dies sei gerade in Europa bei den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht der Fall. Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Speyer, griff die von Decker vorgeschlagene Direktwahl des Kommissionspräsidenten auf und stellte die Frage, ob dies eine Realisierung des Grundsatzes „one man - one vote" impliziere, was ja bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gerade nicht gegeben sei. Hierzu erläuterte Decker, dass die Direktwahl des Kommissionspräsidenten natürlich ein gleiches Wahlsys-tem in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union voraussetze, d. h. der Kommissionspräsident würde unionsweit nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt. Als Vorbild sei hier etwa die Wahl des französischen Staatspräsidenten zu nennen, so dass der Gewinner nach einem ersten Wahlgang mit mehreren Kandidaten aus den beiden Bestplatzierten in einer Stichwahl ermittelt würde. Auf die von von Arnim eingebrachte Frage nach dem Entwurf einer Umsetzungsstrategie für das im Referat vorgestellte Modell zur Verringerung des Demokratiedefizits in der Europäischen Union machte Decker einige ergänzende Ausführungen. Der Vorschlag der Direktwahl des Kommissionspräsidenten finde zunehmend Anhänger und sei auch von führenden europäischen Politikern, wie zuletzt dem belgischen Premierminister Guy Verhofstadt, aufgegriffen worden. Insbesondere auch der deutsche Außenminister Joschka Fischer habe den Gedanken in seiner Humboldt-Rede im Mai 2000 aufgebracht und diesbezügliche Uber-

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legungen in der Folgezeit noch konkretisiert. Es sei zuzugeben, dass die Umsetzung im Einzelnen noch offen sei und eine Menge Probleme aufwerfe, der Vorschlag stelle jedoch einen prinzipiellen Lösungsansatz dar, für den es keine anzubietende Alternative gebe. Man müsse sich gleichzeitig jedoch auch im Klaren darüber sein, dass selbst eine Realisierung dessen in einer so heterogenen Gemeinschaft, wie sie heute in der Verbindung von einerseits sehr integrationswilligen Staaten und andererseits sehr integrationsskeptischen Staaten bestehe, keine Chance habe. Gerald Häfner, Mitglied des Deutschen Bundestages, Berlin, lenkte die Diskussion auf einen weiteren grundsätzlichen Aspekt und sprach den empirischen Ausgangspunkt des Referates von Decker an. Der Ansatz seines eigenen Vortrages sei die Überlegung gewesen, worauf es bei Demokratie eigentlich zentral ankäme, und hieran anknüpfend habe er dann seine Ausführungen ausgerichtet. Decker hingegen habe in seinem Referat einen ganz anderen, einen empirischen, Ansatz herangezogen, indem er zunächst die verschiedenen Ausformungen von (direkter) Demokratie aufgezeigt und im Anschluss daran untersucht habe, in welche davon das gegenwärtige System der Europäischen Union am besten passe. Dies habe dann zum Vorschlag der Direktwahl des Kommissionspräsidenten geführt. Er halte dieses Vorgehen jedoch für fraglich, denn nach seiner Auffassung seien bei der Diskussion um die Legitimation politischer Entscheidungen andere Fragen als die nach einer passenden Einordnung in das „Bestehende" zu stellen. Decker begründete den von ihm gewählten Ansatz damit, dass letztendlich doch die Chance einer Realisierung entscheidend sei. Denn es habe wenig praktischen Nutzen, wenn Wissenschaftler sozusagen „auf der grünen Wiese" irgendwelche institutionellen Demokratiemodelle für die Europäische Union neu entwerfen würden, die sich jenseits jeglicher Möglichkeit der Umsetzung befänden. Unabhängig davon seien natürlich auch die normativen Kriterien von Demokratie bedeutend, die es in der Europäischen Union zu erfüllen gelte, und diese habe er auch in seinem Referat ausdrücklich genannt. So seien beispielsweise das repräsentative Element und das Element der Zurechenbarkeit politischer Verantwortung bisher in der Europäischen Union nicht erfüllt. Decker betonte, dass seine aufgrund der bestehenden Demokratiedefizite angeklungene Skepsis gegenüber der direkten Demokratie auf europäischer Ebene jedoch keine generelle Ablehnung dieses Instruments bedeute. Die Europäische Union, die ja noch nicht einmal auf der repräsentativen Ebene demokratisiert sei, sei jedoch noch nicht reif für plebiszitäre Elemente. Plebiszitäre Elemente hätten ergänzenden Charakter, aber diese Demokratie, die es zu ergänzen gelte, gebe es eben auf der europäischen Ebene noch nicht. Häfner kam auf den Vorschlag der Direktwahl des Kommissionspräsidenten zurück und warf das damit zusammenhängende Problem des im Vorfeld notwendigen Wahlkampfes als Ausdruck des jeweilig vertretenen politischen Konzeptes der Kandidaten auf. Hier sei die entscheidende Frage, ob denn ein Kommissionspräsident überhaupt die tatsächliche Möglichkeit habe, ein solches Konzept auch durchzusetzen oder ob die politischen Gewichte nicht auf einer ganz anderen Ebene 7*

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lägen. Denn ähnlich wie in der Bundesrepublik umfasse auch auf europäischer Ebene die Rolle eines Präsidenten eben nicht die unmittelbare Umsetzung politischer Inhalte. Daher sollte er auch nicht in die Situation gebracht werden, im Rahmen einer Direktwahl Wahlkampf führen zu müssen. Decker gab hierzu zu bedenken, dass es ja bereits in Ansätzen europäische Parteien gebe, die sich locker zusammengeschlossen hätten und deren Aufgabe es im Rahmen der Direktwahl des Kommissionspräsidenten dann sei, entsprechende Kandidaten zu benennen. Dies müssten natürlich Kandidaten mit einem gewissen Bekanntheitsgrad über nationale Grenzen hinweg sein, die sich zugleich auch in der politischen Mitte bewegten, damit sie in Europa mehrheitsfähig seien. Beispielhaft könne man sich das so vorstellen, dass man vielleicht von christdemokratischer Seite den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Herrn Prodi nominiere und von Seiten der Sozialdemokraten als Gegenkandidaten Herrn Vranizki aus Osterreich benenne. Dies bedeute dann, dass die deutsche SPD den deutschen Wählern erklären müsste, warum sie Herrn Vranizki anstelle von Herrn Prodi wählen sollten. Damit würde der Wahlkampf nicht mehr um nationale Themen, sondern um europäische Themen mit politikinhaltlichem Schwerpunkt geführt. So sei ζ. B. ein grundsätzliches politikinhaltliches Thema die Entscheidung darüber, ob Europa eher ein soziales oder eher ein marktliberales Europa sein solle. Eine solche Frage könnten die Wähler gegenwärtig durch ihre Wahlentscheidung bei den Europawahlen überhaupt nicht mit beeinflussen. Diese Möglichkeiten bestünden aber, wenn sie eine programmatische Alternative wie in dem o.g. Beispiel hätten, wobei die kandidierenden Politiker dann gefordert wären, den Wählern - vermittelt über die nationalen Öffentlichkeiten - diese Alternativen auch deutlich zu machen. Damit könnte ein Europäisierungseffekt erreicht werden, der sich im Weiteren auch auf die Wahlen des Europäischen Parlaments auswirken würde. Diese könnten dann ebenfalls nicht mehr ausschließlich unter nationalen Gesichtspunkten geführt werden, wie es gegenwärtig der Fall sei. So dienten die Europawahlen ζ. B. in Frankreich gewissermaßen als „Primaries" für die nationalen Präsidentschaftswahlen, während europäische Themen nur am Rande vorkämen. Dies habe eigentlich mit der Idee einer europäischen Demokratie nichts gemein. Decker betonte, dass er sich darüber bewusst sei, dass der Vorschlag der Direktwahl der Kommissionspräsidenten noch viele Probleme ungeklärt lasse, aber von der grundsätzlichen Logik her könne man dem aufgezeigten Europäisierungseffekt und auch dem Demokratisierungseffekt schwerlich widersprechen. Häfner wies weiter darauf hin, dass entgegen den Ausführungen Deckers ein ganz erheblicher Unterschied zwischen dem Verfahren der Gesetzgebung auf europäischer Ebene und dem auf bundesdeutscher Ebene bestehe. Denn in der Bundesrepublik liege das Gesetzesinitiativrecht zwar auch bei der Regierung, vor allen Dingen stehe es aber auch dem Bundestag zu, d. h. den Fraktionen und den individuellen Mitgliedern des Parlaments, die gemeinsam eine Gesetzesvorlage einbringen könnten, was durchaus häufig geschehe. Darüber hinaus würden die Gesetzesentwürfe in den Ausschüssen des Parlaments intensiv beraten, könnten dort auch

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vom Parlament verändert werden und würden dann erst in zweiter und dritter Lesung im Bundestag beschlossen. Dies differiere doch erheblich zu dem, was die Rechte des Europäischen Parlamentes umfasse. Wenn man jedoch Souveränität ausübe, wobei es unerheblich sei, ob man das Ergebnis dann Gesetz, Verordnung oder Richtlinie nenne, müsse dies auch auf eine unmittelbare Legitimation durch die Bevölkerung zurückzuführen sein. Wenn man folglich den Prozess der europäischen Integration weiter durchhalten wolle, müsse sehr bald eine wirkliche Demokratisierung innerhalb der Europäischen Union erreicht werden. Insofern sei es zweifelhaft, ob eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten zur Lösung dieses Problems beitragen könne. Decker betonte, er wolle nicht als genereller Anhänger des präsidentiellen Systems missverstanden werden. So sehe er beispielsweise keine Veranlassung, das parlamentarische System auf Bundesebene in der Bundesrepublik in Frage zu stellen, das sich dort durchaus bewährt habe. Diskussionswürdig sei hingegen, ob das parlamentarische System auf der Ebene der Bundesländer angemessen sei oder ob man auf dieser Ebene nicht einmal über eine Direktwahl der Ministerpräsidenten nachdenken sollte. Magiera führte den Gedanken einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten weiter und brachte die Möglichkeit einer Koppelung der Wahlen zum Europäischen Parlament mit der Auswahl des Kommissionspräsidenten in die Diskussion. Danach könnten die verschiedenen Parteien oder Parteibündnisse den Wählern bereits im Zeitpunkt ihres Wahlkampfes für die Europawahl jeweils den von ihnen für das Amt des Kommissionspräsidenten vorgesehenen Kandidaten vorstellen. Die nach dem Wahlergebnis stärkste Partei im Europäischen Parlament würde dann auch den Kommissionspräsidenten stellen. Die Bürger hätten damit gleichzeitig die Möglichkeit, sowohl auf die Sitzverteilung im Europäischen Parlament als auch auf die Benennung des Kommissionspräsidenten Einfluss zu nehmen. Magiera räumte jedoch ein, dass selbst dieser moderate Vorschlag, der weder das bestehende System noch die Bürger allzu sehr überfordere, wohl an den Widerständen gegen die damit verbundene Konsequenz, dass in diesem Augenblick die nationalen Regierungschefs die Möglichkeit, selbst miteinander den entsprechenden Kandidaten zu bestimmen, aus der Hand gäben, scheitern würde. Decker fügte hinzu, dies entspreche einem Vorschlag, den Jacques Delors vor längerer Zeit gemacht habe und sei unter Demokratiegesichtspunkten auch ein einleuchtendes Modell. Er habe in seinem Referat hingegen zeigen wollen, dass die Voraussetzungen hierfür weder auf der parlamentarischen noch auf der gesellschaftlichen Ebene gegeben seien. Denn die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament würde dann natürlich auch bedeuten, dass das Europäische Parlament dieser von ihr gewählten Kommission loyal gegenüberstehen müsse. Dies wiederum setze eine gewisse Geschlossenheit der Parteienformationen voraus, was ihrerseits eine Zentralisierung des Parteiensystems auf europäischer Ebene erfordere. Auf absehbare Zeit werde man jedoch auf der europäischen Ebene keine zentralen Parteienstrukturen haben. Aus diesem Grund sei die vorgeschlagene Direktwahl des Kommissionspräsidenten gerade eine Antwort auf die gegenwärtig in der Europäischen

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Union gegebenen Bedingungen, da sie ohne diese zentralisierten Parteienstrukturen auskomme. Somit würde der von Magiera eingebrachte Vorschlag zwar einen Demokratiefortschritt bedeuten, seine derzeitige Umsetzbarkeit sei jedoch skeptisch zu sehen. Udo Terjung, Rickenbach, richtete den Blick auf die Frage der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union im Sinne des Subsidiaritätsprinzips. Eine klarere Definition hierüber werde schon seit geraumer Zeit angemahnt und würde auch mehr Klarheit für den Bürger bedeuten, der gegenwärtig doch eigentlich keine rechte Vorstellung davon habe, was Europa eigentlich sei. Man müsse dahingehend mehr Transparenz für den Einzelnen schaffen, denn Demokratie habe auch etwas mit der Möglichkeit zu tun, sich mit einer Sache identifizieren zu können. Von einer europäischen Identifikation größerer Teile der Bevölkerung sei man zur Zeit aber noch weit entfernt. Zwar stehe die Frage der Kompetenzverteilung auf der Tagesordnung für die nächste Regierungskonferenz, es sei jedoch eine Illusion, warnte Decker, zu glauben, man werde in Europa Kompetenzen im größeren Umfang zurückverlagern können. Es sei sicherlich richtig, dass eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten zunächst einmal ein Gebot der Transparenz sei, es werde aber in Europa in Zukunft einen weiteren Kompetenztransfer in Richtung supranationaler Ebene geben. Das liege einfach daran, dass die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen auf verschiedenste Lebensbereiche ausgreife, wie etwa auf die Sozialpolitik oder die Steuerpolitik. Umso drängender stelle sich dann natürlich die Aufgabe der Demokratisierung in der Europäischen Union. Denn je mehr Kompetenzen sich die europäische Ebene aneigne, desto brisanter werde auch die Frage nach der demokratischen Legitimation politischer Entscheidungen. Magiera schloss die Diskussion mit der zusammenfassenden Feststellung, dass es in Europa spannend bleibe und dankte dem Referenten für die sehr klare und problembewusste Aufarbeitung dieses wichtigen und vorausschauenden Themas.

Das Hambacher Fest Vergangenheit und Vergangenheitspolitik Von Stefan Fisch Meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie heute abend hier begrüßen zu dürfen, hier auf der Keschteburg, wie die Pfälzer sagen, die dabei an die Eßkastanien im Laubwald rund um das Hambacher Schloß denken. Die Straße, die wir eben hier zum Schloß hinauf gefahren sind, heißt allerdings anders, Maxburgstraße - und mit diesem zweiten Namen „Maxburg" sind wir mitten in der Geschichte dieses besonderen Symbolortes der deutschen Geschichte. „Maxburg" - mit diesem Namen sollte nämlich die Erinnerung daran verdrängt werden, daß hier 1832 fast 30000 Männer und Frauen, so viele wie nie zuvor, für die deutsche Einheit, für mehr politische Freiheit und für mehr Demokratie demonstriert haben, erstmals unter dem Symbol der schwarz-rot-goldenen Farben. Als „Maxburg" wurde die Ruine des Hambacher Schlosses nämlich 1842, zehn Jahre nach dem Hambacher Fest, zum amtlich inspirierten Hochzeitsgeschenk der Pfälzer an den damaligen bayerischen Kronprinzen Maximilian, der im März 1848 seinem in der Lola-Montez-Affäre zurückgetretenen Vater Ludwig I. als König Maximilian II. auf den Thron folgte. Als Kronprinz hatte Maximilian sein Schloß in Hohenschwangau in einem pseudo-mittelalterlichen Ritterstil ausgebaut, und das Geschenk der Maxburg sollte ihn wohl dazu bringen, eine ähnliche kleine Residenz auch in der Pfalz zu errichten. Vor allem aber ging es mit der Umbenennung in „Maxburg" darum, zu zeigen, daß dieser Ort Hambach keinen anderen Symbolwert mehr hatte als den dynastiebezogenen und daß in der Pfalz die durchaus radikalen Veränderungsbestrebungen von 1832 nicht mehr lebendig waren. Diese Botschaft kam an in München. König Ludwig I. sah in der „sinnigen Wahl" der Pfälzer ihre „Bewährung", ihre Distanzierung von der „Gesinnung, welche vor Jahren einige Uebelgesinnte durch die verabscheuten Vorgänge auf der Höhe bey Hambach kundgegeben."1 So begann Kronprinz Maximilian 1844, die Ruine der Maxburg, des Hambacher Schlosses, ganz im Sinne der Burgen- und Rheinromantik schöpferisch umzuge1

Akte des Landesarchivs Speyer, zitiert nach: Hambacher Fest 1832- 1982. Freiheit und Einheit, Deutschland und Europa. Eine Ausstellung des Landes Rheinland-Pfalz zum 150jährigen Jubiläum des Hambacher Festes. Katalog zur Dauerausstellung, Neustadt/Weinstraße 19863, S. 183.

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stalten - und das architektonische Ergebnis dieser aus Geldmangel bald wieder eingestellten phantasievollen Umbauten sehen Sie heute im Schloßhof und auch jetzt in diesem Raum. Beim Anblick der romanischen und gotischen Bogen und Zinnen und der venezianisch anmutenden Balkone dieser Maxburg der 1840er Jahre denkt man gerne an starke Ritter und stolze Burgfräulein - und ist weit weg von der Ruine des Jahres 1832, die der Ort einer politischen Massendemonstration für Freiheit und Volkssouveränität war: so funktioniert vergangenheitspolitische Umdeutung von Geschichte mit Hilfe von Architektur. Jetzt wollen Sie aber sicher etwas darüber hören, was das Hambacher Fest eigentlich war - und ich beginne damit, daß es seinerseits eine Umdeutung eines geschichtlichen Ereignisses war, des Jahrestages der ersten bayerischen Verfassung von 1818. Damit war es in gewisser Weise sogar eine Vorwegnahme dessen, was 1989 anläßlich des vierzigjährigen Jubiläums von Staat und Verfassung in der DDR geschah. Anstatt wie geplant die bestehende Verfassung zu bejubeln, versammelte sich 1832 in Hambach eine breit verankerte Bürgerbewegung, die mehr oder weniger deutlich eine weitgehend andere, demokratische und nationale Verfassung für ganz Deutschland anstrebte. Die ersten Jahrzehnte nach der Französischen Revolution waren in Deutschland ja dadurch gekennzeichnet, daß die Fürsten und ihre Minister aus der Geschichte lernen und den anderen Weg einer „Reform von oben" einschlagen wollten. Ein wichtiges Element bei dieser Abwendung von Revolution war, in den süddeutschen Staaten zumindest, die Verfassunggebung. Sie geschah als ein rein monarchischer Willensakt: Könige und andere Fürsten verzichteten einseitig und freiwillig auf einen Teil ihrer bis dahin umfassenden monarchischen Rechte und beteiligten andere, ihr Volk, an der Staatsmacht. Allerdings, das Volk waren längst nicht alle, sondern im wesentlichen die wenigen Besitz- und Bildungsbürger, der Umfang dieserVolks 'beteiligung war gering, weil zu jedem Gesetzesvorschlag weiterhin die Zustimmung des Monarchen nötig war, und Regierung, Exekutive und Militär blieben sowieso ganz in seiner Hand. Eine Verfassung dieser Art hatte auch König Maximilian I. Joseph seinem Königreich Bayern, zu dem seit 1815 auch die linksrheinische Pfalz mit der Hauptstadt Speyer gehörte, am 26. Mai 1818 gegeben. Im April 1832 erschien in pfälzischen Zeitungen ein Aufruf zu einem „Konstitutions-Fest" am Jahrestag dieses 26. Mai, das bei der Hambacher Schloßruine stattfinden sollte. Ein wichtiger Tag für Bayern sei es gewesen, „an welchem der unvergeßliche Maximilian Joseph, vor vierzehn Jahren, den Werth seines biedern Volkes, und das Bedürfniß der Zeit erkennend, durch freiwillige Ertheilung der Verfassungsurkunde, die bayerische Nation für mündig und für würdig erklärt [hat], in die Reihe der freien Völker einzutreten. - Leider! ging er bisher ungefeiert, fast unbemerkt an uns vorbei. [ . . . ] Entsagen wir unserer bisherigen Gleichgültigkeit. [ . . . ] Beweisen wir der Welt, daß wir der Gabe werth sind, die der biederste Fürst des Jahrhunderts uns reichte." 2

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Doch für Dankesjubel dieser Art waren gerade die Pfälzer damals wenig empfänglich. Sie hatten im „Département du Mont-Tonnere / Donnersberg" fast 20 Jahre dem postrevolutionären Frankreich angehört. In der Pfalz waren seitdem, anders als im rechtsrheinischen Bayern, alle Sonderrechte des Adels in Verwaltung und Rechtspflege abgeschafft. Im Zivilrecht war in der Pfalz der Code Napoléon eingeführt, der von der Mündigkeit und Vertragsfähigkeit des Individuums ausging und das Postulat der Gleichheit gerade im Familien- und Erbrecht umgesetzt hatte. Die Volksvertretung des Conseil Général im Département war nach 1815 nahtlos als „Landrat der Pfalz" fortgeführt worden. Er besteht unter dem Namen „Bezirksrat" heute noch und ist damit die älteste parlamentarische Versammlung in Deutschland. Bei dieser von der französischen Revolution geprägten bürgerlichen und politischen Kultur stießen in der Pfalz viele politische Entscheidungen der Münchener Regierung auf Unverständnis, am meisten die Verschärfung der Pressezensur und die (damals noch) kurzsichtige Zollpolitik, die nichts dagegen unternahm, daß die Pfalz von allen ihren Märkten abgeschnürt war: jenseits des Rheins war damals Ausland, ein Ausland, das die Pfälzer Produkte mit hohen Einfuhrzöllen abwehrte. Hier wird die Brisanz des nationalen Untertons in den dreißiger Jahren erkennbar: Waren die Pfälzer dankbare Bayern, oder waren sie unzufriedene Deutsche? Die spannungsvolle Überlagerung dieser beiden Identitäten, die sich damals beide als Zuordnung zu einer „Nation" ausdrückten, wird in einer Gegeneinladung deutlich, die nur zwei Tage später in der Presse erschien. Dieser Aufruf unter dem Titel „Der Deutschen Mai" setzte mit einem ganz anderem Tenor ein: „Völker bereiten Feste des Dankes und der Freude beim Eintritte heil voller großer Ereignisse. [ . . . ] Zu solcher Feier ist [ . . . ] jetzt kein Anlaß vorhanden, für den Deutschen liegen die großen Ereignisse noch im Keim; will er ein Fest begehen, so ist es ein Fest der Hoffnung; nicht gilt es dem Errungenen, sondern dem zu Erringenden, nicht dem ruhmvollen Sieg, sondern dem mannhaften Kampf, dem Kampfe für Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt, für Erstrebung gesetzlicher Freiheit und deutscher National würde." 3 Das waren wortkräftige Formulierungen des liberalen Journalisten Philipp Jakob Siebenpfeiffer, eines von der bayerischen Regierung aus politischen Gründen entlassenen höheren Beamten. Übersetzt man seine Ziele ins Konkrete, so ging es um den Kampf gegen Zensur und Polizeistaat, gegen die übermächtige Einmischung des österreichischen Staatskanzlers Metternich in die inneren Verhältnisse aller anderen deutschen Staaten, für eine freiheitlichere Gesetzgebung und für eine vom 2 Idee zur Feier des Jahresgedächtnisses der Verkündigung der Verfassungsurkunde, Artikel in mehreren Tageszeitungen der Pfalz vom 18. 4. 1832, Abb. als Quelle 12 in: Kermann, Joachim: Das Hambacher Fest. Zusammengestellt anläßlich der 150jährigen Wiederkehr des Hambacher Festes und zur Unterstützung des Schülerwettbewerbs „Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn" (= Texte zur Landesgeschichte. 8), Speyer 1981, S. 35 3 „Der Deutschen Mai"; Einladung zum Hambacher Fest vom 20. 4. 1832; Abb. in: Hambacher Fest 1832-1982, S. 135.

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Volk getragene deutsche Verfassung, die eher republikanisch als monarchisch gedacht war. Das Fest in Hambach sollte also nicht eine bayerische Dankesfeier werden, sondern die Demonstration des politischen Zukunftswillens einer ihrer selbst bewußten deutschen Nation, die sich mit den Worten von Johann August Wirth zugleich als Teil eines „konföderierten republikanischen Europa" sah.4 Das Hambacher Fest war diejenige Manifestation der politischen Öffentlichkeit, die erstmals mit Macht unter dem Zeichen der schwarz-rot-goldenen Fahne auftrat, im brüderlichen Bündnis mit der weiß-roten Fahne der Polen, die seit der dreifachen Teilung ihres Landes ohne jeden eigenen Staat waren. Dieser Bezug auf die Nation fand hier in Hambach noch in aller Unschuld statt; von der Abgrenzung und der Ausgrenzung und den hegemonialen Tendenzen, die 1848 im deutschen Parlament der Paulskirche schon deutlich zu sehen waren, war hier noch nichts zu spüren. Das Zukunftsziel der geplanten Hambacher Demonstration wurde symbolisiert durch die Verlegung des Festes; statt am Verfassungstag selbst, dem 26. Mai, wollte man sich erst am Tag danach, dem 27. Mai, zusammenfinden. Das war ein geschickter Schachzug, denn so fiel das Fest auf einen Sonntag, damals den einzigen arbeitsfreien Tag. Richtig populär wurde das Fest dann durch die widersprüchlichen Polizeimaßnahmen, die dagegen gerichtet waren: erst wurde es verboten, dann aber knickten die ratlosen bayerischen Behörden ein und ließen es doch zu. So kam es zum Tag des Hambacher Festes. 30 000 Menschen waren nach Neustadt gekommen und zum Schloß hinaufgestiegen. Natürlich waren die meisten von ihnen in der Pfalz zu Hause, es gab ja noch keine Eisenbahnen als Massentransportmittel. Die Festredner und Grußadressen kamen aber aus ganz Deutschland, aus Köln, Kassel, Kiel, Leipzig, Jena, Nürnberg und München, aus Straßburg und Paris und sogar aus Manchester. Es wurde ein Fest mit allem, was dazu gehörte, mit Wein, Weib und Gesang, ins Politische gewendet. Zuerst zum Wein: Politische Demonstrationen fanden in der Zeit vor 1848 sehr oft in der Form eines Festessens statt - polizeiliche Verbote von Versammlungen griffen dann nicht so schnell und man konnte oppositionelle Abgeordnete als Gäste und Redner einladen. Auch das Hambacher Fest war in erster Linie ein Festessen für 1.000 zahlende Gäste an großen Tafeln vor dem Schloß. Es kostete einen Gulden und 45 Kreuzer; wenn man diese ungewohnte Zahl mit dem Gehalt eines höheren Ministerialbeamten vergleicht, müßte man unter heutigen Verhältnissen Herr von Arnim, ich habe mich da an Ihrem Lehrstuhl erkundigt - 500 DM für das Essen ansetzen; dafür bekommt man heute in Speyer noch eine Tagung als Dreingabe. Also, wer am Festessen teilnahm, war nicht ganz unvermögend und zeigte deutlich sein Engagement für die Sache des Festes. Die Mitglieder des Landrates 4 Wirths Rede endete „Hoch! dreimal hoch leben die vereinigten Freistaaten Deutschlands! Hoch! dreimal hoch, das konföderierte republikanische Europa!"; Herzberg, Wilhelm: Das Hambacher Fest. Geschichte der revolutionären Bestrebungen in Rheinbayern um das Jahr 1832, Ludwigshafen 1908, S. 115-119, ZitatS. 119.

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der Pfalz, der gewählten regionalen Volksvertretung, waren übrigens alle gekommen und demonstrierten so die Distanz des Landes zur Münchener Politik. Die vielen tausend anderen Teilnehmer des Festzuges zum Schloß versorgten sich an allerlei Buden und Imbißständen mit Brot und Wein. Wir sehen also, wie bei diesem Fest für Gleichheit und Demokratie die sozialen Gegensätze durchaus nicht aufgehoben waren. Allerdings, unter den an den Fest-Tafeln Sitzenden bestimmte das Los, wer an welchem Platz saß - demonstrative, aber nicht ganz konsequente Egalität. Zum Weib: In der Einladung zum Hambacher Fest waren ausdrücklich auch die Frauen angesprochen worden: „Deutsche Frauen und Jungfrauen, deren politische Mißachtung in der europäischen Ordnung ein Fehler und ein Flecken ist, schmükket und belebet die Versammlung durch eure Gegenwart!" 5 Das war zwar noch nicht der Ruf nach voller Gleichberechtigung, aber auch so der Zeit schon sehr weit voraus, wie man auch daran sieht, daß alle 32 Unterzeichner der Einladung Männer waren. Siebenpfeiffer übertrug in seiner Festrede sogar das republikanische Verfassungsmodell in die Familie, in der „das deutsche Weib nicht mehr die dienstpflichtige Magd des herrschenden Mannes, sondern die freie Genossin des freien Bürgers" sein solle.6 Und zum Gesang: Das Hambacher Fest ist zur Geburtsstunde politischer Lieder geworden, die ganz entscheidend zur massenhaften Verbreitung freiheitlicher demokratischer Ideen beigetragen haben. Am 27. Mai 1832 waren über fünfzig mal mehr Besucher auf dem Schloßberg als heute abend hier in diesem Raum - aber es gab noch keine Mikrofone und Lautsprecher. Die Ideen der Redner des Festes konnten schon rein akustisch nur von ganz wenigen Zuhörern an den Festtafeln aufgenommen werden; sie mußten vor und nach dem Fest auf andere Weise transportiert werden, um die breite Bevölkerung zu mobilisieren. Dazu diente einerseits die Veröffentlichung von achtzehn Reden als Flugschrift - aber das war nicht ganz leicht eingängige Kost. Parallel blühte eine ganze Industrie mit populären „Hambach-Souvenirs" auf. Sie bezog sich in vielfältiger Variation auf die einzige bildliche Darstellung des Festes mit dem langen, sich den Berg hinaufziehenden Festzug und dem von der schwarz-rot-goldenen Fahne gekrönten Bergfried der Schloßruine. Dieses Motiv wurde für die Männer auf Pfeifenköpfen popularisiert und für die Frauen auf Tüchern und Schürzen (die in St. Gallen in der Schweiz bedruckt wurden). Wegen der politischen Verfolgung nach dem Fest sind diese Gegenstände heute allerdings sehr selten geworden. Vor allem wurden die Ideen von Hambach aber durch die politischen Lieder und durch das Symbol der schwarz-rot-goldenen Fahne transportiert. Wie alle Massenmedien verkürzen Lied und Fahne ihre Botschaft, machen sie aber auch leicht aufnehmbar - wie das folgende Lied Siebenpfeiffers zeigt:

5 „Der Deutschen Mai"; Einladung; Abb. in: Hambacher Fest 1832-1982, S. 135. 6

Rede Siebenpfeiffers bei Herzberg: Das Hambacher Fest, S. 113- 115, Zitat S. 114.

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Stefan Fisch „Hinauf, Patrioten, zum Schloß, zum Schloß! Hoch flattern die deutschen Farben: Es keimet die Saat und die Hoffnung ist groß, Schon binden im Geiste wir Garben. [...] Wir wollen uns gründen ein Vaterhaus Und wollen der Freiheit es weihen: Denn vor der Tyrannen Angesicht Beugt länger der freie Deutsche sich nicht." 7

Wein, Weib und Gesang - diese Formel ist für eine politische Demonstration wie das Hambacher Fest nicht ganz wörtlich übertragbar. Vor allem endete das Fest nicht als ein Fest. Verschärfung der Pressezensur, Einmarsch des Militärs, Verhaftung, Kerkerhaft und Verurteilung der beiden Anführer Siebenpfeiffer und Wirth und Massenentlassung von Beamten sind nur einige der Reaktionen der herausgeforderten Staatsmacht in der Pfalz, mit denen sie das Heft noch lange, zu lange, in der Hand behielt. Und dann wurde dieser Erinnerungsort deutscher Freiheitsbewegung verschenkt, und die neue „Maxburg" veränderte ihre äußere Gestalt zu dem, was Sie um sich sehen. Meine Damen und Herren, man könnte noch manches mehr bedenken, die handelnden Personen Wirth und Siebenpfeiffer, oder im Hintergrund die Organisation des Preß- und Vaterlandsvereins, aber lassen Sie mich zum Schluß lieber noch einmal die Erinnerung an das Hambacher Fest als ein Festessen wachrufen, denn ich habe Ihnen eines noch nicht verraten, das Menu an der Fest-Tafel der Prominenten. Wir kennen es aus dem Bericht eines preußischen Polizeispitzels: „Die Mittagszeit war herangekommen, statt der Suppe füllten sich die Teller [jedoch wegen eines plötzlichen Sturzregens] mit Wasser, die schön aufgetragenen Braten und Schinken schwammen, und die Brote zerweichten." 8 Ich wünsche Ihnen in jeder Hinsicht ein angenehmeres Essen als es damals möglich war!

7

Das ganze Lied bei Herzberg: Das Hambacher Fest, S. 109. 8 Grewenig, Meinrad M. (Hg.): Das Hambacher Schloß. Ein Fest für die Freiheit, Ostfildern 1998, S. 89.

Die Durchsetzbarkeit von Steuerreformen in der Demokratie1 Von Peter Bareis I. Einführung Mit etwas gemischten Gefühlen stehe ich heute vor Ihnen. Natürlich fühle ich mich durch Herrn von Arnims Einladung geehrt und bin auch Ihnen, den Teilnehmern, dankbar, daß Sie mir zuhören wollen. Aber mir ist etwas unwohl bei dem Gedanken, daß Sie von mir endgültige Antworten auf die Themafrage oder gar Patentrezepte erwarten könnten. Ich gelte zwar als sog. „Experte" für inhaltliche Fragen des Steuerrechts und dessen Wirkungen, und da fühle ich mich kompetent, soweit man das beim desolaten Zustand dieses Rechtsgebietes in Deutschland von sich überhaupt sagen kann. Denn zwischen Steuerwissenschaftlern herrscht Konsens: Wer das deutsche Steuerrecht vollständig beherrschen will, ist Kandidat für die Nervenklinik. Auf diese Kandidatur verzichte ich. Mein Unwohlsein erklärt sich daraus, daß die Themenfrage nur von mehreren Disziplinen gemeinsam beantwortet werden kann. Es bleiben daher leider etwas mehr Fragen als Antworten zur Durchsetzbarkeit von Steuerreformen in der repräsentativen Demokratie in Deutschland übrig und manche Antwort steht unter dem Vorbehalt intensiverer Untersuchungen. Die durchgesetzten wesentlichen Reformen sollen nicht bloß beschrieben, sondern auch einer knappen Bewertung unterzogen werden. Ein Konzept zur Durchsetzung eines „idealen" Steuersystems in Deutschland habe ich nicht. Zwar gilt nach wie vor Max Webers Aussage vom beharrlichen Bohren dicker Bretter. 2 Aber es bleibt doch offen, ob es überhaupt einen brauchbaren Bohrer gibt. Wahrscheinlich müssen auch mehrere Bohrer verwendet werden. Die Identifikation der Ursachen durchgesetzter Reformen ist zweifellos durch das theoretische Vorverständnis darüber geprägt, wie das Staatsverhalten und insbesondere die Komplexität von Steuersystemen ökonomisch zu erklären sind. Dies soll vorab kurz beschrieben werden, ohne daß eine ausführliche Diskussion erfolgen kann. 1 Erweiterte Fassung eines Kurzvortrages auf der 5. Speyerer Demokratietagung am 26. 10. 2001. Der Vortragsstil ist beibehalten. 2 Max Weber, Politik als Beruf, 1. Aufl. 1919; Teilabdruck in: Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Stuttgart 1973; darin: Der Beruf zur Politik, S. 167 : „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich".

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II. Ökonomische Hypothesen über Staatsverhalten und die Komplexität von Steuersystemen 1. Wohlwollender

Diktator

Die in der Finanzwissenschaft lange vorherrschende Sicht des wohlwollenden Diktators, der für seine Bürger uneigennützig ein ideales Steuersystem schafft, ist für die Erklärung unserer Realität nicht tauglich. Dafür brauchen wir keine lange Untersuchung. Es gibt keinen wohlwollenden Diktator. Dennoch benötigen wir Kriterien für ein „gutes" Steuersystem; aber diese beruhen auf anderen Ansätzen, auf die ich zurückkommen werde.

2. Leviathan und die „politischen Unternehmer" Die Leviathan-These, verbunden mit der Hypothese, daß die politisch Verantwortlichen den Medianwähler für sich gewinnen wollen, sind m. E. wesentlich besser geeignet, das Staatsverhalten zu erklären. 3 Danach streben die „politischen Unternehmer" nach Einnahmenmaximierung. Sieht man von der Verschuldung ab, betrifft dies vor allem die Maximierung der Steuereinnahmen. Damit steigt die Macht der politischen Unternehmer. Mit zunehmenden Steuereinnahmen können Wähler gewonnen werden, indem ihnen Sondervorteile zugeschanzt werden; der politische Unternehmer sichert damit seine Wiederwahl. Er wird sich besonders an kleinen, schlagkräftigen Interessengruppen orientieren. Dies kann manche Entwicklung in Deutschland und auch in den USA erklären. Ist dieses theoretische Bild richtig, dann sollte die Politik daran gehindert werden, die Steuerpflichtigen auszubeuten. Hoffnung für die Durchsetzung von Steuerreformen besteht dann darin, daß ein starkes Verfassungsgericht oder andere übergeordnete Mächte die Staatsgewalt in Schranken halten. Ansonsten können sich die Bürger nur dadurch schützen, daß sie bei Konsumsteuern Konsumverzicht, bei Einkommensteuern Arbeitsvermeidung oder bei beiden Steuern die Schattenwirtschaft wählen oder daß sie „mit den Füßen abstimmen" und auswandern. Buchanan hat dies mit einem kleinen Modell erläutert, das für den Staat „die ethischen Grenzen der Besteuerung" zeigen sollte.4

3

Grundlegend: Geoffrey Brennan/James M. Buchanan, Besteuerung und Staatsgewalt. Analytische Grundlagen einer Finanzverfassung, hrsg. u. übersetzt von Cay Folkers, Hamburg 1988; Titel der Originalausgabe: The Power to Tax by G. Brennan & J. M. Buchanan, Cambridge et al. 1980. 4 James M. Buchanan, The Ethical Limits of Taxation, in: Scandinavian Journal of Economics 1984, S. 102.

Die Durchsetzbarkeit von

e f o r m e n in der Demokratie

3. Modell der differenzierten

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Besteuerung

Ein Modell von Hettich and Winer 5 stellt Blankart wie folgt dar: „Besteuerungsgrundsätze ... sind eines; etwas anderes ist ihre Durchsetzung in der Politik. Letztere erfordert, daß sich Politiker für sie interessieren. Doch für Politiker besteht das erste Ziel darin, Wahlen zu gewinnen. Dem müssen sich auch die Besteuerungsgrundsätze unterordnen. ... Daher bedarf es einer Theorie, welche Art der Besteuerung sich im politischen Wettbewerb durchsetzt eine Partei (kann) im politischen Wettbewerb nur bestehen . . . , wenn sie Belastungen und Nutzen aus Steuern und Staatsausgaben zwischen den Wählern differenziert, d. h. jedem Wähler im Idealfall sein eigenes Steuerpaket schnürt." Daraus wird eine „differenzierte Steuerstruktur" gefolgert. „Einfache Steuersysteme" seien „im S teuer Wettbewerb nicht stabil. Allerdings" werde „der Grad der Differenzierung durch die Administrationskosten des Steuersystems begrenzt." Blankart folgert aus diesem Modell der beiden Verfasser: „Sie zeigen die Grenzen der Machbarkeit der Politik und weisen darauf hin, daß differenzierte Steuersysteme der repräsentativen Demokratie immanent sind."6 Ich nehme das Modell so hin, da ich es bisher nicht ausreichend analysieren konnte.7 Jeder, der sich mit dem deutschen Steuerrecht auseinandersetzt, wird dessen Komplexität bestätigen. Untersuchen wir vor diesem Hintergrund die in der Geschichte der Bundesrepublik bisher realisierten Reformen.

III. Realisierte Steuerrechtsänderungen Dabei fasse ich das Thema zunächst etwas weiter auf, indem ich auch „kleine" Steuerrechtsänderungen mit einbeziehe. Zugleich enge ich das Thema auf die repräsentative Demokratie in Deutschland ein, wozu noch ein Exkurs zu den Reaganschen Steuerreformen hinzutritt. „Steuerreformen" sind im folgenden als Unterfall von Steuerrechtsänderungen aufzufassen. Es reichen Gebrauchsdefinitionen. 1. Begriff und A rten Nicht jede Änderung von Steuergesetzen wird allgemein als „Reform" anerkannt. Im Alltag wird hiermit etwas Grundlegenderes als eine bloße Steuerrechts5 Walter Hettich /Stanley L. Winer, The political economy of taxation, in: Mueller, Dennis C. (Hrsg.): Perspectives on Public Choice, Cambridge, 1997, S. 481. 6 Charles B. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 4. Aufl., München 2001, S. 263. 7 Siehe dazu ausführlich: Walter Hettich and Stanley L. Winer, Democratic Choice and Taxation. A Theoretical and Empirical Analysis, Cambridge 1999, S. 48 f.

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änderung verstanden. Ein grobes Maß dafür, ob nur eine kleinere Rechtsänderung oder schon eine Reform vorliegt, könnte darin gesehen werden, daß erstere alltägliche, eher geringfügige Änderungen sind. Sie sollen mit dem Wort „Ausbesserungen " belegt werden. Sie zählen nicht zu den Reformen. Größere Reformvorhaben ohne Änderung des Systems seien als Anpassungen bezeichnet. Sie sind weit weniger häufig; ich zähle sechs bis sieben in den vergangenen fünfzig Jahren. Schließlich hat es grundlegende Systemänderungen, kurz: Systemwechsel, in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nur drei gegeben. Diese Begriffe sollen weder positiv noch negativ belegt sein; sowohl Ausbesserungen wie Anpassungen wie Systemwechsel können in normativer Sicht „gut" oder „schlecht" sein, aber das interessiert bei den Reformen erst später.

2. Ausbesserungen Da die Ausbesserungen nicht zum engeren Thema gehören, skizziere ich sie nur ganz kurz und gehe dann nicht mehr auf sie ein. Man muß sie leider häufig als Flickschusterei bezeichnen. Sie finden ständig statt. Wer solche Ausbesserungen erreichen will, muß sie in der Hektik der abschließenden Gesetzesberatungen einbringen, wenn dort über schwierigere Probleme gestritten wird. Sie „laufen dann durch". Zahl und Abfolge bloßer Ausbesserungen übersteigen das normale Vorstellungsvermögen. So brauchte die OFD Stuttgart sechzehn eng beschriebene DIN-A4-Seiten, um nur die Änderungen im Bereich des Einkommensteuerrechts über drei Jahre darzustellen. Das gerade im Finanzausschuß diskutierte „Steueränderungsgesetz 2001", das „nur" eine redaktionelle und inhaltliche Bereinigung und Korrekturen aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung und des EU-Rechts sowie der Vereinfachung und Umstellung auf den Euro dienen soll, enthält 26 Artikel, mit denen jeweils Gesetze oder Verordnungen geändert werden. Dies alles umfaßt über dreißig eng bedruckte DIN-A4-Seiten. Das Wort Aktionismus ist hierfür noch zu schwach. Klaus Tipke hat denn auch treffend angesichts der Gesetzes- und Richtliniensammlungen in Loseblattform erklärt: Die Steuergesetze sind zur Wegwerfware verkommen. Offenbar ist die Zahl der bedruckten und wieder ausgewechselten Gesetzesblätter - vor allem, wenn sie mit kleinen Geschenken an Wähler verbunden sind - ein besonders attraktives Werbemittel für Politiker, die sich das als Verdienst anrechnen lassen können. Auch die Ministerialbürokratie kann so ihre Daseinsberechtigung eindrucksvoll unter Beweis stellen. Ausbesserungen machen das Steuersystem wirklich komplex und unübersehbar - und ich sehe weit und breit kein Mittel dagegen. Aber es gibt auch gute Nachrichten. Die Abschaffung vieler Bagatellsteuern ist als „gute" Ausbesserung zu bezeichnen. Je nach Zählung kommt man auf rd. 25 abgeschaffte Bagatellsteuern in den vergangenen rd. 50 Jahren.8 Sie dürften des-

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halb durchsetzbar gewesen sein, weil die Erhebungskosten außer Verhältnis zu den Einnahmen standen und im übrigen viele kleinere Verbrauchsteuern neben der allgemeinen Umsatzsteuer nicht mehr begründbar erschienen. Die Ergebnisse der - unvollständigen - steuergeschichtlichen Analyse können nur holzschnittartig dargestellt werden.9 Zu untersuchen ist, welche Reformen stattgefunden haben und auf welche Hauptursachen oder zumindest Anlässe sie nach meiner Meinung zurückzuführen sind. Hier sind zwei große Unterscheidungen zu treffen: a) Institutionelle Beschränkungen als Ursachen für Reformen b) Wirtschaftsentwicklung, insbesondere die säkulare Inflation und hohe Arbeitslosigkeit als Reformursachen. Diese beiden Ursachengruppen reichen zwar aus, um sechs bis sieben Anpassungen zu erklären. Sie sind aber nicht hinreichend, um zwei systematisch bedeutsame Anpassungen an der Grenze zum Systemwechsel und um drei Systemwechsel zu erklären. Doch zunächst zu den leichter erklärbaren Anpassungen.

3. Mögliche Ursachen für Anpassungen in Deutschland a) Institutionelle Beschränkungen Als erste Ursachengruppe kommen institutionelle Beschränkungen in Betracht. Sie sind in der Übersicht 1 zusammengestellt und danach kurz erläutert. 1. Für die ersten Jahre der Bundesrepublik galt offenbar eine besondere Beschränkung, wobei ich bisher nicht klären konnte, ob sie zwingend war. Die Besatzungsmächte verlangten auf jeden Fall bis zur Einführung der DM sehr hohe Einkommensteuersätze bis zu 95%. Dies dürfte bis zur Souveränität der Bundesrepublik 1955 nachgewirkt haben.10 Der deutsche Gesetzgeber beließ es zwar bei sehr hohen Sätzen, höhlte diese durch Subventionsbestimmungen bei der Bemessungsgrundlage - Stichwort: Sonderabschreibungen, Siebener-Gruppe des EStG - aus. Wenn dies richtig ist, konnte sich die Politik dabei auf die äußere Beschränkung beim Tarif berufen und die Abschreibungsvergünstigungen in Übereinstimmung mit der ökonomischen Theorie als Investitionsförderung erklären. 8

Eine Zusammenstellung enthält die vom BMF herausgegebene Broschüre: Innenansichten. Steuern von A bis Z, Berlin, Ausgabe 2000, ab S. 118. 9 Eine gute Zusammenfassung der Steuerentwicklung seit 1964/65 bietet das BMF als pdf-Datei an: Übersicht über die Steuerrechtsänderungen seit 1964/65 nach dem Stand vom 19. 10. 2000. Sie enthält Auszüge aus den jährlichen Finanzberichten. Erstaunlich ist allerdings, daß die große Reform der Grunderwerbsteuer 1982/83 dort nicht erwähnt ist. 10 BGBl. I 1950, S. 95 ; 1951 I, S. 1 ; 1954 I S. 373