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German Pages 469 Year 1995
Soziale Ausgestaltung der Marktwirtschaft Festschrift zum 65. Geburtstag für Prof. Dr. Heinz Lampert
Sozialpolitische Schriften Heft 65
Soziale Ausgestaltung der Marktwirtschaft Die Vervollkommnung einer "Sozialen Marktwirtschaft" als Daueraufgabe der Ordnungs- und Sozialpolitik
Festschrift zum 65. Geburtstag für Prof. Dr. Heinz Lampert
Herausgegeben von Gerhard Kleinhenz
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Soziale Ausgestaltung der Marktwirtschaft : die Vervollkommnung einer "Sozialen Marktwirtschaft" als Daueraufgabe der Ordnungs- und Sozialpolitik ; Festschrift zum 65. Geburtstag für Prof. Dr. Heinz Lampert / hrsg. von Gerhard Kleinhenz. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Sozialpolitische Schriften ; H. 65) ISBN 3-428-08167-6 NE: Kleinhenz, Gerhard [Hrsg.]; Lampert, Heinz: Festschrift; GT
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Frontispiz: Foto Schöllhom, Augsburg Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-5998 ISBN 3-428-08167-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken
Vorwort Die Wissenschaft von der Sozialpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts Heinz Lampert zum 65. Geburtstag Der 65. Geburtstag von Heinz Lampert und seine Emeritierung an der Universität Augsburg sind eine willkommene Gelegenheit, in einer Festschrift das bisherige Lebenswerk des Jubilars zu würdigen. Schüler, Weggefährten, Kolleginnen und Kollegen und Freunde haben durch ihre Beiträge die verschiedenen Bereiche der Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft aufgegriffen, die auch im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Publikationen, der Lehr- und Beratungstätigkeit von Heinz Lampert standen. Bei der wissenschaftlichen Analyse der praktischen Probleme sozialstaatlicher Politik in der Sozialen Marktwirtschaft, also im Rahmen der Sozialpolitikwissenschaft als "Kunstlehre", ist für Heinz Lampert die Vervollkommnung einer wirklich Sozialen Marktwirtschaft erkenntnisleitendes Interesse und Antrieb für die herausragende Breite, Tiefe und Fülle seiner wissenschaftlichen Beiträge zur Erfüllung dieser Daueraufgabe der Ordnungs- und Sozialpolitik. Der Versuch, das wissenschaftliche Wirken von Heinz Lampert zu würdigen, gibt jedoch auch Anlaß, über die Situation der Wissenschaft von der Sozialpolitik zu reflektieren, deren Entwicklung er in den letzten drei Jahrzehnten ganz entscheidend mitgeprägt hat. Angesichts der fortschreitenden arbeitsteiligen Spezialisierung, die mit dem Ausbau der Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen erfolgte, blieben in der zweiten Nachkriegsgeneration der Hochschullehrer der "Sozialpolitik" nur ganz wenige wie Heinz Lampert auf allen Gebieten der praktischen Sozialpolitik mit fundierten Veröffentlichungen präsent. Seine Gesamtdarstellung des Wissens im "Lehrbuch der Sozialpolitik" ist innerhalb eines Jahrzehnts nun in der 3. Auflage erschienen. Heinz Lampert, dessen persönlicher wissenschaftlicher Werdegang in der Nationalökonomie erst nach der Habilitation bei Bernhard Pfister an der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität München (1962), mit der Veröffentlichung der Getzt in der 12. deutschsprachigen Auflage von 1995 und in zahlreichen Übersetzungen vorliegenden) "Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland" und mit der Übernahme des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschafts- und Sozialpolitik, an der Technischen Universi-
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tät Berlin zu einer zunehmenden Ausrichtung auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sozialpolitik führte, hat auch die immer wiederkehrende Kritik an der Wissenschaftlichkeit der Lehre von der Sozialpolitik als persönliche Herausforderung angenommen und sich beständig innerhalb der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften um die wissenschaftliche Anerkennung dieser Disziplin bemüht 1.
"Sozialpolitik" - einigendes Anliegen oder Irrtum der Nationalökonomie? Die wissenschaftliche Disziplin "Sozialpolitik" kann insgesamt - auch entsprechend dem Werdegang der diese Disziplin bis in die Gegenwart hinein prägenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - als "Tochter der Nationalökonomie" bezeichnet werden, die sich in der "praktischen Nationalökonomie" bzw. der "Volkswirtschaftspolitik" - auch damals eher unsystematisch - als eine Querschnittsdisziplin neben den traditionellen Bereichsgliederungen der Wirtschaftspolitik (z. B. Agrarpolitik, Verkehrspolitik, Gewerbepolitik etc.) etablierte 2 • In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einte die sozialpolitische Fragestellung nach den Ursachen der Arbeiterfrage sowie nach den Möglichkeiten einer sozialreformatorischen Behebung der Mißstände im Verteilungsprozeß und einer Überwindung der "Klassengegensätze" die Nationalökonomen in Deutschland noch insoweit, daß die 1872 gegründete Wissenschaftlergemeinschaft mit dem Namen "Verein für Socialpolitik" die einzige, die gesamte Disziplin repräsentierende umfassende Vereinigung wurde, die bis in die Gegenwart fortbesteht und funktionsfahig ist. Das Verhältnis zwischen Mutter- und Tochterdisziplin wurde jedoch schon bald über die jeweiligen inneren Auseinandersetzungen um die Abgrenzung des Erfahrungsgegenstandes, die Fragestellungen und die Methoden der Disziplinen sowie die daraus erklärbaren (und dann eigentlich auch aufklärbaren) wechselseitigen Mißverständnisse hinaus durch (logisch nicht begründete) nicht immer gleichstark ausgeprägte, aber doch tendenziell zunehmende Kommunikationsprobleme zwischen der Nationalökonomie und ihrer Tochterdisziplin der "Sozialpolitik" bestimmt. Sicher hat dazu die Tatsache beigetragen, daß sich anfangs gerade in der Sozialpolitiklehre für viele in hohem Maße sozialreformatorisches Engagement und politische Programmatik mit der wissenschaftlichen Arbeit verband 3. Die 1 Vgl. nur Lampert, Heinz / Bossert, Albrecht: Die Soziale Marktwirtschaft eine theoretisch unzulänglich fundierte ordnungspolitische Konzeption?, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 32. Jahr (1987), S. 109 ff. 2 Vgl. Wiese, Leopold von: Sozialpolitik, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, Jena 1926, S. 612 ff. 3 Vgl. Herkner, Heinrich: Der Verein für Socialpolitik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 163, München & Leipzig 1923, S. 83 ff.
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Vennischung von praktisch-politischen mit wissenschaftlichen Aufgaben hat die Notwendigkeit zur Eröffnung des Werturteils streits durch Max Weber (1904) begründet und über die unterschiedlichen Wert-, Ziel- und Interessenhintergründe auch zur Entfremdung zwischen Mutter- und Tochterdisziplin beigetragen. Eine Aberkennung der Wissenschaftlichkeit für die ökonomische Disziplin "Sozialpolitik" durch andere Teildisziplinen der Nationalökonomie oder eine Ablehnung der grundsätzlichen Möglichkeit einer wissenschaftlichen Betrachtung der Sozialpolitik 4 war in der Vergangenheit und ist in der Gegenwart nicht (wissenschaftlich) begründbar. Nachdem der "Verein für Socialpolitik" als "eine Mittelpunktorganisation für Forschung und Lehre der Nationalökonomie insgesamt"5 in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst den Untertitel "Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" angenommen hatte und schließlich als "Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften - Verein für Socialpolitik" finnierte, schien die Behandlung von Fragestellungen der traditionellen Sozialpolitiklehre im wesentlichen auf den "Ausschuß für Sozialpolitik" im früheren "Verein für Socialpolitik" beschränkt. In der jüngeren Vergangenheit wählte die "Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" für ihre Jahrestagungenjedoch wieder zunehmend auch sozialpolitisch relevante Themen aus, für den Bereich der Gesundheitssicherung entstand der Ausschuß für Gesundheitsökonomik und andere Fachausschüsse behandelten Fragestellungen aus dem traditionellen Bereich der "Sozialpolitik" . Die Nationalökonomie ist als Wissenschaft aus den praktischen Bedürfnissen des Staates entstanden 6 und es wäre wider die (soziologisch begründbare) Erwartung, wenn die Vereinigung der Nationalökonomen in der "Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" auf längere Sicht ihre Fragestellungen nicht an den "sozialen Problemen" ausrichten würde, die in der Gesellschaft bewußt werden und deren Lösung in der Politik als dringlich eingestuft wird. Mit der erfreulichen und wohl auch immer wieder zu erwartenden Annäherung zwischen dem mainstream der Nationalökonomie und der Wissenschaft von der Sozialpolitik bei der Auswahl der Probleme und Fragestellungen entfällt also ein weiterer möglicher Grund für eine dauerhafte Störung des Verhältnisses der beiden Disziplinen. Schließlich könnte man die Verwendung unterschiedlicher Paradigmen als Ursache der doch offenbar gegebenen Beziehungsprobleme zwischen Nationalökonomie und "Sozialpolitik" vermuten. Das "Paradigma" einer Disziplin ist durch eine gewisse Übereinstimmung der freien Basisentscheidungen vieler Ein4 Wie sie m.E. nicht zutreffend L. von Wiese Max Weber zuschreibt, vgl. Wiese, L. v.: 1926, S. 618. 5 Wiese, Leopold von: Sozialpolitik als Wissenschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart / Tübingen, 1956, S. 547 ff., S. 554. 6 Vgl. Preiser, Erlch: Nationalökonomie heute, München 1959.
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zelwissenschaftler in bezug auf die Abgrenzung von Erfahrungsgegenständen, Fragestellungen und Analysemethoden begründet. Die national ökonomischen Sozialpolitikwissenschaftler haben immer wieder die Möglichkeiten einer ökonomischen Theorie der Sozialpolitik ausgelotet und teilweise selbst die Relevanz neuer Anwendungen des ökonomischen Paradigmas in der Wissenschaft von der Sozialpolitik aufgezeigt. 7 Allein der Hinweis auf Grenzen der ökonomischen Theorie bei der Beantwortung von spezifischen Fragestellungen der "Sozialpolitik" kann doch längerdauernde Kommunikations- und Interaktionsstörungen wohl nicht begründen. Wenn Heinz Lampert das Verhältnis der Disziplinen mit den Worten charakterisiert: ,,Eine ökonomische Theorie der Sozialpolitik ist ... ein bedeutender, vielleicht der bedeutendste Teil einer Theorie der Sozialpolitik, aber eben immer nur ein Teil, der der Ergänzung durch nicht nur und nicht primär ökonomische Analysen und Sichtweisen bedarf'8, dann sollte man in einer offenen Gesellschaft und kritisch-rationalem Wissenschaftsverständnis kaum eine Distanz, sondern eher eine enge Zusammenarbeit im Wettbewerb um die besseren Lösungen erwarten können. Die Abschottung von Disziplinen sowie eine offene oder verdeckte Ausgrenzung der Wissenschaftler, die sich der Sozialpolitik widmen, durch jene, die sich der "Hauptströmung ökonomischen Denkens" oder einer anderen der wirtschaftswissenschaftlichen Teildisziplinen, wie z. B. der Theorie der Wirtschaftspolitik, zurechnen, kann in den Wirtschaftswissenschaften der Gegenwart weder aus empirischen und methodischen sowie wissenschaftssystematischen und wissenschaftsprogrammatischen Gründen noch aufgrund der Leistungsfähigkeit und dem im Ergebnis bereitgestellten Wissen gerechtfertigt werden. Vielmehr dürften es in der Gegenwart neben Unkenntnis und Vorurteilen nur noch die unterschiedlichen persönlichen Werthaltungen und Basisentscheidungen sein, die das getrübte Verhältnis von Vertretern der "Hauptströmung nationalökonomischen Denkens" zu den Vertretern der nationalökonomischen Sozialpolitiklehre begründen. Die Störung dieses Verhältnisses schlägt sich dann - bei Einzelentscheidungen oft kaum erkennbar, aber doch allmählich - in der Anerkennung innerhalb der "scientific community" der Nationalökonomie, im Wettbewerb um die begrenzte Nachfrage nach handlungsrelevantem Wissen zu sozialpolitischen Problemen in Gesellschaft und Politik und in den Entscheidungen der Fakultäten über 7 So z. B. Ph. Herder-Domeich (unter dem Pseudonym Fred o. Harding) für die ökonomische Theorie der Politik. Zum Überblick vgl. Kleinhenz, Gerhard: Ökonomisches Paradigma und Sozialpolitik, in: Glatzei! Kleindienst (Hrsg.): Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens, Berlin 1993, S. 379 ff. 8 Lampert, Heinz: Leistungen und Grenzen der "Ökonomischen Theorie der Sozialpolitik", in: Ph. Herder-Dorneich! J. Zerche! W. W. Engelhardt (Hrsg.), Sozialpolitiklehre als Prozeß, Baden-Baden 1992, S. 115 ff., S. 127.
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Forschungsressourcen und Lehrkapazitäten nieder. Da werden z. B. selbst "einschlägigste" Veröffentlichungen nachhaltig im eigenen "Zitierkartell" des main stream nicht berücksichtigt, da wird der Eindruck erweckt, man müsse die Analyse von Grenzen des Sozialstaats erst erfinden, so als ob die Sozialpolitikwissenschaftler dies bisher versäumt hätten, da werden aber auch Professorenstellen für Sozialpolitik umgewidmet und selbst an ehemals geistigen Hochburgen der Sozialpolitiklehre Lehrstühle anderen Bereichen "angeboten", und schließlich werden im Zuge des Neuaufbaus der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in den Neuen Bundesländern entsprechende Forschungs- und Lehreinrichtungen für Sozialpolitik gar nicht vorgesehen. 9
Die Nationalökonomie und ihre Sozialpolitikwissenschaftler Bei einem solchen Jubiläum wird deutlich, daß hinter den Differenzen von "Disziplinen" letztlich Menschen stehen, die in dem Maße betroffen sind, in dem sie ihre ganze Persönlichkeit in ihre wissenschaftliche Arbeit einbringen. Im Streit von "Schulen" und Richtungen werden leicht "Wasserscheiden" gezogen und "Lager" gebildet. Die Zurechnung zu solchen (konstruierten) Gruppierungen wird gerade demjenigen nicht gerecht, der "Wissenschaft als Beruf' mit einer selbstkritischen Grundeinstellung, mit Toleranz gegenüber selbst toleranten anderen Werthaltungen und mit hohem Pflichtbewußtsein zu leben versucht. Der Jubilar Heinz Lampert war gegenüber dem "Ideologieverdacht", dem die Sozialpolitikwissenschaft immer in besonderem Maße ausgesetzt war, zweifelsfrei immun. Wie für die Gesamtheit der Vertreter dieser Disziplin von den Gründern des Vereins für Socialpolitik bis in die Gegenwart 10 war für ihn ein revolutionäres gesellschaftspolitisches Leitbild ausgeschlossen. Gerade wegen der Verpflichtung auf ein sozialliberales Leitbild und seiner Ausrichtung auf sozialreformatorische Handlungsmöglichkeiten war seine Lehre allerdings wie die gesamte "bürgerliche" Sozialpolitik Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre auch zum Gegenstand der Kritik von Neomarxisten und "Systemveränderern" geworden. Die wissenschaftliche Ausbildung und Ausreifung von Heinz Lampert in Kernbereichen der Nationalökonomie sowie die auch bei vielen anderen Sozialpolitikwissenschaftlern gegebene gleichzeitige Vertretung der Fächer "Wirtschaftspolitik" und "Sozialpolitik" ließen auch keinen Zweifel an seiner Zugehörigkeit zum Kreis der "praktischen Nationalökonomie" bzw. der Theorie der Wirtschaftspolitik (oder der "Normativen Ökonomik") zu. 9 Vgl. Staufenbiel, J. E. / Ferring, K.: Die Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, Köln 1993; bei den Angaben zum Stand August 1993 wird man nur an der Universität Dresden (mit einer C-3 Stelle) fündig. 10 Vgl. Herkner, Heinrich: 1923, S. 83 ff.
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Dennoch erfuhr auch der sozialliberale Nationalökonom Heinz Lampert in seinem Wissenschaftlerleben auf verschiedene Weise die als persönliche Ausgrenzung wirkende Distanz der Mutterdisziplin zu ihrer ungeliebten Tochter der "Sozialpolitik". Daß ihn - wie manchen anderen, aus dem Kreis der Mitglieder und insbesondere der Vorsitzenden des Ausschusses für Sozialpolitik im Verein für Socialpolitik - diese Erfahrung nicht entmutigte aber auch nicht zu einem Wechsel in seiner Wissenschaftsprogrammatik veranlaßte, gehört zu den "zufalligen" Persönlichkeitseinflüssen, die allerdings gerade für die Entwicklung von außerhalb des mainstream gelegenen Disziplinen ganz entscheidend sein können. Gleichwohl braucht ein Blick des Jubilars auf die Entwicklung der Wissenschaft von der Sozialpolitik während seiner Hochschullehrertätigkeit nicht von Zorn (den man von ihm auch nie erwarten würde) bestimmt zu sein. Begegnet ihm doch - als Bestätigung seiner Überzeugung, daß sich in der Wissenschaft auf lange Sicht Qualität eben doch durchsetzt - aus Politik und Gesellschaft eine Nachfrage nach integriertem wirtschaftspolitischem, insbesondere ordnungspolitischem, sozialpolitischem und familien politischem Wissen, die sich auch bei Ausschöpfung aller verfügbaren Ressourcen nicht befriedigen läßt. Die Wissenschaft von der Sozialpolitik scheint - nicht zuletzt durch die unermüdliche wissenschaftliche Arbeit von Heinz Lampert - einen Pfad sich selbst tragender Aufwärtsentwicklung gefunden zu haben und als selbständig gewordene Tochter nicht auf Fürsorge der Nationalökonomie, sondern nur auf Toleranz und Fairneß zwischen den arbeitsteiligen Ausrichtungen in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angewiesen. Ein Blick in die Zukunft der Sozialpolitiklehre kann zwar nicht frei von Sorge sein, er offenbart aber auch einen eher wachsenden Bedarf an sozialpolitikwissenschaftlicher Forschung und Politikberatung sowie an Sozialpolitiklehre für die Aus- und Weiterbildung der Führungskräfte unserer Sozialen Marktwirtschaft. Zudem kann mit Zuversicht davon ausgegangen werden, daß die Disziplin "Sozialpolitik" innerhalb der Wirtschaftswissenschaften vergleichsweise (z. B. zur Theorie der Wirtschaftspolitik) gut entwickelt ist, um den auf sie zukommenden Aufgaben (wenigstens) qualitativ auch gewachsen zu sein.
Zum Bedarf an der Wissenschaft von der Sozialpolitik Die Gefahr einer Minderung der für eine wirtschaftswissenschaftliehe Analyse der Sozialpolitik verfügbaren Sach- und Humanressourcen scheint sich gerade in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart zu verstärken. Gleichzeitig haben sich (mit und) neben dem gravierenden Problem einer verhärteten Massenarbeitslosigkeit auch grundlegend neue Herausforderungen für die praktische Sozialpolitik ergeben. Nach der Vereinigung Deutschlands ist der Bedarf an Ausbildung' von Führungskräften besonders groß, die auch die Institutionen,
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Bedingungen und Grenzen sozialpolitischer Problemlösung in einer freien Marktwirtschaft kennen und verantwortungsbewußt anwenden können. Hinzu kommt der gewaltige Bedarf an einer volkswirtschaftlichen Analyse der Bedeutung der Sozialpolitik im Transformationsprozeß. Schließlich erfordert die Vermittlung des Verständnisses der Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Sozialpolitik in breiten Schichten der Bevölkerung die Aus- und Weiterbildung von Lehrern und "Volksbildern" und einen enormen Bildungseinsatz der Experten. Angesichts eines Sozialbudgets, durch das in Deutschland rund ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts umverteilt wird, dürfte gerade bei den Wirtschaftswissenschaften die sozialpolitikwissenschaftliche Forschung, Aus- und Weiterbildung und Politikberatung nicht zunehmend den anderen Sozialwissenschaften überlassen werden. Die verbreitete Vermutung von der Notwendigkeit eines Umbaus des Sozialstaates dürfte schließlich auch nicht mit einer Einschränkung, sondern eher mit einer Verstärkung der Forschung über Sozialpolitik zu beantworten sein. Eine Umstrukturierung der Sozialpolitik von der Erwerbsorientierung zur Familienorientierung, die Berücksichtigung der heute erreichten Mündigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Arbeitnehmer sowie die Anpassung der Sozialen Sicherung und der Relationen zwischen Erwerbseinkommen, beitragsbezogenen Sicherungsleistungen und Sozialhilfe an die veränderten Wettbewerbsbedingungen der deutschen Volkswirtschaft stellen für die Sozialpolitikwissenschaft als Kunstlehre große und komplexe Aufgaben dar, die die bisherigen Anforderungen an die Kreativität der Disziplin beim schrittweisen Ausbau des Sozialstaates in der Nachkriegszeit erheblich übersteigen dürften. In der hochgradig arbeitsteilig organisierten Landschaft der Wirtschaftswissenschaften sollte daher gerade in der Gegenwart und für die nächsten Jahrzehnte eine starke Spezialisierung wirtschaftswissenschaftlich fundierter Analyse der Sozialpolitik gesichert sein, wenn der Umbau des Sozialstaates gelingen und die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Modells von Marktwirtschaft und Sozialstaatlichkeit im neuen, nicht mehr durch den Gegensatz von "Markt" und "Plan" gekennzeichneten weltweiten Systemwettbewerb erhalten und gesteigert werden soll. Die politische Verantwortung für die notwendige Grundausstattung der Wissenschaft von der Sozialpolitik an den deutschen Hochschulen gehört ebenso zur politischen Daseinsvorsorge und Standortsicherung wie die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Zukunftstechnologien.
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"Allgemeine Wirtschaftspolitik" und "Sozialpolitik" als komplementäre Ausrichtungen in der Nationalökonomie Die "praktische Nationalökonomie" hat in der Nachkriegszeit die traditionellen Untergliederungen von Bereichs-Politiken in einer Theorie der Allgemeinen Wirtschaftspolitik überwunden, die verbreitet nach grundlegenden Funktionen als Allokations-, Stabilitäts- und Distributionspolitik oder nach dem Ansatzpunkt im Wirtschaftsgeschehen als Wirtschaftsordnungs-, Wirtschaftsgrundlagen-, Wirtschafts struktur- und Wirtschaftsprozeßpolitik gegliedert wird. Die früher unsystematisch eingefügte "Sozialpolitik" kann nun systematisch als Ergänzung der "Allgemeinen Wirtschaftspolitik" durch die Perspektive auf die Lösung der bei der praktischen Allgemeinen Wirtschaftspolitik offen gebliebenen "sozialen Probleme" angesehen werden. Mit einer solchen "Sozialpolitik" als Teildisziplin der praktisch-politisch ausgerichteten Nationalökonomie wäre jedoch noch kein Anspruch auf eine umfassende Theorie der Sozialpolitik verbunden. Für eine fruchtbare gegenseitige Ergänzung dieser beiden Ausrichtungen innerhalb der Nationalökonomie müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, die in der bisherigen Theorie der Allgemeinen Wirtschaftspolitik und in der bisherigen Lehre von der Sozialpolitik durchaus gefunden werden können, wenn man nur den störenden Schleier der bisher das Verhältnis beeinträchtigenden Vorurteile, Mißverständnisse und Werteinschätzungen beiseite schiebt. Eine besondere Rolle bei der Trübung des Verhältnisses von Theorie der Wirtschaftspolitik (praktischer Nationalökonomie) und Theorie der Sozialpolitik spielt sicher das Werturteilsproblem und seine Bewältigung in den Wirtschaftswissenschaften. Wie oft kritisch von der praktischen Sozialpolitik gesagt wird, sie würden mit "gut gemeinten" Interventionen in marktwirtschaftliche Prozesse letztlich oft auch für die Betroffenen noch weitere Nachteile bewirken (z. B. die mögliche Diskriminierung von besonders geschützten Arbeitnehmergruppen), so könnte die methodisch und wissenschaftsprogrammatische Eröffnung des Werturteilsstreits durch Max Weber (1904) in bezug auf die "Sozialpolitik" manchem Vertreter der Allgemeinen Wirtschaftspolitik (früher und heute) das unzutreffende Gefühl vermittelt haben, nicht betroffen zu sein und sich gegenüber jenen "Sozialpolitikern" doch eher als werturteilsfreier Wissenschaftler verstehen zu können. Dennoch konnte davon sowohl Anfang dieses Jahrhunderts als auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht die Rede sein. Bei der Wiederaufarbeitung der Werturteilsproblematik im Verein für Socialpolitik 1962, für die Heinz Lampert für die Herausgeber die - später leider aufgegebene - mühsame Arbeit der Protokollierung und Darstellung der Diskussion übernommen hatte 11, hatte die Disziplin 11 Lampert, Heinz: Bericht über die mündlichen Verhandlungen der Arbeitstagung zur Erörterung der Aufgaben und Methoden Wirtschaftswissenschaft unserer Zeit in Bad Homburg vom 2. bis 5. April 1962, in: Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, hrsg. von Erwin v. Beckerath und Herbert Giersch in
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"Sozialpolitik" selbst eine führende Rolle übernommen und auch eine interne Auseinandersetzung (exemplarisch in der Kontroverse zwischen Hans Albert und Gerhard Weisser) ausgetragen. Man kann nach dieser zweiten Werturteilsdebatte in den Wirtschaftswissenschaften - von wenigen mißverständlichen Forderungen nach einem erweiterten Wissenschaftsprogramm für die "Wirtschaftspolitik" und extremen Außenseiterpositionen abgesehen - von einem wirklich allgemeinen Bekenntnis zu einer werturteilsfreien Wirtschaftswissenschaft ausgehen. Die Wissenschaft von der Sozialpolitik hatte bei dieser Wiederaufnahme des Werturteilsstreites aber nicht nur selbst Initiativen zu dieser Debatte entfaltet und maßgeblichen Anteil an der Klärung der Werturteilsproblematik gehabt, Sozialpolitikwissenschaftler nahmen in der Folge die Verpflichtung zur Werturteilsfreiheit ihrer Aussagen auch besonders ernst - wohl im Bewußtsein der auf ihrer Disziplin liegenden historischen Verantwortung für eine besonders intensive Vermischung wertender Stellungnahmen und politischer Forderungen mit wissenschaftlichen Aussagen.
In der Gegenwart spielt weder in der Nationalökonomie noch in der Sozialpolitiklehre die Vermischung von Wertungen und wissenschaftlichen Aussagen eine Rolle. Es geht auch keineswegs mehr um das Problem, daß für eine Theorie der Wirtschaftspolitik und für eine Theorie der Sozialpolitik die von den Normen und Zielvorstellungen demokratischer Mehrheiten abhängigen und für die Bürger verbindlichen politischen Zielsetzungen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse werden. Die auch für die Beziehung der Disziplinen untereinander entscheidende "kritische" Zone dürfte vielmehr der weite Bereich der sog. Basisentscheidungen sein, die zwar von den Wertungen der Wissenschaftler selbst bestimmt werden, die aber letztlich die empirische Relevanz und die Geltung wissenschaftlicher Aussagen nicht begründen können. Die Probleme zwischen Nationalökonomie und Sozialpolitiklehre beginnen dabei mit den Begriffsbestimmungen (Definitionen), für die ja nicht das Wesen des Gegenstandes, sondern nur Zweckmäßigkeitsfragen, z. B. der Ermöglichung einer einheitlichen und nicht mißverständlichen Kommunikation, als wissenschaftliche (wissenschaftssoziologische) Kriterien herangezogen werden können. Strittig und "spaltend" zwischen Nationalökonomie und "Sozialpolitik" war beispielsweise die Frage der Einbeziehung von "nicht-ökonomischen" Interessen und Handlungsspielräumen der Menschen (z. B. über den Begriff der "Lebenslage") in die sozialpolitikwissenschaftliche Betrachtung 12, die dann auch eine Sprengung des Rahmens der Nationalökonomie bei der Analyse oder die Einbeziehung der Aussagen anderer Humanwissenschaften erforderlich machte. Angesichts der heute erreichten Verallgemeinerung der Ökonomik als SozialwissenVerbindung mit Heinz Lampert, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd.29, Berlin 1963, S. 517 -611. 12 Vgl. Sanmann, Horst: Sozialpolitik, in: Ehrlicher W. u. a. (Hrsg.): Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Bd. 2, 4. Aufl., Göttingen 1975, S. 188 ff., S. 188.
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schaft und der interdisziplinären Kommunikation kann dies jedoch nicht mehr als besondere Belastung des Verhältnisses der beiden Disziplinen gelten. Dies gilt insbesondere, wenn man sich auf die praktische Nationalökonomie konzentriert, wo vor allem im Bereich der wissenschaftlichen Beratung der Politik (unabhängig von den Ressorts) immer Interdependenzen mit anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, Durchsetzung- oder Akzeptanzüberlegungen in disziplinübergreifenden Ansätzen berücksichtigt werden müssen. 13 Gewichtigere Basisentscheidungen könnten dann die Bestimmung der "sozialen Probleme" oder der "gesellschaftlichen Schwäche" von größeren Personenmehrheiten und damit schließlich die Definition von "Sozialpolitik" sein, wenn verbreitet diese als politisches Handeln zur Lösung sozialer Probleme oder zur Verbesserung der Lebenslage gesellschaftlich schwacher Personengruppen bezeichnet wird. Tatsächlich können sich natürlich Sozialpolitikwissenschaftler bei der Auswahl der Kriterien für die Bestimmung "sozialer Probleme" ebensoweit von einem in der Gesellschaft (oder der Wissenschaft) verbreiteten "Problembewußtsein" loslösen, wie man in einem theoretischen Modell von der Realität abstrahieren kann. Durch die Wahl der normativen Bezugsstandards können Probleme "gesteigert" und damit der Handlungsbedarf dringlicher dargestellt werden. Als Beispiel hierfür kann teilweise die gegenwärtige Diskussion über Armut im Wohlfahrtsstaat (wenigstens im vorwissenschaftlichen Bereich) angeführt werden. Als Gegenbeispiel könnte allerdings auf das bei manchen nationalökonomischen Beiträgen zur Arbeitslosigkeit zu vermutende Bestreben verwiesen werden, Arbeitslosigkeit als Problem "wegzudefinieren" und als "eine nutzenoptimierende, intertemporale Substitution von Arbeitsangebot durch Freizeit" 14 zu interpretieren. Über diese, durch intersubjektive Kritik und konkurrierende Ansätze auflösbaren praktischen Basisprobleme hinaus, dürfte die Bestimmung der praktischen Sozialpolitik im Anschluß an die Vorstellung von der "Lazarettstation des Kapitalismus" die Ablehnung durch systemkonforme Wertpositionen begründen. Gerade im früheren Wettbewerb von Markt- und Planwirtschaft konnte schon die Anerkennung der Existenz sozialer Probleme und der Notwendigkeit, die Marktwirtschaft durch sozialstaatliche Interventionen zu ergänzen, als Schwächung der Position des eigenen Systems angesehen werden. Mit dem Zusammenbruch der real-sozialistischen Systeme müßte diese ideologische Barriere zwischen Nationalökonomie und "Sozialpolitik" wohl stark an Bedeutung abgenommen haben. Inzwischen dürften damit auch die Voraussetzungen für eine Anerkennung 13 Als Beispiel könnten hier auch die Bemühungen des Sachverständigenrats in seinen Gutachten von 1984 bis 1993 gelten, das Konzept eines "dynamischen Wettbewerbs" in die langfristige Wachstumspolitik einzuführen und bestimmend zu machen. 14 Berthold, Norbertl Fehn. Rainer: Arbeitslosigkeit Woher kommt sie? Wann bleibt sie? Wie geht sie?, in: List Forum, Bd. 20 (1994), S. 304 ff., S. 305. Die Autoren distanzieren sich hier allerdings von dieser Vorgehensweise.
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der Beiträge der Sozialpolitikwissenschaft zu einem differenzierten Vergleich der realen Wirtschaftssysteme verbessert sein. Die in der Lehre an der Universität zu Köln entwickelte und (fast als Einzelkämpfer) von Heinz Lampert betriebene Analyse der Sozialpolitik in der DDR hatte ja nicht nur den ideologischen Anspruch des Sozialismus, keiner Sozialpolitik zu bedürfen, grundlegend erschüttert, sondern auch ein für den Vereinigungsprozeß wertvolles detailliertes Bild der Ausgangssituation bei den Lebenslagen benachteiligter Gruppen und deren Behandlung in der Sozialpolitik der DDR vermittelt. 15 Ein weiterer kritischer Komplex von Basisentscheidungen ist die Auswahl der für die anwendungsorientierten Aussagen (der Kunstlehre) hypothetisch verwendeten (oder auch in der Beratungssituation bekenntnishaft eingeführten) Leitbilder und Ziele, auf die die Ableitungen von Aussagen über Handlungsmöglichkeiten bezogen werden. Während sich die praktische Nationalökonomie überwiegend auf die (fonnalen) Werte der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz sowie aufwohlfahrtsökonomisch fundierte Überlegungen zur allokativen Effizienz (einschließlich der Marktleistungsgerechtigkeit) beschränkt, werden in der Sozialpolitikwissenschaft eher auch die Verwirklichung materialer Freiheit, gerechter Anfangsausstattungen der Wirtschaftssubjekte ("Startchancengerechtigkeit") sowie auf das sozialkulturelle Existenzminimum bezogener und darüber hinausgehender Standards der Bedarfsgerechtigkeit als Ziele der Sozialpolitik unterstellt und der Ableitung von Aussagen über Handlungsmöglichkeiten zugrunde gelegt 16. Da aber auch für die Theorie der Wirtschaftspolitik gilt, daß sie der wirtschaftspolitischen Praxis Ziele und damit auch Beschränkungen ihres Zielbündels nicht vorgeben kann, und da sich die Ziele der praktischen Wirtschafts- und Sozialpolitik aus dem politischen Willensbildungsprozeß und damit in der Demokratie letztlich (wenigstens relativ getreu) aus den Präferenzen der Bürger ergeben, hängt - von der wissenschaftlichen Gültigkeit abgesehen - auch die praktische Relevanz der Kunstlehren "Allgemeine Wirtschaftspolitik" und "Sozialpolitik" nicht von den subjektiv-wertgebundenen Auswahlentscheidungen des einzelnen Wissenschaftlers oder der Mehrheit einer Disziplin, sondern von der Zustimmung zu den zugrunde gelegten Zielen durch Mehrheiten auf den verschiedenen Ebenen des politischen Willensbildungsprozesses ab.
15 Vgl. nur Lampert: Leitbild und Zielsystem der Sozialpolitik im "entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus" in der DDR, in: H. Sanmann (Hrsg.), Leitbilder und Zielsysteme der Sozialpolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., Bd. 72, Berlin 1973, S. 101 ff. Derselbe: Sozialpolitische Probleme der Umgestaltung in der DDR. Konsequenzen für die Deutschlandpolitik, in: Jakob-Kaiser-Stiftung e.V. (Hrsg.), Entwicklung in Deutschland, Manuskripte zur Umgestaltung in der DDR, erstellt im Auftrag des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen, Königswinter 1990. 16 Vgl. nur Lampert: Die Bedeutung der Gerechtigkeit im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 35. Jahr (1990), S. 75 ff.
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Der persistente Konflikt zwischen Theorie der Wirtschaftspolitik und Theorie der Sozialpolitik verengt sich damit schließlich auf den Punkt, daß Sozialpolitikwissenschaftler in ihrer Arbeit eher (oder auch) von einer Basiswerthaltung mit dem Bestreben, "soziale Probleme" zu erkennen und durch wissenschaftliche Erkenntnisse zu ihrer Lösung beizutragen, bestimmt sind, sich also selbst der "sozialen Reform" oder dem "sozialen Fortschritt" als Person, als Mensch und Bürger verpflichtet fühlen, während die "Zugehörigkeit" zum mainstream der Nationalökonomie eher mit einer Indifferenz oder gar mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber einer verstärkten Berücksichtigung der "sozialen Ziele" und gegenüber sozialpolitischen Interventionen einhergeht (oder darüber vermittelt wird), z. B. wegen der Vermutung von "Anreizproblemen" oder von "Staatsversagen" (bei Eingriffen aufgrund von an sich geringfügigeren Marktmängeln). Aber auch in diesem Unterschied grundlegender Werthaltungen und den daraus resultierenden wissenschaftlichen Auswahlentscheidungen von Gegenständen, Fragestellungen, zugrundegelegten Zielen und Mittelbewertungen, kann letztlich die unfruchtbare Störung der Kommunikation zwischen den beiden Disziplinen nicht begründet sein oder bleiben, wenn sich die jeweiligen Wissenschaftler in ihrem persönlichen Streben nach ihren Werten und der Verwirklichung ihrer Zielvorstellungen von der Gesellschaft nicht irrational von Vorurteilen leiten lassen und dadurch auch auf die mögliche Erkenntnis von Wegen zur Verwirklichung ihrer Werte und Ziele verzichten wollen. Die kritisch-rationale Wissenschaft ist in einer offenen Gemeinschaft von freien, aber von unterschiedlichen Wertungen geleiteten Forschern ein "Entdeckungsverfahren" (wie der Wettbewerb), in dem herkömmliche Versuche der apriorischen Beurteilung, der Schulenbildung und Abgrenzung von Disziplinen zum unlauteren Wettbewerb im Verhältnis der Wissenschaftler zueinander gehören oder bei einem Außenstehenden eine "Anmaßung von Wissen" bedeuten. Ein etwas länger verweilender Blick auf das bisherige wissenschaftliche Lebenswerk von Heinz Lampert könnte wohl das Bild der Wissenschaft von der Sozialpolitik als einer "ungeliebten" Tochter der Nationalökonomie endgültig der Vergangenheit angehörig sein lassen. Für die Zukunft dieser beiden im deutschen Sprachraum in der Geschichte doch immer imageprägenden Ausrichtungen der praktischen Nationalökonomie würde sich damit die Möglichkeit eines von Vorurteilen nicht mehr belasteten, offenen und fairen wettbewerblichen Strebens nach der zutreffenden Erfassung und den besten wissenschaftlich begründbaren Lösungen der sozialen Probleme der Gesellschaft eröffnen. Dem Jubilar gilt der Wunsch, an einer Umsetzung dieser Chance noch auf viele Jahre mit der von ihm bekannten Energie und Herzlichkeit mitwirken zu können. Passau, März 1995
Gerhard Kleinhenz
Inhaltsverzeichnis A. Grundfragen der Sozialpolitik Grundsätzliche und aktuelle Aspekte der Sicherung, Subsidiarität und Sozialpolitik Von Werner Wilhelm Engelhardt ...................................................
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Christliche Beiträge zur Begründung der Sozialpolitik Von Anton Rauscher................................................. . .... . .........
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Mißverständnisse um die Sozialpolitik Von Helmut Winterstein ................................... . ........................
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B. Soziale Gestaltung der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Gesellschaft mit beschränkter Haftung - Privater Reichtum, öffentliche Armut Von Reinhard Blum .................................................................
57
Zur wirtschaftlichen Integration Deutschlands: Blockaden für den Aufschwung Ost Von Gernot Gutmann ...............................................................
73
Der wissenschaftliche Umgang mit dem Thema: Wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungen. Probleme, Methoden, Experimente Von Hans-Günter Krüsselberg .....................................................
87
Erwerbsstruktur und Vermögensverteilung als Einflußfaktor der privaten Sekundärverteilung des Volkseinkommens Von Wolfgang J. Mückl .............................................................
105
Monetäre Stabilität und Notenbankverfassung - sozial gesehen Von Dietrich Schänwitz .............................................................
117
C. Von der Erwerbsorientierung zur Familienorientierung in der Sozialpolitik Die Entwicklung der Einkommenslage von Familien über zwei Dekaden - einige empirische Grundlagen zur Würdigung der deutschen Familienpolitik Von Richard Hauser................................................................
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XVIII
Inhaltsverzeichnis
Kinderkosten, umlagefinanzierte Rentenversicherung, Staatsverschuldung und intergenerative Einkommensverteilung. Kinderbezogene Alternativen zum heutigen gesetzlichen Alterssicherungssystem Von Reinar Lüdeke ..................................................................
151
Familienlastenausgleich und Familienbesteuerung Von Alois Oberhauser ..............................................................
185
Die Familie als Leistungsträger und Leistungsempfanger im Gesundheitswesen Von Anita B. Pfaffund Martin Pfaff ...............................................
195
Familienorientierte Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung in Deutschland Von Winfried Schmähl ..............................................................
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Die "werteschaffenden Leistungen" und Belastungen durch Familientätigkeiten Von R. von Schweitzer und H. Hagemeier .........................................
247
Drei-Generationen-Solidarität - Wunsch oder Wirklichkeit? Einige sozial- und familienpolitische Anmerkungen Von Max Wingen ....... ............... ... ........................ ...................
275
D. Neue Dimensionen in der staatlichen Sozialpolitik Bildungs- und Beschäftigungssystem - Parallelen, Widersprüche, Lösungsvorschläge Von Friedrich Buttler ...............................................................
295
Schwerbehinderten arbeitslosigkeit - Ein strukturelles Dauerproblem? Von Horst Sanmann .................................................................
309
Einige ordnungs politische Überlegungen zum Gesundheitswesen Von Joachim Genosko ..............................................................
323
Von der fiskalischen Betrachtung zu mehr Patientenorientierung im Gesundheitswesen Von Klaus-Dirk Henke..............................................................
341
Der Gesundheitssektor als volkswirtschaftlicher Wachstumssektor. Kassenzw.angversus Zwangskassen-Modell Von Dieter Schäfer ..................................................................
357
Ökonomische und sozialpolitische Gedanken zu einer sozialen Wohnungspolitik Von Jürgen Zerehe ..................................................................
379
Europäische Sozialpolitik: subsidiär, solidarisch, solide! Von Hermann Albeck ...............................................................
391
Inhaltsverzeichnis Quo Vadis Europäische Sozialpolitik? Von Hermann Berie .................................................................
XIX 409
E. Lebenslauf und Verzeichnis der Veröffentlichungen von Prof. Dr. Heinz Lampert Lebenslauf von Prof. Dr. Heinz Lampert .............................................
429
Chronologisches Verzeichnis der Veröffentlichungen von Prof. Dr. Heinz Lampert 433
Verzeichnis der Mitarbeiter .........................................................
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A. Grundfragen der Sozialpolitik
1 Festschrift Lampert
Grundsätzliche und aktuelle Aspekte der Sicherung, Subsidiarität und Sozialpolitik Von Werner Wilhelm Engelhardt
I. Wahrnehmungen und Mutmaßungen zum Risiko- und Sicherheitsproblem 1. Begriffe wie "Risiko", "Ungewißheit", "Unsicherheit", "Wahrscheinlichkeit", "Erwartung", "Vision", "Sicherheit", "soziale Sicherheit" sind weithin komplementär. Sie umschließen Themen bzw. Probleme der nur teilweise wissenschaftlich betreibbaren "Futurologie". Die durch diese und ähnliche Begriffe ausgedrückte persönliche und gesellschaftliche Problematik läßt sich unzweifelhaft durch Wettbewerb, der "als angewandtes Subsidiaritätsprinzip im wirtschaftlichen Bereich" I und weit darüber hinaus verstanden werden kann, erheblich beeinflussen, d. h. entweder steigern oder aber - im Gegenteil - reduzieren.
Im heute feststellbaren Sicherheitsverlangen vieler Menschen spiegeln sich zwar nicht notwendig objektiv gewachsene, wahrscheinlich gewordene Lebensrisiken und größere Schadenshäufigkeiten. Viele Indikatoren für größere Lebenssicherheit, wie etwa die durchschnittliche Lebenserwartung Geborener, sprechen - im Vergleich zu früheren Jahrhunderten - gegen eine solche These. Wohl aber zeugt das vorhandene Sicherheitsverlangen nach Ansicht des Sozialphilosophen Hermann Lübbe für wachsende Ungewißheiten, entsprechend unsichere Erwartungen und stark zunehmende Risikoempfindlichkeiten. 2 Erfahrungen der Unsicherheit nehmen offenbar mit abnehmender Vorhersehbarkeit der Zukunft zu. "Noch nie hat eine kulturelle Gegenwart über die Zukunft, I So Lampert, H., Wettbewerb und Subsidiarität, in: Entwicklung und Subsidiarität. Deutsch-polnisches Gespräch über Wirtschaft und Gesellschaft im Lichte der christlichen Sozialethik, Meile 1986, S. 156-163, hier S. 159 ff. Siehe auch Ders., Freiheit als Ziel der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ders.(Hrsg.), Freiheit als Grundwert demokratischer Gesellschaften, St. Ottilien 1992, S. 19-48, hier S. 41 ff. 2 Vgl. zu den folgenden Darlegungen Lübbe, H., Sicherheit, Risikowahrnehmung und Zivilisationsprozeß, in: Bayerische Rückversicherung AG (Hrsg.), Risiko ist ein Konstrukt. Wahrnehmungen zur Risikowahrnehmung, München 1993. Zu den berührten Grundsatzfragen siehe vorher z. B. auch Weisser, G., Soziale Sicherheit, in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 396 -412; Braun, H., Soziale Sicherung. System und Funktion, Stuttgart / Berlin/Köln/Mainz 1972; Engelhardt, W. W., Zum Verhältnis von Sozialpolitik und Ordnungspolitik, am Beispiel der Politik sozialer Sicherung erörtert, in: Sozialer Fortschritt, H. 7-10/1977.
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die ihr bevorsteht, weniger gewußt als unsere eigene", behauptet der Autor. Dies nicht zuletzt infolge der aus grundsätzlichen Erwägungen unabsehbaren Wissensentwicklung, je länger wissenschaftliche und technische Fortschritte anhalten. Nach Ansicht des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Karl R. Popper können wir bekanntlich "nicht heute das vorwegnehmen, was wir erst morgen wissen werden" 3. In der Literaturszene und Utopistik entspricht dem die wachsende Präferenz für gegenutopische Schreckensthemen, statt für religiöse Heils- oder laizistische Fortschrittsutopien. 4 2. Zu den wesentlichen Ursachen intensiverer Risikoerfahrungen und größerer Risikoempfindlichkeiten, die zu einer sinkenden Bereitschaft zur "klaglosen Hinnahme von Lebensrisiken" führen, rechnet Lübbe u. a. die ,,zunahme des relativen Anteils derjenigen Lebensvoraussetzungen, die zugleich unsere eigenen Hervorbringungen sind". Was die Betroffenen früher als ein Ereignis aus Vorgängen unverfügbarer Natur mehr oder weniger "ereilte" - "die rationale Form, sich zu ihnen in Beziehung zu setzen, war Religion" - habe jetzt den Charakter einer Handlungsnebenfolge, für die sich die Frage ihrer Verantwortung stellt. Risikoerfahrungen intensivieren sich auch mit der Zunahme der "Eingriffstiefe unseres HandeIns" sowie mit den Projektionen und Vermutungen darüber, was dabei unbeabsichtigt als Nebenfolge oder Spätwirkung "angerichtet" wird. Mit der Eingriffstiefe nimmt zugleich unsere wechselseitige Abhängigkeit vom Handeln anderer zu, was Autarkieverluste von Individuen und kleinen Gruppen zur Folge habe. "Entsprechend expandiert in der modernen Gesellschaft mit der Reichweite unserer realen Abhängigkeit von Handlungen anderer unser an die Adresse dieser anderen sich richtender Anspruch auf Gewährleistung unserer Sicherheit in dieser Abhängigkeit". Die allgemeine Risikoempfindlichkeit nimmt offenbar aber auch mit der sinkenden Bedeutung direkter sozialer Abhängigkeiten und Kontrollen sowie mit den dazu wachsenden indirekten Abhängigkeitsverhältnissen und dem steigenden Sicherheitsaufwand zu. "Das Sicherheitsverlangen wächst mit der Höhe des technischen und sozialen Sicherheitsniveaus". Vielleicht sei es in dieser Frage - vermutet Lübbe - ähnlich wie bei den Befindlichkeiten der Teilnehmer einer Autofahrt, wo oft auch mit der Nähe zum Ziel die Ungeduld wachse. Dabei wäre es "ein zivilisationskritisches Mißverständnis anzunehmen, daß sich in wachsenden Sicherheitsansprüchen eine wachsende Dekadenz unserer Selbstbestimmungsfähigkeit spiegele. Insoweit verhält sich die Sache genau umgekehrt. Kraft Wohlfahrt und disponibler, nämlich notwendigkeitsentlasteter Lebenszeit war
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Popper, K. R., Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, S. XII. Zu den miterschiedenen Utopiearten siehe z. B. Engelhardt, W. W., Über Leitbilder
in der Sozialpolitik und zur Utopienproblematik in der Sozialpolitiklehre, in: HerderDomeich, Ph. / Zerehe, J. / Engelhardt, W. W.(Hrsg.), Sozialpolitiklehre als Prozeß, Baden-Baden 1992, S. 55 -77, hier S. 67 ff.
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das Ausmaß der Möglichkeiten zu selbstbestimmter Lebensverbringung nie größer als heute, und diese Möglichkeiten werden genutzt". 3. Jederman wisse, "daß die geschätzten und überwiegend genutzten Freiheiten moderner Lebensverbringung gerade nicht auf der sozialen Autarkie der Individuen und kleinen Gruppen beruhen, vielmehr auf den sozialen Sicherheiten, wie sie einzig die modeme Gesellschaft über ihre politischen Institutionen zu gewähren vermag, und eben deshalb wachsen die Ansprüche ans System unserer sozialen Sicherheiten nicht trotz der Freiheitsansprüche moderner Bürger, vielmehr ihretwegen".
In komplexen Gesellschaften sei die seit langem zunehmende Individualisierung gerade an weiter ausgebaute Systeme staatlich garantierter Sicherheiten gebunden. Sie würden als zuverlässige Rahmenbedingungen ihres HandeIns nicht zuletzt von vielen innovationsfahigen Personen geschätzt. Denn die Lust der Neugier gestatte sich im Regelfalle nur, wer hinreichende Sicherheiten im Rücken habe. Soziale Sicherung "ermutigt die einzelnen", schreibt auch der Wirtschaftsund Unternehrnensethiker Kar! Homann, "Iangfristige und risikoreiche Investitionen in Sach- und vor allem in Humankapital vorzunehmen, da sie im Falle des Scheiterns aufgefangen werden und eine neue Chance erhalten" 5. Der ideologische Gegensatz von Verstaatlichung und Privatisierung erscheint von hier aus aber nicht nur Sozialphilosophen, sondern auch empirisch forschenden Soziologen überholt. "Sowohl steigende Individualisierung als auch steigende Sicherheitsbedürfnisse sind tiefliegende Trends der Modernisierung, die über bloß hedonistische Idiosynkrasien der Bürger hinausreichen"6. 4. Es sind möglicherweise nicht nur die Wettbewerbserfordernisse, sondern auch die charakterisierten - oder weitere - Risikoempfindlichkeiten, die zur Gewährleistung eines hohen Maßes individueller und sozialer Sicherheit subsidiär orientiertes politisches Handeln nahelegen. Dies gälte zumindest in dem Falle, wenn die Selbstbestimmungsfähigkeit bei möglichst vielen Personen erhalten
5 Homann, K. / Blome-Drees, F., Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, S. 60. Nach Bertrand de Jouvenel ("Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums", Freiburg / Br. 1972, S. 404) ist Freiheit "nur ein sekundäres Bedürfnis im Vergleich zum Primärbedürfnis der Sicherheit"; hier zit. nach Albert, H., Freiheit und Ordnung, Tübingen 1989, S. 99. Zu einer insgesamt eher kritischen Würdigung von Sozialpolitik und Sozialstaat vgl. hingegen z. B. Molitor, B., Sozialpolitik auf dem Prüfstand, Hamburg 1976; Koslowski, P. / Kreuzer, Ph. / Löw, R. (Hrsg.), Chancen und Grenzen des Sozialstaats, Tübingen 1983. 6 So ZapfW., Individualisierung und Sicherheit - Einige Anmerkungen aus soziologischer Sicht, in: Rolf, G. / Spahn, P. B. / Wagner, G.(Hrsg.), Sozial vertrag und Sicherung, Frankfurt / New York 1988, S. 371- 380, hier S. 374. Vgl. auch Alber, J., Der Sozialstaat inder Bundesrepublik 1950- 1983, Frankfurt / New York 1989, S. 165 f. Auch bei Privatisierung behält übrigens der Staat, wie Wolfram Elsner jüngst zu Recht betont hat, oft ein "diffuses Restrisiko"; vgl. Eisner, W., Über das tiefgehende Schiff "Privatisierung", in: Bremer Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 3/1993.
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bleiben und auch zugunsten von Innovationsfähigkeit und entsprechender Motivation möglichst noch gestärkt werden soll. Eine solche Strategie könnte sich dabei nicht nur aus nationalen, d. h. binnenwirtschaftlichen, entsprechenden sozialpolitischen und anderen auf Deutschland bezogenen politischen Erwägungen, sondern auch im Hinblick auf die Fortführung der Europäischen Integration empfehlen. Handeln nach entsprechenden Leitbildern und Entscheidungskriterien hält jedenfalls Verfasser als deutscher Staatsbürger heute für geboten. Dem stehen allerdings seit längerem auch Bedenken gegen die weitere uneingeschränkte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gegenüber. Franz-Xaver Kaufmann hat z.B. bereits vor zwei Jahrzehnten aus den schon damals erkennbaren Sachverhalten und Trends die Schlußfolgerung gezogen, daß das dem Subsidiaritätsprinzip zugrundeliegende Denkmodell ,,konzentrisch ineinandergelagerter Lebenskreise" nicht mehr wirklichkeitsgerecht ist und deshalb nicht überschätzt werden darf. 7 Andere Autoren gehen besonders in den letzten Jahren noch viel weiter und zeihen Verfechtern der Subsidiarität, besonders soweit sie Wege der Reprivatisierung und Entstaatlichung bejahen, im Grunde der Absicht oder doch der Hinnahme von Wirkungen der Gesellschaftsspaltung durch Förderung oder Duldung von Umverteilungen von unten nach oben. 8 "Wer gut verdient", schreibt der Journalist Wolfgang Hoffmann zur aktuellen gesundheitspolitischen Debatte, wie sie derzeit z. B. durch das "Gesundheitskonzept 2000" der FDP ausgelöst wird, "kann sich eine bessere Behandlung leisten, wer auf Zuschuß angewiesen ist, muß mit dem zufrieden sein, was der Fiskus bereit ist zu subventionieren. Rationierung durch die Hintertür"9.
11. Enges und weites Verständnis der Subsidiarität 1. Das Handeln nach dem Prinzip Subsidiarität sollte nach hier vertretener persönlicher Wertung nicht unbedingt nur beim einzelnen oder bei der kleinen Gruppe von Personen ansetzen (= enges Verständnis des Prinzips). Bei dem an sich uralten Grundsatz kommt auch empirisch gesehen bereits relativ früh die "Anerkenntnis" hinzu, daß zunächst ein großes oder "gesteigertes Maß" staatlicher Fremdhilfen und Interventionen "notwendig und damit rechtmäßig geworden ist" 10 (= weites Verständnis des Prinzips). 7 Vgl. Kaufmann, F.-X., Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970, S. 267. 8 Siehe dazu z. B. Wegner, B., Subsidiarität und ,,Neue Subsidiarität" in der Sozialpolitik und Wohnungspolitik, Regensburg 1989, S. 70 ff. u. 89 ff. 9 Hoffmann, W., Rationalisierung des Gesundheitswesens ja, Rationierung nein, in: Die Zeit, Nr. 49 v. 3.12.1993, S. 26.
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Dieses weite Verständnis lag Z.B. bei Abraham Lincoln oder in unserem Jahrhundert bei Franklin D. Roosevelt vor und ist heute vermutlich bei Präsident Bill Clinton und dessen gesundheitspolitisch sehr aktiver Frau gegeben. II Dieses Maß ist - wie Oswald von Nell-Breuning als führender Vertreter der Katholischen Soziallehre in dem zitierten Brief näher ausgeführt hat - naturrechtlieh sogar oftmals geboten, weil der Mensch erst auf diese Weise anfangen kann, allein oder in kleinen Gruppen seine eigenen Kräfte zu regen. 2. Systematisch betrachtet gibt es demnach mindestens zwei grundsätzliche Möglichkeiten des Verständnisses von Subsidiarität: a) den sachlichen Vorrang individueller Selbsthilfen oder gemeinsamer Selbsthilfen im kleinen Kreise, von dem b) der zeitliche Vorrang gesellschaftlicher Selbsthilfen durch frei gebildete Großorganisationen oder staatliche Fremdhilfen zu unterscheiden ist, an deren "Hilfen zur Selbsthilfe" sich individuelle Selbsthilfen oder gemeinsame Selbsthilfen im kleinen Kreise erst anschließen. 12 Das Subsidiaritätsprinzip besagt also nicht unbedingt, daß die einzelnen und die kleinen Verbände vorzuleisten und daß erst bei Erschöpfung ihrer Kräfte die Gesellschaft und der Staat einzuspringen haben. Vielmehr verhält es sich unter Umständen nahezu umgekehrt. Wer anderes sagt, mißversteht das Prinzip laut Nell-Breuning U.U. "gründlich". Denn: "bevor der Mensch anfangen kann, seine eigenen Kräfte zu regen, muß die Gesellschaft bereits eine Menge von Vorkehrungen und Maßnahmen getroffen haben, ohne die er entweder überhaupt nicht dazu käme, seine Kräfte zu regen, oder doch seine Anstrengungen zu keinerlei Erfolg führen könnten" 13. Nach der Interpretation Nell-Breunings in dem oben angegebenen Brief ist das Prinzip eben kein unwandelbares normatives "Gesetz der Sittenlehre", sondern lediglich eine Zuordnungsregel im Sinne einer analytischen Wahrheit, die an anthropologische Einsichten metaphysischer Art anknüpft: "Nur die Hilfe, 10 So über die weite Fassung Oswald von Nell-Breuning SJ im Jahre 1973 in einem m. E. bislang unveröffentlichten Brief an Prof. Dr. Burkhardt Röper. (Die Einsicht in diesen Brief verdanke ich Prof. Dr. Wolf-Dieter Becker, Wachtberg). II ZU Lincolns Position vgl. auch Lampert, H., Wettbewerb und Subsidiarität, a. a. 0., S. 156. Zur gegenwärtigen Reform des amerikanischen Gesundheitswesens siehe z.B. Reinhardt, U. E., Kontrollierter Wettbewerb im Rahmen der Reform des amerikanischen Gesundheitswesens, in: Informationsdienst der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V., Nr. 238, Februar 1994. 12 So Engelhardt, W. W., Selbstverantwortung, Solidarität, Subsidiarität und andere Sinnstrukturen der industriellen Gesellschaft, in: Herder-Domeich, Ph. (Hrsg.), Dynamische Theorie der Sozialpolitik, Berlin 1981, S. 55 - 78, hier S. 61 ff. 13 von Nell-Breuning, 0., Solidarität und Subsidiarität im Raume von Sozialpolitik und Sozialreform, in: Boettcher, E. (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialreform, Tübingen 1957, S. 213 -226, hier S. 219 ff. Vgl. auch Weisser, G., Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Göttingen 1978, S. 300 ff.; Lampert, H., Freiheit als Ziel der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik ... , a.a.O., S. 41.
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bei der derjenige, dem geholfen werden soll, eine Förderung im Sinne seiner Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 GG) erfährt" - von wo aus immer dies geschieht - "ist wahre Hilfe". Das Prinzip sollte trotz der Breite seiner Anwendungsmöglichkeiten freilich auch nicht als bloße "Leerformel" verstanden werden. 14 3. In der Gegenwart scheint nun das Subsidiaritätsprinzip sogar im Sinne eines Schlüssel begriffs bzw. einer Hauptnorm bei den Diskussionen über die Weiterführung der Europäischen Integration benutzt zu werden. Dabei geht freilich insbesondere das vorherrschende englische Verständnis des Prinzips lediglich in Anlehnung an "subsidiär-abgeleitet bzw. aushilfsweise" 15 statt, wie in der Sozialenzyklika "Quadragesimo anno", an "subsidium afferre-echte Hilfe fordernde" - völlig in die Irre. Allerdings heißt es dem Wortlaut nach auch in Ziffer 79 der Enzyklika: "Jede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" 16. Als zentral gilt jedoch zumindest bei Sozialpolitikern und Wissenschaftlern der Sozialpolitik laut Gerhard Kleinhenz weiterhin ein doppelter Sinn der Zuordnungsregel. Danach soll das Gemeinwesen gegenüber dem Individuum zur "vorleistenden" Hilfe bei der freien Entfaltung und Selbstverantwortlichkeit ("Hilfe zur Selbsthilfe") und zugleich zur "nachrangigen" Hilfe bei erschöpfter Selbstverantwortlichkeit verpflichtet sein. Analoges gelte für das Verhältnis gesellschaftlicher Gebilde unterschiedlichen Umfangs zueinander. 17 Allerdings ist nach Ansicht des Autors mit dem Subsidiaritätsprinzip und mit der bei der Europäischen Integration neuerdings erfolgten Betonung der Gleichrangigkeit von wirtschaftlicher und sozialer Dimension weder schon eine klare Grundlage geschaffen worden noch gar ein Konsens für eine widerspruchsfreie Strategie unter den Mitgliedstaaten vorhanden. Ungeachtet der rein sprachlichen Sinnunterschiede sei mit dieser Verankerung des Subsidiaritätsprinzips nämlich "noch keine Lösung der hier erörterten Probleme durch einen klaren Rechtsgrundsatz für die Aufteilung der sozialpolitischen Handlungskompetenz erreicht. Die 14 Vgl. dazu Wegner, B., Subsidiarität und ,,Neue Subsidiarität" ... , a.a.O., S.32 im Anschluß an Lampe, K., Wissenschaftliche Beratung der Politik, Göttingen 1960, S.26. 15 So bereits z.B. Schäffle, A., Bau und Leben des socialen Körpers, 2. Aufl., 2. Bd., Specielle Soziologie, Tübingen 1896, S. 520 f. Nach dem Zweiten Weltkriege vgl. z.B. Küchenhajf, G., Staatsverfassung und Subsidiarität, in: Utz, A. F. (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip, Heidelberg 1953, S. 75. 16 Hier zitiert nach Lampert, G., Wettbewerb und Subsidiarität, a.a.O., S. 156. Zu den philologischen Mißverständnissen im Zusammenhang des Subsidiaritätsprinzips siehe Preller, L., Sozialpolitik. Theoretische Ortung, Tübingen / Zürich 1962, S. 219 ff. I7 Vgl. dazu und zum folgenden Kleinhenz, G., Subsidiaritätsprinzip und soziale Integration in Europa, in: Ders.(Hrsg.), Soziale Integration in Europa H, Berlin 1994 (in Vorbereitung).
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Verträge von Maastricht schaffen damit aber doch eine unmittelbare Grundlage, die soziale Integration in Europa zu untersuchen". Mit der Kompromißformel nach Art. 3 b der Europäischen Verträge von Maastricht als Teil der allgemeinen "politischen Grundsätze" sei auch die Möglichkeit eines strategischen Spiels eröffnet worden. Danach darf die Gemeinschaft bzw. Union im sozialen Bereich nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig werden, "sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden ( ... ) und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". In diesem Spiel könne die EG-Kommission als Initiativorgan der Gemeinschaft mit dem Anspruch der im Sinne der Subsidiarität "besseren" Erfüllung der Ziele Aufgaben an sich ziehen 18, während die Mitgliedsländer , die sich ihrerseits auf das Prinzip berufen, dann die Verantwortung auf sich nehmen müssen, den europäischen Integrationsprozeß aufzuhalten. Die möglich gewordene Gegenwehr des Föderalismus und Kommunalismus gegen den Zentralismus in Europa, der auf Initiative einiger deutscher Bundesländer zustande kam, ist zumindest bemerkenswert. Nach Gerhard Himmelmann "wird es in Zukunft sehr auf den Druck ankommen, den die deutschen Bundesländer gemäß ihrer innerstaatlich gewonnenen Machtpositionen auf den Bund als Verhandlungspartner in Europa ausüben können". Auch dieser Autor räumt ein: "Die Wahrung regionaler Interessen bedarf neuer institutioneller Strukturen. Vielleicht ist dann das Konzept des Europas der Regionen die neue Idee, die einer solchen Reform den nötigen Schwung verleihen kann" 19.
111. Ein Begriff der Sozialpolitik und seine Implikationen 1. Der Begriff Sozialpolitik läßt sich unter Bezug auf den hier vertretenen Sinn von Subsidiarität im Sinne einer knappen - für theoretische und andere wissenschaftliche Zwecke allerdings ergänzungsbedürftigen - Arbeitsdefinition bestimmen: Als Sozialpolitik kann dann im Anschluß an Gerhard Weisser gelten der "Inbegriff derjenigen Maßnahmen, die bestimmt sind, die Lebenslage von sozial schwachen oder gefährdeten Bevölkerungsschichten" , aber auch von sozial 18 Zu dieser "eurozentralistischen" Perspektive siehe z. B. Rupp, H.-H., Maastricht - eine neue Verfassung? In: Z. f. Rechtspolitik, H. 6/1993, S. 211- 213. 19 Himmelmann, G. Perspektiven der Europäischen Gemeinschaft - unter dem Blickwinkel des Subsidiaritätsprinzips, in: Eichhorn, P. (Hrsg.), Perspektiven öffentlicher Unternehmen in der Wirtschafts- und Rechtsordnung der Europäischen Union, BadenBaden 1994 (in Vorbereitung). Zu Grundsatzfragen des Föderalismus im Lichte des Subsidiaritätsprinzips vgl. Wegner, B., Subsidiarität und "Neue Subsidiarität" ... , a. a. 0., S. 14 ff.
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entsprechend einzuschätzenden Einzelpersonen, "zu verbessern"20. Die Maßnahmen sollen sein "Hilfen zur Selbsthilfe", d. h. sie sollen entweder durch staatliche Hilfen von oben her oder aber durch gesellschaftliche Hilfen vornehmlich von unten aus zur individuellen (familialen) oder aber gemeinsamen bzw. solidarischen Selbsthilfe beitragen. 2. "Sozial schwachen Schichten" gehören nach der zugrundegelegten Definition der Sozialpolitik Gesellschaftsmitglieder an, "deren Lebenslage von der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinung als nicht zumutbar angesehen wird", d. h. die im Sinne der "in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen und sozialen Grundziele" (H. Lampert) zu verbessern sind.
Gemeint sind dabei zumindest die "absolut Armen", die nicht über die Mittel für ein soziales (soziokulturelles) Existenzminimum verfügen. Das soziale Existenzminimum ist im Unterschied zum physischen ExistenzminimuIrl die sich im historischen Ablauf der Gesellschaft und des persönlichen Lebens verändernde Güter- und Dienstleistungsmenge, die jeweils zur Fristung des Lebens als unentbehrlich angesehen wird. Zu denken ist beim Begriff der sozial schwachen Schichten aber auch an die jeweils ,,relativ Armen", welche einen geringeren Lebensstandard als die Personen (Familien) von Vergleichs gruppen oder des gesellschaftlichen Durchschnitts haben. 21 Nach neueren Untersuchungen der Nationfllen Armutskonferenz leben derzeit in der Bundesrepublik Deutschland mindestens 10 Millionen Menschen in Armut. Vor allem Obdachlose, Arbeitslose, Alleinerziehende und andere Sozialhilfeempfänger sind davon betroffen. AufgI1lnd von Massenentlassungen wird die Armut trotz anspringender Konjunktur auch in diesem Jahre weiter zunehmen. Über eine Million Kinder leben 1994 bereits von Sozialhilfe. 3. "Sozial gefährdeten Schichten", d.h. Personenmehrheiten mit "existenzgefährdenden Risiken" (H. Lampert), gehören hingegen nach der zugrundegelegten Sozialpolitikdefinition solche Mitglieder der Gesellschaft an, "deren Lebenslage durch bereits eingetretene oder voraussehbare Ereignisse bedroht ist, unter das nach vorherrschender Meinung noch zumutbare Niveau abzusinken". 20 Weisser, G. mit Assistent Dr. U. Pagenstecher, Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre, Neue Fassg. 1957 d. Manuskr. v. 1952, Vervielf., S. 3. Zu anspruchsvolleren Begriffen in dieser Tradition, die Begriffe und Aufgaben der praktischen und der wissenschaftlichen, insbesondere theoretischen Sozialpolitik klarer unterscheiden, siehe vor allem Kleinhenz, G., Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970, besond. S. 58 ff.; Engelhardt, W. W., Möglichkeiten einer Wissenschaft von der Sozialpolitik, in: ZfgSt., 130. Bd., 1974, S. 545-564, hier S. 549 ff.; Lampert, H., Sozialpolitik, Berlin / Heidelberg / New York 1980, ·S. 3 - 24; Ders., Notwendigkeit, Aufgaben und Grundzüge einer Theorie der Sozialpolitik, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik, Berlin 1990, S. 9-71. 21 Vgl. dazu z. B. Scherl, H., Absolute Armut in der Bundesrepublik Deutschland: Messung, Vorkommen und Ursachen, in: Widmaier, H. P. (Hrsg.), Zur Neuen Sozialen Frage, Berlin 1978, S. 79 -126.
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Hierher gehören besonders in Zeiten großer struktureller und funktioneller Wandlungen von Wirtschaft und Gesellschaft relativ viele Menschen sowohl der Arbeiter- und Angestelltenschaft als auch des traditionellen Mittelstands und u. U. weit darüber hinaus. Heute geht es dabei offenbar nicht zuletzt um solche Gefährdungslagen, die aus "Modernisierungsrisiken" erwachsen können, wie sie etwa Ulrich Beck herausgearbeitet hat. Beck schreibt: "Während in der Industriegesellschaft die ,Logik' der Reichtumsproduktion die ,Logik' der Risikoproduktion dominiert, schlägt in der ,Risikogesellschaft' dieses Verhältnis um". Modernisierungsrisiken und -folgen würden sich in "irreversiblen Gefährdungen des Lebens von Pflanze, Tier und Mensch niederschlagen. Diese können nicht mehr - wie betriebliche und berufliche Risiken im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lokal und gruppenspezifisch begrenzt werden, sondern enthalten eine Globalisierungstendenz, die Produktion und Reproduktion ebenso übergreift, wie nationalstaatliche Grenzen unterläuft und in diesem Sinne übernationale und klassenunspezifische Globalgefährdungen mit neuartiger sozialer und politischer Dynamik entstehen läßt". Mit Modernisierungs- bzw. Zivilisationsrisiken werde die Wirtschaft gewissermaßen "selbstreferentiell" (N. Luhmann). "Das aber heißt: die Industriegesellschaft produziert mit der wirtschaftlichen Ausschlachtung der durch sie freigesetzten Risiken die Gefährdungslagen und das politische Potential der Risikogesellschaft". "Modernisierungsrisiken sind big business. Sie sind die von den Ökonomen gesuchten unabschließbaren Bedürfnisse. Hunger kann man stillen, Bedürfnisse befriedigen. Zivilisationsrisiken sind ein Faß ohne Boden, unabschließbar, unendlich, selbstherstellbar" 22. Allerdings entstehen in den globalen Gefahrdungslagen - zu deren Bewältigung in der Regel eher umfassende Gesellschaftspolitik als gezielte Sozialpolitik gefragt sein dürfte - neben den auch hier nicht ausgeschlossenen persönlichen Risiken zweifellos selbst neue dazwischenliegende Gruppen- und Schichtrisiken. Gefährdungsrisiken "erwischen" zwar früher oder später auch diejenigen, die sie verantwortlich produzieren oder von ihnen sogar profitieren - beispielsweise in Form von Gesundheitsgefährdungen. Gleichzeitig produzieren sie aber auch neue Ungleichheiten, einerseits zwischen Industrieländern oder diesen und den Staaten der Dritten Welt, andererseits zwischen den Schichten in den Industrieländern. Deshalb hat Beck recht, wenn er schreibt: "Dieselben Schadstoffe (können) je nach Alter, Geschlecht, Ernährungsgewohnheiten, Art der Arbeit, Information, Bildung usw. für verschiedene Menschen ganz verschiedene Bedeutung haben" 23. 22 Beck, U., Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt / M. 1986, S. 17 f. u. 30. Nach Ansicht von Arthur Rich darf aber keine Ökonomie, sofern sie nicht ökonomistisch entarten will, "von der Realität des Menschen in seinen Bedürfnissen, Wünschen, Hoffnungen usw. als der unabdingbaren Voraussetzung alles Wirtschaftens absehen"; vgl. Rich, A., Wirtschaftsethik, Bd. H, Gütersloh 1990, S. 17.
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4. Richard Hauser hat für ein Modell einer geschlossenen stationären Wirtschaft mit stationärer heterogener Bevölkerung insgesamt folgende Arten von Unsicherheitsfaktoren unterschieden, anschließend auch mit Erwartungen bezüglich des Eintretens, des Zeitpunkts und Ausmaßes der unsicheren Ereignisse sowie der Beeinflußbarkeit und Versicherbarkeit der Faktoren verknüpft: a) Sozialpolitische Unsicherheitsfaktoren im engeren Sinne (wie Morbidität, Unfall, Pflegebedürftigkeit, geburtsbedingte Behinderungen, Erwerbsminderung oder Erwerbsunfähigkeit, Überschreiten der Altersgrenze, Kinderzahl, Arbeitslosigkeit usw.); b) Konjunktur- und wachstumsbedingte Unsicherheitsfaktoren; c) Demographische Unsicherheitsfaktoren (Heirats-, Scheidungshäufigkeit usw.); d) Außerordentliche natürliche und gesellschaftliche Unsicherheitsfaktoren; e) Auslandsbedingte Unsicherheitsfaktoren; f) Gesellschaftliche Katastrophen. 24
In Wohlfahrtssurveys, von denen Wolfgang Zapf berichtet, wurden in den Jahren 1978, 1980 und 1984 repräsentative Querschnitte der bundesdeutschen Bevölkerung dazu befragt, wer für insgesamt 15 im einzelnen genannte sozialbzw. gesellschaftspolitische Aufgaben (wie finanzielle Absicherungen verschiedener Art, medizinische Versorgung, Beschaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, öffentliche Verkehrsmittel, angemessener Wohnraum, Rundfunk und Fernsehen, Umweltschutz usw.) in erster Linie zuständig sein solle: a) der Staat (in Bund, Ländern und Gemeinden: die Regierung, der Gesetzgeber, staatlich kontrollierte Einrichtungen, Ämter und Behörden); b) die gesellschaftlichen Gruppen (dazu wurden gezählt z. B. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Bürgerinitiativen, Kirchen, aber auch Massenmedien); c) private Kräfte (z.B. die Marktwirtschaft, private Unternehmen, Privatkreise, jeder selbst). Das Ergebnis war eindeutig: In 12 von den 15 Aufgabenbereichen schrieben 1984 die Mehrheit der Befragten dem Staat die Zuständigkeit zu; in 10 von 15 Aufgabenbereichen sind es sogar zwei Drittel und mehr der Befragten. Lediglich die Betreuung und Hilfe für alte Menschen, Rundfunk und Fernsehen sowie 23 Beck, U., Risikogesellschaft ... , a. a. 0., S. 34 u. detailliert S. 46 f. Vgl. auch Ders., Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt / M. 1988, S. 22 ff. Siehe ferner Neumann, L. F., Rechtssicherheit, soziale Sicherheit, ökonomische Sicherheit. Sozialökonomische Lösungsversuche des Problems nicht beabsichtigter Folgen sozialen Handeins, Hannover 1983. 24 Hauser, R., Zum Problem der staatlichen Produktion von Verläßlichkeit bei langen Zeiträumen, in: Rolf, G. / Spahn, P. B. / Wagner, G. (Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, a. a.O., S. 147 -193, hier S. 155 ff.
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besonders deutlich - die Vorführung "moralischer Leitbilder" galten als Aufgaben, die nicht mehrheitlich dem Staat überantwortet wurden. 2s
IV. Plädoyer für eine kritizistische Gemeinwohlkonzeption 1. Die Definition der praktischen und der wissenschaftlichen Sozialpolitik mündet entweder in realistisch-naturrechtliche oder aber kritizistisch-relativistisehe Konzeptionen vom "Gemeinwohl", wobei aber auch die letzteren nicht als willkürlich-beliebig verzeichnet werden dürfen. Konzeptionen beider Arten sie werden beide oft auch als idealistisch-erfahrungsgebunden bezeichnet halten zur Ergänzung der über Märkte und Wettbewerb zweifellos erreichbaren positiven Resultate rationalistischer Gemeinwohlkonzeptionen aktive Sozialpolitik für erforderlich - und zwar vornehmlich tiefenorientierte Strukturpolitik statt bloß oberflächenhafter Abhilfenpolitik. 26 Das Gemeinwohl und das diesen Begriff repräsentierende spezifische Verhältnis von "Freiheit" und "Ordnung" gilt dabei als durch ,,keine unsichtbare Hand und keine transzendentale Vernunft garantiert; es kann nur als einer differenzierten komplexen Gesellschaft angemessenes Leitbild postuliert werden, dessen Realisierung möglich, aber nicht gesichert ist"27. Das Gemeinwohl gilt auch nicht als allein auf rationale Weise mittels Marktmechanismen und Marktregeln durch vielerlei Wettbewerb erreichbar. Es erfordert vielmehr auch zielgerichtete sozialpolitische Anstrengungen nach eigenen Prinzipien, die dabei mit gesellschaftsund kulturpolitischen Bemühungen zu koordinieren sind. Obwohl Gemeinwohl nicht als volkswirtschaftlicher Gesamtnutzen im Sinne einer "gesellschaftlichen Wohlfahrts funktion" bestimmbar bzw. amalgamierbar ist, d. h. weder gemessen noch durch topologische Bestimmungen verglichen werden kann 28, bleibt die Vorstellung gleichwohl politisch unverzichtbar und zumindest im Sinne verpflichtend vorgegebener "Verfahrensprinzipien" für Rahmenpakte relevant, "nach denen sich eine überprüfbare Konkretisierung dessen 2S Vgl. Zapf, W., Individualisierung und Sicherheit ... , a.a.O., 5.371 ff. 26 Zu den Unterscheidungen verschiedenartiger Gemeinwohlkonzeptionen vgl. als grundlegende neuere Werke u.a. Schubert, G., The Public Interest, Glencoe/Ill. 1960 und Thiemeyer, Th., Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, Berlin 1970. Zur Unterscheidung der genannten und weiterer Arten von Sozialpolitik siehe Engelhardt, W. W., Art. Sozialpolitik, Theorie der, in: Glastetter, W. / Mändle, E. / Müller, U. / Rettig, R.(Hrsg.), Handwörterbuch der Volkswirtschaft, 2. AufI., Wiesbaden 1980, Sp. 1183. 27 So Kaufmann, F.-X., Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, a. a. 0., S. 251. Zu den berührten Leitbild- und Utopieproblemen siehe die in Fußnote 4 genannte Quelle sowie Engelhardt, W. W., Die Funktion von Utopien in der Entwicklung von Wirtschaftsordnungen, in: Wagener, HA. (Hrsg.), Anpassung durch Wandel, Berlin 1991, S.l39-171. 28 Vgl. dazu z. B. Watrin, ehr., Gesellschaftliche Wohlfahrt. Zur volkswirtschaftlichen Sicht der Gemeinwohlproblematik, in: Rauscher, A. (Hrsg.), Selbstinteresse und Gemeinwohl, Berlin 1985, S. 461-493, hier S. 480.
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zu vollziehen hat, was jeweils als gemeinwohlentsprechend gelten könnte" 29. Auch derart zurückgenommene Positionsbestimmungen schließen freilich nicht aus, daß sie im Tageskampf durch rechts- oder linksextreme Kräfte mißbraucht werden können und besonders in Rechtsdiktaturen in der Vergangenheit auch vielfach mißbraucht worden sind. 2. Zur Realisierung realistisch-naturrechtlicher oder kritizistisch-relativistisch orientierter Gemeinwohlkonzeptionen bedarf es - sollen sie in demokratischen Gemeinwesen verwirklicht werden - moralisch intendierter flexibler Institutionen der Selbstorganisation, entsprechender Institutionen zwischen Markt und Staat sowie im Staat selbst. Sie bilden eine mehr oder weniger korporatistische bzw. neokorporatistisch auch mit Hilfe des Staates gebundene Organisationsstruktur. 30 In ihnen handeln Personen, deren Selbstverständnis zumindest teilweise Grenzen des Ego sprengt, d. h. die fähig zu "Sympathie" ("Empathie") und zu reziprokem Verhalten sind oder werden. "Diese Fähigkeit wird durch soziales Lernen in zwischenmenschlicher Kommunikation erworben und verinnerlicht" 31. Das bloße Setzen auf individuelle Tugenden reicht nicht aus. Die handelnde Person ist dabei laut Helmut Plessner in den utopischen "Antagonismus von Realitätstendenz und Illusionstendenz hineingezogen, ohne ihm entfliehen zu können noch je zu wollen"32. "So vermag der Mensch durch die Findung und Erfindung sozialer Gebilde sein Zusammenleben in eine bestimmte Form zu bringen", schreibt dazu Alfred Müller-Armack. "Dieser Prozeß der Gestaltung seiner Sozialwelt ist nicht ein einfaches ins Blaue-Konstruieren neuer 29 So urteilt treffend Rösner, H. J., Grundlagen der marktwirtschaftlichen Orientierung in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Bedeutung für Sozialpartnerschaft und Gemeinwohlbindung, Berlin 1990, S. 303. 30 Zum Für und Wider korporatistischer bzw. neokorporatistischer Gestaltungen fUr die Bundesrepublik siehe z.B. Himmelmann, G., Öffentliche Bindung durch neokorporatistische Verhandlungssysteme, in: Thiemeyer, Th. mit Böhret, C. u. Himmelmann, G. (Hrsg.), Öffentliche Bindung von Unternehmen, Baden-Baden 1983, S. 55 - 72; Heinze, R. G. / Olk, Th., Sozialpolitische Steuerung: Von der Subsidiarität zum Korporatismus, in: Glasgow, M. (Hrsg.), Gesellschaftssteuerung zwischen Korporatismus und Subsidiarität, Bielefeld 1984, S. 162-194; Kauerte, S., Alternativen zur neoliberalen Wende, Bochum 1989, bes. S. 87 - 105; Ders., Grenzen staatlichen Handeins in der Wirtschaftsund Strukturpolitik, in: Jablonowski, R. / Simons, R. (Hrsg.), Strukturpolitik in Ost und West, Köln 1993, S. 73-92; Rösner, H. J., Grundlagen der marktwirtschaftlichen Orientierung ... , a. a. O. 31 So Siegfried Katterle im Anschluß an die neue Rekonstruktion des Gesamtwerks von Adam Smith durch Wolfram Eisner. Vgl. Elsner, W., Ökonomische Institutionenanalyse, Berlin 1986; Katterle, S., Der Beitrag der institutionalistischen Ökonomik zur Wirtschaftsethik, in: Ulrich, P. (Hrsg.), Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik, Bern / Stuttgart 1990; Ders., Gemeinwohl - Gemeinsame Verpflichtung von Kirche und Wirtschaft aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaft, in: Studienkreis Kirche / Wirtschaft NRW (Hrsg.), Sozialethisches Kolloqium 1990, S. 41-65, hier S. 47. 32 So urteilte der kritizistisch geprägte Kölner Anthropologe, der u. a. Alfred MüllerArmack beeinflußt hat, bereits 1924. Vgl. die Neuauflage seines Werks "Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus", Bonn 1972, S. 62.
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Fonnen, nicht ein Hinausgehe~ in reine Transzendenz, sondern ein Erfahrungsprozeß, indem der Wille zum Erfinden und Neugestalten sich jeweils nur dann zu realisieren vennag, wenn er in diesem Vorstoß etwas findet, d. h. wenn die realen Möglichkeiten, auf die der menschliche Wille trifft, von der Objektivität her seine Intentionen bestätigen". 33 Frank Schulz-Nieswandt hat diese Prozesse der Utopie-, Präferenz- und Zielbildung, die offenbar weitgehend durch den jeweiligen natürlichen und gesellschaftlichen Kontext bestimmt werden, ausdrücklich als "kritizistisch" bezeichnet. Sie seien kritizistisch, "da die Ziele nicht apriori ,wahr' sind, sondern nur als ,wahrhaftig' im Diskurs bestätigt werden können" 34. Die Personen handeln menschen- bzw. leitbildorientiert - d.h. nicht sittlich beliebig, sondern gemäß den skizzierten realen anthropologischen Möglichkeiten - nach Prinzipien der Selbsthilfe bzw. Eigenverantwortung und Versicherung, aber auch nach solchen des Altruismus bzw. der Sozialhilfe und Versorgung. Auf diese Weise konstituieren sie das System der sozialen Sicherung in Aktion, d. h. als integralen Bestandteil einer mehr und mehr "aktiven Gesellschaft" (A. Etzioni) mit flexiblen intennediären Institutionen zwischen Markt und Staat. Solchennaßen eingestellt und motiviert, lassen sich die beteiligten Personen anders gesagt - auf das keineswegs konfliktfreie Experiment einer "Partnerschaft für das Gemeinwohl" (u.s.-amerikanische Bischöfe in der Kommentierung von F. Hengsbach) ein, dessen Verwirklichung als lösbare Aufgabe empfunden wird 35. 3. Als Empfänger der sozialpolitischen Leistungen kommen dabei freilich keineswegs allein oder auch nur in erster Linie voll "mündige Bürger" - quasi die politische Spielart des "souveränen Konsumenten" - in Betracht. Viele ihrer Adressaten sind sehr junge, alte oder kranke Menschen, deren geistige oder körperliche Fähigkeiten noch unterentwickelt oder die (wieder) eingeschränkt sind. Sozialpolitik ist wie auch jedwede Wirtschaftspolitik von jeher - und sie bleibt auch künftig, sogar unabhängig von der Staatsfonn - mit paternalistischen Führungselementen verbunden 36. Beide Politikzweige sind nicht in erster Linie 33 Müller-Armack. A., Gedanken zu einer sozialwissenschaftlichen Anthropologie, in: Karrenberg, F. / Albert, H. (Hrsg.), Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Berlin 1963, S. 3 - 16, hier S. 14. 34 Vgl. Schulz-Nieswandt. F., Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik. Grundfragen einer kritizistischen Lehre meritorischer Wohlfahrtspolitik, Regensburg 1992, passim u. hier S. 8. 35 Siehe dazu Etzioni, A., Die aktive Gesellschaft, Opladen 1975; "Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft". Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA "Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle". Aus deutscher Sicht kommentiert von F. Hengsbach, Freiburg / Br. 1987, 4. Kap.; Kauerle, S., Gemeinwohl - Gemeinsame Verpflichtung von Kirche und Wirtschaft ... , a.a.O., S. 58. 36 Vgl. dazu Engelhardt, W. W., Einige Grundfragen einer "Sozialpolitik für mündige Bürger", in: Jahrb. f. Nationalök. u. Stat., Bd. (Vol.) 209/3-4, Stuttgart 1992, S. 343355, hier S. 349 ff., in Auseinandersetzung mit Vaubel, R., Sozialpolitik für mündige Bürger: Optionen für eine Reform, Baden-Baden 1990.
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auf die Bereitstellung privater Güter, sondern auf sowohi echte als auch unechtmeritorische öffentliche bzw. "politische Güter" (H. P. Widmaier) gerichtet 37. Als meritorische Güter lassen sich letztlich solche verstehen, "deren soziale Wertschätzung hochgradig ausgebildet ist und daher die Bewertung der am Markt ausgebildeten Muster des Konsums dieser Güter nach sich zieht"38. Die Bereitstellung dieser Güter, z. B. in der staatlichen Gesundheitspolitik, orientiert sich in Anbetracht von teilweise unaufhebbaren Unzulänglichkeiten der Souveränität und großen Informationsdefiziten - asymmetrischen Informationsverteilungen - primär an den "wohlverstandenen", jedenfalls nicht allein an den tatsächlich geäußerten Interessen der Empfänger. Deren Bedeutung schätzte bereits Alexis de Tocqueville außerordentlich hoch ein, wenn er schrieb: "Ich scheue mich nicht zu sagen, daß die Lehre vom wohl verstandenen Interesse von allen philosophischen Theorien mir die zu sein scheint, die den Bedürfnissen des heutigen Menschen am besten entspricht, und daß ich sie für die wirksamste Sicherung des Menschen vor sich selbst halte"39. Schultz-Nieswandt spricht in der Gegenwart von einem "kritizistischen Vorbehalt des Theorems der apriorischen Ungesichertheit der Deckungsgleichheit faktischer und wohlverstandener Interessen"4o. Nur in Diktaturen treten an die Stelle beider Interessenarten die vom Diktator oder den ihm zuarbeitenden Philosophen für "wahr" (L. Nelson) gehaltenen Interessen 41 . In Demokratien lassen sich die Souveränitäts- bzw. freiheitlichen 37 Siehe dazu Thiemeyer, Th., Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip, a.a.O., S. 143 ff. u . 183 ff.; Ders., Das öffentliche Interesse in der ökonomischen Theorie, in: Arch. f. Ö. u. fr. U., Bd. 12, Göttingen 1980, S. 263-281, hier S. 268 ff.; Ders., Theorie der öffentlichen Güter als ökonom(ist)ische Staatstheorie, in: Oettle, K. (Hrsg.), Öffentliche Güter und öffentliche Unternehmen, Baden-Baden 1984, S. 73 - 89; Widmaier, H. P., Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Reinbek 1976. 38 Schulz-Nieswandt, F., Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik, a.a.O., S. 55. 39 de Tocqueville, A., Über die Demokratie in Amerika, Bd. 11, hier zit. n. Graf von ' Krockow, ehr., Politik und menschliche Natur, Stuttgart 1987, S. 189. 40 Schulz-Nieswandt, F., Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik, a. a. 0., S. 56 f. Zum Verhältnis privater und öffentlicher Güter in der Wirtschafts- Wld Sozialpolitik und den dabei berührten Interessen siehe neuerdings z.B. auch Mackscheidt, K., Die Entfaltung von privater und kollektiver Initiative durch meritorische Güter, in: Arch. f. Ö. u. fr. U., Bd. 13, Göttingen 1981, S. 257 -267; Spahn, P. B. / Kaiser, H., Soziale Sicherheit als Öffentliches Gut? In: Rolf, G. / Spahn, P. B. / Wagner, G.(Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, a. a. 0., S. 195 - 218; Berthold, N., Marktversagen, staatliche Intervention und Organisationsformen Sozialer Sicherung, ebd., S. 339-369. 41 Nach dem Urteil Lothar F. Neumanns war "Nelsons Philosophie (... ) vielleicht der letzte ernst zu nehmende Versuch der Begründung eines apodiktischen Apriorismus sowohl in der spekulativen als auch in der praktischen Metaphysik". Diese Richtung der Weiterentwicklung der Kant / Fries'schen Philosophie sei aber nicht zwingend gewesen, denn "der Kritizismus stellt sich dem Rationalismus und Empirismus zugleich entgegen, indem er von keinem constitutiven Gesetz ausgehen, sondern nur regulative Maximen zu Grunde legen will" (J. F. Fries). Vgl. Neumann, L. F., Rezension von Leonard Nelsons Gesammelte Schriften in neun Bänden, in: Ratio, 18. Bd., 1977, S. 152163, hier S. 154.
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Teilhaberechte an der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwar besonders im Rahmen kritizistischer Gemeinwohlkonzeptionen erheblich vergrößern, nicht aber patriarchalische Führungselemente gänzlich vermeiden. 4. Durch konzeptionell entschieden als Strukturpolitik betriebene Sozialpolitik kann neben der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eine spezifische Teilordnung, genannt "Sozialordnung" , resultieren. Entgegen Walter Euckens Darlegungen kann sie nicht als Element der Wirtschaftsordnung aufgefaßt werden, weil sie "der Verwirklichung von sozialen Zielen mit Eigenwert dient". 42 Die Umsetzung eines Konzepts in eine Realordnung erfordert bei den Beteiligten statt philosophischem Dogmatismus oder "subtheologischer Befangenheit" für die reine Marktlehre (A. Rüstow)43 unzweifelhaft pragmatisches Zupacken. Dabei handelt es sich freilich nicht um die Bejahung schlichten Durchwurstelns im Sinne des Inkrementalismus, sondern um sinnorientierten Pragmatismus (im Anschluß an J. Dewey u.a.). Nach Jürgen Habermas lag die große Leistung des Pragmatismus darin, daß er gezeigt hat, daß der Einsatz von stetig vermehrten und verbesserten Techniken nicht an undiskutierte Wertorientierungen gebunden sein muß, sondern auch die tradierten Werte einer gleichsam pragmatischen Bewährungsprobe unterzogen werden können. ,,Es war die große Entdeckung des Pragmatismus, auf einer solchen Prüfung und somit rationalen Erörterungen der Beziehung zwischen verfügbaren Techniken und praktischen Entscheidungen, die in der dezisionistischen Betrachtung ganz ignoriert wird, zu bestehen"44. Dafür bedarf es auch im sozialen Bereich des verstärkten individuellen Engagements auf der Basis einer letztlich "unternehmerischen Grundeinstellung"45. Für 42 Lampert, H., "Denken in Ordnungen" als ungelöste Aufgabe, in: Jahrb. f. Nationalöko u. Stat., Bd.(Vol.) 206/4-5, Stuttgart 1989, S. 446-456, hier S. 452. 43 Hier zitiert nach Papcke, S., Freiheit über alles. Noch zu entdecken Leben und Werk des Soziologen Alexander Rüstow, in: Die Zeit v. 16.4.1993, S. 62. "Die Wahrheit ist eben", schrieb ein anderer großer Liberaler der ersten Hälfte des 20. Jh., "daß der Wettbewerb (... ) eine moralisch und sozial gefährliche Weise des Verhaltens bleibt, die nur in einer gewissen Maximaldosierung und mit Dämpfungen und Moderierungen aller Art verteidigt werden kann"; vgl. Röpke, W., Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Aufl., Bem / Stuttgart 1979, S. 189. 44 Habermas, J., Wissenschaft und Politik, in: Offene Welt, 1964, zit. n. Lompe, K., Wissenschaftliche Beratung der Politik, a.a.O., S. 119-153, hier S. 120. Zum Für und Wider des Pragmatismus Vgl. z.B. auch Jochimsen, R., Strategie der wirtschaftspolitischen Entscheidung, in: Weltw.Arch., Bd. 99, 1967, S. 52-78, hier S. 61 ff.; Flohr, H., Parteiprogramme in der Demokratie, Göttingen 1968, besond. S. 60 ff.; Habermas, J., Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt / M. 1969, S. 120 - 145; Widmaier, H. P., Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, a.a.O., S. 117 ff.; Schmitz, W., Ordnungsethik - Versuch einer Klärung ihres Gegenstandes und der Dimension ihres Anliegens, in: Z. f. Wirtschaftsp., Jg. 41, 1992, S. 213 -230, hier S. 226 ff.; Reuter, N., Derlnstitutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie, Marburg 1994, S. 72-91. 45 Wie sie neuerdings besonders für den wirtschaftlichen Bereich gefordert wird. Vgl. Bickenbach, F. / Soltwedel, R.: Zur Ethik der sozialen Marktwirtschaft. Grundprinzipien und Herausforderungen - ein Überblick, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Ethik und Markt. Konferenzbericht, Gütersloh 1994 (in Vorbereitung).
2 Festschrill Lampert
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sich selbst und seinesgleichen, aber auch für die (Land-)Arbeiter hat eine solche Einstellung und eine entsprechende Motivation bereits der nationalökonomische Klassiker Johann Heinrich von Thünen teils in seinen theoretischen Modellen unterstellt oder abgeleitet, teils auch gefordert und in seinem eigenen Handeln verwirklicht. 46
v. Bemerkungen zur bisherigen Institutionalisierung der Sozialpolitik
1. Mit Hilfe der Sozialpolitik in ihren beiden Teilen, d. h. der staatlichen Sozialpolitik und der gemeinsamen Selbsthilfeorganisationen politischer, gewerkschaftlicher, karitativer und gemeinnützig / genossenschaftlicher Art, wurden in der über einhundertjährigen Geschichte des deutschen Sozialstaats und seiner Trägersysteme im ganzen und im einzelnen gesehen überaus effektive Instrumente und Institutionen geschaffen. Dies gilt nicht zuletzt für den wichtigen Bereich spezieller Maßnahmen der sozialen Sicherung. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, sei doch hervorgehoben, daß zu den wirkungsvollsten Instrumenten und Institutionen hier zweifellos einerseits die vorwiegend von Arbeitnehmern und Arbeitgebern beitragsfinanzierten, lohnabhängigen Sozialversicherungen, andererseits die staatliche bzw. kommunale Sozialhilfe zu zählen sind. Die Sozialversicherungen - zu der die Gesetzlichen Renten-, Unfall- und Krankenversicherungen, streng genommen hingegen nicht die Arbeitslosenversicherung gehören - sind nach Dieter Farny "das bedeutendste Instrument im System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland". Durch diese Versicherungen sollte bei bestimmten Bevölkerungsgruppen eine Befreiung von existentiellen Risiken bewirkt werden, wobei sowohl sozialpolitische Prinzipien - wie z.B. das Solidaritätsprinzip - als auch versicherungseigene Prinzipien verfolgt wurden. Dabei gelten als die wesentlichen Versicherungselemente das Streben nach Risikoausgleich im Kollektiv und in der Zeit sowie das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip. Trotz der versicherungsfremden Elemente - besonders bei der Leistungsgestaltung und der Finanzierung unter Heranziehung des Staates - können die Sozialversicherungen auch gegenwärtig noch, wenn auch mit Einschränkungen, als Versicherungen bezeichnet werden. 47 Auch der Sozialhilfe, früher "Fürsorge" genannt, kommt im System der sozialen Sicherung als "Letztnetz" außerordentliche Bedeutung zu. Gestaltungsprin46 Siehe dazu Engelhardt, W. W., Von Thünen und die soziale Frage, Regensburg 1993, besond. Kap. VI, S. 52-71. Vgl. auch Giersch, H., Arbeit, Lohn und Produktivität, in: Weltwirtsch. Arch., Bd. CXIX, 1983, S. 1- 18, hier S. 17. 47 Farny, D., Art. Sozialversicherung, in: HdWW, 7. Bd., New York/Tübingen/ Zürich 1977, S. 160-169, besond. S. 165.
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zipien der Sozialhilfe sind im einzelnen das Subsidiaritätsprinzip - und zwar sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne verstanden - , das Bedarfsdekkungsprinzip sowie der Grundsatz der Individualisierung der Hilfe. Subsidiarität bedeutet hier nach herrschender Meinung - wie sie Heinz Lampert zum Ausdruck bringt - ganz konkret, daß Selbsthilfe a) erhält, wer sich selbst nicht helfen kann, also bedürftig ist; b) wer die erforderliche Hilfe nicht von anderen, besonders von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 2 BSHG). Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip soll die Sozialhilfe die Deckung eines soziokulturellen Minimums ermöglichen (§ 1, Abs. 2 BSHG). Individualisierung der Hilfe bedeutet, daß die Art, Form und das Ausmaß der Hilfe sich nach der Besonderheit des Einzelfalles, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen richten (§ 3, Abs. 1 BSHG).48 2. Es entwickelte sich in Deutschland - auf die genannten und viele weitere Instrumente und Institutionen gestützt - schrittweise eine spezifische Sozialordnung, die zweifellos überwiegend nicht als Element der Wirtschaftsordnung aufgefaßt wurde oder interpretiert werden kann. Dies deshalb nicht, weil sie tatsächlich "der Verwirklichung von sozialen Zielen mit Eigenwert" (H. Lampert) gedient hat und weiterhin dient. Zu diesen Zielen gehören die Sicherung der Menschenwürde, die freie Entfaltung der Person, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Verteilungsgerechtigkeit, nicht zuletzt auch der soziale Frieden. Die zentrale Bedeutung der sozialen Teilordnung lag und liegt dabei "in ihrem Beitrag zur Transformation der Rechtsnormen des freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates aus der Welt der geschriebenen Verfassung, der zugesicherten formalen Rechte in die Lebenswirklichkeit, in tatsächlich nutzbare materiale Rechte und Möglichkeiten. Es ist zum großen Teil der Sozialgesetzgebung zu danken, daß der freiheitliche Sozialstaat mit seinen Zielen persönlicher Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zu einer - freilich noch verbesserungsbedürftigen und verbesserungsfähigen - Wirklichkeit geworden ist"49. "Freiheit und Sicherheit sowie Freiheit und Gleichheit sind - so gesehen nicht, wie Friedrich A. von Hayek meint, konkurrierende, durch eine Konfliktbeziehung charakterisierte, sondern bis zur Erreichung bestimmter Lebensstandardminima für alle komplementäre Güter. Denn die Nutzung formaler, d.h. die 48 Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, 2., überarb. Aufl., Berlin / Heidelberg / New York usw. 1991, S. 362. 49 Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, a. a. 0., S. 427. Vgl. dazu auch die großen, die Lehrbuchdarstellungen vertiefenden Abhandlungen des Autors "Die Bedeutung der Gerechtigkeit im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft", in: Bottke, W. / Rauscher, A. (Hrsg.), Gerechtigkeit als Aufgabe, St. Ottilien 1990, S. 115 -136, und "Freiheit als Ziel der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland", a.a.O.
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materiale Freiheit für alle in einern Mindestumfang, ist gleichbedeutend mit der Verringerung materialer Ungleichheit und einern Mindestmaß an materieller Sicherheit für alle"50. Die Notwendigkeit und der Erfolg der sozialen Teilordnung wird heute weithin, freilich nicht ausnahmslos und uneingeschränkt anerkannt. Selbst Christian Watrin hat in diesem Zusammenhang aufgrund der Erfahrungen von über hundert Jahren insbesondere staatlicher Sozialpolitik zugegeben: "Marktwirtschaftliche Ordnungsformen bedürfen ( ... ) der Ergänzung durch staatliche und soziale Ordnungen" 51. Die Philosophie des modemen Sozialstaates gehe, "auf eine kurze Formel gebracht, von der Überlegung aus, daß eine marktwirtschaftliche Ordnung zwar eine wirkungsvolle Veranstaltung zur Lösung wirtschaftlicher Allokationsaufgaben ist, daß sie jedoch der Ergänzung oder Korrektur durch staatliche Sozialmaßnahmen bedarf. Das ist, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentsetzung zwischen Vertretern der Sozialen Marktwirtschaft, des Freiheitlichen Sozialismus, aber auch des klassischen Liberalismus im Grundsatz kaum umstritten" 52. 3. Bei vertiefter gesellschaftlicher Analyse der ergriffenen Sicherungsmaßnahmen kann die gesamte soziale Sicherung als ein "Sozialvertrag" im Sinne einer Versicherung auf Gegenseitigkeit verstanden werden, welche die Mitglieder einer Gesellschaft oder eines Staates nicht zuletzt im Blick auf die eingangs skizzierten großen Risiken der Modeme und der Marktwirtschaft eingegangen sind. Eine solche Sicht der Dinge knüpft letztlich an die "Assekuranztheorie" des Staates und seines Steuersystems von Albert Schäffle an, der den "socialen Körper" bereits im vorigen Jahrhundert als eine Institution zur Reduktion von Unsicherheit verstanden hat 53.
50 Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, a.a.O., S. 134. Zu den über Deutschland hinausreichenden Ursachen und Wirkungen staatlicher Sozialpolitik vgl. Ders., Französische Revolution und sozialer Rechtsstaat, in: Krauß, H. (Hrsg.), Folgen der Französischen Revolution, Frankfurt/M. 1989, S.105-124. 51 Watrin, Chr., Zur sozialen Dimension marktwirtschaftlicher Ordnungen, in: Streißler, E. / Watrin, Chr.(Hrsg.), Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen, Tübingen 1980, S. 476-501, hier S. 497 f. Einige Zeilen weiter fährt der Autor allerdings fort: "Ob es dazu des Ausbaus eines in seinen Dimensionen ständig wachsenden Sozialstaates mit den neuen Formen der Belehrung, Betreuung und Beplanung (Schelsky) bedarf, wird heute nicht ohne gute Gründe in Zweifel gezogen". 52 Watrin, Chr., Zur sozialen Dimension marktwirtschaftlicher Ordnungen, a.a.O., S. 481. Der Autor schließt hier unmittelbar an Würdigungen an, wie sie verdienstvollerweise z.B. schon Alfred Müller-Arrnack und Egon Tuchtfeldt vorgenommen haben. Weniger beachtet werden hingegen in der neueren Literatur nach wie vor die Verdienste der Vertreter der Historischen Schulen, des Institutionalismus und der diesen Richtungen nahestehenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Vgl. allerdings ebd., S. 478; H. Lampert, "Denken in Ordnungen" als ungelöste Aufgabe, a.a.O., S. 452 ff.; W. W. Engelhardt, Einleitung in eine ,,Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik II, Berlin 1991, S. 9-122, hier S. 31 ff.; Backhaus, J. G. (Hrsg.), Gustav von Schmoller und die Probleme von heute, Berlin 1993; Reuter, N., Der Institutionalismus, a. a. O.
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Im Unterschied allerdings zur aktuellen Debatte - in welcher der Vertragsgedanke oft nur zur Stützung des Äquivalenzprinzips im Versicherungswesen Verwendung findet 54 - geht es hier aber um ein Vertragskonstrukt für den gesamten Bereich der individuellen und sozialen Sicherung. Dies bedeutet, daß nicht lediglich Grundbedarfe ohne Leistungsbezug mit Hilfe von Steuern abgesichert werden sollten - wie es heute von der Politik immer öfter verlangt wird - , sondern daß vor allem Leistungen von Sozialversicherungen über die Finanzierung durch Mitgliedschaftsbeiträge mit ihren mehr oder weniger korporativ / genossenschaftsartigen Zügen voll anerkannt werden. Eine ethisch fundierte Ordnung, die sich nicht nur im Sinne des Handlungs- oder Regelutilitarismus versteht und Gräben zwischen funktionell ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsystemen keinesfalls vertiefen, sondern eher abbauen möchte 55 - dürfte auf gleichzeitige Beiträge und andere Leistungen unterschiedlicher Partner auch künftig nicht verzichten können. Christian Watrin hat in den letzten Jahrzehnten zu den entschiedensten Vertretern einer grundsätzlich vertragstheoretischen Interpretation des Sozialstaats gehört, wobei er sich weitgehend auf John Rawls liberale Beschreibung und Interpretation des Gesellschaftsvertrags gestützt hat, die nicht unwesentlich durch das Gedankengut Immanuel Kants beeinflußt wurde. Seine Argumentation verdient im Grundsatz auch weiterhin Beachtung, obwohl unter Aspekten durch Sozialpolitik erreichbarer materialer Gerechtigkeit auch Kritik an Rawls Position möglich erscheint. 56
53 Vgl. Schäffle, A., Bau und Leben des socialen Körpers, 4. Bd., Specielle Socialwissensehaft, 2. Hälfte, Tübingen 1878, S. 216 ff. u. 355 ff. Neuerdings siehe ähnlich z.B. Galbraith, J. K., Gesellschaft im Überfluß, München / Zürich 1963, S. 94; Rolf, G. / Spahn, P. B. / Wagner, G., Wirtschaftstheoretische und sozialpolitische Fundierung staatlicher Versicherungs- und Umverteilungspolitik, in: Dies. (Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, a.a.O., S. 13-42, hier S. 13 ff. 54 Siehe dazu z. B. Eisen, R., "Versicherungsprinzip" und Umverteilung, in: Rolf, G. / Spahn, P. B./Wagner, G.(Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, a.a.O., S.117-127, besond. S. 126. . 55 Zur funktionellen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme vgl. z.B. Homann, K. / Blome-Drees, F. Wirtschafts- und Unternehmensethik, a. a. 0., S. 10 ff. Zum Handlungs- und Regelutilitarismus und seinen Mängeln siehe u. a. Lampert, H., Die soziale Dimension gesellschaftlichen Wirtschaftens, in: Kirche und Gesellschaft, Köln 1992, S. 14 f. 56 Zur Beeinflussung Rawls durch Kant vgl. Rawls, J., Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt / M. 1975, besond. S. 283 ff. Zur Kritik an Rawls siehe z. B. Billstein, Gerechtigkeit als gesellschaftspolitisches Ziel, in: Soz. Fortsehr., 30. Jg., 1981, S. 241- 249; Engelhardt, W. W., Öffentliche Bindung, Selbstbindung und Deregulierung in der Staatlichen Wohnungspolitik und Gemeinnützigen Wohnungswirtschaft, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Regulierung und Deregulierung im Bereich der Sozialpolitik, Berlin 1988, S. 139-198, hier S. 159 f.; Bossert, A., Die Theorie der Gerechtigkeit bei John Rawls, in: Bottke, W. / Rauscher, A. (Hrsg.), Gerechtigkeit als Aufgabe, a. a. 0., S. 75 -96, hier besond. S. 94.
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Watrin argumentierte folgendermaßen: "Da die vertikale Restribution ( ... ) zunehmend durch die horizontale ersetzt wird und die Versicherten durch komplizierte Transfersysteme sich selbst ihre Sicherheit zu schaffen suchen, beispielsweise dadurch, daß selbständig und unselbständig Erwerbstätige für nicht mehr aktiv am Wirtschaftsprozeß Beteiligte Zahlungen leisten, ist es sinnvoll, das Ordnungsproblem im Sozialstaat vertragstheoretisch zu sehen. Von hier aus wird der Sozialstaat dann nicht mehr länger als ein Instrument der sozialen Integration einer Klassengesellschaft aufgefaßt, sondern als ein Bereich, in dem die Beteiligten als freie, gleiche und selbstinteressierte Personen ihre Beziehungen auf der Basis von Fairneßprinzipien im Hinblick auf Vorsorge, Fürsorge, Versorgung, Not, Ausgleich und wechselseitige Förderung regeln wollen" 57.
VI. Zur künftigen Bedeutung der Sozialpolitik und der Sozialpolitiklehre 1. Es soll im Schlußabschnitt dieser Abhandlung im Anschluß an Horst Sanmann zunächst gefragt werden: Was würde passieren, wenn sich eine lediglich "freie" Wirtschaft, die nicht mehr ,ausdrücklich "sozial" im humanistischen Sinne gestaltet sein würde, welche also nur noch in einem eher wertfreien Sinne "gesellschaftlich-sozial" wäre 58 , durchsetzen könnte?
"Würden dann die nach dem Wegfall der kommunistischen Bedrohung bei den Politikern noch vorhandenen Motivationen für Sozialpolitik" - im Lichte ihrer bisherigen Entstehungs- und Wirkungsvoraussetzungen in drei ganz verschiedenen Perioden der deutschen Geschichte gesehen, nämlich im Bismarekreich, in der Weimarer Republik und in der bisherigen Bundesrepublik, in denen Motive der Abwendung von Umsturzdrohungen eine für die Sozialpolitik und deren Integrationserfolge gleichermaßen herausragende Rolle gespielt haben "stark genug sein, rechtzeitig, d. h. vor dem Eintreten gesellschaftlicher Instabilisierung, ein hinreichendes Gegengewicht zustande zu bringen?" Oder "müßten wir" dann - wie Sanmann in einem Szenario herausstellt - "vielleicht in Jahrzehnten, gar mit einer Renaissance des Sozialismus rechnen?"59
57 Walrin, ehr., Ordnungspolitische Aspekte des Sozialstaates, in: Külp, B. / Haas, H.-D. (Hrsg.), Soziale Probleme der modemen Industriegesellschaft, 2. Halbbd., Berlin 1977, S. 963-985, hier S. 971 f., im Anschluß an Rawls, J., Eine Theorie der Gerechtigkeit, a.a.O., besond. S. 140ff. Siehe auch Walrin, ehr., Eine liberale Interpretation der Idee der sozialen Gerechtigkeit, in: Hamburger Ib. f. Wirtsch. u. Gesellschaftsp., 21. Jahr, Hamburg 1976" S. 45 -61; Ders., Freiheitliche Wirtschaft und christliche Moral, in: FAZ, Nr. 221, v. 7.10.1978, S. 13. Zu Veränderungen der Rawlsschen Gerechtigkeitsposition seit Erscheinen seines Hauptwerks vgl. Ders., Political Liberalism, New York 1993. 58 Vgl. dazu Geck, A., Über das Eindringen des Wortes "sozial" in die deutsche Sprache, Göttingen 1963, S.47, und Walrin, ehr., Zur sozialen Dimension marktwirtschaftlicher Ordnungen, a.a.O., S. 476 f.
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Genügt es also, künftig lediglich auf eine funktionsfähige freie Wirtschaft zu setzen? Oder müssen wir Christian Watrin darin recht geben, wenn er im Anschluß an Anton Rauscher - und hier eindeutig im Unterschied zu Friedrich A. von Hayek - der Befürchtung Ausdruck gibt, "daß eine europäische Ordnung keinen Bestand hat, die als ungerecht empfunden wird"6O. 2. Bei der Beurteilung der "Daseinsfürsorge" (E. Forsthoff) des bisherigen Sozialstaats und seiner "Korrektur von Konsumentenpräferenzen" (K. Mackscheidt) gilt es Maß zu halten. 61 Natürlich sollten in Anbetracht von zwei Diktaturen auf deutschem Boden im letzten halben Jahrhundert künftig Fälle bevormundender Aufdrängung lediglich von Diktatoren oder ihren Helfershelfern für "wahr" gehaltener Interessen vermieden werden. Dies betrifft freilich nur die eine Seite der Sache. Andererseits darf der in der Bundesrepublik seit 1948 vorhanden gewesene Staat seiner Sozialpolitik wegen nicht als Obrigkeitsstaat verzeichnet werden. Und es sollten bei Befürwortung einer Sozialpolitik "mit anderen Vorzeichen" (H. Winterstein) etwa von einer künftigen "Versichertensouveränität" (H. G. Schlotter) eines sozialpolitischen "homo sapiens" (Th. Straubhaar) realistischerweise keine Wunder erwartet werden. Eine Neuorientierung am "Leitbild des zur sozialen Selbständigkeit fahigen Menschen" (H. Schelsky) kann nur graduelle Veränderungen bringen, die patriarchalen Führungselemente der Sozial- und Wirtschaftspolitik jedoch nicht voll beseitigen. 62 Wird mit der Verwirklichung der "zweiten Phase der sozialen Marktwirtschaft", wie sie Alfred Müller-Armack vorgeschwebt hat, ernstlich begonnen, so wird es jedenfalls nicht ohne neue meritorische Einflußnahmen durch den Staat gehen. "Die Situation, in der wir stehen" - schrieb Müller-Armack 1960 59 Sanmann, H., Realsozialismus, Sozialpolitik und Katholische Soziallehre, in: Glatzel, N. / Kleindienst, E.(Hrsg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens, Berlin 1993, S. 401-410, hier S. 408 ff. Gemeint wird vom Autor natürlich der Kommunismus und dessen sog. ,,real existierender Sozialismus", nicht der freiheitliche Sozialismus. 60 Watrin, ehr., Europas ungeklärte Ordnungsfragen, ebd., S. 174. Zur Position Anton Rauschers siehe etwa die Abhandlung ,,zum Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht in der christlichen Denktradition", in:: Bottke, W. / Rauscher, A. (Hrsg.), Gerechtigkeit als Aufgabe, a.a.O., S. 9-20, hier besond. S. 15. 61 Vgl. zu diesen Positionen etwa ForsthoJf, E., Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971, S. 71 ff.; Mackscheidt, K., Zur Theorie des optimalen Budgets, Tübingen / Zürich 1973, S. 346 ff.; Ders. / Steinhausen, J., Finanzpolitik 11. Grundfragen versorgungspolitischer Eingriffe, Tübingen/Düsseldorf 1977, besond. S. 25 ff. u. 147 ff. 62 Zu der apostrophierten Literatur vgl. in chronologischer Reihenfolge Winterstein, H., Sozialpolitik mit anderen Vorzeichen, Berlin 1969; Schelsky; H., Die Arbeit tun die anderen, Opladen 1975; Schlotter, H.-G., Vom Untertan zum Souverän. Künftige Aufgaben einer Sozialpolitik mit neuem Menschenbild, in: Iwersen, A. / Tuchtfeldt, E. (Hrsg.), Sozialpolitik vor neuen Aufgaben, Bem / Stuttgart / Wien 1993, S. 63 - 79; Straubhaar, Th., Leitbilder der Sozialpolitik, in: Hamburger Jb. f. Wirtsch. u. Gesellschaftsp., 38. Jahr, Hamburg 1993, S. 155-171, hier S. 166.
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zu den bereits damals absehbaren gesellschaftspolitischen Aufgaben der Urnwe1tpolitik - "verlangt gebieterisch eine quantitative Steigerung all jener Aufwandposten, die die öffentliche Umwelt, in der wir leben, erst sinnvoll und harmonisch gestalten. Die weitergehende Expansion der Konsumversorgung dürfte für die meisten Menschen bald uninteressant werden, wenn nicht gleichzeitig aus öffentlichen Kräften, die dies allein vermögen, die Gesamtumweltsform verbessert wird, in der sich unser öffentliches Leben vollzieht"63. Von Aktionen der Privatisierung öffentlichen Eigentums und öffentlicher Unternehmen, d. h. dem Abbau öffentlicher Wirtschaft und Verwaltung, darf in diesem Zusammenhang nicht zuviel erwartet werden. 64 Auch bei Privatisierung behält der Staat - wie oben bereits bemerkt wurde - oft ein diffuses Restrisiko. "Diese Risiko-Zweiteilung zwischen Staat und Privaten kann im Zweifel volkswirtschaftlich teurer werden, als eine klare alleinige staatliche Aufgabenwahrnehmung". Die Privatisierung kann auch neue bzw. "mehr" Regulierung, als vorher bestand, hervorrufen. 65 3. Nach Wolfgang Zapf gibt es in der Bundesrepublik Deutschland institutionell keine Alternative von Sozialstaatsprinzip und Subsidiaritätsprinzip. Es gibt nur die Kombination von Sozialstaats-, Subsidiaritäts-, Solidaritäts- und Eigenverantwortungsprinzip. Dies werde beispielsweise an der Verbindung von sozialer Sicherung und Familienpolitik deutlich. Diese Kombination gelte es bei Verzicht auf Nachahmungen anderer Beispiele weiterzuentwickeln. ,,Aber wiederum kann es sich hierbei nicht um eine Alternative (Familie versus Arbeitswelt) handeln, sondern - insbesondere für Frauen - nur um die Erweiterung von Flexibilität, Wahlmöglichkeiten und Kombinationsmöglichkeiten"66. Wo allerdings die mit Hilfe von Sozialpolitik geschaffenen gesellschaftlichen Strukturen intermediarer Art inzwischen denaturiert sind - sei es durch Zuweisung staatlicher Aufgaben, durch Zuschüsse oder aus anderen Gründen - kommt 63 Müller-Armack, A., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg / Br. 1966, S. 267 - 291, hier S. 286 f. 64 Vgl. dazu Brede, H. (Hrsg.), Privatisierung und die Zukunft der öffentlichen Wirtschaft, Baden-Baden 1988; Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft e. V. ,Privatisierungsdogma widerspricht sozialer Marktwirtschaft, Berlin 1994; Eichhorn, P. / Engelhardt, W. W. (Hrsg.), Standortbestimmung öffentlicher Unternehmen in der sozialen Marktwirtschaft, Baden-Baden 1994. 65 Vgl. Elsner, W., Über das tiefgehende Schiff ,,Privatisierung", a.a.O., u.a. im Anschluß an Dick, G., Rationale Regulierung, Hamburg 1993, S. 104 ff. 66 Zapf, W., Individualisierung und Sicherheit, a.a.O., S. 380. Vgl. in grundsätzlich ähnlicher Argumentation Kaufmann, F.-X., Zukunft der Familie, München 1990; Lampert, H., Familienpolitik in Deutschland. Ein Beitrag zu einer familienpolitischen Konzeption im vereinten Deutschland, in: Kleinhenz, G. (Hrsg.), Sozialpolitik im vereinten Deutschland I, Berlin 1991, S. 115 -139; Krüsselberg, H.-G. / Strätling, R., Familienpolitik und europäische Integration, in: Gröner, H. / SchülIer, A. (Hrsg.), Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, Stuttgart / Jena / New York 1993, S. 397 442; Wingen, M., Familienpolitik in der Europäischen Gemeinschaft, in: Kleinhenz, G. (Hrsg.), Soziale Integration in Europa II, a.a.O. (in Vorbereitung).
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es nach der hier vertretenen persönlichen Auffassung darauf an, sie wieder herzustellen und dies möglichst unverzüglich. In diesem Zusammenhang hat Kurt Biedenkopf die These von der "Verstaatlichung der Nächstenliebe" diskutiert. Er führte aus, die heutige "Ausbeutung" der sozialen Systeme durch deren Mißbrauch sei letztlich eine Folge dieser Verstaatlichung, d.h. der "Verrechtlichung" und damit der "Bürokratisierung" der Wohlfahrtseinrichtungen. Die Verstaatlichung sei allerdings ihrerseits die Auswirkung der extremen Individualisierung der Gesellschaft. Der Bürokratisierung bzw. übermäßigen Verrechtlichung könne man nur Herr werden, indem man im Sinne des engen Verständnisses von Subsidiarität die ,,kleinen Lebenskreise" wieder stärker für soziale Kontrollen nutze, um z. B. unberechtigte Krankmeldungen zu verhindern. Nur dort, wo die kleinen Lebenskreise ihrerseits auf Unterstützung angewiesen seien, sollte Raum sein für die Entwicklung zunächst "grösserer nichtstaatlicher Organisationsformen auf privatwirtschaftlicher, kommunaler, kirchlicher oder Verbandsebene". Erst wenn diese dezentralen Strukturen die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht hätten, sei Raum für die direkte staatliche Mitwirkung, wobei aber auch hier Abstufungen zu empfehlen seien. 67 Wie immer man zu diesem Vorschlag steht - der u. U. an die Stelle objektiver Willkürrisiken durch Bürokratien zumindest Möglichkeiten der Bespitzelung setzt- gilt es zunächst einmal anzuerkennen, daß soziale Sicherung durch Sozialpolitik von oben oder unten, d. h. durch den Staat oder durch Selbsthilfeorganisationen, grundsätzlich nicht Effizienzverluste implizieren muß. Vielmehr verhilft sie der Marktwirtschaft als "Produktionsfaktor ersten Ranges" (K. Homann) in vielen Fällen erst zu ihrer vollen Leistungsfähigkeit. 68 4. Die künftige Sozialpolitik sollte nach der hier vertretenen persönlichen Wertung des Verfassers grundsätzlich auf das individualistische Menschenbild gestützt 69 und in prinzipieller Anerkennung des heute maßgeblichen ökonomischen Paradigmas 70 gleichwohl auch das sich in über hundert Jahren herausgebilBiedenkopf, K., Verstaatlichung der Nächstenliebe, in: Die Zeit, Nr. 23, v. 4.6.1993. Vgl. dazu z. B. Kleinhenz, G., Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, in: Winterstein, H. (Hrsg.), Sozialpolitik in der Beschäftigungskrise I, Berlin 1986, S. 51 - 81; Homann, K. / Blome-Drees, F., Wirtschafts- und Unternehmensethik, a. a. 0., S. 56 ff. 69 Trotz der "drei unheiligen Schwestern des Individualismus": Eigennutz, Neid und Vorurteil, von denen Gerhard Himmelmann zu Recht gesprochen hat; vgl. Frankfurter Rundschau, Nr. 38, v. 15.2.1993, S. 12. 70 Trotz beträchtlicher Unzulänglichkeiten und Ergänzungsbedürftigkeiten des methodologischen Individualismus und der rationalistischen Gemeinwohlkonzeption, wie sie besonders Siegfried Katterle herausgearbeitet hat; vgl. neben der früher angegebenen Literatur auch die Abhandlung "Methodologischer Individualismus and Beyond", in: Biervert, B. / Held, M.(Hrsg.), Das Menschenbild der ökonomischen Theorie, Frankfurt / New York 1991, S. 132-152. Siehe auch bereits Kleinhenz, G., Zur Konzeption einer "Politischen Ökonomie" auf der Grundlage des kritischen Rationalismus, in: Lührs, G. / Sarrazin, Th' / Spreer, F. / Tietzel, M.(Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 11, Berlin / Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 173 - 200. 67
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dete eigenständige Paradigma der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre voll berücksichtigen. Gerhard Kleinhenz spricht in diesem Zusammenhang von einer "neuen ökonomischen Theorie der Sozialpolitik", deren Essentials er in konditionaler Form wie folgt umschrieben hat: "Im Rahmen einer offenen Wettbewerbsgesellschaft mit Marktsteuerung erscheint eine kollektiv bereitgestellte, beitragsfinanzierte Lebensstandardsicherung auf der Grundlage einer subsidiären staatlichen Sicherung des sozialkulturellen Mindestbedarfes (Sozialhilfe) nur dann gewährleistet werden zu können, wenn" (a) "tatsächlich in der Gesellschaft das Streben nach selbstverantwortlicher Selbstsicherung dominiert, wenn" (b) "ein gewisses Maß an Solidarität und Gemeinschaftsverantwortung die Inanspruchnahme der Sozialen Sicherung durch die Versicherten kennzeichnet, und wenn" (c) "die (gesellschaftlich organisierte) Lebenslagensicherung durch gegenseitige private Dienst- und Hilfsbereitschaft in nicht unerheblichem Umfange ergänzt werden" 71. 5. Es sollte sich von selbst verstehen, daß in Anknüpfung an Vergangenes auch die künftige Sozialpolitik nach moralischen, die Sozialpolitiklehre nach entsprechenden ethischen Aspekten gestaltet werden sollte. 72 Mit Heinz Lampert ist der Verfasser dabei der Ansicht, daß es normativ die Anliegen der politischen Praxis von denen der Wissenschaft im Sinne Max Webers und Hans Alberts, aber auch Gerhard Weissers, nach wie vor zu unterscheiden gilt. 73 Für die Sozialpolitiklehre verdienen die Aspekte des kritischen Rationalismus bzw. des methodologischen Individualismus trotz ihrer angedeuteten Unzulänglichkeiten weiterhin vorrangige Beachtung. Allerdings tritt der Verfasser für diesen und andere Wissenschaftsbereiche auch für die Entwicklung eines I}ormativen Theorietyps - neben einem empirischen und einem entscheidungslogischen
71 Kleinhenz, G., Ökonomisches Paradigma und Sozialpolitik. Zur Relevanz einer neuen ökonomischen Theorie der Sozialpolitik, in: Glatzei, N. / Kleindienst, E.(Hrsg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens, a. a. 0., S. 381 - 399, hier S. 388 f. 72 Zu dieser Unterscheidung von Moral und Ethik (sowie Meta-Ethik) siehe Homann, K. / Blome-Drees, F., Wirtschafts-und Unternehmensethik, a.a.O., S. 16 f. 73 Vgl. dazu von Beckerath, E. / Giersch, H. in Verb. mit Lampert, H. (Hrsg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, Berlin 1963; Lampert, H., Sozialpolitik, a. a. 0., S. 3 ff. u. 8 ff.; Ders. / Bossert, A., Die soziale Marktwirtschaft - eine theoretisch unzulänglich fundierte ordnungspolitische Konzeption? In: Hamburger Jb. f. Wirtsch. u. Gesellschaftsp., 32. Jahr, 1987, S. 109-130, hier besond. S. 122. Siehe auch Kleinhenz, G., Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung ... , a. a. 0., passim.
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Theorietyp - ein, der nach seiner persönlichen Auffassung aber von nichte'ssentialistischer, d. h."antiplatonischer Normativität" (H. Albert) sein sollte. 74 In seinen Wertungen für den politischen Bereich gibt der Verfasser - was nach den wiederholt in die vorliegende Abhandlung eingestreuten Wertungen nicht mehr überraschen mag - kritizistischen Aspekten den Vorzug vor solchen der naturrechtlich fundierten christlichen Soziallehren, die er gleichwohl als verwandt betrachtet. 75 Im einzelnen wendet sich der Verfasser in der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre (a) gegen Überschätzungen des ökonomischen Prinzips und aller utilitaristischen Positionen, da es sich nach seiner persönlichen Auffassung bei ethischen Fragen nicht nur um Maximierung von Nettonutzen zur Herstellung des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Anzahl von Menschen handeln sollte 76; (b) gegen als ausreichend betrachtete funktionalistische Anpassungen von Moralen bzw. Ethiken durch ausschließliche Implementierung geeigneter Randbedingungen für die Prozesse des Subsystems Wirtschaft, da es nach seiner Meinung bei moralisch / ethischen Fragen nicht nur um die Wahl von geeigneten Restriktionen für die optimale Umgestaltung von Situationen gehen kann 77; (c) gegen universalistische naturrechtliche oder auch universalistische kritizistische Normen, da diese die Gegebenheiten des pragmatisch zu normierenden Einzelfalls nur unzulänglich treffen können 78; (d) gegen ausschließlich empirische Begründungen persönlicher Wertungen, auch wenn Letztbegründungen entfallen müssen. Es genügt m. E. nicht der Rückzug auf die Ergebnisse kommunikativen Diskurses, selbst wenn wir
74 V gl. dazu z. B. Albert, H., Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied / Berlin 1967, besond. S. 188 ff.; Katterle, S., Sozialwissenschaft und Sozialethik, Gättingen 1972. 75 Vgl. dazu z.B. Engelhardt, W. W., Sozialwissenschaft und Sozialethik, in: ZfgSt., 130. Bd., 1974, S. 145-155. 76 Zum Für und Wider entsprechender Kritik siehe z.B. Lampert, H., Die soziale Dimension gesellschaftlichen Wirtschaftens, a.a.O., S. 14 f.; Kleinhenz, G., Das Rationalprinzip in den Wirtschaftswissenschaften, in: Mückl, W. J. /Ott, A. E. (Hrsg.), Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Passau 1981, S. 189-202; Rothschild, K. W., Ethik und Wirtschaftstheorie, Tübingen 1992, besond. S. 38 ff. 77 Zu einer funktionalistischen Position vgl. Homann, K. / Blome-Drees, F., Wirtschafts- und Unternehmensethik, a. a. 0., besond. S. 35 ff. 78 Zur Kritik entsprechender Positionen siehe z.B. Rüthers, B., Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Defizite eines Begriffs, Zürich 1991, besond. S. 133 ff.; Walzer, M., Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin 1992, besond. S. 228 ff.
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was absolute
79 In diese Richtung dachte wohl auch Gunnar Myrdal; vgl. besonders sein Werk "Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft" (Hannover 1965, besond. S. 99 ff.). Zur heute gängigen Bejahung empirischer Begründungen, die auf den demokratischen politischen Prozeß zurückverweisen, freilich von wissenschaftlicher Seite nicht normativ präjudiziert werden sollen, vgl. auch Lampert, H. / Bossert, A., Die soziale Marktwirtschaft ... , a.a.O., S. 120ff.
Christliche Beiträge zur Begründung der Sozialpolitik Von Anton Rauscher Die Sozialpolitik, die in Deutschland eine lange Tradition hat, hat wesentlich zur Lösung der "sozialen Frage", zur Überwindung der Klassenspaltung der Gesellschaft und zur Integration der Arbeiterschaft beigetragen. Auf den sozialpolitischen Grundlagen, die in den Ansätzen noch im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt und die in der Weimarer Zeit ausgebaut wurden, konnte nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik Deutschland der modeme Sozialstaat geschaffen werden. Das dichte soziale Netz, das für viele Menschen und Regierungen nicht nur in Europa eine Art Vorbildcharakter hat, ist in der Lage, soziale Risiken abzudecken, Notsituationen zu begegnen und die Anpassung an Veränderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu erleichtern. Viele Wissenschaftler und Politiker, Gewerkschaftler und Unternehmer, nicht zuletzt Christen, die ihre soziale Verantwortung ernstnehmen und sich engagieren, haben hierbei mitgewirkt. Heinz Lampert, dessen wissenschaftliches Interesse von Anfang an der Sozialpolitik galt, steht in einer Reihe, die bis zu den Gründern des Vereins für Socialpolitik im Jahre 1872 zurückreicht. In seinem "Lehrbuch der Sozialpolitik" gibt er einen differenzierten Ein- und Überblick über die Triebkräfte der sozialen und sozialpolitischen Entwicklung, über die Geschichte der sozialpolitischen Gesetzgebung sowie über die Entwicklungstendenzen, Hauptergebnisse und Bestimmungsgründe staatlicher Sozialpolitik (Lampert, 1985, 17 -121). Die Festschrift zu seinem 65. Geburtstag bezeugt die hohe Anerkennung und den tiefen Dank für sein unennüdliches Wirken in Forschung und Lehre für die zeitgerechte Fortentwicklung der Sozialpolitik im Dienste der sozialen Friedensordnung.
Die Sozialpolitik auf dem Prüfstand Die Ehrung fällt in eine Zeit, in der wegen der Wirtschaftskrise, die Deutschland und ganz Europa erfaßt hat, der Sozialstaat auf dem Prüfstand steht. Wenn die Unternehmen auf den Absatzmärkten starke Einbrüche verzeichnen und die Wirtschaftstätigkeit besonders im investiven Bereich zurückgeht, wenn die Arbeitslosigkeit drastisch zunimmt, und zwar auch bei qualifizierten Arbeitnehmern, und
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wenn die öffentlichen Einnahmen sinken, dann muß überall gespart werden. Auch der soziale Bereich ist davon nicht ausgenommen, zumal die Beitragseinnahmen der sozialen Sicherungssysteme zurückgehen, gleichzeitig aber die Ausgaben zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit steigen. Was freilich Kummer bereitet, sind tiefgreifende Veränderungen in den Rahmenbedingungen, die die Frage nach der Funktionsfahigkeit des Sozialstaats aufwerfen. Die wirtschaftlichen Wachstumsschübe, die wir in den letzten Jahrzehnten verzeichnen konnten, haben die Einstellung begünstigt, als ob das geschaffene Sozialsystem, von kleineren Korrekturen abgesehen, auf Dauer gesichert wäre. Wenn heute von der Notwendigkeit eines "Umbaus" des Sozialstaats die Rede ist, dann nicht aus konjunkturellen Gründen, sondern vor allem deshalb, weil die bestehenden sozialen Sicherungssysteme, wenn nicht einschneidende Reformen vorgenommen werden, in der Zukunft kaum noch bezahlbar sein werden. Diese Systeme, die an das Arbeitsverhältnis anknüpfen und deshalb für das Kernübel der Industriegesellschaften, nämlich die Arbeitslosigkeit, besonders anfällig sind, berücksichtigen viel zu wenig den Rückgang der Geburtenrate und die langfristige Auswirkung auf die sozialen Sicherungssysteme, die Zunahme des durchschnittlichen Lebensalters der Frauen und Männer und die Folgen für die Alterssicherungssysteme, den medizinisch-technischen Fortschritt und die dadurch bedingte Kostenexplosion im Gesundheitswesen, schließlich auch die Änderungen in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung. Nicht so sehr die Ausuferung sozialer Leistungen, auch nicht die leider angestiegenen Mißbrauchstatbestände, sondern die skizzierten Veränderungen und Verschiebungen in den Rahmenbedingungen machen den Umbau des Sozialstaats erforderlich (Lampert, 1993, 37 - 82). Es kommt noch etwas anderes hinzu. Die "Wende", die mit dem Niedergang des Sozialismus in Mittel- und Osteuropa eingetreten ist, verleitet dazu, auch das soziale Leistungsgefüge und die Sozialpolitik kritisch zu hinterfragen. Solange die kommunistisch beherrschten Länder nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch die "soziale Marktwirtschaft" als ,,kapitalistisch" denunzierten und zahlreiche Linksgruppierungen im Westen, gestützt auf die Vordenker des Neo- und Spätmarxismus, diese Systemkritik sich zu eigen machten, galt der Sozialstaat als das Widerlager gegen die sozialistische Ideologie. Ist dies jetzt anders? Nicht nur in Unternehmerkreisen wird die Frage gestellt, ob nicht alle verfügbaren Ressourcen mobilisiert und für die Ankurbelung der Wirtschaftstätigkeit eingesetzt werden sollen. Auch in den Wirtschaftswissenschaften mehren sich die Stimmen, die den Ausbau des Sozialstaats, wie er seit dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist, und die dazugehörige Sozialpolitik sozusagen auf Sparflamme zurückfahren möchten. Man verweist auf die schwierige Lage der Wirtschaft in den Ländern des ehemaligen Ostblocks und zieht daraus die Folgerung, daß es in erster Linie auf die Produktion und Produktivität, auf die Kräfte des Marktes und einen funktionierenden Wettbewerb, auf wirt-
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schaftliches Wachstum und Fortschritt ankomme. Bedarf es nicht auch bei uns, wenn wir der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise Herr werden wollen, eines Umdenkens? Bisweilen werden Überlegungen laut, die an die früher schon einmal geführte Diskussion erinnern, ob nicht doch eine gute Wirtschaftspolitik die bessere Sozialpolitik ist. Soll an die Stelle des Ineinandergreifens von Wirtschaft und Gesellschaft, von Wirtschafts- und Sozialpolitik eine Abstufung der Prioritäten treten: zuerst die Wirtschaft, dann erst das Soziale? In dieser Situation ist es angebracht, sich der Grundlagen beziehungsweise der Begründung der Sozialpolitik zu vergewissern. Wie der Begriff es nahelegt, geht es um eine Politik, die auf das Soziale, auf soziale Tatbestände und Strukturen gerichtet ist. Verschiedene geistige, soziale und politische Strömungen waren und sind hier am Werk. Die folgenden Überlegungen wollen die Ansätze und den Beitrag ins Bewußtsein rücken, die von christlicher Seite, näherhin vom sozialen Katholizismus und von den anthropologischen und sozialethischen Positionen der katholischen Soziallehre hierzu eingebracht wurden.
Gegen den Individualismus Es waren nicht nur die Frühsozialisten in Frankreich, die gegen die sozialen Übel des beginnenden Industrialismus zu Felde zogen; nicht weniger scharf war die Kritik, die schon bald nach der Jahrhundertwende von engagierten Christen gegen das neue Wirtschaftssystem und gegen das wirtschaftsliberale Denken erhoben wurde. Dabei wird ein doppelter Schwerpunkt der Analyse und Kritik, ebenso der Zielvorstellungen spürbar. Auf der einen Seite ging es um die Kritik der Voraussetzungen und der Grundlagen der arbeitsteiligen Wirtschaftsgesellschaft, auf der anderen Seite um die Kritik der konkreten Arbeits- und Lohnverhältnisse und um die Notwendigkeit, sie zu ändern. Beide Schwerpunkte sind für die spätere Entwicklung der Sozialpolitik von Bedeutung. Beide Ansätze bestimmen das christlich-soziale Denken bis in unsere Zeit hinein. Zu den frühen Kritikern gehört der Philosoph und Politiker Adam Müller, der in seinem Hauptwerk "Die Elemente der Staatskunst" (1809) seine Gegnerschaft zu rationalistischer Aufklärung und individualistischem Liberalismus begründet, der mit spitzer Feder die von Adam Smith entwickelten "Gesetze" des Marktes und der freien Konkurrenz unter die Lupe nimmt, der die Widersprüche zwischen den Verheißungen eines allgemeinen Wohlstands und der wachsenden Verelendung der Arbeiter aufdeckt (Langner, 1988). Der Hauptvorwurf richtet sich gegen die Auflösung des organischen Zusammenhangs der Gesellschaft, gegen die liberale These von der gesellschaftlichen Selbstregulierung der Interessen und gegen die Zerstörung des "Gleichgewichts" zwischen den ökonomischen und außerökonomischen "Bedürfnissen" der Gesellschaft. Dies stehe im Gegensatz zu den christlichen Wertorientierungen und Traditionen in Europa.
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Die konservative Richtung ist zwar wenig fruchtbar geworden, weil sie die liberale Marktwirtschaft für nicht reformfähig hielt und deshalb die Lösung der sich abzeichnenden "sozialen Frage" von einer Rückkehr zur alten ständischen Gesellschaft erwartete. Aber die Stoßrichtung gegen die individualistische Gesellschaftsauffassung des Wirtschaftsliberalismus ist im christlich-sozialen Denken bis heute lebendig geblieben und ist für die Begründung der Sozialpolitik von Bedeutung. Anders gingen Kritiker wie Franz von Baader und Franz J. Buß ans Werk. Auch sie lehnen den Individualismus ab; aber sie erkennen die Möglichkeiten der industriellen Wirtschaft, die rasch anwachsende Bevölkerung besser mit Gütern zu versorgen, als es die bisherige von der bäuerlichen Großfamilie getragene Wirtschaft vermocht hätte. Deshalb richtet sich ihr Augenmerk auf die Änderung, auf die Reform der Arbeits- und Produktionsverhältnisse. In der "Fabrikrede", die Buß, der später Präsident des ersten Katholikentages war, im Jahre 1837 im badischen Landtag hielt, entwickelte er ein erstes sozialpolitisches Programm, in dessen Mittelpunkt der Gedanke des Arbeiterschutzes steht. Zu Recht sieht Horstwalter Heitzer hier den Beginn der katholischen sozialpolitischen Tradition auf dem Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus (Heitzer, 1991, 11). Denselben Spuren folgt der Mainzer Bischof Wilhelm E. von Ketteler, der 1869 auf der Liebfrauenheide bei Offenbach vor 10.000 Arbeitern den Staat zum Eingreifen auffordert und einen Dringlichkeitskatalog von sozialpolitischen Forderungen aufstellt. Ketteler sieht, wie die Gewerbefreiheit für den Arbeiter zum "ehernen Lohngesetz" wird. "Der Menschenverband wurde zerstört, und an dessen Stelle trat der Geldverband in furchtbarer Ausdehnung. Daraus entstanden nun überall, wo sich die Verhältnisse schrankenlos entwickeln konnten, für den Arbeiterstand die fürchterlichsten Zustände" (von Ketteler, 1976, 243). Die Aufkündigung der gesellschaftlichen Solidarität, der Ersatz des genossenschaftlich organisierten "Menschenverbandes" durch eine Gesellschaft atomisierter Individuen ist für Ketteler letztlich eine Folge des Abfalls vom Glauben: "Ohne Religion verfallen wir alle dem Egoismus, wir beuten unseren Nebenmenschen aus, sobald wir die Macht dazu haben" (von Ketteler, 1976,244; Roos, 1979,21-62). Seitdem Ketteler in den 1860er Jahren erkannt hatte, daß die Arbeiterfrage eine "soziale Frage", also eine Frage der Gesellschaft und ihrer Strukturen war und nur durch soziale Reformen gelöst werden konnte, setzte er sich für den Zusammenschluß der Arbeiter und für die staatliche Sozialpolitik ein (Rauscher, 1969, bes. 114-131). Dies war schon deshalb wichtig, weil nicht wenige Katholiken dem preußischen Staat gegenüber, der 1866 gegen Österreich die "kleindeutsche" Lösung und seine Vormachtstellung erzwungen hatte, auf Distanz gegangen waren. Die eigentliche Bedeutung der Hinwendung Kettelers und des sozialen Katholizismus zur Sozialpolitik lag freilich darin, daß dadurch ein Gegengewicht zu den sozialistischen Positionen entstand. Für sozial engagierte Christen und für katholische Arbeiter war es eine Versuchung, trotz aller Vorbehalte gegen
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die antireligiöse und antikirchliche Stoßrichtung der sozialistischen Bewegung die radikalen Ziele sich zu eigen zu machen (Stegmann, 1965; Ockenfels, 1992). Noch fehlte die Erfahrung, daß eine auf der marxistischen Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft beruhende Politik unfahig ist, die soziale Frage wirklich zu überwinden und eine leistungsfahige Wirtschaft und eine gerechte Sozialordnung aufzubauen. Was die sozialphilosophische Klärung betrifft, wurde die von Heinrich Pesch grundgelegte Linie im sozialen Katholizismus maßgebend. Im Anschluß an Ketteler unterschied er zunächst zwischen "Liberalismus, Sozialismus und christlicher Gesellschaftsordnung" (1896), um dann in seinem Hauptwerk auf den Individualismus, den Sozialismus und den Solidarismus abzustellen (Pesch, 1905,3 -41924, 281-455). In der katholischen Soziallehre sind diese Positionsbestimmungen vor allem über Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning wirksam geworden (Gundlach, 1964,93-190; von Nell-Breuning, 1947, 1951). Auch in den Diskussionen um die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft haben sie eine Rolle gespielt (Rauscher, 1988, 371-409).
Sozialreform und Sozialpolitik Noch während des Kulturkampfes brachte die Zentrumspartei, die zu einem wirksamen Instrument des sozialen und politischen Katholizismus wurde, 1878 den ersten Arbeiterschutzantrag im Reichstag ein, der allerdings auf heftigen Widerstand und Ablehnung stieß. Er enthielt drei Grundforderungen: Einschränkung beziehungsweise Verbot der Kinder- und Frauenarbeit, Sicherung der Sonntagsruhe, Festlegung eines Maximalarbeitstages (Heitzer, 1991, 12, 34 - 36). Während Bismarck, um die Arbeiter zu beruhigen, die ersten Ansätze zu den sozialen Sicherungssystemen legte, kam die Politik des Arbeiterschutzes erst nach seiner Entlassung in Gang. Die sozialpolitische Arbeit des Zentrums, das Ludwig Heyde die "fruchtbarste sozialpolitische Partei" vor dem Ersten Weltkrieg bezeichnete (Heyde, 1966, 56), stützte sich auf die christlich-soziale Bewegung und Ideenwelt, die seit 1890 vor allem durch den Volksverein für das katholische Deutschland unter der Führung von Franz Hitze, der zugleich sozialpolitischer Sprecher der Zentrumspartei war und seit 1893 die erste Professur für christliche Sozialwissenschaften in Münster innehatte, geprägt wurde. Hitze, der als erster Priester ganz für die Arbeiterseelsorge freigestellt wurde, vertrat anfangs das Anliegen einer umfassenden Sozialreform. Er war ähnlich wie Ketteler von Ferdinand Lassalle beeindruckt, was in der Forderung seinen Niederschlag fand: "Die Produktivassoziation ist und bleibt das Ideal unserer sozialen Bestrebungen" (1877). In seinem Buch "Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft" (1880) pries er die "ständische Organisation" als "die erste und ... einzig mögliche Form des Sozialismus", eines "christlichen Sozialismus". Erst durch die Begegnung mit dem sozial engagierten Unternehmer 3 Festschrift Lampert
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Franz Brandts, der in seiner Textilfabrik in Mönchengladbach schon 1872 einen Arbeiterausschuß berief und später die erste Fabrikordnung erließ, und durch die Zusammenarbeit mit Georg von Hertling in der Zentrumsfraktion wurde Hitze zum "Meister der Sozialpolitik", wie Paul Jostock ihn nannte (lostock, 1964, 425). Seine Parole lautete: Sozialpolitik innerhalb der bestehenden Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung statt ständischer Sozialreform. Die Enzyklika Leos XIII. Rerum novarum (1891), die in dieselbe Richtung wies, hat ihn darin bestärkt. Damit ging im sozialen Katholizismus die Epoche des "ungeklärten Antikapitalismus" (von den Anfängen bis 1880) über in die Periode der "geklärten Kapitalismuskritik" (1880 bis 1930) (Weber, 1964, 146-160). Allerdings nahmen mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Auseinandersetzungen um Inhalt und Grenzen der Sozialpolitik wieder zu. Dies lag vor allem an den politischen Turbulenzen, die der Niedergang des Kaiserreiches und die ungeheueren wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten mit sich brachten. Angeheizt durch die politischen Extreme von rechts und von links spitzte sich der Streit um Kapitalismus und Sozialismus zu. Auch unter den Katholiken wuchsen die Zweifel, ob die von der Zentrumspartei getragene Sozialpolitik in der Lage sei, den Kapitalismus zu bändigen und ihm die notwendigen sozialen Strukturen einzuziehen. Mit Heinrich Brauns, der katholischer Priester war, stand ein Sozialpolitiker von Format an der Spitze des Reichsarbeitsministeriums, der die Sozialpolitik energisch vorantrieb und 1927 noch die Arbeitslosenversicherung ins Leben rief. Theodor Brauer wies in einer Schrift 1926 darauf hin, "daß grundsätzliche Freunde der amtlichen Sozialpolitik diese für überlebt halten: den ins Maßlose verschärften Problemen von heute gegenüber sei sie kaum mehr als Dilettantismus" (Brauer, 1926, 1). Es gebe eine Kluft zwischen der Sozialpolitik und der "Kultur". Dieser Vorwurf wurde damals vor allem von jenen erhoben, die von der Sehnsucht nach Gemeinschaft ergriffen wurden und falschlicherweise in der Sozialpolitik nur technisch-organisatorische Regelungen sahen (Baumgartner, 1977). Die Nachkriegszeit hat, worauf Goetz Briefs in einem Artikel 1925 aufmerksam machte, das Kapitalismus-Problem für den deutschen Katholizismus verschärft (Briefs, 1925, 197-226, hier 222). Die Kritik richtete sich nicht gegen den Kapitalismus im technischen Sinne, der also die technische Apparatur der modernen Produktion meint, auch nicht gegen jenen Kapitalismus, der die privatwirtschaftliche Organisation der Wirtschaft unter dem Antrieb des Erwerbsstrebens bedeutet, sondern gegen den Kapitalismus, der mit der aus der freiwirtschaftlichen Entartung der Privatwirtschaft hervorgegangenen ungebundenen Herrschaftsstellung des Kapitalbesitzes gegeben ist. Nur eine Bindung der Wirtschaft könne die "sozialen Formprobleme" überwinden. Wie sehr sich die Spannungen und Gegensätze im Hinblick auf die soziale Frage im katholischen Raum wieder zugespitzt haben, zeigen die Bemühungen um eine Verständigung auf der katholisch-sozialen Tagung im Juni 1929 in Wien.
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So wie der Volksverein in Mönchengladbach das Zentrum der Vertreter des christlichen Solidarismus und des sozialpolitisch orientierten Katholizismus war, so hatten die Anhänger einer "Sozialreform" , die die kapitalistischen Strukturen durch eine neue Gesellschaftsorganisation überwinden wollten, in Wien ihr Zentrum, wo Othmar Spann und Anton Orel mit ihren romantisch-konservativen Gemeinschaftsideen wirkten (Kath.-soz. Tagung, Wien 1929, Einleitung). Ist die arbeitsteilige Industriegesellschaft mit ihrer funktionalen Trennung von Arbeit und Kapital sozial heilbar oder nicht? Ist das Lohnarbeitsverhältnis in sich unsittlich und kann nur das Gesellschaftsverhältnis, wie es für die ständische Gesellschaft charakteristisch war, dem Anspruch der Menschenwürde und der Gemeinschaft genügen? Dies waren die Kernfragen, die damals im Mittelpunkt des Interesses standen und die durch die wenig später ausbrechende Weltwirtschaftskrise noch an Schärfe zunahmen.
Wegweisungen in Quadragesimo anno Das war die Konstellation, in der die Vorbereitungsarbeiten für die Enzyklika Quadragesimo anno geschahen. Mit der Unterscheidung von kapitalistischer Wirtschaftsweise, die ethisch neutral ist, und der kapitalistischen Klassengesellschaft, die verwerflich ist, blieb man auf der von Rerum novarum vorgezeichneten Linie. Folglich kann auch der Lohnvertrag nicht in sich als ungerecht bezeichnet werden. Kapital und Arbeit sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Auf der anderen Seite plädierte die Enzyklika, weil der freie Wettbewerb zur Vermachtung der Wirtschaft und zu seiner Selbstaufhebung geführt habe, für eine neue Gesellschaftsordnung, die vom Prinzip der Subsidiarität bestimmt wird und in der durch eine Neuordnung der Gesellschaft im Sinne einer berufsständischen Ordnung der Gegensatz zwischen den sozialen Klassen überwunden werden soll (von NellBreuning, Freiburg i. Br. 1932; Nachdruck, 3Köln 1950). Der Begriff "berufsständische Ordnung" war allerdings mißverständlich, weshalb O. von Nell-Breuning von Anfang an bemüht war, diesen Begriff durch "leistungsgemeinschaftliche Ordnung" zu ersetzen. Aber auch in dieser Form erwies sich der Vorschlag der Enzyklika als wenig zustimmungsfähig. Leider haben damals die Vertreter der christlichen Gesellschaftslehre nicht darüber nachgedacht, ob nicht das System der Tarifautonomie in einer Weise ausgebaut werden könnte, daß das Anliegen der Enzyklika, nämlich die gemeinsame Regelung der Arbeits- und Lohnbedingungen durch die beteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber, verwirklicht wird (Rauscher, 1988,385 f.). Dies setzt freilich voraus, daß die Tarifpartner sich als Sozialpartner verstehen und bei aller Gegensätzlichkeit der Interessen sich der übergreifenden Gemeinsamkeiten und Verantwortlichkeiten bewußt sind. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das System der Tarifautonomie in dieser Weise entwickelt. 3*
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Fragt man, was das christlich-soziale Ideengut zur Begründung der Sozialpolitik beigetragen hat, so müssen folgende Bereiche berücksichtigt werden. In erster Linie sind es die Bemühungen um eine Klärung dessen, was "sozial" meint. In den Auseinandersetzungen mit den großen Ideologien, die entweder auf einer individualistischen oder auf einer kollektivistischen Sicht der Gesellschaft beruhen, wurde herausgearbeitet, daß das Soziale weder eine Summe von Individuen noch ein Kollektiv ist. Der Solidarismus konnte nachweisen, daß das Soziale eine Beziehungseinheit ist. Jeder Mensch hat eine soziale Wesensanlage und ist auf die gemeinsamen Werte hingeordnet, die nur in Kooperation verwirklicht werden können. Daraus erwächst die Grundnorm der Solidarität, die für die Sozialpolitik maßgebend ist. Sie verlangt den Schutz der Schwächeren - dies ist der Gedanke des Arbeiterschutzes - , sie fordert ebenso das gemeinsame Tragen von Risiken und das Füreinander-Einstehen, wie es den sozialen Sicherungssystemen zugrundeliegt. Damit die Solidarität nicht zur Ausnutzung, ja zur Ausbeutung des Partners degeneriert, muß auch das Prinzip der Subsidiarität die konkreten Verhältnisse bestimmen. Das, was der einzelne, die Familie, der Betrieb mit eigenen Kräften leisten kann, dies soll er auch tun und nicht vorschnell auf Hilfe pochen. Mit anderen Worten: Die gesetzlichen Regelungen der Sozialpolitik müssen so gelagert sein, daß sie nicht mißdeutet und mißbraucht werden können. Solidarität setzt die jeweils eigene Leistung und Leistungswilligkeit voraus, ebenso die Bereitschaft zur Selbstverantwortung. Solidarität und Subsidiarität sind die Leitnormen der Sozialpolitik (Lampert, 1985,329). Dort, wo sie nicht mehr wechselseitig aufeinander bezogen sind, wo die Solidarität einseitig zu Lasten der Subsidiarität forciert wird, oder wo die Subsidiarität zur Legitimierung eines Anspruchsdenkens herhalten muß, tut eine Besinnung not.
Literatur Baumgartner, Alois: Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik, Paderborn 1977. Brauer, Theodor: Deutsche Sozialpolitik und deutsche Kultur, Freiburg i. Br. 1926. Briefs, Goetz: Die wirtschafts- und sozialpolitischen Ideen des Katholizismus, in: Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege (Festgabe für Lujo Brentano), München / Leipzig 1925. Gundiaeh, Gustav: Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, Bd. 2, Köln 1964. Heitzer, Horstwalter: Deutscher Katholizismus und Sozialpolitik bis zum Beginn der Weimarer Republik (Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, Bd. 6), Paderborn 1991. Heyde, Ludwig: Abriß der Sozialpolitik, 12. Allfl., Heidelberg 1966.
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lostock, Paul: Art. Hitze, in: Katholisches Soziallexikon, Innsbruck 1964. Die katholisch-soziale Tagung in Wien, hrsg. vom Volksbund-Verlag, Wien 1929.
von Ketteler, Wilhelm Emmanuel: Ansprache auf der Liebfrauen-Heide, abgedruckt in: Texte zur katholischen Soziallehre 11, 1, hrsg. vom Bundesverband der KAB Deutschlands, Kevelaer 1976. Lampert, Heinz; Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin / Heidelberg / New York / Tokyo 1985. -
Der Sozialstaat auf dem Prüfstand, in: Rauscher, Anton (Hrsg.): Probleme der sozialen Sicherungssysteme (Mönchengladbacher Gespräche 14), Köln 1993.
Langner, Albrecht: Adam Müller 1779 - 1829 (Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, Bd. 3), Paderborn 1988. Mockenhaupt, Hubert: Weg und Wirken des geistlichen Sozialpolitikers Heinrich Brauns, Paderborn 1977. von Nell-Breuning, Oswald: Die soziale Enzyklika. Erläuterungen zum Weltrundschreiben Papst Pius XI. über die gesellschaftliche Ordnung, Freiburg i. Br. 1932 (Nachdruck 3Köln 1950). -
Wörterbuch der Politik, Heft I, Zur christlichen Gesellschaftslehre, Freiburg i. Br. 1947; und Hefte V 1, Gesellschaftliche Ordnungssysteme, Freiburg i. Br. 1951.
Ockenfels, Wolfgang: Katholizismus und Sozialismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, Bd. 11), Paderborn 1992. Pesch, Heinrich: Lehrbuch der Nationalökonomie, Erster Band: Grundlegung, Freiburg 1905,3- 4 1924. Rauscher, Anton: Die soziale Rechtsidee und die Überwindung des wirtschaftsliberalen Denkens. Hermann Roesler und sein Beitrag zum Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn 1969. -
Katholische Soziallehre und liberale Wirtschaftsauffassung, in: Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung, Zweiter Band, Würzburg 1988.
-
Sozialpolitische Anstöße aus dem christlichen Raum, in: Thiemeyer, Theo (Hrsg.): Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik 11 (~chriften des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Neue Folge Bd. 205), Berlin 1991.
Roos, Lothar: Kirche - Politik - soziale Frage: Bischof Ketteler als Wegbereiter des sozialen und politischen Katholizismus, in: Rauscher, Anton / Roos, Lothar: Die soziale Verantwortung der Kirche. Wege und Erfahrungen von Ketteler bis heute, Köln 21979. Stegmann, Franz Josef: Von der ständischen Sozialreform zur staatlichen Sozialpolitik, München 1965. Weber, Wilhelm: Art. Deutschland, Geschichte der katholischen Sozialbewegung, in: Katholisches Soziallexikon, Innsbruck 1964.
Mißverständnisse um die Sozialpolitik Von Helmut Winterstein Dem Vertreter der Sozialpolitik-Wissenschaft fällt eine eigenartige Diskrepanz auf, wenn er die einschlägige politische Szene unseres Landes betrachtet. Die praktisc.he Sozialpolitik unseres Landes expandierte seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland in einem unaufhörlichen Prozeß. Dabei hat sich die Sozialpolitik zu einem allumfassenden System entwickelt, das fast jeden Bürger unseres Landes als Geber und als Nehmer umschließt. Das läßt sich z.B. gut ablesen an der Entwicklung der Sozialleistungsquote unseres Landes, die seit 1960 von 22,8 % auf 29,3 % 1991 gestiegen ist (Arbeits- und Sozial statistik 1992). Die Sozialleistungsquote allein drückt aber diese Expansion der Sozialpolitik im Leben des einzelnen noch gar nicht hinreichend aus. Sie weist ja nur den Umfang und die Entwicklung der Sozialtransfers aus und spart also alle ordnungspolitischen Gesetze, die für den einzelnen relevant sind - wie z. B. Mitbestimmung oder weite Bereiche des Arbeitsschutzes - vollkommen aus (Spieker, 1986). Dieser Expansion der Sozialpolitik-Praxis steht keinesfalls eine entsprechende Entwicklung in der Sozialpolitik-Wissenschaft gegenüber. Wenn wir von den wissenschaftlichen Einrichtungen an den Universitäten und Hochschulen ausgehen, hier vor allem an Lehrstühle und Institute denken, dann werden wir eher von einer Stagnation oder neuerdings sogar Rückbildung und nicht von einer Expansion der notwendigen Grundlagen für die bessere Fundierung dieser Wissenschaft sprechen müssen. Bethusy-Huc (Bethusy-Huc, 1965) und Achinger (Achinger, 1963) haben schon früher den geringen Einfluß der Wissenschaft auf die praktische Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland beklagt und festgestellt, daß oftmals wissenschaftliche Arbeiten bei der Reform unseres Sozialrechts nicht abgewartet oder einfach ignoriert würden. So sei auch der Beirat des Bundesarbeitsministeriums zu jeder Zeit von den Verwaltungsfachleuten dominiert worden, weshalb er, wie Achinger sagt, auch mit vollem Recht nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden kann (Achinger, 1963), und wenn darüber hinaus die begrenzten Möglichkeiten der Beiratsmitglieder beachtet würden, von denen Achinger an der genannten Stelle ebenfalls berichtet (Achinger, 1963), dann erhärte sich die Überzeugung immer mehr, daß sich die Entwicklung der Sozialpolitik (er meint damit die Sozialpolitik-Praxis H. W.) in der Bundesrepublik Deutschland "so gut wie völlig als Eigenprodukt der Bürokratie" darstelle (Achinger, 1963).
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An dieser Feststellung hat sich auch bis heute nicht sehr viel geändert. Ein gutes Beispiel dafür gibt die Diskussion um die Etablierung der Pflegeversicherung ab, bei deren Gestaltung - nach dem heutigen Stand der Gesetzesvorlagen - die Ergebnisse wissenschaftlicher Diskussion nur rudimentär einen Niederschlag finden konnten. Dafür wird immer deutlicher, wie wahltaktische Überlegungen der Parteien die Diskussion über die Ausgestaltung dieser Vers1'cherung - und hier vor allem deren Finanzierung - und letztlich das Aussehen dieses neuen Sozialversicherungszweiges in einem "Super-Wahljahr" bestimmen. Andererseits ist festzustellen, daß von dritter Seite weitreichend Vorschläge zu einer gravierenden Umgestaltung wesentlicher Teile unseres Alterssicherungssystems unterbreitet werden. So schlägt der Wissenschaftliche Beirat beim Finanzministerium eine grundsätzliche Umgestaltung unseres Rentenversicherungssystems vor. Ausgehend von gestiegenen Masseneinkommen sieht der Beirat jetzt einen Spielraum eröffnet, verstärkt Eigenverantwortung zu fordern und die Selbstvorsorge zu fördern (Wissenschaftlicher Beirat des Bundesministeriums der Finanzen, 1994). Damit wird meines Erachtens eine Trendwende für die Sozialpolitik-Praxis gefordert, die sich allerdings nicht so sehr auf grundsätzliche Überlegungen über die Rolle des einzelnen in der Gesellschaft stützt und über das Maß an Selbstverantwortung, das zum Menschsein gehört, sondern ganz pragmatisch bestimmt ist von der Sorge, daß das bisherige System in der Zukunft nicht mehr finanzierbar ist. Bei diesem Sachstand ist es nicht verwunderlich, daß die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung der Sozialpolitik nur sehr "gebremst" Eingang in die Sozialpolitik-Praxis finden, obwohl sich die Sozialpolitik-Wissenschaft vorrangig der Erörterung aktueller und ohne Zweifel auch sehr drängender sozialpolitischer Probleme im Rahmen der sozialen Sicherungspolitik, der Familienpolitik usw. gewidmet hat. Daß dabei notwendigerweise die Diskussion grundsätzlicher Probleme in den Hintergrund tritt, ist die Folge solcher Schwerpunktbildung. Da aber die Erörterung grundsätzlicher Probleme in der Sozialpolitik vor allem der ordnungspolitischen Funktion der Sozialpolitik gewidmet sein müßte, bildet sich meines Erachtens zunehmend ein ordnungspolitisches Defizit in der sozialpolitischen Wissenschaft aus, wenn diese notwendige ordnungspolitische Diskussion nicht erfolgt. Ganz sicher kann man nicht alle Jahre wieder eine ordnungspolitische Grundsatzdiskussion führen, um den Standort und die Aufgaben der Sozialpolitik zu bestimmen. Für den aufmerksamen Beobachter der Szene entsteht aber der Eindruck, daß bereits in der Vergangenheit Erarbeitetes immer mehr in Vergessenheit gerät und damit die ordnungspolitische Aufgabe der Sozialpolitik aus den Augen zu verschwinden droht. Das gilt ganz sicher nicht in dieser Schärfe für die Vertreter der Sozialpolitik-Wissenschaft, die sich des geistigen Erbes ihrer Wissenschaft sehr bewußt sind.
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Für die sozialpolitische Praxis läßt sich das so aber nicht feststellen. Sonst könnte die Ausweitung der Sozialtransfers vielfach nicht so unbefangen immer neu gefordert und nur als Fortschritt gepriesen werden können, ohne daß die ordnungspolitische Konsequenz einer solchen Ausweitung überhaupt thematisiert wird. So wird häufig jede Umorganisation des sozialen Sicherungssystems, die in einzelnen Bereichen auch zu Belastungen von Gruppen von Leistungsempfängern (jetzt z.B. im Bereich der GKV) oder zu einer Minderung der Sozialtransfers (zur Zeit bei der Sicherung bei Arbeitslosigkeit) führt, pauschal als Abbau des Sozialstaats denunziert, ohne daß ausreichend berücksichtigt wird, daß dieser Sozialstaat seiner sozialen Verantwortung auf die Dauer nur gerecht werden kann, wenn die Leistungsfähigkeit, und das bedeutet immer auch die Finanzierbarkeit des Sicherungssystems, so zu gestalten ist, daß die zur Finanzierung notwendigen Mittel in ausreichendem Maße bereitgestellt werden können. Bei dem hohen Niveau unseres Sozialtransfers ist das auf die Dauer nur in einem leistungsfähigen Wirtschaftssystem gewährleistet, das sich in Konkurrenz mit anderen Volkswirtschaften behaupten kann. Wenn das so ist, wird die sozialpolitische Praxis nicht auf Dauer vernachlässigen können, daß nur ein erfolgreiches Wirtschaften die Mittel bereitstellt, welche die Sozialpolitik vor allem im Bereich des Sozialtransfers erst in die Lage versetzt, die gestellten Aufgaben befriedigend zu lösen. Der Tatbestand der Knappheit der Mittel gilt auch für die Sozialpolitik. Das wurde auch in der Sozialpolitik-Wissenschaft von Anfang an gesehen (Winterstein, 1969). Das gilt nicht uneingeschränkt für die Sozialpolitik-Praxis. So fehlt der sonst in den Regierungserklärungen immer gegebene Hinweis auf die von der Wirtschaft für die Sozialpolitik gezogenen Grenzen in den Regierungserklärungen Willy Brandts vom 28. 10. 1969 (Winterstein, 1973). Auch im Sozialbericht 1976 fehlt noch ein solcher Hinweis, der erst 1978 wiederkehrt (dort S. 8) und Zacher kann von einem Überdruß an einer monetär orientierten Sozialpolitik (Zacher, 1980) in den Dokumenten der SPD/FDP Bundesregierung sprechen. Erst Helmut Schmidt spricht dann wieder in seiner Regierungserklärung vom 16.12.1976 von den Sorgen um die ökonomischen Grundlagen auch im Zusammenhang mit den Renten und der Sozialpolitik (Spieker, 1986). Auch die Forderung nach einer Emanzipation der Sozialpolitik-Theorie von der Wirtschaftstheorie paßt hier in das Bild (Badura / Cross, 1976). Solche Äußerungen, die den Zusammenhang zwischen den ökonomischen Grundlagen der Sozialpolitik nicht sehen oder sehen wollen, oder ihn gar leugnen, sind ein recht deutliches Indiz dafür, daß die Ordnungsfunktion der sozialen Sicherung und die Interdependenz von Wirtschafts- und Sozialsystem in der Öffentlichkeit (und auch in der Politik) recht wenig verstanden werden und deswegen sehr häufig die bessere Sozialpolitik immer als die angesehen wird, die noch mehr umverteilt. Ganz sicher greift der Satz "eine gute Wirtschaftspolitik ist die beste Sozialpolitik" zu kurz, nichts destoweniger ist richtig, daß in aller Regel der wirtschaftliche Erfolg erst die Mittel bereitstellt, um die Aufgaben der Sozialpolitik bewältigen zu können.
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Hier ist immer noch die Tradierung einer Vorstellung maßgebend, die aus dem vergangenen Jahrhundert stammt, als die Sozialpolitik als Korrektiv eines liberalistischen Wirtschaftssystems nötig wurde, das in seiner manchesterlichen Ausprägung die Freiheit des einzelnen postulierte, dabei aber die Freiheit im wesentlichen nur im formalen Sinne verstand. Daß dieses System, das der größtmöglichen Zahl das größtmögliche Glück versprach, auf die Dauer nicht durchzuhalten war, zeigte sich sehr schnell durch die Not und das Elend des im zunehmenden Maße im vergangenen Jahrhundert entstehenden Industrieproletariats. Die Korrektur des übertriebenen Individualismus erfolgte durch Anleihen an den Grundgedanken des Kollektivismus in einer ersten Phase der Sozialpolitik, als der Arbeitsschutz durchgesetzt wurde, mit Beschäftigungsvorschriften für Kinder, Jugendliche, Frauen usw. und durch die Fruchtbarmachung des Solidargedankens im Rahmen des Aufbaues eines Sozialversicherungssystems in unserem Lande. Notwendigerweise mußte dabei die vom ökonomischen Liberalismus postulierte Freiheit des einzelnen eingeschränkt werden durch z. B. Beschäftigungsverbote im Rahmen des Arbeitsschutzes, Truckverbot, Vorschriften bei der Lohnzahlung, Kündigungsschutzmaßnahmen usw. (also Korrekturen am "freien Arbeitsvertrag"), durch die Gewährung von Organisationsmöglichkeiten von sozialen Klassen (Gewerkschaften) und durch die Einführung eines Versicherungszwangssystems, das den einzelnen Arbeitnehmer einer Versicherungspflicht unterwarf mit festgesetzten Zwangsbeiträgen zur Sicherung vor Unfall-, Krankheits-, Invaliditäts- und Altersfolgen und später dann noch vor Arbeitslosigkeit. Daß durch diese Beseitigung formaler Freiheitsrechte hier materiale Freiheitsrechte für den einzelnen gewonnen werden sollten und auch gewonnen werden konnten, sei hier nur am Rande erwähnt. Diese Orientierung der Sozialpolitik am Sozialprinzip, das heißt also die Bindung des einzelnen durch die Beschränkung seiner Freiheit und damit die Minderung seiner Selbstverantwortlichkeit, die notwendigerweise damit einherging, ist, wenn wir uns an die soziale Situation des vergangenen Jahrhunderts erinnern, für die Erreichung der Sicherungsziele notwendig. Dieser Grundgedanke ist auch schon sehr frühzeitig in der Diskussion über Begriff und Aufgaben der Sozialpolitik immer wieder betont worden. So ist z. B. für Pribram diese Orientierung am Sozialprinzip so entscheidend, daß er diese Orientierung als das Wesensmerkmal der Sozialpolitik überhaupt hervorhebt (Pribram, 1925). Auch an anderer Stelle wird dieser Grundgedanke von ihm immer wieder betont (Pribram, 1925). Eine ähnliche Deutung finden wir bei Heyde (Heyde, 1950). Gegen diese einseitige Interpretation der Aufgaben der Sozialpolitik und die Erkenntnis, daß die Sozialpolitik in dieser Ausrichtung historisch bedingt ist, hat schon vor vielen Jahren v. Zwiedineck-Südenhorst hingewiesen, wenn er feststellt, "daß die Sozialpolitik etwas Neutrales sei und daß insoweit die Sozialpolitik mit dem Gegensatz von Sozial- und Individualprinzip nichts zu tun habe. Die Sozialpolitik sei, wird von extremer Zuspitzung des Individualprinzips abgesehen, unabhängig von der gesellschaftlichen Orientierung möglich. Den vom Sozialprinzip beherrschten Ge-
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sellschaftstheorien ist sie Selbstzweck, den vom Individualprinzip getragenen Mittel zum Zweck. In beiden Fällen weist die Ratio auf die Bekämpfung jener Energien hin, die die Gesellschaft gefährden" (Zwiedineck-Südenhorst, 1924 und Weddigen, 1933). Trotz dieser sehr frühzeitig vorgetragenen Bedenken scheint aber diese Tradierung - zumindest für die Sozialpolitik-Praxis - weiter bestimmend zu sein. Damit scheint aber ein für alle Mal die Sozialpolitik in ihrer praktischen Ausgestaltung in einem bestimmten Sinn geprägt zu sein, nämlich durch die Beseitigung von formalen Freiheitsrechten, z.B. durch Versicherungs- bzw. Kassenzwang, durch Einschränkung von Entscheidungsbefugnissen sowohl der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber und durch immer weitergehende Umverteilung. Die Entwicklung zu einer immer stärkeren Einbindung des einzelnen in ein Geflecht von Vorschriften nahm zunächst seinen Anfang in einem kleinen Teilbereich des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens. Mit Vorschriften über die Arbeitszeit und über die einzuhaltenden Hygienevorschriften für Kinder und Jugendliche in der englischen Textilindustrie, über die ersten Arbeitsschutzmaßnahmen in den deutschen Ländern bis hin zum Erlaß der Gewerbeordnung 1869 und der Durchsetzung des Arbeitsschutzes mit der Fabrikinspektion, den Aufbau eines sozialen Sicherungssystems, dem weiteren Ausbau des Arbeitsschutzes, der Regelung von betrieblicher und unternehmerischer Mitbestimmung usw. entstand mit der Zeit ein Geflecht von sozialpolitischen Maßnahmen, das dem Menschen gegen die Fairnisse des Lebens in möglichst allen Teilbereichen einen möglichst umfassenden Schutz gewähren wollte. Ein solcher umfassender Schutz war aber nur dadurch möglich geworden, weil das soziale Sicherungssystem gleichsam einen Musterlebensentwurf schuf, der dem einzelnen angeboten wird. Ihm gilt es gleichsam entlang zu leben. Nach dem Abschluß der Schulzeit sieht er den Übertritt ins Erwerbsleben vor. In ihm bleibt man bis zum Erreichen der Altersgrenze, die wiederum recht weitgehend (erst jetzt versucht man hier einige Lockerungen in das System einzubauen) von der Gesellschaft definiert wird. Durch das Arbeitsleben erwarb man einen weitestgehenden Schutz vor den Folgen der Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität, des Alters oder bei Unfällen. Gebrochene Erwerbsverläufe (heute noch häufig bei Frauen) lassen diesen Schutz schnell unzureichend werden. Die Voraussetzung für die Gewährung dieses Schutzes war aber die Bejahung dieses Lebensentwurfes und ein an diesem Lebensentwurf ausgerichtetes Verhalten. Die gesetzliche Zwangsversicherung bot dabei keine Ausbruchsmöglichkeiten. Für den Fall, daß man den Lebensentwurf nicht bejahte, verhindert ein soziales Netz der Sozialhilfe zwar den Fall in das Elend, ein entsprechender Abstand von den Wohlfahrtsbzw. später dann den Sozialhilfeleistungen sollte aber sicherstellen, daß eine ausreichende Motivation besteht, den angebotenen Lebensentwurf, der die Sicherung versprach, anzunehmen.
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Diese Einbeziehung in ein Versicherungszwangssystem mit ständig steigenden Versicherungspflichtgrenzen bedeutete notwendigerweise eine "Entlastung" von eigenen Entscheidungen (die Abnahme von Verantwortung), unabhängig davon, ob der einzelne von solchen Entscheidungen entlastet werden wollte oder nicht. Durch die Erzwingung bestimmter Handlungen in der Gegenwart (z. B. Beitragszahlungen) sollten die Mittel bereitgestellt werden, um im Versicherungsfall Leistungen erbringen zu können. Das machte die zwangsweise Einbeziehung des einzelnen in Haftungsverbände, die im Rahmen des sozialen Sicherungssystems etabliert werden mußten, notwendig. Durch erzwungene Handlungen in der Gegenwart sollten Festlegungen für die Zukunft erreicht werden. Diese zwangsweise Einbeziehung in - wie es die Entwicklung zeigt - immer größere Haftungsverbände der Sozialen Sicherung forderte aber gleichzeitig als Preis eine Abnahme der Gestaltungsmöglichkeiten für den einzelnen. Dem einzelnen wurde damit die Freiheit genommen, sich nach eigenen Vorstellungen gegen die Risiken des Lebens abzusichern. Damit war die Gefahr, daß der einzelne seine zukünftigen Bedürfnisse bei Krankheit, bei Invalidität, im Alter, bei Unfall oder bei Arbeitslosigkeit in der Gegenwart unterschätzt, also nicht ausreichend Vorsorge trifft, und damit gegen Schadensfolgen nicht hinreichend gesichert zu sein, ebenso gebannt wie die Folge einer solchen Unterschätzung der Risiken für die Allgemeinheit. Denn der einzelne würde ja bei einer solchen Unterschätzung notwendigerweise unversorgt oder nicht ausreichend versorgt sein und so der Allgemeinheit als Sozialhilfeempfanger zur "Last fallen", weil die Ansprüche an das Sozialhilfesystem ja nicht über Beitragszahlung erworben werden, die Ansprüche ergeben sich vielmehr aus der Hilfsbedürftigkeit des einzelnen und die Finanzierung erfolgt aus Steuermitteln. Mit diesem hier notwendig nur kurz skizzierten Sicherungssystem wird, wie das Hans Freyer einmal betont hat, der Mensch nicht nur mehr als Person und als Ganzes, sondern vielmehr von ganz bestimmten Funktionen aus gesehen und ihm wird gleichsam eine zweite künstliche Umwelt übergestülpt. Diese zweite Umwelt wurde zwar von den Menschen geschaffen, doch hat sie sich heute von ihm weitgehend wegentwickelt und verselbständigt. Diese zweite Umwelt gibt nun die Maßstäbe für die Entscheidungen des Menschen ab. Er muß sich dieser Umwelt anpassen, ja optimal angepaßt sein; die Anpassung wird für ihn zur Lebensfrage (Freyer, 1961 und 1955). Die für die soziale Sicherungspolitik und damit auch für die Interpretation der für die Sozialpolitik grundsätzlichen Frage, ob durch eine solche immer stärker werdende Einbeziehung des einzelnen in Haftungsverbände für den einzelnen hinsichtlich seiner Selbstverwirklichung, seiner Individualität, seines Menschseins, seiner Emanzipation zusätzlich noch etwas gewonnen werden kann, stellt sich für viele überhaupt nicht mehr. Sie ist als Folge einer einseitigen Interpretation der Entwicklungsrichtung der Sozialpolitik vorab schon beantwortet. Es erscheint selbstverständlich zu sein, daß der Bürger, der sehr häufig ja in der
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Politik als "mündiger" Bürger beschworen wird, hier in ganz wesentlichen Bereichen seines Lebens als unfähig oder unmündig angesehen wird, wichtige Geschäfte seines Lebens, sei es im Bereich der Arbeitssuche (Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit) oder im Bereich seiner Sozialversicherung (Versicherungszwang in allen wichtigen Bereichen) für sich selbst zu treffen. Schlotter hat es unlängst sehr pointiert formuliert, wenn er feststellt, "in der Sozialordnung herrscht (zwar nicht deklariert, aber krypto-offiziell) das Menschenbild des heteronomiebedürftigen Menschens, des "Untertans", in der Wirtschaftsordnung das des "Souveräns" (Schlatter 1993). Offensichtlich wehrt man sich auch nicht gegen eine solche Diskriminierung des Menschseins und man würde sich irren, anzunehmen, daß der Mensch unter dem Ersatz seiner personellen Verantwortung durch vorgeplante Funktionen und geebnete Bahnen, denen er nur entlang zu schreiten hätte, sonderlich leiden würde (Freyer, 1961 und 1955). Damit bleibt eine ganz wesentliche Frage über die zukünftigen Aufgaben der Sozialpolitik eigentlich unerörtert, die Frage nämlich, was es für den Menschen auf Dauer überhaupt bedeutet, in wesentlichen Bereichen seines Lebens "entlastet" zu sein und immer weiter "entlastet" zu werden. Den "Untertan" im politischen Leben akzeptiert die moderne Gesellschaft nicht mehr. Sie hat den Menschen zum "Souverän" gemacht, der mit seiner Stimme die politische Geschichte eines Landes bestimmt. Genau diese Fähigkeit spricht unser Sozialsystem ihm ab, wenn es um seine persönlichen Geschicke geht. Es ist bezeichnend, daß man erst dann, wenn die Umverteilung, die notwendigerweise mit der Ausweitung von Sozialtransfers verbunden ist, immer mehr als Last empfunden wird, und sich die zusätzlich Belasteten wehren und damit die zukünftige Finanzierbarkeit sozialer Sicherungssysteme immer öfter in Frage gestellt wird, anfangt, an eine Umkehr zu denken und dem einzelnen mehr Selbstverantwortung einräumen möchte. Die jetzige schwierige wirtschaftliche Situation, die in unserem Land bereits erreichte hohe Belastung mit Steuern und Abgaben und die hohe Verschuldung der öffentlichen Hände ist ein guter Nährboden für solche Forderungen nach mehr Selbstverantwortung. Daß hinter diesen Forderungen weniger neue Einsichten hinsichtlich der Selbstverantwortung des Menschen und dessen Rolle in der Gesellschaft stehen, sondern handfeste Finanzierungsprobleme, ist oben schon einmal deutlich geworden. Hier liegt aber auch eine Gefahr. Denn wenn es nicht die Einsicht in die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuorientierung ist, die den Weg zu einer Neuorientierung der praktischen Sozialpolitik ebnet, sondern lediglich finanzielle Zwänge sind, dann wird die nötige Reform nur darauf gerichtet sein, finanzielle Entlastungen zu finden. Werden diese Entlastungen dann nicht dort gefunden, wo sie politisch am leichtesten durchgesetzt werden können und wird das zufallig auch der Platz sein, wo sie auch ordnungspolitisch geboten sind? Hier wird die Kehrseite der Expansion des Sozialstaats deutlich, die in der Literatur schon mit einer Revolution der Ansprüche bezeichnet worden ist (Spie-
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ker, 1986). Dabei geht es nicht so sehr nur um die Ausweitung der materiell zu befriedigenden Ansprüche, sondern vielmehr um die "zunehmende Verwandlung individueller Erwartungen in Rechtsansprüche auf Lebenschancen, deren Einlösung nicht an die eigene Leistung, sondern an sozialstaatliche Maßnahmen und Verhältnisse gebunden wird" (Spieker, 1986). Christi an von Ferber spricht von einer "Überführung der Ansprüche und Leistungen in ein Rechtssystem" (F erber, 1976). Wie sehr dieses Anspruchsdenken auch durch die Öffentlichkeitsarbeit der Regierungen gefördert werden kann, zeigt sich exemplarisch an den offiziellen Verlautbarungen der Regierung zur Rentenreform 1972. So wurde im Dezember 1973 vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung mitgeteilt (Rentenreform 72/73; Winterstein, 1980), daß in den Rentenversicherungen der Arbeiter und Angestellten bis Ende 1986 eine Vermögensrücklage von 221 Mrd. DM angesammelt würde und nach Abzug der Mindestrücklage ein Überschuß von 188 Mrd. DM verbleibt. Dieser erwartete Überschuß wurde gleichsam im Vorgriff mit der Rentenreform 1972 verteilt. Der "finanzielle Nutzen", der sich daraus für die Rentenbezieher ergeben würde, wurde im gleichen Papier (S. 46) bis zum Jahr 1986 mit 186 Mrd. DM und bis zum Jahr 1987 mit 209 Mrd. DM ausgewiesen. Seit Jahren wissen wir, daß mit dieser Rentenreform die Weichen falsch gestellt wurden, und daß bis jetzt schon viele Korrekturen nötig wurden, um die Finanzierung der GRV zu sichern. Trifft diese Zustandsbeschreibung zu, dann ist es zur Steuerung der Finanzierbarkeit unseres sozialen Sicherungssystems aber nicht mehr nur damit getan, Leistungen nach politischer Opportunität zu kürzen, um Einsparungen zu erzielen. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Frage, in welchen Bereichen Menschen in der Lage sind, Selbstverantwortung zu übernehmen. Dies muß auch für die Bereiche gelten, in denen heute die Soziale Sicherung diese Aufgabe übernimmt und es ist darüber hinaus zu prüfen, welchen Einkommensschichten eine solche Übernahme von Selbstverantwortung zuzumuten ist. Da in der öffentlichen Diskussion, wenn es um die Wahrnehmung sozialpolitischer Belange geht, ganz offensichtlich die politische Argumentation das Feld beherrscht, kann es nicht verwundern, daß auch Wissenschaftler - wenn auch nicht im engeren Sinn Vertreter der Sozialpolitik-Wissenschaft - die Meinung vertreten, im Bereich des Sozialen sei ein Theoriedefizit auszumachen. Zwar haben Lampert und Bossert gegen diese Äußerung dezitiert Stellung bezogen und den Nachweis geführt, daß die Sozialpolitik-Wissenschaft über eine ausgeformte Theorie verfügt (Gutowski / Merk/ein, 1985; Lampert / Bossert, 1987). An den Tatbestand, daß in der öffentlichen Meinung die Sozialpolitik-Praxis im Mittelpunkt steht und eine nach Ansicht der Kritiker verfehlte Politik der Sozialpolitik-Wissenschaft zugeordnet wird, ist wohl schwer etwas zu ändern, solange die Sozialpolitik-Wissenschaft - wie oben ausgeführt - so wenig Einfluß auf die praktische Sozialpolitik hat. Ob sich daran in der Zukunft etwas ändern läßt,
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ist fraglich, denn nach wie vor ist die Sozialpolitik das Feld, auf dem in der innenpolitischen Auseinandersetzung Punkte gesammelt und wichtige Voraussetzungen für Wahlsiege geschaffen werden können. Für die politische Auseinandersetzung sind hier subtile wissenschaftliche Überlegungen eher hinderlich; hier wird nicht mit dem Florett wissenschaftlicher Argumentation, sondern mit dem schweren Säbel der politischen Auseinandersetzung gekämpft. Die Sozialpolitik-Wissenschaft sollte und darf sich aber nicht so einfach damit abfinden, daß die sozialpolitische Diskussion, soweit sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, weitgehend nur von interessengebundenen Stellungnahmen von Parteien und Verbänden beherrscht wird und die ohne Zweifel vorhandenen wissenschaftlichen Argumente im wesentlichen nur im Kreis der Vertreter der Sozialpolitik-Wissenschaft ausgetauscht werden. Schon ihres Selbstverständnisses wegen kann sich die Sozialpolitik-Wissenschaft nicht damit abfinden, daß sie so wenig Einfluß auf die sozialpolitische Praxis hat. Notfalls hat sie auch die Aufgabe, zu Fehlentwicklungen Stellung zu nehmen, wie das ja auch bei der wirtschaftspolitischen Beratung (z.B. s. die Gutachten des Sachverständigenrates und der Wirtschaftsforschungsinstitute) die Regel ist. Dieser oben zitierte Vorwurf gegen die Sozialpolitik-Wissenschaft geht aber auch noch aus einem ganz anderen Grund ins Leere. Die Vorwürfe gegen die Sozialpolitik ganz allgemein gehen ja heute vor allem von der Sorge aus, die Sozialpolitik-Praxis hätte den Bogen überspannt und würde auf die Dauer das System der sozialen Marktwirtschaft insgesamt in ihrer Funktionstüchtigkeit gefahrden. Das soziale Sicherungssystem scheint vielen in der Zukunft nicht mehr finanzierbar zu sein und das gilt vor allem für die Gesetzliche Krankenversicherung und Gesetzliche Rentenversicherung. Der Kündigungsschutz diene nach dieser Ansicht vor allem der Sicherung der Inhaber von Arbeitsplätzen und verhindere NeueinsteIlungen. Die Arbeitszeitregelungen seien zu unflexibel, außerdem würde zu kurz gearbeitet und das alles zusammen gefährdet auf die Dauer den Wirtschaftsstandort Deutschland. Außerdem sei der Abstand zwischen Sozialtransferleistungen (z.B. Sozialhilfe) zum Arbeitseinkommen zu gering und verringere dadurch die Motivation, Arbeit überhaupt zu übernehmen. Diese kritisierten Tatbestände - wenn sie denn zutreffen, worüber hier nicht gehandelt werden soll- sind aber Folgen von politischen Entscheidungen, die von parteitaktischen Überlegungen bestimmt werden. Diese Entscheidungen sind wiederum getragen von den ideologisch bestimmten Menschenbildern (Kleinhenz, 1993), welche ihrerseits wieder die Politik der Parteien bestimmen. Die SozialpolitikWissenschaft kann ja, wenn sie wertfrei bleiben und nicht die Ziele der Politik bestimmen will, immer nur die Mittel und Wege aufzeichnen, die zu den Zielen der Politik führen. Die Ratschläge, die die Sozialpolitik-Wissenschaft gibt, kann die Politik beeinflussen, muß sie aber nicht, denn die Politik bestimmt immer noch selbst, ob sie die vorgeschlagenen Mittel einsetzen oder die Wege beschreiten will, die die Sozialpolitik-Wissenschaft als zweckgerecht vorschlägt. Eine
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Kritik an der Sozialpolitik-Wissenschaft kann aus diesem Grund gar nicht den Umfang oder die Ausrichtung dieser Politik meinen, sondern bestenfalls nur auf eine nicht ausreichend erfolgreiche Politikberatung gerichtet sein. Es genügt ja nicht, daß die Sozialpolitik-Wissenschaft eine ausreichend tragfähige Theorie entwickelt, die eine Politikberatung möglich macht. Eine Politikberatung muß ja auch von der Politik gefragt sein und in die Tat umgesetzt werden. Das gilt auch, wenn die Wissenschaft kritisch zu sozialen Tatbeständen Stellung nimmt und Änderungen anmahnt. Sonst hat sie nur Feigenblatt-Funktion. Eine solche hier zu fordernde ausreichende Politikberatung benötigt ein Fundament. Ein solches Fundament kann aber nur dann gefunden werden, wenn die Rolle des "Sozialen" im Gesamtsystem ausreichend definiert wird und in das Ordnungsgefüge der Gesellschaft widerspruchsfrei eingepaßt ist. Daß dies ganz offensichtlich nicht in einem ausreichenden Maße gelungen ist, betont Lampert erst jüngst wieder (Lampert, 1989). Bei der Überprüfung der neueren Literatur zur Wirtschaftssystem- und Wirtschaftsordnungstheorie stellt er fest, daß -
"die Sozialordnung als Ordnungsbereich mit eigenständiger Bedeutung nicht oder nur am Rande behandelt wird; die Interdependenz zwischen Wirtschaftsordnung und Sozialordnung nicht zum Forschungsgegenstand gemacht worden ist und die Sozialordnung überwiegend als Teilordnung der Wirtschaftsordnung, nicht als besondere Teilordnung der Gesellschaftsordnung angesehen wird, die auf derselben Ebene ansiedeln wie die Wirtschaftsordnung."
Erschwert wird die notwendige und geforderte ordnungspolitische Einbindung des Sozialen in ein gesellschaftliches Gesamtsystem durch eine sehr subtile Beziehung zwischen wirtschaftlicher und sozialpolitischer Zielverfolgung. Niemand kann ja den Tatbestand leugnen, daß erst der wirtschaftliche Erfolg die Mittel bereitstellt, um die sozialpolitische Praxis mit dem Notwendigen zur Zielerreichung auszustatten. Da ja gerade die Beschränktheit der Mittel sowie die geringe wirtschaftliche Produktivität, kennzeichnend für die Zeit waren, in der die Anfänge der modemen Sozialpolitik lagen, ist es nicht verwunderlich, daß gerade dieser Gesichtspunkt, nämlich daß die Ökonomie die Grundlagen für die Arbeiten der Sozialpolitik liefert, immer wieder thematisiert und in den Vordergrund gerückt worden ist. Schon für Adolph Wagner war die enge Verbindung von Wirtschaft und Sozialpolitik unverkennbar (Wagner, 1891) und eine Vielzahl von Vertretern der Sozialpolitik-Wissenschaft haben diesen Gesichtspunkt bis in die heutige Zeit hinein (Liefmann-Keil, 1961) immer wieder in den Vordergrund gerückt (Winterstein, 1969). Diese enge Beziehung zwischen dem wirtschaftlichen Erfolg, der einerseits zum Teil sozialpolitische Leistungen entbehrlich macht (z.B. Sozialtransfers) und über den andererseits erst die Mittel für die sozialpolitische Zielerreichung bereitgestellt werden können, wird in der sozialpolitischen Wissenschaft, wie oben schon betont, immer wieder gesehen (Mackenroth, 1957 und viele andere - siehe Winterstein, 1969).
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Diese enge Zuordnung von wirtschaftspolitischem Erfolg und Sozialpolitik gilt aber nicht nur für die Mittelbereitstellung im Bereich der Ablaufpolitik, auch für die Ordnungspolitik läßt sich diese enge Zuordnung von Wirtschaft und Sozialpolitik nachweisen. So ist z.B. für Walter Eucken eine richtig verstandene Sozialpolitik "identisch mit der Politik zur Ordnung der Wirtschaft oder der Wirtschaftsverfassungspolitik" . Sie muß deshalb im Sinne der ordnungspolitischen Gesamtentscheidung gestaltet werden, will sie Erfolg haben und nicht die übliche Ordnungspolitik durchkreuzen (Eucken, 1952). Da nach Eucken alle ordnungspolitischen Maßnahmen - also auch die sozialpolitischen - in die eine Frage nach ihrer Wirkung auf die Leistungsfähigkeit des Produktionsapparates münden und weil nur verteilt werden kann, was vorher produziert wurde, müßte die erste Frage der Sozialreform immer "auf die Wirtschaftsordnung mit dem höchsten wirtschaftlichen Wirkungsgrad gerichtet sein" (Eucken, 1952). Trotz dieser ganz sicher nicht zu leugnenden großen Bedeutung des Ökonomischen kann das Ökonomische für die Sozialpolitik nicht den endgültigen Maßstab liefern, sondern einen nur vorläufigen. Der wirtschaftliche Erfolg ist im menschlichen Handeln nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Er ist ein wichtiges Mittel zur Gestaltung eines menschenwürdigen Daseins, und zu diesem menschenwürdigen Dasein gehört mehr als nur die materielle Grundlage, die das Ökonomische liefert. Um dieses ordnungspolitische Defizit zu beseitigen, reicht auch das in den sozialpolitischen Lehrbüchern zur Kennzeichnung der Aufgaben der Sozialpolitik weit verbreitete Lebenslagen-Konzept nicht aus. Das Konzept geht auf Gerhard Weisser zurück und es ist von Rudolf Möller sehr eingehend interpretiert und in seinen verschiedenen Perspektiven dargestellt worden (Möller, 1978). Die Aufgabe der Sozialpolitik sei dann, die Lebenslagen sozial schwacher Schichten zu verbessern (Weisser, 1956). In dem System der sozialen Marktwirtschaft wird ja dem einzelnen nur ein Ordnungsrahmen vorgegeben, in dem sich seine Kräfte frei entfalten können sollen. Diese Freiheit, die Möglichkeit zum selbstverantwortlichen Handeln, ist ja der entscheidende Vorteil gegenüber jedem Zwangssystem. Daß diese Handlungsfreiheit gleichzeitig Garant für Wohlstandsmehrung ist, hat die jüngste Geschichte überzeugend vorgeführt. Nur in wenigen Bereichen, vor allem beim Versagen marktwirtschaftlicher Steuerung, ist eine Intervention nötig. Auch wenn es dem einzelnen nicht möglich ist, am volkswirtschaftlichen Leistungsprozeß teilzunehmen, um so eigenverantwortlich die Einkommen zu erzielen, gilt dies. Soweit also der Produktionsprozeß (die funktionale Verteilung) sozial nicht akzeptable Ergebnisse liefert, sind diese, ausgehend von der leitenden Norm der Sozialpolitik, zu korrigieren. Im weiten Feld der Sozialpolitik-Praxis scheint es aber geradezu umgekehrt zu sein. Mit dem Argument sozialer Schwäche sind fast alle Bürger unseres Landes in das Geflecht sozialer Umverteilung zwangsweise (System der Sozialen Sicherung) eingebunden und damit weitgehend ihrer 4 Festschrift Lampen
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Entscheidungs- und Handlungsfreiheit enthoben, ohne daß die Frage eingehend geprüft wird, ob eigenverantwortliches Handeln nicht den staatlichen Zwang ersetzen könnte. Zur Begründung reicht es offensichtlich aus, auf die sozialen Schwächen der einzelnen und auf die Inkonsistenz der Zeitpräferenz hinzuweisen (Schlatter, 1993). Schon beim ersten Zusehen fällt es schwer, diesen Argumenten zu folgen. Wird mit sozialer Schwäche die Lebenslage der Menschen gemeint, die an der unteren Einkommensgrenze angesiedelt sind, hätte man weniger Mühe damit. Auch wenn das Lebenslagenkonzept mit dem Hinweis auf die soziale Schwäche der Arbeitnehmer im vergangenen Jahrhundert angewendet wird, gilt das gleiche. Mit dem zunehmenden Wohlstand der breiten Schichten der Bevölkerung, dem Verschwinden des Industrieproletariats, der Verbürgerlichung der Massen Ursache für die abnehmende Bedeutung des Klassenbegriffs - wird das Konzept der sozialen Schwäche immer erklärungsbedürftiger. So schreibt z. B. Reigrotzki, daß die Kategorie der sozialen Klasse zur Kennzeichnung der heutigen gesellschaftlichen Situation immer unergiebiger geworden ist, sie ist theoretische Hilfsgröße (Reigrotzki, 1956). Geht man z.B. von der Versicherungspflichtgrenze in der Sozialversicherung aus und sieht man insgesamt den Umfang der vom sozialen Sicherungs system Umschlossenen, dann scheinen fast alle Bürger unseres Landes, das zu den reichsten Ländern der Welt gerechnet wird, Merkmale sozialer Schwäche aufzuweisen. Demnach ist z.B. ein junges Ehepaar, beide knapp unter DM 5.700,- (Versicherungspflichtgrenze in der GKV ab 1. 1. 1994) verdienend, also über ein Haushaltseinkommen von knapp DM 11.400,- verfügend, selbst nicht in der Lage, sich ausreichend gegen Krankheit zu versichern. Es ist bei einem Haushaltseinkommen von knapp DM 15.200,- sozial so schwach, daß es sich nicht selbständig und ausreichend für das Alter versichern kann. Bei der knappschaftlichen Versicherung läge hier die Grenze sogar bei DM 18.400,-. Das ist ganz sicher nicht einfach und für jeden nachzuvollziehen. Ja aus der Zunahme der Sozialleistungen und der jährlichen Anhebung der Versicherungspflichtgrenze müssen wir schließen, daß in einem Land mit beispielhafter Steigerung des Wohlstands auch für breite Schichten (Wirtschaftswunder) nach dem Zweiten Weltkrieg die soziale Schwäche immer mehr zugenommen hat, wenn die soziale Schwäche Anlaß für sozialpolitische Aktivitäten war. Da diese Argumentation ja wohl so nicht haltbar ist, sucht man andere Begründungen für die Expansion der Sozialleistungen. So kann z. B. bei der GKV die Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze als Versuch gedeutet werden, die Verdiener höherer Einkommen mit in die Versicherungsgemeinschaft zu nehmen, um so (über höhere Beiträge bei gleichen Leistungen) die Finanzierung der GKV besser zu ermöglichen. Man beschwört damit die Solidarität zwischen den Mitgliedern einer Versicherungsgemeinschaft, die aber erkennbar mit dem Wachsen der Solidargemeinschaft immer brüchiger geworden ist (moral hazard) und heute kaum mehr als tauglicher Ausgangspunkt für soziale Umverteilung angesehen werden kann.
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Hier wird deutlich, daß· die Definition der sozialen Schwäche wieder nur ausgehend von Werturteilen und von einem Menschenbild definiert werden kann. Auch hier bestimmt letztlich die Politik Richtung und Ausmaß des Einbindens des einzelnen in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und damit auch das Ausmaß kollektiver Daseinsvorsorge, unabhängig von der Fähigkeit des einzelnen zum selbstverantwortlichen Handeln. Nur darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß Organisationen und Parteien auch eigenständige Interessen verfolgen, und das gilt auch bei der Definition ihrer Ziele und Aufgaben. Es ist ein wichtiges Verdienst der Organisationstheorie, gezeigt zu haben, daß Organisationen neben der Zweckorientierung ihres Handeins sich auch an recht eigenständigen Zielen (z.B. die Sicherung des Systembestandes) orientieren (Luhmann, 1964). Es ist deshalb auch zu fragen, in welchem Umfang die Interpretation der sozialen Schwäche und im Falle der Bundesrepublik Deutschland die daraus abgeleitete Expansion sozialpolitischer Eingriffe auch im Interesse der Träger dieser Politik liegen könne (Stimmenmaximierungspolitik). Bei dieser Frage ist in die Überlegung einzubeziehen, daß der sozial Versorgte immer auch von seinen Versorgern abhängig ist. Das gilt selbst dann, wenn seine Ansprüche durch Beitragszahlungen wohl erworben wurden. Wir erleben jetzt, daß die Beitragszahlung kein Hinderungsgrund dafür ist, Ansprüche zu kürzen (z. B. Arbeitslosenversicherung). Auch besteht die Gefahr, daß bei zukünftigen Finanzierungsschwierigkeiten in der GKV und GRV, der Tatbestand, daß die Ansprüche durch Beitragszahlung erworben worden sind, nicht vor Einschnitten in das Leistungsnetz schützen. Es wird dann von der Rechtsprechung abhängen, wie weit eine "solche Umverteilung" rechtens ist und praktiziert werden kann. Bei der Finanzierung der Wiedervereinigung erfolgt ja schon jetzt eine solche Umverteilung mit dem Hinweis auf die Solidarität mit den Bürgern der neuen Bundesländer. Auch der in der Vergangenheit praktizierte Finanzverbund, eher bekannt als Verschiebebahnhof (Winterstein, 1985), deutet in die gleiche Richtung. Daß dabei aber auch noch andere Umverteilungsziele anvisiert werden, ist ein weiterer Gesichtspunkt (soziale Umverteilung von r~ich nach arm, Familienlastenausgleich). Ob diese Umverteilung auch immer ihr Ziel erreicht oder ob sie z. B. nicht zweckmäßigerweise in einer anderen Form bewerkstelligt werden soll, kann hier offenbleiben. Auch die Frage nach Voraussetzungen einer gelungenen sozialen Umverteilung, nämlich die Frage nach einer ausreichenden Solidarität innerhalb der Gefahrengemeinschaft, kann hier nicht erörtert werden. Damit wird deutlich, daß man auch jetzt zur Lösung sozialpolitischer Probleme nicht durch die Verwirklichung einer neuen oder neu definierten Ordnungsidee findet, sondern daß man die anstehenden Probleme nur wieder als Finanzierungsprobleme erkennt und sie auch so lösen will. Das grundsätzliche Problem. nämlich die zweckgerechte Einbindung des Sozialsystems in einen Ordnungsentwurf, denja eine soziale Marktwirtschaft haben müßte, wird wieder nicht gesehen. Von diesem Ordnungsentwurf ausgehend ist die Rolle zu bestimmen, die der einzelne in diesem System selbstverantwortlich übernehmen kann und welche 4·
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Aufgaben ihn überfordern und deshalb in der Fonn der kollektiven Daseinsvorsorge in diesem System bereitgestellt werden müssen. Es ist erstaunlich, daß in einer Welt, in der immer wieder und für alle Lebensbereiche Emanzipation gefordert wird, gerade im Bereich der Sozialpolitik diese Emanzipation verweigert wird und der einzelne immer stärker in ein Sozialsystem eingebunden wird, das pennanent seine Selbstbestimmung mindert. Bleibt das eigentliche Problem der Sozialpolitik unerkannt, so wird die Lösung der unausweichlichen und unaufschiebbaren finanziellen Probleme wieder unter dem Gesichtspunkt der politischen Durchsetzbarkeit und der Schonung der eigenen Klientel von der Politik angegangen werden. Warum sollte es keine Aufgabe der Sozialpolitik sein mitzuhelfen, den einzelnen auf einen Weg selbstverantwortlichen Handeins zu bringen. Das bedeutet, ihn zu emanzipieren auch von einem System, das ihm übergestülpt wurde und das ihn seiner Handlungsmöglichkeiten beraubt, offensichtlich mehr als dies zu seiner zweckgerechten Daseinsvorsorge nötig ist. Wenn schon die Sozialpolitik-Praxis dieses Problem nicht erkennt und angeht, so bleibt es doch eine Aufgabe der Sozialpolitik-Wissenschaft, sich dieses Problems anzunehmen, ebenso wie es eine Hoffnung bleibt, daß sich wissenschaftliche Einsicht auf Dauer doch einmal in der Politik durchsetzen wird.
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B. Soziale Gestaltung der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft
Gesellschaft mit beschränkter Haftung Privater Reichtum, öffentliche Armut Von Reinhard Blum Die folgenden Überlegungen sind gedacht als Beitrag zu den Bemühungen des Jubilars, dem Vorwurf zu begegnen, es gebe keine Theorie des Sozialen als Fundierung der Sozialen Marktwirtschaft (Lampert/Bossert, 1987). Deshalb sei das Adjektiv "sozial" ein "Geburtsfehler" dieser Konzeption. In diesem Denken verbindet sich Individualismus und Liberalismus mit Marktwirtschaft zu dem Leitbild einer Gesellschaft der individuellen Bereicherung. Sie wird durch Wettbewerb auf Märkten kontrolliert (Marktgesellschaft). Politische Steuerung hat über materielle Ameize für die Marktteilnehmer zu erfolgen (Ameizwirtschaft). In der Theorie kontrolliert der Wettbewerb und das Risiko für das Privateigentum sowie die Haftung für individuelle Entscheidungen mit dem gesamten Vermögen die durch das Streben nach individuellen materiellen Vorteilen gelenkten Prozesse. In Wirklichkeit aber ist das Gewinnstreben weitgehend als "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" organisiert - häufig noch getrennt in Immobiliengesellschaft und Gesellschaft für die laufenden, risikoreicheren Geschäfte. Die Ergebnisse dieses Entwicklungsprozesses beschreibt ein halbamtliches bayerisches Presseorgan (Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger, Die Wochenzeitung für Politik, Kultur und Wirtschaft, München, 5.3.1993, S. 6 unter dem Titel "CSU: Unis und Straßen mit Privatgeld bauen"): "In Bayern sollen künftig Krankenhäuser und Kindergärten, Straßen und Kläranlagen, Mülldeponien und Universitäten auch mit privatem Kapital gebaut werden. Bei der Ebbe in den öffentlichen Kassen könne der Lebensstandard der Gesellschaft nicht anders gesichert werden ... Privates Kapital dagegen ist fast unbegrenzt vorhanden." Daraus ließe sich aber auch folgern, daß die durch die leeren Staatskassen signalisierte öffentliche Armut auf falscher oder zu einseitiger Weichenstellung zugunsten des privaten Reichtums in Gestalt des "fast unbegrenzt vorhandenen privaten Kapitals" beruht. Auf dieses Problem machte bereits J. K. Galbraith 1958 aufmerksam. Es soll im folgenden am Problem der Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft (Teil I), der Arbeitslosigkeit (Teil 11), des technischen Fortschritts als Arbeitsplatzvernichter bzw. Jobkiller (Teil III) und dem Freihandel als marktwirtschaftliche Strategie für die Weltwirtschaft (Teil IV) beleuchtet werden.
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I. Die soziale und volkswirtschaftliche Blindheit marktwirtschaftlicher Prinzipien und ihrer Verfechter "Wenn es um Effizienz geht, entscheide ich blind für die Marktwirtschaft", so faßte ein ökonomischer Experte seinen Maßstab für die Beurteilung der staatlichen Leistungen zusammen. Daraus folgt ein Unwert-Urteil über die Politik, zumindest soweit sie nicht der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien dient. Wer jedoch blind für Marktwirtschaft entscheidet, ist auch blind gegenüber der Sozialen Marktwirtschaft und den Erfordernissen wechselnder wirtschaftlicher und politischer Situationen. Deshalb betont die Soziale Marktwirtschaft den Pragmatismus politischer Entscheidungen und verweist auf den instrumentalen Charakter der Marktwirtschaft (Blum, 1980). Er verlangt auch Rahmenbedingungen, die die Marktprozesse mit den sozialen und gesellschaftlichen Werten und Normen sowie den volkswirtschaftlichen Erwartungen der Gesellschaft in Einklang bringen (Lampert, 1990). Damit bestimmt nicht nur der Markt die wirtschaftliche Entwickung, sondern auch die politische Lenkung. Alfred MüllerArmack, der geistige Vater der Sozialen Marktwirtschaft, nennt sie deshalb eine "sozial gesteuerte Marktwirtschaft". Das verlangt, dem Markt nicht blind zu vertrauen. Der demokratisch verfaßte modeme Staat erhält so wieder eine anerkannte Rolle in der Marktwirtschaft. Die modeme Wissenschaftstheorie spricht bei einem solchen Wechsel der Blickrichtung wissenschaftlicher Analyse von Paradigmen wechsel. Genau das aber löst bei denen, die blind für Marktwirtschaft entscheiden, immer wieder ordnungspolitische Bedenken aus, wenn soziale Steuerung gefordert ist. Das Unwohlsein mit der Entwicklung von der freien Marktwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft, der Verwischung der ordnungstheoretischen Grenzen zwischen den reinen Ordnungen Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, kommt im politischen und wirtschaftlichen Alltag und in der Theorie der Wirtschaftspolitik immer wieder darin zum Ausdruck, daß Soziale Marktwirtschaft vermieden und von "unserer freien Marktwirtschaft", einfach von Marktwirtschaft oder bei ganz vorsichtigen Diskussionsteilnehmern von "freier sozialer Marktwirtschaft" gesprochen wird. Nach dem festgestellten Tod des Sozialismus kommt es offenbar noch mehr darauf an, die Fahne der Idee einer freien Marktwirtschaft hochzuhalten. Vor Weihnachten 1991 eröffnete die "Neue Zürcher Zeitung" (22./23.12.1991) eine Diskussion unter dem M~tto "Weniger bekannte Wurzeln der Marktfeindlichkeit" mit einem Beitrag "Wozu noch Marx? Bentham und Mill genügen". Der Untertitel lautet "Schleichende Ausbreitung des Sozialismus in neuen Formen". Der Autor geht darin, wie es im Vorspann heißt, den Spuren sozialistischer Gedanken in den verschiedenen Modellen des Marktsozialismus oder der Sozialen Marktwirtschaft nach. In der Einleitung zum letzten Beitrag in der Reihe "Kann Marktkonformität die Effizienz bewahren?" (Neue Zürcher Zeitung vom 4./5.4.1992)
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heißt es deutlicher: ,,Ein konsequenter Theoretiker einer liberalen Gesellschaftsordnung" warnte "vor der schleichenden Ausbreitung des Sozialismus unter dem Deckmantel der Sozialen Marktwirtschaft". Der letzte Beitrag stellt noch einmal fest, daß nur die "adjektivlose Marktwirtschaft" gemäß der Wirtschaftstheorie effizient ist. Daraus wird scharfsinnig gefolgert, daß somit die Soziale Marktwirtschaft nicht auch effizient sein kann, jedenfalls nicht im gleichen Ausmaß. Im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung im Zeichen der Marktwirtschaft entstanden rechtliche Formen wirtschaftlicher Organisation (juristische Personen), die die Haftung für wirtschaftliche Tätigkeit auf begrenzte Geschäftsanteile beschränkten. Neben den Aktiengesellschaften als Kapitalgesellschaften gewannen immer mehr auch die Personengesellschaften mit beschränkter Haftung, GmbHs, eine größere Bedeutung. Durch das Konkurs- und Vergleichsrecht wurde auch der Schuldturm für die gewerbliche Tätigkeit abgeschafft. Nur der nicht gewerblich tätige Bürger haftet für seine Schulden lebenslang - auch wenn gewerbliche Anbieter ihm leichtfertig Kreditangebote machten. Erst in den letzten Jahren wird in Deutschland ein Gesetzentwurf diskutiert, der den privaten Haushalt ähnlich von lebenslanger Verschuldung und Haftung befreit wie das Konkursund Vergleichsrecht für die gewerbliche Wirtschaft. Trotz der immer mehr eingeschränkten Haftung und der Konzentration wirtschaftlicher Aktivität in immer größeren Organisationen als juristische Personen (Großunternehmen, Konzerne, multinationale Unternehmen und weltweite Kooperationen) genießen die juristischen Personen Freiheitsrechte wie natürliche Personen. Erst relativ spät wurde die Gefahr für die marktwirtschaftliche Ordnung und die Freiheit in der Gesellschaft durch wirtschaftliche Macht erkannt. Ein als Gesellschaft mit beschränkter Haftung organisierter Unternehmer bzw. Kapitaleigentümer strebt - wenn er sich rational verhält - nur so viel (haftendes) Eigenkapital an wie die Banken oder die Gesetze verlangen. Erst in neu ster Zeit fordern sie - unabhängig von Umfang und Risiko der geschäftlichen Entscheidungen - 50.000 DM haftendes Kapital statt 20.000 DM. Wenn also die Bayerisehe Staatszeitung privates Kapital fast ohne Grenzen feststellt, dann befindet es sich nicht in den Unternehmen, sondern außerhalb. Der Wohlfahrtsstaat sowie das Erbrecht führten auch zu steigendem privaten Kapital in Arbeitnehmerhand - allerdings weit entfernt von der Zukunftsvision Ludwig Erhards. Sie versprach Eigentum für alle bzw. Volkskapitalismus. Sozialer Marktwirtschaft als "sozial gesteuerter Marktwirtschaft" gelingt es nicht, so weitreichende soziale Korrekturen der ,,real existierenden Marktwirtschaft" durchzusetzen. Durch den Paradigmenwechsel entstand zwar eine neue Verantwortung für Politik. Sie wurde jedoch - in der Sprache der Werbe- und Public-Relation-Manager - "marktwirtschaftlich besetzt", z.B. als Anreizwirtschaft. Während der Mißbrauch des sozialen Netzes und des Wohlfahrtsstaates durch den Faktor Arbeit zum Gegenstand marktwirtschaftlich begründeter Reformwünsche wurde, blieb der Mißbrauch des Wohlfahrtsstaats durch den Faktor
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Kapital weitgehend verborgen. Die Folgen sind öffentliche Armut und privater Reichtum, Arbeitslosigkeit angesichts privaten Kapitals "fast ohne Grenzen" und eine "Vollbeschäftigungspolitik", die mehr Arbeitsplätze durch mehr Lohnzurückhaltung und Einschnitte in die soziale Sicherheit verspricht. Das bedeutet mehr Arbeitsplätze durch noch bessere Gewinnmöglichkeiten für privates Kapital, auch durch Privatisierung der bisher öffentlichen Leistungen. Ein prominenter Berater für Unternehmen, Politiker und Regierungen brachte die Situation auf den folgenden kurzen Nenner: Was bisher privat produziert wurde, besitzen die Bürger in den reichen Industrieländern schon alles. Zukunftsmärkte liegen dagegen in dem notwendigen und bisher vernachlässigten "Kollektivkonsum". Die in der marktwirtschaftlichen Denkstruktur wesentliche Forderung nach "Entstaatlichung" entpuppt sich so als Vollbeschäftigungspolitik für das fast ohne Grenzen vorhandene private Kapital. Es sorgt trotz gleichzeitiger Krisenprognosen für einen spektakulären Boom auf den Aktienmärkten. Dem Arbeitsmarkt wird auch bei zukünftigem wirtschaftlichen Wachstum kein Boom vorausgesagt, sondern "arbeitsloses Wachstum" (jobless growth).
11. Arbeitslosigkeit und öffentliche Armut als faule Frucht überholter Denkstrukturen im alten marktwirtschaftlichen Gewand Das marktwirtschaftliehe Denkmuster führte inzwischen dazu, daß ein Manager seine Effizienz daran mißt, wieviel Arbeitsplätze er abbaute. Es ist eine Art "body count" - militärisch-angelsächsisch ausgedrückt - im modernen Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital. Die fast triumphierende Hinnahme dieses Ergebnisses und die Veröffentlichung immer neuer großzügiger Prognosen steigender Arbeitslosigkeit - gerade vor Weihnachten als Weihnachts- und Neujahrsbotschaft in den letzten Jahren - durch Vertreter der Spitzenverbände der Wirtschaft (3-4 Millionen Weihnachten 1992, 5-6 Millionen 1993) läßt die Frage entstehen, wann eine solche Öffentlichkeitsarbeit über die Massenmedien rational ist. Denn gleichzeitig galt und gilt ja auch, daß nur die neidische Opposition die Regierungsarbeit durch Erzeugung von Mißtrauen in die zukünftige Entwicklung begleitet. Wirtschaftskrise und eine technologische Revolution mit weiterem arbeitssparenden technischen Fortschritt gerade in dem Dienstleistungsbereich, der bisher als ,,Arbeitsmarktpuffer" betrachtet wurde, könnte als günstige Gelegenheit erscheinen, den Start in einen neuen Verteilungskampf zwischen Arbeit und Kapital, Individuum und Gesellschaft, Wirtschaft und Staat als Garant für das Gemeinwohl mit einer günstigeren als der vorhandenen Ausgangsbasis zu beginnen. Der notwendige - und durch das Management der Unternehmen nicht rechtzeitig beantwortete - Strukturwandel wird so aus dem ,,Ersparten" des Faktors Arbeit
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und des Staates bezahlt: Einbußen an Lohn und sozialer Sicherheit sowie Staatseinnahmen. Der Faktor Kapital fordert - trotz Kapitalüberfluß gemäß dem Zitat im Bayerischen Staatsanzeiger - mehr materielle Anreize und bessere Rahmenbedingungen, um Arbeitsplätze durch mehr Investitionen zu schaffen. Dahinter muß keine bewußte Strategie stecken. Viel einfacher könnte aus der Erfahrung mit Strukturveränderungen in Wirtschaft und Politik die Erklärung sein, daß Strukturerhaltung auch in Denkstrukturen zunächst den bequemsten Weg zu mehr Besitzstandswahrung darstellt. Am Beispiel der Arbeitslosigkeit läßt sich gut aufzeigen, wo ein Wandel in den Denkstrukturen ansetzen müßte. Dabei geht es nicht - um dem Verdacht der "Systemüberwindung" vorzubeugen - darum, marktwirtschaftliche Prinzipien über Bord zu werfen. Die marktwirtschaftlichen Denker machen es sich aber gerade nach dem Tod des Sozialismus - wie sie meinen - zu einfach bei der offensichtlichen Unterstellung, daß immer blind für mehr Markt entschieden werden müßte. Weil die historische Erfahrung lehrte, daß dies eine Sackgasse ist, mußte zuerst der Sozialismus, dann der soziale Liberalismus und schließlich die Soziale Marktwirtschaft erfunden werden. Es läßt sich kaum leugnen, daß dies durch den großen Anklang gefördert wurde, den kommunistische und sozialistische Ideen angesichts der "sozialen Frage" in der Bevölkerung fanden. Denn ihre Stimmen wurden mit zunehmender Demokratisierung immer wichtiger für die Beurteilung dafür, was dem eigenen und dem Gemeinwohl dient. Daraus entstand in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung der modeme Wohlfahrtsstaat als sozialer Rechtsstaat. Er änderte die Voraussetzungen für individuelle Freiheit in der Gesellschaft entscheidend. Freiheit ist nicht mehr in erster Linie Freiheit vom Staat, wie im Zeitalter des Feudalismus, in dem die marktwirtschaftlichen Ideen entstanden. Der demokratisch verfaßte Staat garantiert und schützt die individuelle Freiheit und vor allen Dingen auch die wirtschaftliche Freiheit, die Grundlage der Marktwirtschaft ist (Blum, 1992). Eigentum an Grund und Boden, Privateigentum allgemein, ist nicht mehr der entscheidende Hort der Freiheit, wie es Poeten im Mittelalter besangen und die Bürger im 18. und 19. Jahrhundert als Chance zur Befreiung von feudalen Herrschaftsansprüchen empfanden. Der Masse der Bevölkerung garantiert der Wohlfahrtsstaat durch soziale Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sowie soziale Gerechtigkeit die individuelle Freiheit. Aus der Dogmatisierung der historischen Bedingungen bei der Entstehung politischer Freiheit als Freiheit vom feudalistischen Staat und Freiheit durch privates Eigentum aufgrund eigener Leistung statt Privilegien des Feudalherrn entstand eine besondere Ausprägung des Liberalismus, die als Wirtschaftslibera!ismus gekennzeichnet wird und eng mit marktwirtschaftlichen Prinzipien verbunden ist. Um sie wird nur noch in Arbeitskämpfen, in Wahlkämpfen sowie der entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit gerungen - nach dem Motto: "Mehr Markt - weniger Staat", "Freiheit statt Sozialismus". Die KurzformeI, auf die sich die
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Ausgangspositionen des Wirtschaftsliberalismus und des Sozialismus in ihren modernen Versionen bringen lassen, ist Wohlstand durch Freiheit für die marktwirtschaftliche Perspektive (Giersch, 1961, S. 88 f.) und Freiheit durch Wohlstand für die sozialistische Perspektive. Es ist müßig jedoch, in der Praxis darüber zu diskutieren, was zuerst da sein muß. Die Soziale Marktwirtschaft bietet eine Mischung beider Perspektiven an, die sich pragmatisch der gegebenen Situation in Wirtschaft und Politik anpassen soll. Dabei gibt es bei Eingriffen des Staates die Regel der System- oder Marktkonformität. Der Pragmatismus verlangt aber auch hier wiederum weitreichende Ausnahmen. Wenn die Arbeitslosigkeit gemäß allgemeinem gesellschaftlichen Konsens als unerwünschte Frucht bisheriger Entwicklung betrachtet wird, so ist die Vermutung banal - jedoch Ausgangspunkt eines modernen strategischen Denkens in der Unternehmenspolitik - daß die Ursache in den bisherigen Strukturen und ihrer Ausfüllung durch Denkstruktur sowie freiem und individuellem und gesellschaftlichen Handeln gemäß gesellschaftlichem und individuellem Bewußtsein liegen muß. Da marktwirtschaftliche Prinzipien gegenwärtig die Hauptmaxime politischen Handeins bilden, muß die Analyse dieser Denkstrukturen und ihrer Folgen beim Ansatz für die Überwindung der Arbeitslosigkeit im Vordergrund stehen. Dabei bietet sich wiederum an, bei auffallenden Ergebnissen und Argumentationen zu beginnen, die mit volkswirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Werten und Normen sowie Erwartungen nicht übereinstimmen. Unterschiedliche soziale, moralische und ethische Anforderungen im marktwirtschaftlichen Denken, das die Wirtschaftstheorie beherrscht, gelten für die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie ihre Leistung im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Die kollektive Leistung der Gesellschaft, repräsentiert durch die Leistungen des Staates, wird dabei ignoriert bzw. gilt als "Störfaktor" marktwirtschaftlicher Prozesse. Das ist eine für die Praxis völlig unsinnige Unterstellung. Die Soziale Marktwirtschaft korrigierte dieses Denkgebäude, bleibt aber ohne entsprechende theoretische Fundierung durch die Wirtschaftswissenschaften. Der moderne, durch seine Bürger in demokratischen Prozessen geschaffene Staat wird deshalb von Arbeit und Kapital benutzt, um Leistungen zu erstellen, ohne daß die gesellschaftlichen bzw. volkswirtschaftlichen Kosten angemessen Berücksichtigung finden - als "fixe Kosten der Gesellschaft". Das Steuersystem ist auf Kompensation bzw. Korrektur von Fehlentwicklungen ausgerichtet. Gerade wenn man den Staat, die Gesellschaft als modernen Produktiosbetrieb betrachtet, würde kein Unternehmen Erträge an Arbeit und Kapital auszahlen, bevor nicht "die fixen Kosten" gedeckt sind. Das Kapital organisiert sich mehr und mehr - entgegen der marktwirtschaftlichen Rechtfertigung für individuelles Gewinnstreben in der persönlichen Haftung auch für Verluste und Schäden - in "juristischen Personen" mit eingeschränkter Haftung, entweder als Kapitalgesellschaften (Aktiengesellschaft) oder als Personengesellschaften (Gesellschaft mit beschränkter Haftung, GmbH). Wie der Begriff "juristische
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Person" schon andeutet, erhielten diese Organisationsfonnen Freiheitsrechte wie das Individuum, die natürliche Person. Außerdem wurde ein Konkurs- und Vergleichsrecht geschaffen, das den so zu gewinnträchtiger gewerblicher Tätigkeit organisierten Personen im Falle des Versagens bzw. des Mißerfolgs den lebenslangen Schuldtunn alten Rechts erspart. Diese durch das Recht geschaffenen neuen Strukturen machen bereits deutlich, daß die Einschränkung der Haftung zugunsten des Kapitals entweder dem Staat oder dem Faktor Arbeit - durch Arbeitslosigkeit - die entstehenden Verluste aufbürdet. Es sei denn, es gelänge dem Staat, ein Steuersystem zu schaffen, das diese Haftungsbeschränkungen nachträglich wieder durch Besteuerung des aus der Haftung geflohenen Kapitals wettmacht. Das jedoch behindert gerade die marktwirtschaftliche Denkstruktur. Dies gilt vor allen Dingen im Hinblick auf den Staat, der als Leistungsträger keine angemessene Berücksichtigung findet und sogar als störend empfunden wird. Wenn dieses Bewußtsein zum gesellschaftlichen Konsens wird, liegt hier eine wichtige Wurzel für privaten Reichtum und öffentliche Annut. Dann jedoch besteht die Gefahr, daß die "fixen Kosten" der Gesellschaft und insbesondere die der Haftungsbeschränkungen beim Produktionsfaktor Kapital voll zu Lasten des Faktors Arbeit gehen. Da der Mensch im Mittelpunkt stehen soll, auch in der marktwirtschaftlichen Ordnung bzw. gerade in ihr, scheint es gerechtfertigt, daß der Mensch, der in der Leistungsgesellschaft durch eigene Leistung sein Einkommen verdient, mit diesem Einkommen auch für die fixen Kosten der Gesellschaft herangezogen wird. Typisch dafür ist der aktuelle Streit um die Kompensation der Unternehmensbeiträge zur Pflegeversicherung als Sozialversicherung. Wenn der modeme Wohlfahrtsstaat somit als "Steuerstaat" zur Ablehnung des Staates im Wirtschaftsliberalismus dient, so ist die öffentlichkeitswirksame Herausstellung des steigenden Anteils am zusätzlichen Lohneinkommen, das als Steuern und Sozialabgaben an den Staat abzuliefern ist, ein zweischneidiges Schwert im Verteilungskampf zwischen Arbeit und Kapital. Die gegenwärtig in Umlauf gesetzten Berechnungen, daß 70 % des zusätzlichen Lohnes als Steuern und Sozialabgaben an den Staat fließen, sind gerade bei gleichzeitig sinkender Lohnquote d. h. Anteil der Löhne am gesamten Volkseinkommen, auch ein Hinweis darauf, daß - betriebswirtschaftlieh gesprochen - die Gemeinkosten der Gesellschaft den einzelnen Produktionsfaktoren nicht angemessen angelastet werden. Diese Situation belastet in der Volkswirtschft auch jene Unternehmen, deren Produktion arbeitsintensiv ist. Das trifft vor allen Dingen die wichtigste Säule marktwirtschaftlicher Ordnung, nämlich die kleinen und mittleren, mittelständisehen Unternehmen. Grobe Rechnungen aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die von den zuständigen Ministerien zur Untennauerung von Mittelstandspolitik veröffentlicht werden, weisen aus, daß die mittelständischen Unternehmer mit ca. 50 % am Volkseinkommen 66 % der Beschäftigten der Volkswirt-
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schaft mit einem dem Lebensstandard und der sozialen Sicherheit angemessenen Einkommen des Wohlfahrtsstaates versorgen müssen. Trotz dieser Benachteiligung durch das bisherige marktwirtschaftliche Denken sind die mittelständischen Unternehmen die wichtigste "Massenbasis" für die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien. Das zwingt wiederum den Staat, in wachsendem Umfange Mittelstandspolitik zu betreiben, d. h. die Nachteile falscher Zurechnung von Gemeinkosten der Gesellschaft zu kompensieren. Nicht selten dienen - wie typisch in der Landwirtschaft - die kleinen und mittleren Unternehmen und ihre wirtschaftliche Lage dazu, allgemeine Vergünstigungen politisch durchzusetzen. Das beliebteste Argument ist dann wiederum die Erhaltung von Arbeitsplätzen. Wirtschaftspolitik wird zur Arbeitsbeschaffungspolitik. Sie wiederum ist auf Anreize für das private Kapital gerichtet, zu investieren und dadurch Arbeitsplätze zu schaffen. Jeder, der mit offenen Augen durch die Wirklichkeit geht - und nicht blind nur die Marktwirtschaft sieht und ihre Prinzipien - wird insbesondere in den neuen Bundesländern, aber auch in allen Ländern der Welt, vor allen Dingen in den sogenannten Entwicklungsländern, in Hülle und Fülle Arbeit entdecken, die zu leisten ist. Warum muß es Aufgabe des Staates sein, Vollbeschäftigungspolitik zu betreiben? Wenn er dann zu solchen Maßnahmen greift, weil das Gewinninteresse des privaten Kapitals nicht ausreicht, einem arbeitsfähigen und arbeitswilligen Menschen Arbeit und Brot zu schaffen, dann gilt dies als Sozialismus bzw. in Erinnerung an die Lösungen nach der Weltwirtschaftskrise - nicht nur durch die Nationalsozialisten - als "Reichsarbeitsdienst" und als Verstoß gegen das Grundrecht auf individuelle Freiheit. Hier liegt eine wichtige Wurzel für den mangelnden Eifer und die mangelnde Energie, die wir einsetzen, um die volkswirtschaftliche Ressource Arbeit sinnvoll zu organisieren. Dagegen gilt es als besondere soziale Errungenschaft des Wohlfahrtsstaates, daß er Arbeitslosigkeit finanziert (Blum 1986 und 1988a). Dafür dürfte die öffentliche Kasse inzwischen ca. 150 Milliarden jährlich direkt aufwenden und das, wegen der genannten Prognosen, mit steigender Tendenz. Da die Arbeitslosigkeit in der modemen Wirtschaft vor allen Dingen durch technischen Fortschritt entsteht, der über den Faktor Kapital in der marktwirtschaftlichen Ordnung durchgesetzt wird, führt das marktwirtschaftliche Denkmuster zu paradoxen und unvernünftigen Schlußfolgerungen - sowohl was technischen Fortschritt als auch Ethik und Moral sowie die Vorschläge zur Lösung des Arbeitslosenproblems angeht.
III. Der technische Fortschritt als Arbeitsplatzvernichter (Jobkiller) Die ersten Zukunftsvisionen, die den technischen Fortschritt und seine Chancen für die Menschen erkannten, sehen in ihm einen Schlüssel zum verlorenen Paradies. Dabei sollte in Erinnerung gerufen werden, daß das Wort Paradies aus dem
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Arabischen kommt und einen der Wüste abgerungenen Garten meint. Die erste große Vision des Engländers Thomas Morus mit dem Titel "Niemandsland" (griechisch "Utopia") ging als neues Wort für Zukunftsvisionen in den Sprachschatz ein. In der ersten Phase technologischer Revolutionen wurde die physische Arbeit des Menschen durch Maschinen und Geräte ersetzt. In der jetzt schon erkennbaren neuen Phase technologischer Revolution, informationelle, digitale Revolution genannt, wird dem Menschen auch die geistige Arbeit erleichtert. Einige schnelle logische Denker schreiben diese technischen Möglichkeiten schon fort zur "künstlichen Intelligenz" - möglicherweise auch wegen der falschen Übersetzung des englischen Wortes "intelligence". Während frühere technische Revolutionen noch die Hoffnung ließen, daß freigesetzte menschliche Arbeit in den Bereichen der Dienstleistungen breite Beschäftigungsmöglichkeiten finden könnte, zeigen bereits die AnHinge der "informationellen Revolution", daß auch im Dienstleistungsbereich massiv Arbeitsplätze eingespart werden. So gingen Planungen der deutschen Großbanken durch die Presse, daß sie in den nächsten fünf Jahren etwa 20% ihrer Beschäftigten einsparen könnten. Der Vater der Sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, versprach bereits in den sechziger Jahren beim Übergang vom Wirtschaftsministerium zum Bundeskanzleramt den Bürgern und Wählern in naher Zukunft die 35Stunden-Woche. Dieser Hintergrund läßt die Begriffsbildung Arbeitsplatzvernichter im richtigen, gespenstischen Licht erscheinen. Welche Logik und Rationalität bzw. welche Aufhänger dieser Denkregeln sind dafür verantwortlich, daß die von den Menschen mit dem Traum vom Paradies gehegten Wünsche nach Muße (lateinisch - negotium, was alles meint, was nicht Geschäft ist) zu einer Bedrohung für die Menschen werden? Dem gesunden Menschenverstand drängt sich dabei die zweifelnde Frage auf, ob die beanspruchte Logik und Rationalität auch dumm sein kann. Eine Ursache dieser Dummheit ist sicherlich der Fehler, von Prinzipien und Lebensregeln aus der einzelwirtschaftlichen bzw. individuellen Erfahrung auf die gesamte Gesellschaft zu schließen. So hat sich, ohne Rücksicht auf die Prominenz, bei marktwirtschaftlichen Theoretikern und Praktikern die Vorstellung festgesetzt, die Gewerkschaften bzw. die Arbeitnehmer hätten selbst schuld an der Freisetzung von Arbeitskräften durch den technischen Fortschritt. Denn bei hohen Arbeitskosten werde der Faktor Kapital relativ billiger. Er ersetzt deshalb den Faktor Arbeit. Mit dem Einsatz neuen Kapitals aber wird neuer technischer Fortschritt durchgesetzt. So werden noch mehr Arbeitsplätze eingespart. Daraus folgt dann - ebenso logisch - , daß die Gesellschaft die Funktionsfähigkeit dieser so verstandenen Marktwirtschaft bei Vollbeschäftigung aufrechterhalten kann, wenn die Löhne gesenkt und weniger technischer Fortschritt erzwungen wird. Dann wäre man allerdings wieder beim Reichsarbeitsdienst der Nationalsozialisten. Die Parole "Schipp schipp hurra" bedeutete z. B., daß beim Autobahnbau zwischen München und Augsburg vor gut 50 Jahren die Anwen5 Festschrift Lampert
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dung von Maschinen und technischen Geräten verboten war, um möglichst viele Arbeitskräfte einzusetzen. Auch die Gewerkschaften ordnen sich in diese Logik ein, wenn sie als Antwort eine Maschinensteuer fordern. Das würde den Faktor Kapital relativ zum Faktor Arbeit verteuern und damit ebenfalls den Druck auf Durchsetzung des technischen Fbrtschritts mindern. Der technische Fortschritt und seine Folgen in den alten Denkstrukturen besitzen auch noch eine weitere volkswirtschaftliche Komponente. Neben der Drohung mit dem technischen Fortschritt als Arbeitsvernichter gibt es auch die Warnung vor den "menschenleeren Fabriken". Diese Prognostiker übersehen die List der marktwirtschaftlichen Idee, daß Produktion auch Nachfrage haben muß, um privatwirtschaftlieh rentabel betrieben werden zu können. Die Automaten in den menschenleeren Fabriken besitzen in dieser Hinsicht einen entscheidenden Nachteil: Sie konsumieren die Massenproduktion nicht, die sie erstellen. Wenn die aus den Fabriken ausgeschlossenen Menschen - und nach den Perspektiven der digitalen Revolution können auch die Büros hinzugenommen werden - nicht gleichzeitig auch Eigentümer der Automaten sind bzw. Eigentumsanteile an den Automaten besitzen (Volkskapitalismus), dann gilt das, was Marx bereits für den Kapitalismus prognostizierte: die Eigentümer des Kapitals müssen die mit seiner Hilfe erzeugten Produkte selbst konsumieren. Da es aber bei menschenleeren und immer größeren Fabriken immer weniger Menschen mit Einkommen aus eigener Arbeit gibt, würde die marktwirtschaftliche Logik sich auf diese Weise selbst zugrunde richten. Darin liegt die Weisheit - und hier muß wieder einmal Ludwig Erhard erwähnt werden - daß weitsichtige Marktwirtschaftler Eigentum für alle oder Volkskapitalismus als wichtige Voraussetzung für die marktwirtschaftliche Ordnung der Zukunft ansahen. Die gegenwärtig vorherrschende Diskussion über die Notwendigkeit der Exporte für die deutsche Wirtschaft, insbesondere für die Erhaltung der Arbeitsplätze und den "Wirtschaftsstandort Deutschland" verhindert, daß diese Schlüsselrolle des Volkskapitalismus einen zentralen Platz in den Zukunftsvisionen marktwirtschaftlicher Theoretiker einnimmt. Die Empfehlung, wegen der Gefahr menschenleerer Fabriken, bei Löhnen und sozialer Sicherheit, d. h. Arbeitskosten, zurückhaltend zu sein, um Arbeitsplätze zu erhalten, besitzt auch noch eine moralische Komponente. Dem Faktor Arbeit wird eine andere Moral bzw. auch eine andere soziale Verantwortung zugemutet als dem Faktor Kapital. Für letzteres gilt, daß die Gewinnaussichten verbessert und die Steuerlast gesenkt werden muß, um die Investitionslust zu mehren und Arbeitsplätze zu erhalten bzw. neue zu schaffen. Vom Faktor Arbeit wird dagegen erwartet, daß er - in Anerkennung volkswirtschaftlicher Zusammenhänge aus marktwirtschaftlicher Sicht - mehr arbeitet bei kleinerem Lohn bzw. geringer wachsendem Einkommen und gleichbleibender oder gar sinkender sozialer Sicherheit und, wie sich zeigte, höherer Steuerlast wegen des größeren Anteils an den fixen Kosten der Gesellschaft.
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Neben der Forderung nach längeren Arbeitszeiten ist die nach Wiedereinführung der Arbeit am Wochenende bzw. der Sonntagsarbeit am makabersten. Die göttliche Weisheit, wenigstens am siebten Tag nach getaner Arbeit zu ruhen, wird ausgerechnet durch den technischen Fortschritt in Frage gestellt, der dazu ausersehen sein könnte, die Zahl der Ruhetage zu erhöhen. Dabei kann der Ökonom sich nicht der Einsicht verschließen, daß flexibler über das Jahr verteilte Arbeitszeiten eine wichtige Maßnahme sein könnten, den technischen Fortschritt und seine Möglichkeiten zu mehr und individuell gestalteter Muße und Arbeit zu nutzen. Die hier kritisierte Unmoral der Argumentation bezieht sich lediglich darauf, daß ausgerechnet für Arbeit und Soziales zuständige Minister forsch argumentierten, daß Maschinen viel zu teuer seien, um am Wochenende still zu stehen. Entspräche es den postulierten Werten unserer Gesellschaft, dem ständigen Bekenntnis, daß der Mensch im Mittelpunkt auch in der Wirtschaft steht. nicht eher, die Frage zu stellen, ob dem Menschen seine Familie nicht zu lieb und teuer ist, um sie am Wochenende arbeiten zu lassen? Ganz abgesehen davon, ob sichergestellt ist, daß die zusätzlichen Erträge der geforderten Wochenendarbeit wirklich den Arbeitenden in angemessenem Umfange zufließen. Ihr Verzicht dient zunächst der besseren internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
IV. Exportorientierung und Freihandel als merkantilistische Altlast marktwirtschaftlichen Denkens Gerade die deutschen Ökonomen sollten aus der Ideengeschichte ihres Faches wissen, daß Freihandel eine bevorzugte Strategie der ökonomisch Stärkeren ist, ein Beharren auf dem Recht des Stärkeren. Dies ist in zivilisierten Ländern durch die Rechtsordnung nach Normen und Werten für Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit ersetzt worden. Gerade im internationalen Bereich, aber auch national, fehlt es an entsprechenden Rechtsnormen für die wirtschaftliche Tätigkeit. Der deutsche Ökonom Friedrich List nannte die Freihandelslehre seiner englischen Zeitgenossen "national". Sie entsprach den Interessen Englands, das den anderen europäischen Ländern um ein halbes Jahrhundert bei der industriellen Revolution voraus war. Um diesen Vorsprung auszugleichen, forderte Friedrich List für Deutschland einerseits die Beseitigung der Grenzen zwischen den vielen feudalen Kleinstaaten und andererseits einen vorübergehenden Schutz der deutschen Industrialisierung gegenüber der ausländischen d. h. englischen Konkurrenz. Es sind heute vor allen Dingen die Entwicklungsländer, die uns an diese historische Wahrheit erinnern. Folglich gab Friedrich List seinem Hauptwerk den Titel: "Das nationale System der politischen Ökonomie". Der Begriff Nationalökonomie für Volkswirtschaftslehre erinnert noch daran. Außerdem muß die Reduktion der Marktwirtschaft über die nationalen Grenzen hinaus auf den Freihandel, d. h. den freien Verkehr von Waren, überraschen. Denn wirtschaftliche Aktivität vollzieht sich ja auch z. B. über den Austausch 5*
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von Arbeit und Kapital. Die Vereinigten Staaten sind dafür ein überzeugendes Beispiel, aber auch Deutschland. Wenn der Reichtum eines Landes trotzdem vom Handel, vom Export, abhängig gemacht wird, so erinnert das an die merkantilistische Vorstellung, es diene dem Reichtum eines Feudalherrn am besten, wenn er aus Mangel an Gold- und Silberminen, dem damaligen internationalen Zahlungsmittel, die Produktion von Waren fördere, die Importe ersparen oder über Exporte entsprechende Erträge in internationaler Währung erbringen würde? Da in der deutschen wissenschaftlichen und politischen Diskussion an den Merkantilismus gerne nur dann erinnert wird, wenn der Staat sich anmaßt, Industriepolitik zu betreiben, besitzt es einen gewissen Reiz, auf die viel weitreichenderen Wurzeln merkantilistischen Denkens in den auf die Welt angewendeten marktwirtschaftlichen Denkstrukturen zu verweisen (B/um, 1988b). Sie machen die ganze Welt zu einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Die sogenannte dritte bzw. vierte Welt ist dann nicht zufällig die soziale Frage der Neuzeit. Diese Relativierung der reinen Lehre des Freihandels ist auch deshalb notwendig, weil die internationale Wettbewerbsfähigkeit inzwischen angesichts der Verhältnisse in der Welt eine unangemessene Bedeutung für die Erhaltung und Schaffung nationaler Arbeitsplätze erhält. Während das große Vorbild, die Vereinigten Staaten von Amerika, ein Vielfaches der exportierten Güter bereits in amerikanischen Unternehmen im Ausland selbst erstellt, erreicht Deutschland in diesem Punkt nur einen Bruchteil seiner Exporte. Die Kriegsverluste sind dafür keine ausreichende Erklärung. Kapitalmangel kann es auch nicht sein. Denn die jahrzehntelangen Exportüberschüsse wurden gerade damit begründet, daß es notwendig sei, im Ausland zu investieren, um im Inland Arbeitsplätze zu erhalten. Gerade wegen dieser Exporterfolge trotz wachsenden Wohlstands und sozialer Sicherheit in Deutschland und damit steigender Arbeitskosten muß es also etwas anderes sein, was die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bestimmt. In diesem Zusammenhang wurde bereits auf den technischen Fortschritt und die mit ihm verbundene hohe Qualiftkation des Faktors Arbeit hingewiesen. Deshalb sind die Arbeitskosten bei der gegenwärtigen Diskussion des "Wirtschaftsstandorts Deutschland" ein zweifelhaftes Argument. Im Gegenteil: gerade diese Begriffsbildung "Wirtschaftsstandort Deutschland" - nicht Europa - bestätigt den merkantilistischen Rest der herrschenden Denkstruktur. Auch wenn gern vorgerechnet wird, für einen deutschen Arbeiter ließen sich sieben Russen beschäftigen, wird in Rußland nicht entsprechend investiert sondern lieber im nationalen Kollektivkonsum. Die Argumentation um die internationale Wettbewerbsfähigkeit enthält noch eine andere langfristig verhängnisvolle Perspektive. Der Blick auf die Arbeitskosten, die soziale Sicherheit, die Umweltauflagen begünstigt eine ,,ruinöse Konkurrenz" um Lebensstandard und geringe Umweltfreundlichkeit. Gerade zu Beginn des Jahres 1994 flammte auch wieder die Diskussion um die Erleichterung des Waffenexports und die Rüstungsproduktion neu auf. Die Waffenexporteure er-
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rechneten die direkte Gefährdung von 50.000 bis 60.000 Arbeitsplätzen, indirekt könnten es sogar 500.000 bis 600.000 sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Beschränkungen der deutschen Wirtschaft für zu Kriegszwecken geeignete Produkte und Waffensysteme noch als Chance für die neue deutsche Wirtschaft, sich stark in der Friedensproduktion zu engagieren. Mit der Wiederaufrüstung Deutschlands und der Integration in die westlichen Verteidigungssysteme war dann das Rüstungsgeschäft mit dem Staat als Auftraggeber so attraktiv, daß inzwischen Strukturen entstanden sind, deren Veränderung alte Besitzstände berührt. Deshalb ist es einfacher, kein Argument auszulassen, um sie zu halten und notfalls die Politik in die Verantwortung zu ziehen. Diese Trends verlangen umso dringender nach einer sozial verantwortlich gesteuerten Marktwirtschaft für die ganze Welt (R/um, 1980; Sautter, 1981). Ein Anfang wäre zumindestens eine neue Weltwirtschaftsordnung, um jenen Ländern, die bei der Etablierung der alten Ordnung keine Möglichkeit hatten, ihre Interessen einzubringen, in neuen Strukturen neue Chancen unter Berücksichtigung der Ungleichheiten im internationalen Wettbewerb zu geben. Ausgerechnet die deutschen Ökonomen, die einer sozial verantwortlich gesteuerten Marktwirtschaft, nämlich der Sozialen Marktwirtschaft, das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit verdanken, kritisieren die Überlegungen der Entwicklungsländer zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung als Ansätze zu einer "Weltplanwirtschafi" (Willgerodt, 1978). Das Argument, es gebe keinen internationalen Träger für eine sozialverantwortliche Steuerung der Weltwirtschaft (Wissenschaftlicher Beirat, 1976, S. 10 f., Ziff. 9), ist genauso vordergründig wie die Behauptung für den nationalen Bereich, daß es in einer freiheitlichen Ordnung nicht möglich sei, Kollektivziele aufzustellen und politische Maßnahmen zur Durchsetzung zu ergreifen. Wenn das richtig wäre, gibt es auch keine Möglichkeiten, dem Freihandelsprinzip und den Menschenrechten weltweit Anerkennung zu verschaffen. Die globalen Strategien der Industrieländer verändern gerade auch in Entwicklungsländern die Strukturen, ohne irgendeine Verantwortung für eine sozialverantwortlich gesteuerte Entwicklung zu übernehmen. Denn das sei in einer freien Welt Sache der einzelnen Länder. In ihnen aber führten die bisherigen, auch aus den Industrieländern stammenden, Denkstrukturen ebenso zu öffentlicher Armut und privatem Reichtum. Das entstehende Kapital wanderte aber weitgehend in ausländische Banken und Depots. So gibt es z. B. Schätzungen, daß Brasilien auf einen Schlag seine Verschuldung im Ausland loswerden könnte, wenn die Auslandsvermögen brasilianischer Bürger dafür verwendet würden. Auch weltwirtschaftlich wäre ein bißchen weniger Freihandel und mehr verantwortliche soziale Steuerung sicher ein kleineres Unglück als die Unterwerfung unter Zwänge des internationalen Wettbewerbs zwischen ungleichen Partnern. Protektion ist auch in Industrieländern nur in Lehrbüchern und in Festreden verwerflich. Die Praxis ist voll davon, und seien es nur "freiwillige Selbstbeschränkungen". Das Dumping-Argument, das Angebot von Waren im Ausland
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unter den nationalen Gestehungskosten, ist auch in der Freihandelslehre als "Notwehr" zulässig, um eigene Produktion vor unfairem Wettbewerb zu schützen. Was hindert dann gesunden Menschenverstand, über die einzelwirtschaftlichen Produktionskosten hinaus auch volkswirtschaftliche Kosten und deren Nichtbeachtung bzw. allgemein Sozialkosten zum Kriterium zukünftigen fairen Wettbewerbs zu machen? Der Begriff "Sozialdumping" fand schon seit längerer Zeit Eingang in die Diskussionen um den Schutz nationaler Industrien. Auch der Begriff "Umweltdumping" taucht hin und wieder schon einmal auf.
Schlußbemerkung In der "real existierenden Marktwirtschaft" westlicher Industrieländer etablierte sich eine wirtschaftliche und rechtliche Struktur, die den marktwirtschaftlichen Leitbildern nicht mehr entspricht. Sie bestimmen aber so sehr die Denkstrukturen, daß es dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft nur unvollkommen gelang, die geforderte "soziale Steuerung" der Marktprozesse durchzusetzen. Trotz einer mittlerweile globalen Organisation des Strebens nach individuellem wirtschaftlichen Vorteil in Unternehmen mit beschränkter Haftung dienen marktwirtschaftliche Prinzipien dazu, politische Kontrolle der Wirtschaft national und international abzuwehren. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft leistet unter diesen Rahmenbedingungen der Privatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der privatwirtschaftlichen Verluste bzw. der volkswirtschaftlichen Kosten privatwirtschaftlicher Produktion Vorschub. Daraus entstand eine Weichenstellung, die zu öffentlicher Armut und steigendem privaten Reichtum führte. Das Scheitern der sozialistischen Länder läßt übersehen, daß die Soziale Marktwirtschaft ihr Wirtschaftswunder auch der ständigen Herausforderung durch sozialistische Lösungsansätze verdankt. Um so wichtiger wird es, den Paradigmenwechsel der Sozialen Marktwirtschaft gegenüber der freien Marktwirtschaft durch eine klare Differenzierung zwischen Liberalismus und Wirtschaftsliberalismus bewußt zu machen. Individuelle Freiheit, das ist die Erfahrung des Liberalismus, ist nicht Freiheit vom Staat, sondern wird durch den demokratisch verfaßten Staat garantiert. Das gilt auch für die individuelle wirtschaftliche Freiheit in der Marktwirtschaft. Dagegen neigt der Wirtschaftsliberalismus dazu, die historische Situation zur Zeit seiner Entstehung zu dogmatisieren und Freiheit, insbesondere wirtschaftliche Freiheit, weiterhin als Freiheit vom Staat zu interpretieren. Darin wurzelt eine Weichenstellung, die am Ende zu öffentlicher Armut und privatem Reichtum führt, zu Arbeitslosigkeit und privatem Kapital fast ohne Grenzen - mit entsprechender Wirkung auf die Verteilung des Volkseinkommens auf die "Produktionsfaktoren" Arbeit und Kapital. Beim Vater der Marktwirtschaft, Adam Smith, stand am Anfang die Einsicht, daß die menschliche Arbeit die Quelle des Wohlstands der Nationen ist. Das
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war eine Revolution im Denken über Wohlstand im Feudalismus. Er gewährte Wohlstand durch Eigentum an Grund und Boden sowie durch Privilegien der Feudalherren. Wenn aber Arbeit die Quelle des Wohlstands ist, dann darf der Mensch - der auch im Wirtschaftsliberalismus im Mittelpunkt stehen soll nicht als Produktionsfaktor nach seinen Arbeitskosten bewertet werden, sondern die menschliche Arbeit ist der primäre Maßstab für die Verteilung des Volkseinkommens, das aus Zusammenwirken von Arbeit, Kapital und technischem Fortschritt entsteht. Folgerichtig sprachen ältere (marktwirtschaftlich denkende) Nationalökonomen auch bei Kapitaleinkommen von "arbeitslosem Einkommen". Wer Arbeit nur unter dem Blickwinkel der "Arbeitskosten" sieht, müßte wenigstens auch Kapitaleinkommen als Kapitalkosten betrachten. In der Krise wäre auch da zu sparen, auf "Erspartes" zu verzichten. Statt dessen entsteht umgekehrt der Eindruck, daß Arbeitskosten gesenkt werden müssen, um dem fast grenzenlos vorhandenen privaten Kapital gerade in der Krise zusätzliche Anreize zu geben, Einkommen im Produktionsprozeß zu suchen. Daraus entstand die neueste Frucht marktwirtschaftlichen Denkens in der Sozialen Marktwirtschaft, die Kompensation an dem reichlich vorhandenen Faktor Kapital für die - übliche - Beteiligung an der Pflegeversicherung als neue Säule der sozialen Sicherheit in der Sozialen Marktwirtschaft. Noch spektakulärer ist die vertraute Drohung, das Kapital würde ins Ausland fliehen, wenn dem Grundgesetz Rechnung getragen würde, auch das Kapitaleinkommen angemessen zu besteuern, d. h. an den fixen Kosten der Gesellschaft mittragen zu lassen. Dabei steht nicht die schwierige Frage zur Diskussion, wie sich Kapitalflucht in der Praxis verhindern läßt, sondern es ist nach dem Wandel des Rechtsbewußtseins zu fragen, wenn es darum geht, den wirtschaftlichen Prozessen, dem individuellen Streben nach materiellem Gewinn Normen und Grenzen durch das Recht zu setzen. Niemand würde - gerade in der auf Privateigentum fußenden marktwirtschaftlichen Ordnung - auf die Idee kommen, sich von Dieben drohen zu lassen, sie würden noch mehr stehlen, wenn die Strafen und Kontrollen erhöht werden.
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Zur wirtschaftlichen Integration Deutschlands: Blockaden für den Aufschwung Ost Von Gernot Gutmann
I. 1. Mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen beiden Teilen Deutschlands und mit der politischen Wiedervereinigung wurde im Gebiet der ehemaligen DDR ein fundamentaler Prozeß der Transformation des bislang dort bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in Gang gesetzt mit dem Ziel, die Ordnungsstrukturen Westdeutschlands und Ostdeutschlands zu integrieren. Ökonomisch bedeutete das, die frühere Zentralverwaltungswirtschaft der damaligen DDR abzuschaffen und in eine Soziale Marktwirtschaft nach westdeutschem Muster umzuformen und dies in kürzester Zeit. Bevor auf einige gravierende Probleme eingegangen wird, die dieser Integrationsprozeß verursacht, sei kurz an die Ausgangslage erinnert, die zum Zeitpunkt der ökonomischen und politischen Wende in der DDR bestand. 2. Die Beschreibung der Ausgangslage läßt sich mit der generellen Feststellung einleiten, daß der Einsatz der in der früheren DDR verfügbaren Bestände an Produktionsfaktoren im Rahmen der damaligen zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnung nur eine verhältnismäßig bescheidene produktive Wirksamkeit aufwies. Besonders gravierende Mängel zeigten sich -
in einer sehr geringen Arbeitsproduktivität; sie belief sich - wie man heute weiß - auf etwa 30-35 v.H. des Niveaus in Westdeutschland;
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in einer unzureichenden Versorgung der Bevölkerung insbesondere mit industriell gefertigten Konsumgütern, Reparaturleistungen und Ersatzteilen aller Art;
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in fehlender Wettbewerbsfähigkeit an vielen westlichen Weltmärkten und einer Verschuldung gegenüber den Hartwährungsländern per 31.12.1989 von rund 18,5 Mrd. US-$;
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in einer sehr hohen Umweltbelastung sowohl hinsichtlich der Luft als auch des Wassers und des Bodens;
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in einer recht desolaten Verfassung der Infrastruktur, also des Kommunikations- und des Transportwesens sowie
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in Wohnhäusern, die sich in einern erbannungswürdigen Zustand befanden, weil Reparaturen weitgehend unterblieben, was dann vielfach zum Verfall ganzer Gebäude führte (Gutmann, 1990).
Diese Misere war das Ergebnis der Funktionsweise der früheren zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnung, die "eingebaute" Konstruktionsfehler aufwies, die aber unverzichtbare Grundlage der damals bestehenden politischen Ordnung war. Bei diesen Konstruktionsfehlern handelte es sich um Fehlsteuerungen der volkswirtschaftlichen Informations-, Entscheidungs- und Motivationsstrukturen, die in den wesentlichen Elementen der Wirtschaftsordnung wurzelten, nämlich -
in den Formen der bürokratisch-zentralen Planung aller Produktionsvorgänge und der Investitionen,
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in der staatlichen Festsetzung der Preise für Güter und Produktionsfaktoren,
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im vorwiegend staatlichen Eigentum an den sachlichen Produktionsmitteln - auch wenn man es als "Volkseigentum" bezeichnete - und
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im staatlichen Außenwirtschaftsmonopol, welches alle Güter- und Zahlungstransaktionen mit dem Ausland direkter staatlicher Planung und Lenkung unterwarf. 3. Daß nur die Ablösung der zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnung und die Etablierung einer Marktwirtschaft ein noch weiteres Abgleiten der Wirtschaft verhindern könnte, war 1990 weit verbreitete Auffassung in der ehemaligen DDR. Allerdings gab es - in Erinnerung an die Zeit des "Wirtschaftswunders" nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland - sehr häufig die euphorische Vorstellung, der Transformationsprozeß würde eine nur sehr kurze Zeit in Anspruch nehmen, und die Wirtschaft der ehemaligen DDR würde mit Hilfe privater Investoren aus dem Westen und temporärer Unterstützung durch öffentliche Transferleistungen schnell einen kräftigen neuen Aufschwung nehmen. Trotz einzelner ermutigender Zeichen der Besserung ist jedoch die Wirtschaft Ostdeutschlands, im ganzen gesehen, noch immer in einer äußerst unbefriedigenden und schwierigen Lage, obwohl die Ordnungstransformation - zumindest rechtlich betrachtet - längst stattgefunden hat. Dies zeigt sich unter anderem darin, daß in vielen Bereichen der Industrie die Produktionsleistung noch immer schrumpft sowie in der erschreckend hohen Zahl von arbeitslosen Menschen. Rechnet man jene 1,7 Mio. Personen, für die es 1993 arbeitsmarktpolitische Maßnahmen gab (Vorruhestands- und Altersübergangsgeld, Umschulungen, Kurzarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen), zu den eigentlichen Arbeitslosen hinzu, dann ergibt sich rechnerisch eine Arbeitslosenquote von etwa 25 v. H. 4. Daß sich der Übergang zur Marktwirtschaft nicht ohne Reibungsverluste vollziehen würde, war freilich zu erwarten. Für die Anfangszeit mußte man schon wegen des hohen Tempos der Transformation mit erheblichem Rückgang der Produktion und relativ hoher Arbeitslosigkeit rechnen. Dabei mußten zwei verschiedene Umstände eine Rolle spielen:
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Zum einen war hinreichend,bekannt, daß die Wirtschaft der DDR in hohem Umfang versteckte Beschäftigungslosigkeit und in vielen Bereichen eine ökonomisch nur schwer zu begreifende Produktionstiefe aufwies, was natürlich den rechnerischen Wert der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität ziemlich niedrig hielt. Hier mußte es nach Einführung westlicher Organisationsund Managementmethoden ganz zwangsläufig zur Freisetzung von Arbeitskräften kommen.
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Zum anderen war zu erwarten, daß Arbeitskräfte auch deshalb freigesetzt würden, weil sich die völlig andere, auf den bisherigen Binnenbereich und auf den Osthandel ausgerichtete und im Vergleich zu Westdeutschland überindustrialisierte Produktionsstruktur ganz erheblich würde ändern müssen. Und in der Tat kam es nach dem 1. Juli 1990 - also nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen beiden Teilen Deutschlands - zu einer handfesten wirtschaftlichen Anpassungskrise, die in manchen Branchen und Regionen große Einbrüche in der Produktion und ernsthafte Beschäftigungsprobleme verursachte.
5. Was ist aber nun der Grund dafür, daß der nach einer vermeintlich kurzen Übergangsphase erwartete kräftige Wirtschaftsaufschwung in Ostdeutschland noch immer nicht voll eingesetzt hat, sondern nur langsam und mit beträchtlichen Reibungsverlusten in Gang kommt und dies trotz einer kaum noch zu übersehenden Zahl finanzieller Förderungsmaßnahmen für Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze und trotz öffentlicher Finanztransfers an ostdeutsche Gebietskörperschaften in jährlich dreistelliger Milliardenhöhe? Eine ganz einfache Antwort auf diese Frage gibt es deshalb nicht, weil nicht nur eine Ursache dafür verantwortlich ist, sondern ein ganzes Bündel unterschiedlicher Einzelfaktoren, die zusammenwirken. Zu den wichtigsten dieser Faktoren, die sich zum Teil gegenseitig verstärken, zählen die folgenden: (1) Das, was man oft "ungeklärte Eigentumsverhältnisse" zu nennen pflegt.
(2) das Verhältnis von Produktivitäts- und Lohnentwicklung, (3) die Transformationsprozesse in anderen ost- und südosteuropäischen Ländern, die zu Veränderungen in deren Außenwirtschaft führten sowie (4) gewisse psychologische Faktoren, die die Motivation der wirtschaftenden Menschen negativ beeinflussen.
11. 1. Es ist eine alte Erkenntnis der Wirtschaftswissenschaft, daß Privateigentum an den Produktionsmitteln unverzichtbare Voraussetzung für effizientes marktwirtschaftliches Geschehen ist. Eigentumsrechte beg~nden Motivationen, Risiken zu übernehmen und Leistungen für das arbeitsteilige Ganze zu erbringen.
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Damit jedoch Privateigentum diese seine ökonomischen Funktionen voll erfüllen kann, muß die Eigentumsordnung drei Kriterien erfüllen (Sievert, 1992): -
Die Zuordnung der Vermögensgegenstände an die privatrechtlichen Eigentümer muß eindeutig sein, denn nur dann entsteht wirklich ein Anreiz, Ressourcen so effizient wie möglich zu nutzen; die Zuordnung muß darüber hinaus auch dauerhaft sein, denn nur dadurch wird eine langfristig effiziente Nutzung von Vermögensgegenständen und hohe Rentabilität von Investitionen gewährleistet;
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und schließlich muß die Zuordnung verläßlich sein, weil ohne Verläßlichkeit die Ertragserwartungen instabil werden, was die dynamische Effizienz risikoreicher Investitionen entsprechend einschränkt.
Um Anreize zu schaffen, westliches Kapital für Investitionen in neue Produktlinien und damit verbunden in neue Arbeitsplätze nach Ostdeutschland zu bringen, war und ist es unverzichtbar, dort Eigentumsverhältnisse zu schaffen, die diese Bedingungen erfüllen. Hierzu war eine fundamentale Transformation der bisherigen Eigentumsordnung unumgänglich. 2. Bei dieser Eigentumstransformation in den neuen Bundesländern lassen sich unterschiedliche Teilverfahren unterscheiden, nämlich -
die Reprivatisierung, also die Rückgabe von Vermögensgegenständen oder von ganzen Unternehmungen an Alteigentümer, die Neuprivatisierung solcher Vermögensgegenstände, auf die keine Alteigentümer Ansprüche erheben oder die erst nach der früheren Enteignung geschaffen wurden, also deren Veräußerung an neue Eigentümer und schließlich
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die Kommmunalisierung, also die Rückgabe von Vermögensgegenständen an öffentliche Körperschaften wie den Bund, die Länder oder die Kommunen.
Das, was man häufig etwas allgemein als "ungeklärte Eigentumsfragen" bezeichnet, sind Tatbestände, die sowohl bei der tatsächlichen Eigentumstransformation selbst relevant werden, als auch solche, die mit einer Transformation der Eigentumsform gar nichts zu tun haben. Diese letzteren "Ungeklärtheiten" spürt man dann auf, wenn man untersucht, welcher Anteil des Gesamtvermögens in den neuen Bundesländern tatsächlich erst in Privateigentum transformiert werden muß. Dabei läßt sich folgendes erkennen. 3. Gemessen an der Zahl der Beschäftigten waren zwar rund 90 v.H. der Industriebetriebe der DDR in "Volkseigentum". Anders sah es freilich in der Landwirtschaft und damit bei einem beträchtlichen Teil des Eigentums an Grund und Boden aus. 1989 wurden lediglich 7 v. H. der landwirtschaftlichen Nutzfläche von volkseigenen Gütern bewirtschaftet, hingegen rund 87 v.H. von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sowie etwa 5 v. H. von Privatbetrieben. Die von den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften genutzten flächen setzten sich aber zu rund 60 v. H. aus Privateigentum zusammen. Nimmt
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man noch jene nicht für die Produktion genutzten Grundstücke hinzu, die in Privateigentum verblieben sind, dann läßt sich leicht feststellen, daß ein erheblicher Teil der gesamten Bodenfläche der neuen Bundesländer gar keiner eigentlichen Eigentumstransformation unterworfen werden mußte (Fiebig / Reichenbach, 1993, S. XII). Von etwa 13 Mio. Flurstücksnummern in der DDR sollen 1989 8 Mio. Privateigentum und nur 5 Mio. Volkseigentum gewesen sein. Viele dieser privat gebliebenen Grundstücke hätten sicherlich für Investitionen und den Wirtschaftsaufschwung nutzbar gemacht werden können - wenn nicht zeitraubende Entflechtungsprobleme bestünden, wenn nicht viele Immobilien zwar in privatem Eigentum verblieben, aber unter staatliche Verwaltung gestellt gewesen wären, wenn es keine Bearbeitungsrückstände bei den zuständigen Ämtern gäbe und wenn es nicht zu Streitigkeiten zwischen privaten Alteigentümern und den derzeitigen Nutzern von Grundstücken und Gebäuden käme. -
In der Landwirtschaft bereitet die Entflechtung des viele Jahre in Genossenschaften gebundenen Privateigentums erhebliche Probleme. Neben der Frage der genauen Zuordnung der Objekte an Personen ist vor allem die Aufteilung der gemeinsam angeschafften Vermögenswerte und der Altschulden außerordentlich schwierig und zeitraubend.
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Viele formal in Privateigentum verbliebene Immobilien und auch Unternehmungen wurden in der DDR unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt, was zwar keine rechtliche, aber eine faktische Enteignung bedeutete. Rund 15 v. H. aller vor Ende 1992 durch die Vermögensämter bearbeiteten Rückgabeanträge betrafen in Wirklichkeit die Aufhebung der staatlichen Verwaltung und nicht etwa eine Reprivatisierung im eigentlichen Sinne. Dabei waren und sind komplizierte und zeitraubende Einze1entscheidungen zu treffen, die infolge von Wertänderungen und dinglichen Belastungen erforderlich wurden. Mit der Neufassung des Vermögensgesetzes endete zwar am 31.12.1992 die staatliche Zwangsverwaltung automatisch (Vermögens gesetz, § 11 a), wodurch die Vermögensämter von etwa 300.000 zu bearbeitenden Fällen entlastet wurden (Keune, 1992, S. 17). Da jedoch Eigentum an Grund und Boden erst mit dem Eintrag in das Grundbuch marktfähig sowie als Gegenstand der Absicherung von Krediten und der Beantragung von Fördermitte1n brauchbar wird, stellen fehlende Grundbuchauskünfte zur Ermittlung von Alteigentümern und fehlende Grundbucheintragungen sowohl bei der Eigentumstransformation selbst als auch beim bereits bestehenden Privateigentum Blockaden für die Nutzung dar. Bearbeitungsrückstände bei Grundbucheintragungen bewirken zwangsläufig, daß privater Boden nur eingeschränkt für Investitionen verfügbar ist, was die Neugründung von kleinen und mittelständischen Unternehmungen erheblich erschwert.
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Rückgabeforderungen von Alteigentümern auf Häuser und Grundstücke führten dort zu erheblicher Verunsicherung und zur "Ablehnung" solcher Rückgabeansprüche, wo diese Vermögensgegenstände inzwischen von Privatperso-
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nen genutzt werden, weil durch die Rückgabeforderungen die derzeitigen privaten Nutzer existenziell betroffen sein können. Eine unklare Rechtslage hatte - neben psychologischen Wirkungen - auch Zurückhaltung bei der Sanierung und Renovierung der privaten ostdeutschen Bausubstanz zur Folge. - Also selbst dort, wo Privateigentum bestehen blieb, gab und gibt es vielfach "ungeklärte Eigentumsfragen" . 4. "Ungeklärte Eigentumsfragen" entstanden aber auch beim Prozeß der Privatisierung selbst. Die Transformation der Eigentumsordnung in Ostdeutschland vollzieht sich in zwei Stufen: -
In der ersten Stufe wurde das einstige "volkseigene" Vermögen privatrechtlichen "Verfügungsberechtigten" zugeordnet. Dies sind entweder die Treuhandanstalt oder öffentlich-rechtliche Körperschaften, nämlich der Bund, die Länder und die Kommunen.
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Erst in der zweiten Stufe der Privatisierung erfolgt die Überführung dieses Eigentums von diesen "Verfügungsberechtigten" an die eigentlichen alten oder neuen Eigentümer. Erst in dieser zweiten Stufe wird also das ökonomische Ziel der Eigentumstransformation wirklich erreicht. Auf heiden der genannten Stufen gab und gibt es eine Reihe von Umständen, die sich mit dem Terminus "ungeklärte Eigentumsverhältnisse" umschreiben lassen.
5. Im Zusammenhang mit der ersten Stufe, also der Zuordnung an "Verfügungsberechtigte", entstanden Hemmnisse, die eine schnelle Privatisierung vielfach verhinderten: -
Da die Gebietskörperschaften außer durch die Neuzuordnung von Vermögen auch Anspruch auf alle jene Vermögensgegenstände erheben können, die sie nach dem 8. Mai 1945 anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben (Einigungsvertrag, Art. 21, Abs. [3]), wird die Zuordnung durch umfangreiche Kommunalisierungsansprüche erschwert und damit zeitlich verzögert, da sehr häufig Konflikte zwischen dem Kommunalisierungsanspruch einer Körperschaft und dem Zuordnungsanspruch einer anderen Körperschaft auftreten. 180.000 Anträge auf die Übertragung von Wäldern, Feldern, Seen und Teichen, Grund und Boden, Gebäuden und Einrichtungen haben die 7.500 Gemeinden Ostdeutschlands bis zum Sommer des Jahres 1993 gestellt, davon 66.000 an die Treuhandanstalt (Schwenn, 1993, S. 11). Diese Kommunalisierung ist sehr langwierig. Sie krankt nicht zuletzt an der unzulänglichen Grundstücksdokumentation. Oft ist der Nachweis des Alteigentums am Stichtag des 8. Mai 1945 wegen fehlender oder unvollständiger Grundbücher schwierig. Die Treuhandanstalt hat inzwischen einen großen Teil der an sie gestellten Anträge erledigen können, aber es kommen in jeder Woche neue hinzu, denn die Gemeinden dürfen noch bis Ende 1994 Ansprüche anmelden. Solange aber eine Gemeinde noch keine volle Klarheit darüber besitzt, in welchem Gesamtumfang ihr
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Eigentum zugeordnet wird, wird sie die Weiterveräußerung von Vermögensobjekten an potentielle Privateigentümer nur zögerlich vornehmen. -
Das Verfahren der Kommunalisierung von Vermögen wurde auch nicht z4Jeichend mit dem Prozeß der Reprivatisierung verzahnt. So kommt es häufig vor, daß Kommunen ein Gebäude beanspruchen, das schon zuvor durch eine andere Zuordnungsstelle an einen Investor verkauft worden ist. Alles das führt dazu, daß letztlich jeder Vermögensgegenstand zum Streitobjekt mehrerer Antragsteller werden kann. Solche Unklarheiten bringen es mit sich, daß fast jede Zuordnung als eine EinzelJallentscheidung mit einem "Zuordnungsbescheid" durchgeführt werden muß (Keune, 1992, S. 22). Die Zuordnungsstellen - das sind die Treuhandanstalt und die Zuordnungsgruppen der Oberfinanzdirektionen - waren und sind aber oft personell unzureichend ausgestattet und die Gemeinden sind häufig durch komplizierte Gesetze überfordert. Viele Anträge auf Vermögenszuordnung waren daher fehlerhaft oder unvollständig, was dann erhebliche Kapazitäten der Zuordnungsstellen binden mußte.
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Auch blockieren konkurrierende Ansprüche eine zügige Zuordnung. Trifft nämlich eine Zuordnungsstelle eine Entscheidung, so kann hiergegen Klage mit aufschiebender Wirkung beim Verwaltungsgericht eingelegt werden, was dann angesichts der Überlastung der Gerichte die Zuordnung des Vermögensobjektes leicht für zwei bis drei Jahre blockiert. - Da außerdem Kommunalisierungsansprüche Vorrang vor Zuordnungsansprüchen haben, werden Zuordnungen immer dann blockiert, wenn Gebietskörperschaften zwar Kommunalisierungsanträge stellen, diese aber nicht ausreichend nachweisen können.
Fehlende Zuordnung von Vermögensgegenständen stellte also ein zentrales Hemmnis für den Prozeß der Eigentumstransformation und damit für den Wirtschaftsaufschwung dar. Um den Ablauf zu beschleunigen, wurde eine "Vorfahrtsregelung" für die Vermögens zuordnung geschaffen, derzufolge Kommunen und Länder die Verfügungsbefugnis über alle jene Grundstücke und Gebäude erhielten, für die sie als "Rechtsträger" im Grundbuch eingetragen waren, ohne daß noch ein eigener Zuordnungsbescheid ergehen mußte (Vermögenszuordnungsgesetz, § 6, Abs. [1]). Dies erlaubte es ihnen im Prinzip, Vermögensgegenstände zu behalten, zu verkaufen oder dingliches Recht an ihnen zu vereinbaren. Jedoch brachte dies in der Praxis deshalb kaum eine wesentliche Beschleunigung der eigentlichen Privatisierung mit sich, weil Länder und Gemeinden nur bei einem geringen Teil solcher Grundstücke als "Rechtsträger" im Grundbuch eingetragen waren, die sich zu Gewerbeansiedlungen nutzen lassen. 6. Im Zusammenhang mit der zweiten Stufe der Privatisierung - also der Überführung des Eigentums von den "Verfügungsberechtigten" an die eigentlichen privaten Eigentümer --L gab und gibt es weitere blockierende Momente. Dies hängt mit der Tätigkeit der Vermägensämter (Vermögensgesetz, §§ 22-25) zusammen.
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Wird ein Antrag auf Reprivatisierung eines Vermögensgegenstandes oder eines ganzen Unternehmens gestellt, dann löst dies eine Verfügungssperre aus. Das heißt, der bisherige Verfügungsberechtigte - also die Treuhandanstalt oder eine Gebietskörperschaft - darf ihn nicht eher veräußern, bis über diesen Anspruch entweder durch das zuständige Amt zur Regelung offener Vermögensfragen (bei Ansprüchen auf Sachen und Immobilien) oder durch das jeweilige Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen (bei Ansprüchen auf Unternehmen) entschieden worden ist. Ist der Anspruch des Alteigentümers berechtigt, dann bekommt er den Gegenstand oder das Unternehmen zurück. Andernfalls wird mit dem Ablehnungsbescheid die Verfügungssperre wieder aufgehoben und der Verfügungsberechtigte kann erst dann eine Neuprivatisierung des entsprechenden Objekts einleiten. Schon früh zeigte sich jedoch, daß die Effizienz der Vermögensämter begrenzt ist. Bereits im Oktober 1991 lagen 2.115.822 Ansprüche auf Vermögensgegenstände vor, deren Zahl sich bis Juni 1992 auf2.211.479 erhöhte. Bis Juni 1992 waren hiervon 186.773 - also 8,4 v.H. - entschieden. Für khapp 92 v. H. aller Vermögens gegenstände, auf die Alteigentümer Ansprüche angemeldet haben, war sowohl die Reprivatisierung als auch die Neuprivatisierung völlig blockiert. Bis zum Stichtag 30. 6. 1994 konnten die unternehmensbezogenen Anträge zu 43,2 v.H. und die übrigen vermögensrechtlichen Anträge zu 38,31 v.H. erledigt werden (Bundesamt zur Regelung offener Vermögens/ragen. 1994). Dies läßt sich nicht nurmit personeller Unterbesetzung und unzureichender Ausstattung der entsprechenden Vermögensämter erklären, sondern auch durch die Schwierigkeiten beim Eigentumsnachweis, die um so größer sind, je länger die Enteignung zurückliegt. Grundbücher lagen unsystematisch in Archiven; und sie wurden zum Teil vernichtet, Eintragungen wurden mitunter geschwärzt. Die Eigentumstransformation hat also auch durch fehlende Entscheidungen der Vermögensämter einen hohen Zeitbedarf. 7. Als Fazit aus dem Dargelegten ergibt sich die Einsicht, daß die eigentumsrechtliche Grundlage für einen breiten, sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung in den neuen Bundesländern nur zögerlich entstand. Offensichtlich können noch so umfangreiche Förderprogramme - wie Investitionszuschüsse, Investitionszulagen, Kredit- und Bürgschaftsprogramme sowie Sonderabschreibungen und andere Steuererleichterungen - den Attentismus potentieller Investoren ohne gesicherte eigentumsrechtliche Grundlagen nicht nachhaltig durchbrechen.
III. 1. Ein weiterer Faktor, der außer den "ungeklärten Eigentumsverhältnissen" den Wirtschaftsaufschwung in Ostdeutschland erheblich blockiert und zum Abbau von Arbeitsplätzen beiträgt, ist die Schere in der Entwicklung der Arbeitsproduktivität und der Lohnkosten.
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Die Lohn- und Tarifpolitik in den neuen Bundesländern hatte zu Beginn des Jahres 1991 zu einer schnellen Aufholjagd der Lohnsätze im Osten an das Niveau im Westen angesetzt. Ausgehend von einem Tariflohnniveau von etwa 60 v.H. des westdeutschen, wurden in wicptigen Wirtschaftszweigen der ostdeutschen Industrie Anpassungen der Tariflöhne zum 1. April 1993 auf 80 v. H. und zum 1. April 1994 auf 100 v.H. der westlichen Lohnsätze vereinbart, was dann 1993 zu beträchtlichen Auseinandersetzungen zwischen den Tarifparteien führte. Aus ökonomischer Perspektive stellt sich aber die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müßten, damit diese schnelle Anpassung des ostdeutschen Lohnniveaus an das westdeutsche ohne massive negative Auswirkungen auf die Beschäftigung von Arbeitskräften verkraftet werden kann. Hierzu hat sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wie folgt geäußert: ,,Erstens müßte es den ostdeutschen Unternehmen gelingen, den Wert der Produktionsleistung je Arbeitnehmer bis zur Mitte des Jahrzehnts auf das Niveau ihrer Konkurrenten aus Westdeutschland und anderen Ländern anzuheben. Nur dann würde der angelegte Lohnanstieg nicht durch überhöhte Lohnstückkosten die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen beeinträchtigen. Zweitens müßte diese Produktivitätsangleichung in so vielen alten und neu zu gründenden Unternehmen gelingen, daß zu den dann herrschenden Lohnstückkosten in den neuen Bundesländern ein hoher Beschäftigungsstand realisiert werden könnte." (Sachverständigenrat, 1991, Ziff. 369) Nun kann aber derzeit keine Rede davon sein, daß diese Voraussetzungen bestehen. Die gesamtwirtschaftliche Produktivität je geleistete Arbeitsstunde lag im vierten Quartal 1992 bei knapp 40 v. H. derjenigen in Westdeutschland und hatte sich damit gegenüber dem vierten Quartal des Jahres 1990 nur unwesentlich verbessert. Die Lohnstückkosten jedoch waren schon Ende 1992 infolge der Lohnentwicklung in Ostdeutschland um rund 70 v.H. höher als in den westdeutschen Bundesländern (Link, 1993, S. 8 f.). Da aber Ostdeutschland als Standort für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen mit ostasiatischen und lateinamerikanischen Ländern ebenso konkurrieren muß wie etwa mit Spanien, sind die Folgen dieser Lohnentwicklung leicht abzusehen. Im Durchschnitt aller Betriebe in den neuen Bundesländern war Ende 1992 die Lohnquote - also der Anteil des Faktors Arbeit am erzeugten Inlandsprodukt - höher als 100 v.H., demnach höher als die gesamte Produktionsleistung (Link, 1993, S. 12 f.). In Westdeutschland belief sie sich auf etwa 77 v. H. Das bedeutet für den Durchschnitt aller ostdeutschen Betriebe - von denen es natürlich bessere und schlechtere gibt ~ folgendes: Würden keine massiven Subventionen bezahlt, dann müßten die Betriebe insgesamt betrachtet ihre gesamte Wertschöpfung für die Personalkosten verwenden. Für Kapitalverzinsung und Gewinne bliebe nicht nur gar nichts übrig, die Betriebe müßten darüber hinaus sogar noch einen Substanzverlust in Kauf nehmen. Daß eine solche Situation in Verbindung mit den "ungeklärten Eigentumsverhältnissen" nicht dazu motiviert, in großem Umfang Investitionen vorzunehmen und damit Arbeitsplätze zu schaffen, sondern im Gegenteil dazu führt, daß Arbeitsplät6 Festschrift Lampert
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ze vernichtet werden, ist leicht einsehbar. Einer Schätzung zufolge gehen 60 v. H. des Beschäftigungsabbaus in Ostdeutschland auf das Konto dieser Lohnpolitik (Lübbering, 1992, S. 16).
IV. 1. Transformationsprozesse von der einstigen Zentralverwaltungswirtschaft hin zur Marktwirtschaft sind auch in den ost- und südosteuropäischen ehemals sozialistischen Ländern im Gange, und dies hat Rückwirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland. Die frühere DDR war in den Warenaustausch eingebunden, der im Rahmen des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe festgelegt wurde. Dieser Warenaustausch am sogenannten sozialistischen Weltmarkt bestimmte in nicht unerheblichem Umfang die Produktionsstruktur in der DDR, die in den zentralen Wirtschaftsplänen festgelegt wurde.
2. Nachdem die Export- und Importbeziehungen der DDR-Betriebe mit den europäischen RGW -Ländern von 1985 - 1989 auf einem hohen Niveau stagnierten - die ehemalige Sowjetunion spielte dabei die Rolle des Haupthandelspartners - schrumpften sie bis Mitte 1991 auf etwas mehr als 30 v. H. des Niveaus von 1989. Da der frühere RGW mit seinem spezifischen System der Außenhandelspreisbildung und der Verrechnung über die internationale Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Moskau aufgelöst wurde, setzten sich auch in Osteuropa Weltmarktbedingungen durch. Dabei zeigte sich dann, daß viele ostdeutsche Unternehmen der internationalen Konkurrenz nicht gewachsen waren. Es fehlte - und fehlt zum Teil noch heute - an wettbewerbsfähigen Produkten, an Marketingkonzepten und an brauchbaren Vertriebssystemen (Werner, 1992, S. 208). Diese Entwicklung konnte nicht durch eine entsprechend angemessene Ausweitung des Exports an westlichen Märkten kompensiert werden. Die ostdeutschen Exporte in die Länder des einstigen RGW verringerten sich von 1989 bis 1992 von 29 Mrd. DM auf nur noch gut 7 Mrd. DM. Besonders stark war der Exportrückgang in die Region der einstigen Sowjetunion, nach Polen und nach der früheren Tschechoslowakei. Auch 1993 hat sich diese Entwicklung nicht nennenswert umgekehrt. Ein großes Manko für die ostdeutschen Exporteure liegt darin, daß sie derzeit offenbar nur ungenügend in der Lage sind, jene Produkte und diese in jener Qualität anzubieten, die von den osteuropäischen Handelspartnern nachgefragt werden. Die osteuropäischen Länder benötigen nämlich vor allem hochwertige Investitionsgüter, um ihren großen Modernisierungsbedarf zu decken. Daher ist die Nachfrage dieser. Länder in Westdeutschland viermal so groß (30 Mrd. DM) wie die Nachfrage nach ostdeutschen Gütern (Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft, 1993, S. 6 f.). 3. Es hat sich also die Vorstellung, daß sich nach der Wiedervereinigung die ostdeutschen Bundesländer sozusagen als Drehscheibe für den deutschen Osthandel entwickeln werden, als völlige Illusion erwiesen. Die verbreitete Auffassung,
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man könne weitgehend an die früheren Verbindungen anknüpfen, war ein Trugschluß. Es geht heute für die ostdeutschen Unternehmen in Wirklichkeit darum, völlig neue Ausfuhr- und Einfuhrbeziehungen herzustellen. Das hängt sicherlich mit der transformationsbedingten Strukturveränderung in allen osteuropäischen Volkswirtschaften zusammen, die von einem beträchtlichen temporären Rück~ gang der gesamten Produktionsleistung, von hohen Haushaltsdefiziten und von Zahlungsschwierigkeiten begleitet waren und sind. Die ostdeutsche Exportwirtschaft konnte sich daher auch nicht als Stabilisator der Produktion und der Beschäftigung von Arbeitskräften erweisen, im Gegenteil, die Beschäftigung mußte auch in diesem Bereich vermindert werden.
v. 1. Es sei auch noch auf einen die wirtschaftliche Entwicklung mitbestimmenden Faktor hinweisen, der für den ersehnten Wirtschaftsaufschwung in Ostdeutschland eine wichtige Rolle spielt, nämlich die Einstellung der Menschen zur bestehenden neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Damit ist eine Problematik angesprochen, die bei all den vielen Diskussionen um Investitionsprogramme, Privatisierungen und Infrastrukturförderungen in ihrer Bedeutung unterschätzt und daher erheblich vernachlässigt wird, obgleich sie eine der wichtigsten für die künftige Entwicklung überhaupt ist, nämlich das Problem der Akzeptanz der neuen Ordnung in der Bevölkerung, die, geht man auf die Mitte der dreißiger Jahre und den Beginn der deutschen Kriegswirtschaft zurück, seit mehr als fünfzig Jahren gar nicht mehr wußte, was Marktwirtschaft eigentlich ist, und der man 45 Jahre lang den sogenannten "Kapitalismus" als ein verabscheuungswürdiges System vorgestellt hat. Man muß damit rechnen, daß sich die langjährig erlernten und eingeschliffenen Reaktionen auf die frühere zentral verwaltungswirtschaftliche Ordnung nicht über Nacht verändern, wenn auch die äußere Ordnungstransformation vollzogen ist. 2. An erster Stelle und für die Frage der Akzeptanz einer marktwirtschaftlichen Ordnung in Ostdeutschland sowie die damit verbunde Motivationswirkung von großer Bedeutung ist die Tatsache hervorzuheben, daß sich bei der großen Masse der bisher in konventionellen Bereichen Beschäftigten eine gigantische Umschichtung der sozialen Rangordnungen und eine Entwertung bisheriger Lebenschancen vollzog und noch vollzieht (Klinger, 1991). Der entscheidende Grund hierfür ist, daß die Hauptbereiche der gewerblichen Produktion in vielen Fällen kaum Fähigkeiten zur erfolgversprechenden marktwirtschaftlichen Umstellung besaßen. Das galt vor allem für Groß- und Mittelbetriebe mit überregionaler Bedeutung. Dort hat die politisch regulierte Ökonomie des Staatssozialismus ein solches Ausmaß an Funktionsverzerrungen, Fehlallokationen von Ressourcen sowie eine beträchtliche qualitative und technologische Rückständigkeit hinterlassen, daß Sanierungsprozesse entweder erst gar nicht möglich waren oder 6*
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erhebliche Zeit in Anspruch nehmen. Das Ausmaß dieser Erschütterungen zeigt sich dann eben auch in den Produktionseinbrüchen und in den bekannten Arbeitsmarktdaten. Hinzu kommt, daß es viele Menschen - besonders die Generation der etwas Älteren - aus Erfahrung gewohnt sind, von vorgegebenen Autoritäten die Erfüllung als legitim erachteter Ansprüche und die Verhinderung ökonomischer Mißstände zu erwarten. Typisch ist etwa, daß der Regierung Kohl die Schuld an einer wirtschaftlichen und sozialen Misere gegeben wird, die durch "ein~ gesamtdeutsche Wohlstandslüge" verursacht worden sei. Krisenhafte Entwicklungen in der Wirtschaft werden als Folge eines Betruges oder als Ergebnis anderer Fehlhandlungen von Regierenden verstanden. Man hängt der offenbar weit verbreiteten Vorstellung an, ein verantwortlicher Politiker könne einen wünschenswerten wirtschaftlichen Zustand willentlich herbeiführen oder ihn mit böswilliger Täuschung gezielt verhindern. 3. Alles dies hat seine Wurzeln in einer tiefliegenden Schicht gewachsener Wertbezüge, hier verstanden als faktische Struktur wertgebundener Einstellungen der ostdeutschen Bevölkerung. Die beobachtbare faktische Ebene gelebter Wertbezüge war in der DDR zweifellos eingebettet in die sozialistische Gesellschaftsordnung und wäre ohne sie gar nicht vorstellbar gewesen. Aber sie war in ihrer Ausprägung keineswegs von der Herrschaftselite uneingeschränkt gewollt. Ganz im Gegenteil: Die gelebten Wertorientierungen waren ebenso der zersetzende Virus des alten Systems, wie sie seine - vermutlich einzige - Konsensgrundlage bildeten. In der Tat gab es einen unausgesprochenen contract social der sozialistischen Gesellschaft, welcher die Basis faktisch verankerter Wertorientierungen bildete, und der sich auch in bestimmten institutionalisierten Regelungen niederschlug. Kernpunkt bildeten die kollektiven Versorgungs- und sozialpolitischen Sicherungssysteme, die durch die Machtelite definiert und ausgestaltet wurden. Der einzelne war bisher einem lückenlosen System der administrativen Zuteilung von Lebenschancen unterworfen. Das Gesamtpaket dieser Versorgungs- und Zuteilungsmaschinerie reichte von der formalen Sicherheit eines Arbeitsplatzes über die Lenkung beruflicher Karrieren mit Qualifikationsmöglichkeiten bis hin zur Versorgung mit Wohnraum oder zur Subvention des Grundbedarfs bei Konsumgütern, Verkehrstarifen und Dienstleistungen. Die sozialökonomische Machtbalance, auf der dies aufbaute, war ein besonderes Austauschverhältnis zwischen dem parteistaatlichen System auf der einen und der breiten Masse der erwerbstätigen Bevölkerung auf der anderen Seite. Die Daseinsvorsorge und Existenzsicherung durch das parteistaatliche System wurde eingetauscht gegen den Verzicht auf autonome Gestaltungschancen. Politische Unterwerfung und der Verzicht auf dezentrale Entscheidungsmacht waren der Preis für die nivellierende, staatlich organisierte Grundversorgung (Klinger, 1991). Die Sekundäreffekte dessen waren: eine durchgängige Entkoppehing von Leistung und Entlohnung, eine sozial nivellierende Arbeits- und Lebenskultur mit ihren ausgeprägt egalitären Grundhaltungen und
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die Befestigung subalterner Einstellungen und Verhaltensmuster infolge einer gebrochenen Eigeninitiative und Selbstverantwortung. 4. Das Eindringen der Marktwirtschaft hatte nun zur Folge, daß die gewachsenen Anspruchshaltungen und Wertorientienmgen enttäuscht wurden. Die vormals verbürgten Sicherheiten des Alltags wurden brüchig oder sogar hinfällig. Daß die neue marktwirtschaftliche Ordnung die alten Wertorientierungen und Grundeinstellungen in Frage stellt, erzeugt Verunsicherung und entsprechende Abwehrhaltungen. Die Transformation der alten Wertorientierung auf jene, die für Marktwirtschaften relevant ist, ist vielfach ein langwieriger Prozeß, was dann zumindest auf Zeit ein erhebliches Störpotential für den raschen marktwirtschaftlichen Neuaufbau darstellt.
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Gemot Gutmann
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Der wissenschaftliche Umgang mit dem Thema: Wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungen -
Probleme, Methoden, Experimente Von Hans-Günter Krüsselberg
I. Einführende Bemerkung "Die Soziale Marktwirtschaft und die Ordnungspolitik unterliegen einer ständigen Bewährungsprobe. Eucken, vor allem aber Müller-Armack, hat die Soziale Marktwirtschaft nicht als eine geschlossene Konzeption, sondern als ,einen der Ausgestaltung harrenden progressiven Stilgedanken' verstanden .... Die Politik der ordnungskonformen Weiterentwicklung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist vielleicht nicht spektakulär, jedenfalls nicht so spektakulär wie ständiger Interventionismus. Aber sie ist Grundlage und Programm einer offenen und freien Gesellschaft" (Schlecht, 1989, S. 318). Exakt aus diesem Grunde - so argumentiert Heinz Lampert - hat sich diese Ordnung "in vier Jahrzehnten bewährt. Sie hat international weithin Anerkennung gefunden und teilweise sogar Vorbildcharakter gewonnen". Gleichwohl schein! "den meisten Menschen die existentielle Bedeutung von Wirtschafts- und Sozialordnungen für die Qualität des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens unbekannt" zu bleiben. Daher bemüht sich dieser - hier zu ehrende - Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler darum, die Grundlagen jener Ordnung für möglichst alle Bürger verstehbar zu machen. Ausdrücklich fordert Heinz Lampert systematische wissenschaftliche Arbeiten zum Vergleich des Leitbildes und des normativen Anforderungskatalogs einer Sozialen Marktwirtschaft mit dem Normensystem der gegebenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, also der Realität (Lampert, 1992, S. 13 ff.), - Arbeiten, zu denen er selbst Wesentliches beitrug. Mit dieser Aufgabe will sich der folgende Beitrag ebenfalls beschäftigen. Es muß nämlich weiterhin über Grundlagenfragen der marktwirtschaftlichen Ordnungstheorie umfassend nachgedacht werden.
11. Über die Bedeutung von Ordnungen Ausgangspunkt für das Denken in Ordnungen in der deutschen sozialwissenschaftlichen Tradition ist der kritische Umgang mit den Erfahrungen aus der Zeit
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nach dem Ersten Weltkrieg. Diese Zeit, die gelegentlich als "Zeitalter des Nihilismus" bezeichnet wird, wurde von zahlreichen Wissenschaftlern als Periode des Werteverlustes und des Ordnungsverlustes erlebt. Löwith, einer jener deutschen Philosophen, die der Nationalsozialismus wegen ihrer jüdischen Abstammung vertrieb, umschreibt das Empfinden all jener, die sich gegen diese nihilistische Variante des Zeitgeistes auflehnten, mit folgenden Worten: "Die sogenannte geschichtliche Welt ist ... nur dann eine Welt, wenn in ihr eine Ordnung herrscht. ... Alle Geschichtserfahrung bezeugt ... , daß die Menschen für ihr Zusammenleben, im engsten oder auch im weitesten Umkreis, ... darauf angewiesen sind, daß es eine gemeinsame Ordnung gibt, deren Autorität und Gerechtigkeit allgemein anerkannt wird ... (Aber) nicht minder zeigt die Geschichte, daß jede solche (Rechts-)Ordnung von relativer Dauer ist, durchbrochen wird, sich auflöst und immer wieder von neuem hergestellt werden muß, ohne jemals an ein Ende zu kommen". Löwith fügt hinzu, eine menschengeschichtliche Welt sei für jeden Einzelnen "seine Welt, aber nichts ,an sich' oder an ihr selbst" (Löwith, 1989, S. 1540. Daß diese Welt eine Welt des Menschen ist, eine Welt, für deren Ordnung dieser selbst Verantwortung trägt, ist eine Auffassung, die Löwith mit Ökonomen wie Walter Eucken, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke und mit Soziologen wie Rene König und Alexander Rüstow teilt. Was aber kann der Mensch, kann die Wissenschaft tun, um dieser Verantwortung für die Ordnung der Welt zu genügen? Auf welche Weise kann zwischen "guten" und "schlechten" Ordnungen unterschieden werden?
In diesem Kontext stellte Eucken die Frage: Wie kann das Problem der ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung in historischer Vielfalt erfaßt und zugleich auf eine sprachliche Ebene gehoben werden, die den notwendigen historischen Zugang ermöglicht? "Die Spannung, welche diese Antinomie in sich schließt, muß in ihrer ganzen Schärfe begriffen werden: Der geschichtliche Charakter dieses Problems verlangt Anschauung, Intuition, Synthese, Verstehen, Einfühlung in individuelles Leben; - der allgemein-theoretische Charakter indessen fordert rationales Denken, Analyse, Arbeiten mit gedanklichen Modellen. Hie Leben - da Ratio. Wie soll beides, lebendige Anschauung und theoretisches Denken, zu faktischem Zusammenwirken gebracht werden?" (Eucken, 1989, S. 22 f.) - Gesagt wird damit: Anschauung, Intuition, Synthese, Verstehen, Einfühlung in individuelles Leben befähigen uns, ein Zeitalter als eine Periode des Ordnungs- und Wertverlustes zu bezeichnen. Dieser historische, verstehende Zugang verschafft uns aber nicht zugleich die Fähigkeit zu erkennen, wie funktionsfähige Ordnungen beschaffen sein müssen. Dazu bedarf es einer Theorie! Gemäß der Tradition der klassischen Politischen Ökonomik versuchte Eucken, innerhalb der Vielfalt der möglichen und denkbaren Kombinationen menschlicher Institutionen jene Muster zu entdecken, die geeignet zu sein schienen, eine vernünftige und funktionsfähige menschliche Ordnung zu begründen. Innerhalb jenes Feldes wissenschaftlichen Arbeitens erkannte Eucken die überwältigende
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Bedeutung der Analysen Max Webers zum Thema "Wirtschaft und Gesellschaft" (siehe zur Bedeutung Max Webers für die Politische Ökonomik insb. Krüsselberg, 1977, S. 292-303). Grundsätzlich akzeptierte er die Botschaft Webers von einer umfassenden Interdependenz. zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft als Chance, so nah wie möglich an ein Schlüsselkonzept für eine allgemeine Theorie gesellschaftlicher und ökonomischer Ordnungen heranzukommen. Das ist der Gesichtspunkt, der es Eucken erlaubt, seine Gedanken über die "Grundlagen" und die "Grundsätze" (1968) einer menschlichen Ordnung zu entwickeln, die die Tatbestände der Geschichte einbeziehen. Euckens Werk ist Teil eines geschichtlich geleiteten wissenschaftlichen Strebens nach Wiederherstellung einer menschlichen Ordnung, die vernünftig und sittlich ist. Es erwächst aus der Erwartung des historischen Zusammenbruchs des Nationalsozialismus. Sein Grundthema ist eine Reform der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung nach einer (schon viel zu langen) Periode totalitärer Planung und Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Obwohl es Eucken bereits 1938 deutlich ausgesprochen hatte, ist bis heute verkannt worden, daß er mit seinem Werk "gedankliche Vorarbeit" leisten wollte, um den Gesetzgeber zu befähigen, seine Verfassungsgebung auf "Freiheit" und "Ordnung" auszurichten. Hier falle der Nationalökonomie eine "wahrhaft geschichtsgestaltende Macht" zu (Eucken, 1938, S. 43 f.). Die Lehre lautet: Ökonomen müssen nach Methoden suchen, die sie befähigen, vor dem Hintergrund konkreter historischer Erfahrungen konsensf!thige Verfassungen zu entwickeln. Infolge ihrer Geschichtlichkeit ist Verfassungsfindung und Verfassungsgebung unvermeidlich ein Experiment. Wenn wir auf die konkrete Entwicklung Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg schauen, zeigt sich von Anbeginn, wie sich die Themen der ökonomischen und politischen Verfassung verknüpfen. Die Währungsreform und das Leitsätzegesetz (beide vom Juni 1948) präformierten die Entscheidungen über die intendierte politische Struktur. Der überwältigende Erfolg des neuen institutionellen Rahmens war - so meine ich - letztendlich durch den Tatbestand gewährleistet, daß das "Grundgesetz" durch eine verfassungsgebende Versammlung von Bürgern geschaffen wurde, die ihre Arbeit unter ganz bestimmten Voraussetzungen zu tun bemüht waren. Sie wollten die Erfahrungen mit den Diktaturen der Vergangenheit in ihren Diskurs einbeziehen, um eine Verfassung zu schaffen, die nicht nur der gegenwärtigen Generation, sondern auch zukünftigen Generationen (nicht zuletzt in einem wiedervereinten Deutschland) ein Leben in Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit gewährleisten sollte. Ihnen ging es um den Entwurf einer Verfassung, die alle Teilbereiche der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft eindeutigen Verfassungsprinzipien unterwarf. So sah es auch Eucken, der selbst dann, wenn er Fragen der Wirtschaftsordnung diskutierte, niemals außer acht ließ, daß zugleich deren Zusammenhang mit komplementären Ordnungen bedacht werden muß. Gerade dieser Tatbestand
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unterstreicht (siehe hierzu Krüsselberg, 1989 a, S. 224 - 226, 232 - 238) die grundsätzlicheAkzeptanz der Weberschen Interdependenztheorie durch Eucken. Eukkens und Max Webers Interesse an der Sozialtheorie kulminierte in ihrer Frage, welche Stabilitätsbedingungen durch institutionelle Arrangements in jenen Gesellschaften zu schaffen seien, in denen Industrialisierung und Säkularisierung die sozialen Strukturen und Wertsysteme einem permanenten Wandlungsprozeß unterwarfen. Max Weber dachte, das integrative Potential solcher Gesellschaften sei prozessual zu bestimmen; es könnte aus ihrer Fähigkeit erwachsen, mehrere Ebenen sozialer Existenz in einer Perspektive zu verbinden, die den Dingen und dem menschlichen Handeln "Sinn" verleiht. Der notwendige Grad sozialer Kohäsion - dessen war er sicher - sei in modemen Wirtschafts gesellschaften nur dann zu erreichen, wenn sich kulturelle Normen und Konventionen erfolgreich mit Institutionen kombinieren ließen, die auf Prozesse des Interessenausgleichs zwischen Personen (und jenen Gruppen, die ihre jeweiligen Belange vertreten) hinwirken. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Phänomen der Einbindung von Herrschaft in Legitimationszusammenhänge. Max Weber stellte in Rechnung, daß zumindest seit der Aufklärung Regierungen skeptisch als Systeme betrachtet wurden, in denen Menschen über andere Menschen herrschen. Das veranlaßte dazu, nach der moralischen Begründung von Macht und den Bedingungen eines legitimen Umgangs mit Gewalt innerhalb menschlicher Gesellschaften zu fragen. Herrschenden Klassen schien es nicht länger möglich zu sein, implizite oder explizite Fragen nach der legalen Grundlage einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung auf Antworten zu verweisen, die vermeintlich durch außermenschliche oder übermenschliche Autoritäten angeboten wurden. Menschen wurden sensibilisiert, institutionelle Arrangements im Sinne einer positiven oder negativen Interpretation als Lösungen ihrer eigenen Probleme entweder zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Verfassungsgebung verstand sich hinfort als Ergebnis einer nicht abreißenden Folge praktischer Experimente im Umgang mit menschlicher Macht und Autorität. - Und zumindest eine Variante der amerikanischen Theorie der Verfassungswahl nahm an, daß es im historischen Ablauf unabdingbar ist, sich immer wieder erneut dessen zu vergewissern, auf welchen Prinzipien die gültige Verfassung gründen soll. Nur so sei zu gewährleisten, daß'es zu einem dauerhaften Verständnis für die Verfassung kommt und das Wissen über die Bedeutung und Verfassung von Ordnungen eher zunimmt als geschmälert wird. Zu leisten sei in Permanenz sowohl die Reflexion über die Umsetzung jener Prinzipien in eine zeitgemäße Sprache und Form als auch die Prüfung ihrer Durchsetzung in allen Ebenen der Gesellschaft. "So long as the political process is organized to facilitate basic constitutional inquiry, we rnight assurne that citizens in a democracy can acquire capabilities to address and solve new problems over time" (V. Ostrom, 1984, S. 427-431; ferner V. Ostrom 1987, S. 3-10).
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111. Sprache, Regeln, Verfassung Das ist der Kern unserer bisherigen Überlegungen: Wenn sich Ökonomen als Sozialwissenschaftier verstehen, müssen sie die Botschaft der Interdependenz der menschlichen Ordnungen ernst nehmen. Die Botschaft Euckens hieße dann, daß erst die Bewältigung der konstitutionellen Probleme des gesellschaftlichen Lebens die Menschen befähigt, die Spannung zwischen Theorie und Realität zu überbrücken - obwohl sie sich letztlich niemals auflösen läßt. Die Aufgabe der Überbrückung stellt sich ständig neu. Immer geht es um den Vergleich zwischen den Wert- und Verhaltensmustern einer gewünschten Ordnung und der sogenannten normativen Macht des Faktischen. Wie aber soll die Überbrückung erfolgen? Wer soll sie leisten? Der Wissenschaftler oder der Bürger? Ein Problem bleibt dabei existent - die Tatsache, daß sich die Sprache des Alltags, die der Vermittlung von (Handlungs-)Orientierungen dient, oft sehr wesentlich von der Sprache des Wissenschaftlers unterscheidet, der die Logik oder Konsistenz von Handlungszusammenhängen, d. h. deren Ordnung, zu entdecken sucht. Jegliches menschliche Argumentieren und jegliche Konsensbildung bezüglich Ordnungen setzt jedoch die Einigung auf ein Sprachsystem voraus. Zur Problematik der Bildung wissenschaftlicher Terminologien äußert sich Eucken wie folgt: "Erfahrung ... ohne Begriffe ist unmöglich ... Wissenschaftlich zu definieren sind wir (allerdings) erst befähigt, wenn wir in das Sachproblem eingedrungen sind" (Eucken, 1989, S. 7 f.). Max Weber meint dazu: Wenn Sachprobleme bei der Begriffswahl eine Rolle spielen sollen, wird diese durch das "Erkenntnisinteresse" bestimmt. "Sozial-ökonomisch" bedeutet dann in diesem Zusammenhang, daß "unsere physische Existenz ebenso wie die Befriedigung unserer idealsten Bedürfnisse überall auf die quantitative Begrenztheit und qualitative Unzulänglichkeit der dafür benötigten äußeren Mittel stößt, daß es zu ihrer Befriedigung der plan vollen Vorsorge und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesellschaftung mit Menschen bedarf' (Weber, 1988, S. 161). Schon hier betont Max Weber, wie wichtig es ist, die gesellschaftlichen Wechselbeziehungen zu beachten. Spezifisch ökonomische Motive würden "überall da wirksam, wo die Befriedigung eines noch so immateriellen Bedürfnisses an die Verwendung begrenzter äußerer Mittel gebunden ist. Ihre Wucht hat deshalb (einerseits) überall nicht nur die Form der Befriedigung, sondern (zudem) den Inhalt von Kulturbedürfnissen auch der innerlichsten Art mitbestimmt und umgestaltet. ... Andererseits wirkt die Gesamtheit aller Lebenserscheinungen und Lebensbedingungen einer historisch gegebenen Kultur auf die Gestaltung der materiellen Bedürfnisse, auf die Art ihrer Befriedigung, auf die Bildung der materiellen Interessengruppen und auf die Art ihrer Machtmittel und damit auf die Art des Verlaufes der ,ökonomischen Entwicklung' ein." (Weber, 1988, S.163)
Wir sehen: Sprache ist gewiß ein Instrument der Kommunikation. Aber: Sprache erwächst aus der Absicht, Erfahrung gedanklich zu bewältigen, d.h. in eine
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Perspektive einzuordnen, die Beobachtungen verständlich macht. "Wörter hängen von Konzeptionen ab, die in logische Konstruktionen eingebettet sind, die als Elemente und Relationen ausgedrückt werden, welche wiederum auf verschiedene Ebenen der Betrachtung zielen" (V. Ostrom, 1987, S. 225). Offensichtlich entsteht hier das Problem der Vermittlung von Sprache, auf das wir eben verwiesen. Wenn Wissenschaftler Begriffe benötigen, um über die Bedeutung und inhärente Logik wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnungen zu reden, gelingt die Verständigung nur, wenn sie vom gleichen Wortgebrauch und Erfahrungsstand ausgehen. Wie aber vermag die Wissenschaft ihre Sprach- und Denkformen so in das Alltagsleben hineinzuvermitteln, daß die Menschen, die immer in Ordnungen leben, deren Prinzipien und deren Folgen für ihr Alltagsleben nicht nur verstehen, sondern darüber hinaus in kritischer Reflexion akzeptieren oder auch ablehnen und weiterentwickeln können (siehe zu diesem Problem insbesondere V. Ostrom, 1987, S. 19 ff.)? Ich meine, daß dies nur dann zu leisten ist, wenn Gemeinsamkeiten zwischen der Wissenschaftssprache und der Alltagssprache bestehen, über die diskutiert werden kann. Soweit ich sehe, können diese nur dort zu suchen sein, wo es um Handlungen leitende und Verhalten bewertende Prinzipien geht. Schließlich erwächst Ordnung allein aus Handlungszusammenhängen. Unseres Erachtens lassen sich in der wissenschaftlichen Argumentation - wie gleich zu zeigen wäre - immer solche Brücken-Prinzipien, Prinzipien also, die zwischen Sprachsystemen vermitteln, ausmachen. Analytischer Gegenstand der Theorie der Verfassungswahl sind jene institutionellen Regeln, die geeignet zu sein scheinen, reziprokes Verhalten auch im nichtmarktlichen Interaktionsprozeß zu ermöglichen und zu fördern (Oakerson, 1988, S. 149-153). Oakerson baut seine - meines Erachtens sehr zu beachtende Argumentation zum Begriff der "Reziprozität" wie folgt auf. Der gedankliche Ausgangspunkt ist der Tatbestand des Tausches, der in der ökonomischen Perspektive produktiv im Sinne von Pareto-Superiorität ist: Alle Beteiligten verbessern ihre Wohlfahrtsposition. Auf Grund dieser Menschheitserfahrung "we observe ... an expanding set of choices for constituting exchange relationships". Oakerson fragt nun, ob Politik im selben Sinn "produktiv" sein kann. Welche Art der politischen Beziehung zwischen "Herrschenden und Beherrschten" begründet wechselseitig wohlfahrtssteigernde Transfers? Oakerson schlägt vor, solche Verhaltensl1).uster als Muster von "Reziprozität" zu bezeichnen. Gäbe es sie, könnten solche Arrangements das demokratische Potential von Politik erhöhen. Sie seien geeignet, Macht zu kontrollieren durch die Notwendigkeit, sich der Zustimmung der Von Politik Betroffenen zu vergewissern. - Die Entstehung von Reziprozität dieser Art korrespondiert nach Oakerson sehr nachdrücklich mit dem Umfang, in dem Vertrauen, Fairness und wechselseitiger Respekt den Umgang der Menschen miteinander kennzeichnen (Oakerson, 1988, S. 142 - 146). Die Möglichkeit, durch die Anlegung des Maßstabs der Reziprozität die Ausübung von Macht zu begrenzen, wird bei Oakerson als ein Instrument der gesell-
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schaftlichen Entwicklung verstanden. Gesucht werden in solchen theoretischen Studien die nonnativen Bedingungen, die gewährleisten, daß das Verhalten der Menschen in ihren gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen stärker durch "Reflexion und Wahlentscheidungen" als durch "Zufall und Gewalt" bestimmt ist (V. Ostrom, 1987, S. 15, 23, 210). Dieses Denkmuster entdecken wir ebenfalls bei Eucken. Bei ihm jedoch mischen sich Argumente über Prinzipien mit Argumenten über Institutionen. Wettbewerb als Institution dient der Wohlstandsförderung, wirkt also pareto-superior; das leitende Prinzip aber lautet: Die Wirtschaftspolitik sollte grundsätzlich Übermacht (in welchen Bereichen sie auch immer auftreten könnte) unterbinden. Soweit es die Wirtschaftsordnung angeht, hatte er deshalb betont, müsse sie vom Typ einer Wettbewerbsordnung sein. Sorgfältig formulierte er die Bedingungen für deren Funktionsfähigkeit, wobei er zwischen konstitutiven und regulativen Bedingungen unterschied. Konstitutive Bedingungen sind bekanntlich: a) Währungsstabilität (Geldwertstabilität); b) Offenheit der Märkte; c) Privateigentum und Haftung; d) Vertragsfreiheit im Rahmen allgemeiner Regelungen durch Gesetze und e) Konstanz der Wirtschaftspolitik. Zusätzlich werden regulative Ordnungs-Elemente notwendig wie: a) Antitrustpolitik; b) Korrektur externer Effekte; c) eine Politik der Einkommensumverteilung und d) Stabilisierung der Arbeitsmärkte (Eucken, 1968, S. 254- 304). Meines Erachtens wurde selbst von Fachvertretern viel zu oft nicht erkannt, warum Eucken ausdrücklich von Wettbewerbsordnung und nicht von Privateigentumsordnung sprach. Eigentumsordnungen enthalten nach Eucken keine Prinzipien, die gewährleisten, daß sich wirtschaftliches Alltagshandeln zu einem funktionsfähigen Gesamtprozeß verknüpft. Privateigentumsordnungen können monopolistisch entarten. Um Privateigentum zu einem ökonomisch und sozial brauchbaren Instrument des Ordnungsaufbaus werden zu lassen,.muß es eingebunden sein in eine Wettbewerbsordnung. Privateigentum markiert eine Position in einer komplizierten Kette von Beziehungen, die entscheidend determiniert sind durch Verfügungsrechte über monetäre, reale und humane Vermögenskategorien. Alle diese Beziehungen - vor allem die Kapital(markt)beziehungen - müssen pennanent Regeln der Machtkontrolle unterworfen sein. Marktwirtschaften erhalten ihre Besonderheit durch die Wettbewerbsordnung; eher subsidiär wirkt ihre spezielle Eigentumsordnung, die gleichwohl ihren konstitutiven Charakter behält. Daß dabei die sogenannte Eigentumsverteilung, konkreter aber: die Vermögensverteilung, für die Funktionsfähigkeit von Marktwirtschaften nicht belanglos ist, wird leider oft zu wenig reflektiert. Nicht zu übersehen ist, daß dieses System handlungsorientiert ist. Mit dem Plädoyer für eine Wettbewerbsordnung verknüpft sich einmal die Grundannahme, daß Menschen fähig und in der Lage sind, Erfindungen zu machen und Innovationen zu tätigen. Gleichwohl ist nach Weber und Eucken dieses Handlungspotential zentral von der Struktur der kulturellen, politischen, bildungsbezogenen und ökonomischen Subsysteme abhängig. In allen müssen die Grundprinzipien eines
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solchen Systems gültig sein. Es ist bezogen auf eine durchgängige Offenheit der Denksysteme, was die Bereitschaft der Menschen voraussetzt, sich der Rivalität VOn Perspektiven zu stellen und dabei die gruppeninternen Spannungen auszuhalten, die unvermeidlich das Austragen VOn Meinungsverschiedenheiten begleiten. Angesichts einer großen Zahl betroffener Handlungseinheiten scheint eine Vielfalt institutioneller Arrangements eine Vorbedingung für die Funktionsfähigkeit und Effizienz industrieller Gesellschaften zu sein. Sie sollen menschliche Beziehungen ordnen. Wenn sich aber der Ordnungen begründende Prozeß an Eifahrungen orientieren soll, muß jedes Sozialsystem angesichts seiner Geschichte eine spezielle Struktur entwickeln. Eine der zentralen Aufgaben der Gesellschaftstheorie besteht folglich darin zu ermitteln, ob es möglich ist, für jede Gesellschaftsformation jene Kombination von Institutionen zu schaffen, die die menschliche Wohlfahrt maximiert. Mit der Abbildung 1 möchten wir die Komplexität dieser Aufgabe veranschaulichen. Einmal soll betont werden, daß der Maßstab für die Bewertung einer umfassenden sozialen Ordnung nicht in irgendeinem Maß für die Leistung nur eines Subsystems und seiner partiellen Ordnung gefunden werden kann. Zum anderen will unsere Darstellung hervorheben, daß die langfristige Überlebensfähigkeit einer Ordnung zumindest auf zwei Pfeilern ruht: dem Glauben an die Legitimität ihrer Gesetze und ihrer Verfassung und dem Konsens bezüglich der Akzeptanz aller Teilordnungen durch ihre Mitglieder (siehe Roth, 1978, S. LXVIII - LXIX). Menschen bewerten die Leistungen jedes Teilsystems. Alle diese partiellen Bewertungen müssen aber in eine Allgemeinbeurteilung der Leistungen des Gesamtsystems transformiert werden. Menschen entwickeln - so meine ich - ein Leitbild jenes Systems, indem sie ihre Teilwertungen zu einer Gesamtaussage verschmelzen. Daher dient dieses "Leitbild" als Leitlinie für das eigene Verhalten und als Bewertungsmuster für die Handlungen anderer. Solange dieses Leitbild mit den Erwartungen der Menschen bezüglich der aggregierten Ergebnisse einer speziellen Ordnung übereinstimmt, werden sie bestrebt sein, es zu bewahren. Dabei sind zwei grundlegende Tatbestände involviert. Das individuelle Einverständnis mit konstitutionellen Fakten ist nicht allein die Basis der Legitimation für jene Verfassung; es ist zudem die fundamentale Quelle des Motivationspotentials der betroffenen Menschen (Krüsselberg, 1989b, S. 100-133). Deshalb wird die Gesamtheit der Übereinstimmungen über Prinzipien und Institutionen zum Kern der Bewertung und Akzeptanz von Ordnungen.
IV. Die Denkmuster einer Sozialphilosophie der "Offenen Gesellschaft" Bislang war VOn der Bedeutung VOn Ordnungen die Rede, ferner VOn der Rolle, die die Sprache, die Verhaltensregeln und die Verfassung für menschliches Handeln und menschliche Orientierung in der Welt besitzen. Es wurde auch
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versucht, die Komplexität moderner Wirtschaftsgesellschaften zu veranschaulichen. Einleitend war zudem gesagt worden, daß es um Ordnungen für eine offene und freie Gesellschaft zu gehen habe.
- Bürgerliche Grundrechte
VERFASSUNG Rechtsordnung
Sozialordnung
Arbeitsordnung
Wirtschaftsordnung
• Bllndesvarfassungsgericht
• Einkommensveneilung
• Tarifvlrtragsrecht
• Zivil- und Straf-
• Sozialversicherung
• Arbeitnahmerschutz
• Sozial-. Jugend- und
• Mitbestimmung
gerichtsbarkeit
• Betrlebs- u_ Untemeh-
Altenhilfe
• Arbeits- und Sozial-
gerichtsbarkeit
Vermögensbildung
• Wettbewerb.aufsicht
• Eingliederung von Behinderten
• Finanz- u. Verwaltungs-
mensvlrfassung • Elnkommens- und
• Sicherung wirtschaft-
licher Stabilität
gerichtsbarkeit
wirtschaftliche
soziale
Rechte und
Pflichten INDIVIDUEN im Bereich der
Familie
Rechte und
Pflichten politische
personale • Schul- und Hochschul-
• Literatur I Musik I
• System beruflicher
• GeschAfts- und Var-
waJtungszantran
bildende Künste
system
• Theater I Museen ,
• föderalistisches
Staatswesen
• Wohnumfald
• Gesetzgebung
Bildung
Bibliotheken
• Varkehrssystem
• Verwaltung
• Fortbildung
• öffentliche und
• natürliche Umwelt
• Parteiensystem
private Medien
• Erholungsbereich I
• Mitwlrkungs-
• Presse- und Informa-
Sportmöglichkeiten I Nationalparks
tionlwesen
rechte der Bürger
• staats freie RAume
• Glaubensgemeinschaften • Vereine
Bildungsordnung
Kulturelle Ordnung
Umweltordnung
Politische Ordnung
V ERFASS U N G - Bürgerliche Grundrechte Abbildung 1
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Für solche Ordnungen soll nun wiederum gelten, daß sich die Legitimation ihrer Regeln und Institutionen daraus ableitet, bestimmten Annahmen über die Positionen des Menschen in dieser Welt zu genügen. Allen Einzelnen wird nämlich zugestanden, daß sie trotz der begrenzten Möglichkeit aller Individuen, in der Zukunft liegende, ihnen Aktionen und Reaktionen abverlangende Situationen zu antizipieren, fähig sind, gedanklich und deshalb auch handelnd mit komplexen Umwelten adaptiv und kreativ umzugehen. Unterstellt wird, daß sie sich dabei nicht auf Aktivitäten beschränken, die an bereits existierende Regeln gebunden sind, sondern daß sie gewillt sind, Regeln zu ändern, die ihnen als unvernünftig erscheinen. Es wird andererseits ganz uneingeschränkt bestritten, daß es vollrational agierende, all-wissende "Führer" gibt, deren Weisheit sich andere Menschen wegen ihrer Inkompetenz oder Irrationalität zu unterwerfen haben. Statt dessen wird die These ernst genommen, die seit der Klassik unseres Faches in den (sozialwissenschaftlichen) Thesenkatalog gehört: Jeder Mensch bemüht sich ständig um die Verbesserung seiner Lebensbedingungen und vermag je nach seinen eigenen Kräften, dazu einen eigenen Beitrag zu leisten (siehe dazu die ausführliche Kommentierung dieses Denkansatzes bei Adam Srnith in: Krüsselberg, 1984). Auch ohne einen expliziten Rückblick auf das Werk von Adam Smith (was unseres Erachtens sehr gut möglich gewesen wäre) entfaltet Karl R. Popper sein Konzept einer "Offenen Gesellschaft" auf einer gleichrangigen Ebene. Für ihn gilt es, eine Gesellschaftsordnung aufzubauen, "die die absolute Autorität des bloß Vorhandenen und des bloß Traditionellen ablehnt, jedoch alte und neue Traditionen zu erhalten und fortzuentwickeln strebt, welche ihren Forderungen von Freiheit, Menschlichkeit und vernünftiger Kritik entsprechen". Erhofft wird eine "Weigerung (der Menschen), sich passiv zu verhalten und alle Verantwortung für die Lenkung der Welt einer menschlichen oder übermenschlichen Autorität zuzuschieben; deren Bereitwilligkeit, die drückende Last der Verantwortung für vermeidbares Leid mitzutragen und es nach Möglichkeit zu lindern" (Popper, 1957, S. 8). Wissenschaftler und Bürger hätten sorgfältig zu unterscheiden zwischen "den auf Entschluß und Übereinkunft gegründeten normativen Gesetzen, die der Mensch erzwingt, und den natürlichen Regelmäßigkeiten, die sich seiner Macht entziehen ... Normen sind das Werk der Menschen in dem Sinn, daß niemand außer uns selbst für sie verantwortlich ist, weder die Natur noch Gott. Wenn wir finden, daß sie nicht einwandfrei sind, so ist es unsere Aufgabe, sie so gut als nur möglich zu verbessern" (Popper, 1957, S. 95 f.). Wenn die Sozialökonomik betont, daß es zur Befriedigung unserer Bedürfnisse der planvollen Vorsorge und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesellschaftung mit Menschen bedarf (Max Weber), gilt auch hier, daß es möglich sein muß, wirtschaftliche Entscheidungen der Vergangenheit kritisch in Frage zu stellen, Neuerungen dem Test der Akzeptanz oder Ablehnung zu unterwerfen, Veränderungen der Strukturen in Gang zu setzen.
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Die Idee der "Offenen Gesellschaft" stellt sich bei Popper ebenso wie bei Ordo-Liberalen wie z. B. Wilhelm Röpke (1979, S. 33, 75) I sowohl "antikapitalistisch" als auch "anti-marxistisch" dar: "Es wird angenommen, daß die politische Gewalt die ökonomische Gewalt kontrollieren kann". Im Rahmen der Bindung von Verhalten an Regeln und Gesetze soll "Fortschritt" mit der Entwicklung demokratischer Institutionen verknüpft bleiben (Popper, 1958, S. 155 f., 346 f.). Gewiß sind die Änderungen von Institutionen und Normen für wirtschaftliches Handeln - wie Schumpeter in seinem Lebenswerk unermüdlich nachzeichnet - Voraussetzungen für die Ingangsetzung und Beschleunigung des industriellen Prozesses. In einem Prozeß der "schöpferischen Zerstörung", der "industriellen Mutation" entfaltet sich ein Mechanismus sozialer Auswahl, der eine Motivationsstruktur formt, "eine maximale Produktion und minimale Kosten zu erreichen" (Schumpeter, 1950, S. 267 ff., 22 ff., 29). Ausdrücklich bezieht Schumpeter das Postulat der Offenheit der Märkte auf die Forderung des freien Zugangs zu den! Kapitalmärkten, zum Kreditsystem. Dynamik ist das Gebot einer Marktwirtschaft, und unternehmerisches Handeln fundiert das handlungserweiternde Potential der Marktbeziehungen. Aber: Offenheit der Märkte bedeutet Ungewißheit über die eigene Position in der Zukunft. Popper registriert das für viele Menschen damit verbundene Unbehagen unter der Rubrik "Last der Anforderungen der Zivilisation" und meint, wir hätten mit dieser Last zu leben als "Preis, den wir zahlen müssen für jede neue Erkenntnis, für jeden weiteren Schritt zur Vernunft, zur Zusammenarbeit, zur gegenseitigen Hilfe; für jede Verlängerung des durchschnittlichen Lebensalters und für jeden Bevölkerungszuwachs. Es ist der Preis für die Humanität" (Popper, 1957, S. 238). Nie aber soll ein Preis akzeptiert werden, der einem Verzicht auf den "Schutz der Schwachen" gleichkommt, der "Ausbeutung" der Arbeiter in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche ermöglicht. Durch staatliche Gesetzgebung soll "der Schutz der Freiheit der Bürger vor wirtschaftlicher Furcht und wirtschaftlicher Einschüchterung allmählich vollkommen werden" (Popper, 1958, S. 156). Wie verlautete es bei Müller-Armack (siehe zum folgenden Müller-Armack, 1974, S.223, 225, 212-214)? Eine soziale Ordnung, die auf den Wohlstand weitester Schichten gerichtet ist, könne auf das Fundament einer funktionierenden I Diese scharfe Abgrenzung gegenüber dem "Kapitalismus" durchzieht das gesamte Werk Wilhelm Röpkes: "Mit derselben Entschiedenheit ... wie vom Monopol- und Kolossalkapitalismus rücken wir vom Laissez-faire-Prinzip ab ... Eine lebensfähige und befriedigende Marktwirtschaft entsteht . . . nicht dadurch, daß wir geflissentlich nichts tun. Sie ist vielmehr ein kunstvolles Gebilde und ein Artefakt der Zivilisation, ... (die) mit der politischen Demokratie gemeinsam hat, daß sie besonders schwierig ist und besonders viel voraussetzt, worum wir uns angestrengt bemühen müssen" (Röpke, 1979, S. 75 f.). Bemerkenswert ist, daß in bezug auf diese "antikapitalistische" Perspektive sowohl Gustav Heinemann als auch Ludwig Erhard in ihren jeweiligen Würdigungen der wissenschaftlichen Position Röpkes ihre absolute Übereinstimmung ausdrücken (siehe dazu Erhard, 1968, S. 11).
7 Festschrift Lampert
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Marktwirtschaft nicht verzichten. Soziale Gerechtigkeit und persönliche Freiheit - beide sozialethisch unabdingbare Postulate - seien nur auf der Basis einer marktwirtschaftlichen Ordnung gemeinsam zu verwirklichen. Beginnen müsse man mit einem Versuch, die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen. "Soziale Marktwirtschaft" 'sei überall dort, wo man sich zum einen den Kräften des Marktes anvertraut und zum anderen alle vom Staat und von den sozialen Gruppen anzustrebenden Ziele an Ordnungen bindet. Nur damit schaffe man die Voraussetzungen für die Verwirklichung einer freien (politischen und wirtschaftlichen) Ordnung sowie einer sozial gerechten und gesellschaftlich humanen Lebenswelt. Im Zentrum dieser Gesamtordnung "Soziale Marktwirtschaft" und aller ihrer Teilordnungen - darauf insistiert Alfred Müller-Armack stets - steht der Mensch in seiner Personalität, in seiner Würde und seiner Einzigartigkeit. Auf einen funktionsfähigen Ausgleich zwischen allen Teilordnungen zum Zweck der Wahrung des Prinzips "Humanität" hinzuwirken, begründe für Wissenschaft und Politik eine permanente und sich im Detail stets erneuernde Aufgabe!
V. "Koordination" und "offene Gesellschaft" Ordnungen entstehen - so heißt es immer wieder in der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Literatur - durch Koordination. Ich fürchte nun, daß es der ordnungstheoretischen Debatte nicht förderlich ist, den Koordinationsbegriff zu breit zu fassen. So ist z. B. die Rede von Koordination durch Märkte bzw. durch (zentrale) Pläne. Ferner heißt es, mit zunehmender Dezentralisierung von Politik und einer wachsenden Zahl administrativer Eingriffe auf verschiedenen Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft werde der Bedarf an "Koordination dieser politischen Maßnahmen", die sich zahlenmäßig ständig erweitern, immer größer (Tuchtfeldt, 1983, S. 107, 109). Mein Problem besteht darin, daß ich bei all diesen Fragen Entscheidungen über die Art gesellschaftlicher Steuerungsprozesse am Werk sehe und daß diese Entscheidungen - werden sie reflektiert getroffen - auf unterschiedliche "Rationalitäten" zielen. Planrationalität intendiert Subordination der Einzelpläne unter einen Gesamtplan, nicht Koordination. Ihr Kalkül ist das der Logik geschlossener Systeme: es unterstellt, daß vorgegebene (Plan-)Ziele mit einem von "Experten" als günstigst unterstellten und deshalb planmäßig zu verordnenden Mitte1einsatz zu erreichen sind. Als - ich sage einmal - "demokratisches" Gegenstück zu dieser Art gesellschaftlicher "Planrationalität" entstand eine "Koordinationsphilosophie". Um dies zu erläutern, soll abschließend an einige Gedanken erinnert werden, die in der Entstehungsgeschichte des Koordinationsbegriffs eine Rolle spielten. In der Zeit, in der sich die sozialwissenschaftlichen Disziplinen entwickelten, betrachtete man "Koordination" als ein Ergebnis einer gewachsenen "spontanen
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Ordnung". Der Begriff war der Schlüsselbegriff einer allgemeinen Theorie des Marktes. Wissenschafder wie Friedrich A. von Hayek bezeichnen die Entdeckung der Möglichkeit, daß Menschen in Frieden und zu ihrem wechselseitigen Vorteil zusammenleben können, ohne in ihren konkreten Zielen Übereinstimmung erzielen zu müssen, weil sie ihr Verhalten an abstrakte Regeln binden, als die vielleicht größte Entdeckung, die die Menschheit je gemacht hat (Hayek, 1976, S. 136). Koordination (in spontanen Ordnungen) bedeutet, daß sich die Menschen zu kontinuierlichen Aktivitäten zusammenfinden, weil sie ein gemeinsames Interesse haben, Lösungen für anstehende Probleme zu entwickeln, welche für alle Beteiligten wechselseitige Vorteile begründen. Deshalb werden sie bemüht sein, so lange miteinander zu verhandeln, bis sie Übereinstimmungen erzielen. Dabei werden sie darauf achten, daß die Regeln, unter denen sie verhandeln, "fair" sind, weil sie - soweit wie möglich - Chancengleichheit schaffen. Obwohl dieser "Koordinationsansatz" insbesondere für die Entwicklung der Markttheorie von Belang war, ist doch zu erkennen - wie bereits Max Weber unmißverständlich feststellte 2 - daß es im Prinzip um nichts anderes geht als um eine Betrachtung der Möglichkeiten, in Gesellschaften trotz Interessendivergenzen zu konsensfähigen Arrangements zu kommen. Solche Möglichkeiten stellen für Weber eine wesentliche Komponente der "Rationalisierung" des Handelns dar. Gleichwohl ist dieses Denkmodell- was vielfach kaum noch verstanden wird - grundlegend für zumindest das klassische Verständnis von Sozialökonomik. Das Konzept einer Marktwirtschaft (als spontane Ordnung) unterstellt eben die gesellschaftliche Bereitschaft, ein hohes Maß an Heterogenität zu tolerieren, an Begabungen, persönlichem Engagement in Berufs- und Marktaktivitäten, an Geschmacksrichtungen und Präferenzen. Es akzeptiert eine hohe Vielfalt an persönlicher Ausformung je individueller Muster des Lebens. Es unterstellt eine Übereinstimmung zwischen vielen Menschen, Einzigartigkeit in einem Ausmaß zu akzeptieren, in dem es Märkte gibt, auf denen selbst sehr spezielle Nachfrage2 Diese Bezugnahme auf ein Marktsystem, die in der Debatte ziemlich üblich ist, sollte den Sozialwissenschaftler nicht für die Tatsache blind machen, daß der Marktaustausch nur ein, wenngleich sehr stark diskutierter Fall konsens-bildender Handlungen ist. Siehe dazu Max Weber (1956, S. 14): "Zahlreiche höchst auffallende Regelmäßigkeiten des Ablaufs sozialen HandeIns, insbesondere (aber nicht nur) des wirtschaftlichen HandeIns, beruhen keineswegs auf Orientierung an irgendeiner als ,geltend' vorgestellten Norm, aber auch nicht auf Sitte, sondern lediglich darauf: daß die Art des sozialen HandeIns der Beteiligten, der Natur der Sache nach, ihren normalen, subjektiv eingeschätzten, Interessen so am durchschnittlich besten entspricht und daß sie an dieser subjektiven Ansicht und Kenntnis ihr Handeln orientieren: so etwa Regelmäßigkeiten der Preis bildung bei ,freiem' Markt. ... Diese Erscheinung: daß Orientierung an der nackten eigenen und der fremden Interessenlage Wirkungen hervorbringt, welche jenen gleichstehen, die durch Normierung - und zwar sehr oft vergeblich - zu erzwingen gesucht werden, hat insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet große Aufmerksamkeit erregt: - sie war geradezu eine der Quellen des Entstehens der Nationalökonomie als Wissenschaft. Sie gilt aber von allen Gebieten des HandeIns in ähnlicher Art.".
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varianten befriedigt werden. Notwendig ist nur, daß potentielle Anbieter durch Preis gebote motiviert werden, selbst ungewöhnliche (bislang fremde) Güter oder Dienstleistungen zu produzieren. Solche Freiheit zum Marktzugang ist die Grundlage für einen Prozeß, der alle, die bereit sind, in Marktaktivitäten einzutreten, über ihre speziellen wohlstandsstiftenden Kapazitäten (in all ihrer Diversität) informiert und zu deren Einsatz anreizt.
Gefolgert wird daraus, daß Koordination ein Vorgang ist, der Ordnung durch wechselseitige Vereinbarungen zwischen Menschen entstehen läßt. Als ihr entscheidendes Merkmal gilt Freiwilligkeit. Das ist die Voraussetzung dafür, daß sich allmählich Regeln gerechten Handeins herausbilden. Denn: Einzig von den Entscheidungen der Menschen hängt ab, ob und wie sie mit anderen Menschen "im Licht der wechselnden Möglichkeiten, die ihnen bekannt sind" (Hayek, 1976, S. 123), in (Austausch- )Beziehungen eintreten. Noch wichtiger ist aber für solche Ordnungen ihre Offenheit gegenüber der Zukunft, die Möglichkeit zur Alternative, zur Änderung des Status quo. Diese Ordnung reduziert sich weder auf gegebene Ziele noch auf gegebene Mittel. Ihr Merkmal ist Evolution. Ihr Erfolg (oder Mißerfolg) hängt von der Chance ab, bewertete Artefakte zu liefern, welche - im Wettbewerb miteinander - Substitute oder Supplemente sein mögen gemäß der Wahl entscheidung zustimmender Personen. Für die Markttheorie bedeutet dies: Marktrationalität ist die Rationalität der neuen Erfahrung. Marktrationalität ist jene Art dynamischer Rationalität, die sich in einem nicht-determinierten Entdeckungsprozeß im Bemühen, menschlichen Wohlstand zu fördern, entfaltet. Der Begriff "Koordination" impliziert die Rationalität eines "offenen Systems", die grundlegende Rationalität einer "offenen Gesellschaft" (K. R. Popper). Das ist das Eigenartige und zugleich Einzigartige dieser Wissenschaftserfahrung. Die Reflexion über Marktprozesse ließ eine völlig neuartige Aufgabe für die Sozialtheorie und die Wirtschaftstheorie entstehen: Zu erklären war, wie sich gesellschaftliche Ordnungen zu entwickeln vermögen durch spontan sich entfaltende, wechselseitig vorteilhafte Prozesse der Erzielung von Übereinstimmungen zwischen unabhängigen Entscheidungsträgern, die um nichts anderes bemüht sind als um die Realisierung ihrer eigenen Ziele. Ordnung bedeutet hier eine äußerst produktive Kompatibilität multipler Einzelpläne und die Existenz eines kohärenten Musters des gesellschaftlichen Prozesses in seiner Gesamtheit (Eukken, 1989, S.88, 125, 141-143; 1968, S.130, 175, 195-198)-ohne daß eine Notwendigkeit besteht, sich auf die Ordnung stiftenden Entscheidungen einer höchsten Autorität einzulassen.
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VI. Eine Schlußbemerkung Die Aufgabe einer Ordnungstheorie, die sich als Theorie der konstitutionellen und institutionellen Wahl versteht, bleibt aktuell: Es ist über Ordnungsmuster nachzudenken, die Kohärenz und Flexibilität in einer Welt permanenten Wandels schaffen und sich den Prinzipien einer "offenen Gesellschaft" verpflichtet wissen. Diese Aufgabe ist - wie einleitend gesagt wurde - eine ständige Herausforderung für all jene, die den Status quo als verbesserungsbedürftig betrachten unter dem Aspekt, daß es in einer sich stetig ändernden Umwelt und angesichts der Möglichkeit, bei Bedarf selbst institutionelle Regeln zu ändern, grundsätzlich äußerst schwierig sein dürfte, der Realität in irgendeiner sinnvollen Weise Optimalität zu unterstellen (E. Ostrom, 1990, S. 59 f., 223 f.). Diese Auffassung, daß unablässig über die Grundprinzipien einer freien und gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und die Möglichkeiten ihrer problemorientierten Umsetzung in Gesetze, Verhaltensregeln und Institutionen nachzudenken sei, dürfte vor dem Hintergrund weltweiter politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Irritationen eher an Gewicht gewinnen. Alle in unserem Beitrag genannten Autoren eint die Ansicht, daß jene Gesellschaft die humanste sei, weil sie die Elemente des Zwangs und der Gewalt minimiert (Lampert, 1992, S. 88). Gleichwohl muß gesehen werden, wie Popper von Anbeginn in seinen Studien über die "offene Gesellschaft" betonte, daß diese viele Feinde besitzt. Diese setzen auf den Vorrang von Hierarchie vor Koordination. Zur Klärung der Eigenart von Systemen, die dem Koordinationsaspekt im Sinne unserer Darlegungen in V. besonderes Gewicht zumessen, ist es deshalb hilfreich, auf einen Gesichtspunkt aufmerksam zu machen, den J. R. Hicks (1969, S. 24, 22) besonders betonte: Die hierarchische Organisation ökonomischer Aktivitäten sei "der prinzipielle Hintergrund, vor dem die Evolution des Marktes zu studieren ist". Obwohl sich die zu beobachtenden hierarchischen Formen von Aktivitäten durchaus unterschieden, liege ihnen allen "ein streng ökonomischer Tatbestand" zugrunde. "Die für sie zentrale ökonomische Verknüpfung sind die Einkünfte, die Steuer, der Tribut oder die Bodenrente ... , die an eine anerkannte Autorität fließen". Je stärker sich die Zentralgewalt ausbilde, desto bedeutsamer werde die Tributkomponente. Das entscheidende regulierende Instrument einer Zentralgewalt sei ihr Budget. Durch die Zentralisierung der Akquisition eines - wo auch immer zu findenden - "Überschusses" ergebe sich die Chance zu einer Maximierung der Einkünfte nach eigener Berechnung. Als "Legitimation" diene die besondere Wertigkeit der durch die Zentralgewalt gesetzten Ziele. "Tribut" und "reflektierte Wechselseitigkeit der Leistungen, von Leistung und Gegenleistung" - das sind die Basisbegriffe, in denen sich "geschlossene" und "offene" Gesellschaften unterscheiden; so dürfte die Botschaft der Hicksschen "Theory of Economic History"-lauten. Popper versuchte, "einige der Prinzipien
102
Hans-Günter Krüsselberg
des sozialen Wiederaufbaus" nach dem Zweiten Weltkrieg zu thematisieren (Popper, 1957, S. 6), jene nämlich, die "offene Gesellschaften" konstituieren. Wir meinen in voller Übereinstimmung mit Heinz Lampert, daß die Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft ähnliches anstrebten. Alle wußten um das "Utopiequantum", das in ihren Gesellschaftsentwürfen steckte; alle aber bekannten sich zu den dazu notwendigen Sozialreformen. Auch wir sollten dauerhaft danach fragen, wo in der pOlitischen Realität unserer Gegenwart "Tributelemente" , die auf die Existenz von Zwang und Gewalt hinweisen, abgebaut werden können. Deshalb muß weiterhin über das Leitbild der "offenen Gesellschaft" und das der geistigen Väter des Konzepts der "Sozialen Marktwirtschaft" sowie deren Chancen, in die Tagespolitik hinein wirken zu können, diskutiert werden.
Literatur Erhard, Ludwig: Gedenkrede, in: In Memoriam Wilhelm Röpke, Marburg 1968, S. 921. Eucken, Walter: Nationalökonomie wozu?, Leipzig 1938.
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Wohlfahrt und Institutionen: Betrachtungen zur Systemkonzeption im Werk von Adam Smith, in: Kaufmann, F. X. / Krüsselberg, H.-G. (Hrsg.): Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt/New York 1984, S. 185-216.
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Zur Interdependenz von Wirtschaftsordnung und Gesellschaftsordnung: Euckens Plädoyer für ein umfassendes Denken in Ordnungen, in: Ordo, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 40, Stuttgart 1989a, S. 223-241.
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Ordnungstheorie - Zur Konstituierung und Begründung der Rahmenbedingungen. in: Biervert, B. / Held, M. (Hrsg.): Ethische Grundlagen der ökonomischen Theorie, Frankfurt/ New York 1989b, S. 100-133.
Lampert, Heinz: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 11. überarb. Aufl., München 1992. Löwith, Karl: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Frankfurt a.M. 1989. Müller-Armack, Alfred: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bem / Stuttgart 1974. Oakerson, Ronald J.: Reciprocity: A Bottom-Up View of Political Development, in: Ostrom, V. / Feeny, D. / Picht, H. (Hrsg.): Rethinking Institutional Analysis and Development, San Francisco 1988, S. 141-158.
Wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungen
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Ostrom, Elinor: Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge / New York / Port Chester / Melbourne / Sydney 1990. Ostrom, Vincent: Why Governments Fail. in: Buchanan, J. M. / Tollison, R. D. (Hrsg.): The Theory of Public Choice, II, Ann Arbor / Michigan 1984, S. 422-435. -
The Political Theory of a Compound Republic, 2. Aufl., Lincoln / London 1987.
Popper, Karl R.: Der Zauber Platons, Bern 1957. -
Falsche Propheten, Bern 1958.
Röpke, Wilhelm: Civitas Humana, 4. Aufl., Bern / Stuttgart 1979. Roth, Guenther: Introduction, in: Weber, Max: Economy and Society: An Outline of Interpretive Sociology, hrsg. v. Roth, G. / Wittich, c., Berkeley / Los Ange1es / London 1978, S. XXXIII-CX. Schlecht, Otto: Macht und Ohnmacht der Ordnungspolitik - Eine Bilanz nach 40 Jahren ., Sozialer Marktwirtschaft, in: Ordo, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 40, Stuttgart / New York 1989, S. 303 - 320. Schumpeter, Joseph Alois: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950. Tuchtfeldt, Egon: Bausteine zur Theorie der Wirtschaftspolitik, Bern / Stuttgart 1983. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, 4., neu überarb. Aufl., Tübingen 1956. -
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. J. Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988.
Erwerbsstruktur und Vermögensverteilung als Einflußfaktoren der privaten Sekundärverteilung des Volkseinkommens Von Wolfgang 1. Mückl
I. Zu den auffälligsten Entwicklungstrends, welche die langfristige Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland kennzeichnen, gehört der nahezu ununterbrochene Anstieg der Arbeitnehmerquote, d. h. des Anteils der unselbständig Beschäftigten an der Gesamtzahl aller Erwerbstätigen. Dieser Anstieg signalisiert einen erheblichen Wandel der Erwerbsstruktur: Einer im Trend fast permanent steigenden Zahl der Arbeitnehmer steht eine bis vor kurzem auch absolut sinkende Zahl von Selbständigen (einschließlich mithelfender Familienangehöriger) gegenüber. Zur Charakterisierung dieser Entwicklung ist bereits von einem Wandel zur "Arbeitnehmergesellschaft" gesprochen worden I. Einige Zahlen sollen diese Entwicklung verdeutlichen. Im Jahre 1950 betrug die Arbeitnehmerquote noch 68,4 %, im Jahre 1960 bereits 77 ,0 %; in der Folgezeit stieg sie über 83,4% (1970) auf 88,3 % (1980) und schließlich auf 89,4% (1990). In den folgenden Jahren hat sich die Arbeitnehmerquote noch etwas erhöht; sie ist erstmals im Jahre 1993 wieder auf 89,4% abgesunken. Zur Erklärung dieser Entwicklung wird auf den sektoralen Strukturwandel verwiesen, der sich in der Bundesrepublik in den letzten vierzig Jahren vollzogen hat, aber auch auf den Trend zu wachsenden Betriebs- und Unternehmensgrößen und zur Bürokratisierung. Es ist bereits früh die Vermutung geäußert worden, daß die beschriebene Entwicklung der Arbeitnehmerquote von einem erheblichen Einfluß auf die Einkommensverteilung ist. Insbesondere der bis in die frühen achtziger Jahre reichende trendmäßige Anstieg der "tatsächlichen" Lohnquote (der nur von einem kurzfristig-antizyklischen Verlaufsmuster überlagert wird) ist darauf zurückgeführt worden. Um diesen Trendeinfluß sichtbar zu machen bzw. auszuschalten, wurde 1 Die genannte Entwicklung ist allerdings nicht auf die Bundesrepublik beschränkt, sondern zeigt sich auch in anderen Industriestaaten. Vgl. dazu: E. Sambaeh, Einige Beziehungen zwischen Einkommensverteilung, Löhnen, Produktivität und Beschäftigtenstruktur sowie ihre längerfristige Entwicklung in den EWG-Ländern, in: Konjunkturpolitik, 11. Jahrgang (1965), S. 19 ff.
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Wo1fgang J. Mückl
das Konzept der "bereinigten" Lohnquote entwickelt. Diese fiktive Lohnquote liegt unterhalb der tatsächlichen und zeigt ein langfristig stabileres Verhalten. Ein anderer Gesichtspunkt hat zum Konzept der "ergänzten" Lohnquote geführt, die vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als "Arbeitseinkommensquote" bezeichnet wird. Mit dieser Quote wird der Sachverhalt berücksichtigt, daß in den in der Volkswirtschaftlichen. Gesamtrechnung ausgewiesenen Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen auch Arbeitseinkommen, nämlich kalkulatorische Unternehmerlöhne enthalten sind, die funktional den Einkommen aus unselbständiger Arbeit entsprechen und diesen deshalb zuzurechnen sind 2. Die Arbeitseinkommensquote verläuft über der tatsächlichen Lohnquote und liegt, abgesehen von kurzfristigen Schwankungen, bei etwa 80 % des Volkseinkommens. Die Arbeitseinkommensquote repräsentiert somit die funktionelle Verteilung des Volkseinkommens. Für die Beantwortung der Frage, wie das Volkseinkommen auf Arbeitnehmer und Selbständige aufgeteilt wird, wovon m.a.W. die private Sekundärverteilung des Volkseinkommens abhängt, ist die Arbeitseinkommensquote allerdi~gs nur von indirekter Bedeutung. Hier liegt es näher, auf die tatsächliche Lohnquote zurückzugreifen, die immerhin das Arbeitseinkommen der unselbständig Beschäftigten in Beziehung zum Volkseinkommen setzt. Aber als Maßgröße für die private Sekundärverteilung ist die tatsächliche Lohnquote deshalb ungeeignet, weil sie nur einen Teil des gesamten Arbeitnehmereinkommens berücksichtigt. Was fehlt, sind die Vermögenseinkünfte, die von den Arbeitnehmern in einem inzwischen durchaus erheblichen Umfang bezogen werden und zu ihrem Arbeitseinkommen addiert werden müßten. Aber Statistiken hierüber liegen nicht vor. Arbeitnehmer und Selbständige (Unternehmer) sind auch in der modemen Wirtschafts gesellschaft jene Gruppen, denen aufgrund ihrer funktionsbestimmten und die Gesellschaft prägenden Rollenaufteilung eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Aus sozialökonomischer Sicht ist deshalb die Frage, wovon die Verteilung des Volkseinkommens auf diese beiden Gruppen langfristig abhängt - und zwar vor jeglicher Umverteilungsaktivität durch den Staat - von besonderem Interesse. Dieser Frage soll im folgenden Beitrag trotz der dargestellten Probleme der statistischen Verifizierung weiter nachgegangen werden. 2 Bei der rechnerischen Ennittlung der Unternehmerlöhne wird unterstellt, daß die Selbständigen Arbeitseinkünfte in Höhe der durchschnittlichen Lohn- und Gehaltseinkommen pro Kopf der unselbständig Beschäftigten beziehen. Damit ergibt sich die Arbeitseinkommensquote als Quotient aus tatsächlicher Lohnquote und Arbeitnehmerquote oder umgekehrt die tatsächliche Lohnquote als Produkt aus Arbeitnehmerquote und Arbeitseinkommensquote. Zum Berechnungsverfahren siehe: W. Krelle, Bestimmungsgründe der Einkommensverteilung in der modemen Wirtschaft, in: W. G. Hoffmann (Hrsg.), Einkommensbildung und Einkommensverteilung. Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Band 13, Berlin 1957, S. 77 ff. sowie das Jahresgutachten 1993/ 94 des Sachverständigerirates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Anhang IV B.
Erwerbsstruktur und Vermögensverteilung
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Grundlage hierfür ist ein einfacher Modellansatz, der mit gängigen und vergleichsweise schwachen Annahmen arbeitet. Dabei wird sich zeigen, daß neben der funktionellen Einkommensverteilung nicht nur die Erwerbsstruktur, sondern auch die Vermögensverteilung zwischen den Arbeitnehmern und den Selbständigen als Bestimmungsfaktor der privaten Sekundärverteilung eine Rolle spielt. Zwar liegen aufgrund der "Auskunftsarmut der amtlichen Vermögensstatistik"3 auch hierüber keine für unsere Zwecke verwertbaren Daten vor. Dennoch soll auf der Grundlage von plausibel erscheinenden Größenordnungen versucht werden, zu Aussagen zu gelangen, die nicht nur von theoretischem, sondern auch von verteilungspolitischem Interesse sind.
11. Entsprechend unseren einleitend gemachten Bemerkungen gehen wir davon aus, daß sowohl die Arbeitseinkommen als auch die Kapitaleinkünfte "querverteilt" sind, d. h. in bestimmten Anteilen auf Arbeitnehmer und Selbständige aufgeteilt werden. Durch diese doppelte Querverteilung kommt nicht nur die Erwerbsstruktur, sondern auch - wie gleich gezeigt werden soll- die Vermögensverteilung zwischen den beiden Gruppen ins Spiel 4 • Das Gesamteinkommen der Arbeitnehmer YA setzt sich aus ihrem Lohneinkommen LA und ihren Kapitaleinkünften GA zusammen. Das Lohneinkommen der Arbeitnehmer ergibt sich als LA = aL, d. h. als Produkt aus der Arbeitnehmerquote a und dem gesamten Arbeitseinkommen L. In entsprechender Weise gehen wir davon aus, daß die Vermögenseinkünfte der Arbeitnehmer einen bestimmten Anteil x am gesamten Kapitaleinkommen G (= Y - L) ausmachen, so daß GA = xG gilt. Setzt man voraus, daß die Verzinsung des Vermögens der Arbeitnehmer (GA I K A) der Durchschniusverzinsung (GI K) entspricht 5 , dann ist die Gewinnaufteilungsquote x nichts anderes als der Anteil der Arbeitnehmer am Gesamtvermögen (GAIG = KAI K = x). Aus diesen einfachen (und im Detail sicher nicht gänzlich unanfechtbaren) Annahmen läßt sich die private Sekundärverteilung des Einkommens, also die Verteilung des Volkseinkommens auf Arbeitnehmer und Selbständige, bestimmen. Für das Gesamteinkommen der Arbeitnehmer gilt zunächst (1) 3 Vgl. dazu: H. Lampert, Lehrbuch der Sozialpolitik, 2. überarbeitete Auflage, Berlin u.a.O. 1991, S. 375. 4 Vgl. hierzu auch den Beitrag des Verf.: Über ein Verteilungsziel und seine Realisierung, in: T. Seitz (Hrsg.), Wirtschaftliche Dynamik und technischer Wandel, Alfred E. Ott zum 60. Geburtstag, Stuttgart / New York 1989, S. 131 ff. 5 Diese Annahme ist in der Verteilungstheorie ebenfalls üblich geworden und geht zurück auf L. L. Pasinetti (Rate of Profit and Income Distribution in Relation to the Rate of Economic Growth, in: The Review of Economic Studies, Vol. 29 (1962), S. 271 f.).
Wolfgang J. Mückl
108
Dividiert man nun diese Gleichung durch das Volkseinkommen Y, dann erhält man
(2) (3)
YA
L
G
Y
Y
Y
-=a-+x-bzw.
YA
L
Y
Y
- = x + (a-x)-
YA
G
Y
Y
oder - = a - ( a - x ) - .
Diese Gleichungen zeigen, wovon der Einkommensanteil der Arbeitnehmer, der hier die private Sekundärverteilung des Volkseinkommens repräsentiert, abhängig ist. Es sind dies drei Verteilungs größen: -
Die Arbeitnehmerquote a, die für die Erwerbsstruktur steht und die Verteilung der Arbeitseinkommen bestimmt,
-
der Vermögens anteil der Arbeitnehmer x, durch den die Aufteilung der Kapitaleinkommen gesteuert wird, und schließlich
-
die Quoten der funktionellen Einkommensverteilung, nämlich die Arbeitseinkommensquote LlY bzw. die Kapitaleinkommensquote GIY.
Die Arbeitnehmerquote a und der Vermögensanteil der Arbeitnehmer x sind sozialökonomische Strukturkoeffizienten, die sich aus Bestandsgrößen zusammensetzen. Solche Bestandsgrößenquoten sind, wie an der EIitwicklung der Arbeitnehmerquote in der Bundesrepublik deutlich geworden ist, keineswegs unveränderlich. Aber sie ändern sich eher langsam und trendmäßig und können deshalb als die langfristigen Variablen in den Verteilungsgleichungen (2) f. angesehen werden. Im Unterschied dazu stellen die Quoten der funktionellen Einkommensverteilung Stromgrößenquoten dar, die sich vergleichsweise schnell und auch (anti-) zyklisch bewegen können. Allerdings folgen sie keinem eindeutigen langfristigen Trend. Die durch den Einkommensanteil YAIY zum Ausdruck kommende private Sekundärverteilung des Volkseinkommens wird also kurzfristig durch Änderungen der funktionellen Einkommensverteilung bestimmt, wobei die Einflußstärke (und -richtung) von den Strukturkoeffizienten a und x abhängt. Langfristige Änderungen der Sekundärverteilung des Volkseinkommens gehen hingegen auf Trendentwicklungen in der Erwerbsstruktur sowie der Vermögensverteilung zurück. Die in den Gleichungen (2) f. enthaltenen Verteilungszusammenhänge lassen sich graphisch veranschaulichen. In der Abbildung 1 wird auf der Abszisse der Vermögensanteil der Arbeitnehmer x und auf der Ordinate der Anteil dieser Gruppe am Volkseinkommen YAIY gemessen. Wir gehen von einem bestimmten Wert der Arbeitnehmerquote a aus, der auch auf der Abszisse abgetragen ist.
Erwerbsstruktur und Verrnögensverteilung
~--------------------------~ ,
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a .......................F,........................... .
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109
45°
c
B ,,' ~ .
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....
..'
Dl/~,.,-- 1,5
100 100 100 100
100 100 100
Alle
Wohlstandspositionsklasse von ....... bis unter ....... des Gesamtdurchschnitts
93,0 93,1 91,1 90,4
81,4 80,8 80,9
Relative Einkommensposition
in % -
52,3 52,4 52,3 51,8
42,3 42,4 42,9
Anteil der Personen in diesem Haushaltstyp an der Gesamtbevölkerung
-
Quelle: SOEP-West, Wellen 7, 8, 9: SOEP-Ost, Wellen 1,2,3,4. Berechnungen von K. Müller
Anmerkungen: I) Die Ergebnisse beruhen auf den Nettomonatseinkommen der befragten Haushalte in dem der Befragung vorhergehenden Monat (ohne Mietwerte eigengenutzter Eigentümerwohnungen) zuzüglich 1/12 von einmaligen Zahlungen. Diese Ergebnisse sind nicht voll vergleichbar mit den Angaben in den Tabellen 3 - 5. 2) Die Angaben beziehen sich auf Haushalte mit deutschem und mit ausländischem Haushaltsvorstand.
Alte Bundesländer 1990 1991 1992 Neue Bundesländer 1990 1991 1992 1993
Jahr
Tabelle 6 Die Verteilung von Personen in Haushalten mit mindestens einem minderjährigen Kind auf Klassen von Wohlstandspositionen in den alten und neuen Bundesländern von 1990 bis 1993 1),2)
~
§ '"(1)...,
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ä
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00
Die Entwicklung der Einkommenslage von Familien über zwei Dekaden
149
seits auch eine teilweise Übernahme der Kinderlasten durch den Staat, d.h. durch jene Steuerzahler, die im selben Jahr keine Kinderlasten zu tragen haben. Dabei sollte in den unteren Einkommensschichten ein höherer Anteil übernommen werden als in den oberen Einkommensschichten; und schließlich müßte der vom Staat übernommene Anteil mit zunehmender Kinderzahl ansteigen, da eine Familie mit jedem zusätzlichen Kind in eine niedrigere Wohlstandspositionsklasse absinkt. Als Grenzfälle wären am unteren Ende der Wohlstands skala die volle Übernahme der Mindestkinderkosten in Höhe des jeweiligen sozio-kulturellen Existenzminimums vorzusehen und im obersten Bereich könnte man sich eine Verminderung des Staatsanteils auf Null vorstellen, da dort eine selbstverantwortliehe Gestaltung zugemutet werden kann. Auf eine Kurzformel gebracht könnte man dieses Konzept als einen "nach oben begrenzten, gemischt horizontalen und vertikalen Kinderlastenausgleich" bezeichnen; derartige Unter- und Obergrenzen sind in der Bundesrepublik auch für andere staatliche Transferleistungen sowie für die stärker das Äquivalenzprinzip betonenden Sozialversicherungen weithin akzeptiert. Gemessen an dieser Konzeption scheinen die sichtbar gewordenen Unterschiede in den durchschnittlichen relativen Wohlstandspositionen der Haushalte ohne und mit Kinder nicht besonders gravierend. Jedoch sind mehrere Aspekte sichtbar geworden, die eine familienpolitische Reaktion erfordern: das zu starke kind bedingte Absinken der Familien mit mehr als zwei Kindern aus unteren und mittleren Einkommensschichten; die weit häufiger als bei Ehepaaren mit Kindern prekäre Lage der Alleinerziehenden, insbesondere wenn mehr als ein Kind zu betreuen ist; -
der in den alten Bundesländern bereits hohe und in den neuen Bundesländern neuerdings stark steigende Anteil der Familien mit Kindern, die sich im untersten Wohlstandssegment - d. h. unterhalb der Hälfte der jeweiligen durchschnittlichen Wohlstandsposition - befinden.
Eine Umgestaltung des Familienlastenausgleichs oder des Kinderlastenausgleichs i.e.S. sollte sich auf Lösungen konzentrieren, die diese Verwerfungen abmildern.
Literatur Bethusy-Huc, Viola Gräfin von: Reformvorschläge heutiger Familienpolitik, in: Iwersen,
Albrecht und Tuchtfeldt, Egon (Hrsg.): Sozialpolitik vor neuen Aufgaben, Horst Sanmann zum 65. Geburtstag, Bem/ Stuttgart/ Wien, 1993, S. 347-362.
Buhmann, Brigitte et al.: Equivalence Scales, WeIl-Being, Inequality, and Poverty:
Sensitivity Estimates Across Ten Countries Using the Luxembourg Income Study (LIS) Database, in: The Review oflncome and Wealth, Ser. 34, No. 2 (1988), pp. 115142.
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Richard Hauser
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Kinderkosten, umlagefinanzierte Rentenversicherung, Staatsverschuldung und intergenerative Einkommensverteilung Kinderbezogene Alternativen zum heutigen gesetzlichen Alterssicherungssystem Von Reinar Lüdeke
I. Einleitung Teilt man die Gesamtbevölkerung in die Erwerbstätigen-, Rentner- und Kindergeneration ein, so zeichnet sich in der Bundesrepublik Deutschland auf den ersten Blick folgendes zentrale Geflecht I von Realtransfers und Finanzströmen sowie damit zusammenhängender Verantwortlichkeiten zwischen den Generationen ab:
I Eine Reihe weiterer Ströme erscheinen entweder quantitativ nicht zentral (z. B. private monetäre Unterstützungen für die Eltern in der Rentnerphase und Erbschaften
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Die Erwerbstätigengeneration übernimmt - zu einem kleineren Teil (als Steuerzahler) kollektiv, zum größeren Teil (als Eltern) privat - die Kosten der Aufziehung und Erziehung der Kindergeneration. 2 Gleichzeitig sorgt die Erwerbstätigengeneration über Rentenversicherungsbeiträge für die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und über das Steuersystem für die Pensionen der Ruhestandsbeamten und die Altersversorgung der Sozialhilfeempfänger. Obendrein zeichnet die Erwerbstätigengeneration für einen Teil der Gesundheitsleistungen und für fast alle Pflegeleistungen zugunsten der Rentnergeneration verantwortlich. Die pekuniäre Altersversorgung der Rentnergeneration durch die Erwerbstätigengeneration erfolgt somit überwiegend kollektiv via Umlagesystem, während die Transfers von der Rentnergeneration zur Erwerbstätigengeneration in Gestalt von Schenkungen und Erbschaften fast nur privat fließen. Von der Kindergeneration an die Erwerbstätigen fließende Ströme scheinen im Regelfall (bei noch nicht erfolgten Erbschaften an die Kinder) nicht möglich zu sein. Über den Lebenszyklus hinweg verwandelt sich die zweifach empfangende Kindergeneration zur vierfach leistenden und einfach empfangenden Erwerbstätigengeneration, um dann als Rentnergeneration v. a. kollektiv zu empfangen, während gleichzeitig auf privater Ebene u. U. freiwillig gegeben wird. Soweit das öffentliche Vermögen (Finanz- und Realaktiva) die Staatsschuld übertrifft, wie es heute immer noch in erheblichem Umfang der Fall ist,3 sind diesen Strömen zwischen jeweils zwei Generationen noch kollektive Schenkungen und Erbschaften von der (den) älteren Generation(en) an die jüngere(n) Generation(en) hinzuzufügen. Seit Anfang der sechziger Jahre ist die durchschnittliche Geburtenhäufigkeit einer Frau über ihr Leben hinweg in den alten Bundesländern von 2,5 auf 1,4 im Jahr 1992 gesunken. 4 Die obige Skizze der intergenerativen Beziehungen der Rentnergeneration an die Kindergeneration) oder sind nur schwer durchschaubar (z.B. der Übergang von Forderungen aus der versteckten Staatsschuld des umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems von den Rentnern an die beitragszahlenden Erwerbstätige~).
2 Nach der wohl umfassendsten makroökonomisch angelegten Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland trugen 1974 die öffentliche Hand I /4, die privaten Haushalte aber 3/4 der Gesamtaufwendungen für die nachwachsende Generation (Wissenschaftlicher Beiratfür Familienfragen, 1979, S. 102). Für zwei Modellfamilien, die 1983 beginnend zwei Kinder jeweils 18 Jahre lang (bei insgesamt 8jähriger Unterbrechung der Erwerbstätigkeit der Mutter) versorgen, kommt Lampert zu einem Aufwandsanteil der öffentlichen Hand von etwa 20% (Lampert, 1993, S. 132; ders. 1992, insbes. Tab. 3 und 4, S. 140/1), allerdings ohne Berücksichtigung von staatlichen Realleistungen in den Kindergärten und Schulen. 3 Zu entsprechenden Berechnungen vgl. Lüdeke, 1988a, Tabellenanhang. Sobald die Staatsverschuldung die öffentlichen Aktiva wertmäßig übertrifft, können die implizierten negativen Schenkungen und Erbschaften auch als Transfers von der (den) jüngeren Generation(en) wie z.B. der Kindergeneration an die ältere(n) Generation(en) gedeutet werden. 4 Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, in: Bundesministerium für Familie und Senioren, 1994, S. 9. Daß sich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR diese Geburtenziffer von 2,4 zu Beginn der sechziger Jahre auf das extrem niedrige Niveau von 0,84
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vermag manches zur Deutung und Würdigung dieser Entwicklung beizutragen. Als problematisch wird in der Regel vor allem die drastische Erhöhung der Belastung der Erwerbstätigengeneration durch die kollektiv zu finanzierenden Renten und Pensionen herausgestellt, ein Aspekt, der durch die neu eingeführte umlagefinanzierte Pflegeversicherung noch zusätzliches Gewicht erhält. Sieht man als Ursache dieser Entwicklung auch einen unzureichenden Familienlastenausgleich an, rückt das Verhältnis der kollektiven zu den privaten Transfers zugunsten der Kindergeneration in den Mittelpunkt, lassen sich doch im weiteren Sinne alle öffentlich finanzierten Leistungen für die Kinder als Maßnahmen des Familienlastenausgleichs deuten. Z. T. wird der Familienlastenausgleich damit begründet, daß die heutigen Kinder als spätere Erwerbstätige Garanten für die Altersversorgung der dann existierenden Rentnergeneration sind. Soll deshalb ein entsprechender Teil der Kinderkosten von denjenigen getragen werden, die als spätere Rentner Nutznießer der Beitragszahlungen der heutigen Kindergeneration sind, läge es nahe, den Begriff "Familienlastenausgleich" durch "Familienleistungsausgleich" zu ersetzen. Statt der kollektiven Finanzierung eines Teils der Kinderkosten könnte aus dieser Perspektive aber auch eine engere Verknüpfung zwischen dem privaten Tragen der Kinderlasten und dem späteren Rentenempfang vorgenommen werden, wie es seit einigen Jahren ansatzweise durch die Anrechnung von Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung geschieht. Bei konsequenter Anwendung einer solchen Verknüpfung gehört die niedrige Reproduktionsrate vielleicht schon recht schnell der Vergangenheit an. Ins Blickfeld gerät so auch die Möglichkeit, bei sinkender Geburtenziffer - und damit einhergehender Entlastung einer Generation vom Aufziehen von Kindern - verstärkt via Kapitalakkumulation Vorsorge für das Alter zu betreiben, um so die zusätzliche Belastung späterer Erwerbstätigengenerationen durch die umlagefinanzierte Rentenversicherung in Grenzen zu halten. In den Mittelpunkt der weiteren Überlegungen soll jedoch zunächst (Kap. 11) ein ganz anderes Konzept der monetären Beziehungen und Verantwortlichkeiten zwischen den Generationen gestellt werden. Ausgangspunkt sei~n Individuen und Generationen, die über ihren Lebenszyklus hinweg eigenverantwortlich für ihren Lebensaufwand zu sorgen haben. Dabei steht es jedem Individuum und jeder Generation frei, diese Aufgabe für die Nachkommen durch freiwillige intergenerative Erbschaften und Schenkungen zu erleichtern. Diesem Konzept, das mit umlagefinanzierten Altersrenten in Abhängigkeit von den zuvor ausgelegten Kinderkosten verknüpft werden kann, wird in Kap. III das heute existierende Altersversorgungs- und Kinderkostenfinanzierungssystem, wie es oben skizziert wurde, gegenübergestellt. Den kollektiven und privaten Schenkungen, die jeder im Jahr 1992 gesenkt hat, ist mit den Besonderheiten des gesellschaftlichen Umbruchs seit 1990 zu erklären. Mit Ausnahme weniger Jahre lag zwischen 1950 und 1990 die Geburtenziffer in der damaligen DDR z.T. sogar erheblich über der Geburtenziffer in den alten Bundesländern.
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Bürger in seiner Kindheits- und Jugendphase empfängt, weil er für die Erziehungs" und Ausbildungskosten nicht verantwortlich gemacht wird, stehen in der Erwerbstätigenphase Belastungen durch eine versteckte Staatsschuld im Umfang der geleisteten Rentenversicherungsbeiträge gegenüber. 5 So wie jede Generation in dieser Welt als Kind Leistungen empfängt und als Erwerbstätiger belastet wird, so wird sie in der Erwerbstätigenphase Schenkungen an die Nachfolgegeneration tätigen und in der Rentnerphase die Staatsschuld weiterwälzen. Entscheiden sich in diesem System Eltern für ein zusätzliches Kind, so sind sie zu einer privaten Schenkung erheblichen Umfangs an das Kind verpflichtet, ohne daß sie gleichzeitig die Vorteile zu spüren bekommen, die durch den Beitrag des Kindes zur Altersversorgung der Elterngeneration entstehen. Dies kann man - wie schon oft vertreten - als die Crux des heutigen Systems der Renten- und Kinderkostenfinanzierung ansehen. In Kap. IV werden Überlegungen zur Sinnhaftigkeit und Möglichkeit eines wenigstens teil weisen Übergangs vom heutigen System zum Referenzsystem des Kap. 11 angestellt, ohne daß sich am Umfang der intergenerativen Transfers etwas ändern muß. Ziel ist stets auch, die Entkoppelung zwischen der Verantwortung für die Kindergeneration und für die eigene Altersversorgung wenigstens teilweise wieder rückgängig zu machen. Wer weniger zur Akkumulation des Humankapitals beiträgt, für den ist eS möglich und sollte es auch notwendig sein, eine Zusatzleistung für die eigene Altersversorgung zu erbringen. Der Zusammenhang dieser Überlegungen mit Vorschlägen zur Reform des Familienlastenausgleichs und der gesetzlichen Rentenversicherung ist abschließend Gegenstand von Kap. V.
11. Eigenverantwortlichkeit einer jeden Generation über ihren Lebenszyklus hinweg Ausgangspunkt der Betrachtung sei folgendes gesellschaftliche Szenario: Die Bürger leben in einer arbeitsteiligen marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft unter vielen, es gibt kein staatliches Zwangsabgabensystem und auch keine Staatsausgaben (die Rechtsregeln werden freiwillig eingehalten), und die Markteinkommen entsprechen der Grenzproduktivität der eingesetzten Produktionsfaktoren. Familiengründung und Altersvorsorge werden als Privatangelegenheit angesehen, nach der Volljährigkeit sind die Kinder gegenüber ihren Eltern verpflich5 In dem dreiperiodigen Drei-Generationen-Modell entsprechen die Sozialversicherungsbeiträge, mit denen die Altersrenten via Umlageverfahren finanziert werden, dem kollektiven Schuldenstand, der sich in Forderungen der beitragszahlenden Erwerbstätigengeneration an den Staat widerspiegelt. Im Umfang der eigenen Altersrenten wird dieser Forderungsbestand (im Regelfall zuzüglich einer gewissen Verzinsung, die unterhalb des Marktzinssatzes liegt) später an die nächste Generation weitergegeben. Zur Analyse vgl. Lüdeke, 1988b, S. 170-175.
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tungsfrei. Umgekehrt gilt für die Eltern nach der Volljährigkeit dasselbe, vor der Volljährigkeit haben die Eltern den Kindern als rechtliches Minimum nur das sozio-kulturelle Existenzminimum zu gewährleisten. Zwischen Eltern und Kindern existieren in gewissem Maße wechselseitige Nutzeninterdependenzen. Jede Generation durchläuft drei gleichlange Altersphasen, zu jedem Zeitpunkt existieren drei Generationen. Erziehungsphase Kinderphase
Erwerbstätigenphase Elternphase
Ruhestandsphase Großelternphase
Kindergeneration
Erwerbstätigengeneration
Rentnergeneration
Die Entscheidung über Kinder und ihre Erziehung fällen allein die Eltern in ihrem ureigenen Interesse, wobei hier das Interesse an einer Altersversorgung (einschließlich möglicher Pflegeleistungen) wegen der völligen Freiwilligkeit von Leistungen durch die Kinder im eigenen Alter relativ nachrangig ist. In der Erwerbstätigenphase wird ein Vermögen für die Alterssicherung akkumuliert, eventuell auch für eine geplante Erbschaft. Die Erbschaft kann dabei auch als Gegenleistung für die eigene Alterssicherung (einschließlich möglicher Pflege) durch die Kinder gedacht sein. Ausgaben für Kinder über das sozio-kulturelle Existenzminimum hinaus sind freiwilliger Art. Drei Gründe sind vorstellbar, warum die regenerativen Entscheidungen der einzelnen beeinflußt werden sollten, im Interesse einer möglichen Besserstellung aller: 1. Es entstehen Umweltprobleme 6 durch zusätzliche Erdenbürger, die die Eltern bei ihren individuellen Entscheidungen nicht zu spüren bekommen (familienexterne Kosten). 2. Es besteht ein Interesse der möglichen Kinder am Leben, das von den potentiellen Eltern direkt nicht berücksichtigt wird (externe Erträge, zugleich aber familienintern). 7 6 Umwelt muß hier in einem sehr weiten Sinne interpretiert werden (einschließlich der übrigen Menschen als Teil der Umwelt). Umweltprobleme entstehen vor allem durch reale Externalitäten, verursacht durch Existenz und Aktivitäten der zusätzlichen Erdenbürger. 7 Läßt man wie z.B. Peters in gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktionen nur die ProKopf-Wohlfahrt einer Generation als Determinante der gesellschaftlichen Wohlfahrt gelten (Peters, 1992, S.5), ist es nicht erstaunlich, daß sich Empfehlungen für ein zurückhaltendes regeneratives Verhalten ergeben. So ist doch z. B. zu erwarten, daß der Pro-Kopf-Wohlstand bei kleinerer Zahl von Kindern je Familie wegen größerer Bildungsinvestitionen je Kind steigt (S. 12), was nach Peters zum Urteil "fertility is counter productive" (S. 14) führt. Hinter einer solchen Wohlfahrtspezifizierung, die z.B. mit dem Paretokriterium als Wohlfahrtskriterium kollidieren kann, selbst wenn die Wohlfahrt der zusätzlichen Erdenbürger gar nicht Argument in der gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion wäre, dürften jedoch nur wenig vertiefte normative Überlegungen stehen. Auch wenn man wie Homburg und Gräff die Möglichkeit in Erwägung zieht, daß das ProKopf-Einkommen den Charakter eines öffentlichen Gutes hat (dies., 1988, S. 15) ergäben
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3. Es besteht ein Interesse der Kinder an einer aufwendigeren Erziehung, die aber von den Eltern aus ihrem Eigeninteresse heraus nicht gewünscht wird (aus der Sicht der Eltern externe Bildungserträge, die aber wieder familienintern bleiben). 8 Unter der Voraussetzung, daß die Kinder und die Altersversorgung weiterhin als Privatangelegenheit angesehen werden, wären die oben angeführten Probleme zu lösen oder abzumildern, wenn a) umweltökonomisch eine gezielte Internalisierungsstrategie gefahren würde, so daß über Pigou-Steuern, veräußerbare Emissionsrechte, Crowdingsteuern usw. zusätzliche Verursacher umweltbelastender Aktivitäten die marginalen Kosten voll zu spüren bekommen und die Belasteten wenigstens potentiell kompensiert werden könnten, 9 b) die existenzminimalen Ausgaben, die rechtlich verpflichtend sind, den Eltern ersetzt werden, finanziert durch aufgenommene Kredite, die die Kinder in der späteren Erwerbstätigenphase zu tilgen haben, \0 c) alle für die Kindergeneration "rentierlichen" Erziehungs- und Bildungsinvestitionen 11 durch Erziehungs- und Bildungskredite zu finanzieren sind, die in
sich zwar allokationspolitische Interventionsgründe, aber keine derartige Spezifizierung einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion. Die völlige Mißachtung der Interessen "eingesparter" Kinder (nach Homburg / Gräff eine "Scheinfrage" , weil die "jetzt Lebenden zu entscheiden haben, ob sie die Bevölkerungszahl durch Subventionen erhöhen wollen", dies., 1988, S.22) erscheint aus ethischer Perspektive jedenfalls wenig attraktiv, und das nicht nur für die Verfechter des reinen Utilitarismus. Nichtsdestotrotz ist diese "ProKopf'-Betrachtung bei intergenerativen ökonomischen Analysen üblich (so z.B. ohne Begründungsversuch Breyer, 1990, S. 15/6, S. 19). Zu einer Auseinandersetzung mit diesem Problem ("Die Irrelevanz von Durchschnittswerten") aus der philosophischen Disziplin siehe Birnbacher, 1988, insb. S. 60-67. 8 Zur Analyse der Probleme, die für das Erreichen einer allokativ effizienten Bildungsentscheidung selbst dann entstehen können, wenn das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern durch gegenseitigen reinen Altruismus geprägt ist, siehe Chakrabarti u. a., 1993, S.994/5. 9 Dies ist kein leichtes Unterfangen, selbst wenn die angesprochenen fiskalischen Institutionen nach üblichen Maßstäben optimal greifen. Ein zusätzlicher Erdenbürger würde dann zwar die verursachten Lasten voll zu spüren bekommen, er würde aber' gleichzeitig als Staatsbürger in der Regel an den Zahlungen der anderen (ebenfalls optimal belasteten) Bürger rivalisierend partizipieren. \0 Vorausgesetzt wird, daß die Mitglieder der nächsten Generation trotz der materiellen Eigenverantwortlichkeit für ihren gesamten Lebenszyklus und der Spürbarmachung der Umweltkosten noch im Regelfall ein positives Lebensinteresse haben. Dies dürfte eine kaum restriktive Annahme sein. Von den verteilungspolitischen Zielsetzungen der Bedarfsgerechtigkeit aus gesehen, dürfte intragenerativ nur eine Verbesserung eintreten, wenn die Last der Erziehungsaufwendungen von den Eltern in dieser Generation auf die Köpfe der Erzogenen verschoben würde. Zu den Verteilungswirkungen solcher unterschiedlicher Szenarien speziell bei der Hochschulausbildung in Deutschland vgl. Grüske, 1994.
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der Erwerbstätigenphase durch die Ausgebildeten selbst zu tilgen sind, soweit nicht der Staat wegen externer Bildungserträge wenigstens Teile dieser Bildungsfinanzierung übernimmt. Dieses neue Szenario entspricht einer größtmöglichen Eigenverantwortlichkeit einer jeden Generation über ihren ganzen Lebenszyklus hinweg, gleichzeitig auch der größtmöglichen Freiwilligkeit aller Schenkungen und Erbschaften an die nachfolgende Generation. Die neu entstandenen Ströme von Finanz- und Realleistungen und die Verantwortlichkeiten verdeutlicht folgende Skizze:
Kinder- und Jugendzeit
Erwerbstätigenzeit
1 Man .rh'" Kredte von den Erwerb.At. ."
Man gewahrt Kredl. an die Jug.~d
Alterszeit
Man zahlt v.rzlnallch. Kredit. an frOher . . Erw.rbetAtlgen o-tzt
d.
Rentn.r) zurOck
Man erhAlt 'rOher
gel••tete Kredit. ..... rzlnanch zurück
M.n
.'-1_
Schenkungen und
Erb"chan.n
Die Institutionen unter b) und c) dürften zu einer intergenerativen Umverteilung zu Lasten der zukünftigen Generationen führen, sofern die Eltern ihre geplanten Erbschaften und Schenkungen nicht in vollem Umfang der aufgenommenen Kredite erhöhen. 12 Eine solche Erhöhung ist immer dann zu erwarten, wenn II Bei diesen "Investitionen in das Humankapital" handelt es sich keinesfali nur um solche Maßnahmen, die im monetären Sinne für die Kindergeneration ,,rentierlieh" sind. Zum Beitrag gerade der Familie zu einer weitgefaßten, wirtschaftswissenschaftlich weitgehend vernachlässigten Humankapitalbildung vgl. Lampert, 1993, insbes. S. 122-126. 12 Eine Belastung der zukünftigen Generationen ist aber selbst bei Konstanz der geplanten Erbschaften und Schenkungen nicht zwingend der Fall. Da die nächste Generation sich ebenfalls von den Kosten zur Aufziehung der eigenen Kinder entlasten kann, liegt per Saldo eine Belastung der jeweils nächsten Generation nur vor, wenn der Zinssatz,
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wegen Nutzeninterdependenzen zuvor schon positive Schenkungen an die eigenen Kindern geplant waren. Insgesamt wird sich die Elterngeneration aber diese Möglichkeit eigener Konsum- und Nutzenerhöhungen (bei geplanten Erbschaften von Null oder bei anderen Erbschaftsmotiven als den Nutzeninterdependenzen) nicht voll entgehen lassen. Wenn diese intergenerativen Verteilungskonsequenzen allerdings nicht gewünscht sind, so kann ihnen ohne Aufgabe der Reform durch kollektive (steuerfinanzierte) Vermögensbildung entgegengewirkt werden. Wenn die Ausgaben, die den Eltern ersetzt werden, durch kollektive Kredite finanziert werden, die durch die jeweils aufgezogene und ausgebildete Generation in ihrer Erwerbstätigenphase getilgt werden, wobei die Äquivalenzidee u. U. mit der Versicherungsidee verbunden wird, ist man bei einer typischen Maßnahme der öffentlichen Hand. Diese Tätigkeit wird hier spezifiziert als Kreditgewährung an die Kindergeneration und Gewährung von Versicherungsleistungen an dieselbe Generation während der Tilgungsphase, sofern man darauf verzichtet, daß in jedem Einzelfall die Erziehungs- und Ausbildungskosten aus der Kindheitsphase auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen sind. Rechtfertigen ließe sich diese staatliche Aktivität durch Unvollkommenheiten auf dem Kredit- und Versicherungsmarkt. Soweit die Elterngeneration ihre individuelle Alterssicherung durch Gewährung von Krediten an den Staat sichert, mit denen der Staat wiederum die Aufwendungen für Erziehung und Ausbildung ausgleicht, finanziert die heutige Kindergeneration bei der Rückzahlung der aufgenommenen Kredite die Renten der heutigen Erwerbstätigengeneration. Diese Renten sind aber relativ unabhängig von der Entwicklung der Kinderzahl, denn bei weniger Kindern und damit auch weniger durch die Kinder aufgenommenen Krediten wird die Altersversorgung durch andere Vermögensanlagen gesichert. 13 Die Einführung von Versicherungselementen bei der Kredittilgung wird mit den üblichen Moral hazard Problemen erkauft (z. B. negative Leistungsanreize, wenn die Rückzahlungshöhe in gewissem Umfang von der Höhe des Leistungseinkommens abhängt); hier wäre im Interesse der Mitglieder der jeweiligen Generation der allokativ effizienteste Komprorniß zu suchen. 14 der auf die Kinderkostenkredite zu zahlen ist, höher ist als die Wachstumsrate der Kinderkosten im Zeitablauf (= Wachstumsrate der Kinderzahl + Wachstumsrate der Erziehungskosten je Kind). 13 Dies gilt uneingeschränkt, wenn weder der Zinssatz noch der Lohnsatz von der Entwicklung der Bevölkerung abhängen. Erfolgt die Altersvorsorge nur via inländische Kapitalanlagen und damit bei Vernachlässigung der Staatsverschuldung und der Konsumentenkredite über inländische Realkapitalakkumulation, dürfte aber z. B. eine Bevölkerungsschrumpfung durch entsprechend veränderte Knappheitsverhältnisse zu einer Erhöhung der Lohnsatz-Zinssatz-Relation führen. Zu Beginn der Schrumpfung führt dies zu einer Belastung der Rentnergeneration, da diese mit sinkenden Zinssätzen auf schon getätigte Kapitalanlagen konfrontiert wird. Den nachfolgenden Generationen stehen diesen gesunkenen Zinssätzen in etwa kompensierend gestiegene Lohnsätze gegenüber, was wegen des zeitlich früheren Lohnanfalls einer Besserstellung gleichkommt. Vereinfachend wird im weiteren davon ausgegangen, daß die Zinssatz-Lohnsatz-Relation konstant ist, wie es bei sehr großer internationaler Kapitalmobilität auch der Fall sein müßte.
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Verficht man diese Idee finanzieller Eigenverantwortlichkeit einer jeden Generation für alle ihre Lebensphasen, ersetzt man den Eltern aber nicht sofort alle erwähnten Ausgaben, spielen sie die Rolle von Zwangskreditgebern. Renten in der Rentnerphase sind dann wenigstens teilweise als Ertrag und Rückzahlung dieser Zwangskredite interpretierbar (Elternrente). Innerhalb eines Familienverbandes liefe das ohne jegliche Kollektivierung auf eine (teilweise) Unterhaltsverpflichtung der Kinder für ihre Eltern hinaus. Bei Kollektivierung und Einbau von Versicherungselementen könnte ein solches System auch Rentenversicherungsbeiträge der Kinder in ihrer Erwerbstätigenphase in Abhängigkeit von ihrem Einkommen (Versicherungskomponente) implizieren, u. U. differenziert nach Ausbildungsniveaus, während Renten an die Rentner in Abhängigkeit von der Kinderzahl zu leisten sind, u. U. wieder differenziert nach dem Ausbildungsniveau der eigenen Kinder (weil dahinter höhere Zwangskredite stehen). Versicherungselemente könnten auch so eingebaut werden, daß die Rente von heute in Beziehung zum laufenden durchschnittlichen Erwerbseinkommen gebracht wird, nur daß der erwartete Kapitalwert der Rente mit dem Wert der implizit gewährten Kredite übereinstimmen sollte. Auch dieses Rentenversicherungssystem ist letztlich unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung. Bei einem Rückgang der Kinderzahl würde die heutige Erwerbstätigengeneration in dem Umfang, wie sie sich Zwangskredite zugunsten der Kinder erspart, mit einer anderen Vermögensbildung für ihr Alter vorsorgen können - und wohl auch wollen. Kinderlose Bürger hätten ohnehin nur diese Möglichkeit der Altersvorsorge. Statt der Eltern könnte auch die gesamte Erwerbstätigengeneration in Abhängigkeit von ihrem Erwerbseinkommen zu Zwangskrediten an die Kindergeneration herangezogen werden. Sind diese Zahlungen Basis der späteren Rente, haben sie gleichzeitig die Funktion von Kinderkassen- und Rentenversicherungsbeiträgen, 15 wobei sich die Rente wie im heutigen System sowohl an der Stellung des Rentners in der Einkommenshierarchie seiner Generation als auch am durchschnittlichen laufenden Erwerbseinkommen orientieren könnte. Garantiert sein muß nur, daß der Erwartungswert der Rente den getragenen Kinderkosten entspricht. Finanziert wird die Rente aus den Kinderkreditrückzahlungen der jeweili14 Je höher bereits in der Gesellschaft die marginale Einkommensbelastung durch Zwangsabgaben ist, um so größer werden die Excess-Burden bei einer Belastungsanhebung und um so geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Risikoüberlegungen im Interesse der Betroffenen zu Kreditrückzahlungen führen, die in der Gesamtheit (nicht nur in der zeitlichen Verteilung) vom tatsächlich erzielten Einkommen der Zahlungspflichtigen abhängig gemacht werden. Bei den heute schon erreichten hohen marginalen Abgabenquoten spricht vieles dafür, daß die Mitglieder der Generation im Eigeninteresse die tatsächliche Rückzahlung der ,Jugendkredite präferieren würden. 15 Auch im engeren Wortsinn'handelt es sich bei diesen Kinderkostenfinanzierungsbeiträgen um die eigentlichen Versicherungsbeiträge, nicht bei den Tilgungsleistungen der Kinder im späteren Erwerbsleben, die unmittelbar zur Finanzierung der Renten genutzt werden. Niemand käme bei einer Lebensversicherung auf den Gedanken, Darlehenstilgungen, in welcher Form sie auch immer erfolgen, als Versicherungsbeitrag zu bezeichnen,
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gen Erwerbstätigengeneration - eine Art Kinderleistungsausgleich. 16 Die Notwendigkeit eines steuerfinanzierten Familienlastenausgleichs innerhalb einer Generation (Familienlastenausgleich im engeren Sinne) entfiele, und damit entfielen auch die allokationspolitisch bedenklichen zusätzlichen Substitutionsprozesse (Steuerausweichprozesse) aufgrund einer solchen Steuerfinanzierung. Der äußeren Form nach läge dann ein umlagefinanziertes Rentenversicherungssystem wie heute in Deutschland vor, nur daß die durchschnittliche Rente eindeutig mit den (kreditfinanzierten) Kosten zur Aufziehung der Kindergeneration verknüpft ist. Alle Erwerbstätigen müßten sich darüber im klaren sein, daß mit der relativen Abnahme der Kinderzahl die ergänzenden Anstrengungen zum Aufbau einer anderen Säule der Alterssicherung gesteigert werden müßten, soll der ursprünglich angestrebte Lebensstandard im Alter gesichert bleiben. Wie schon angedeutet, dürfte das Konzept generationsmäßiger Eigenverantwortlichkeit intergenerative Verteilungskonsequenzen mit sich bringen. Während in der heutigen Kinder- und Jugendphase privat und kollektiv erhebliche Transfers zugunsten der jungen Generation fließen, wäre bei dieser Reform die Erwerbstäl tigengeneration vom Zwang zu solchen Transfers befreit. Intergenerativ hat dies dieselben Konsequenzen wie die Aufnahme einer Staatsverschuldung in dieser Höhe, die VOn der Erwerbstätigengeneration konsumtiv verwandt wird, mit all den Differenzierungen, die aus der Lastverschiebungsdiskussion im Zusammenhang mit der Staatsverschuldung bekannt sind. 17 Das Besondere an der hier dargestellten fiskalischen Institution ist jedoch darin zu sehen, daß auf ihrer Basis ein Rentensystem kreiert werden kann, das offen die Aufwendungen für Kinder mit der Rentenhöhe der Financiers dieser Kinderkosten verknüpft und dadurch zur Konsolidierung der Rentenfinanzen unabhängig von demographischen Entwicklungen beiträgt. Aus allokationspolitischer Sicht sind die geschilderten fiskalischen Institutionen angesichts verbleibender intergenerativer Konflikte noch keinesfalls optimal, was das generative Verhalten und die Ausbildungsentscheidungen der Eltern betrifft. Schon bei der Bestimmung dessen, was Erziehungs- und Bildungsinvestitionen sind, die aus der Sicht der Kinder rentierlich und deshalb auch von ihnen
16 "Kinderleistungsausgleich": Ein Ausgleich der Leistungen, die von der Elterngeneration für die Kinder in der Kindheits- und Jugendphase erbracht wurden, durch die Kinder in der Erwerbstätigenphase in Gestalt von Renten an die Elterngeneration. Davon deutlich zu unterscheiden ist ein Familien- oder Kinderleistungsausgleich, durch den den Kiridern oder ihren Eltern letztlich von den jeweiligen Nutznießern nur die Leistungen entgolten werden, die die Kinder als externe Erträge (z. B. Rentenversicherungsbeiträge im heutigen System) verursachen. 17 Dazu gehört die Möglichkeit der nächsten Generationen, die Lasten voll weiterzuwälzen, solange die Wachstumsrate des Staatsschuldenbestands größer ist als der Zinssatz auf die bisherige Staatsschuld. In Deutschland dürfte dieser Fall beim Kinderkostenkreditsystem angesichts negativer Wachstumsraten bei den Kindern und des schon erreichten hohen Bildungsniveau in Zukunft nicht aktuell sein.
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zu finanzieren sind, würden die Konflikte häufig offen ausbrechen. 18 Welche Wahl bei der Verteilung der Entscheidungskompetenzen und der Finanzierungsverantwortung zur Effizienzsteigerung der Entscheidungen im einzelnen aber auch getroffen wird, 19 das Konzept der intergenerativen Kreditgewährung zeigt eine oft vergessene Perspektive zur Begründung sowohl von Institutionen des Familienlastenausgleichs 20 als auch eines kinderbezogenen Rentenversicherungssystems 21 auf, ohne daß man auf häufig umstrittene Umverteilungsvorstellungen innerhalb der Generationen oder zwischen den Generationen zurückgreifen muß. Darüber hinaus kann es zur intragenerativen Chancengleichheit in dem Maße beitragen, wie ein angemessener Lebensunterhalt in der Kindheitsphase sowie Bildungswege, die den Neigungen und Fähigkeiten der Jugendlichen entsprechen, durch die Jugend- und Kindheitskredite materiell abgesichert sind. Inter- und intragenerativer Transfers bedarf es zur Herstellung dieser Chancengleichheit insbesondere dann nicht mehr, wenn die Kredite nicht (versteckt) von den eigenen Eltern, sondern offen von der Allgemeinheit in Gestalt von Jugend- und Kindheitsrenten geleistet werden. 22
18 Ist z. B. wie bei Peters das Bildungsniveau Argument in der Nutzenfunktion der Eltern, nicht hingegen wie bei reinem Utilitarismus das (durch Bildungsinvestitionen beeinflußbare) Nutzenniveau der Kinder (Peters, 1992, S. 3), dann könnten die Eltern eine andere Bildung für ihre Kinder wünschen, als es aus der Sicht der Kinder optimal ist. Aus dem Blickwinkel allokativer Effizienz wäre ein Bildungsniveau erwünscht, das irgendwo zwischen den Bildungswünschen der Kinder (falls sie gut informiert rational wünschen) und der Eltern liegt. 19 Wird die Entscheidungskompetenz über die Bildung wie heute ab dem Volljährigkeitsalter weitgehend in die Hand der Jugendgeneration gelegt, dürften die allokationspo!itischen Probleme nicht geringer werden, wenn die Finanzierungsverantwortung in der Hand der Eltern bleibt. Auch von diesen Institutionen ausgehend weist die skizzierte Reform in eine richtige Richtung. 20 Schreiber, ein früher Verfechter der ,Kindheits- und Jungendrente' , betont zu Recht, daß hier nicht mehr der Gedanke des Familienlastenausgleichs, sondern der Verteilung des Lebenseinkommens auch auf die einkommensschwachen Phasen des Lebenszyklus im Vordergrund steht (Schreiber, 1955, S. 31-36). 21 Nach Schreiber ist diese Verbindung der Normalfall in den Familien der vorindustriellen Gesellschaft: "Die Eltern zogen die Kinder groß und erwarben dadurch den selbstverständlichen Anspruch, in ihrem Alter von den Kindern unterhalten zu werden" (Schreiber, 1955, S. 31). 22 Je mehr die Kredite aus den Haushaltseinkommen der Eltern geleistet werden und je schwächer die Beziehung zwischen der elterlichen Rente und den tatsächlichen Ausgaben für die Kinder ist, umso mehr wird man zur Herstellung intragenerativer Chancengleichheit noch auf Transfers zurückgreifen müssen. Zum Vorschlag solcher ergänzenden kinderbezogenen Umverteilungen trotz kinderbezogener Renten vgl. Schmidt / Frank / Müller-Rohr, 1985, S. 50-54.
11 Festschrift Lampert
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III. Die Verantwortlichkeit der Erwerbstätigengeneration für die Kinder- und Rentnergeneration zugleich· Ausgegangen werde wieder wie in Kap. 11 von einem Szenario, in dem sowohl die Entscheidungen über Kinder (Anzahl, Erziehung) als auch die Altersvorsorge als eine reine Privatangelegenheit der betroffenen Haushalte, Familien usw. betrachtet wird. Nun entscheidet sich die Bevölkerung für eine der folgenden Reformen: a) ein konstanter Prozentsatz des Erwerbseinkommens bis zu einer Obergrenze sind Rentenversicherungsbeiträge, die in einen Topf fließen, aus dem Renten an die Rentnergeneration proportional zum früheren Erwerbseinkommen (in späteren Perioden: zu früheren Rentenversicherungsbeiträgen) geleistet werden; b) die Rente macht einen konstanten Prozentsatz des früher erzielten Erwerbseinkommens (bis zu einer Obergrenze) aus, u. U. dynamisiert entsprechend der Einkommensentwicklung. Finanziert wird diese Rente durch proportionale Beiträge auf das Erwerbseinkommen (wieder bis zu einer Obergrenze); c) statt der beitrags- und einkommensbezogenen Rente von a) und b) wird eine Einheitsrente eingeführt, ansonsten gelten die Annahmen von a) oder b) (einkommensproportionale Beiträge, Möglichkeiten zur Dynamisierung). Wenn aus der Einheitsrente eine einheitliche Pflegeleistung (im Sinne eines Erwartungswertes) im Alter wird, so ändert sich an der folgenden Grundproblematik nichts, nur daß ein Bezug zur aktuellen Pflegeversicherung (und der ähnlich gelagerten Krankenversicherung für Rentner) hergestellt wird. Festgesetzt wird also entweder der Beitragssatz oder die Relation Rente / Erwerbseinkommen. Zum Zeitpunkt der Einführung dieses Rentensystems ist die Reform mit einer kollektiven Schenkung zugunsten der Rentnergeneration gleichzusetzen, finanziert durch Zwangskredite der Erwerbstätigengeneration an den Staat im Umfang der gesamten Beitragsleistung dieser Generation. Soweit nur eine Einheitsrente gezahlt wird, erfolgt in der beitragszahlenden Generation gleichzeitig eine Umverteilung entsprechend dem Standardkonzept einer negativen Einkommensteuer. Jedem werden die gleichen Zwangskredite zugerechnet (Grundtransfers), die durch eine proportionale Einkommensteuer (bis zu einer Obergrenze ) finanziert würden. Die Tilgung der Zwangskredite erfolgt zusammen mit der Ausschüttung der Erträge in der Rentnerphase. Finanziert wird diese Tilgung samt einer gewissen Verzinsung durch die Beiträge der dann existierenden Erwerbstätigengeneration, wieder interpretierbar als Gewährung von Zwangskrediten durch die nächste Generation an den Staat. 23 Ist der" Beitragssatz 23 Daß die urrilagefinanzierte Rentenversicherung von den ganzen Konsequenzen her eine versteckte Staatschuld impliziert, ist inzwischen Standardkenntnis (zu einer Analyse dieser Analogie Steden, 1981, insb. S. 418-424). Zur Substituierbarkeit dieser beiden
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festgelegt, entspricht die Rendite dieser Zwangskredite nur dann dem Marktzinssatz, wenn das Einkommen, das durch diese Beitragssätze belastet wird, Jahr für Jahr eine Wachstumsrate entsprechend dem Zinssatz aufweist. Im folgenden werde die Normalkonstellation ,,zinssatz" > "Wachstumsrate des beitragspflichtigen Einkommens" unterstellt. 24 Obendrein sei angenommen, daß der Beitragssatz konstitutionell festgesetzt wird. Die Einführung einer umlagefinanzierten Rente hätte auch familienintern erfolgen können: Die Beiträge bei Einführung wären den Großeltern als Rente (Geschenk durch die Systemeinführung) zugeflossen, während die Rente der jetzigen Eltern in der Rentnerphase über die festgelegten Beitragssätze der eigenen Kinder bestimmt wird. Durch Einbau von Versicherungselementen fließen den Eltern in der Rentnerphase u. U. nicht die tatsächlichen Beiträge gerade ihrer Kinder zu, sondern Beiträge entsprechend ihrer Kinderzahl. 25 Die Rentenhöhe ist in diesem Fall nicht mehr abhängig von früheren Beiträgen oder Erwerbseinkommen, sie ist auch nicht mehr für alle gleich (Einheitsrente), sondern sie wird abhängig von der Kinderzahl,26 u. U. auch vom Ausbildungsniveau der Kinder. Dafür steht den Versicherungsleistungen keine Gegenleistung wie bei den heutigen beitragsbezogenen Renten gegenüber, ein Grund für möglicherweise erhebliche negative Anreizeffekte zu Lasten beitragspflichtiger Tätigkeiten und Aktivitäten. 27 Institutionen in neoklassischen Modellen bei dynamischer Optimierung mit utilitaristischem Wertehintergrund siehe Peters, 1992, S. 13/4. 24 Ist dauerhaft die Konstellation Zinssatz< Wachstumsrate des Einkommens gegeben, würde eine Erhöhung der Staatsverschuldung zur Besserstellung nicht nur der heutigen, sondern auch aller zukünftigen Generationen führen. Schon allein, weil der Staat sich solche Gelegenheiten zur Besserstellung aller grundsätzlich nicht entgehen lassen würde, ist die umgekehrte Konstellation auch als Ergebnis staatlichen Handeins als "normal'" anzusehen. 25 Während die intergenerativen Konsequenzen (Besserstellung der Rentnergeneration) in der Tendenz gleich bleiben, würden die intragenerativen Verteilungswirkungen wesentlich anders ausfallen. Bei Einführung der heutigen Rentenformel wurden die Geschenke bis zu einer Obergrenze proportional zu dem früheren Einkommen verteilt, während die Alternative eine Verteilung entsprechend der Kinderzahl vorgesehen hätte. Sieht man in der Senkung der Disparität der Lebenseinkommen ein erstrebenswertes Ziel, dürfte - bezogen nur auf dieses Ziel - die kinderbezogene Rentenformel der leistungs- und einkommensbezogenen Rentenformel (zumindest im ersten Bereich dieser Schenkungen oder bei relativ kleinen Gesamtschenkungen) überlegen gewesen sein. 26 Zu einem solchen Vorschlag als Reform des heutigen Rentensystems siehe Schmidt / Frank / Müller-Rohr, 1985, S. 43 - 50. Da die Eltern hier faktisch nach Einbau von Versicherungselementen als Rente die Beitragszahlung ihrer Kinder erhalten, ist es nicht systemgerecht, wenn in diesem Vorschlag die Rente bei gegebener Kinderzahl (gegebener Leistungsklasse ) entsprechend dem früheren Erwerbseinkommen der Eltern variiert. Ohne einen solchen Bezug zum Erwerbseinkommen siehe das Elternrentenmodell von Borchert, 1989, insb. S. 120-122. Nach Borchert soll nur die Hälfte der Beitragszahlungen zur Elternrente verwandt werden. 27 Allokationspolitisch gesehen soll die Elternrente das generative Verhalten durch Spürbarmachen der externen Erträge positiv beeinflussen. Dem steht der allokationspolitisch negative Einfluß durch diese Substitutionseffekte zugunsten beitragsloser Aktivitä11*
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Unterstellt sei einmal, die Beiträge einer solchen kinderbezogenen umlagefinanzierten Rentenversicherung entsprächen in der Einführungsphase den Aufwendungen für die Kindergeneration, die nach den Ausführungen in Kap. 11 den Eltern durch Kreditaufnahme der Kinder zu ersetzen seien. Diese Kreditaufnahme diente den Eltern u.a. als Alterssicherung, z.T. freiwillig durch entsprechende Vermögensanlagen, z.T. durch Gewährung von Zwangskrediten. Durch die jetzt eingeführte Alterssicherung sehen die Eltern in ihren Kindern auch eine eigenständige individuelle Altersvorsorge. Verglichen mit der isolierten Einführung des Kinderkostenkreditsystems hat die Elterngeneration in der Einführungsphase aber eindeutige Nachteile. Das liegt daran, daß zur gleichen Zeit ein Transfer an die eigene Elterngeneration erfolgt, der zumeist nur teilweise in Gestalt höherer Erbschaften zurückfließt. Bei Einführung des Systems in Kap. 11 entfallen diese Transfers, und in der Altersphase fließen die Kinderaufwendungen (annahmegemäß mit den Beiträgen der umlagefinanzierten Rentenversicherung quantitativ gleichgesetzt) mit Zins und Zinseszins den Eltern wieder als Transfers zurück. Solange der Zinssatz größer ist als die Wachstumsrate des Einkommens, sind die erwarteten Renten obendrein noch höher als diejenigen, die im jetzt betrachteten System bei konstanten Beitragssätzen zu erwarten wären. 28 In der Realität dürfte eine solche Übereinstimmung von Beitragsvolumen und Kinderkosten in der gleichen Periode ohnehin nicht realisiert sein. Die Eltern erhalten eine Rente, die wertmäßig mit dem Erwartungswert der Beiträge ihrer Kinder übereinstimmt, ihre Kinder finanzieren dann nicht mehr die Rente der anderen. Zwei Leitideen des Kinderkostenkreditsystems sind aber gefährdet. Der Wert der Leistungen der Kindergeneration an die Elterngeneration im Alter kann sich in Höhe und Entwicklung ziemlich unabhängig von den Gesamtaufwendungen für die Kinder machen. Das Gesamtsystem ist damit im Gegensatz zum Kinderkostenkreditsystem nicht frei von intergenerativen Verteilungswirkungen und sich daraus u. U. ergebenden Verteilungskämpfen. Zum zweiten verlangt das Kinderkostenkreditsystem, daß Renten entsprechend dem Finanzierungsbeitrag zur Aufziehung der Kinder geleistet werden. In dem bisherigen Szenario, in dem nur die Eltern für die Kinderkosten aufkommen, ergibt sich konsequent nur eine Elternrente. In realistischeren Szenarien müßten sich die Versicherungsbeiträge ten gegenüber, durch die das Beitrags-(Steuer-)aufkommen reduziert wird. Eine dieser beitragslosen Aktivitäten ist aber gerade wieder die Kinderaufziehung durch nicht erwerbstätige Elternteile (dieses Problem einer Elternrente bei Beibehaltung des heutigen Beitragsverfahrens betont Gallon, 1993, S. 11/2). In einem System, in dem die Kinderkostenkredite in der Erwerbstätigenphase von jedem einzelnen tatsächlich zurückgezahlt wurden, wird es keine derartigen Substitutionseffekte geben. 28 Schon bei der nächsten Generation herrscht nahezu Indifferenz zwischen diesen beiden Systemen, sofern in jeder Periode der konstante Beitragssatz zu einem Beitragsvolumen führt, das mit den Kinderkosten übereinstimmt. Der Grund ist darin zu sehen, daß es dann kaum noch eine Rolle spielt, ob es die Eltern- oder Großelterngeneration war, die durch Einführung des Systems begünstigt wurde (als Ursache von Belastungen der nächsten Generationen).
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der Kinder in Renten an die Eltern und an die Steuerzahler (als Financiers der meisten Bildungsausgaben und des Familienlastenausgleichs) niederschlagen. Dieser Aspekt wird in der Diskussion, in der die späteren Sozialversicherungsbeiträge eigener Kinder aus der Sicht der Eltern gerne als externe Erträge interpretiert werden, leicht übersehen. 29 Das heutige umlagefinanzierte Rentenversicherungssystem begründet im Gegensatz zum kinderbezogenen Rentensystem die Rentenansprüche mit früher erfüllten Verpflichtungen gegenüber der jeweiligen Rentnergeneration. Interpretiert man die Sozialversicherungsbeiträge als (Brutto-)Zwangskredit an den Staat, so ergeben sich die Ansprüche der Versicherten aus dem Schuldenbestand des Staates, der notwendig war, um die bisherigen Sozialversicherungsrenten zu finanzieren. Soweit in den Renten noch eine positive Verzinsung enthalten ist - und das gilt unbestreitbar, auch wenn die Verzinsung niedriger als der Marktzinssatz sein dürfte - , wird der Nettoschuldenbestand zur Finanzierung des Rentenversicherungssystems kontinuierlich steigen. Eine Belastung der Bürger durch diese implizite Staatsverschuldung liegt insofern vor, als die Renten nicht mehr den marktadäquaten Gegenwert der Beitragszahlung widerspiegeln. Bei gegebenen Sozialversicherungsbeitragssätzen wird die Rente umso weniger den ökonomischen Gegenwert der Beitragszahlung widerspiegeln, je geringer die Wachstumsrate des beitragspflichtigen Einkommens ist. Diese hängt aber von der Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens und der Wachstumsrate der erwerbstätigen Bevölkerung ab. Der Geburtenrückgang in Deutschland bringt für das Rentenversicherungssystem vor allem wegen der voraussehbaren negativen Wachstumsrate der erwerbstätigen Bevölkerung Schwierigkeiten, will man nicht wegen des möglichen sozio-kulturellen Sprengstoffs (Gefährdung des sozialen Friedens), der voraussehbaren Integrationskosten oder auch nur des Wunsches der Staatsbürger auf eine kulturelle Heimat diesseits des multi-kulturellen Leitbilds auf eine verstärkte Immigration aus Weltregionen mit stark expandierender Bevölkerung zurückgreifen. Erhöht man bei beginnender Abschwächung des Einkommenswachstums die Beitragssätze zur Finanzierung einer erträglich rentablen Rente, wird das Problem der Renditensenkung für die implizite Staatsschuld bei gleichzeitiger Erhöhung des Staatsschuldenbestandes nur verschoben, 30 denn ständig steigenden Beitragssätzen sind wegen der Leistungsanreizproblematik (verzerrte Entscheidungen) und wegen des Ziels einer ausgewogenen Relation des Lebensstandards von Rentnern und Erwerbstätigen eindeutig Gren29 Wegen der kollektiven Finanzierung eines Teils der Aufwendungen für Kinder stehen den externen Erträgen durch Rentenversicherungsbeiträge externe Kosten durch zusätzliche Steuerbelastungen (oder durch den Abbau sonstiger staatlicher Leistungen) gegenüber. Erst der Saldo dieser Externalitäten könnte die quantitative Basis für die Forderung von Elternrenten sein. 30 Zu diesen meist verdeckten Konsequenzen des Geburtenrückgangs und der üblichen Reaktionen wie Beitragssatzerhöhung usw. vgl. Lüdeke, 1988b, S. 175-181 und Tab. 2,
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zen gesetzt. Ähnliches gilt für Vorschläge wie eine erhöhte Erwerbsbeteiligung . z. B. der Frauen, stoßen doch diese Strategien sehr bald auf natürliche Schranken. Naheliegender wäre es gewesen, zu Zeiten hoher Rentierlichkeit des gesetzlichen Rentenversicherungssystems durch beitragsfinanzierte Vermögens akkumulation diese Rentierlichkeit bei gleichbleibendenmRentenanspruch etwas zu senken, um mit den Vermögenserträgen der späteren Renditesenkung bei geringerem Wachstum der erwerbstätigen Bevölkerung dauerhaft entgegenzuwirken.
IV. Zur Reform des heutigen Renten- und Kinderkostenfinanzierungssystems: Möglichkeiten zur Beseitigung von Systemmängeln über die finanzielle Eigenverantwortlichkeit der Generationen Wenn in Kap. 11 ein in sich geschlossenes Kinderkostenfinanzierungs- und Rentensystem vorgestellt wurde, in dem nicht nur die jeweiligen Generationen, sondern auch sämtliche Mitglieder der jeweiligen Generation für ihre materielle Ausstattung über den Lebenszyklus hinweg verantwortlich sind und in dem die Transfers intergenerativer (Staatsverschuldung) und intragenerativer (negative Einkommensteuer) Art aus der Sicht der individuellen Transfergeber freiwillig geleistet werden, so mag für manche ein solches System bereits an sich, mit der starken Betonung der Eigenverantwortlichkeit, normativ attraktiv sein. Seinen besonderen Reiz bekommt ein solches System aber dadurch, daß in Kombination mit anderen sozial- und verteilungspolitischen Instrumenten, die gezielt allein für eine weitergehende inter- und intragenerative Umverteilung sorgen können, jeder gewünschte gesellschaftliche Zustand so effizient wie möglich erreicht werden kann. Obendrein erhöht sich durch die Trennung der intertemporalen, aber zugleich intrapersonalen Einkommensumschichtungen einerseits von den interpersonellen, z.T. auch intergenerativen Einkommensumverteilungen andererseits die Transparenz des Gesamtsystems. Bei etwas oberflächlicher Analyse genügen auch die heutigen Systeme der Kinderkostenfinanzierung und der Renten dem generationsmäßigen und personellen Äquivalenzprinzip: In der Kindheit und Jugend erhält der einzelne kollektiv und privat finanzierte Transfers von der Elterngeneration, für die er sich während der Erwerbstätigkeit durch Finanzierung der Altersrenten revanchiert. Aber schon die Altersrenten haben so gut wie nichts mehr mit früheren Leistungen für die Kindergeneration zu tun, und auch die Höhe der Einzahlungen in die Rentenkasse ist nur recht schwach korreliert mit den empfangenen Leistungen (Aufziehungsund Bildungskosten) in der Jugendphase. Angesichts des dominanten Ziels, die Altersrenten in bestimmten Relationen zum Erwerbseinkommen zu halten, kann das Äquivalenzprinzip insbesondere intergenerativ sehr zu Schaden kommen. Ent~cheidet sich eine Generation, mit vielen Geschwistern bei hohem Erziehungsstandard aufgewachsen, selbst zur Bildung von Kleinstfamilien unter Vernachläs-
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sigung der Erziehungsfunktion (z. B. wegen der durchgängigen Erwerbstätigkeit der Mutter), so ist sie relativ wenig belastet mit Versorgungsaufgaben sowohl für die Eltern- als auch für die Kindergeneration, ohne selbst Leistungseinbußen im Alter hinnehmen zu müssen. Würde sich die nächste Generation in Verantwortung gegenüber der eigenen Kindergeneration wieder zum generativen und Erziehungsverhalten ihrer Großeltern durchringen, würde gleichzeitig (pro Kopf) die finanzielle Belastung recht groß, denn gegenüber der Vorgängergeneration ist sowohl die Kinder-Erwerbstätigen-Relation als auch die Renter-ErwerbstätigenRelation gestiegen. Mit der Entscheidung über Anzahl und Erziehung der Kinder sind damit im heutigen System untrennbar eindeutige intergenerative Verteilungskonsequenzen verbunden. Eine Mängelanalyse könnte auf die Theorie externer Effekte zurückgreifen. Im heutigen Rentenversicherungssystem verursacht danach das Aufziehen zusätzlicher Kinder im Umfang der Rentenversicherungsbeiträge in ihrer Erwerbstätigenphase externe Erträge,31 die bei den elterlichen Entscheidungen insofern keine Rolle spielen, als sie nicht speziell den eigenen Eltern, sondern der gesamten Kindergeneration (wenn die Beitragssätze in der Erwerbstätigenphase entsprechend niedriger sind) oder der gesamten Elterngeneration (wenn die Renten in ihrer Rentnerphase entsprechend höher sind) zugute kommen. 32 Gegen diese Sicht spricht auch nicht, daß diese Kinder als Folge der Rentenversicherungsbei31 Angesprochen sind jetzt nur die allokationspolitisch relevanten marginalen Externalitäten, nicht z. B. der Umstand, daß ohne Kinder der Fortbestand der Rentenversicherung insgesamt gefährdet ist. Deshalb ist auch Schmähis Hinweis, daß ebenfalls die späteren Steuerzahlungen eines Kindes externe Erträge verursachen, weil andernfalls das gesamte staatliche Leben gefährdet sei, allokationspolitisch unbedeutsam (Schmähl, 1988, S. 320). 32 Homburg und Gräff machen zu Recht darauf aufmerksam, daß bei einer Grenzproduktivitätsentlohnung von Kapital und Arbeit die Lohnsumme (als Basis der Sozialversicherungsbeiträge) bei den üblichen Annahmen über gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktionen nicht im Umfang des Lohns einer +usätzlichen Arbeitskraft steigt und damit auch nicht die gesamten Sozialversicherungsbeiträge im Umfang des Sozialversicherungsbeitrags der zusätzlichen Arbeitskraft (dies., 1988, S. 25). Völlig verfehlt ist hingegen die darauf aufbauende Kritik, "daß die als ökonomisch bezeichneten Argumente für den Familienlastenausgleich einer näheren Überprüfung nicht standhalten" (S. 26). Da die funktionelle Arbeitseinkommensquote in der Bundesrepublik Deutschland langfristig bei 80% ziemlich stabil war (Lüdeke, 1988a, Tab. 1, Anhang), müßte auch das gesamte Arbeitseinkommen (die erwarteten Rentenversicherungsbeiträge) bei einer zusätzlichen Arbeitskraft um 80% des Arbeitseinkommens (des erwarteten Rentenversicherungsbeitrags) dieser zusätzlichen Arbeitskraft wachsen. Eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion, die für die Konstanz der Arbeitseinkommensquote verantwortlich sein könnte, läßt eben nicht bei zunehmendem Einsatz von Arbeitskräften die Lohnsumme konstant, wie Homburg und Gräffbehaupten (S. 25), sondern vielmehr die Lohnquote. Die verbleibenden 20 % der externen Erträge (Rentenversicherungsbeitrag der zusätzlichen Arbeitskraft) schlagen sich in höheren Kapitaleinkommen nieder, was sie allokationspolitisch nicht unbedeutsamer macht. Externe Nutznießer sind nicht nur (konkurrierend) Rentner und Beitragszahier in der Erwerbstätigenphase des zusätzlichen Kindes, sondern auch Kapitaleigner. Dabei handelt es sich nicht um die allokationspolitisch unbedeutsamen pekuniären Externalitäten, die nur aufgrund flexibler Preise (der allgemeinen Marktinterdependenzen) existieren.
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träge selbst einmal Renten erhalten werden, denn diese Renten werden im Durchschnitt wieder durch die eigenen Kinder dieser Kinder finanziert. Insofern sind diesen externen Erträgen keine externe Kosten entgegenzustellen,33 familienexterne Dritte sind die Nutznießer zusätzlicher Rentenversicherungsbeiträge, die aus der positiven Entscheidung zugunsten eines Kindes in dessen folgender Erwerbstätigenphase resultieren. Unter Rückgriff auf das Konzept der Musgraveschen Allokationsabteilung läge es nahe, den Eltern im Umfang der externen Erträge öffentliche Unterstützungen zukommen zu lassen, die nach dem Äquivalenzprinzip durch eine gleichzeitig erhobene proportionale Steuer entsprechend den Sozialversicherungsbeiträgen (als Maß für die später empfangenen Renten) finanziert werden. 34 Aus allokationspolitischer Sicht würden dann auch nach üblichen Vorstellungen die generativen Entscheidungen der Eltern optimiert. 35 Durch Einführung einer solchen Reform könnte die heutige Erwerbstätigengeneration in ihren späteren Renten eine Rückzahlung solcher Unterstützungsleistungen durch die ehemalige Kindergeneration sehen, sie brauchte nicht mehr auf erfüllte Verpflichtungen der eigenen Elterngeneration gegenüber zu rekurrieren,36 um Rentenforderungen gegenüber 33 Betrachtet man nur das eigene Kind, könnte man in den Sozialversicherungsbeiträgen externe Erträge sehen, denen externe Kosten in Gestalt der Renten dieser Kinder gegenüberstehen. Per Saldo würde so nur die Wertdifferenz zwischen Beiträgen und Renten als externer Ertrag eines zusätzlichen Kindes übrigbleiben, sofern dieser Saldo - wie zu erwarten - positiv ist. Der externe Gesamteffekt wird damit aber unterschätzt, weil auch bei den Kindeskindern usw. ein solcher positi ver Saldo anfällt, diese Kindeskinder aber ohne Entscheidung für ein zusätzliches eigenes Kind nicht existieren würden. Wie H. W. Sinn in einem Schreiben an den Verfasser vom 24. Mai 1989 formal exakt nachgewiesen hat, entspricht der Wert der Summe dieser Salden bei durchschnittlicher Reproduktionsrate wieder exakt den gesamten Beitragszahlungen des eigenen Kindes, so daß auch aus dieser Perspektive die unsaldierten späteren Beitragszahlungen des Kindes als Maß für den externen Ertrag eines zusätzlichen Kindes herangezogen werden können. 34 Dies gilt jedenfalls, wenn in der Erwerbstätigenphase des zusätzlichen Kindes die Rentnergeneration und nicht die Beitragszahiergeneration Nutznießer der zusätzlich fließenden Beiträge ist. Andernfalls verlangt das Äquivalenzprinzip, daß die "Leistungsentgelte" für die Eltern von der Kindergeneration gezahlt werden. Dies wäre nur durch eine entsprechende Staatsverschuldung realisierbar, mit intergenerativen Verteilungswirkungen zu Lasten der zukünftigen Generation wie bei Einführung der Rentenversicherung. Von den kleineren Komplikationen, die damit zusammenhängen, daß die Lohnsumme nicht voll im Umfang des Lohns der zusätzlichen Arbeitskraft wachsen dürfte, wird im weiteren abgesehen. 35 So auch Schmidt I Frank I Müller-Rohr, 1985, S. 45. Kritisch ist allerdings anzumerken, daß bei dieser Betrachtung die eigentlichen Lebensinteressen der Kinder noch außen vor bleiben (siehe dazu Kap. I). Da zur Finanzierung der Zuschüsse die Steuerquote erhöht werden müßte, dürfte der Zuschuß bei Berücksichtigung der Ergebnisse aus der optimal-taxation-Theorie ohnehin (quantitativ) nicht ganz die externen Erträge widerspiegeln (Lüdeke, 1991, S. 774,777). 36 An diesen Verpflichtungen ändert sich allerdings nichts, sie sind die Grundlage der Existenz externer Erträge. Da die betrachteten Externalitäten erst durch eine rechtliche Institution geschaffen wurden, käme als Alternative auch in Frage, diese rechtliche
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der Kindergeneration zu rechtfertigen. Betont wird damit der Gedanke des Familienleistungsausgleichs. Die Eltern sind mit ihren Entscheidungen zugunsten eines Kindes Verursacher externer Effekte,37 die ihnen von den Nutznießern entgolten werden. Die Erwerbstätigengeneration selbst würde bei Einführung einer solchen Reform weder entlastet noch belastet, innerhalb dieser Generation gäbe es aber Schlechterstellungen der kinderlosen oder kinderarmen und der einkommensstarken Bürger zugunsten der relativ kinderreichen sowie einkommensschwachen. Was bei einer solchen Internalisierungsstrategie deshalb auch nicht befriedigt, ist der weiterhin existierende Umstand, daß die Entscheidung über die Anzahl der Kinder und über ihre Erziehung so eng mit intergenerativen Verteilungskonsequenzen verbunden ist. Aus der Sicht eines bedarfsgerechten Kinderlastenausgleichs ist obendrein zu bemängeln, daß die Internalisierungsleistungen nicht enger mit den tatsächlichen Kinderkosten verknüpft sind. Als Reform aus einem Guß bietet sich folgender Institutionenwandel an. Die heutigen Beiträge zur Rentenversicherung werden qualitativ und quantitativ umgewandelt zu einer verzinslichen Rückzahlung der Kinderkosten (einschließlich der Bildungsaufwendungen) in der Phase der Erwerbstätigkeit. Durch den Einbau von Versicherungselementen könnte das auf ein Beitragsverfahren wie im heutigen Rentenversicherungssystem hinauslaufen, nur daß eine deutlich stärkere Differenzierung nach Umfang der Erziehungs- und Bildungsaufwendungen zu erwarten wäre. 38 Die empfangenen Rentenleistungen der Elterngeneration entsprechen der Rückzahlung der Kinderkosten durch die jeweilige Kindergeneration. Bemessungsgrundlage für die Renten sind nicht die früher zurückgezahlten Kinderkosten (die umgewandelten alten Versicherungsbeiträge), sondern der Finanzierungsbeitrag zur Aufziehung und Ausbildung der eigenen Kindergeneration. Werden die Kinderkosten zu x% aus einer öffentlichen Kinderkostenkasse getragen, refinanziert durch eine Art proportionale Einkommensteuer (mit oder ohne Obergrenze), zu (1 - x) % durch die Eltern für die eigenen Kinder, müßte die Altersrente zu (1-x)% abhängig von der Zahl eigener Kinder, zu x% abhängig von früher Institution - und damit auch den Anlaß für die äquivalenten Zahlungsströme - selbst zu streichen. Damit würden die äquivalenten Zahlungsverpflichtungen für eine Altersvorsorge durch echte Vennögensbildung frei. Dies entspräche aber einer Doppelbelastung der Erwerbstätigengeneration durch echte Altersvorsorge und "Schuldentilgung" (Abwicklung der Altrenten in der Umstellungsphase zugunsten einer dauerhaft niedrigeren marginalen Einkommensteuerbelastungsquote - und damit auch Excess-Burden-Quote - in der Zukunft). 37 Sieht man in den Kindern selbst die Verursacher, weil diese ja die Sozialversicherungsbeiträge erwirtschaften, wird man als externen Ertrag nur die Differenz zwischen dem Wert der eigenen Beiträge und der eigenen Rente konzedieren können (siehe auch Fn.33).
38 Wegen der positiven Korrelation von Bildungsaufwendungen und späteren Erwerbseinkommen ist implizit schon heute eine lose Verknüpfung von Bildungsaufwand und Rentenversicherungsbeiträgen gewährleistet. Die Verknüpfung hätte nur enger zu werden, wie es in verschiedenen Plänen zur Gewährung und Tilgung von Bildungskrediten schon vorgesehen ist (vgl. Woodhall, 1987; van Lith, 1985, S. 131-182).
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gezahlten Kinderkassenbeiträgen sein. Es würde sich anbieten, daß der Anteil öffentlich finanzierter Kinderkosten für das einzelne Kind mit der Anzahl der Kinder in einer Familie bis zu 100 % steigt, weil zum einen das Interesse an einer Erhöhung der Rente aufgrund der schon hohen eigenen Kinderzahl begrenzt ist, und weil zum anderen die finanziellen Ressourcen der Familien mit der Anzahl der Kinder immer knapper werden. Zu den Kinderkosten gehörte in diesem System konsequenterweise auch ein (normierter)39 Ausfall des Einkommens von Elternteilen, die sich der Erziehung der Kinder widmen. Die Diskussion um den Anteil der Finanzierung der Kinderkosten durch die Kinderkostenkasse oder die Eltern kann unbelastet von differierenden Vorstellungen über distributive Gerechtigkeit geführt werden, braucht doch durch eine Verschiebung dieses Anteils im Prinzip niemand schlechter gestellt zu werden. Maßgeblich für diese Aufteilung könnte auch die angestrebte Chancengleichheit in der Kindergeneration sein, ist doch zu erwarten, daß die Familien nur in Abhängigkeit von ihrem Einkommen in der Lage sind, die für die Kinder sinnvollen Erziehungs- und Ausbildungsaufwendungen aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Ein wesentlicher Vorteil dieses neuen Systems der Kinderkostenfinanzierung und Altersversorgung liegt darin, daß trotz Umlagefinanzierung jede Generation nur in dem Maße eine gesetzliche Altersversorgung erhält, wie sie in der Periode der Erwerbstätigkeit Vorsorge für das Alter betrieben hat. Dies wäre allerdings cum grano salis auch erreicht, wenn im heutigen System die Beitragssätze festgeschrieben werden, so daß z. B. die Altersrenten eindeutig positiv mit der Bevölkerungsentwicklung (und den damit verbundenen Kinderkosten) zusammenhängen. Allerdings ist damit nicht ausgeschlossen, daß das einzelne Mitglied einer Generation die übernommenen Kinderkosten z.B. mit dem Ziel der Entfaltung seiner (beruflichen) Persönlichkeit reduziert, ohne dies in Gestalt verringerter Renten zu spüren. Dies ist erst gewährleistet, wenn im reformierten System die externen Erträge der eigenen Kinder dadurch verschwunden sind, daß sich die späteren Versicherungsbeiträge der eigenen Kinder in Kreditrückzahlungen verwandelt haben, deren Erwartungswert die individuelle Altersversorgung der Eltern und sonstiger Financiers der Kinderaufziehung bestimmt. Überschlägige Berechnungen haben ergeben, daß die Kosten der Familie für die Aufziehung eines Kindes in etwa dem Wert der Altersversorgung einer Erwerbsperson entsprechen. 4O Eine vollständige Umstellung des Systems von 39 Der Grund für die Nonnierung liegt darin, daß nur solche Kinderaufziehungskosten in das System einzubeziehen wären, die sich aus den Interessen der Kinder rechtfertigen lassen. So soll den Möglichkeiten der Eltern zu ,negativen Erbschaften' eine Schranke gesetzt werden. 40 Schmidt I Frank I Müller-Rohr, 1985, S. 48 - 50. Bei den Kinderkosten der Familie wurden auch die Teile einbezogen, die letztlich durch monetäre Transfers von der öffentlichen Hand fmanziert wurden, nicht hingegen die entgangenen Einkommen nicht erwerbstätiger erziehender Elternteile und die staatlichen Realtransfers (vor allem für Kindergarten, Bildung und Ausbildung).
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beitragsbezogenen Renten zu kinderkostenbezogenen Renten würde deshalb möglich sein, ohne fundamentale Veränderungen in der Höhe der versteckten Staatsschuld, die in beiden Systemen nach obigen Überlegungen existiert, zu bewirken. 41 Auch wäre es möglich, eine Reform nur in dem Maße zu realisieren, wie sie ohne Veränderung der versteckten Staatsschuld (und der damit verbundenen intergenerativen Verteilungswirkungen) im Umstellungszeitraum möglich ist. Beide Systeme unterscheiden sich dann vor allem dadurch, wer Forderungen aus dieser impliziten Staatsschuld geltend machen kann. Im heutigen System sind es diejenigen, die in der Vergangenheit für die Versorgung der Elterngeneration gesorgt haben, im Reformmodell diejenigen, die die Finanzierung der Aufziehungs-, Erziehungs- und Bildungskosten getragen haben. Unter dem Gesichtspunkt der Leistungsgerechtigkeit tut man sich schwer, ein vergleichendes Urteil über die eine oder andere Rentenrechtfertigung abzugeben, stehen doch den Renten in beiden Fällen gewichtige und anerkennenswerte Gegenleistungen gegenüber. 42 Was aber die Bedarfsgerechtigkeit betrifft, dürften durch diese Umstellung ähnliche disparitätsverringernde Wirkungen zu erwarten sein wie bei Kindergelderhöhungen, die durch eine proportionale Einkommensteuer bis zur Beitragsbemessungsobergrenze finanziert würden. 43 Nimmt man die weiteren geschilderten Vorteile des Reformmodells hinzu (Wegfall der Externalitäten, intragenerative Verknüpfung des Umfangs der Altersvorsorge und der Altersversorgung), dürfte das Pendel zugunsten des kinderkostenbezogenen Rentenmodells ausschlagen. Sicher ist es im Übergang von einem zum anderen Syst.em nicht zu verantworten (und schon gar nicht polititsch durchzusetzen), daß bereits angesammelte Rentenansprüche aus dem bisherigen Rentensystem verloren gehen. Ein gleitender Übergang scheint aber ohne größere Schwierigkeiten möglich zu sein, ohne jeglichen Verlust bisheriger Ansprüche. Die isolierte Einführung des Reformmodells, wie in Kap. 11 und IV vorgestellt, führt in obigem Dreiperiodenmodell erst 41 Dies gilt trotz einer Regenerationsrate deutlich unter 2, denn zum einen sind jetzt alle Kinder, nicht nur die Kinder von Mitgliedern in der Rentenversicherung einbezogen, zum anderen wären zu den Kinderkosten die entgangenen Einkommen der Eltern und die staatlichen Realtransfers wenigstens teilweise hinzuzufügen. 42 So ist es auch verständlich, daß mit dem Hinweis auf das Äquivalenzprinzip sowohl die monetären (Sozialversicherungsbeiträge) als auch die realen Leistungen (Kinderaufziehung) als Grundlage einer Rente anerkannt werden (Lampert, 1987, S. 514/5, Borehert, 1981, S. 143-164). 43 Dies gilt auf das Lebenseinkommen bezogen - insoweit, als kinderbezogene Renten der Eltern an die Stelle einkommensbezogener Renten wie im heutigen System treten und die heutigen Sozialversicherungsbeiträge sich ohne große Änderungen in Kinderkreditrückzahlungsleistungen verwandelt haben (vgl. auch Fußnote 25, in der die vergleichbare Problematik bei Einführung des Rentensystems angesprochen wurde). Soll zur Verringerung der ,,Anreizproblematik", die mit einkommensteuerähnlichen Kreditrückzahlungen zusammenhängt, eine tatsächliche Rückzahlung der Kinderkostenkredite erfolgen, ergäben sich Disparitätsänderungen wie bei Kindergelderhöhungen, die durch eine proportionale Humankapitalsteuer finanziert würden. Selbst dadurch dürfte die Bedarfsgerechtigkeit der Einkommensverteilung noch erhöht werden.
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nach Ablauf einer Periode dazu, daß alle Erwerbstätigen Beiträge zur ,Rentenversicherung' als Rückzahlung kreditierter Kinderkosten zu leisten haben. In dieser Übergangsphase könnte man unter Beibehaltung der bisherigen Rentenversicherungsbeiträge alle Renten nach dem alten Recht absichern, nur daß diese Beiträge jetzt nicht mehr Grundlage neuer Ansprüche sind. Die vorübergehend weiter zu leistenden Beiträge nach dem alten System dienen somit letztlich dem Kapitaldienst zur Tilgung der alten versteckten Staatsschuld (Rentenanwartschaften als Forderungen an den Staat). Allerdings ist dann der Hinweis nicht von der Hand zu weisen, daß die Tilgung einer Staatsschuld "sozialer" mit Hilfe des allgemeinen Steuersystems vorgenommen werden könnte. Zu welcher Tilgungsfinanzierung man sich auch immer entschließt, eine zusätzliche Belastung der Erwerbstätigengeneration im Übergang erfolgt nicht, stehen doch in dieser Generation den erhöhten Steuern die neuen Ansprüche derjenigen gegenüber, die die Kinderkosten finanziert haben und in der Vergangenheit dafür keine Rentenanwartschaften erhielten. Im Transformationsprozeß entstehen somit keine intergenerativen, wohl aber sozial gestaltbare intragenerative Verteilungswirkungen.
V. Die Reformdiskussion vor dem Hintergrund des Leitbildes eigenverantwortlicher Generationen Sieht man von den gesellschaftlichen Institutionen zur Altersversorgung (einschließlich der Alterspflege) und der Kinderaufziehung (einschließlich der Bildungs- und Ausbildungsprozesse) ab, so laufen die verbleibenden intergenerativen Verteilungsprozesse in zweierlei Weise ab. Zum einen gibt es private Schenkungen und Erbschaften, zumeist innerhalb von Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen von der Rentnergeneration zur Erwerbstätigengeneration. Zum anderen sieht sich jede heranwachsende Generation öffentlichen Institutionen (dem Staat in seinen verschiedenen Facetten) gegenüber, die letztlich dieser Generation öffentliches Real- und Nominalvermögen übergeben, verbunden mit der Übergabe der Staatsschuld. Der Saldo stellt die kollektive Erbschaft dar, die der Staat jederzeit vergleichsweise effizient durch eine Variation der Staatsverschuldung verändern könnte. 44 Soweit nicht die privaten Erbschaften voll kompensierend auf Änderungen der kollektiven Erbschaften reagieren, kann jede intergenerative Verteilungspolitik über eine Veränderung der kollektiven Erbschaft betrieben werden. 45 44 Da sich der Zustand der Umwelt weitestgehend im Wert solcher privaten und kollektiven Erbschaften wiederspiegelt, sind damit auch die intergenerativen Verteilungskonsequenzen eines schonenden oder verschwenderischen Umgangs mit der Umwelt miterfaßt. 45 Zur genaueren Ermittlung der intergenerativen Verteilungswirkungen wären auch die damit einhergehenden Änderungen der funktionellen Einkommensverteilung zu berücksichtigen. Wird z. B. als Folge einer erhöhten Staatsverschuldung via relativer Kapi-
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Entschlösse man sich, die intergenerativen Verteilungsaufgaben mit Hilfe der angedeuteten privaten und kollektiven Erbschaften zu bewältigen, könnte man die finanziellen Belastungen bei Aufziehung und Ausbildung im Kindes- und Jugendalter und bei der Versorgung (einschließlich der Pflege) im Rentneralter als eigenverantwortliche Angelegenheit der jeweiligen Generation über ihren Lebenszyklus hinweg betrachten. Losgelöst von inter- und intragenerativen Verteilungskonflikten könnte sachlich über die optimale Aufteilung des Lebenseinkommens auf die Kindheits-, Erwerbstätigen- und Rentnerphase diskutiert werden, wobei die Realisation über Kreditaufnahme in der Jugend, Altersvorsorge und Kredittilgung während der Erwerbstätigkeit und Vermögensverzehr in der Rentnerphase erfolgte. 46 Dabei liegt es - auch ohne jede institutionelle Verankerung - nahe, daß die Altersvorsorge in Gestalt der Kreditvergabe an die Jugend erfolgt, wodurch dann gleichzeitig eine Koppelung des späteren Vermögensverzehrs im Alter mit der Kredittilgung der Kinderkosten hergestellt wird. Veränderungen in der demographischen Entwicklung spielen für die Höhe und Schwierigkeiten der Altersversorgung keine große Rolle mehr. Sie beeinflussen im wesentlichen nur, in welchem Umfang gewährte Kredite an die Kindergeneration, sonstige Kredite und reale Vermögensanlagen im Inland oder Kredite und Vermögensanlagen im Ausland die Basis der späteren Altersversorgung darstellen. 47 Die Lebensund Ausbildungsinteressen der Kinder können nun ohne Interessenkonflikte durch eine Koppelung mit intergenerativen Transfers voll bei den (treuhänderischen) elterlichen Entscheidungen berücksichtigt werden. Sollen Alters- und Jugendrenten in bestimmten Relationen zum Erwerbstätigeneinkommen stehen, läßt sich dies in diesem System durch Einbau von Versicherungselementen genauso gut realisieren wie eine Versicherung gegen die Risiken bei Kreditrückzahlung durch eine gewisse Einkommensabhängigkeit der Tilgungs1eistungen. Eine eigenständige soziale Sicherung der Frauen, die während der Kindererziehung nicht erwerbstätig waren, ergäbe sich quasi automatisch aus der Systemidee, sie ist nicht das talverknappungen die Zinssatz-Lohnsatz-Relation steigen, wird dadurch für sich betrachtet die Rentnergeneration gegenüber der Erwerbstätigengeneration begünstigt. Auch ist zu berücksichtigen, daß allein durch Veränderung der Steuerstruktur (z. B. durch den tendenziellen Übergang von der Einkommenbesteuerung als Belastung der Erwerbstätigengeneration zur Konsumbesteuerung als Belastung der Erwerbstätigen- und Rentnergeneration) intergenerative Verteilungskonsequenzen eintreten, losgelöst von offenen intergenerativen Vermögensübertragungen. 46 Wingen, der bei seinen Vorstellungen einer Drei-Generationen-Solidarität besonders auch die intertemporalen Umschichtungen von Lebenseinkommen betont und dabei als Beispiel die kreditären BAföG-Leistungen hervorhebt, glaubt, daß das ohne solidarische Bezüge zwischen den verschiedenen Generationen nicht zu organisieren ist (Wingen, 1986, S. 38). Dies dürfte aber nur zutreffen, wenn auch Kreditbeziehungen zwischen den Generationen als Solidarbeziehungen interpretiert werden können. 47 Eine verringerte Regenerationsrate wird zu einer Umschichtung der Altersvorsorge von Krediten an die Kinder zu sonstigen Krediten und realen Vermögensanlagen führen. Ist aufgrund des später verringerten Wachstums der erwerbstätigen Bevölkerung mit sinkender Grenzproduktivität des Realkapitals im Inland zu rechnen, wird die Kreditvergabe und Vermögensanlage im Ausland relativ am stärksten wachsen.
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Ergebnis einer irgendwie autonom entwickelten Frauenpolitik. 48 Gewünschte intragenerative Verteilungswirkungen wären - ohne Notwendigkeit einer instrumentalen Verquickung - additiv Z.B. durch die Progression des Steuersystems zur Finanzierung öffentlicher Güter, durch Sozialhilfeleistungen und durch Einführung von Elementen einer negativen Einkommensteuer (wie z. B. Kopftransfers in Gestalt von Kindergeldern) zu realisieren. 49 Unser heutiges Altersversorgungssystem ist hingegen - häufig recht versteckt - mit erheblichen intergenerativen Transferströmen verknüpft. Die Reformvorstellungen in Kap. IV laufen alle darauf hinaus, unter Beibehaltung des saldierten (relativ niedrigen) Gesamtvolumens der intergenerativen Verpflichtung eine schrittweise Transformation des Systems der umlagefinanzierten Kinderkosten und der umlagefinanzierten Altersrenten und Pflegekosten in ein System zu bewirken, in dem - wie zuvor geschildert - jede Generation für ihfe Ausgaben im Kinder- und Jugendalter und im Rentenalter selbst verantwortlich ist. Eine solche Reform sollte nicht nur der Transparenz über die Erfüllung der verschiedenen teils distributions-, teils allokationspolitischen Aufgaben dienen, sie sollte durch die instrumentale Trennung auch einen Beitrag zur größeren Zielgenauigkeit und Effizienz des Systems leisten. 50 Eine Reihe von Vorschlägen zur Reform des Familienlastenausgleichs und zur Reform der Altersversorgung haben sehr unterschiedliche Bezüge zu den hier entwickelten Vorstellungen, die die beiden Bereiche enger miteinander verknüpfen sollen. Am eindeutigsten ergibt sich ein positiver Bezug bei Reformvorstellungen, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1992 herauslesen lassen. 51 Hingewiesen wird dort auf die Nachteile, die Familien, in denen ein Elternteil zugunsten der Kindererziehung aus dem Erwerbsleben ausscheidet, gerade auch bei den späteren Renten haben (S. 37). Der Grund sei z.T. darin zu sehen, daß "die Kindererziehung als Privatsache, die Alterssicherung 48 Daß das Problem einer unzulänglichen eigenständigen sozialen Sicherung der Frauen eng verquickt ist mit dem Problem "der ungerechten Verteilung der Finanzierungslast der Alterssicherung zwischen Versicherten mit Kindern und ohne Kinder" (S.513), betont besonders Lampert, 1987, S. 512-516. 49 Zur Entwicklung der obigen Pläne und Vorstellungen, die sich vorrangig auf eine intrapersonelle Umverteilung des individuellen Lebenseinkommens beziehen, bedarf es kaum einer ethischen und moralischen Fundierung, ein Umstand, den Schreiber zu Recht positiv hervorhebt, weil man so die sittliche Verantwortung nicht überbeansprucht und diese in den Bereichen sogar stärkt, in denen der Eigennutz als Ordnungskraft nicht ausreicht (Schreiber, 1964, S. 25 - 27). Gerade solche Bereiche sind mit der interpersonellen Verteilungs- und Umverteilungspolitik, die nur teilweise auch intergenerative Verteilungspolitik ist, angesprochen 50 Instrumentale Trennungen bei der Zielverfolgung steigern keineswegs zwangsläufig die Effizienz. Warum das aber bei der heute existierenden Altersversorgung der Fall ist, siehe Lüdeke, 1988b, S. 178-181. 51 BVerfGE, 1992, Bd.87, S. 1-48. Zu einer Kommentierung dieses sogenannten "Mütterurteils" auch vor dem Hintergrund der anderen familienbezogenen Verfassungsgerichtsentscheidungen, siehe Lampert, 1994, S. 57 -60.
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dagegen als gesellschaftliche Aufgabe gilt" (S. 38). Der Gesetzgeber müsse die durch Kindererziehung bedingten Nachteile bei der Altersversicherung stärker als bisher ausgleichen (S. 35), die Anerkennung von Erziehungsjahren im Rahmen der Rentenversicherung sei ein zulässiger Weg zum Ausgleich dieser Nachteile (S. 40). Wird pro Kind eine größere Anzahl von Erziehungsjahren bei der Berechnung der Rente anerkannt,52 wird die oben empfohlene Richtung von stärker kinderbezogenen Rentenleistungen eingeschlagen. Anders als das Bundesverfassungsgericht feststellt (S. 41), liegt damit aber nicht eine maßvolle Umverteilung innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung zu Lasten kinderloser und kinderarmer Personen vor, wie es z. B. bei einer entsprechenden Beitragsdifferenzierung der Fall gewesen wäre, sondern es entsteht eine zusätzliche Leistung der Kinder in ihrer Erwerbstätigenphase zugunsten der Elterngeneration als teilweiser Ausgleich für die Opfer, die die Eltern durch die Erziehung erbracht haben. Dreierlei ist aber kritisch anzumerken. Mit diesen Reformen wird nicht die vorgeschlagene Transformation vorangetrieben, sondern das alte Umlagesystem wird durch Elemente des neuen Systems additiv ergänzt, so daß auch das Volumen der versteckten Staatsschuld mitsamt den Problemen bei ungünstiger werdender Altersstruktur wächst. 53 Die zusätzlichen Probleme sind voll vergleichbar mit den Problemen bei der soeben eingeführten Pflegeversicherung. Außerdem wird auf diese Weise eine bestimmte Art der Kinderaufziehungskosten, nämlich das entgangene Einkommen eines Elternteils, gegenüber anderen Kosten wie den Ausgaben für einen Erzieher oder Schulausgaben, die Mühen betreuender Großeltern usw. unverhältnismäßig stark herausgehoben. Dies erscheint auch deshalb problematisch, weil das entgangene Einkommen der einzige Aufwand ist, an dem der Staat sich ohnehin durch die entgangenen Steuern 54 automatisch beteiligt, und der deshalb auch vergleichsweise zu viel nachgefragt wird. Drittens werden die Rentenzahlungen aufgrund von Erziehungsjahren nach heutigem Recht über Zuschüsse aus dem Staatshaushalt finanziert,55 so daß man letztlich bei einer 52 Bei der Deutung des Bundesverfassungsgerichtsurteils plädiert Gallon dafür, den Eltern den erziehungsbedingten Ausfall in der Versicherungsbiographie zu ersetzen, wobei er die Erziehung eines Kindes höchstens bis zum 2. Grundschuljahr als Ganztagsjob und allerlängstens bis zum 16. Lebensjahr als Halbtagsjob ansieht (Gallon, 1993, S. 14, 16).
53 Dies sieht anders aus, wenn es in gleichem Geiste unter Beibehaltung des Gesamtvolumens um die Möglichkeit der Differenzierung der Hinterbliebenenrente nach der Kinderzahl geht. Bei den Reformansätzen an der Hinterbliebenenrente anzuknüpfen, ist aber angesichts der überzeugenden Bemühungen um einen Ersatz dieses Systems durch eine eigenständige Versicherung der Eheleute wenig attraktiv (zu diesen Reformvorstellungen bei der Hinterbliebenenversorgung siehe Schmidt, 1988, S. 486/7). 54 Soweit Rentenversicherungsbeiträge auch zur Finanzierung einer Elternrente (und nicht nur einer beitragsbezogenen Rente) verwandt werden, sind sie aus der Sicht des Beitragszahlers wie Einkommensteuerzahlungen zu betrachten, stellen also einen Teil der hier betrachteten entgangenen Steuern dar. 55 So als Finanzierungsforderung für alle Leistungen oder Begünstigungen, die im Rahmen der Rentenversicherung für Kindererziehung (oder auch Pflegedienste) gewährt
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nonnalen (nur zeitlich versetzten) Maßnahme des Familienlastenausgleichs angelangt ist, statt die Rentenversicherung stärker in Richtung auf einen Kinderleistungsausgleich umzubauen. Bei einigen Refonnvorschlägen kann überhaupt keine Verbindung zu dem Konzept hergestellt werden, nach der jede Generation in finanzieller Hinsicht die Eigenverantwortung für alle ihre Lebensphasen trägt. Das gilt z. B. für die (ansatzweise schon realisierten) Pläne, nach denen das (zumeist wesentlich erhöhte) Kindergeld mit steigendem Einkommen der Eltern fallen und ab einem bestimmten Einkommen überhaupt nicht mehr gezahlt werden soll. Ein solches Muster ist bei vielen Varianten des Bürgergeldsystems zu finden, aber auch zum Beispiel bei den Kindergeldzahlungen, die nach den Vorstellungen des Bundesministeriums für Familien und Senioren wenigstens teilweise aus der neu einzuführenden Kinderlosensteuer zu finanzieren wären. Eindeutig geht es hier um Umverteilungen, die an der Bedarfsgerechtigkeit innerhalb der Elterngeneration orientiert sind. Soweit sich andere Pläne auf Kinderfreibeträge beziehen, die enger als heute mit dem sozialen Existenzminimum von Kindern verknüpft werden sollen, oder soweit darüber hinausgehend ein Familiensplitting vorgesehen wird, steht im allgemeinen auch wieder das Ziel der Bedarfsgerechtigkeit Pate, nur daß es jetzt um die Venneidung einer steuerlichen Überbelastung von Familien mit Kindern durch Schaffung größerer horizontaler Gerechtigkeit geht. Obwohl einkommens unabhängige Kindergeldzahlungen als eine Art Basiskopftransfer grundsätzlich auch einen Platz in einem System bedarfsgerechter Einkommensbesteuerung haben könnten, 56 wird bei Forderung nach Erhöhung solcher Zahlungen meist Bezug genommen auf die späteren Rentenbeitragszahlungen dieser Kinder, die als externe Erträge ja relativ unabhängig vom Einkommen der Eltern ausfallen dürften. Angesprochen ist vor allem die allokative Steuerung des generativen Verhaltens einer Generation, die auch im generationsmäßigen Selbstverantwortungsmodell eine wichtige Rolle spielt. Was aber in der Regel bei den Kindergeldplänen fehlt, ist die personelle Verknüpfung von Kinderkosteninzidenz und Rentenempfang auf der einen Seite und Empfang des Kindergeldes (als kreditär gewährte Jugendrente) und Kinderkredittilgung auf der anderen Seite. Diese Verknüpfung ist aber notwendig, will man erreichen, daß im Gesamtsystem die demographische Entwicklung nicht mehr entscheidend die Schwierigkeiten der Altersrenten- und Kinderkostenfinanzierung bestimmt. werden, Schmähl, 1988, S. 321 - 323. Damit ist aber die Rechtfertigung dieser Leistungen allein auf die (nonnativ umstrittenen) Ideen des bedarfsgerechten Familienlastenausgleichs angewiesen. 56 Auch in der Absicht, die Entlastungswirkungen von Kinderfreibeträgen (Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit) mit negativeinkommensabhängigen Kindergeldzahlungen (bedarfsgerechten Transfers) zu kombinieren. Zur Bekräftigung, daß damit auch die geringere steuerliche Leistungsfähigkeit der Familien mit Kindern abgedeckt wird, schlägt Oberhauser eine Saldierung des einheitlichen Kindergelds mit der Steuerschuld vor (1994, S. 166/7).
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Eine sehr versteckte Fonn der Kindergeldgewährung läge vor, wenn man im Rahmen der Rentenversicherung die Beiträge (oder Beitragssätze)57 nach der Kinderzahl differenzierte oder wenn eine neuerdings diskutierte Kinderlosensteuer (z.B. als prozentualer Aufschlag auf das versteuerbare Einkommen oder auf die Einkommensteuer) eingeführt würde. Das "Kindergeld" je Kind ist für die einzelnen Gruppen durch die Steuer- und Beitragsminderzahlungen wegen eines zusätzlichen Kindes zu ennitteln. Bei einer Kinderlosensteuer würde z.B. das Kindergeld für das erste Kind bei einem Einkommen unterhalb des Steuerfreibetrags gar nicht existieren und ansonsten mit dem Einkommen der Eltern steigen, während für weitere Kinder (versteckte) "Kindergeldzahlungen" völlig entfallen. Bei der Beitragsdifferenzierung würde das "Kindergeld", das hier auch nur Rentenversicherungspflichtige 58 erhalten, finanziert durch gestiegene Beiträge der kiriderlosen oder kinderannen Rentenversicherungspflichtigen. Bei Differenzierung der Beitragssätze würde das "Kindergeld" auch wieder mit dem Einkommen der Eltern steigen. Diese vielfältigen Variationen des Kindergeldes werden der Idee, externe Erträge spürbar zu machen, weniger gerecht als eine offene einkommensunabhängige Zahlung je Kind, unabhängig auch von der Ordnungszahl der Kinder und der Versicherungspflicht der Eltern. Bei einer Refinanzierung über erhöhte Beitragssätze in der Rentenversicherung wird man jedoch wenigstens der Idee gerecht, daß die Nutznießer der externen Erträge äquivalent zu ihren Vorteilen belastet werden. 59 Eine solche äquivalente Belastung könnten auch Verfechter von Familienausgleichsabgaben kinderloser und kinderanner Gesellschaftsmitglieder, die über Kinderausgleichskassen an die kinderreicheren Familien fließen, im Auge haben. Als Vorteil eines solchen Systems wird meist noch betont, daß die Leistungsempranger erhaltene Unterstützungen nicht mehr teilweise selbst zu finanzieren haben. 60 Da jedoch Nutznießer der späteren Beitragszahlungen der heutigen Kindergeneration alle zukünftigen Empfänger von Renten nach Maßgabe früherer Beiträge sind, wäre nur das rentenversicherungspflichtige Einkommen aller Er57 Zu einer Differenzierung der Beitragssätze siehe Müller, 1988; Wingen, 1986, S. 37; eine (versteckte) Differenzierung der Beiträge erwähnte Kleinhenz mit der Möglichkeit, Kinderfreibeträge auch bei der Berechnung der Rentenversicherungsbeiträge anzusetzen (1994, S. 11). 58 Angelpunkt des Zuschusses müßte die erwartete Rentenversicherungspflicht (oder auch Beamtentätigkeit mit versteckter Rentenversicherung) der Kinder sein, nicht die eigene Rentenversicherungspflicht. So kritisch auch Schmäht, 1988, S. 320. 59 Zu diesen Vorstellungen entsprechend der Musgraveschen Allokationsabteilung vgl. Kap IV. Die Belastungen durch die Kinderlosensteuer werden dieser Äquivalenzidee wesentlich weniger gerecht, weil hier a) die Belastungen insgesamt quantitativ nicht den Begünstigungen durch die Kindergelder entsprechen, b) nicht jeder Kinderlose auch später eine Rente erhält, c) es bei der Steuer einerseits Freibeträge, andererseits aber keine Bemessungsobergrenzen gibt, d) der konstante Aufschlag auf die Einkommensteuerzahlungen diese Kinderlosensteuer zu einer progressiven Steuer macht. 60 Zu dieser immer wieder in Politik und Literatur auftauchenden Idee siehe Schmidt, 1988, S. 490/1. 12 Festschrift Lampert
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werbstätigen eine äquivalenztheoretisch geeignete Refinanzierungsbasis. Sonderabgaben für Kinderlose und Kinderarme sind aber auch unter dem Blickwinkel eines Familienlastenausgleichs, der sich an der Bedarfsgerechtigkeit orientiert, ungeeignete fiskalische Institutionen zur Finanzierung eines Teils der Kinderkosten. Es ist nicht zu sehen, wie der Verzicht auf Steuerbemessungsgrundlagen (z. B. bei Kinderreicheren), die ansonsten bei einer bedarfsgerechten Besteuerung generell herangezogen werden, bei der Refinanzierung speziell des Kindergeldes gerade der Bedarfsgerechtigkeit dienen soll. Das Konzept einer finanziell eigenverantwortlichen Generation, die in der Jugend ein Vorschußeinkommen erhält - eine Art Darlehensschuld, die in der Erwerbstätigenphase (von dem 35. Lebensjahr an) an die Gesellschaft zurückzuzahlen ist - wurde schon früh mit Nachdruck von Schreiber vertreten. 61 Kindergeldzahlungen gehen nicht mehr vom Gedanken des Familienlastenausgleichs aus, sondern werden unter dem Aspekt der Verteilung des Lebenseinkommens auch auf die wirtschaftlich "unproduktiven" Lebensphasen gesehen (S. 32). Dies legt den Gedanken nahe, daß Schreiber den intragenerativen und zugleich intrapersonellen Umverteilungsprozeß mit Kindergeldrückzahlungen und Rentenleistungen in der industriellen Gesellschaft über die ganze Generation hinweg ähnlich sieht wie den Solidarvertrag in der Familie der vorindustriellen Gesellschaft: "Die Eltern zogen die Kinder groß und erwarben dadurch den selbstverständlichen Anspruch, in ihrem Alter von den Kindern unterhalten zu werden" (S. 31). Statt dessen lief sein Plan aber in der Substanz auf eine Ergänzung der heute realisierten umlagefinanzierten Altersversorgung um eine umlagefinanzierte Kindergeldkasse hinaus (aus dem linear einkommensabhängig gestalteten Rückfluß der Kinderkostenkredite werden die Rentenvorschüsse für die dann im Kindesalter Stehenden bestritten, S. 32). Mit dem Hinweis auf den Beitrag der heutigen Kinder zur Sicherung der späteren Altersrenten wird dann noch der Einkommensteuersatz, der die Rückzahlung der Darlehensschuld gewährleisten soll, nach der Kinderzahl gestaffelt (S. 33). Wie oben bei der kinderbezogenen Beitragsdifferenzierung im Rahmen der Rentenversicherung impliziert auch dieser Plan ein verstecktes Kindergeld, das proportional mit dem Einkommen steigt. Damit ist diese Steuersatzdifferenzierung bei Rückzahlung des Kindergeldes auch wieder relativ ungeeignet zur Internalisierung der externen Erträge, die die Kinder durch ihren späteren Beitrag im umlagefinanzierten Rentenversicherungssystem leisten. Was das Schreibersehe Konzept letztlich wegen des Festhaltens am inzwischen herkömmlich gewordenen Alterssicherungssystem nicht leistet, das ist die automatische Stabilisierung des Altersrentensystems durch die Verknüpfung der späteren Renten mit früher geleisteten Aufwendungen zur Kinderaufziehung.
61
Schreiber, 1955, S. 31, der dieses Konzept später systematisch ausbaute; vgl. ders.,
1964.
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Eine wirklich konsequente Verknüpfung von Rentenleistungen und Kinderaufziehung, die zu einer Stabilisierung des Alterssicherungssystems führt, schlagen nur Schmidt u. a. vor. 62 In ihrem Plan bleibt es bei den heutigen Rentenversicherungsbeiträgen, nur werden die Renten und Leistungsklassen entsprechend der Kinderzahl berechnet, wobei Kinderlose auf die Bildung eines adäquaten Kapitalstocks verwiesen werden, der nach ihren Berechnungen etwa den eingesparten Kinderkosten entsprechen dürfte. Was in diesem Konzept hingegen völlig unbefriedigend bleibt, ist die Staffelung der Renten in jeder (kinderzahlabhängigen) Leistungsklasse nach dem früheren Einkommen. Diese Einkommensabhängigkeit der Renten läßt sich weder aus der Sicht externer Erträge durch Aufziehen der Kinder noch aus der Sicht zurückgezahlter Kinderkostenkredite rechtfertigen. Nur in dem Maße, in dem die Kinderkostenkredite, die durch die späteren Beitragszahlungen letztlich zurückgezahlt werden,63 durch eine Art proportionale Einkommensteuer finanziert werden, ist aus der vorgeschlagenen Sicht eigenverantwortlicher Generationen eine einkommensabhängige Rente zu rechtfertigen. Nur in diesem Umfang ist dann das frühere Einkommen und nicht die Anzahl eigener Kinder ein geeigneter Indikator für die Finanzierung der Investitionen in das Humankapital der nachfolgenden Generation. Anders als bei Schmidt u. a. laufen die Reformvorstellungen von Borchert auf Elternrenten hinaus, für die nur 50 % der Rentenversicherungsbeiträge verwandt werden,64 während die restlichen 50 % zu entsprechend reduzierten herkömmlichen Renten nach dem Beitragsverfahren führen sollen. Es liegt somit ein echtes Mischsystem vor. Entsprechend dem Erwartungswert der Rentenversicherungsbeiträge eigener Kinder wird die Elternrente je Kind einheitlich festgesetzt. Dieser Teil des Rentensystems kann deshalb auch die gewünschte Stabilisierung im Zeitablauf selbst bei erheblichen demographischen Veränderungen gewährleisten, allerdings wieder mit unerwünschten Substitutionseffekten zu Lasten beitragspflichtiger Aktivitäten. Was jedoch weiterhin nicht gewährleistet ist, ist die konsequente Orientierung dieser umlagefinanzierten Rente an Höhe und Verteilung der Finanzierungslasten zur Aufziehung der beitragspflichtigen Generation. Den Vorschlag einer Elternrente, die sich direkt aus den Kinderkosten ableiten läßt, machte schließlich v. RenesseY Sie vergleicht die direkten monatlichen Kinderkosten für die Eltern von ca. 500 DM mit den durchschnittlichen Monats62
Schmidt / Frank / Müller-Rohr, 1985, insb. S. 47 -50.
63 In dem Beitrag selbst wird die Sicht der Kosten- bzw. Kreditrückzahlung gar nicht
erörtert, die angestellten Berechnungen legen aber nahe, daß die Beitragszahlungen im Schnitt der Kinderkostenrückzahlung entsprechen könnten. Nach der selbst vorgestellten Konzeption hätten an die Stelle der herkömmlichen Beitragssätze quantitativ und qualitativ differenzierte Verfahren der Kostenrückzahlung zu treten, auch um den möglichen Konflikt zwischen den Generationen um die Ausbildung der Jugend zu entschärfen. 64 Borchert, 1981, insb. S. 229-238; ders., 1989, insb. S. 120-122; Gallon, 1993, S. 10-16. 65 v. Renesse, 1992. 12*
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beiträgen zur Rentenversicherung von ca. 700 DM und kommt bei einer durchschnittlich 20jährigen Unterhalts verpflichtung für jedes Kind zu einer Elternrente von zur Zeit etwa 580 DM monatlich, wenn man die Kinderkosten wie Rentenversicherungsbeiträge behandeln würde. Finanziert werden soll diese Reform durch den Wegfall der Witwen- und Witwerrenten. Diese Vorstellungen entsprechen dem Konzept einer kinderkostenorientierten Alterssicherung aus Kap. 11 mehr als die anderen Reformvorstellungen, auch wenn hier die entgangenen Einkommen der Eltern unzulässigerweise gar nicht berücksichtigt werden und statt des Kapitalmarktzinses die implizite Verzinsung der Rentenversicherung angesetzt wird. Die vorgeschlagene Refinanzierung ist überzeugend, paßt doch die heutige Hinterbliebenenrente in ihrer Art weder in das bisherige Rentensystem noch in ein sinnvolles Reformmodell. Was aber auch in diesem Reformansatz noch völlig fehlt, ist die enge zeitliche Verbindung von Finanzzuflüssen und Bedarf über den Lebenszyklus hinweg.
VI. Resumee Als Resumee dieses knappen Überblicks über Reformvorstellungen bei der Rentenversicherung und dem Familienlastenausgleich ist festzuhalten, daß das Leitbild einer Generation, die über alle Lebensphasen die finanzielle Selbstverantwortung trägt und im eigenen Interesse für eine enge zeitliche Kopplung von finanziellen Mitteln und Bedarf sorgt, für keinen der diskutierten Vorschläge prägend ist. Damit werden aber auch die Möglichkeiten nicht voll genutzt, Aufwendungen für das Aufziehen der Kinder zur Basis derjenigen Rentenleistungen zu machen, die fällig werden, wenn in ihrer späteren Erwerbstätigenphase die Investitionen in das Humankapital ausreifen. Dies ist der Kern des oben entwikkelten Systems eines Kinderleistungsausgleichs, in dem Leistungen für die Kinder in ihrer Kinder- und Jugendphase durch Leistungen der Kinder in ihrer Erwerbstätigenphase zur Finanzierung der Renten der Elterngeneration ausgeglichen werden. Der Übergang zu diesem System kann ohne Veränderung der intergenerativen Verteilung erfolgen. Er braucht auch nicht mit einer Verstärkung negativer Leistungsanreizeffekte einherzugehen, wie es bei einer steuerfinanzierten Erhöhung des einfachen Familienlastenausgleichs der Fall sein würde. Das heutige System der Alterssicherung und Kinderkostenfinanzierung verstellt die Sicht darauf, daß strukturelle Veränderungen im Umfang der Investitionen in das Humankapital kompensierende Veränderungen bei den übrigen gesellschaftlichen Vermögensanlagen nahelegen, soll die Sicherung der gewünschten Altersversorgung (einschließlich der dabei entstehenden allokativen Probleme) unabhängig gemacht werden von demographischen Entwicklungen und intergenerativen Verteilungsprozessen. Obendrein versperrt es einen vergleichsweise einfachen Weg, zu allokativ effizienten Entscheidungen bei der Aufziehung und Ausbildung der Kinder zu kommen, ohne auf einen sehr starken Altruismus in den beiden jeweils betroffenen Generationen angewiesen zu sein. Ob allerdings Überlegungen dieser
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Art überhaupt von größerer Bedeutung sind (oder sein können), wenn es im politischen Raum um die tatsächlichen Weichenstellungen in Alterssicherungsund Kinderfinanzierungssystemen geht, wird aus polit-ökonomischer Perspektive durchaus skeptisch beurteilt. 66
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Familienlastenausgleich und Familienbesteuerung Von Alois Oberhauser Heinz Lampert hat einen großen Teil seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in Lehre, Forschung und Politikberatung auf die verschiedenen Seiten der Familienpolitik verwandt. Es liegt daher nahe, ihm einen Beitrag zu widmen, der der Klärung des Zusammenwirkens von Familienlastenausgleich und Familienbesteuerung dienen soll. Ziel der Überlegungen ist es zu zeigen, daß weder das derzeitige duale System und noch weniger das Familiensplitting oder das Realsplitting adäquate Maßnahmen zum (Teil-)Ausgleich der Familienlasten sind. I. Die Vorschläge zum Familienlastenausgleich und zur Familienbesteuerung, die in der politischen Diskussion und im wissenschaftlichen Schrifttum zu finden sind, gehen sehr weit auseinander. Sie reichen von der Auffassung, daß Kinder reine Privatsache und für die steuerliche Leistungsfahigkeit irrelevant seien oder daß es genüge, die Aufwendungen für Kinder lediglich bei der Einkommensbesteuerung zu berücksichtigen, bis hin zu einer für alle Kinder einheitlichen "Kinderrente", wie sie beispielsweise der Bundestagsabgeordnete Habermann in Höhe von 700 DM monatlich fordert. Bei den meisten Vorschlägen geht es jedoch um ein Nebeneinander von zwei oder mehr Maßnahmen. 2. Die einzelnen Konzeptionen unterscheiden sich vor allem aufgrund der verfolgten Ziele und deren Gewichtung. Darüber hinaus spielen aber offensichtlich auch unzulängliche Vorstellungen über die Verteilungswirkungen der eingesetzten Instrumente eine Rolle. Für die Rechtfertigung einer Maßnahme genügt es nicht, an Einzelbeispielen Familien mit Kindern und kinderlose Ehepaare bzw. Ledige bei gleich hohem Einkommen miteinander zu vergleichen. Neben diesen horizontalen Aspekten muß stets berücksichtigt werden, ob die Entlastungseffekte der familienbezogenen Maßnahmen auch vertikal, das heißt zwischen den Beziehern unterschiedlich hoher Einkommen, zieladäquat sind. Ein großer Teil der Vorschläge würde wahrscheinlich von ihren Befürwortern kaum oder höchstens in modifizierter Form vertreten, wenn diese sich über die unausgewogenen vertikalen Verteilungswirkungen der geforderten Maßnahmen im klaren wären. 3. Die folgenden Ausführungen möchten zu einer Klärung der Zusammenhänge und damit auch zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen. Um die verschiedenen Maßnahmen des Familienlastenausgleichs und der Familienbesteuerung miteinander vergleichen zu können, werden die Entlastungseffekte berechnet, die sich für Bezieher unterschiedlich hoher Einkommen im Vergleich zu Ehepaaren ohne (unterhaltspflichtige) Kinder ergeben. Die Eignung der Maß-
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Alois Oberhauser
nahmen ist davon abhängig, ob diese Entlastungseffekte den jeweils angestrebten Zielen entsprechen. 4. Der Begriff des Familienlastenausgleichs wird unterschiedlich abgegrenzt: -
In einer sehr weiten Begriffsverwendung wird darunter die Gesamtheit der familienpolitischen Maßnahmen verstanden 1.
-
Meist bezieht sich der Familienlastenausgleich nur auf das Zusammenwirken von Kindergeld und Kinderfreibeträgen im dualen System. In einem engeren und eigentlichen Wortsinne ist der Begriff nur auf die Maßnahmen bezogen, die auf einen begrenzten Ausgleich der Lasten abzielen, die den Familien durch das Aufziehen der Kinder entstehen.
Um den Vergleich mit der Familienbesteuerung deutlich zu machen, wird der Begriff des Familienlastenausgleichs im folgenden nur in der dritten engen Abgrenzung verwandt.
5. Für einen Familienlastenausgleich in diesem Sinne werden in der Literatur verschiedene Begründungen bzw. Begründungskomplexe genannt: -
Familien erbringen Leistungen für die Gesellschaft, indem sie unter hohem persönlichen und wirtschaftlichen Einsatz ihre Kinder zu politisch und sozial verantwortlichen Menschen erziehen. Darüber hinaus ist die jeweils ältere Generation auf die nachwachsenden Generationen angewiesen; denn die alten Menschen leben aus dem Sozialprodukt, das diese erwirtschaften. Aus derartigen gesellschaftspolitischen Argumenten wird im allgemeinen gefolgert, daß alle Eltern - unabhängig von der Höhe ihres Einkommens - den gleichen Anspruch auf staatliche Ausgleichsleistungen haben.
-
Eine zweite Gruppe von Argumenten setzt an der Familie als förderungswürdiger gesellschaftlicher Institution an, wie dies auch in Art. 6 GG zum Ausdruck kommt. Danach ist es Aufgabe der Gesellschaft zu verhindern, daß die Familien allzu sehr aus ihrer sozialen Schicht absinken. Zugleich wird aber auch die Eigenverantwortung der Familien betont.
-
Eine dritte Gruppe von Argumenten ist an den Kindern selbst orientiert. Diese haben als Individuen aus sozialen und humanitären Gründen einen Anspruch auf Förderung durch die Gesellschaft und auf eine Annäherung
1 Es gibt eine kaum noch überschaubare Zahl familienbezogener Maßnahmen. In einer speziellen Untersuchung hat der Verfasser 83 Regelungen dieser Art zusammengestellt, ohne dabei diejenigen innerhalb des sozialen Leistungssystems zu berücksichtigen. Die Maßnahmen dienen teilweise der allgemeinen Erhöhung des verfügbaren Einkommens der Familien, teilweise sind sie auf eine Begünstigung von Ausbildung und Fortbildung, des Wohnens und der Vermögensbildung gerichtet. Diesen Maßnahmen liegen wenigstens ebensoviele Detailziele zugrunde. Vgl. A. Oberhauser: Familie und Haushalt als Transferempfanger - Situation, Mängel und Reformansätze, Frankfurt / Main 1989. Siehe auch H. Lampert: Lehrbuch der Sozialpolitik, 2. Auflage, Berlin 1991, S. 328ff. M. Wingen: Zur Theorie und Praxis der Familienpolitik, Frankfurt 1994, S. 5ff.
Familienlastenausgleich und Familienbesteuerung
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ihrer Startchancen. Hieraus wird meist eine Abnahme der kinderbezogenen Leistungen mit dem Einkommen (und Vermögen) der Eltern abgeleitet. Entsprechend diesen unterschiedlichen Begründungen, die im folgenden als sozialpolitisches Ziel des Familienlastenausgleichs zusammengefaßt werden sollen, besteht die Aufgabe der Gesellschaft darin, daß sie einen Teil der Lasten übernimmt, die den Familien durch das Aufziehen der Kinder entstehen. Eine volle Übernahme der Kosten kommt nur dann in Betracht, wenn das sozialkulturelle Existenzminimum andernfalls unterschritten wird. Da mit steigender Kinderzahl das Resteinkommen für die übrigen Familienmitglieder sinkt, kann aus dieser sozialpolitischen Zielsetzung des Familienlastenausgleichs auch eine Abstufung der familienbezogenen Leistungen nach der Kinderzahl begründet werden. 6. Bei der Familienbesteuerung wird ein völlig anderes Ziel verfolgt. Es geht nur darum, die steuerlichen Abgaben an den Staat gerecht zu bemessen. Dieses Ziel der Besteuerung der Familien nach ihrer Leistungsfähigkeit ist - isoliert betrachtet - nicht auf einen Ausgleich von Familienlasten im eigentlichen Wortsinne gerichtet. In welchem Umfang die steuerliche Leistungsfähigkeit bei gegebenem Einkommen durch Kinder zurückgeht und in welcher Form dies steuerlich berücksichtigt werden soll, darüber gehen die Ansichten auseinander. 7. Die beiden genannten Ziele des Familienlastenausgleichs und der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sind der Grund dafür, warum in der Bundesrepublik Deutschland zwei Instrumente, das Kindergeld und die steuerlichen Kinderfreibeträge, entstanden sind. Die Verfolgung jedes dieser Ziele läuft auf einkommensmäßige Entlastungseffekte, das heißt auf ein höheres Nettoeinkommen der Familien im Verhältnis zu Einkommensbeziehern ohne Kinder bei gleichem Markteinkommen hinaus. Es ist daher nicht überraschend, daß im dualen System Kindergeld und Kinderfreibeträge gemeinsam sowohl dem Familienlastenausgleich, als auch - nicht nur nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes - der Berücksichtigung der geringeren steuerlichen Leistungsfähigkeit dienen sollen. Dazu müssen beide Maßnahmen sinnvoll aufeinander abgestimmt sein. Ein solches Vorgehen setzt voraus, daß beide Ziele bejaht werden, was nicht allgemein der Fall ist. 8. Von den beiden Zielen, einem Teilausgleich der Familienlasten durch die Gesellschaft und der Berücksichtigung der geringeren steuerlichen Leistungsfähigkeit der Familien mit Kindern, ist ein drittes zu unterscheiden: die Sicherung des sozialkulturellen Existenzminimums. Es entspricht den sozialpolitischen Vorstellungen unserer Gesellschaft, daß jeder Bürger einen unabdingbaren Anspruch auf ein solches Existenzminimum besitzt. Die Sicherung des Existenzminimums ist jedoch nicht Aufgabe des Familienlastenausgleichs in dem hier verwandten Wortsinne. Soweit diese Sicherung nicht durch andere Sozialleistungen geschieht, stellt die Sozialhilfe ein Auffangnetz dar. Sie macht eine individuelle Bedarfsprüfung erforderlich. Auf ihre Probleme wird im folgenden nicht eingegangen 2 •
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9. Das derzeitige duale System ist zu einer nahtlosen Verzahnung von Kindergeld und Familienbesteuerung nicht in der Lage. Beide Maßnahmen sind unzulänglich aufeinander abgestimmt. Dies wird deutlich, wenn man die Entlastungseffekte beider Maßnahmen in Abhängigkeit vom Einkommen für Mehr-KinderFamilien addiert. Die Entlastungsverläufe sind durch unmotivierte Zacken und Sprünge gekennzeichnet. Durch die Begrenzung des Kindergeldes ab einem Familieneinkommen von 100.000 DM auf 70 DM für jedes Kind seit dem 1. 1. 1994 ist eine neue Zacke in den Entlastungsverlauf gekommen. Schaubild 1 zeigt dies für Drei-Kinder-Familien. Es entsteht das sogenannte "Mittelstandsloch", das eigentlich ein "Loch bei den mittleren Einkommensschichten" ist. Zu diesen gehört allerdings die größere Zahl der Familien. Es ist familienpolitisch schwer einzusehen, warum in den mittleren Einkommensschichten die Entlastungseffekte sinken, um dann in den oberen wieder stark zu steigen. 10. Gemessen an den beiden Zielen wäre die Einführung eines Familiensplittings noch stärker verfehlt. Das Familiensplitting läuft lediglich auf eine erhöhte Entlastung der Familien in den oberen Einkommensschichten hinaus. Selbst bei einem Splittingfaktor 3 für Kinder von lediglich 0,5 steigen in den höheren Einkommensschichten die Entlastungswirkungen auf 975 DM im Monat, während Familien in den unteren Einkommensgruppen leer ausgehen (Schaubild 2, durchgezogene Linie). Dies steht im Widerspruch zum eigentlichen Ziel des Familienlastenausgleichs, selbst wenn das Kindergeld für die Bezieher höherer Einkommen abgeschafft würde. Durch die erhebliche steuerliche Entlastung der Besserverdienenden würde der staatliche Handlungsspielraum für einen zielgerichteten Lastenausgleich im eigentlichen Wortsinne vermindert. Ähnliches gilt auch für ein modifiziertes Splitting, das heißt für eine Begrenzung der Entlastungseffekte auf eine bestimmte Höhe (zum Beispiel die punktierte Linie im Schaubild 2). Wer glaubt, das Familiensplitting komme der Mehrheit der Familien zugute und diene dem Familienlastenausgleich, verkennt die extrem unterschiedlichen Entlastungseffekte. Völlig abwegig ist der Gedanke, daß das Familiensplitting spezielle Maßnahmen des Familienlastenausgleichs überflüssig mache; denn die Familien in den unteren Einkommensbereichen würden keine oder nur geringe Entlastungen erfahren. 11. Ähnliches trifft im Prinzip auf das Realsplitting zu. Sein Grundgedanke ist4, daß die schichtenspezifischen Aufwendungen der Eltern für ihre Kinder vom elterlichen Einkommen abgezogen werden dürfen, aber von den Kindern als "Transfereinkommen" individuell zu versteuern sind. Die Familienbesteue2 Da Sozialhilfeleistungen vielfach als diskriminierend angesehen werden, könnte man den Sozialleistungen zur Sicherung des Existenzminimums von Kindern in Anlehnung an das Wohngeld auch einen eigenen Namen geben. 3 Vgl. B. Janssen: Zur Gerechtigkeit in der Familienbesteuerung in Theorie und Praxis. DStZ 1991, S. 21. 4 Vgl. J. Lang: Familienbesteuerung, in: Steuer und Wirtschaft 1983, S. 123.
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Schaubild J
Entlastungen durch Kindergeld und Kinderfreibeträge fiir eine Familie mit 3 Kindern bei unterschiedlich hohen Einkommen 800
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100.000 150.000 200.000 250.000 300.000
zu versteuerndes Jahreseinkommen (1) (I) vor Abzug der Kinderfreibeträge, Neuregelung ab 1.1.1994 berücksichtigt
rung, von der das heutige Einkommensteuerrecht im Prinzip ausgeht, würde damit zugunsten einer stärkeren Individualbesteuerung verlassen. 12. Die Entlastungseffekte, die aus dem Realsplitting resultieren, sind vor allem davon abhängig, wieviel den einzelnen Kindern vom elterlichen Einkommen zugerechnet wird. In Betracht kämen normierte schichtenspezifische Konsumausgaben für jedes Kind oder die einkommens abhängigen Unterhaltsverpflichtungen der Eltern. Dem Grundgedanken des Realsplittings entspräche es
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Schaubild 2 Entlastungsverläufe bei alternativer steuerlicher Behandlung einer Familie mit 1 Kind bei unterschiedlich hohen Einkommen
1000 ".
- .. - , . KiDdcrlieibclrag und KiDdcrgdd
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I
50000 100000 150000 200000 250000 300000 350000 zu versteuerndes Jahreseinkommen (1)
(1) VIII' Abzug der Kinderi'reibetrage
eigentlich, von den schichtenspezifischen Konsumausgaben auszugehen und damit zu unterstellen, daß die Kinder an der elterlichen Vermögensbildung keinen Anteil haben. Der gestrichelten Kurve in Schaubild 2 liegt für diese Form des Realsplittings die Annahme zugrunde, daß die Kinder mit einem Splittingfaktor von 0,5 am Familienkonsum beteiligt sind. Ferner wird unterstellt, daß die marginale Konsumquote bis zu einem Jahreseinkommen von 50.000 DM bei I liegt, danach linear absinkt und ab einem Einkommen von 300.000 DM Null beträgt.
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Durch die selbständige Besteuerung des Kindes außerhalb der Familien ergeben sich auf diese Weise Entlastungseffekte, die größer sind als beim Familiensplitting. 13. Wesentlich geringer sind die eintretenden Entlastungswirkungen, wenn man lediglich Werte als eigenständiges Einkommen des Kindes anerkennt, die sich an den Unterhaltsverpflichtungen der Eltern anlehnen 5• Geht man beispielsweise von einem Mindestbetrag in Höhe des Existenzminimums von monatlich 600 DM aus und unterstellt einen Anstieg in den höheren Einkommensklassen bis auf 1.200 DM, so ergeben sich Entlastungsbeträge, die von 0 auf 600 DM monatlich (bei einem Spitzensteuersatz von 50 %) steigen. Ist das Realsplitting nicht mit einem zusätzlichen Familienlastenausgleich, sondern gemäß einem Vorschlag von J. Lang 6 nur mit Sozialhilfeleistungen kombiniert, ergeben sich Entlastungsverläufe, die in etwa denen in Schaubild 3 entsprechen. Der Zielsetzung eines Teilausgleichs der Familienlasten wird damit nicht Genüge getan, weil die Familien in den mittleren Einkommensschichten nur relativ geringe Entlastungen erfahren. Ob es sich um eine adäquate Form der Familienbesteuerung handelt, hängt von der subjektiven Interpretation des Leistungfähigkeitsprinzips ab. Zwingend ist diese Interpretation nicht, wie auch die Begründungen des Bundesverfassungsgerichtes 7 zeigen. 14. Die bisherigen Überlegungen haben deutlich gemacht, daß je nachdem, von welchen Zielsetzungen man ausgeht und wie man diese gewichtet, unterschiedliche Schlußfolgerungen naheliegen 8 • Zugleich ergab sich, daß zwei (oder mehr) Ziele sinnvollerweise nicht durch mehrere Maßnahmen verfolgt werden sollten, da diese nur unzulänglich und mit unnötig hohem Verwaltungsaufwand aufeinander abgestimmt werden können. Das derzeitige duale System mit seinen unmotivierten Entlastungsverläufen ist ein Beleg dafür. Um die Ungereimtheiten dieses Systems zu vermeiden, sollte man zu besseren Lösungen übergehen. Wie der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen bereits in einem Gutachten 1971 ausgeführt hat 9 , kommen dafür im Prinzip zwei Wege in Betracht: 5 Zum Beispiel durch die Anwendung der Düsseldorfer Tabelle. Unmittelbar können deren Werte jedoch nicht herangezogen werden, da die Unterhaltsverpflichtungen abgestuft sind nach der Anzahl der unterhaltspflichtigen Kinder und da sie in den unteren Einkommensschichten unterhalb des sozialkulturellen Existenzminimums liegen. V gl. G. Brudermüller / R. Klattenhoff: Tabellen zum Familienrecht, 9. Auflage, Neuwied 1993. 6 "Wer ... ausreichend Einkommen hat, um sich und seine Familie zu versorgen, bedarf der staatlichen Hilfe nicht." J. Lang: Familienexistenzminimum im Steuer- und Kindergeldrecht, in: Steuer und Wirtschaft, 1990, S. 333. Siehe auch J. Lang: Familienbesteuerung, a. a. 0., S. 122. 7 Vgl. Bundesverfassungsgericht: Beschluß des Ersten Senats vom 29.5.1990 III 3. 8 Vgl. H. Zimmermann: Kindergeld, Kinderfreibetrag oder Familiensplitting?, in: Wirtschaftsdienst 1989, S. 149 ff.
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-
Eine Lösung bestände darin, den Familien ein Wahlrecht zwischen einem erhöhten Kindergeld oder angehobenen Kinderfreibeträgen anzubieten bzw., was angebracht wäre, ihnen die Leistung zu gewähren, die für sie am günstigsten ist (durchgezogene Kurve in Schaubild 4). Schaubild 3
Entlastungseffekte durch Realsplitting nach den Werten der "Düsseldorfer Tabelle" (1) und durch Sozialhilfeleistungen 500 450
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50.000
100.000 150.000 200.000 250.000 300.000
zu versteuerndes Jahreseinkommen (1) TabcUcDwert aus: Brudermüller, G. und R. KlattcuhofJ: TIbcUcn zum Fomillcnrcchl, 9. Aufb&e, Neuwicd/KriftelfBerlin 1993 9 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Gutachten zur Neugestaltung und Finanzierung von Alterssicherung und Familienlastenausgleich, in: Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.): Entschließungen, Stellungnahmen und Gutachten 1949-1973, Tübingen 1974; S. 475.
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Schaubild 4 Mögliche Entlastungsverlllufe eines refonnierten Familien1astenausgleichs
.'
.'
. . . . . .. Kinderfreibetrag - - WahlmOglichkeit zwischen Kindergeld und Kinderfreibetrag
- - - - Einheitliches Kindergeld
zu versteuerndes Jahreseinkommen
-
Eine zweite Lösung ist ein einheitliches, erhöhtes Kindergeld. Um zum Ausdruck zu bringen, daß dieses auch die geringere steuerliche Leistungsfähigkeit abdecken soll, müßte das Kindergeld von der Steuerschuld abgezogen werden - bei Auszahlung negativer Beträge (gestrichelte Linie in Schaubild 4).
15. Die SPD befürwortet ein einheitliches Kindergeld bei Abschaffung der Kinderfreibeträge. Dies läuft tendenziell auf den zweiten Weg hinaus. Allerdings müßte auf jeden Fall die sogenannte Finanzamtslösung, das heißt die Verrechnung des Kindergeldes mit den Lohn- und Einkommensteuerzahlungen, angewandt 13 Festschrift Lampen
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werden. Negative Beträge wären auszuzahlen. In den meisten Fällen wird dann das Kindergeld in die Lohnsteuerabrechnungen durch die Arbeitgeber einbezogen. Ein solches Vorgehen kann unter Umständen mit der erwähnten Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes in Kollision geraten, daß das sozialkuiturelle Existenzminimum steuerfrei bleiben muß. Durch eine reine Kindergeldlösung läßt sich dies vermeiden, wenn die eintretenden Entlastungseffekte wenigstens denen entsprechen, die aufgrund eines von der steuerlichen Bemessungsgrundlage abzugsfähigen Kinderfreibetrages in Höhe des sozialkulturellen Existenzminimums zustande kämen. Ausreichende Entlastungswirkungen sind in den oberen Einkommensschichten dann gegeben, wenn das einheitliche von der Steuerschuld abzuziehende Kindergeld etwa 300 DM im Monat betrüge. 16. Unter Umständen ist aber auch eine andere Argumentation mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes vereinbar. Nach dem Beschluß des Zweiten Senats vom 25.9. 1992 genügt es steuerlich, daß der Gesetzgeber einen Grundfreibetrag in Höhe des existenznotwendigen Bedarfs gewährt 10. Ein Grundfreibetrag, wie er beim allgemeinen Einkommensteuertarif angewandt wird, unterscheidet sich von einem Freibetrag, der von der steuerlichen Bemessungsgrundlage abgezogen wird, dadurch, daß keine Progressionswirkungen Berücksichtigung finden. Wendet man einen Grundfreibetrag auch auf Kinder an und kombiniert ihn mit einem einheitlichen Kindergeld, sind die Entlastungseffekte für alle Kinder gleich. Einfacher wäre es dann aber, einen einheitlichen Entlastungsbetrag als Abzugsbetrag von der Steuerschuld zu gewähren. Eine Abstufung nach der Ordnungszahl der Kinder könnte damit verbunden werden. 17. Die Vorschläge von Familienministerin Rönsch und von Teilen der CDU entsprechen nur in der Tendenz der ersten in Ziffer 14 genannten Lösung; denn es soll weiterhin an dem dualen System festgehalten werden. Nur sollen einerseits die steuerlichen Freibeträge angehoben, andererseits soll das Kindergeld bei höheren Einkommen schrittweise entfallen. Hieraus ergeben sich jedoch zwangsläufig Zacken und Sprünge in den Entlastungswirkungen, da es praktisch nicht möglich ist, eine völlig harmonische Abstimmung beider Maßnahmen aufeinander vorzunehmen. Gerade wenn beide Zielsetzungen bejaht werden, wäre eine Regelung nach dem oben genannten ersten Lösungsweg weit besser geeignet.
10
Vgl. Beschluß vom 25.9.1992 CI 2.
Die Familie als Leistungsträger und Leistungsempfänger im Gesundheitswesen* Von Anita B. Pfaffund Martin Pfaff
Heinz Lampert war uns viele Jahre nicht nur ein hoch geschätzter Fakultätsund Fachkollege. sondern auch ein Mensch. dem wir persönlich zugetan waren und sind. Unsere Forschungsgebiete haben sich mehr berührt. ergänzt und überschnitten als dies bei den meisten anderen Fakultätskollegen der Fall war. Uns hat dabei stets das Anliegen geeint. die Sozialpolitik neben der Wirtschaftspolitik als gleichrangige. gleich wichtige und sich in unserer Wirtschafts- und Sozialordnung notwendigerweise ergänzende - und nicht konkurrierende - Bereiche der gesellschaftspolitischen Intervention einerseits und der wissenschaftlichen Analyse und Auseinandersetzung andererseits zu sehen. Aus den möglichen Anknüpfungspunkten für diesen Beitrag einen einzigen Bereich der Sozialpolitik auszuwählen. bereitete deshalb auch die Qual der Wahl: Imfolgenden Beitrag wollen wir eine Brücke zwischen den Gebieten schlagen. die Heinz Lampert und uns \ in letzter Zeit jeweils besonders intensiv beschäftigt haben. nämlich die Familie und das Gesundheitswesen.
I. Ausgangssituation und Problemlage In unserer Gesellschaft - wie in jeder menschlichen Gesellschaft - ist die Familie eine wichtige Trägerin wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Leistungen. Im Gefolge der Trennung von der Soziologie haben sich die Wirtschaftswissenschaften allerdings sehr stark auf den Markt und die Markteffizienz konzentriert. ja oft beschränkt. Soziale Bezüge generell. die wirtschaftliche Bedeutung der Familie speziell sowie auch die Interdependenz von ökonomischen und sozialen Entscheidungen wurden häufig vernachlässigt.
* Die Autoren danken Herrn Dip!. Stat. Christian Rindsfüßer für die Durchführung der statistischen Auswertungen von GKVSIM und des Sozioökonomischen Panels. Die dargestellten Ergebnisse bauen auf Vorarbeiten im Rahmen des Forschungsprojekts ..Kostendämpfung in der gesetzlichen Krankenversicherung" des Internationalen Instituts für empirische Sozialökonomie (INIFES). das vom Bundesministerium für Forschung und Technologie unter dem Förderkennzeichen BMFT 0701432 gefördertet wurde. sowie eines von der Universität Augsburg gefördertes Typ-B Forschungsprojekt •.Familienhilfe" auf. 13*
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Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
Die Neuere Haushaltsökonomik versucht aus theoretischer Sicht die Rolle des Haushalts und der Familie differenzierter zu sehen (vgl. dazu insbesondere Becker 1981): Daß eine Interdependenz zwischen außerhäuslichem Arbeitsangebot, Konsumgüternachfrage, Bereitschaft zur Haushaltsproduktion, Humankapitalbildung sowie Entscheidungen über generatives Verhalten, Eheschließung und Scheidung besteht, wurde daraus deutlich. Diese Argumente lassen sich jedoch in abgewandelter Form durchaus auch auf die Entscheidungen über die Bereitschaft zur (unentgeltlichen) Pflege Kranker und Pflegebedürftiger im eigenen oder in anderen Haushalten, die einen wichtigen Teil der Haushaltsproduktion darstellt, und zum sozialen ehrenamtlichen Engagement ausdehnen. Sie befassen sich damit mit realen Transferleistungen innerhalb und zwischen Familien. Die Leistungen, die die Familie in der engeren Güter- und Dienstleistungsproduktion erbringt, wurden vor allem in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen thematisiert: Zum einen geht es um die "Make-or-Buy"-Entscheidung, d. h. die Frage, ob und inwieweit ein Haushalt Leistungen - vor allem auf dem Markt - kauft oder sie selbst erstellt. Das hängt neben seinen Präferenzen von den unterschiedlichen Produktivitäten und Veranlagungen (endowments) der Haushaltsmitglieder in verschiedenen Leistungsbereichen ab. Zum anderen werden die Leistungen der Familie für die nachwachsende Generation als besondere, gesellschaftlich relevante Produktionsleistungen des Haushalts angesehen (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 1979). Wenngleich auch diese Leistungen mindestens teilweise unter dem "Make-or-Buy"Gesichtspunkt behandelt werden können - nämlich betreut man Kinder ausschließlich selbst oder überträgt man diese Aufgabe teils anderen Personen oder Institutionen außerhalb des Familienhaushalts - , so geht es in diesem Zusammenhang jedoch heute mehr denn je auch um die Tatsache, daß die Familie und der Haushalt durch die Kindererziehung nicht nur private "Güter" für sich selbst "produziert" oder Humankapitalinvestitionen für die eigene Haushaltsproduktion vornimmt, sondern auch wichtige externe Effekte i~ Form von Humankapitalinvestitionen für die Gesellschaft insgesamt liefert (Ldmpert 1992; Lampert 1993a), sei es in Form von körperlich und seelisch gesunden, gut akkulturierten und sozialisierten Arbeitskräften, von Beitragszahlern für die sozialen Sicherungssysteme oder von anderweitig wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft. (Die diesbezügliche Produktionsleistung der Familie wurde allerdings erst im Zuge der Krise ihrer bis dahin stillschweigenden Leistungsbereitschaft - was häufig fast gleichbedeutend mit der Leistungsbereitschaft der Frauen in der Familie ist - ökonomisch (an)erkannt 1.)
1 Diese Tatsache spiegelt sich auch in der Zurückhaltung bei der Berücksichtigung der Haushaltsproduktion als Teil des Sozialprodukts wider. Eine solche Berücksichtigung führt leicht zu einem ökonomischen Äquivalent in Höhe von einem Drittel bis zur Hälfte des ausgewiesenen Volkseinkommens. Eine jüngst der Öffentlichkeit vorgestellte Studie
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In der Tradition des neoklassischen ökonomischen Paradigmas läßt sich schon aus rein ökonomischer Allokationseffizienz aufgrund dieser positiven externen Effekte die Forderung nach Subventionierung der Leistungen für die nachwachsende Generation durch Gesellschaft und Staat erheben. Anderenfalls wäre gemäß dieser Theorie zu befürchten, daß die Leistungen bezogen auf die Gesamtwohlfahrt in zu geringem Maße erstellt würden. Allerdings kann - wie aus der marktzentrierten neoklassischen Theorie generell - kaum die Forderung nach einer am Bedarf orientierten, kompensatorischen Transferpolitik abgeleitet werden 2. Vielmehr wird auf der Humankapitaltheorie basierend noch eher die bessere Förderung der ohnehin besser situierten Familien als der weniger gut gestellten, weniger gebildeten und vielleicht auch weniger gesunden begründet - unter der allerdings widerlegbaren Annahme, daß sie den (ökonomisch) "leistungsfahigeren, effizienteren und besseren" Nachwuchs großziehen, d. h. eher über die komplementären Güter und Fähigkeiten verfügen. Der Begriff Familienlastenausgleich (Lampert 1990) deutet aber gerade auf ein anderes Motiv als die Subventionierung der Produktion ihrer externen Effekte für die Unterstützung der Familie hin, nämlich den Ausgleich der am höheren Bedarf orientierten zusätzlichen Belastungen. In einer ökonomischen Situation, in der wie heute Kinder in der Familie fast ausschließlich als Teil der Konsumgemeinschaft und nicht als Teil der Haushaltsproduktionsgemeinschaft gesehen werden müssen, liegt dies nahe. Zum Teil einer Produktionsgemeinschaft werden die Kinder viel eher später, wenn sie dem elterlichen Haushalt längst entwachsen sind, aber eventuell ihren alten Eltern Hilfe- und Pflegeleistungen zuteil werden lassen. Dieses Verständnis der arn Bedarfsausgleich orientierten Familienpolitik geht eher von dem für die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland konstitutiven Prinzip der Subsidiarität aus und führt damit eher zur Forderung, höhere Leistungen im Rahmen des Farnilienlastenausgleichs für ökonomisch weniger gut gestellte Familien zu erbringen. Nachdem insbesondere die Frauen in ganz überwiegendem Maße an der Haushaltsproduktion - insbesondere auch an der "Erziehungsproduktion" - beteiligt sind (Berger-Schmidt 1986, Krüsselberg et al. 1986), ließe sich aus den beiden unterschiedlichen Begründungszusarnmenhängen herleiten, daß die staatlichen Leistungen für die Familie durchaus unterschiedlichen Wurzeln und Motiven entspringen und unterschiedliche Funktionen haben: Die Leistungen für Kindererziehende sind primär an der Produktion externer Effekte orientierte Subventionen, des Statistischen Bundesamtes spricht von einem Produktionsäquivalent von DM 860 Mrd. für die Bundesrepublik Deutschland. V gl. zur Leistung des Haushalts auch Lampert 1993b. 2 Um kompensatorische und damit umverteilende Politiken im Gebäude der Wirtschaftstheorie zu fundieren, müßte die Zielsetzung einer "gerechten" Verteilung etwa als öffentliches Gut (Thurow 1971) oder auf der Basis der Interdependenz von Nutzen (Hochman / Rodgers 1969) in die individuellen und sozialen Nutzenfunktionen integriert werden.
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während jene für Kinder primär am Bedarf orientierter Lastenausgleich sind. Die kindererziehenden Eltern erhalten somit ein "Erziehungsentgelt" und damit verbundene Anwartschaften für die Alterssicherung. Warum dieser Beitrag für die Alterssicherung im Vergleich zur monetären Beitragszahlung so gering bewertet wird, ist zwar - aus sozialen und Machtstrukturen - zu erklären, aber dennoch schwer zu rechtfertigen. Ein solches Erziehungsgehalt primär als Transfer an den Ehepartner auszubezahlen, der diese Erziehungsleistung allenfalls zu einem geringen Teil erbringt, nämlich z. B. an den (Ehe-)Mann einer Kinder erziehenden Ganztagshausfrau (zu diesem Begriff vgl. Nave-Herz 1992, S. 19), ist ökonomisch aus der Haushaltsproduktionsleistung nicht zu begründen. Eine solche Ausgestaltung würde vielmehr suggerieren, daß sie den Unterhaltspflichtigen - im Prinzip gänzlich unabhängig von einer Erziehungsleistung durch die Ehefrau - subsidiär in seiner eigenen Unterhaltspflicht unterstützen soll. Logisch ließe sich daraus aber nur ein Familienlastenausgleich ableiten, der - eventuell bedarfsabhängig - höhere Leistungen an Bezieher niedriger Einkommen erbringt. Aber auch speziell hinsichtlich der Gesundheitsversorgung erbringt die Familie bzw. der Familienhaushalt verschiedene Produktionsleistungen. Hierzu gehören z. B. Leistungen zur Sicherung einer gesunden Entwicklung der Kinder, einer Stützung des Familienverbandes bei Krankheit, Behinderung oder dauerhafter Pflegebedürftigkeit von Familienmitgliedern sowie eines gesundheitsförderlichen Lebensumfeldes. "Die in die Vielfalt unterschiedlicher Lebensbedingungen eingebundene Familie trägt in besonderer Weise Verantwortung für die Gesundheit ihrer Mitglieder ... In der Familie wird solidarische Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung erfahren und praktiziert. Familien können gesundheitsunterstützende, krankheitsverhütende und krankheitsbewältigende Kräfte mobilisieren." (Geißler et al. 1992, S. 129) Die Förderung dieser häuslichen oder familialen Leistungsbereitschaft von Pflegepersonen spielte vor allem auch im Rahmen der Diskussion um die Absicherung des Pflegefallrisikos eine nicht unwichtige Rolle: Ambulanter Versorgung sollte Vorrang vor teilstationärer und stationärer eingeräumt werden (Entwurf des Pflege VG; Begründung). Offensichtlich handelt es sich bei Pflegeleistungen um Produktionsleistungen der Pflegepersonen - Dienstleistungen die weitestgehend als Realtransfer, in gewissem Umfang aber auch nach dem AustatIschprinzip der pflegebedürftigen Person zuteil werden - und nicht um Freizeitgestaltung oder Konsum. Die Regelungen des Pflegeversicherungsgesetzes sollen dabei Anreize für Familienangehörige bieten, vor allem gegen Pflegegeld die Pflege zu übernehmen, wobei diese Aufgaben z. Z. zum überwiegenden Teil, nämlich zu 83 %, von Frauen wahrgenommen werden (Schneekloth I Potthoff 1993, S.126). Anders als bei der Kindererziehung wird bei der Pflege nicht so eindeutig eine Leistung für Staat und Gesellschaft erbracht, da die Pflegebedürftigen in der Regel nicht vor allem als künftige Leistungsträger der Gesellschaft angesehen
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werden können, wie dies bei Kindern der Fall ist. Vielmehr werden diese Leistungen vor allem zunächst für die Pflegebedürftigen selbst erbracht. Als ein soziales Risiko bietet sich somit die Absicherung über eine Versicherung - sei es eine private oder eine Sozialversicherung - durchaus an. Eine staatliche oder gesellschaftliche Beteiligung an der Finanzierung bzw. Bereitstellung der Leistungen kann - neben humanitären Aspekten - ökonomisch eher unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität einerseits, und der Subventionierung "billigerer Produktionsverfahren" andererseits betrachtet werden. Wie stellt sich die "Produktionsleistung" und die Bedarfssituation der Familie im Bereich der gesundheitlichen Versorgung im engeren Sinne dar? Die Frage nach dem unterschiedlichen Bedarf von Familien verschiedener Größe und Altersstruktur läßt sich sehr leicht beantworten: Selbstverständlich stellt jede Person insofern ein eigenes zusätzliches - jeweils mindestens nach Alter und Geschlecht differenziertes - Gesundheitsrisiko dar, als sie krank werden kann und Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruchnehmen will oder muß. Nachdem'Gesundheit bzw. Krankheit allgemein als versicherbares Risiko angesehen wird, drückt sich dies schon in der Tatsache aus, daß in der privaten Krankenversicherung für jede Person eine eigene, risikoäquivalente Prämie berechnet werden muß. Dieser Aufsatz widmet sich den folgenden Fragestellungen, die unterschiedliche Rollen der Familie im Gesundheitswesen zum Gegenstand haben: -
Welche Leistungen erbringt die Gesellschaft bzw. die Solidargemeinschaft als Familienlastenausgleich im Bereiche Gesundheit insbesondere durch die gesetzliche Krankenversicherung? Sind die Personen in Mehrpersonenhaushalten im Durchschnitt mehr oder weniger gesund als Alleinlebende? Nehmen sie mehr Gesundheitsleistungen in Anspruch? In welchem Umfang erbringen die Familien bzw. der größere Haushalt Leistungen bei der Gesundheitsversorgung?
11. Die Rolle der Familie im Gesundheitssystem Das Gesundheitswesen umfaßt nach einer begrifflichen Abgrenzung, die eher am gesamtwirtschaftlichen Endverbrauch orientiert ist, weit mehr als nur die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Nur etwas weniger als die Hälfte dieser Ausgaben wird über die gesetzliche Krankenversicherung finanziert, die damit allerdings trotzdem die wichtigste Institution in der Kostenträgerschaft darstellt, sieht man von den "primären" Kostenträgern Haushalte und Unternehmen ab 3 • Im Jahr 1991 beliefen sich die Gesamtausgaben für Gesundheit in den 3 Die Unternehmen als einen primären Kostenträger der sozialen Sicherung zu definieren stellt einen eher willkürlichen Schnitt in der ökonomischen Kreislaufbetrachtung
200
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
alten Bundesländern auf DM 337 Mrd., während auf die gesetzliche Krankenversicherung etwa DM 158 Mrd. entfielen (Müller 1993, S. 845 ff.). Ein Teil dieser Leistungen kann jeweils als Leistungen für die Familie - als Familienlastenausgleich - angesehen werden. So sprechen z. B. Brennecke und Düllings (1994) in diesem Zusammenhang von Familienlastenausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung, "weil Beitragszahier ohne Angehörige und Paare, die beide beitragspflichtig sind, für Familien mit Nichtbeitragszahlern und Kindern im Umlageverfahren mitzahlen" (S. 138). Die Zwitterstellung der Familienleistungen des Gesundheitswesens wird bei der Erstellung des Sozialbudgets durchaus erkannt: Diese Leistungen werden bei einer funktionellen Gliederung des Sozialbudgets zwar dem Bereich Gesundheit zugeordnet (Sozialbericht 1993, S. 185 f.). Im Rahmen der Darstellung des Funktionsbereichs "Familie" wurde in der Vergangenheit jedoch nachrichtlich auch der "erweiterte" Familienlastenausgleich ausgewiesen, der neben den originären Familienlastenausgleichsmaßnahmen im engeren Sinne auch die Familienhilfe und die Hinterbliebenenversorgung umfaßt (z. B. Sozialbericht 1990, S. 137). Dabei werden vor allem die im Rahmen der Sozialversicherungen als akzessorische Finanzierungs- oder Sachleistungen vorgesehenen Maßnahmen berücksichtigt. Daneben sind jedoch auch die in verschiedenen Formen (z. B. als soziale Infrastruktur und Beratungsmaßnahmen) bereitgestellten Leistungen für die Familie als Leistungen im Rahmen des Gesundheitswesens für die Familie anzusehen. Die weiteren Ausführungen konzentrieren sich angesichts des gewichtigen Anteils und der bedeutsamen Rolle der gesetzlichen Krankenversicherung für die Gesundheitsversorgung auf diesen Bereich.
1. Mitversicherte Familienangehörige in der gesetzlichen Krankenversicherung Der Familienlastenausgleich im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung soll in zwei Ansätzen betrachtet werden: Zum einen sollen die Ausgaben für beitragsfrei mitversicherte Familienangehörige erfaßt werden, zum anderen soll ermittelt werden, inwieweit hier tatsächlich eine Unterstützung der Familie oder eine "Eigenfmanzierung" durch die Familie erfolgt, d. h. inwiefern eine Umverteilung von kleineren an größere Familien besteht. Was die Zahl der leistungsberechtigten mitversicherten Angehörigen 4 angeht, so unterscheidet sie sich deutlich zwischen dem Versicherungszweig der allgedar. Letztlich lassen sich auch die vom Unternehmen getragenen Kosten auf Produktionsfaktoren und damit auf Haushalte zurechnen. 4 Die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung haben Anspruch auf unentgeltliehe Mitversicherung ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen nach § 10 Abs. l. SGB V. Versicherungsberechtigt sind Kinder und Ehegatt(inn)en, die ihren Wohnsitz
Die Familie im Gesundheitswesen
201
meinen Krankenversicherung (AKV) und der Krankenversicherung der Rentner (KVdR), dem Geschlecht und dem Alter des Mitglieds sowie z. B. auch nach der Kassenart (vgl. Pfaff 1993). Mitversicherte Familienangehörige sind etwa zu zwei Drittel Kinder und zu einem Drittel mitversicherte Ehegatten. "Sonstige" mitversicherte Angehörige machen einen verschwindend kleinen Teil aus und werden im weiteren auch nicht gesondert behandelt. Im Jahr 1992 waren in der gesetzlichen Krankenversicherung in den alten Bundesländern etwa 17,7 Mio. Personen als mitversicherte Angehörige versichert 5 • Betrachtet man die Zahl der mitversicherten Familienangehörigen, so ist sie in einem Zeitraum von nur 5 Jahren von 1985 bis 1990 von insgesamt 19,5 Mio. auf 17,6 Mio. zurückgegangen. Dies bedeutet eine Reduzierung um 10 % des Ausgangsniveaus. Erst in den Jahren 1991 und 1992 war wieder ein leichter Anstieg zu vermerken. Der Rückgang von 1985 bis 1990 erfolgte in der AKV mit etwa 10% wie auch in der KVdR von 1,9 Mio. auf 1,6 Mio., das sind etwa 17% des Ausgangsniveaus. In der KVdR ist zudem zu beobachten, daß diese Rückläufigkeit der Zahl der mitversicherten Familienangehörigen auch weiter anhält. Vergleichsweise wenig ging die Zahl der mitversicherten Angehörigen unter den freiwillig Versicherten zurück, d. h. nur um etwas mehr als 4 % des Ausgangsniveaus von 4,8 Mio. (vgl. Tab. 1. sowie Pfaff 1993, S. 303). Den inzwischen verfügbaren Prozeßdaten zur Zahl, zum Alter und Geschlecht der mitversicherten Familienangehörigen vom 1. 10. 1993 dürfte deutlich höhere Glaubwürdigkeit zukommen, da diese im Vorfeld des Inkrafttretens des Risikostrukturausgleichs für die Kassen erstmals von wirklicher Bedeutung wurden. So ist anzunehmen, daß sicher eine Untererfassung vermieden werden soll, da diese zu einer Reduzierung der Ausgleichsberechtigung bzw. einer Erhöhung der Ausgleichspflicht einer Kasse beitragen würde. Für die vergleichsweise hohe Verläßlichkeit der bisherigen Prozeßdaten spricht allerdings, daß vom Jahr 1992 im Inland haben, nicht selbst als Mitglied versichert sind, nicht hauptberuflich erwerbstätig sind und kein oder allenfalls geringfügiges eigenes Einkommen' haben. Kinder sind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn sie nicht erwerbstätig sind bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres, wenn sie in Ausbildung sind bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres und bei Behinderung ohne Altersgrenze versichert (§ 10 Abs. 2 SGB V).
5 Diese ausgewiesene Zahl bezieht sich' auf die Prözeßdaten der gesetzlichen Krankenversicherung und muß hinsichtlich ihrer Genauigkeit mit bestimmten Fragezeichen versehen werden, da bis zum Inkrafttreten des Risikostrukturausgleichs am 1.1.1994 (also der §§ 266 und 267 SGB V in der Fassung des Gesundheits-Strukturgesetzes) die Zahl der mitversicherten Angehörigen für den Geschäftsablauf der Krankenkassen eine nur untergeordnete Rolle gespielt hat. Es ist jedoch anzunehmen, daß die Prozeßdaten seit dem Jahr 1993 wesentlich genauer erfaßt werden. Angesichts der Komplexität der Materie ist den entsprechenden Mikrozensusdaten als Selbsteinstufung auch nicht mehr Vertrauen zu schenken (vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Versicherte in der Kranken- und Rentenversicherung m. J., Fachserie 13, Reihe I, Stuttgart I Mainz m. J.).
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
202
Tabelle 1 Zahl der mitversicherten Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung, alte Bundesländer 1985 -1993, in 1000 AKV ;
Jahr
männl.
weib!.
KVdR insges.
männl.
1985
6.149 11.443 17.592
0,209
1986
5,750 10.913 16,663
0,173
1987
5,675 10,735 16,410
0,171
1988
5.616 10,584 16.199
0,164
1989
5.504 10.222 15,726
0,152
1990
5.679 10.294 15,974
0,148
1991
5.884 10.378 16,262
1992
5,911
10,235 16,147
1993
6,147
10,278 16,424
weib!.
GKV insges.
männl.
1,706
1,915
6,358
1,597
1.770
5,923 12,510 18,433
1,563
1,734
5,846 12,298 18,144
1,544
1,709
5,780 12,128 17,908
1,468
1.620
5,656 11,690 17,346
1,438
1.586
5.827 11,733
0,149
1,421
1,570
6.033 11.799 17,832
0,150
1,396
1,546
6,061
11,632 17,693
0,148
1,379
1,528
6,295
11,657 17,952
weih!.
insgcs.
13,149 19,507
17.560
Quelle: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Die gesetzliche Krankenversicherung im Jahre 1987, Bonn 1989, S. T 13 f.; ders., Die gesetzliche Krankenversicherung im Jahre 1990, Bonn 1991, S. T 13 f.; ders., Die gesetzliche Krankenversicherung im Jahre 1991, Bonn 1993, S. T 13 f.; KM5 1992 und 1993.
auf das Jahr 1993 keine sehr wesentlichen Verschiebungen erfolgt sind. Nach einem leichten Rückgang der Zahl der mitversicherten Familienangehörigen spiegeln die Daten erneut einen leichten Anstieg von weniger als 2 % - insbesondere in der AKV - wider, der jedoch möglicherweise auch auf eine exaktere Erfassung basieren könnte. Die Struktur der mitversicherten Angehörigen unterscheidet sich deutlich nach Geschlecht, Alter. Versicherungsart des Mitglieds und Kassenart. In Abb. 1. wird die Alters- und Geschlechtsstruktur der mitversicherten Angehörigen differenziert nach Versicherungsart des Mitglieds dargestellt. Daraus wird deutlich, daß es im Erwachsenenalter kaum männliche mitversicherte Familienangehörige gibt. Bereits ab einem Alter von 15 Jahren geht die Zahl der mitversicherten Familienangehörigen deutlich zurück. Bei den weiblichen mitversicherten Familienangehörigen dürften sich zwei Effekte überlagern: Die während der letzten Jahre auch altersspezifisch differenziert steigende Frauenerwerbsbeteiligung (Wissenschaftlicher Beirat für Frauenpolitik 1993, S. 106 ff.) bewirkt einen Rückgang der mitversicherten Familienangehörigen mit sinkendem Alter. Andererseits scheiden aber jüngere Frauen oft familienbedingt vorübergehend aus dem Erwerbsleben aus, was zu einer steigenden Zahl von mitversicherten Familienangehörigen unter ihnen führt. (Zu beachten ist auch, daß die Prozeßdaten die Anzahl der Versicherten im Alter unter 15 Jahren nur insgesamt, nicht weiter altersdifferenziert ausweisen. Diese Altersgruppe stellt
Die Familie im Gesundheitswesen
203
Aller 80 u.m.
75-79 70-74 65-69 60-64 55-59
50-54 45-49 40-44 35-39
30-34 25-29 20-24 15-19 10-14 5-9
his 4 1.500
1.000
500
o
500
1.000
1.500
männliche weibliche mitversicherte Familienangehörige in 1000
o Rentner. Pflichlvers. 0 freiwillig Vers . Quelle: KM5 1993.
Abbildung 1: Mitversicherte Familienangehörige nach Alter, Geschlecht und Versicherungsstatus des Mitglieds, alte Bundesländer 1993
den ganz überwiegenden Anteil der mitversicherten Familienangehörigen dar. Um aufgrund dieser Dominanz nicht die Unterschiede in den anderen Altersgruppen gänzlich zu verwischen, wurde ihre Zahl willkürlich auf die drei Fünfjahresgruppen zu gleichen Teilen aufgeteilt. Tatsächlich dürfte, wie die Daten des Mikrozensus (Statistisches Bundesamt 1993, S. 14 ff.) andeuten, die jüngste dieser Kohorten die größte, die älteste die kleinste sein. Aufgrund des historisch bedingt generell unregelmäßigen Bevölkerungsaufbaus sind jedoch absolute Zahlen von Versicherten einer Altersgruppe nur bedingt aussagefähig. Deshalb wird in Tab. 2. differenziert nach dem Geschlecht das Verhältnis von mitversicherten Familienangehörigen in den verschiedenen Alters-
204
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
gruppen in Relation zur Gesamtzahl der Mitglieder (Männer und Frauen zusammen) der jeweiligen Altersgruppe (im weiteren als Familienlastquote bezeichnet) in den alten Bundesländern dargestellt. Da im Erwachsenenalter vor allem Frauen zu den mitversicherten Familienangehörigen zählen, wundert es wenig, daß insgesamt fast doppelt so viele Frauen als mitversicherte Familienangehörige (0,29 je Mitglied) im Vergleich zu männlichen Angehörigen (0,16 je Mitglied) versichert sind. Geht man davon aus, daß sich unter den männlichen mitversicherten Familienangehörigen fast ausschließlich Kinder befinden, bedeutet dies, daß von den insgesamt 0,45 mitversicherten Familienangehörigen je Mitglied etwa zwei Drittel als Kinder und etwa ein Drittel als mitversicherte Ehefrauen versichert sind. Tabelle 2 Anzahl mitversicherter Familienangehöriger je Mitglied nach Alter, Geschlecht und Versichertenstatus, gesetzliche Krankenversicherung, alte Bundesländer 1993 männliche
weibliche
mitversicherte Angehörige je Mitglied der Altersgruppe Alter
pflicbt- freiwillig versieben versieben
Rentner
GKV
pflicbt- freiwillig versieben versieben
Rentner
GKV
SOu.m.
0,55
0,00
0,00
O,OQ
0,89
0,05
0,03
0,03
75-79
0,25
O,(XI
O,(XI
0,00
0,46
0,(19
0,06
0,06
70-74
0,08
O,(XI
O,(XI
0,00
0,22
0,13
0,05
0,05
65-69
0,05
0,01
0,00
0,00
0,22
0,14
0,05
0,06
60-64
Om
om
0,00
O,OQ
0,20
0,25
0,25
0,24
55-59
0,01
om
O,(XI
0,01
0,18
0,33
0,58
0,28
50-54
0,01
om
0,01
0,01
0,19
0,38
0,41
0,25 0,22
45-49
0,01
0,01
0,02
0,01
0,16
0,40
0,27
40-44
0,01
0,01
0,04
0,()1
0,16
0,41
0,23
0,21
35-39
0,01
0,01
0,08
0,01
0,17
0,41
0,23
0,21
30-34
0,01
0,01
0,19
0,01
0,16
0,33
0,28
0,19
25-29
0,02
0,15
0,38
0,03
0,10
0,24
0,20
0,11
20-24
0,08
2,68
0,74
0,14
0,12
2,39
0,66
0,18
15-19
0,55
7,66
0,39
0,75
0,58
7.62
0,40
0,78
bis 14
7897,20
13,06
0,40
24,25
7494,63
12,48
0,38
23,05
0,19
0,33
0,01
0,16
0,31
0,63
0,12
0,29
insges.
Quelle: Eigene Berechnungen nach KM2 und KM5 1993.
Die Familienlastquote variiert sehr deutlich zwischen den verschiedenen Versichertengruppen: Während bei den pflichtversicherten Mitgliedern 0,19 männliche
Die Familie im Gesundheitswesen
205
und 0,31 weibliche Familienangehörige je Mitglied versichert sind, liegt die entsprechende Zahl bei den freiwillig Versicherten mit jeweils 0,33 und 0,63 wesentlich höher. Dies zeigt, daß bei den freiwillig Versicherten neben der schlechten Gesundheit einzelner Versicherter vor allem auch die Anzahl der unentgeltlich mitzuversichemden Angehörigen eine nicht unbeachtliche Rolle für die Wahl der gesetzlichen gegenüber der privaten Krankenversicherung spielt. Bei Rentnern dagegen hat die Familienversicherung keine so große Bedeutung, weil sie kaum noch unterhaltspflichtige Kinder haben und die Ehefrauen häufig selbst Rentnerinnen sind und so als Mitglied versichert sind. Die alters- und geschlechts spezifischen Unterschiede treten ebenfalls deutlich hervor. Selbstverständlich sind nur wenige Kinder selbst als Mitglieder versichert; am ehesten trifft dies für Waisenrentner(innen) und freiwillig Versicherte zu. Unter den Pflichtversicherten sind allenfalls behinderte Jugendliche als Mitglieder versichert. Deshalb ist die Zahl der mitversicherten Familienangehörigen je Mitglied in dieser Altersgruppe bei den pflichtversicherten mit jeweils mehr als 7000 sehr hoch. In der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt sind 23 bzw. 24 mitversicherte Angehörige je Mitglied unter den Kindern anzutreffen. Bei den bis 25jährigen sind - geschlechtsspezifisch noch relativ gleich - bereits stark abnehmende Zahlen zu beobachten. Ab dem 30. Lebensjahr gibt es kaum noch männliche mitversicherte Angehörige. Bei den weiblichen Angehörigen ist im Alter von 25 bis 29 Jahren mit 0,11 mitversicherten Familienangehörigen je Mitglied der relativ geringste Wert zu beobachten. Ab diesem Alter steigt der Wert bis zum 60. Lebensjahr an. Im Alter ab dem 65. Lebensjahr sind nur noch wenige Frauen familienversichert. Neben dieser auch nach offizieller Versichertendefinition aufgrund von Familienleistungen mitversicherten Gruppe müssen aber eigentlich Hinterbliebenenrentenbezieher(innen), die keine eigene Versichertenrente beziehen, aufgrund derer sie versicherungsberechtigt oder-verpflichtet in der gesetzlichen Krankenversicherung wären, ebenfalls als "familienversichert" verstanden werden, bauen ihre Ansprüche doch auf die durch den Ehemann / die Ehefrau bzw. die Eltern erworbenen Ansprüche auf. In der gesetzlichen Krankenversicherung wird diese Absicherung jedoch - im Gegensatz zur Hinterbliebenenrente - nicht als akzessorische Leistung angesehen. Mit dem Versicherungsfall und der Zuerkennung der Hinterbliebenenrente erwirbt die Witwe / der Witwer bzw. der / die Waise vielmehr einen eigenständigen Anspruch als Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung und ist nicht länger mitversicherte/r Angehörige/r. Die kleine Anzahl der Witwer kann dabei vernachlässigt werden. Bei den Waisen kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß sie nur über die Waisenrente versichert sind. Es handelt sich bei dieser Gruppe um schätzungsweise 0,252 Mio. Personen im Jahr 1993 6 • Die Abgrenzung der nur aufgrund akzessorischer 6 Es wird davon ausgegangen, daß alle unter 20jährigen Mitglieder der KVdR Waisenrentenbezieher(innen) sind (KM2 10/1993).
206
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
Leistungen abgesicherten Witwen ist insofern etwas schwieriger, als die Rentenversicherung Rentenfälle und nicht Rentner(innen) ausweist. Behelfsweise kann die Zahl der Witwenrentenbezieherinnen ohne eigene Versichertenrente für 1992 auf 1,75 Mio., davon 1,40 Mio. in den alten Bundesländern geschätzt werden 7. Für die Beurteilung der Familienhilfe als familienpolitische Leistung für den Unterhaltspflichtigen ist jedoch auch von Bedeutung zu wissen, welche Gruppen der Mitglieder besonders viele mitversicherte Angehörige aufweisen. Dies trifft vor allem für männliche Mitglieder im Alter zwischen 35 und 54 Jahren zu (v gl. Pfaff/ Busch/ Rindsfüßer 1994, S. 131 f.).
2. Versicherteneinheiten und Haushaltsstruktur Die Daten der gesetzlichen Krankenversicherung weisen keine Informationen über die Gesamtzusammensetzung der Versichertenhaushalte auf, da z. B. Informationen über einzelne unabhängig versicherte Mitglieder, die in einem Haushalt zusammenleben - wie z. B. Ehepartner, die beide erwerbstätig oder Rentner sind - , nicht verfügbar sind. Prinzipiell können sehr unterschiedliche Strukturen auftreten. Diese Strukturen sind hinsichtlich des Versicherungsstatus vor allem insofern von Bedeutung, als dieser nicht unabhängig vom Haushaltstyp bzw. der Haushaltsgröße ist. Vor allem ist jedoch der Haushaltszusammenhang dann von Bedeutung, wenn der Haushalt oder die Familie im Familienhaushalt in besonderem Maße den Gesundheitszustand und die Gesundheitsversorgung der Haushalts- und Familienmitglieder mitbeeinflußt. Zunächst ist zu unterscheiden, ob es sich um einen reinen GKV -Haushalt, PKV-Haushalt oder "Mischhaushalt" handelt, je nachdem ob alle Mitglieder der gesetzlichen oder der privaten Krankenversicherung angehören oder jeweils nur ein Teil der Haushaltsmitglieder einer Gruppe angehört. Zahlenmäßig spielen die Personen und Haushalte ohne Versicherungsschutz keine Rolle 8. Die meisten Haushalte sind schon aufgrund der Tatsache, daß etwa 90 % der Bevölkerung in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, reine GKV -Haushalte. Wie aus Tab. 3. zu ersehen ist, sind in der ganz überwiegenden Zahl der Haushalte - mindestens gemäß ihrer Eigeneinstufung - alle Haushaltsmitglie7 Von der Zahl der weiblichen Rentenfälle mit KVdR-Versicherung (VDR-Statistik Rentenbestand am 31.12.1992, S. 13; für das alte Bundesgebiet zusammengefaßte Ergebnisse) wird die Zahl der KVdR-Rentnerinnen (KM2 10/1992) abgezogen, um die Doppelrentenempfängerinnen unter ihnen zu ermitteln. Zieht man diese von der Zahl der Witwenrenten mit KV dR -Versicherung ab, verbleibt die Zahl der Witwen ohne eigene Versichertenrente. 8 Laut Mikrozensen beläuft sich die Zahl dieser Personen auf deutlich weniger als I % der Bevölkerung. Wenngleich es sich bei dieser Gruppe um eine kleine Minorität handelt, stellt sie allerdings insofern eine sozialpolitische Problemgruppe dar, als es sich dabei vor allem auch um besonders geflihrdete Randgruppen wie Nichtseßhafte handelt.
207
Die Familie im Gesundheitswesen
der selbst als GKV -Mitglied oder privat Versicherte eigenständig abgesichert (22 Mio. Haushalte), wobei es sich bei fast 13 Mio. Haushalten um Einpersonenhaushalte handelt. In 3,2 Mio. Haushalten leben Mitglieder mit mitversicherten Angehörigen, jedoch ohne mitversicherte Kinder - meist kinderlose Paare bzw. ältere Ehepaare, deren Kinder bereits aus dem elterlichen Hause ausgezogen oder jedenfalls selbst, unabhängig von den Eltern versichert sind. In 4,4 Mio. der Haushalte sind Kinder bei ihrem Vater mitversichert, in 3,1 Mio. bei der Mutter. Nur in schätzungsweise 2,8 Mio. Haushalten sind Ehepartner(innen) und Kinder als Familienangehörige mitversichert. Diese Muster sind bei den jüngeren Versicherten ganz wesentlich von den Erwerbsstrukturen geprägt. Tabelle 3
Haushalte nach Haushaltsgröße und Versichertenstruktur, Bundesrepublik Deutschland 1992, in 1000 Haushaltsgröße Haushalte nach Kranken7u.m. I Pers. 2 Pers. 3 Pers. 4 Pers. 5 Pers. 6 Pers. Pers. versicherung
alle Haushalte
2
22.463
Mitglied(er) ohne Mitversicherte Mitglied(er) mit Mitvers., jed. ohne mitvers. Kinder Vater mit mitvers. Kind(ern) Mutter mit mitvers. Kind(ern) Mitglied mit mitvers. Panner(in) und Kindern
Sonstige Haushalte
Zusammen
13.159
7.575
1.367
285
39
32
2.224
721
180
92
200
1.892
1.742
481
101
65
4.480
930
1.088
888
197
37
19
3.159
850
1.183
604
153
57
2.847
4
677
147
36.875
455
136
67
12
3
13.647
11.066
5.985
4.290
1.415
35
3.249
326
Quelle: Eigene Berechnungen nach dem Sozioökonomischen Panel, Welle 9.
Wenngleich mehr als ein Drittel der Haushalte Einpersonenhaushalte sind (13,6 Mio.), so lebt die Mehrzahl der Menschen in Mehrpersonenhaushalten: etwa 22 Mio. in Zweipersonenhaushalten, fast 18 Mio. in Dreipersonenhaushalten und 17,2 Mio. in Vierpersonenhaushalten. In noch größeren Haushalten leben immerhin etwa 8,7 Mio. Menschen. Die Vermutung besteht zunächst, daß das Leben im Familienverband auch heute noch ein Stück soziale Sicherung darstellt und daß die Familie insbesondere beim Zusammenleben im gleichen Haushalt die Gesundheitsversorgung unterstützt, vielleicht auch gesundheitliches Knowhow (Laienwissen) bereitstellt und "economies of scale", d. h. auch eine Kostendegression in der Versorgung aufweist.
208
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
In diesen 36,8 Mio. Haushalten lebten fast 80 Mio. Personen. Versicherungstechnisch bildeten die GKV -Versicherten allerdings angesichts der Tatsache, daß mitunter mehrere Mitglieder in einem Haushalt zusammenleben - z. B. beidseitig erwerbstätige oder verrentete Ehepartner - wesentlich mehr Versicherteneinheiten, d. h. Mitglieder inkl. ihrer jeweils mitversicherten Angehörigen. Im Jahr 1993 umfaßte die gesetzliche Krankenversicherung in den alten Bundesländern 39,6 Mio. und in den neuen Ländern 11,2 Mio. Mitglieder und damit Versicherteneinheiten. Im Jahre 1991 konnte für die alten Bundesländer, die in Tab. 4. ersichtliche Struktur beobachtet werden (vgl. Pfaff 1993, S. 306), die vor allem eine Dominanz der Mitglieder ohne mitversicherte Angehörige zeigt. Diese Daten stehen durchaus im Einklang mit den entsprechenden Haushaltsdaten des Mikrozensus. Brennecke und Düllings (1994, S. 143) kommen auf der Basis der Daten des Sozioökonomischen Panels für 1990 zu ähnlichen Ergebnissen. Tabelle 4 GKV-Versicherteneinheiten in den alten Bundesländern, 1991 Versicherteneinheitentyp .,AlIeinstehende" Männer .,Alleinstehende" Frauen Ehepaare ohne Kinder Ehepaare mit 1 Kind Ehepaare mit 2 Kindern Ehepaare mit 3 u.m. Kindern .,AlIeinstehende" mit 1 Kind .,AlIeinstehende" mit 2 Kindern "Alleinsteh. " mit 3 u.m. Kindern Sonstige Versicherteneinheiten Zusammen
Kinder u. SlIDstige Angehiirige je Mitglied
Familienangehörige.je Mit2iied
Ehepartner .je Mitglied
2,43
1,0
1.0
1,15
2,0
1,0
1,0
1.35
3,0
1,0
2,0
0,63
4,4
1,0
3,4
2,42
1,0
1,0
1,24
2,0
2,0
0,40
3,3
3,3
0,04
2,7
0,5
2.2
38,98
0,5
0,1
0,3
Anzahl in Mio. 12.63 16.71
Quelle: INIFES, eigene Berechnungen nach GKVSIM.
III. Familienlastenausgleich durch die gesetzliche Krankenversicherung Der erweiterte Familienlastenausgleich umfaßt insbesondere die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, die für mitversicherte Angehörige
Die Familie im Gesundheitswesen
209
ohne eigene Beitragsleistung erbracht werden. Angesichts der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung durch laufende Beiträge der Mitglieder stellt sich dabei die Frage nach dem Volumen und dem Ausmaß der "Eigenfinanzierung" durch Mitglieder mit mitversicherten Familienangehörigen und dem Ausgleich unterschiedlicher "Familienhilferisiken" zwischen Kassen und Kassenarten im Rahmen eines Risikostrukturausgleichs.
1. Kosten der Leistungsinanspruchnahme im Rahmen der Familienhilfe Die unentgeltliche Versicherung der mitversicherten Familienangehörigen bzw. deren Finanzierung durch die Beiträge aller Mitglieder, insbesondere auch derer ohne, mit weniger oder mit gesünderen Angehörigen, stellt den eigentlichen Familienlastenausgleich im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Der privaten Krankenversicherung, in der für jeden einzelnen Versicherten gesonderte, vom Anspruch her ,,risikoäquivalente" Prämien gezahlt werden, ist er fremd. In Tab. 5 a. wird deutlich, daß, obgleich auf ein Mitglied im Durchschnitt 0,45 mitversicherte Familienangehörige kommen, d. h. 31 % der GKV -Versicherten mitversicherte Angehörige sind, ihr Anteil an den Leistungsausgaben der gesetzliehen Krankenversicherung vor allem aufgrund der Altersstruktur deutlich unterproportional ist. In der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt entfielen im Jahr 1991 in den alten Bundesländern 82% der mehr als DM 145 Mrd. Leistungsausgaben (ohne Mutterschaftsleistungen und Dialyse) auf Mitglieder und nur 18% auf mitversicherte Familienangehörige, davon 9,1 % auf Ehegatten und 8,9% auf Kinder und sonstige mitversicherte Familienangehörige. In der KVdR werden angesichts der geringen Zahl von familienversicherten Personen sogar 92,3 % der Leistungsausgaben von den Mitgliedern selbst verursacht. Bei männlichen Mitgliedern insgesamt fallen mit DM 23 Mrd. angesichts der vergleichsweise hohen Zahl von mitversicherten Familienangehörigen etwa 28,2 % der Leistungsausgaben als Familienhilfekosten an. Die unterproportionalen Anteile der mitversicherten Familienangehörigen an den Gesundheitskosten resultieren zum einen aus ihrer Altersstruktur (vg1. Tab. 2. oben). Insbesondere der sehr hohe Anteil an Kindern und Jugendlichen mit niedrigen durchschnittlichen Gesundheitskosten trägt dazu wesentlich bei. Aber auch die erwachsenen mitversicherten Familienangehörigen sind im Vergleich zu den Mitgliedern jünger. Kostenmindernd wirkt sich insbesondere bei den Angehörigen im Alter ab 50 Jahren die Tatsache aus, daß sie keinen Krankengeldanspruch geltend machen können. Außerdem sind die durchschnittlichen Krankheitskosten der mitversicherten Familienangehörigen, auch wenn man nach dem Alter und dem Geschlecht differenziert, etwas niedriger als die der Mitglieder (Pfaff et a1. 1988, Anhangstabellen zu Kap. 4. und Verband der AngestelltenKrankenkassen und Arbeiter-Ersatzkassenverband 1994, S. 40 f.) 14 Festschrift Lampert
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
210
Tabelle 5a
Leistungsausgaben für Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre versicherten Familienangehörigen, alte Bundesländer 1991 Versiehe-
Lei~tungsausgahen
rungs-
Versicherteneinheit
zweig! Gesehl.
r mMin DM
AKV
.. %
84.455
o ill DM
54.581
KVdR
3.350
Frauen GKV Männer
29.874 /00%
2.581
60.784
5.468
27.211 /00%
6.447
33.574 /00%
4.869
145.240 /00%
3.726
81.792
3.987
63.448 /00%
36.118
2.217
56.093
5.046 5.363
3.056
60.373
247 3.883 3.881 2 13.167
2.864
12.919
21
3.269
248 0,4%
436
9.426
578
2.711
234
9.1%
349
808
73
/.3%
920
694
164
2,6%
0
116
17
0,4%
338
12.946
332
8,9%
630
10.119
494
/2,4%
/5,7%
95,2%
12.137
/7.3%
9,/%
7/,8%
3.435
555
0,0%
82,0%
58.754
9.037
/4,3%
4.852
Son~t.
0inDM
/4.4%
6.4%
99,6%
119.127
333
0.8%
83.2%
IinMio. DM in%
9.284
/6.6%
2.326
33.456
nur Kinder u.
0inDM
//.0%
26.916 90./%
22.636
nur Ehegatte r inMin DM
.. %
2.262
92.3%
/00%
Frauen
63.034
66.2%
/00%
Männer
0inDM
74.6%
/00%
Frauen
rinMil,DM in%
3.031
/00%
Männcr
nur Mitglied
13
2.827
153
4,5%
Quelle: INlFES, eigene Berechnungen nach GKVSIM.
Es stellt sich jedoch im Zusammenhang mit der Beurteilung des Familienlastenausgleicheffekts und der Umverteilung auch die Frage, inwieweit eine "Eigenfinanzierung" der Familienhilfekosten durch die Beiträge der Mitglieder mit mitversicherten Familienangehörigen selbst besteht. Anderenfalls erfahren sie in nicht unerheblichem Maße einen Familienlastenausgleich durch andere Gruppen - nämlich die Mitglieder mit weniger oder ohne mitversicherte Familienangehörige. In Tab. 5 b. werden die Beiträge sowie die Leistungsausgaben insgesamt und differenziert nach denen des Mitglieds, der mitversicherten Ehegatten, der mitversicherten Kinder und sonstiger Personen ausgewiesen. Um den Nettoumverteilungseffekt deutlich darzustellen, wird zudem die Differenz zwischen Leistungsausgaben und Beitragszahlungen (= Transfersaldo) für die verschiedenen Gruppen ausgewiesen. Ein negativer Transfersaldo zeigt einen Beitragsüberschuß an und bedeutet, eine Mitgliedergruppe ist "Nettozahler", ein positiver besagt, daß sie höhere Leistungsausgaben verursacht als ihre eigenen Beiträge. Unter den Nettoempfängern sind "alleinstehende" Frauen, "kinderlose" Ehepaare - zu einem erheblichen Teil handelt es sich bei ihnen um ältere Ehepaare, die meist Kinder haben, die jedoch bereits selbst versichert sind - sowie kinderreiche Familien, d. h. Ehepaare und j,Alleinstehende" mit 3 und mehr Kindern,
~
95.787 51.278
3.773
147.065
Insgesamt
2.899 3.325 6.876 5.637 5.677 7.655 3.932 4.004 5.878 15.710 3.726
145.240
3.987 3.435
0inDM
36.627 55.580 16.697 6.461 7.523 4.859 9.530 4.948 2.341 673
81.792 63.448
I: in Mio.DM
Insgesamt
3.056
2.899 3.325 4.111 2.503 1.778 2.466 2.648 1.931 3.095 2.520
2.864 3.269
0inDM
338
5.243
2.765 2.047 2.021 1.897
630 13
0inDM
Eheganen
Leistungsausgaben Mitglieder
325
1.086 1.878 3.292 1.284 2.073 2.783 1.526
481 152
0illDM
Kinder
7
6.421
13 1
0in f>M
Sonstige
-1.825
-15.768 10.071 5.561 -124 -448 1.023 -1.785 -1.148 348 444
-13.995 12.170
Anzahl
12,63 16,71 2,43 1,15 1,33 0,63 2,42 1,24 0,40 0,04 38,98
-48
20,51 18,47
in Mio.
Mitglieder
-1.248 602 2.290 -108 -338 1.613 -737 -929 754 10.355
-682 659
0inDM
Transfersaldo :r.inMio. DM
"AlIeinst." = Mitglied ohne mitversicherten Ehepartner; umfaßt verheiratete Mitglieder mit Ehepartnern, die selbst als Mitglied versichert sind. Quelle: Pfaff 1993, S. 306 und eigene Berechnungen.
4.147 2.723 4.586 5.745 6.015 6.042 4.669 4.933 5.005 5.355
52.395 45.509 11.136 6.585 7.971 3.836 1 1.315 6.096 1.993 229
4.669 2.776
"Alleinst." MaIU1 "Alleinst. " Frau Ehepaar ohne Kind Ehepaar, 1 Kind Ehepaar,2 Kinder Ehepaar, 3 u.m. K. "Alleinst.", I Kind "AlIeinst.", 2 K "AlIcinst.", 3 U.ffi K Sonstige Typen
Versicherteneinhei tentyp
Männer Frauen
0inDM
Beiträge
I: in Mio.DM
Geschlecht des Mitglieds
Charakteristika
demographische
Sozio-
Tabelle 5b Beiträge, Leistungsausgaben für Mitglieder und für mitversicherte Familienangehörige und Transfersaldo (= Leistungsausgaben minus Beiträge) nach Geschlecht, Alter des Mitglieds und Versicherteneinheitentyp, alte Bundesländer 1991
.....
IV
g
V>
~
[.
§
V>
Cl>
C)
3'
ö'
i
o
ö'
212
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
anzutreffen. Die kinderreichen Familien stellen mit etwa I Mio. Mitglieder keine sehr große Gruppe dar, die auch nur einen Nettotransfer von DM 1,5 Mrd. erhält. Dagegen finanzieren sowohl die Ehepaare wie auch die "Alleinstehenden" mit einem oder zwei Kindern ihre Leistungsausgaben durch eigene Beiträge, ihr Transfersaldo ist negativ. Mit etwa 7 Mio. Mitgliedern stellen sie eine weit größere Gruppe dar, die einen Beitragsüberschuß von etwa DM 2,9 Mrd. bei "Alleinstehenden" mit einem oder zwei Kindern und einen kleinen Überschuß von DM 0,6 Mrd. bei Ehepaaren erbringt. (Bei den "Alleinstehenden" mit Kindern handelt es sich nicht nur um alleinerziehende Elternteile, sondern insbesondere bei den männlichen Mitgliedern überwiegend um Verheiratete, deren Ehefrauen selbst als Mitglieder versichert sind.) Das hohe Maß an "Eigenfinanzierung"9 der Familienhilfekosten durch Familien mit Kindern, das aus diesen Mustern ersichtlich wird, ist durch die Einkommensstruktur zu erklären: Familien mit Kindern beziehen durchschnittlich höhere Einkommen als Kinderlose. Zum Teil liegt dies natürlich im lebensphasenspezifischen Verlauf der Einkommen. Aber auch verschiedene andere Kausalzusammenhänge sind dabei denkbar.
2. Entlastung von Selbstbeteiligung Die Familien mit Kindern erfahren jedoch im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung eine weitere Entlastung, indem sie zu einem nicht unerhebli.chen Teil von Selbstbeteiligungen befreit sind. Zum einen müssen für Minderjährige keine Zuzahlungen bei Arzneimitteln, im Krankenhaus und bei Physiotherapie bezahlt werden (Pfaff / Busch / Rindsfüßer 1994, S. 156). Desweiteren werden Familien mit niedrigen Einkommen generell von einem erheblichen Teil der Zuzahlung befreit (Härtefälle nach § 61 SGB V), wobei die Einkommensgrenzen mit der Familiengröße variieren. In Tab. 6. werden die Selbstbeteiligungen und die aufgrund der Befreiung von Minderjährigen und der Härtefallbefreiung auftretenden Entlastungen ausgewiesen. Wie daraus deutlich wird, entfallen bei einer durchschnittlichen Selbstbeteiligung von DM 202 pro Mitglied im Jahr 1991 aufgrund der Befreiungen immerhin im Durchschnitt DM 40, d. h. pro bezahlter DM Selbstbehalt werden Mitglieder in Höhe von 20 Pfennige (letzte Spalte der Tab. 6.) befreit. Differenziert man diese Beziehung nach dem Geschlecht, so werden weibliche Mitglieder bei insgesamt niedrigerem durchschnittlichen Selbstbehalt als männliche Mitglieder in höherem Maße (23 Pfennige je DM Selbstbeteiligung) durch Befreiungen entla9 Im Zusammenhang mit "Eigenfinanzierung" wird bei den AKV-Mitgliedem in diesem Zusammenhang nicht gesondert berücksichtigt, daß sie bisher zur Finanzierung der KVdR einen Teil ihres Beitragsaufkommens - in den letzten Jahren lag der Anteil bei über 3 Prozentpunkten oder etwa einem Viertel ihrer Beiträge - erbringen mußten.
Tabelle 6
4.470 3.420
202,41
7.890
Insgesamt
174,27
151,74 185,36 261,97 164,28 110,24 195,78 192,35 130,40 111,55 274,19
165,64 183,85
26,19
308,91
199,24 187,35 159,75 153,30
49,10 0,74
0inDM
Ehegatten
2,02
4,97 8,24 8,49 11,23 15,55 13,01 60,84
3,14 0,63
0inDM
Kinderu. Sonstüte
1.549
171 556 159 71 121 100 193 108 61 8
749 800 13,56 33,29 48,60 11,42 5.43 41,22 41,81 21.74 55,18 29,05 26,77
39,74
16,78 37,87
0inDM
Mitglieder
13,56 33,29 65,60 62,33 91,47 157,18 79,78 87,35 152,87 179,04
36,52 43,33
0inDM
Insgesamt Iin Mio. DM
1,87
0,04
17,00 13,29 9.47 6,00
3,54 0,01
0inDM
Ehegatten
Entgangener Selbstbehalt
,,Alleins!. .. = Mitglied ohne mitversicherten Ehepartner; umfaßt verheiratete Mitglieder mit Ehepartnern, die selbst als Mitglied versichert sind. Quelle: INlFES, eigene Berechnungen anhand des Mikrosimulationsmodells GKVSIM.
151,74 185,36 461,20 356,60 278,23 357,57 203,58 145,95 124,56 643,94
1.917 3.098 1.120 409 369 227 493 180 50 28
217,88 185,22
"Al1einst." Mann "Alleinst." Frau Ehepaar ohne Kind Ehepaar, 1 Kind Ehepaar, 2 Kinder Ehepaar, 3 U.m. K. "Alleinst.", I Kind "Alleinst", 2 K. "Alleinst.", 3 u.m. K. Sonstige Typen
Versicherteneinheitentyp
Männer Frauen
IinMio. DM
Mitglieder
Bezahlter Selbstbehalt
0inDM
Insgesamt
IinMio.DM
Geschlecht des Mitglieds
Soziodemographische Charakteristika
11,10
37.62 76.57 109.96 37.97 65,61 97,69 149.95
16,20 5.45
0inDM
Kinderu. Sonstige
Selbstbehalt und entgangener Selbstbehalt für Mitglieder, deren mitversicherte Ehegatten und Kinder nach Geschlecht, Alter des Mitglieds und Versicherteneinheitentyp, alte Bundesländer 1991
0,20
0,09 0,18 0.14 0.17 0,33 0.44 0,39 0.60 1.23 0.28
0,17 0.23
in Mio.
Entgang.! bezahlter Selbstbeh.
I
IV
W
-
'"g
(l)
~
~.
'" § §:
(l)
o
S'
('D'
[
'T1
(l)
9-
214
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
stet als Männer (mit 17 Pfennigen). Insbesondere die Befreiung von Kindern führt dazu, daß die Entlastungen der Ehepaare und der "Alleinstehenden" mit Kindern anteilig besonders hoch ist. So entfallen auf eine DM bezahlter Selbstbeteiligung bei Ehepaaren mit 3 und mehr Kindern 44 Pfennige, bei "Alleinstehenden" mit 3 und mehr Kindern sogar DM 1,23. Vergleicht man die für Kinder bezahlte Selbstbeteiligung mit der entgangenen Selbstbeteiligung, so wird deutlich, daß diese Entlastung ganz erheblich wirkt. Beide Befreiungen stellen Ausnahmen der generell geltenden Zuzahlungsregelungen dar, die die Maßnahmen sozialverträglich gestalten sollen. Mit dem Gesundheitsreformgesetz sind allerdings die Zuzahlungsbefreiungen chronisch Kranker entfallen. Auf eventuelle Steuerungseffekte der Selbstbeteiligung soll hier nicht eingegangen werden. Es wird jedoch aus der Analyse der ausgewiesenen Verteilungswirkungen der entgangenen Selbstbehalte deutlich, daß der Versuch einer sozialverträglichen Abfederung zu nicht unerheblichen Selbstbeteiligungsausfallen führt - es also durchaus fraglich ist, ob Selbstbeteiligung zugleich effektiv und sozial verträglich sein kann.
3. Auswirkungen des Risikostrukturausgleichs bezüglich der mitversicherten Familienangehörigen Der Anteil der mitversicherten Familienangehörigen an den Versicherten einer Kasse stellt nach den Erkenntnissen von Literatur und Praxis neben den unterschiedlichen beitragspflichtigen Einkommen und der Alters- und Geschlechtsstruktur der Versicherten einen der maßgeblichen Risikofaktoren dar, die auch wesentlich zu Beitragssatzunterschieden beitragen (vgl. z. B. Felkner et al. 1990). Der mit dem Gesundheits-Strukturgesetz 1993 eingeführte Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung gleicht unter anderem den erhöhten zusätzlichen Bedarf aufgrund einer überproportionalen Zahl von mitversicherten Familienangehörigen in einer Kasse aus (§ 266 SGB V). Dabei wird vom angewandten Verfahren her der gesamte Bedarf (= nach Alter und Geschlecht des / der Versicherten differenzierte durchschnittliche Ausgaben) ermittelt und der Finanzkraft (= dem für die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt erforderlichen, rechnerisch kostendeckenden Beitragssatz, dem Ausgleichsbedarfssatz, multipliziert mit den beitragspflichtigen Einnahmen) der Kasse gegenübergestellt. Da mitversicherte Familienangehörige zwar Kosten verursachen, jedoch keine Beiträge für sie geleistet werden müssen, verursacht ein im Vergleich zum GKVDurchschnitt höherer Anteil von mitversicherten Angehörigen, wie er z. B. bei den Inrtungskrankenkassen und den Ersatzkassen für Arbeiter sowie den Betriebskrankenkassen auftritt, oder von vergleichsweise älteren Angehörigen einen überproportionalen Ausgleichsbedarf. Per saldo muß jedoch ein solch höherer Anteil
Die Familie im Gesundheitswesen
215
von Familienangehörigen nicht unbedingt zu einer Ausgleichsberechtigung der Kasse führen, da der im Risikostrukturausgleich dominante Grundlohnsummenbzw. Finanzkrafteffekt häufig gegenläufig wirkt. D. h. Kassen mit vielen Familienangehörigen haben in der Regel eine überproportional hohe Zahl von häufig auch etwas jüngeren männlichen Mitgliedern, die nicht selten auch eine überproportional hohe Grundlohnsumme aufweisen (Pfaffl Wassener 1990; Pfaffl Wassener 1992, S. 74 ff.; Wassener 1994, S. 145. ff.). Dennoch soll auch der Risikostrukturausgleich einer eventuellen Überbelastung von einzelnen Kassen durch eine überproportional hohe Familienlastquote entgegenwirken und somit entsolidarisierende Effekte bezüglich der Mitfinanzierung von Familienangehörigen durch Kinderlose eindämmen. Aufgrund der vergleichsweise hohen "Eigenfinanzierung" von Familien mit Kindern kommt diesem Faktor quantitativ allerdings keine so große Bedeutung zu. Dieser Umstand wird dadurch verstärkt, daß sich Kinderlose mit hohen Einkommen aufgrund der Versicherungspflichtgrenzen der gesetzlichen Krankenversicherung ohnehin durch die Möglichkeit der Wahl der privaten Krankenversicherung ihrem Familienlastenausgleich im Gesundheitswesen entziehen können. Diesem Effekt könnte lediglich dadurch begegnet werden, daß ein Risikostrukturausgleich auch die private Krankenversicherung miteinbezöge. Aufgrund der unterschiedlichen Finanzierungsmodalitäten von privater und gesetzlicher Krankenversicherung ist eine solche Ausgestaltung allerdings sicherlich nicht ganz einfach und problemlos.
IV. Die Leistungen der Familie für das Gesundheitswesen Die Familie tritt jedoch nicht nur als Leistungsempfänger, sondern auch als Leistungsträger oder -produzent von Gesundheits- und Pflege1eistungen auf. Allerdings ist es nicht einfach, aus Korrelationen zwischen Gesundheitszustand und Familienstand oder Familienzugehörigkeit auch auf Kausalitäten zu schließen. So könnte z. B. eine positive Korrelation zwischen dem Familienstand "verheiratet" und einem besseren Gesundheitszustand entweder auf die Kausalbeziehung zurückgeführt werden, daß das Leben im Familienverband sich positiv auf die Gesundheit auswirkt, oder aber auch darauf, daß ein gesunder Mensch eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, eine / n Ehepartner / in zu finden und Kinder zu haben. In der Folge wird deshalb, ohne Kausalitäten unterstellen zu wollen, der Frage nachgegangen, ob die Zufriedenheit mit Gesundheit und die Inanspruchnahme von bzw. Verweildauer im Krankenhaus familienspezifische Unterschiede aufweisen. Dabei wird zunächst nur auf eine rein deskriptive Darstellung von Gruppendurchschnitten eingegangen, ohne statistische Einflußgrößen in einem komplexeren Interaktionsgefüge zu berücksichtigen bzw. ihren Einfluß zu schätzen. Allerdings wird angesichts des allgemein anerkannten großen Einflusses des Alters auf den Gesundheitszustand neben dem Haushaltstyp auch nach dem Alter der Person unterschieden.
216
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
Die Analyse anhand der 9. Welle (West) und der 3. Welle (Ost) des Sozioökonomischen Panels erstreckt sich auf das Bundesgebiet im Jahr 1992. Die Daten beziehen sich auf die Gesundheitszufriedenheit und die Krankenhausnutzung von hochgerechnet 64,8 Mio. Personen ab dem 16. Lebensjahr. Schließlich wird der Frage nachgegangen, ob in Mehrkinderhaushalten eine Degression der Gesundheitskosten zu beobachten ist. 1. Zufriedenheit mit Gesundheit in Mehr- und Einpersonenhaushalten
Zufriedenheit mit der Gesundheit wurde auf einer ll-Punkte-Skala von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden) erhoben. Die Einstufung bezieht sich jeweils aufEinzelpersonen. Der auf der vertikalen Achse ausgewiesene Haushaltstyp bezieht sich auf den Haushaltsverband, in dem die jeweilige Person lebt. Wie aus Tab. 7. zu ersehen ist, ergibt sich ein Gesamtdurchschnitt des Zufriedenheitsindikators von 6,6. Mit steigendem Alter nimmt der Durchschnitt von 7,7 bei den 16-30jährigen bis auf 4,8 bei den ab 75jährigen deutlich ab. Der dominierende Einfluß des Alters auf die Gesundheit wird auch daraus deutlich, daß dieser Effekt bei allen Haushaltstypen zu erkennen ist. Differenziert man innerhalb der Altersgruppen nach dem Haushaltstyp, so ergibt sich ein durchaus uneinheitliches Bild. Bei der Gruppe der 16 - 30jährigen z. B. weisen die Alleinstehenden beiderlei Geschlechts, kinderlose Ehepaare und Alleinerziehende mit einem Kind eine im Vergleich zu ihrer Altersgruppe unterdurchschnittliche Gesundheitszufriedenheit auf. Überdurchschnittlich zufrieden sind dagegen Personen dieser Altersgruppe, die in sogenannten "vollständigen" Mehr-Kinder-Familien leben. Bereits bei der nächsten Altersgruppe sind jedoch insbesondere die Personen, die in Mehr-Kinder-Familien leben oder alleinstehend sind, überdurchschnittlich zufrieden mit ihrer Gesundheit. Im mittleren Alter zwischen 46 und 60 Jahren schließlich sind gerade die Alleinstehenden neben kinderlosen Ehepaaren sowie Alleinstehenden mit zwei und mehr Kindemjweniger zufrieden mit ihrer Gesundheit. Unter Senioren weisen Personen, die alleine leben, eine überdurchschnittlich hohe Gesundheitszufriedenheit auf. Dies kann allerdings darauf zurückzuführen sein, daß weniger gesunde Personen dieser Altersgruppe häufig gar nicht mehr alleine leben können und somit zu Verwandten oder in ein Alten- oder Pflegeheim ziehen. Die aufgezeigten Muster sind sicherlich unterschiedlichen Interpretationen zugängig, nicht zuletzt, wenn man andere sozioökonomische Rahmenbedingungen berücksichtigt. Dies würde jedoch den Rahmen dieser Ausführungen sprengen. Eindeutige Aussagen, wie z. B., Personen in "vollständigen" Familien wären eindeutig gesünder als Alleinstehende, lassen sich jedoch altersundifferenziert nicht ableiten ..
1.320
472
2.212
627
312
3.927
5.190
2.116
336
362
16.872
7,5
7,5
7,5
7,2
7,7
7,8
8,0
7,9
7,6
7,5
7,7
1.039
995
2.630
808
453
4.048
3.234
1.498
638
528
15.870
5.309
7,0
1.854 736 488
7,2 7,3 7,0
7,1
14.950
427
3.775
6,9
6,7
139
6,8
580
962
7,2
6,8
680
(14)
4,9 (3,8)
172 (37)
6,3
6.6
6,8
6,7
6,6
11.299
246
203
5,7
5,0
5,8
(49)
1.104
5,7
6,5
(0)
(8,1)
(18)
6,0
5.786
4,8
3,9
(3,9)
(178) 243
(5,0)
(6,0)
(2,4)
6,2 6,6
64.778
6,7
7,4
7,3
6,9
7,2
6,6
6,1
5,8
6,9
1.806
1.843
4.388
10.463
12.903
922
2.383
18.288
4,6 (4,0)
7.827
3.953
denheit
o Zufrie-
Zusammen Personen in 1000
5,0
6,1
(1)
(130)
5,8
239
1.837
2.886
447
6,4
5,8
5,7
6,4
denheit
o Zufrie-
75 u.m. Personen in )000
6.302
2.512
467
denheit
o Zufrie-
61-75 Personen in )000
6,0
5,9
5,9
denheit
o Zufrie-
46-60 Personen in ) 000
7,3
denheit
o Zufrie-
31-45
Personen in )000
Ganz und gar nicht zufrieden 0 ... ganz und gar zufrieden 10; Werte in Klammem: Stichprobenbesetzung von weniger als 30 Fällen. Quelle: Eigene Auswertungen des Sozioökonomischen Panels, Welle 9.
Alleinstehende Männer Alleinstehende Frauen (Ehe-)Paare ohne Kinder Alleinerziehende) Kind Alleinerzieh. 2 u.m.Kinder (Ehe-)Paar mitl Kind (Ehe-)Paar mit 2 Kindern (Ehe-)paar m. 3 u.m. Kindern Mehrgenerationenhaush. sonstige Haushalte Zusammen
denheit
o Zufrie-
16-30
Personen Haushaltstyp in )000
Alter
Durchschnittliche Zufriedenheit mit der Gesundheit der jeweiligen Gruppe, Personen ab 16 Jahre, Bundesrepublik Deutschland 1992
Tabelle 7
o"J
IV
-
::l
'"Cl>
~
~.
~
'"
~
3'
ö'
~
o
ö'
218
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff 2. Inanspruchnahme des Krankenhauses in Mehr- und Einpersonenhaushalten
Die Krankenhausnutzung von Personen in Haushalten unterschiedlichen Typs wird anhand zweier Indikatoren untersucht. In Tab. 8. wird - wiederum für Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Haushaltszugehörigkeit - der Anteil der Personen, die im Jahr 1992 überhaupt einen Krankenhausaufenthalt aufzuweisen hatten (Anteil der Nutzer), sowie die durchschnittliche Zahl der Krankenhaustage bzw. -übernachtungen jener Personen, die einen Krankenhausaufenthalt auf sich nehmen mußten, ausgewiesen. Im Durchschnitt waren 13% der Personen ab dem 16. Lebensjahr im Krankenhaus, wobei dieser Anteil im höheren Alter sehr deutlich zunimmt, bis auf 23 % bei den über 75jährigen. Die Zahl der Krankenhaustage je Nutzer steigt mit dem Alter noch stärker an - von 13 Tagen bei den Jüngsten auf 33 Tage bei den Ältesten. Bei der Beurteilung des Anteils der Personen mit Krankenhausaufenthalten bei den beiden jüngsten Gruppen muß berücksichtigt werden, daß bei diesen auch die im Zusammenhang mit Entbindungen nötigen Aufenthalte erlaßt werden. Dies schlägt sich in den überdurchschnittlich hohen Nutzeranteilen (bei 1630jährigen z. B. 0,24 bei Alleinerziehenden mit einem Kind, zwischen 0,12 und 0,17 bei Ehepaaren) nieder. Junge alleinstehende Männer sind zwar sehr selten, aber dann überdurchschnittlich lang im Krankenhaus. Diese Verweildauer wird auch von der weit höheren Unfallhäufigkeit dieser Gruppe mitbestimmt. Im mittleren Alter weisen Alleinstehende eindeutig häufiger Krankenhausaufenthalte bei eher unterdurchschnittlichen bis durchschnittlichen Verweil dauern auf, was darauf hindeuten könnte, daß sie eher auch bei weniger schwerwiegenden Erkrankungen einen Krankenhausaufenthalt benötigen. Mit Ausnahme der Alleinerziehenden und der Ehepaare mit einem Kind sowie der "sonstigen" Haushalte weisen die Männer und Frauen dieser Altersgruppe in Mehrpersonenhaushalten weniger häufige, aber im Durchschnitt längere Aufenthalte auf. Bei den ,jungen Alten" fällt auf, daß insbesondere jene, die in Mehrgenerationenhaushalten leben, häufiger, aber nicht so lange im Krankenhaus liegen. Möglicherweise handelt es sich bei ihnen um Personen, die aufgrund schlechter Gesundheit zu ihren Kindern gezogen sind. Bemerkenswert ist allerdings, daß die Alleinstehenden dieser Altersgruppe zwar nicht überdurchschnittlich oft, jedoch dafür sehr viel länger als Personen in anderen Haushalten im Krankenhaus verweilen. Bei den Hochbetagten sind Alleinstehende und Personen in "sonstigen" Haushalten häufiger im Krankenhaus als Personen in Ehepaarhaushalten. Die durchschnittlichen Verweildauern sind relativ hoch und variieren zwischen Haushaltstypen wenig. Aus der Analyse der Krankenhausaufenthalte läßt sich eine gewisse Tendenz dazu ablesen, daß die Familie bzw. der Familienhaushalt Leistungen in der Krankenversorgung erbringt. Allerdings läßt die Analyse auf Haushaltsbasis dazu
16-30
31-45
46-60
61-75 75 u.m.
0,03
11,4 17,9
0,08
0,11
0,07
0,05
0,12
9,0
16,8
11,6
8,8
17,4
13,3
13,3
0,09
0,13
0,12
0,17
0,12
0,15
0,12
0,10
15,7
13,6
15,0
10,8
15,8
0,17
11,5
0,08
10,4
0,24
0,11
0,10
12,9
0,09
12,0
0,08
0,15
20,1
0,10
0,20
18,5
0,14
0,32
35,4
0,09
29,0
15.9
16,9
8,0
0,23
0,31
0,16
33,0
26,6
32,7
(0,0)
(0,00)
(0,38)
14,2
0,08
(0,0)
24,5
(0,00)
0,18
24,7
0,06
(30,0)
(0,29)
0,13
29,3
(0,0)
--
(0,0)
(28,7)
(0,50)
(0,00)
33.8
34,6
28,5
0,19
0.23
0,27
28,4
27,3
35,4
42,4
Om
19,4
34,6
11,6
0,15
0,15
20,2 21,9
0,15
13,8
0,11
0,15
17,9
0,03
14,4
0,13
0,15
20,3
0,10
24,7
0,04
Wene in Klammem: Stichprobenbesetzung von weniger als 30 Fällen. Quelle: Eigene Auswenungen des Sozioökonomischen Panels Welle 9.
AlleinstehendeMänner AlleinstehendeFrauen (Ehe-)paare ohne Kinder Alleinerziehende 1 Kind Alleinerzieh. 2 u.m.Kinder (Ehe-)paar mit 1 Kind (Ehe-)paar mit 2 Kindern (Ehe-)paar m. 3 u.m. KiOOem Mehrgenerationenhaush. Sonstige Haushalte Zusammen
0,13
0,17
0,13
0,11
0,10
0,12
0,07
0,18
0,12
0,17
0,12
21,6
18,0
22,5
10,1
15,6
19,1
11,5
14,4
24,2
30,9
25,0
0KHTage je Nutzer
Zusammen
Anteil d. 0KH-Tage Anteil d. 0KH-Tage Anteil d. 0KH-Tage Anteil d. 0KH-Tage Anteil d. 0KH-Tage Anteil d. Nutzer je Nutzer Nutzer je Nutzer Nutzer je Nutzer je Nutzer Nutzer je Nutzer Nutzer Haushaltstyp Nutzer
Alter
Anteil der Krankenhausnutzer an der jeweiligen Gruppe und Durchschnittliche Zahl der Krankenhaustage je Nutzer pro Jahr, Personen ab 16 Jahre, Bundesrepublik Deutschland 1992
Tabelle 8
I
,
Cf>
'D
....N
:::I
n>
~
[.
Cf>
§
S' on>
(j)'
[
"r:I
CI
(j)'
220
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
keine endgültigen Schlußfolgerungen zu, da, wie die Untersuchungen im Pflegebereich zeigen, Familien durchaus auch ihren in gesonderten Haushalten lebenden Angehörigen Unterstützung zuteil werden lassen. Sicher ist, daß der eventuelle Beitrag der Familie in der Gesundheitsversorgung mit Ausnahme der Pflege bisher in der Forschung kaum beachtet wurde. Insbesondere angesichts der sozialstrukturellen Tendenzen - der Entwicklung zu Kleinhaushalten, der Dominanz der Familien mit beidseitig erwerbstätigen Ehepartnern und dem oft frühen Auszug der Kinder aus dem elterlichen Haushalt - stellt sich jedoch die Frage, ob die bislang stillschweigend erbrachten und akzeptierten Leistungen der Familie in der Gesundheitsversorgung künftig nicht rückläufig sein werden.
3. Gesundheitskostendegression in Haushalten mit Kindern Im weiteren soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die durchschnittlichen Leistungsausgaben je Kind mit der Ordnungszahl des Kindes - ersatzweise für die Familiengröße - , dem Alter und Geschlecht des Mitglieds und dem Versicherteneinheitentyp variieren. In Tab. 9. werden neben den Gesamtleistungsausgaben und den Leistungsausgaben für das Mitglied die durchschnittlichen Kosten für das erste, das zweite, das dritte und die weiteren Kinder ausgewiesen. Diese Darstellung umfaßt nur die 7,18 Mio. Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung in den alten Bundesländern, die im Jahr 1991 mitversicherte Kinder hatten. Bei der Mehrzahl handelt es sich um Männer und um Mitglieder im Alter zwischen 25 und 44 Jahren. Angesichts geringer Besetzungszahlen werden nicht alle Altersgruppen ausgewiesen. In der Tendenz läßt sich beobachten, daß erste Kinder höhere Kosten verursachen als zweite Kinder. Die vergleichsweise hohen Kosten von dritten Kindern in manchen Gruppen sind eher durch einige besonders teure Fälle bestimmt. Dieses Muster, also die tendenzielle Rückläufigkeit der Kosten mit der Ordnungszahl des Kindes, deutet daraufhin, daß in größeren Familien mindestens bezüglich der Gesundheitsversorgung von Kindern möglicherweise ein gewisser Erfahrungsschatz an Laienwissen über Krankheiten und Versorgung im Krankheitsfall besteht. Es spiegelt natürlich generell auch die Tatsache wider, daß z. B. bei Infektionskrankheiten im Kindesalter bei der Ansteckung zweiter und dritter Kinder nicht unbedingt der Arzt noch in gleichem Umfang wie bei der Ersterkrankung in der Familie konsultiert wird, d. h. daß mit der Familiengröße auch eine Kostendegression auftritt. So werden auch Medikamente, die vorhanden sind, möglicherweise ohne weitere Verschreibung aufgebraucht. Für die gesetzliche Krankenversicherung kann bei Mehrkinderfamilien auch insofern eine Kostendegression auftreten, als mit der Kinderzahl die Erwerbsbeteiligung der Mütter sinkt, so daß weniger häufig bei Erkrankung eines Kindes Krankengeld in Anspruch genommen wird.
:
5.878
9.147
4.990
2.341
189
35.852
"Allffilst.", 3 u.m K
Sonstige Typen
1.046
874
1.136
2.348
974 2.413
3.095
764
0
693
799
1.274
0
852
0
1.284
0 1.076
1.192
896
0
2.116
1.931
989
889
0
1.088
1.086
379
674
2.297
477
863 794
969
5.172
1.018
0
0
877
0
0
316
867
673
1.4
1,9
3,4 1,0 2,0
4,4 1,0 2,0
0,63
2,1
7,18
1,7
3,3 2,5
3,3 4,1 0,02
0.40
1.24
2.42
3,0
2,0
2,0 1.15 1,33
0.17
1,0
1,5
2,0
0,39
N N
'"~
~
~.
§=
§
3' Cl (1)
1.6
2,1 1,70
(;j'
1.9
2,4 2.16
2,39
1,7
[
o
(;j'
1,2
1,8 1,5
0inDM
Kinder je Mitglied
1,4
2,3 1,5
0inDM
Mitvers. je Mitglied
2,1
0,29
5.48 1,71
Anzahl Mitglieder in Mio.
"AlleinsI." = Mitglied ohne mitversicherten Ehepartner; umfaßt verheiratete Mitglieder mit Ehepartnern, die selbst als Mitglied versichert sind. Quelle: lNlFES, eigene Berechnungen anband des Mikrosimulationsmodells GKVSIM.
Insgesamt
4.004
4.948
"Allffilst.", 2 KiIW
2.648
3.932
9.530
"Al1einst. ",1 Kind
2.466
1.778
2.503
7.873
7.655
5.677
7.523
4.859
HqJaar, 2 KiIW
5.637
Eh!paar, 3 u.m K
6.461
Ehepaar, 1 Kind
Versicherteneinheitentyp
1.749
60 bis 64
3.526
5.960
10.559
2.306
55 bis 59
806
953
1.185
2.637
5.429
9.251
45 bis 54
961
924
786
1.292
1.418
1.988
0 1.467
4.293
959
973 941
0inDM
Sonst. Kinder
950
1.032 1.134
0inDM
3.Kind
937
862 930
0inDM
2.Kind
1.106
4.869
10.535
35 bis 44
2.580 1.795
4.283
9.968
25 bis 34
1.117 1.197
0inDM
I.Kind
4.175
Alter des Mitglieds 18 bis 24
1.244
5.179 4.385
2.231 2.727
0inDM
0inDM
I
1: in Mio. DM
Mitglieder
Insgesamt
Geschlecht des Mil2lieds Männer 28.373 Frauen 7.479
Charakteristika
Soziodemographische
Tabelle 9 Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für Mitglieder mit mitversicherten Kindern, nach Ordnungszahl der Kinder, Geschlecht, Alter des Mitglieds und Versicherteneinheitentyp, alte Bundesländer 1991
222
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
v. Zum Abschluß: Ist eine Neubestimmung von Solidarität und Eigenverantwortung angesagt? Die oben angesprochenen Befunde zeigen auf, daß zwar eine nicht unbeachtliche Zahl von Personen, vor allem die ganz überwiegende Mehrheit der Kinder, im Rahmen der Familienhilfe durch die gesetzliche Krankenversicherung hinsichtlich der Finanzierung ihrer Behandlungskosten abgesichert ist. Dennoch stellen die für diesen Personenkreis verausgabten Kosten einen vergleichsweise geringen Teil der durch die Kassen getragenen Leistungsausgaben dar. Zudem belegen die Ausführungen, daß sich Familien mit Kindern zu einem ganz erheblichen Teil selbst finanzieren. Hinzu kommt, daß nicht ganz von der Hand gewiesen werden kann, daß gerade auch in größeren Familienhaushalten im Vergleich zu den kleineren Haushalten mehr "reale Eigenleistungen" von Haushaltsmitgliedern in Form von Versorgung, gesundheitlichem Laienwissen sowie vielleicht auch durch die Schaffung wichtiger psychosozialer Rahrnenbedingungen der seelischen und körperlichen Gesundheit bereitgestellt werden. Der eigentliche Familienlastenausgleich in Form der Finanzierung der Kinderreichen durch Familien mit weniger oder keinen Kindern und durch Zweiverdienerehepaare ist somit nicht zuletzt durch die Möglichkeit der Option der potentiell Ausgleichsverpflichteten für die private Krankenversicherung schon stark eingeschränkt. Ungeachtet anderer Elemente der Umverteilung durch die gesetzliche Krankenversicherung, auf die hier nicht eingegangen werden kann, könnte also eine Neubestimmung der Solidarität und der Eigenverantwortung, wie sie etwa im Auftrag an den Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen zur Debatte gestellt wurde, für die Familienlastenausgleichsleistungen nur bedeuten, daß es vielmehr gelten sollte, das Element der Solidarität zu stärken als abzuschwächen.
Literatur Becker, Gary: A Treatise on the Family, Cambridge, Mass./London 1981. Berger-Schmidt, Regina: Innerfamiliale Arbeitsteilung und ihre Determinanten, in: Glatzer, Wolfgang und Regina Berger-Schmidt (Hrsg.), Haushaltsproduktion und Netzwerkhilfe. Die alltäglichen Leistungen der Familie und Haushalte, Frankfurt 1986, S. 105-140. Brennecke, Ralph / Düllings, Josef: Die Familie in der Gesundheitssicherung - Ergebnisse einer Mikrosimulationsstudie zum Familienlastenausgleich in den Jahren 1990 und 2000, in: Hauser, Richard / Hochmuth, Uwe / Schwarze, Johannes (Hrsg.), Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik, Bd. 1, Ausgewählte Probleme und Lösungsansätze, Berlin 1994, S. 136-151. Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Die gesetzliche Krankenversicherung im Jahre 1987, Bonn 1989. -
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Die Familie im Gesundheitswesen -
(Hrsg.), Die gesetzliche Krankenversicherung im Jahre 1991, Bonn 1993.
-
(Hrsg.), Sozialbericht 1990, BTD 1l/7527, Bonn 1990.
-
(Hrsg.), Sozialbericht 1993, BTD 12/7130, Bonn 1994.
223
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Der Beitrag von Familien mit Kindern zur Humanvermögensbildung, in: Bock, Thomas (Hrsg.), Sozialpolitik und Wissenschaft. Positionen zur Theorie und Praxis der sozialen Hilfen, Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Allgemeine Schrift Nr. 260, Frankfurt / Main 1992, S. 130-141.
-
Wer produziert das Humankapital einer Gesellschaft?, in: Glatze!, Norbert und Eugen Kleindienst (Hrsg.), Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens. Festschrift für Anton Rauscher, Berlin 1993 a, S. 121 - 134.
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Zur Bedeutung von Haushalt und Familie in der Volkswirtschaftslehre, in: Hauswirtschaft und Wissenschaft, 41. Jg. 1993b, S. 202-205.
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224
Anita B. Pfaff und Martin Pfaff
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Familienorientierte Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung in Deutschland* Von Winfried Schmähl
I. Zur Einführung Die strukturellen Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und im Bevölkerungsaufbau, die schon Anlaß waren für die Diskussion über eine Rentenreform in den 80er J abren und schließlich zum Rentenreformgesetz 1992 führten, werden als Rahmenbedingungen und Einflußfaktoren auch für die weitere Diskussion um die Rentenversicherung maßgebend sein. Die neuerliche Auseinandersetzung wurde bereits im Sommer 1993 im Zusammenhang mit Überlegungen zur Verbesserung des "Standortes Deutschland" sowie der internationalen Wettbewerbsfahigkeit der deutschen Wirtschaft angestoßen und Ende 1993 weiter angefacht durch die Wiederbelebung des Vorschlags eines grundlegenden Systemwechsels in der Alterssicherung durch den sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf. Die Diskussion mit Blick insbesondere auf die langfristige Finanzentwicklung und Finanzierbarkeit der staatlichen Alterssicherung dürfte in der nächsten Legislaturperiode (also ab 1995) weitergehen. Im Interesse des Langfristcharakters der Alterssicherungssysteme sind zumindest klare konzeptionelle Entscheidungen über die Strategie der Weiterentwicklung der Alterssicherungssysteme erforderlich. Das betrifft insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung als quantitativ weitaus gewichtigster Teil des deutschen Alterssicherungssystems. Hierauf beschränkt sich auch dieser Beitrag. So wird insbesondere auf die Beamtenversorgung, aber auch die Alterssicherung für Landwirte, in diesem Rahmen nicht eingegangen. In diesem Zusammenhang sind zwei "Aufträge" an den Gesetzgeber zu berücksichtigen. Sie resultieren -
aus einem gleichlautenden Entschließungsantrag von Bundestag und Bundesrat im Zusammenhang mit der Überleitung des westdeutschen Rentenrechts auf Ostdeutschland im Sommer 1991 sowie
-
aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit Kindererziehungszeiten im Rentenrecht aus dem Jahre 1992.
* Für Hinweise zu einer ersten Fassung dieses Beitrags danke ich meiner Mitarbeiterin Sabine Horstmann, M.A. Einige der hier erörterten Aspekte wurden auch in Schmähl (1993) aufgegriffen. 15 Festschrift Lampert
226
Winfried Schmähl
Während der Entschließungsantrag von Bundesrat und Bundestag sich auf die Alterssicherung von Frauen bezieht, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein Auftrag an den Gesetzgeber zur verstärkten Berücksichtigung von Kindererziehung und damit familienbezogener Aktivitäten im Rentenrecht. Verkürzt ausgedrückt: Dies ist auf die Familie und nicht allein auf die Frau ausgerichtet. In der öffentlichen Diskussion bestehen auch zum Teil recht unterschiedliche Vorstellungen über Prioritäten hinsichtlich einer familienorientierten oder frauenorientierten Ausgestaltung der Alterssicherung. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1992 heißt es: "Die bisherige Ausgestaltung der Rentenversicherung führt im Ergebnis zu einer Benachteiligung der Familie, namentlich der Familie mit mehreren Kindern." Und weiter: "Unabhängig davon, auf welche Weise die Mittel für den Ausgleich aufgebracht werden, ist jedenfalls sicherzustellen, daß sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringert. Dem muß der an den Verfassungsauftrag gebundene Gesetzgeber erkennbar Rechnung tragen." Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, hat in einem 1993 gehaltenen Vortrag in diesem Zusammenhang u. a. ausgeführt: "Das ursprüngliche Rentensystem hat zu einer Zeit, in der fast jeder, der verheiratet war, auch Kinder hatte, auch durchaus funktioniert. Durch die heutige Entwicklung, daß Ehepaare sich bewußt gegen Kinder entscheiden, hat sich ein zunächst verfassungsmäßiges Gesetz zu einem verfassungsrechtlich höchst bedenklichen Gesetz fortentwickelt" (Herzog 1993, S. 56).1 Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber für die Weiterentwicklung des Rentenrechts keine Fristen gesetzt. Allerdings betonte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts in dem bereits erwähnten Vortrag: " ... ich bitte zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was hier steht, blutiger Ernst ist und daß wir zwar gegenüber dem Gesetzgeber großzügig sind, daß wir uns aber hier - im Interesse der Familien - nicht alles gefallen lassen!" (Herzog 1993, S. 58). Weiter führte er aus: "Ich will jetzt nicht sagen, daß bei jeder Anhebung der Rentensätze durch den Gesetzgeber auch ein Schritt in diese Richtung getan wird; aber eine relevante Korrektur an unserem Rentensystem, ohne daß auch ein Schritt in diese Richtung getan wird - auch über die Gesetzesänderung hinaus, die seither im Bundestag durchgesetzt worden ist das geht nicht" (Herzog 1993, S. 59). Damit wird deutlich, daß bei der weiteren Diskussion über die Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung und ihre Anpassung an veränderte Bedingungen diesem Auftrag des Verfassungsgerichts Rechnung zu tragen ist. Auf I Von Bevölkerungswissenschaftlern wird die Auffassung vertreten, daß in Frauenjahrgängen ab 1970 ein Drittel kinderlos bleiben wird (Birg / Flöthmann 1993). Als Entwicklungstendenz wird erwartet, daß es zu einer Polarisierung hinsichtlich der Kinderzahl kommt: Einerseits wird es weniger Frauen mit Kindern geben, andererseits werden die Frauen, die Kinder haben, im Durchschnitt mehrere Kinder aufziehen. Dabei ist noch offen, in welcher Fonn von Lebensgemeinschaft dies erfolgt.
Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung
227
welche Weise dies geschehen soll, das hat das Verfassungsgericht recht offen gelassen, allerdings einige Hinweise gegeben. Hierzu gehört die Bemerkung, " ... das Grundgesetz (läßt) Raum für eine Änderung der Hinterbliebenenversorgung mit dem Ziel, bei Witwen- und Witwer-Renten stärker auf die Dauer der Ehe sowie darauf abzustellen, ob der überlebende Ehepartner durch Kindererziehung oder Pflegeleistung in der Familie am Erwerb der eigenen Altersversorgung gehindert war." Hierauf soll weiter unten eingegangen werden. Vorangestellt werden jedoch einige Bemerkungen über normative Positionen, die im Zusammenhang sowohl mit einer Familienorientierung im Alterssicherungssystem eine Rolle spielen, als auch mit der Frage verbunden sind, in welcher Weise für Frauen die soziale Sicherung im Alter gestaltet werden soll (11.). Sodann werden die verschiedenen Ansatzpunkte für eine familienorientierte Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung benannt. Hierbei sind auch einige Anmerkungen zur Finanzierung der hiermit verbundenen Ausgaben erforderlich. Dies führt unmittelbar auf die grundlegende ordnungspolitische Frage, welchen Charakter (Systemtyp ) das vom Gesetzgeber geschaffene wichtigste Regel-Alterssicherungssystem haben soll (III.). Die damit verbundenen normativen Grundentscheidungen sollten Ausgangspunkt sein für Empfehlungen bzw. für Entscheidungen im Prozeß der Weiterentwicklung des Alterssicherungssystems. An anderer Stelle habe ich zu begründen versucht, warum aus meiner Sicht eine evolutorische Weiterentwicklung des bestehenden Rentenversicherungssystems auch aus ökonomischen Gründen einem grundlegenden Systemwechsel - z. B. durch Übergang zu einer am Wohnsitzprinzip orientierten einheitlichen und steuerfinanzierten Staatsbürger-Grundrente (auf Sozialhilfeniveau) - vorzuziehen ist (Schmähl 1994). Wenn man diese grundlegende Weichenstellung akzeptiert, dann stellt sich aber auch für das bestehende System die Frage nach der Richtung, in der das "Mischsystem" der gesetzlichen Rentenversicherung weiter entwickelt werden soll: mehr in Richtung auf eine Verstärkung des Vorsorgecharakters (durch Verkoppelung von Leistung und Gegenleistung) oder mehr in Richtung auf Versorgungse1emente (interpersonelle Umverteilung, "Solidarausgleich"). Dies ist bei derfamilienorientierten Weiterentwicklung der Rentenversicherung gleichfalls eine wichtige, aber auch umstrittene Frage. Hierauf kann allerdings in diesem Beitrag nur stichwortartig eingegangen werden. Eine umfassende Behandlung dieser Thematik würde neben der Klärung der Zielvorstellungen eine differenzierte, insbesondere auch kohortenspezifische Lageanalyse erfordern sowie schließlich eine Analyse der mit den vorgesehenen Maßnahmen verbundenen Wirkungen. Auf die Lageanalyse wird hier nicht eingegangen. 2 2 Zur geltenden Rechtslage vgl. u.a. Ruland (1993), S. 340 f., VDR (1993), S. 6 ff., zu einem kohortenspezifischen Ansatz Prinz (1994).
15"
228
Winfried Schmähl
Im abschließenden Teil (IV.) werden Ansatzpunkte für eine familienorientierte Veränderung der Hinterbliebenenrenten diskutiert. Dies wird verknüpft mit der Aufgabe, die Finanzierungsstruktur der Sozialversicherung zu verändern. In diesem Beitrag wird damit versucht, zwei Elemente (Ansatzpunkte) für einen Umbau des Rentenversicherungssystems zu verknüpfen, die familienorientierte Weiterentwicklung und eine Veränderung der Finanzierungsstruktur der Rentenversicherung.
11. Anmerkungen zu einigen normativen Positionen und Fragen Familienorientierte Weiterentwicklung der Alterssicherung kann sich auf die eigenen Ansprüche desjenigen beziehen, der familienbezogene Tätigkeiten ausführt, aber auch auf die Gestaltung der abgeleiteten Ansprüche (Hinterbliebenenversorgung). Hinter den in der Diskussion befindlichen Vorschlägen stehen explizit, aber oftmals auch implizit, normative Vorstellungen, die deutlich gemacht werden sollten. So stellt sich im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit z.B. die Frage, ob durch Regelungen im Rentenrecht (wie auch durch andere Maßnahmen) die Wahlfreiheit zwischen Erwerbs- und Familientätigkeit verbessert werden soll im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders oder eines Nebeneinanders, oder ob Leitbildvorstellung ist, daß für Frauen eine durchgehende (möglichst unterbrechungsfreie ) Erwerbstätigkeit anzustreben sei. So beinhaltet der insbesondere von einem Kreis von Wissenschaftlern vertretene Vorschlag einer "voll eigenständigen" Alterssicherung der Frau die durchgehende Erwerbstätigkeit von Frauen als Normvorstellung. Dies wird an dem in diesem Konzept enthaltenen Vorschlag zur Einführung eines Mindestbeitrages deutlich, durch den Druck auf die Aufnahme oder Ausdehnung der Erwerbstätigkeit erzeugt wird. Hierdurch wird auch die Wahl einer reduzierten individuellen Arbeitszeit erschwert, da die Beitragsbelastung infolge des Kopfbeitrages relativ steigt bzw. hoch ist. Damit wird auch die Wahlfreiheit zwischen Erwerbstätigkeit oder Familientä~igkeit sowie deren Kombination behindert. Oder man muß die (tendenziell starke regressive) Belastung infolge der Mindestbeiträge durch kompensierende Maßnahmen mindern, womit aber der mit diesem Konzept angestrebte Effekt der Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit nicht erreicht wird. Wenn nun von einem Verfechter dieses Konzepts postuliert wird, daß " ... sich die GRV weitgehend neutral gegenüber unterschiedlichen Lebensläufen verhalten (sollte)" (Wagner 1993, S. 192), so entspricht das "voll eigenständige" System gerade nicht diesem Neutralitätskriterium, da spezifische Allokationseffekte angestrebt werden. 3 3 Auch die Forderung nach Abschaffung der Hinterbliebenenrente steht z. T. in Zusammenhang mit der Normvorstellung einer durchgehenden Erwerbstätigkeit während der gesamten Erwerbsphase. "Eine Schwächung der abgeleiteten Sicherung, wie sie von Teilen der Frauenbewegung gefordert, von Gesellschaftspolitikern aus Kostengründen (Mißverhältnis von Beitragszahlung und Leistung) ins Gespräch gebracht wird, müßte
Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung
229
Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1992 zu den Kindererziehungszeiten liegt implizit eine Phasenvorstellung zugrunde, also das zeitliche Nacheinander, denn es werden solche Personen verglichen, die die Erwerbstätigkeit unterbrochen haben und ein Kind erziehen, mit anderen, die erwerbstätig sind und kein Kind haben. Es werden keine Erwerbstätigen mit Kindern in die Betrachtung eingezogen. Daß insbesondere "familienorientierte" Leistungen zu unterschiedlichen Beurteilungen führen, je nach normativer Ausgangsposition, kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. 4 So werden Erziehungsurlaub und Anerkennung von Erziehungszeiten bzw. deren Ausdehnung kritisiert, weil hierdurch die Unterbrechungsphase bei der Erwerbstätigkeit verlängert werde, was die künftigen Einkommens- und Aufstiegschancen der Frauen verschlechtere. 5 Auch hinsichtlich der Anerkennung und Bewertung von Kindererziehungszeiten werden unterschiedliche normative Positionen vertreten: Die gegenwärtige Regelung, durch Kindererziehungszeiten "Lücken" in der Versichertenbiographie zu schließen, kann als Ansatz zur Verbesserung der Wahlmöglichkeiten zwischen Familien- und Erwerbstätigkeit interpretiert werden, indem die finanziellen Einbußen eines Verzichts auf Erwerbstätigkeit zumindest hinsichtlich der Alterssicherung vermindert werden sollen. Diese Regelung (in Kombination mit anderen) ist auf das zeitliche Nacheinander ausgerichtet. Die "additive" Lösung der Zuerkennung eines bestimmten Rentenanspruchs bei Kindererziehung unabhängig davon, ob versicherungsrechtlich relevantes Entgelt während dieser Zeit erzielt wurde oder nicht, kann als Honorierung der Kindererziehungstätigkeit angesehen werden. Die Bewertung wäre hier einheitlich je Kind. Würde dagegen z.B. eine am früheren Einkommen des erziehenden Elternteils einsetzende differenzierte Bewertung von Kindererziehungszeiten erfolgen, so wäre dies auf die individuelle Situation des / der Kindererziehenden ausgerichtet.
mit dem zunehmenden Druck auf Frauen einhergehen, erwerbstätig zu werden oder zu bleiben. Inwieweit sich aber unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen damit die persönliche Abhängigkeit für die Mehrheit der Frauen und - über die Zeit betrachtet - ihr Armutsrisiko verringert, ist allerdings fraglich und ausgedehnter Untersuchungen wert" (Ostner 1994, S. 131). 4 So verweist Hellbrügge (1994, S.33) darauf, "daß es Lenin war, der frühzeitig erkannte, daß sich seine sozialistischen Ideen nur dann durchsetzen ließen, wenn die Familie als Ort und Geburtsstätte der Individualität vernichtet würde." Hingewiesen sei auch auf die Aussage - auf Grund von Erfahrungen - der zeitweiligen niedersächsischen Familienministerin Waltraud Schoppe (1994): "Linkssein und Familienpolitik vertragen sich danach nicht." Und weiter: "Was ist eigentlich für linke Teile oder auch Teile der Frauenbewegung verwerflich daran, wenn ein Mensch, es sind ja meistens Frauen, für eine bestimmte Zeit im Leben intensiv mit Kindern leben will und aussteigt? Verwerflich sind doch wohl nur die Umstände, die diese Zeit zur Last und Strafe werden lassen." 5 Für einen Quantifizierungsversuch vgl. Galler (1991), zur Beurteilung u.a. Landenberger (1991).
230
Winfried Schmähl
Nonnative Fragen werden auch aufgeworfen, wenn gefragt wird, was als Familie angesehen wird und welche Fonnen des Zusammenlebens Objekt der Familienpolitik sein sollen. Lampert (1993, S. 361) fordert die Lösung der Aufgabe, " ... eine Definition als Objekt politischer Gestaltung abzuleiten und über eine solche Definition im politischen Raum Konsens zu erzielen. Eine solche Definition muß notwendig nonnativ sein, d. h. politikrelevanten sozialethischen Prinzipien Rechnung tragen und entscheiden, welche Lebensgemeinschaften als Adressat politischer Maßnahmen und im Sinne des Art. 6 GG als Familie geschützt und gefördert werden sollen und welche nicht."6 So können im Zusammenhang mit der Situation Alleinerziehender Konflikte auftreten, auf die auch Lampert hinweist: "Alleinerziehende Eltern bedürfen sozialpolitisch gesehen - wegen der für sie selbst und für die Kinder erschwerten Lebensumstände ... in erster Linie familienpolitischer Unterstützung. Je mehr aber die Familienpolitik die besonderen Belastungen dieser Familienfonn überwiegend um der Kinder, jedoch auch um der Alleinerziehenden willen, korrigiert und ausgleicht, um so akzeptabler könnte diese Lebensfonn als bewußt und "freiwillig" gewählte Lebensfonn erscheinen" (Lampert 1993, S. 360). Hieraus wiederum können sozialpolitische Probleme erwachsen. Die "Individualisierung" und "Pluralisierung" von Lebensstilen und die damit verbundenen erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten sind mit Unsicherheiten und u. U. sozialpolitischen Folgeproblemen verbunden. Dabei stellt sich stets die Frage, ob und inwieweit sozialpolitisch relevante Regelungen auf die Entscheidungen - hier die Fonn des Zusammenlebens - einwirken. Es ist dabei aber auch zu berücksichtigen, daß dann, wenn unerwünschte Konsequenzen auftreten, die Forderung nach Kompensation der aus den Entscheidungen folgenden Nachteile abgeleitet wird: "Der Gewinn an Freiheit bedeutet zugleich ein Mehr an Unsicherheit, das u. a. durch staatliche Sicherungssysteme kompensiert werden muß" (Buhr et.al. 1988, S. 655).7 Es stellt sich also die Frage, ob und inwieweit der Staat bzw. die Gesellschaft verpflichtet ist, negative Folgen, die mit bestimmten freiwilligen individuellen Entscheidungen im Rahmen sich eröffnender oder erweiternder Freiheitsräume verbunden sind, zumindest zum Teil zu kompensieren. Im Hinblick auf die gesetzliche Rentenversicherung ist auch zu entscheiden, welche Tätigkeiten zum Erwerb von Rentenansprüchen führen sollen - außer der Erwerbstätigkeit - , wie z. B. familienorientierte Tätigkeiten, ob diese Tätigkeiten an einen bestimmten (Familien-)Status geknüpft sein sollen und wie sie zu bewerten sind.
6 Und Max Wingen: "Das, was als Familie zu gelten hat, darf nicht zur Beliebigkeit sozialer Beziehungen verkommen" (Wingen 1991, S. 5). 7 Zustimmend dazu auch Backes 1993, S. 180.
Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung
231
Schließlich ist zu entscheiden, ob z. B. familienorientierte Leistungen ,primär in der Erwerbsphase bzw. der Phase des Aufziehens von Kindern ansetzen sollen und / oder "in der Altersphase". Je knapper die zur Verfügung stehenden Mittel sind, um so größer ist der Zwang, solche Fragen klar zu entscheiden, Prioritäten zu setzen. Um so größer ist aber auch die Gefahr, Ansprüche heute zuzuerkennen, die erst später zu Ausgaben führen, in Zeiten, in denen u. U. aufgrund Z.B. der demographischen Entwicklung mit erhöhten Ausgaben (Belastungen) zu rechnen ist.
III. Ansatzpunkte für familienorientierte Regelungen in der gesetzlichen Rentenversicherung und deI:en Finanzierung Für eine familienorientierte Gestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es verschiedene Ansatzpunkte. Sie können insbesondere danach unterteilt werden, ob sie (I) in der Erwerbsphase oder in der (2) Rentenbezugsphase ansetzen sowie bei letzterer, a) an der Versichertenrente oder b) der Hinterbliebenenrente. In der Erwerbsphase (I) geht es vor allem um eine Differenzierung der Abgabenbelastung für die Alterssicherung nach der Familiensituation. Dies kann auch verbunden sein mit der unterschiedlichen "Bewertung" von Abgaben, indem bei gleicher Abgabenzahlung unterschiedlich hohe Ansprüche zuerkannt werden (also eine Kombination von (1) und (2a». Bei den Versichertenrenten (2a) geht es vor allem um die Berücksichtigung von Familientätigkeiten, die nicht erwerbsmäßig erfolgen, also nicht durch Faktoreinkommen entlohnt werden. Wichtig ist hier das zeitliche Ausmaß der Berücksichtigung solcher Tätigkeiten (Aufziehen und Pflege von Kindern, Pflege anderer Familienangehöriger) und deren monetäre Bewertung. Was die Hinterbliebenenrenten (2b) betrifft, so kann sich dies auf die Berechnung des Anspruchs auf Hinterbliebenenrente beziehen oder im Rahmen des existierenden Anrechnungsmodells auf eine familienorientierte Differenzierung der Anrechnungsparameter und somit auf den Zahlbetrag der Hinterbliebenenrente (v gl. ausführlicher dazu Abschnitt IV.).8 Bei allen Ansatzpunkten und Ausgestaltungsformen stellt sich jeweils die Frage nach der Finanzierungsquelle für die Maßnahmen. Hierbei geht es - wie auch sonst im Rahmen der Sozialversicherung, speziell auch der gesetzlichen 8 Vgl. zum breiten Spektrum an Vorschlägen u.a. Rolf(1981), Lampert (1991), VDR (1993).
232
Winfried Schmäh)
Rentenversicherung - um die Finanzierung aus (lohnbezogenen) Beiträgen einerseits, aus Haushalten öffentlicher Gebietskörperschaften andererseits (vereinfachend und verkürzend oft als "Steuerfinanzierung" im Unterschied zur "Beitragsfinanzierung" bezeichnet). Die Finanzierungsentscheidung wird im politischen Prozeß nicht selten unter dem Gesichtspunkt der Opportunität und politischen Durchsetzbarkeit getroffen. Aus ökonomischer Sicht ist in diesem Zusammenhang zum einen der Unterschied zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung sowohl unter verteilungs- und allokationspolitischen Aspekten, als auch in ordnungspolitischer Sicht zu beachten. Der grundlegende Unterschied zwischen einem Beitrag und einer Steuer besteht darin, daß mit der Beitragszahlung ein Anspruch auf eine Gegenleistung erworben wird, nicht dagegen mit der Steuerzahlung. Je lockerer allerdings der (eigene) Finanzierungsbeitrag mit der späteren (Renten-)Gegenleistung verbunden ist, um so mehr bekommt diese Abgabe den Charakter einer Steuer. Und umgekehrt: Je ausgeprägter die Leistungs-Gegenleistungs-Beziehung ist, um so mehr hat der Beitrag den Charakter eines Preises, den man für die Gegenleistung zahlt. Stellt der Beitrag eine Abgabe dar, die auf das Arbeitsentgelt erhoben wird, so erfolgt damit zugleich eine Verbindung zum Preis für das Zurverfügungstellen von Arbeitsleistung. Im Falle einer direkten Arbeitgeber-Beitragsbeteiligung erfolgt dies "automatisch", was bei Beitragserhöhungen unmittelbar deutlich wird, da dann ceteris paribus auch unmittelbar die Lohnkosten steigen. Überwälzungsprozesse ändern an dieser grundsätzlichen Verknüpfung nichts. Insofern ist unter Allokationsgesichtspunkten jeweils zu prüfen, ob eine Aufgabe und Ausgabe sachadäquat durch eine Abgabe finanziert werden soll, die dem Produktionsfaktor Arbeit angelastet wird. Verteilungspolitisch treten unerwünschte Wirkungen auf, wenn allgemeine Staatsaufgaben aus lohnbezogenen Beiträgen finanziert werden, da hier ein proportionaler Tarif auf eine einzige Einkunftsart angewandt wird, die zudem in Deutschland nach oben begrenzt wird durch die Beitragsbemessungsgrenze. Insbesondere bei einem Vergleich mit der Einkommensbesteuerung zeigt sich tendenziell eine "Umverteilung von unten nach oben". Außerdem bleiben die Familiensituation und die dadurch beeinflußte steuerliche Leistungsfähigkeit unberücksichtigt. Zudem werden die Arbeitskosten ceteris paribus erhöht, ohne daß die damit finanzierten Aufgaben sinnvoll dem individuellen Arbeitsverhältnis zugerechnet werden können. 9 Es stellt sich nun die Frage, ob familienorientierte Leistungen in der Rentenversicherung sachadäquat aus Beitrags- oder aus allgemeinen Haushaltsmitteln zu finanzieren sind. Das bereits angeführte Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer 1992 scheint nun die Auffassung derjenigen zu stärken, die eine Beitragsfinanzierung für durchaus sachgerecht ansehen. Das Bundesverfassungs9
Vgl. differenzierter hierzu Schmähl (1994a).
Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung
233
gericht weist nämlich auf die bestandssichernde Bedeutung der Kindererziehung für das System der Alterssicherung hin und betont, daß die als Generationenvertrag gestaltete Rentenversicherung ohne nachrückende Generationen nicht aufrechtzuerhalten sei. Dabei könne - um einem Einwand vorzubeugen - angesichts der Breitenwirkung der Rentenversicherung vernachlässigt werden, daß nicht jedes Kind später auch zu einem Beitragszahler werde. Außerdem weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß eine "maßvolle Umverteilung", die aus Beitragsmitteln finanziert werde, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Abgesehen davon, daß rund 20 % aller Erwerbstätigen nicht in der Rentenversicherung pflichtversichert sind, ist darauf hinzuweisen, daß die vom Verfassungsgericht betonte bestandssichernde Bedeutung der nachwachsenden Generationen nicht nur für das Umlageverfahren, sondern auch für jedes kapitalfundierte Alterssicherungssystem gilt, das eine Größenordnung besitzt, die etwa der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht. Außerdem besteht die bestandssichernde Bedeutung nicht nur für Alterssicherungssysteme, sondern für das Staatswesen generell. Folglich sind Maßnahmen zugunsten der nachwachsenden Generationen bzw. zur Schaffung solcher Bedingungen, daß es zu Geburten kommt bzw. die Bedingungen für die Realisierung des Kinderwunsches günstig gestaltet werden, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. D. h. nicht, daß nicht auch in der Alterssicherung eine familienorientierte Ausgestaltung gewählt werden könnte oder sollte. Doch stellt sich die Frage, wer für die Finanzierung zuständig ist bzw. in welcher Form diese ausgestaltet werden soll. Die in diesem Zusammenhang manchmal vorgetragene Argumentation, daß es im Rahmen des Generationenvertrages nicht die Beitragszahlung des Versicherten sei, die seinen Anspruch begründe, sondern das Aufziehen von Kindern (während die Beitragszahlung nur eine Rückzahlung der "Schuld" an die ältere Generation darstelle), diese Konzeption ist mit einem einkommenbezogenen, differenzierte Renten bereitstellenden Alterssicherungssystem unvereinbar. Denn wie will man begründen, daß jemand eine höhere Rente erhält als ein anderer, wenn beide im gleichen Ausmaß Kindererziehungsleistungen erbracht, aber in ihrem Erwerbsleben unterschiedliche Erwerbseinkommen erzielt haben? Gleiche Honorierung v'on Kindererziehungsleistungen führt vielmehr zu einkommensunabhängigen Rentenzahlungen und würde damit einen fundamentalen Systemwechsel im Vergleich zum jetzigen Rentenversicherungssystem erfordern. 10 Selbst wenn es verfassungsrechtlich zulässig ist, eine "maßvolle Umverteilung" - also interpersonell umverteilende Maßnahmen - aus (lohnbezogenen) Beiträgen zu finanzieren, so ist damit noch keinesfalls gesagt, daß dieses auch eine 10 Miegel, der - wie Biedenkopf - für eine einheitliche steuerfinanzierte Staatsbürger-Grundrente eintritt, weist folglich die Vorstellung zurück, durch die Beitragszahlung werden Ansprüche erworben. Vielmehr beruhe der Anspruch der Alterssicherung auf der Bildung von Kapital im weitesten Sinne, wozu auch Humankapital gehöre (was die Kindererziehung mit einbezieht); vgl. z.B. Miegel (1994).
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ökonomisch vernünftige Lösung ist. Abgesehen von den oben erwähnten verteilungs- und allokationspolitischen Einwendungen, stellt sich aus ordnungspolitischer Sicht die Frage, ob man stärker ein auf eigener Vorsorge basierendes staatliches Alterssicherungssystem will oder ein stärker interpersonell umverteilendes System, wobei der "soziale Ausgleich" durchaus - wie oben angedeutet - "unsoziale" Folgen haben kann. Dies ist eine für die zukünftige Entwicklung der Alterssicherung zentrale Frage. Die Verwendung von Beitragsmitteln für Maßnahmen des Familienlastenausgleichs - also für gesamtgesellschaftliche Aufgaben - trägt zur Verwässerung des Zusammenhangs zwischen Beitragszahlung und Rentengegenleistung bei, verändert das System mehr in Richtung auf ein Umverteilungs-(Steuer-Transfer- bzw. Versorgungs-)System. Eine Finanzierung von Maßnahmen des Familienlastenausgleichs aus allgemeinen Haushaltsmitteln bedeutet übrigens nicht notwendig, daß Steuern entsprechend erhöht werden müssen. Zunächst erfordert dies eine Entscheidung über Prioritäten hinsichtlich der Mittelverwendung in den Haushalten öffentlicher Gebietskörperschaften. Mit der Wahl der Beitragsfinanzierung - angesichts leerer "Staatskassen" - würde es sich der Gesetzgeber hinsichtlich der Prioritätenentscheidung und der Übernahme der Finanzierungsverantwortung zu leicht machen. 11 Auch dem Einwand, eine Finanzierung aus den Haushalten öffentlicher Gebietskörperschaften belaste auch oder sogar insbesondere Kindererziehende (je nach den zur Finanzierung eingesetzten Abgaben), kann durch eine geeignete Ausgestaltung der Abgaben begegnet werden. 12 So wäre eine Abgabe auf das Gesamteinkommen, zweckgebunden zur Finanzierung von Maßnahmen des Familienlastenausgleiches (z. B. als Zuschlag zur Einkommensteuer), die von denjenigen aufzubringen ist, die nicht Kindererziehende sind (wobei dieser Tatbestand definiert werden muß), eine der denkbaren Maßnahmen. 13 Wollte man in der Erwerbsphase ansetzen und z.B. eine Differenzierung der Beitragszahlung zur Rentenversicherung vornehmen 14, um Kindererziehende finanziell zu entlasten, so würde dies allerdings erfordern, daß Beitragsmindereinnahmen nicht durch lohnbezogene Beiträge anderer Versicherter aufgebracht werden (wie es üblicherweise bei diesem Vorschlag unterstellt wird), sondern daß sie den Versicherungsträgern aus öffentlichen Haushalten zur Verfügung II Insbesondere in mittel- und längeIfristiger Perspektive stehen als "Quelle" für die Finanzierung familienbezogener Ausgaben auch Umschichtungen im Staatshaushalt zur Verfügung; das Erhöhen von Abgaben ist nur eine der Quellen zur Deckung des Finanzbedarfes für einen bestimmten Aufgabenzweck. 12 Sofern kompensierende Maßnahmen auf der Ausgabenseite erfolgen, ist allerdings auch zu prüfen, ob oder in welchem Maße sie zu Lasten Kindererziehender gehen. 13 Vergleiche hierzu Schmäht (1988) und auch Schmidt (1988). 14 Vgl. hierzu jüngst Rita Süßmuth unter Bezugnahme auf Vorschläge der Kommission, die den 5. Familienbericht verfaßte; siehe Meldung der Rheinischen Post vom 25.4.1994.
Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung
235
gestellt werden. Hierdurch würden jedoch keine zusätzlichen Ansprüche für die Altersphase von den Kindererziehenden erworben, sondern es würde (nur) die Belastung in der Erwerbsphase gemindert. Allerdings kann dies auch mit zusätzlichen Ansprüchen auf Versichertenrenten kombiniert werden, wie dies bei der gegenwärtigen Regelung der Kindererziehungszeiten im Rentenrecht erfolgt. Auch diese Ausgaben sind systemadäquat aus allgemeinen Haushaltsmitteln zu finanzieren. Dabei stellt sich die Frage, wann die Finanzierung erfolgen soll (damit dann auch die Frage, wer und für welchen Zeitraum von der Zahllast-Verpflichtung betroffen wird). Sollen dann, wenn die zusätzlich zuerkannten Rentenansprüche auf Grund der familienbezogenen Tätigkeiten fällig werden (also die Rentenausgaben zu finanzieren sind) die zusätzlichen Ausgaben aus öffentlichen Haushalten erstattet werden, oder soll die Zahlung bereits dann erfolgen, wenn die Ansprüche entstehen (also aus öffentlichen Haushalten Beiträge an die Rentenversicherung gezahlt werden, anstelle der Zahlung der Versicherten)? Es wird eine zentrale Prioritätenentscheidung sein, in welcher Lebensphase familienorientierte Tätigkeiten berücksichtigt werden sollen. Dies - in Kombination mit der Ausgestaltung der Finanzierung - erfordert eine differenzierte Analyse in lebenszyklischer und kohortenspezifischer Betrachtung als eine der Grundlagen für die Entscheidungsvorbereitung, um Finanzbedarf sowie personelle Verteilung von Be- und Entlastungen zu ermitteln. Im folgenden werde ich mich jedoch nicht der familienorientierten Ausgestaltung und Finanzierung von Versichertenrenten zuwenden, sondern den Witwenund Witwerrenten (hier als Hinterbliebenenrenten bezeichnet).
IV. Familienorientierte Ausgestaltung der Hinterbliebenenrenten Nach der Reform der Hinterbliebenenversorgung wird seit 1986 (abgesehen von Übergangsregelungen) die Hinterbliebenenrente an Witwen und Witwer zwar weiterhin (mit 60%) von der Versichertenrente des verstorbenen Ehegatten abgeleitet, doch werden nun bestimmte Arten eigener Einkünfte des überlebenden Ehegatten auf die Zahlung der Hinterbliebenenrente angerechnet. Hierdurch kann sich der Zahlbetrag der Hinterbliebenenrente vermindern, sogar auf Null sinken, d. h. der Anspruch ruht. Angerechnet werden die eigene Versichertenrente sowie Arbeitsentgelt. Sobald die eigenen Einkünfte einen bestimmten Freibetrag übersteigen, wird der Zahlbetrag der Hinterbliebenenrente um 40 % des anzurechnenden Einkommens vermindert. Angesichts dieser Regelung ist unmittelbar ersichtlich, daß die Hinterbliebenenrente im Prinzip nur noch dann gezahlt werden soll, wenn ein entsprechender Bedarf besteht. Es handelt sich also um eine bedarfsorientierte Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung, deren Unterhaltsersatzfunktion dann zum Erlie-
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Winfried Schmähl
gen kommt, wenn die eigenen, als relevant erachteten Einkünfte eine "ausreichende" Höhe erreichen. Je mehr also der überlebende Ehegatte früher selbst Rentenansprüche erworben hat oder noch erwerbstätig ist, um so eher erfolgt eine Reduzierung des Zahlbetrages der Hinterbliebenenrente. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit diese Regelung den Arbeitsanreiz mindert. Auch der Effekt der Zuerkennung zusätzlicher Reiltenansprüche in Form von Kindererziehungszeiten kann im Rahmen des Anrechnungsmodells u. U. durch die Anrechnungsregelung reduziert werden. Im folgenden wird zunächst kurz das Anrechnungsmodell formal dargestellt. Anschließend wird die Frage erörtert, ob und inwieweit das Anrechnungsmodell in den Dienst einer familienorientierten Veränderung des Rentenrechts gestellt werden kann und welche Ansatzpunkte dafür bestehen. Dies wird verknüpft mit der Frage nach der systemadäquaten Finanzierung.
1. Formale Darstellung des geltenden Anrechnungsverfahrens für Hinterbliebenenrenten Wie erwähnt, beträgt der Anspruch auf die Hinterbliebenenrente (HR) im Prinzip nach wie vor 60 % der Versichertenrente des verstorbenen Ehegatten (RT): (1)
HR=O,6xRT
Ob aber die Hinterbliebenenrente voll gezahlt wird, das hängt u. a. von der Höhe der relevanten, im Prinzip zur Anrechnung herangezogenen Summe der Einkünfte (ANE) ab. Der Zahlbetrag der Hinterbliebenenrente (ZHR) ergibt sich aus dem Anspruch auf Hinterbliebenenrente (HR) abzüglich des hiervon abzuziehenden Betrages (AB) (2)
ZHR=HR-AB
Der abzuziehende Betrag entspricht 40 % des anzurechnenden Einkommens (ANE): (3)
AB =axANE
Das anzurechnende Einkommen ist als Nettogröße definiert, indem in pauschalierter Weise Lohnsteuer vom Bruttoarbeitsentgelt (in Höhe von tL = 35 %) und ein Abgabensatz tR von der Bruttorente von derzeit 6,5 % in Abzug gebracht werden. 15 Diese Größe sei als pauschaliertes Nettoeinkommen bezeichnet (PNE). Vom pauschalierten Nettoeinkommen wird ein Freibetrag (FB) abgezogen. 15 Es handelt sich um den halben KVdR-Beitragssatz. Dieser Wert dürfte insbesondere nach Einführung der Pflegeversicherung zu korrigieren sein.
Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung
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Der Freibetrag ist ein dynamischer Faktor, da er vom jeweiligen aktuellen Rentenwert (ARW) abhängt. Daraus ergibt sich: ANE = FR tL tR
(4) (5)
(6) (7)
[(L-tL xL) + (R x tR xR)]-FR =PNE -FR 26,4 x ARW 0,35 = konstant 0,065 (Annahme, KVdR-Beitragsanteil des Rentners)
Hinterbliebenenrente (im Monat) Zahl betrag der Hinterbliebenenrente Versichertenrente des verstorbenen Ehegatten eigene Versichertenrente (brutto) Brutto-Arbeitsentgelt pauschalierter Abzugsprozentsatz vom Bruttoarbeitsentgelt pauschalierter Abzugsprozentsatz von der Bruttorente pauschaliertes Nettoeinkommen anzurechnendes Einkommen Anrechnungsprozentsatz aktueller Rentenwert
HR ZHR RT
R
L tL tR PNE ANE
a
ARW
Daraus folgt als Bestimmungsgleichung für den Zahl betrag der Hinterbliebenenrente: ZHR = (0,6 x Rn - 0,4 [(0,65 xL + 0,935 x R) - (26,4 x ARW)]
(8)
Übersicht 1 illustriert, wie der Zahl betrag der Hinterbliebenenrente vom relevanten anzurechnenden Einkommen des Hinterbliebenen abhängt. Solange dieses den Freibetrag nicht übersteigt, wird die Hinterbliebenenrente voll gezahlt. Übersicht 1 Reduzierung der Hinterbliebenenrente in Abhängigkeit vom pauschalierten Nettoeinkommen
1500 1152 DM (=60%)
er
i5
Versichertenrente
1000
- - Zahlbetrag Hinterbliebenenrente (ZHR) bei a=O,4
500
o~--~---~------
o
§
__--__--~
Freibetrag = 1125 DM
~paUSChaliertes ~ Nettoeinkommen (PNE)
238
Winfried Schmähl
Übersicht 1 basiert auf Parameterwerten, wie sie in Westdeutschland vom Juli 1992 bis Juni 1993 gültig waren. Der aktuelle Rentenwert betrug 42,63 DM. Daraus ergibt sich ein Freibetrag von 1125 DM. Unterstellt wird weiterhin, daß die Hinterbliebenenrente auf der Rente eines (verstorbenen) "Eckrentners" basiert, also 45 Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden. Die Eckrente betrug 1920 DM. Daraus ergibt sich ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente von 1152 DM. Der Freibetrag lag also etwa so hoch wie die aus der Eckrente abgeleitete Hinterbliebenenrente. (Da Renten und Freibetrag beide mit ARW steigen, gelten die hier dargestellten Zusammenhänge unabhängig vom hier zugrundegelegten Zeitraum.) Bei einem derzeit gültigen Anrechnungsprozentsatz von 40 % entfällt die Zahlung der Hinterbliebenenrente, sobald das anzurechnende Einkommen das 2,5fache der Hinterbliebenenrente erreicht. Je höher der Anrechnungsprozentsatz ist, um so schneller tritt dieser Effekt des Ruhens der Hinterbliebenenrente ein: Aus Gleichung (2) und (3) ergibt sich, daß ZHR =0, wenn HR =axANE, so daß HR ANE= - , a
was bei a
=0,4 ergibt, daß ZHR =0 wird, sobald ANE 2,5 x HR erreicht.
DaANE sich nach Abzug des Freibetrages FB ergibt, tritt - unter Berücksichtigung der oben erwähnten Parameterwerte - z. B. für die Witwe eines "Eckrentners" ein Ruhen der Hinterbliebenenrente ein, sobald das relevante Nettoeinkommen 4005 DM überschreitet: Bei HR = 1152 DM ist der "Grenzwert" für ANE 2,5 x 1152 = 2880 DM. Zusammen mit dem Freibetrag ergibt sich ANE + FB = 2880 DM + 1125 DM == 4005 DM. Übersicht 2 zeigt, wie das Gesamteinkommen aus eigener Versichertenrente des Hinterbliebenen und den übrigen - hier relevanten - Nettoeinkünften bei unterschiedlicher Höhe dieser Nettoeinkünfte verläuft. Unterstellt man nun einmal, daß beide Ehepartner, als sie noch zusammenlebten, jeweils eine Versichertenrente erhielten (und von anderen Einkünften abstrahiert wird), dann kann man die Frage stellen, was der überlebende Ehegatte von der Rentensumme des Ehepaares (SR) noch erhält, wenn sein Ehepartner verstorben ist: (9) SR=RT+R SR = Summe an Versichertenrenten (brutto) des Ehepaares RT = Versichertenrente des verstorbenen Ehegatten R = Versichertenrente des überlebenden Ehegatten
Weiterentwicklung der staatlichen Alterssicherung
239
Übersicht 2 Struktur und Entwicklung des Einkommens der / des Hinterbliebenen 4000 3500
ill
zQ.
3000
,.
2500
.,,'" PNE
+
2000
!:i
1500
0: J:
(ZHR+PNE)
- •• - •. pauschaliertes Nettoeinkommen (PNE)
1.125DM / / . /
1000 .
.......... ~::~eit
Sozialzeit
I
m
Familiale Zeit Herstellen von Giltem. Erbalten. Pflegen von Saeben. Pflanzen und Tieren
Versorgung. Pfle,e. Betreuun, und ErziebunC v. Hausballs- u. Familienntitgliedem
Hilfen im familialen. nacbbanebaftlieben u. freundsebaftlieben Netzwerk
Persönliebe Zeit Persönliebe Zeit
Öffentliebe Zeit
Bildung und
Aus~ildung
n
A.k:tive Regeneration. Fit·
neS. Spon. Körperpflege. UnterbaJtung
Regeneration. SebJaf. Essen. Körperpfle,e
Privat· leit lV
Quelle: von Schweirzer 1993.
Abbildung 2: Einfache Grundmuster der Zeitbudgetaggregate Es wird davon ausgegangen, daß jeder Mensch eine Sozialzeit (I) hat, in welcher er über seine Erwerbs- und Ausbildungszeiten und / oder Familientätigkeiten mit anderen und für andere aktiv ist, und daß jeder Mensch persönliche Zeiten (11) für sich benötigt zum Entspannen und Ausruhen, Lernen und zur physiologischen Regeneration.
Die Anteile von "Sozialzeiten" und "Persönlichen Zeiten" unterscheiden den Grad der sozialen Integration einer Person oder auch von Haushalts- und Familienmitgliedern. Man könnte auch vom Grad der unmittelbaren "sozialen Nützlichkeit" eines Menschen sprechen. Wir können aber auch die "öffentliche Zeit" (III) - also alle Aktivitäten, die an eine Erwerbstätigkeit geknüpft sind - der "Privatzeit" (IV) gegenüberstellen.
Nur für die "öffentliche Zeit" gibt es eine öffentliche Anerkennung (Lohn, Ansehen, Einfluß, Macht). Für die "Privatzeit" ist auch das Bewertungs- und Belohnungssystem eine Privatsache. Eine Anerkennung als "gesellschaftlich bedeutsam" muß gesellschaftspolitisch ausgehandelt werden. Es handelt sich bei der "Privatzeit" um die wesentlichen Inputs in die Humanvermögensbildung einer Gesellschaft. Wiederum kennen wir Personen, Familien oder Haushalte, die extrem stark durch ihre Aktivitäten in der Öffentlichkeit engagiert sind - zum Beispiel Politikerinnen und Politiker - und andere, wie z. B. die Familienhausfrauen, die fast nur ein "Privatleben" führen und deren gesellschaftliche Anerkennung permanent angemahnt werden muß.
R. von Schweitzer und H. Hagemeier
254
4. Die monetäre Bewertung der Haushaltsproduktion Die Beachtung der familialen Leistungen im Zusammenhang mit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und damit ihre gesellschaftspolitische Anerkennung als Wertschöpfung und Wohlfahrtsproduktion verlangt die Bewertung des familialen Zeitinputs in die Haushaltsproduktion mit einem Lohnsatz. Zwei grundsätzlich zu unterscheidende Bewertungsverfahren sind zu beachten. Zur Diskussion steht erstens die Ermittlung eines Spezialistenlohnsatzes und zweitens die Festlegung eines Generalistenlohnsatzes:
-
Ein Spezialistenlohnsatz, der ermittelt wird über die gewichteten, in den vergleichbaren Branchen effektiv gezahlten Lohnsätzen für das entsprechende Dienstleistungsangebot, z.B. für "Kinderbetreuung" in der Krippe oder "Beköstigung" über Außerhaus-Verpflegung in der Kantine. Er bietet die Möglichkeit, mittels des Mengengerüsts ,,zeit" zu beobachten, in welchen Kombinationen von "Eigenleistung" und "Fremdleistung" die gesellschaftliche Daseinsvorsorge organisiert wird.
-
Ein Generalistenlohnsatz. Hier wird für die ermittelten Haushaltsproduktionszeiten ein einheitlicher Bruttolohnsatz bestimmt, z.B. die "monatlichen Bruttolöhne und -gehälter im gewichteten Durchschnitt" (Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen 1979, S. 55). Der Generalistenlohnsatz hat weit weniger Regelungsbedarf. Er ist somit auch weit weniger manipulierbar. Hier ist allerdings generell zu entscheiden, welche Zeitaggregate überhaupt mit dem Lohnsatz bewertet werden sollen, denn für ihn trifft das "Drittpersonenkriterium" als notwendiges Auswahlkriterium für die Zeitaggregate nicht zu. Er eignet sich somit besser für die Berechnung der "werteschaffenden Leistungen" der Privathaushalte.
Für die Festlegung der Zeitmengen, welche mit einem generellen Lohnsatz versehen werden sollen, können je nach Fragestellung unterschiedlich aggregierte Zeitmengen gewählt werden. Wesentlich ist nur, daß die jeweils gewählten Zeitaggregate - z. B. die notwendigen Betreuungszeiten für ein Familienmitglied nach einem Krankenhausaufenthalt oder die persönlich investierte Zeit für die Rehabilitation nach einem Unfall- auch nachprüfbar definiert sind. Für gesellschafts- bzw. familien- und frauenpolitische Fragestellungen, in denen es um ungleiche Belastungen und ökonomische Benachteiligungen geht, ist der Generalistenlohnsatz sinnvoller verwendbar. Er ist einfach nachprüfbar und einsichtig. Die Zeitaggregate, welche mit einem Generalistenlohnsatz bewertet werden, können je nach Problemstellung unterschiedlich gebildet werden. Die "werteschaffenden Leistungen" des privaten Sektors bzw. der Privathaushalte können der -
Heranbildung,
"Wertschaffende Leistungen" und Belastungen durch Familientätigkeiten -
der Erhaltung und Regeneration
-
sowie der Förderung und Pflege des Humanvermögens dienen.
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Krüsselberg, Auge und Hilzenbecher legten 1986 eine Zeitbudgetstudie vor mit einer differenzierten Darstellung der Zeiten, die für Familientätigkeiten in unterschiedlichen Phasen und Lebenslagen aufgewendet worden waren. Gewichtet nach der Art der Tätigkeiten mit einem Index der Leistungsanforderungen und bewertet nach Lohnsätzen zwischen BAT VIII und VI gelangten sie zu einer gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung der Hausarbeit von 1.089.071.572.800 DM für das Jahr 1982. Bezogen auf das Bruttosozialprodukt desselben Jahres würde dieser Betrag eine Aufstockung um 68 Prozent bedeuten. Das heißt, vernachlässigt in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung werden jährlich werteschaffende Leistungen, die mehr als 2/3 der berechneten Wertschöpfung der VGR ausmachen (Krüsselberg et al. 1986, S. 243 ff.). Heinz Lampert berechnete in seiner Studie "Der Beitrag von Familien mit Kindern zur Humanvermögensbildung" (Lampert et al. 1992, S. 130 ff.) den "monetären Aufwand" für zwei Kinder (Betreuungsaufwand und der Wert der kinderbezogenen Haushaltstätigkeit) je nach Lohnsatz für die Haushaltstätigkeit mit einem Schätzwert zwischen 790.000 und 890.000 DM. Den Anteil der staatlichen Leistungen und der Krankenversicherungen an diesem Aufwand für zwei Kinder liegt zwischen 21 und 24%. An diesem Anteil ist jedoch die Familie mit einem Selbstfinanzierungsbetrag von 32 % beteiligt. Da Lampert die monetären Aufwendungen nur bis zum 18. Lebensjahr der Kinder berechnet und somit Ausbildungszeiten sowie jugendliche Arbeitslosigkeit vor Eintritt in das Erwerbsleben, die auch zu Lasten der Familien gehen, nicht berücksichtigte, sind die angegebenen Werte eher zu niedrig als zu hoch. Lampert schätzt auf der Basis seines Modells den Beitrag der Familien zur Bildung des Humanvermögens von 1990 (volkswirtschaftliches Arbeitsvermögen ab 19 Jahren) auf 15.286 Billionen DM. Demgegenüber belief sich der Wert des reproduzierbaren Sachvermögens im Jahr 1990 zu Wiederbeschaffungspreisen der Wirtschaft auf 6,9 Billionen DM (5. Familienbericht 1994, S. 145). Familien mit Kindern "investieren" in jedes herangezogene Kind respektable monetäre Werte. Diese Kinder sichern als Erwerbspotential die Wertschöpfung und auch die Renten. Die Familien mit Kindern erhalten jedoch für diese, ihre Leistungen keinen beachtenswerten gesellschaftlichen Bonus. Im Gegenteil haben sie im Alter mit deutlich niedrigeren Renten zu rechen. Transfereinkommen der aus dem Erwerbsleben Ausscheidenden richten sich im Prinzip nach Art und Umfang der Beitragsleistungen während des Erwerbslebens. Die verminderten Möglichkeiten der Erwerbsbeteiligung derjenigen, die Familientätigkeiten übernehmen, bleiben weitgehend unberücksichtigt, zumal Ehegattensplitting, aber auch die Witwen / Witwerrenten unabhängig davon ihre Gültigkeit haben, ob Kinder in der Ehe herangezogen wurden oder nicht. Die
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R. von Schweitzer und H. Hagemeier
Versorgungsgemeinschaft der Eheleute erhält den Schutz und die Förderung, nicht aber die Leistungen für die nachwachsende Generation. Fehlt die gesicherte Versorgungsgemeinschaft der Eheleute und sind Kinder zu versorgen, so sind es vor allem Frauen, die das sich daraus ergebende Lebensrisiko zu tragen haben, aber zunehmend nur noch begrenzt gewillt sind, dieses zu tun. Von diesen familialen oder privaten Vorleistungen zur Sicherung des Humanvermögens für die Erstellung des Sozialprodukts sind die privaten und familialen Leistungen für das Humanvermögen derjenigen, die niemals oder nicht mehr als gesellschaftliche Leistungsträger in Frage kommen, zu unterscheiden. Diese privaten Leistungen in der Pflege Schwerbehinderter und älterer Menschen stellt eine Wertschöpfung dar, die unmittelbar Lebensqualität bewirkt, nicht anders als eine Pflegestation oder ein Heim. Schließlich sollten die regenerativen "persönlichen Zeiten" jeder Person (Schlafen, Essen, Körperpflege) mit einer Standard-Stundenzeit von täglich 10 Std. nicht in einer Satellitenrechnung mit einem Lohnsatz berücksichtigt werden. Ob und inwieweit darüber hinausgehende Zeiten für Bildung, Fitneß und Gesundheit allgemeine bedeutsame persönliche Leistungen sind und deshalb eine Bewerc tung mit einem Lohnsatz erfahren sollten, wäre zu diskutieren. Einsichtig ist, daß solche über einen Standard hinausgehende persönliche Aktivitäten in der Regel das Humanvermögen einer Gesellschaft sichern und auch verbessern.
11. Die Belastungen der Familien durch die "Kosten" der familialen Leistungen im Lebens- und Familienzyklus 1. Vorstudien zur Lösung des Problems der
Berechnungen von "Kinderkosten"
Der von Heinz Lampert gewählte Rechnungsweg für die Schätzung des Wertes des Humanvermögens oder genauer - des "volkswirtschaftlichen Arbeitsvermögens ab 19 Jahren für das Jahr 1990" war eine Teilkostenrechnung für die Inputs eines Elternpaares in zwei Kinder über insgesamt 20 Jahre abzüglich der mit dieser Leistung verknüpften Transferzahlungen. Aus einer solchen Rechnung sind zwar die leistungsbezogenen Kosten für eine Zeitspanne im Familienzyklus ersichtlich, nicht aber die unmittelbaren finanziellen und zeitlichen Belastungen, die diese Leistungen den Familien in unterschiedlichen Lebenslagen und Lebensphasen abverlangen. Diese sind es jedoch, die nicht zuletzt auch dazu führen, daß weitere Kinder nicht geboren werden bzw. ganz auf Kinder verzichtet wird. Für familienpolitische Fragestellungen genügt es folglich nicht, ausschließlich "Kinderkosten" zu berechnen, es sind auch die K0!lsequenzen für das Lebensniveau der Eltern zu bedenken.
"Wertschaffende Leistungen" und Belastungen durch Familientätigkeiten
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Helga Schmucker hat 1969 auf der Basis der amtlichen Volks- und Berufszählungen und Erhebungen von Wirtschaftsrechnungen im Deutschen Reich von 1927/28 eine vergleichsweise mutige und weitsichtige Modellbetrachtung zur Einkommensbildung und Einkommensverwendung sowie der Ersparnisbildung und dem Vermögensverzehr im Lebens- und Familienzyklus erstellt.
Epspapnisbildung und Vermögensverzehr während deslebens-und Familienzyklus
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Quelle: Schmucker. H.: Die ökonomische Lage der Familie in der BRD. Stuttgart 1961. S. 30.
Abbildung 3: Ersparnisbildung und Vermögensverzehr während des Lebens- und Familienzyklus
Diese Modellbetrachtung, in welcher in einem Lebens- und Familienzyklus die theoretisch errechneten monatlichen Einnahmen und Ausgaben eines 4 Personenhaushalts, dessen Haushaltsvorstand als Arbeiter in der Industrie beschäftigt ist und dessen Ehefrau bis zur Geburt des 2. Kindes verdient, einander gegenübergestellt wird, wurde zu einer Herausforderung für die sozial-ökonomische Haushalts- und Familienforschung. Denn sie mußte empirisch belegbar und überprüfbar sowie für unterschiedliche Lebenslagen und Familien- und Haushaltstypen berechenbar gemacht werden. 17 Festschrift Lampen
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Aus Schmuckers Schaubild ist gut zu ersehen, in welchem starken Maße sich die monetären Be- und Entlastungen der Modellfamilie im Familienzyklus durch die kinderbezogenen Be- aber auch Entlastungen - zur damaligen Zeit waren es Einkommen der Kinder ab 14 Jahren zum Haushaltseinkommen - auswirkten. Die Arbeitsbelastungen durch Familientätigkeit blieben noch außerhalb der Modellannahmen, da es zum Leitbild der "bürgerlichen Familie" der Nachkriegszeit gehörte, daß Frauen nach der Eheschließung mit und ohne Kinder auf Erwerbstätigkeit zu verzichten hatten und eine Erwerbsarbeit nur in wirtschaftlichen Notlagen beibehielten oder aufnahmen, wie das Modellbeispiel es zeigt. In diesem Modell fehlen somit die Belastungen durch die Beibehaltung der vollen Erwerbstätigkeit der Frau mit einem Kleinkind sowie die Bestimmung der freien Arbeitskapazitäten der Frau in den späteren Phasen des Familienzyklus mit den darauf beruhenden monetären Folgen, vor allem auch für die Alterssicherung der Frau. Das Heranziehen von Kindern ist in allen Gesellschaften mit unterschiedlichen Gewichtungen zwischen Aufwendungen der privaten und öffentlichen Haushalte auch eine Angelegenheit und Aufgabe der Gesellschaft. Die Aufwendungen der öffentlichen Haushalte bestehen einerseits aus Transferzahlungen und sozialen Sicherungen zugunsten der Familien mit Kindern und andererseits aus Naturalleistungen, insbesondere aus den Angeboten für Kinderbetreuung, Schul- und Berufsausbildung. Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen versuchte, dieses Verhältnis von Aufwendungen der Familien - berechnet nach den Kosten für das Heranziehen eines bundesdeutschen Durchschnittskindes - zu den Aufwendungen der öffentlichen Haushalte für dasselbe Kind für das Jahr 1974 zu bestimmen. Es wurden für die Feststellung der Aufwendungen der Familie auf der Basis von Mikrozensus und Einkommens-Verbrauchsstichprobe die empirischen Daten für die monetären Aufwendungen für das "Durchschnittskind" berechnet und die Zeitinputs geschätzt sowie mit unterschiedlichen Lohnsätzen bewertet. In der Rechnung waren "Kinder" bis zum 28. Lebensjahr enthalten, so sie im Haushalt der Eltern ohne eigene Erwerbstätigkeit mitlebten. Ergebnisse dieses Rechenwerkes waren, daß -
der Gesamtaufwand für die 17,5 Millionen Kinder 1974 etwa 320 Mrd. DM betrug.
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Dieser Gesamtaufwand von 320 Mrd. DM bedeutet, daß für jedes Kinq im Durchschnitt in der BRD im Jahr 1974 18.300 DM aufgewendet wurden.
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Die öffentliche Hand und die Wohlfahrtsverbände haben 84 Mrd. DM des Gesamtaufwandes getragen, die Familien 236 Mrd. DM. Somit fielen auf die Leistungen der Familien 74% des Gesamtaufwandes.
"Wertschaffende Leistungen" und Belastungen durch Familientätigkeiten -
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Die direkten monetären Transferzahlungen betrugen 197437 Mrd. DM; das sind 44% der Gesamtaufwendungen der öffentlichen Hand und der Wohlfahrtsverbände für die nachwachsende Generation (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 1979, S. 142).
Diese direkten monetären Transferzahlungen wirken sich - wie Willeke und Onken in einer ,,Empirischen Analyse zu drei Jahrzehnten monetärer Familienpolitik" (1990) für den Zeitraum von 1954-1986 zeigten, sehr unterschiedlich auf die Lebenslagen von Familien aus. Untersucht wurden die Auswirkungen des Familienlastenausgleichs auf 144 Familientypen mit Hilfe von Längs- und Querschnittsanal ysen. Da Willeke und Onken sich bei ihrer schon sehr umfangreichen Studie nur auf den Familienlastenausgleich im engeren Sinne beschränken konnten (Kindergeldzahlungen und kinderbedingte Freibeträge im Einkommensrecht) und damit nur ein Teil der monetären Transferzahlungen mit ihrer Wirkung auf die Haushaltseinkommen abzubilden vermochten, bleibt es weiterhin ein Desiderat, das Modell von Schmucker und Lampert auf mikroökonomischen Basisdaten weiter auszubauen und zu ergänzen, einerseits durch die Aufnahme weiterer familienbezogener Transfers, insbesondere von Bafög- und Spliuingeffekten und andererseits durch die Analyse der Wirkungen der Be- und Entlastungen bei der Familientätigkeit in den Familienzyklusphasen und Lebensverläufen bis in das Rentenalter der Elterngeneration.
2. Belastungen durch Familientätigkeit Schmucker versuchte über alle Familienzyklusphasen, Lampert über die Aufbauphase und den ersten Abschnitt der Stabilisierungsphase der Familie an einem Modell die monetären Belastungen von Familien durch zwei Kinder darzustellen. Nun sind Familien nicht nur monetären, sondern auch arbeitszeitmäßigen Belastungen ausgesetzt und beide Belastungsarten können sich gegenseitig bedingen, verstärken oder auch entlasten. Be- oder Entlastungen wirken sich außerdem auf spätere Phasen des Familienzyklus in unterschiedlicher Weise aus. Zu bedenken gilt es auch, daß es immer mehr Familien mit nur einem Kind gibt und auf der anderen Seite die Familien mit mehr als zwei Kindern einer besonderen familienpolitischen Beachtung bedürfen. Die dargestellten Modellrechnungen können so nur erste Größenordnungen von Belastungen und belastenden Phasen widerspiegeln. Das Simulationsprogramm Stratha (Strategische Haushaltsentwicklung), das für die mikrosystemische Familienhaushaltsberatung am Institut für Wirtschaftslehre des Haushalts und Verbrauchsforschung in den 80er Jahren entwickelt wurde, ist so konzipiert, daß die Familienentwicklung mit den biographischen Ereignissen in den Lebensverläufen der Familienmitglieder und deren Auswirkungen auf das Arbeits- und Geldsystem des Haushalts abgebildet werden kann. 17'
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Abbildung 9 In der Simulations/amilje II sind die Weichen anders gestellt. Das Haushaltsgesamteinkommen steigt zunächst geringfügig durch die kindbezogenen Transfers und nach den ersten 8 Jahren ausschließlicher Familientätigkeit der Ehefrau durch die zunehmenden Erwerbseinkommen der Familienhausfrau. Beim Ausscheiden der Kinder aus dem Familienlastenausgleich schlagen vor allem die Abnahme der steuerlichen Freibeträge zu Buche (vgl. Tabelle 2 Anhang). Die Haushaltsaufwendungen entsprechen denen der Simulationsfamilie I (Abb. lOb). Die Entwicklung des Finanzvennögens ist aufgrund des Erwerbseinkommens der Ehefrau ausbalancierbar. Und dies gelingt selbst bei vorübergehenden Verlusten durch die Ausbildungskosten der Kinder von etwas über 10.000 DM/ Jahr ab 2013, da ja die Kinder kein Bafög erhalten. Es sind drei Jahre, in denen auch mit den Ersparnissen das Defizit des Haushalts nicht ausgeglichen werden kann, also der Lebensstandard trotz voller Erwerbstätigkeit der Familienhausfrau abzusenken wäre (Abb. 11).
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Quelle: von Schweitzer, R. / Hagemeier, H., 1994.
Abbildung 11 Ganz anders sieht es bei der Arbeitsauslastung des Elternpaares der Simulationsfamilie 11 aus. Die Erwerbsarbeit führt zu keiner Mehrbelastung, die über das in der Gesellschaft übliche Maß von 81/3 Std./Tag hinausgeht, mit Ausnahme der Kleinkindphase. Allerdings führt der Ausbildungsbeginn der Kinder und die angenommene Beendigung der Mithilfe im Haushalt wieder zu Belastungen im Haushalt, die zu Lasten der Familienhausfrau gehen und auch dafür eine Begründung abgeben, daß Familienhausfrauen bei voller Erwerbstätigkeit Überlasten im Erwerbsberuf meiden müssen, da Überlasten im Familienbereich sehr häufig auch in der auslaufenden Familienphase auf sie warten. Das Rentenalter erreichen diese beiden Simulationsfamilien im Jahr 2030. Im ersten Fall sind die eigenständigen Rentenansprüche der Ehefrau sicher nicht höher als ein Taschengeld. Im zweiten Fall kann die Familienhausfrau, wenn auch deutlich niedriger als ihr Ehemann, aber doch auch schon nennenswerte Rentenansprüche geltend machen. Deutlich wird aus diesen sehr einfach modellierten Simulationen, welche Folgen Lebensweisekonzepte bzw. erhaltene und genutzte oder nicht gegebene Chancen zur Erwerbsbeteiligung von Ehefrauen oder Eltern auf die ökonomische Lage der Elternfamilie und ihre Kinder haben, Die Kinder in der Simulation I müssen ihr Bafög zurückzahlen, Die Kinder in der Simulation 11 verdanken der mütterlichen Erwerbsarbeit ihren ökonomisch günstigeren Start bei der eigenen Haushaltsgründung.
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Quelle: von Schweitzer. R. I Hagemeier. H.• 1994.
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Drei-Generationen-Solidarität -
Wunsch oder Wirklichkeit?
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11. Zur gesellschaftspolitischen Beurteilung im Blick auf Spannungen, aber auch neue Chancen im Generationenverbund 1. In der Vergangenheit ist immer wieder die Problemlage in der Altersversorgung diskutiert worden. Deren sozialpolitisches Gewicht wird unmittelbar deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß dieser Zweig der sozialen Sicherung inzwischen etwa 40 % des gesamten Sozialbudgets ausmacht. Die Frage der auf längere Sicht unausweichlichen Beitragsanhebung zur gesetzlichen Rentenversicherung stellt sich dabei inzwischen neu im Blick auf das Ziel, die Rentenleistung in den neuen Bundesländern voll dem westlichen Niveau anzupassen. Eine aktuelle zusätzliche Problematik bildet die Absicherung des Pflegerisikos . Dies ist nicht nur eine finanzielle Frage (auf die das neue Pflegeversicherungsgesetz von 1994 eine erste Antwort gibt), sondern auch eine Frage der sozialen bzw. personellen Dienstleistungen. Wie empirische Befunde zeigen, wird die finanzielle Unterhaltssicherung der nicht mehr erwerbstätigen alten Menschen als Leistung des kollektiven Sicherungssystems erwartet - heute mit zusätzlicher Absicherung der ungewöhnlich hohen Kosten bei stationärer Pflege - , während demgegenüber eine Generationensolidarität im Hinblick auf persönliche Unterstützungsleistungen ganz überwiegend auf der einzelfamilialen Ebene nach wie vor für selbstverständlich gehalten wird. Die Tendenz zur weiteren Erhöhung der Lebenserwartung wird den Bedarf an solchen personellen Dienstleistungen eher noch verstärken, weil mit zunehmendem Lebensalter die Hilfs- und Pflegebedürftigkeit tendenziell zunimmt. Gerade das Beispiel dieser Dienstleistungen für die Versorgung alter Menschen zeigt aber anschaulich, wie wenig die alte Generation für ihre Versorgung allein durch Kapitalbildung vorsorgen kann und wie entscheidend sie auf "versorgende Hände" angewiesen ist - ein Feld, auf dem übrigens die Rationalisierungsmöglichkeiten relativ begrenzt sind. Die Gesamtproblematik der Versorgung der alten Generation läßt sich nur voll verstehen und beurteilen, wenn sie auf dem Hintergrunde des Zusammenhangs der Drei-Generationen-Solidarität gesehen wird. Im Unterschied zur vorindustriellen Agrargesellschaft ist der Unterhalt der alten Generation heute weitgehend kollektiviert, während das Aufziehen der nachwachsenden Generation noch weitgehend bei den einzelnen Familien mit ihren sehr differenzierten Kinderhäufigkeiten (und demgemäß sehr unterschiedlichen Belastungen durch das Aufziehen der nächsten Generation) liegt. Etwa 45 % der heutigen Ehen haben, auf die gesamte Ehedauer gesehen, kein oder nur ein Kind, also unterdurchschnittlich viele Kinder; etwa 55 % haben zwei oder mehr Kinder, also überdurchschnittlich viele. Hier gilt es, daran zu erinnern, daß das auf dem Umlageverfahren beruhende intergenerative Umverteilungssystem der gesetzlichen Rentenversicherungen nur unter zwei elementaren Voraussetzungen funktioniert:
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Max Wingen
(1) der ökonomischen Voraussetzung, wonach die jeweils im aktiv-erwerbstätigen Alter stehende Generation bereit und in der Lage ist, ein ausreichend großes Sozialprodukt zu erstellen, aus dem die alte Generation mit versorgt werden kann, und
(2) der demographischen Voraussetzung, die als Sicherung der Generationenfolge zum Umlageverfahren hinzutreten muß. Sieht man diese beiden Funktionsvoraussetzungen in ihrer wechselseitigen Beziehung zusammen, so zeigt sich folgendes: Die tatsächliche Vorleistung der Erwerbstätigen für ihre jeweilige Sicherung im Alter setzt sich im Grunde aus zwei Bestandteilen zusammen, aus ihren monetären Versicherungsbeiträgen, aus denen die Renten der nicht mehr Erwerbstätigen finanziert werden, und zum anderen aus ihren "Investitionen", die sie in das Aufziehen und Erziehen der nächsten Generation stecken. 2 Hier lassen sich gegenwärtig erhebliche Ungleichgewichte ausmachen sowie Verzerrungen der Verteilungsgerechtigkeit. Unser Sozialversicherungssystem führt, wie es auch formuliert worden ist, "zu abnehmenden Zukunftsinvestitionen in Form von Kindern". 3 Man sieht, daß moderne Gesellschaften, die den Unterhalt der alten Generation auf kollektive Sicherungssysteme übertragen haben, sich auf ein "anthropologisch betrachtet, äußerst riskantes Experiment" eingelassen haben (F. X. Kaufmann): Sie haben eine der wesentlichsten Säulen der intergenerationellen Solidarität auf der einzelfamilialen Ebene beseitigt, von der übrigens ein unmittelbarer Zusammenhang zur Motivation zur Elternschaft vermutet wird. Solche Tendenzen sollten nicht noch begünstigt werden. Schon sieht man auch in der internationalen Diskussion (OECD) die Tendenz, bei der Aufteilung des Sozialprodukts auf die beiden inaktiven Gruppen die Gewichte in Richtung der alten Generation zu verschieben. Dies führt zu neuen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im Blick auf diejenigen Familienhaushalte, die gleichzeitig durch das Aufziehen mehrerer Kinder die Generationenfolge absichern. Diese Ungleichgewichte und Verzerrungen in der Verteilungsgerechtigkeit gilt es, über die vorhandenen familienpolitischen Ansätze hinaus weiter zu korrigieren. Dies sollte wohl weniger auf dem Weg über differenzierte Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung erfolgen als vielmehr - neben einer stärkeren Anrechnung von Erziehungs- (und Betreuungs-)zeiten in der Rentenbiographie - über eine Weiterentwicklung des bestehenden Familienlastenausgleichs. Den Hintergrund und die sachliche Legitimation für dessen nachhaltigen Ausbau bilden nicht bevölkerungspolitische Ziele, sondern bilden die erheblichen interge2 Der jüngste (5.) Familienbericht von 1994, an dem Heinz Lampert maßgeblich mitgearbeitet hat, stellt in besonderer Weise den Beitrag der Familien zur Bildung des "Humanvermögens" einer Gesellschaft heraus. Vergl. "Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland - Zukunft des Humanvermögens", BT-Drs. 12/7560, Bonn 1994. 3 P. Koslowski, Gerechtigkeit zwischen den Generationen (Die soziale Sicherung im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und staatlicher Daseinsvorsorge), in: FAZ 25.10.1986, S. 13.
Drei-Generationen-Solidarität - Wunsch oder Wirklichkeit?
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nerativen Lastenverschiebungen zwischen denen, die Kinder aufziehen, und denen, die dies aus im einzelnen honorigen Gründen nicht tun. Nur einige Stichworte müssen hier genügen: Um wenigstens dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Einkommensteuerfreiheit des Existenzminimums der Familien zu entsprechen, muß mit einem erheblichen zusätzlichen Finanzbedarf in Höhe mehrerer Milliarden gerechnet werden; dennoch wäre dies dann immer noch kein "eigentlicher Farnilienlastenausgleich" im Sinne generationensolidarischer Familienpolitik. Denn jenseits der Verwirklichung von Steuergerechtigkeit im Blick auf Kinder (= Einkommensteuerfreiheit des Existenzmin!mums) beginnt erst die sozialpolitische Umverteilung zugunsten derer, die sich am Aufziehen der nächsten Generation überdurchschnittlich beteiligen. In diesem Zusammenhang steht im Blick auf den Familienlastenausgleich mittelfristig eine Reform an, bei der es endlich auch um eine befriedigende Regelung der laufenden Anpassung der Ausgleichsleistungen an die Einkommens- und Preisentwicklung gehen muß. Vielleicht könnte ein kleiner, aber regelmäßiger Bericht der Regierung - aufgrund einer entsprechenden Vorschrift im Bundeskindergeldgesetz - über die Entwicklung des Realwerts der Leistungen des Familienlastenausgleichs eine Orientierungsgrundlage für solche Anpassungen im Sinne einer "mittelbaren Dynamisierung" darstellen. Besonders wichtig erscheint auch die Anrechnung von Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung parallel mit der Ausweitung der Gewährung des Erziehungsgeldes und des Angebots eines Erziehungsurlaubs. Alle drei Elemente - Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub und Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung - müssen in ihrer inneren Bezogenheit aufeinander gesehen und gemeinsam fortentwickelt werden. Insofern stellen die bisherigen Ausweitungen auf diesem Feld wichtige Schritte in die richtige Richtung dar. Hinsichtlich des Generationenverhältnisses in der kollektiven Altersversorgung ist angesichts einer stark zu strapazierenden Generationensolidarität grundsätzlich auch ein Verzicht auf feste Altersgrenzen im System der gesetzlichen Rentenversicherung problemangemessen. In der volkswirtschaftlichen Diskussion ist z. B. wie folgt auf diesen Gesichtspunkt nachdrücklich hingewiesen und die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umdenkens betont worden: "Das zentrale Problem in unserem Zusammenhang sind die Altersrentner mit hoher Qualifikation vom Industriemeister bis zum Wissenschaftler, die durchaus noch arbeiten können und wollen. Längsschnittuntersuchungen über die Beziehungen zwischen Alter und geistiger Entwicklung haben dazu geführt, daß das negative Altersstereotyp (Defizitmodell) durch das Kompetenzmodell abgelöst ist. Die Sozialpolitik hat davon noch nicht Kenntnis genommen. Wer nicht mehr in seinem Beruf tätig sein darf, verliert erst langsam, dann immer schneller den Anschluß (an neue Techniken und Organisationsformen). Das Kapital, das in seine Qualifikation investiert wurde (zum Teil von ihm selber), veraltet rasch und muß abgeschrieben
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Max Wingen
werden. Dabei könnte er durchaus seine Erfahrungen zum Nutzen der Jüngeren und der Firma weitergeben. Nun liegt Humankapital brach und ist bald nichts mehr wert. Man kann diesen Vorgang wohl nicht anders als Ressourcenverschwendung bezeichnen"4. Auf diesem Hintergrund ist ein relativ gesunder AItersrentner mit hoher Qualifikation als quasi eine "wandelnde Investitionsruine" (E. Tuchtfeldt) bezeichnet worden, als eine temporäre Fehlallokation menschlicher Ressourcen. So ist zu wünschen, daß die Einsichten verstärkt Boden gewinnen, die hinsichtlich der Kompetenz des alten Menschen insbesondere von der Alternsforschung in den vergangenen Jahren verstärkt unterstrichen worden sind. In diesem Zusammenhang sei übrigens auch an den Fachkongreß der baden-württembergischen Landesregierung schon vor einigen Jahren erinnert sowie auf den von der Vorbereitungskommission dazu vorgelegten Studienbericht "Chancen des Alterns". Die praktische Sozialpolitik hat allen Grund, eine Reihe von Anregungen aufzugreifen, die dem heutigen medizinischen und soziokulturellen Erkenntnisstand wie auch unserem humanen Verständnis vom arbeitenden Menschen entsprechen. Insbesondere die neuere Alternsforschung zeigt, wie notwendig es ist, in Gesellschaft und Wirtschaft gezielt darauf hinzuwirken, daß ein nicht selten negativ getöntes Klischee vom älteren Arbeitnehmer überwunden wird. Wie U. Lehr festgehalten hat, macht eine Analyse der relevanten Literatur seit dem Ende der 50er Jahre deutlich, daß seitens des Betriebes und der Gesellschaft dem älteren Arbeitnehmer immer weniger Fähigkeiten zugesprochen werden, daß er etwa seit Beginn der 70er Jahre bei uns immer negativer eingeschätzt wird und daß die Überzeugung von der Abnahme der beruflichen Leistungsfähigkeit Ende des 5. bzw. zu Beginn des 6. Lebensjahrzehnts eher noch an Boden gewinnt. Demgegenüber muß jedoch betont werden, daß stereotype Annahmen über Minderleistungen älterer Arbeitnehmer sich, geht man von den weltweit erhobenen Erkenntnissen moderner Gerontologie aus, als unhaltbar erwiesen haben. "In solchen Argumentationen wird von einem trotz vieler aufklärerischer Bemühungen immer noch weitverbreiteten, wenn auch längst wissenschaftlich widerlegten Defizitmodell des Alterns ausgegangen, das den älteren Menschen von vornherein leistungsgemindert darstellt und ihn geradezu automatisch in die Gruppe der Behinderten und nicht voll beruflich Einsetzbaren einreiht". 5 Um so wichtiger erscheinen daher längerfristig die Bestrebungen um eine weitere Flexibilisierung nicht nur der Altersgrenze, sondern auch der Erwerbstätigkeit selbst. Hier ist z. B. an einen gleitenden Übergang zu reduzierter Arbeitszeit auf freiwilliger Grundlage zu denken, wobei freilich die damit verbundenen Probleme für eine betriebliche Personalführung mit zu bedenken bleiben. So sehr E. Tuchtfeldt, in: Alfred-Weber-Korrespondenz, 1991. U. Lehr, Ältere Arbeitnehmer heute und morgen: Berufliche Leistungsfähigkeit und Übergang in den Ruhestand, in: L. Späth und U. Lehr (Hrsg.), Altem als Chance und 4
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Herausforderung, Band 1, Stuttgart / München / Landsberg 1990, S. 109 f.
Drei-Generationen-Solidarität -
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eine stärkere Flexibilisierung der Altersgrenze, gerade auch nach oben, im Einzelfall wichtig und förderungswürdig erscheint, so dürften davon zahlenmäßig allerdings insgesamt nur relativ geringfügige Entlastungseffekte im Blick auf demographisch bedingte Versorgungsengpässe bei qualifizierten Arbeitskräften ausgehen. Eine größere Flexibilität z. B. im Übergang zur Nacherwerbsphase bedeutet natürlich ein größeres Maß an individueller Entscheidungsfreiheit. Dabei ergeben sich dann auch interessante verteilungspolitische Aspekte: Wenn man einmal mittelfristig eine Spanne für den Übergang in das Ruhestandsalter zwischen 58 und 72 Jahren annimmt, würde das dazu führen, daß z. B. 68jährige oder 70jährige, die erst spät in Rente gehen, mit zur Finanzierung der Rentenleistungen für 59- oder 60jährige "Frührentner" beitragen. Damit ergäbe sich partiell eine Umkehr der herkömmlichen intergenerativen Unterhaltsströme, die es in sehr begrenztem Umfang allerdings bisher auch schon gibt. 2. Verschärfte Problemlagen im Generationenverhältnis sind auch auf der einzeljamilialen Ebene auszumachen. Im individuellen Lebenszusammenhang brechen absehbare gesamtgesellschaftliche Konfliktlagen u. U. schon sehr viel früher auf und führen gegenwärtig schon zu oft übermäßigen Spannungen. Darüber sollte freilich nicht übersehen werden, daß das Zusammenleben in den verschiedenen Familienformen in vielfältiger Weise Anlaß zur Bewährung von solidarischem Zusammenstehen der Generationen bietet. Vielleicht ist hier nach der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands ein besonders aktueller Hinweis angebracht: Unter den Bedingungen des totalitären Regimes in der ehemaligen DDR bildete die Familie in vieler Hinsicht ein Refugium für den einzelnen, aber gerade auch einen Ort praktischer Solidarität. Dabei erwies sich auch dort die wechselseitige Bedeutung der Generationen füreinander, nicht nur die Bedeutung der Kinder und Enkelkinder für die Großeltern, sondern auch der - dort mehrheitlich zwischen 45 und 50 Jahre alten Großeltern für die Kinder und Jugendlichen. "In diesem gegenseitigen Geben und Nehmen erfüllte sich der Sinn von Familie, bewährte sich Zusammenhalt im täglichen Leben, gegenseitiger Schutz, Solidarität und Geborgenheit, bildeten sich soziale Grundeinstellungen im zwischenmenschlichen Erleben heraus". 6 Gegenseitige Hilfe im wechselseitigen Generationenbezug aller Familienmitglieder bildete offensichtlich gerade auch in der ehemaligen DDR einen wichtigen, für junge Erwachsene ergänzenden Erlebnisinhalt von Familie. Künftig wird im geeinten Deutschland aber auch mit verschärften Problemlagen im Blick auf praktizierte Drei-Generationen-Solidarität in den einzelnen Familien gerechnet werden müssen. Wie insbesondere am schon angesprochenen Beispiel der Pflegeversicherung deutlich wird, dürften auf dem Hintergrund der 6 Zur Situation von Kindern und Jugendlichen in der DDR (Materialsammlung), im Auftrag des Volkskammerausschusses Familie und Frauen, Berlin, August 1990, S. 23.
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kleiner gewordenen Familien und der gleichzeitig verlängerten Lebenserwartung verstärkt Probleme zwischen den Generationen aufbrechen. Es scheint übrigens, als ob die Diskussion um die Pflegeversicherung den demographischen Strukturwandel erst richtig einer breiteren Öffentlichkeit bewußt gemacht hat. Speziell zum Bereich der familiären Dienstleistungen für die alte Generation hat der "Sachverständigen-Rat für die Konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen" (1990) nachdrücklich auf die vorprogrammierte rückläufige Entwicklung des "Pflegepersonenpotentials" hingewiesen. Seine Feststellung unterstreicht nur, was absehbar ist: Die reine Familienpflege dürfte längerfristig tendentiell an Gewicht verlieren, so hochbedeutsam sie weiterhin bleibt. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob künftig das Sterben sehr viel mehr aus dem Familienhaushalt hinausverlagert werden wird in Krankenhäuser und Altenheime. Schon ist auch die Horrorvision entwickelt worden, neben einer bisher noch unvorstellbaren unmenschlichen Automatisierung von Pflegeleistungen würden Pflegefälle etwa nach Nordafrika "exportiert" (R. Gronemeyer). Solche Perspektiven machen es verständlich, wenn die Politik verstärkt nach der solidarischen Leistung der Familie ruft. Die anstehenden Probleme seien nur mitfamiliarer Solidarität zu lösen. Hier wird man sich vor vorschnellen Pauschalurteilen hinsichtlich mangelnder Leistungen der Familien hüten müssen, etwa gar vor Urteilen über eine erhebliche Auflösung des familialen Zusammenhalts. Davon kann ernsthaft und jedenfalls generell auch dann nicht gesprochen werden, wenn dabei an den größeren, mehrere Generationen umfassenden Familienverbund gedacht wird. Hierzu sei auf den Vierten Familienbericht verwiesen, in dem die Sachverständigenkommission den Zusammenhängen um Familie und ältere Menschen nachgegangen ist. Die Analysen zeigen, daß im Miteinander der Generationen ältere Menschen keineswegs nur die Empfangenden sind, sondern daß sie selbst auch vielfältige Hilfen an Jüngere leisten. Diese Hilfsleistungen zwischen den Generationen erweisen sich von oft entscheidender Bedeutung, weil sie insbesondere im Notfall einsetzen. In diesem nach wie vor bestehenden Solidarverbund erbringen ältere Menschen nicht nur emotionale Unterstützung - nach der "Berliner Altersstudie" (BASE) "Altern und gesellschaftliche Entwicklung" sogar ganz vorrangig - , sondern geben z. B. auch in vielfältiger Art Geld oder größere Sachwerte an ihre Kinder oder auch Enkelkinder, sei es als regelmäßige Hilfe zum Lebensunterhalt, sei es als Hilfe für Anschaffungen und in Notsituationen (Familienhaushalt als Ort einer bisher wenig untersuchten "dritten Einkommensverteilung" !). Ein solcher Transfer zwischen den Generationen liegt übrigens auch in den offensichtlich deutlich anwachsenden Erbschaften; schon zeichnen sich angesichts der gleichzeitigen drastischen Rückgänge der Kinderzahlen in den Ehen Kumulationen bei vererbbarem Haus- und Grundbesitz in bisher so kaum gekanntem Ausmaß ab. Aber auch umgekehrt stellt sich - nach den Ergebnissen des Vierten Familienberichts - die mittlere Generation sehr wohl der Verantwortung für ihre Eltern
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mit allen Belastungen in einem Ausmaß, das in der öffentlichen Meinung nicht selten einfach unterschätzt wird. Von einem "Abschieben" der alten Menschen kann keine Rede sein. Auch gilt es hier, nicht vorschnell als Auflösung der Familie bzw. des Generationenverbunds anzuklagen, was unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen im Grunde sehr viel eher als Anpassungsprozesse begriffen werden muß. So sollte auch die Verantwortlichkeit den alten Eltern gegenüber um gegebene Grenzen wissen: "Nicht nur Kinder haben zu akzeptieren, was ihre Eltern nicht mehr können, sondern auch die alten Eltern haben zu akzeptieren, was ihre Kinder ihnen gegenüber nicht tun können, ohne die eigene Existenz, die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu gefährden oder gar die eigene Ehe aufs Spiel zu setzen" (S. 23). Wenn also Familien in diesem intergenerativen Leistungsverbund leistungsfähig sein und bleiben sollen, dann dürfen sie in dieser Situation auch nicht alleingelassen werden. Stichwortartig sind hier zu nennen: Anrechnung von Pflegezeiten in der "Rentenbiographie" des betreffenden Familienangehörigen (in Parallele zur Anrechnung von Kleinkindererziehungszeiten), wie künftig ab 1. 4. 1995 nach dem neuen Pflegeversicherungsgesetz der Fall; -
ganz wichtig der verstärkte Ausbau von Kooperationsformen von familialen, ambulanten und teilstationären sozialen Dienstleistungen.
Richtig verstandene Subsidiarität verlangt eine entsprechende gesellschaftsund familienpolitische Rahmengestaltung, damit Familien überhaupt das leisten können, was von ihnen erwartet wird. Dazu gehört dann das, was auch" generationensolidarische Familienpolitik" genannt werden könnte. 7 3. Besondere Beachtung verdient die Bedeutung familialer und vor allem außerfamilialer Netzwerke für die Stärkung der Solidarität zwischen den Generationen. Zu den Voraussetzungen dafür, daß sich familialer Zusammenhalt ausprä gen kann, daß sich Familie als dauerhafte und verläßliche soziale Lebensform mit stabilisierten Partnerschaftsbeziehungen (auf der Grundlage der Gleichberechtigung der Geschlechter) entwickeln kann, gehört unter den gewandelten soziokulturellen Bedingungen" der westeuropäischen Gesellschaften mehr denn je ein ausreichendes Maß an Offenheit gegenüber der Mitwelt, vor allem ein Angewiesensein auf informelle soziale Netzwerke, die nicht zuletzt für die Stärkung der Solidarität zwischen den Generationen wichtig sind.
7 Vergl. weiterführend vom Verf.: Zur Theorie und Praxis der Familienpolitik, Frankfurt am Main 1994, insbesondere die Abschnitte "Familienpolitik - Theoretische Grundlagen und praktische Probleme im Überblick", S. 3 ff., sowie ,,zur Tragweite der Familienpolitik in einer Rahmensteuerung der Bevölkerungs- und Geburtenentwicklung", S. 365 ff. - Siehe vom Ver! auch: Drei-Generationen-Solidarität in einer alternden Gesellschaft, Neuwied / Rh. 1988.
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In Abgrenzung von einem sehr weit gefaßten Begriff von (sozialem) Netzwerk, das z. B. auch das System der sozialen Sicherung oder Unternehmensverflechtungen umfaßt, kann sich das Verständnis von informellen sozialen Netzwerken auf einzelne Personen und ihre mehr oder weniger dauerhaften sozialen Beziehungen zu unterschiedlichen anderen Personen konzentrieren, wobei diese Netzwerke keine formelle Organisation aufweisen. Bleiben dabei auch sehr lockere Bindungen wie etwa zwischen Berufskollegen oder mehr oder weniger flüchtige Bekanntschaften außer Betracht, die ebenfalls Netzwerkfunktionen erfüllen können, lassen sich im Anschluß an W. Glatzer informelle soziale Netzwerke auf Personen mit den zwischen ihnen bestehenden sozialen Beziehungen beschränken, die sich aus Verwandten, Nachbarn und Freunden zusammensetzen. Die zentrale Leistung solcher Netzwerke besteht in der - kontinuierlichen oder auf aktuelle Notsituationen beschränkten - Gewährung von sozialer Unterstützung (Glatzer, 1986, S. 22), die als eine grundlegende Voraussetzung menschlicher Existenz gelten und aus materiellen oder immateriellen Unterstützungsleistungen bestehen kann, d. h. aus wirtschaftlichen Hilfen, personenbezogenen Dienstleistungen oder emotionaler Zuwendung bzw. auch der Vermittlung von Zugehörigkeitsgefühlen. Der Begriff des informellen sozialen Netzwerks wird zwar meist auf die soziale Umgebung der Haushalte und Familien bezogen; demgegenüber lassen sich aber auch Haushalte und Familien als Bestandteile eines Netzwerks sozialer Unterstützung des einzelnen auffassen, so daß - abweichend von dem sich üblicherweise auf haushaltsexterne Personen beziehenden Begriff des informellen sozialen Netzwerks - dann von einem haushaltsinternen Netzwerk gesprochen werden kann. Auf naher Verwandtschaft beruhende familiale soziale Netzwerke werden dabei angesichts der heutigen Zusammenlebensformen in den seltensten Fällen haushaltsinterne Netzwerke sein (dazu Näheres auch bei R. von Schweitzer). Im Ablauf der Lebensphasen werden sich im allgemeinen die zu einem sozialen Netzwerk gehörenden Personen und vor allem die zwischen ihnen bestehenden sozialen Beziehungen verändern. Damit der einzelne informelle Netzwerkunterstützung erhalten oder auch selbst erbringen kann, muß er in ein solches Netzwerk eingebunden sein. Dabei kann im Einzelfall ein reines Gegenseitigkeitsprinzip maßgebend sein, wesentlicher ist jedoch die Orientierung am Solidaritätsprinzip. Für die ehemalige Bundesrepublik liegen über die Einbindung älterer Menschen in informelle soziale Netzwerke u. a. Befunde aus den Wohlfahrtssurveys der 80er Jahre vor, die im folgenden referiert werden. 8 Bei deren Gewinnung wurde auch der Haushalt selbst als Bestandteil des sozialen Netzwerks des einzelnen gesehen, so daß sich für Mehrpersonenhaushalte zwischen dem haushalts internen und dem -externen informellen sozialen Netzwerk unterscheiden 8 W. Glatzer / R. Berger-Schmidt (Hrsg.), Haushaltsproduktion und Netzwerkhilfe, Frankfurt / New York 1986. Die Darstellung folgt hier unter Ziff. 3 im wesentlichen den dort vorgestellten Ergebnissen.
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läßt. Folgende Ergebnisse erscheinen (auch unter dem Gesichtspunkt der Entfaltung einer systematischen Familienpolitik) besonders wichtig: Hinsichtlich der Selbstversorgungsmöglichkeiten in den Haushalten älterer Menschen zeigte sich danach für die verschiedenen Hausarbeiten im einzelnen eine etwas unterschiedliche Abhängigkeit von Fremdhilfe, aber insgesamt eine deutliche Abstufung nach Alter und Haushaltstyp: Noch relativ hoch waren die Selbstversorgungsmöglichkeiten bei mit ihren Kindern zusammenlebenden Ehepaaren und Haushalten alleinstehender, aber nicht allein lebender Personen. Mittlere, aber mit zunehmendem Alter abnehmende Selbstversorgungsraten zeigten sich bei Haushalten zu zweit lebender Ehepaare. Am geringsten war die Fähigkeit zur eigenen Erledigung dieser untersuchten Hausarbeiten bei alleinlebenden Frauen über 75 Jahren. Im Vergleich zu den üblichen Hausarbeiten werden danach handwerkliche Arbeiten - in ähnlicher Variation nach Alter und Haushaltsstruktur - wesentlich häufiger an das informelle soziale Netzwerk oder an marktliche Einrichtungen übertragen. Der Selbstversorgungsgrad ist in bezug auf die anfallenden Hausarbeiten und handwerklichen Tätigkeiten bei den alleinlebenden und hier insbesondere bei den hochbetagten Frauen am geringsten. Besondere Hervorhebung verdient andererseits das relativ große Ausmaß, in dem ältere Personen (über 60 Jahre) andere pflegebedürftige oder behinderte Personen im eigenen Haushalt versorgen (überdurchschnittlich häufiger als Personen in jüngeren Lebensjahren) oder sich selbst als pflegebedürftig bezeichnen; fast in jedem fünften Haushalt der in die Analyse einbezogenen älteren Menschen lebten pflegebedürftige Personen. Damit wird insgesamt das große Pflegepotential innerhalb der Gruppe der älteren Menschen sichtbar. Dieses wird auf die Dauer wohl nur dann vor Überforderung bewahrt bleiben und umgekehrt für die noch steigenden Anforderungen auf dem Hintergrund des fortschreitenden Alterungsprozesses der Gesellschaft mobilisiert werden können, wenn hier verstärkt Kooperationsformen mit ambulanten und tei/stationären professionellen Hilfsdiensten entwickelt und im Rahmen einer familienbezogenen sozialen Infrastrukturpolitik dauerhaft zur Verfügung gestellt werden. Für das emotionale und soziale Wohlbefinden der älteren Menschen wirkt sich offensichtlich das Zusammenleben mit einem Ehepartner deutlich positiv aus. Der allgemeine Zufriedenheitsgrad ist nach diesen Befunden bei dieser Personengruppe höher als bei Alleinlebenden und Alleinstehenden, auch wenn letztere noch mit anderen Personen in einem Haushalt leben. "Der Ehepartner scheint durch andere Personen des sozialen Netzwerkes auch in hohem Alter nicht ersetzbar zu sein. " Wenn sich auf diese Weise gerade auch die hohe Bedeutung der Institutionen von Ehe und Familie für das Leben im Alter erweist, und zwar sowohl hinsichtlich der emotionalen wie der materiellen Unterstützung, so erfahrt damit eine auf die Stabilisierung dieser Institutionen abzielende Politik, aus der biographischen Sicht des einzelnen gesehen, eine zusätzliche Rechtfertigung. Insoweit dieser Befund freilich auch Ausdruck für eine gleichzeitige hohe Ehe-
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und Familienzentriertheit - insbesondere von Frauen - ist, muß auch deren Gefahr für das emotionale und soziale Wohlbefinden für den Fall des Verlustes des Lebenspartners gesehen werden. Um so wichtiger werden damit vor dem Hintergrund der tendenziell verlängerten durchschnittlichen Lebenserwartungen (für Frauen um ca. 6 - 7 Jahre höher als für Männer) auch entsprechende Bildungshilfen für ältere Menschen. Schließlich bleibt zu bedenken, daß künftige alte, besser ausgebildete und stärker auch außerhäuslich orientierte Frauengenerationen mit einem eventuellen späteren Alleinleben besser fertig werden dürften als bisher. Hinsichtlich der Sozialkontakte, die einen eigenen Auswertungsaspekt der Wohlfahrtssurveys darstellten, ergab sich insgesamt kein durchweg befriedigendes Bild. Im Unterschied zu verbreiteten Vorstellungen schätzte zwar über die Hälfte der älteren Menschen die eigenen Kontaktmöglichkeiten als "gut" ein. Aber auch über ein Drittel beklagte mangelnde Kontaktmöglichkeiten, was insbesondere für die über 74jährigen zutraf. Betrachtet man die Kontaktstrukturen unter der Voraussetzung, daß alle drei für informelle Beziehungen relevanten Personengruppen (Verwandte, Freunde und Nachbarn) berücksichtigt werden, so ergab sich, daß fast ein Drittel der älteren Menschen als relativ isoliert angesehen werden mußte. Angesichts der festgestellten relativ großen Bedeutung des Sozialkontakts zu Verwandten bleibt besonders zu bedenken, daß sich derartige Verwandtschaftsbeziehungen auflängere Sicht stark einschränken werden (relativ geringe Kinderzahlen in den nachrückenden Familien; Geschwisterarmut; Kinderlosigkeit, die sich insbesondere im fortgeschrittenen Alter spürbar bemerkbar machen wird). Schon vor Jahren wurde in der Alterssoziologie von der "Problemgruppe der Älteren ohne Familie" (Tews, 1979) bzw. von der "Risikogruppe der kinderlosen Alten" (Rosenmayr, 1983) gesprochen. Wenn aber informelle soziale Netzwerkleistungen andererseits so existentiell wichtig sind, wird insbesondere eine örtliche (kommunale ) Familienpolitik künftig verstärkt auf kompensatorische "Systeme" hinwirken müssen. So fragt sich, inwieweit hier eine "Renaissance" von Nachbarschaftshilfen möglich wird. Sie könnte unter Umständen anknüpfen an der für ältere Menschen ohnehin relativ hohen Bedeutung der nachbarschaftlichen Kontakte, die wegen der großen räumlichen Nähe für Netzwerkunterstützungen besonders wichtig bleiben. Im Rahmen informeller Netzwerkhilfen gewinnen haushaltsexteme Personen im Krankheitsfall hohe Bedeutung. In Fällen, in denen keine anderen Haushaltsmitglieder für Hilfeleistungen zur Verfügung stehen, wendet sich nach den vorliegenden Ergebnissen die Mehrzahl der Haushalte in erster Linie an Verwandte, erst danach ersatzweise an Freunde und Nachbarn sowie schließlich an öffentliche Stellen oder marktliehe Einrichtungen. Sowohl im Krankheitsfall wie auch in anderen Bedarfssituationen bestehen im Bezug auf Verfügbarkeit informeller Unterstützung offensichtlich kaum Unterschiede zwischen den verschiedenen Personengruppen differenziert nach Alter, Geschlecht, Familienstand und Haushaltsstruktur, so daß insoweit wohl nicht von einer deutlich benachteiligten Grup-
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pe gesprochen werden kann. Ein Vergleich der Verfügbarkeits- und der Nutzungsraten infonneller Unterstützung zwischen den älteren und den jüngeren Generationen ergab, daß die älteren Menschen insgesamt weniger Unterstützung erhalten als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die in infonnelle soziale Netzwerke eingebundenen älteren Menschen sind nicht nur Empfangende, sondern auch Leistende. Das Engagement von älteren Menschen infonneller Netzwerkhilfe wird dabei wohl hauptsächlich von zwei Faktoren beeinflußt, nämlich erstens von der mit zunehmendem Alter geringer werdenden körperlichen Belastbarkeit und zweitens von dem Muster der herkömmlichen geschlechts spezifischen Arbeitsteilung. Letztere wirkt sich dahin aus, daß ältere Frauen im allgemeinen im häuslichen Bereich helfen, während ältere Männer eher handwerkliche oder Gartenarbeiten übernehmen. Wenn sich ältere Menschen in (haushaltsexternen) infonnellen Netzwerkhilfen engagieren, so bleibt der gleichzeitige Befund zu bedenken, daß ältere Menschen relativ häufiger als Menschen in jüngeren Lebensjahren im eigenen Haushalt andere Personen zu versorgen haben. Hier ist auf die relativ hohe Zahl älterer Pflegebedürftiger zu verweisen, die in Haushalten zu zweit lebender alter Ehepaare versorgt werden. Insgesamt haben wir es mit einem intergenerationellen gegenseitigen Austausch von Hilfeleistungen zu tun, über dessen Ausmaß weitere, detailliertere Infonnationen erwünscht wären. Der Aspekt eigener Leistungen seitens der älteren Menschen kann zusätzliche Bedeutung gewinnen, wenn von den politischen Rahmenbedingungen her Voraussetzungen verbessert werden, soziale Netzwerkbeziehungen auch innerhalb der Gruppe der älteren Menschen (intragenerative Netzwerkbeziehungen) verstärkt zu entwickeln. Dies dürfte angesichts fortschreitender demographischer Alterungsprozesse in der Gesellschaft künftig verstärkt erforderlich werden. 4. Auch unter dem Aspekt der sozialen Integration der ausländischen Mitbürger wird das Verhältnis der Generationen zusätzlich überdacht werden müssen. Hierzu sei auf einen Forschungsbericht verwiesen, den die Familienwissenschaftliche Forschungsstelle im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg zum Problem der sozialen Integration ausländischer Kinder und Jugendlicher schon vor längerer Zeit vorgelegt hat. 9 Über die Überwindung von Defiziten in der Berufsausbildung ausländischer Jugendlicher hinaus (auch der Mädchen!) gilt es zu sehen, daß nicht wenige Ausländer der ersten Generation, die jetzt in das Rentenalter kommen, offensichtlich frühere Lebenspläne geändert haben und in Deutschland bleiben wollen. Dazu trägt sicherlich auch die Erfahrung mit der sozialen und medizinischen Versorgung bei. Damit aber ergibt sich die Notwendigkeit, 9 Die junge Ausländergeneration Zur Lebenssituation ausländischer Kinder und Jugendlicher in Baden-Württemberg, bearbeitet von 1. Comelius, M. Steiner und Th. Schwarz, Familienwissenschaftliche Forschungsstelle im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg, hrsg. vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit, Familie und Frauen Baden-Württemberg, Stuttgart 1991.
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auch ausländische Senioren verstärkt in die Altenarbeit einzubeziehen. Im politischen Raum wird in diesem Zusammenhang sogar darüber nachgedacht, ob nicht verstärkt ausländische Pflegekräfte gewonnen werden müssen, weil es auch darauf ankommen könnte, nationalen Besonderheiten dieser alten Ausländer möglichst gerecht zu werden. 5. Die Frage nach einer Zerreißprobe für die Drei-Generationen-Solidarität wäre sicherlich sehr unvollkommen beantwortet, wenn nicht wenigstens noch kurz auf den Aspekt der äußeren Umweltbedingungen hingewiesen würde, unter denen nachfolgende Generationen zu leben haben werden. O. von Nell-Breuning hat gelegentlich sehr leidenschaftlich von dem "ungeheuren Raubbau" gesprochen, den die lebenden Generationen an der Erde trieben und den es zu stoppen gelte. Die inzwischen lebhaft diskutierte Aufgabe der Bewahrung der Schöpfung ist eine Aufgabe, die sich weniger in der Verantwortung für die gegenwärtig lebende Erwachsenengeneration stellt als vielmehr in der Verantwortung für die teils noch gar nicht geborenen Generationen. In jüngerer Zeit spricht man auch von einem "ökologischen Generationenvertrag"; vielleicht ist dieser besser einzulösen, wenn der Umweltschutz als eine Staatszielbestimmung in das Grundgesetz aufgenommen ist. Heute getroffene (oder unterlassene) Entscheidungen bestimmen maßgeblich mit über die Lebensbedingungen nachfolgender Generationen. Dafür aber tragen wir unabweisbar eine "Fernverantwortung", um mit H. Jonas zu sprechen. 6. Die Lösung der damit - ausschnitthaft - sichtbar gewordenen Aufgaben ist nicht ohne finanzielle Anstrengungen der Gesellschaft zu haben. Hier darf aber nicht vorschnell der Weg in immer größere Staatsverschuldung gegangen werden. Unter sozialethischem Aspekt ist an die Feststellung zu erinnern, die die deutschen Bischöfe schon 1980 in ihrem Aufruf anläßlich der damaligen Bundestagswahl trafen. Heute stehen wir erst recht in der Gefahr, "über unsere Verhältnisse zu leben und damit die Lebenschancen unserer Kinder zu belasten", wie es damals hieß. Hier gilt es, einen verantwortlichen Konsens zu finden, der nicht zu Lasten nachfolgender Generationen geht. Wie lange werden sich hier noch einigermaßen problemlos politische Mehrheiten dafür finden lassen, wenn gleichzeitig die alten Menschen relativ immer größeres Gewicht innerhalb der Wählerschaft erhalten?
III. Schlußbemerkung Abschließend sei die bestimmende Rolle der Bewußtseinsänderung hervorgehoben, wenn es um die Probleme der Sicherung der Drei-Generationen-Solidarität in der Gesellschaft von morgen und übermorgen geht. Bei den angesprochenen Aspekten dürfte durchweg deutlich geworden sein, wie entscheidend es auch
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auf entsprechende Veränderungen in der Bewußtseinshaltung der Gesellschaftsrnitglieder ankommt. Die Bedeutung solcher Bewußtseinsänderungen läßt sich in mehrfacher Richtung mit folgenden Stichworten bezeichnen: -
Sie erscheinen wichtig für die Akzeptanz gesellschaftspolitischer Maßnahmen, die durch die demographischen Strukturveränderungen und die neuen sozialpolitischen Herausforderungen notwendig werden;
-
politische Anstrengungen müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen, durch Verhaltensänderungen der vielen einzelnen begleitet und flankiert werden, und zwar bis hin zur veränderten Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in den Generationenbeziehungen (vor dem Hintergrund eines erweiterten Arbeitsverständnisses );
-
schließlich wird vom einzelnen ein Beitrag zur qualitativen Verbesserung seiner Nacherwerbsphase erwartet werden müssen, die sich durch den Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung immer mehr verlängert hat, was nicht zuletzt eine Bildungsaufgabe darstellt.
Wenn in diesem Zusammenhang gerne - und mit Recht - davon gesprochen wird, wie sehr es darauf ankomme, das Alter aktiv zu gestalten, dann muß eine generationensolidarische Gesellschaftspolitik gezielt die Voraussetzungen dazu verbessern, daß diese notwendige aktive Gestaltung seitens des einzelnen gelingen kann. Zugleich bleibt freilich - schon um der Ausprägung ideologischer Positionen in der Sozialpolitik vorzubeugen - immer wieder auch daran zu erinnern, daß die Generation der alten Menschen nicht nur aus gesunden und noch hoch aktiven Personen besteht. Zu Eingang wurde eine (Teil-)Antwort auf die im Thema enthaltene Frage dahin gegeben, die Drei-Generationen-Solidarität werde mit ziemlicher Sicherheit nicht zerreißen, aber arg strapaziert werden. Eine zweite Antwort ist nach dem Problemaufriß nunmehr hinzuzufügen: Die Bewältigung der Belastungen der Drei-Generationen-Solidarität wird um so leichter sein, je mehr eine gesellschaftspolitische Rahmengestaltung, nicht zuletzt auch eine generationensolidarische Familienpolitik, Hand in Hand geht mit Bewußtseinsänderungen auf der Ebene der vielen einzelnen und ihrer Familien. Für die mit Fragen der Altenpolitik befaßten Organisationen und gesellschaftlichen Gruppierungen ist dies Grund genug, die Sozial- und Familienpolitik weiterhin kritisch zu begleiten und ihre eigenen Bildungsanstrengungen nicht nur konsequent fortzusetzen, sondern auch auf neue Erfordernisse hin auszurichten. Speziell für die Familienpolitik dürfte damit zugleich eine neue Dimension sichtbar geworden sein: Sie hat bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen familialen Zusammenlebens von einem Leitbild auszugehen, das "Familie" nicht nur auf Eltern mit heranwachsenden Kindern begrenzt, sondern die Familien auch in ihrer Verantwortung in der Abfolge der Generationen und des Lebensverlaufs der Menschen sieht. Sie hat dafür Sorge zu tragen, daß dieses Netzwerk 19*
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mit den daran beteiligten Personen nicht überstrapaziert wird. Dabei gilt es, wie schon der Vierte Familienbericht festgehalten hat, darauf hinzuwirken, daß auch das Bildungssystem dem älteren Menschen und dem Älterwerden noch mehr Aufmerksamkeit schenkt als bisher, daß die Nicht-Erwerbstätigen zu gesellschaftlich sinnvoller Arbeit herausgefordert werden und daß das Gesundheits- und Risikosicherungssystem nicht nur auf Pflege, sondern noch stärker auch auf Vorsorge und Rehabilitation eingeht. Selbsthilfe der älteren Menschen und ihrer Familien setzt dabei stets voraus, daß flankierende Fremdhilfen im erforderlichen Ausmaß sichergestellt sind. Die Stärkung der Solidarität zwischen den Generationen und der Abbau vermeidbarer Generationenkonflikte werden mit darüber entscheiden, inwieweit unsere Sozialund Familienpolitik dem Anspruch gerecht wird, zukunftsorientierte gesellschaftliche Strukturpolitik zu sein. Sie bedarf dazu in einer demokratischen Gesellschaft der Mitwirkung möglichst vieler, die sich für die Zukunft unserer Gesellschaft verantwortlich wissen. 10 Auf den Beitrag der älteren Menschen mit ihrer Lebenserfahrung und Kompetenz sollte dabei auf gar keinen Fall verzichtet werden.
10 Das Bundesministerium für Familie und Senioren hat (bis Sept. 1994) einen Wettbewerb "Solidarität der Generationen" ausgeschrieben, der Einzelpersonen, Initiativen oder Organisationen auszeichnet, die sich um die Förderung von solidarischen Beziehungen zwischen jung und alt sowie Älterer untereinander verdient machen. Einige Beispiele, auf die der Wettbewerb abzielt: - Nachbarschafts-Initiativen, die Ältere in ihren Wohnungen versorgen, - Großelterndienste, die sich um das Mittagessen berufstätiger Eltern kümmern, - ältere Menschen, die für Pflegebedürftige Besuchsdienst organisieren, - Schulklassen, die Älteren beim Einkauf helfen. Gleichzeitig gestalten die Älteren den Geschichtsunterricht mit und geben ihre Erfahrungen weiter. Als Anerkennung für herausragende Beispiele werden Preise (aus einem Fonds von 60.000 Mark) vergeben.
D. Neue Dimensionen in der staatliche Sozialpolitik
Bildungs- und Beschäftigungssystem Parallelen, Widersprüche, Lösungsvorschläge Von Friedrich Buttler
I. Es war einmal Vor einem Vierteljahrhundert, also zur Zeit der studentischen Protestbewegung um 1968, herrschte Vollbeschäftigung. Studentische Sorgen waren andere als heute. Nicht die qualifizierte Integration der Hochschulabsolventen in den Arbeitsmarkt, sondern die Abwehr von Ansprüchen des Erwerbssystems an Hochschulausbildung und der Anspruch auf den emanzipatorischen Charakter von Hochschulbildung standen im Vordergrund der Debatte. Wer von Ausbildung sprach, konnte leicht in den Verdacht geraten, nicht Bildung zu meinen. Zur gleichen Zeit entstand das Arbeitsförderungsgesetz. Heinz Lampert hat die Entstehung des AFG und die anschließende Entwicklung 1989 in einem heute noch sehr lesenswerten Aufsatz ,,20 Jahre Arbeitsförderungsgesetz" kommentiert (Lampert 1989). Im Entstehungs- und Begründungszusammenhang dieses Gesetzes wurden beruflicher Bildung und Weiterbildung zentrale Bedeutung für einen hohen Beschäftigungsstand, die Verbesserung der BeschäftigungsstruktUf und damit das Wirtschafts wachstum (§ 1 AFG) zuerkannt. Anders als heute sollte die Förderung der beruflichen Bildung ein zusätzliches Erwerbspersonenpotential für den Wachstumsprozeß mobilisieren und qualifizieren. Heute dagegen ist der zeitweilige Potentialentzugs- und damit Arbeitslosigkeitsentlastungseffekt zumindest ein erwünschtes Nebenergebnis beruflicher Weiterbildung. Das gilt insbesondere im Transformationsprozeß in den neuen Bundesländern. Tempora mutantur. Auch unter den veränderten Vorzeichen am Arbeitsmarkt bleibt das Verhältnis von Bildung und Ausbildung ein zentrales Thema. Freilich geht es darum, die Gewichte neu zu justieren. Dazu stelle ich fest: -
Die Ansprüche an Bildung bzw. Ausbildung sind heute nicht so kontradiktorisch wie in der seinerzeitigen Debatte artikuliert wurde, allgemeine und berufliche Bildungsinhalte werden eher als komplementär angesehen. Im Wertewandel beobachten wir immerhin eine Parallelität des Interesses von Bildungs- und Berufswählern an Selbstverwirklichung in anspruchsvoller und eigenverantwortlicher Tätigkeit mit Tendenzen des Qualifikationsbedarfs, freilich auch eine Relativierung des Stellenwerts der Erwerbsarbeit.
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Das Bildungsverständnis der Gesellschaft verändert sich im Zuge der Bildungsexpansion und in der Reflexion über das Verhältnis von Theorie und Praxis. Wo gestern noch die - tatsächlich nicht gewährleistete - Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung programmatisch postuliert wurde, weisen heute Signale für morgen auf eine Expansion dualer Bildungs- und Ausbildungsformen hin.
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Die demokratische Gesellschaft muß sich als offene Bildungsgesellschaft gleichwohl hüten, bei der Versöhnung von Bildungs- und Ausbildungsansprüchen blind gegenüber einseitiger Inanspruchnahme zu werden.
11. Bildungsökonomie und Humankapitaltheorie Die 60er und der Beginn der 70er Jahre waren tatsächlich zugleich die Hochzeit der Bildungsökonomie und ihrer Humankapitaltheorie, der Bildungsexpansion und auch der Bildungsplanung. All dies hat nachhaltige Veränderungen im Bildungsverhalten der Bevölkerung, in betrieblicher Personalwirtschaft, im allgemeinen und beruflichen Bildungssystem induziert. Berufliche Weiterbildung entwickelt sich neben allgemeiner Schulbildung, beruflicher Ausbildung im dualen System und Studium zur vierten Säule des Bildungssystems. Das Humankapital wird zum wichtigsten Produktionsfaktor. Der an den Ausgaben für Bildung und Ausbildung gemessene ökonomische "Wert" des Humanvermögens aller Erwerbspersonen in Westdeutschland entspricht heute fast der Hälfte des gesamten Sachvermögens an Bauten, Ausrüstungen, Verkehrswegen usw. 1970 hatte dieses Verhältnis noch bei 3,2: 1 und in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen noch bei etwa 5 bzw. 4 : 1 gelegen. Angesichts der Knappheit physischer Ressourcen und Rohstoffe und der zunehmenden internationalen Konkurrenz dürfte das Humankapital für den Standort weiter an Gewicht gewinnen. Dies ist für die Entwicklung des Bildungssystems von großer, freilich nicht alleiniger Bedeutung, denn der Wert von Bildung und Ausbildung läßt sich nicht allein von der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt her bestimmen, sondern hat auch einen hohen Stellenwert für die demokratische und kulturelle Entwicklung und damit die Teilhabe des einzelnen an der Gesellschaft. In den letzten drei Jahrzehnten hat die Qualifikation der Arbeitskräfte deutlich zugenommen. Der Anteil der Ungelernten halbierte sich von über 40 % auf knapp 20%. Arbeitskräfte mit beruflicher Qualifikation, die Ende der 50er Jahre noch etwa die Hälfte aller Erwerbstätigen stellten, sind heute zu zwei Dritteln vertreten. Der Akademisierungsgrad stieg von rd. 4% auf über 12% an (Buttier / Tessaring 1993).
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111. Auflösung traditioneller Standardbiographien in der offenen Bildungsgesellschaft Die Bildungsplanung hat in diesem Prozeß einen teilweisen Bedeutungsverlust erlitten. Unverzichtbar bleibt sie für eine quantitativ und qualitativ zeitgerechte Bereitstellung von Bildungseinrichtungen, soweit die Gesellschaft darin eine öffentliche Aufgabe sieht. Als Bevormundungssystem für individuelle Bildungsschicksale hat sie freilich spätestens 1989 in der DDR ausgedient, ebenso als Lenkungsinstrument individueller Bildungsnachfrage in der offenen Bildungsgesellschaft. Die Entwicklung des Bildungsverhaltens von Eltern und Jugendlichen ist über bisherige Schranken hinweggegangen und die Bindung bisheriger Standardbiographien - z.B. der Weg von der Volksschule über die Lehre zum Facharbeiter bzw. von der Mittleren Reife über die Lehre zum Angestelltenbzw. vom Gymnasium über das Studium zum Akademiker - an bestimmte Bevölkerungsschichten hat sich gelockert: Die Durchlässigkeit ist größer geworden und die Bildungsnachfrage wird sich nicht planerisch in alte Bahnen zurücklenken lassen. Vielmehr kommt es darauf an, Ungleichgewichte im Verhältnis von Bildungs- und Beschäftigungssystem dadurch zu verringern, daß Ausbildungen, die an Attraktivität verloren haben, wieder attraktiver gemacht werden und die Durchlässigkeit nach Neigung, Eignung und Leistung weiter verbessert wird. Dabei muß Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung ein zentrales Ziel der Entwicklung des Bildungs- und Ausbildungssystems sein. Über die Attraktivität wird nicht nur im Bildungssystem selbst entschieden, sondern vorzugsweise auch am Arbeitsmarkt. Vorsicht ist immer dann geboten und sorgfältige Nachfrage ist angezeigt, wenn quantitative Lenkungsvorstellungen mit dem Argument Geltung beanspruchen, das Bildungssystem nehme zunehmend ungenügend Begabte auf. Literarisch ist das ein alter Topos im Urteil Älterer über jüngere Generationen. Freilich muß das Argument im konkreten Fall nicht schon deshalb falsch sein, weil es so wohlfeil ist. Es muß aber jeweils der empirische Beleg eingefordert werden.
IV. Zukunftsszenarien über Qualifikationsbedarf Möglichkeiten und Grenzen Projektionen können die Zukunft nicht vorhersagen, sondern nur das Spektrum künftiger Entwicklungen unter bestimmten Annahmen abstecken. Sie unterliegen vielfältigen Unsicherheiten und sind demzufolge stets als Modellrechnungen zu verstehen, die vor unerwünschten Entwicklungen warnen, die Wege zur Erreichung bestimmter Ziele oder die Auswirkung politischer Maßnahmen aufzeigen wollen. Sie können politische Gestaltung keineswegs ersetzen - allenfalls begründen - und eignen sich als Richtschnur für die Ausbildungs- und Berufswahl des einzelnen nur in sehr eingeschränktem Maße.
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Vorliegende Projektionen des künftigen Qualifikationsbedarfs (vgl. Buttler / Tessaring 1993) in Deutschland kommen weitgehend übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß der Bedarf an qualifizierten und hochqualifizierten Arbeitskräften in den kommenden zwei Jahrzehnten weiter ansteigt, wenn dem langfristigen Strukturtrend des Beschäftigungssystems, den Anforderungen neuer Techniken, veränderter Produktions- und Organisationskonzepte in den Betrieben sowie der Ausbildungsnachfrage der Bevölkerung gefolgt wird - wenngleich hier vie1fältige Unsicherheiten in der Einschätzung der künftigen Entwicklung, auch des Arbeitskräfteangebots, eingeräumt werden müssen. In allen Bereichen der Wirtschaft werden Arbeitsplätze für Ungelernte abgebaut; ihr Anteil dürfte bis zum Jahre 2010 auf nahezu 10% gesunken sein. Personen mit mittlerer Qualifikation werden für gut 70 % und Hochschulabsolventen für 15 % bis 18 % aller Arbeitsplätze benötigt werden. Die Projektionen zeigen - trotz aller Unterschiede in den Methoden und Datengrundlagen - zum einen, daß die Grundstrukturen und ihre Entwicklung sehr ähnlich vorausgeschätzt werden. Zum zweiten verdeutlichen ihre Unterschiede aber auch, daß Politik und Planung angesichts der Probleme von Vorausschätzungen in Bandbreiten denken und Entscheidungen unter Unsicherheit treffen müssen. Die Ursachen für den steigenden Qualifikationsbedarf sind vielschichtig. In allen Bereichen steigen die Qualifikationsanforderungen beständig an. Die Beschäftigung in der Warenproduktion geht zurück zugunsten eines steigenden Anteils der Dienstleistungsbranchen. Diese waren in den 80er Jahren die bedeutendsten Wachstumsbranchen. Damit einher geht eine zunehmende Dienstleistungsorientierung der Arbeitsaufgaben - auch im Produktionssektor haben inzwischen fast 40 % aller Arbeitsplätze Dienstleistungscharakter. Unter den produktionsorientierten Tätigkeiten gewinnen anspruchsvolle Aufgaben des Einrichtens, Steuerns und Wartens von Maschinen und Fertigungsanlagen an Bedeutung, unter den Dienstleistungen entfallen viele Hilfstätigkeiten, deren Aufgaben an integrierten Arbeitsplätzen miterledigt werden. Hier wie dort werden Routinearbeiten, auch und insbesondere durch den Einsatz neuer Techniken, mehr und mehr abgelöst durch prozeßorientierte, übergreifende Arbeitsinhalte, die auch höhere Anforderungen an die Handlungskompetenz und Qualifikation auf allen Ebenen stellen. Neue Produktions- und Organisationskonzepte können zu flacheren Hierarchien führen, indem sie die Mitarbeiterkompetenz und -verantwortung dezentralisieren. Das bedeutet steigende Qualifikationsanforderungen auch auf mittleren Positionen. Dort, wie auf den Führungsebenen, sind Innovation und Kreativität - gestützt auf kontinuierliche Weiterbildung - gefragt. Die mittleren Positionen sind teils Einsatzfeld von Hochschulabsolventen, die in ehemalige Aufstiegsbereiche von betrieblich qualifizierten Fachkräften vordringen, teils bleiben sie Einsatzfeld und eröffnen in Überschneidungsbereichen auch Aufstiegsmöglichkeiten für letztere. Dies gilt insbesondere dann, wenn Fachkräfte - wie es die neuen
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Ausbildungsordnungen im dualen System der Berufsausbildung vorsehen - ihre Aufgaben selbständig planen, durchführen und kontrollieren können. Der Einsatzbereich von Hochschulabsolventen war und ist nicht automatisch die Führungsebene; schon traditionell besetzen sie die gehobenen Positionen der mittleren Ebene, als Lehrer, in Verwaltungs-, Rechts- und Freien Berufen, in Stabsfunktionen, als Wissenschaftler, Ingenieure usw. Mit wachsenden Absolventenzahlen, aber auch mit steigenden Anforderungen der Arbeitsplätze, werden sich diese Zuordnungen verändern: Mehrere Millionen Akademiker können nicht zu den "oberen Zehntausend" gehören, wohl aber zu den "oberen fünf oder sechs Millionen" . Angesichts der zunehmenden Wettbewerbsfahigkeit südostasiatischer Volkswirtschaften und attraktiver Produktionsstandorte in unserer unmittelbaren ostmitteleuropäischen Nachbarschaft wird die deutsche Wirtschaft ihre Wettbewerbsposition vor allem anderen mit intelligenten, hochwertigen und innovativen Gütern, Diensten und Produktionsverfahren sichern müssen. Die neue Herausforderung liegt darin, daß andere Mitbewerber technologisch teilweise gleichgezogen haben oder weiter sind, daß die Imitationskonkurrenz Vorsprünge schneller aufholt, und daß die neuen Wettbewerber mit weit niedrigeren Lohnkosten produzieren. Wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht oder möglichst wenig in Lohnkonkurrenz einzutreten gezwungen werden will, muß das Produktivitätswachstum deutlich gesteigert und der im Gefolge der Wiedervereinigung und der Hochkonjunktur bis 1991/92 eingetretene Produktivitätsstau aufgelöst werden. Produktivitätssteigerungen können nur durch Beschleunigung des Strukturwandels gemeistert werden, wobei der Qualifizierung und Re-Qualifizierung besondere Bedeutung zukommt. Steigende Qualifikation auf allen Ebenen erfordert eine höhere Priorität für Bildungs-, Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiepolitik. Zur Verbesserung unserer internationalen Wettbewerbsposition ist also ein hohes Niveau der Aus- und Weiterbildung conditio sine qua non. Ergänzend sind aber auch Qualifikationsmaßnahmen für Arbeitskräfte geboten, die im unteren Bereich der Produktivitätstreppe stehen und die ohne eine solche Qualifizierung überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeitsrisiken ausgesetzt bleiben.
V. Bewertung der Ausbildung im Beschäftigungssystem Die Bewertung der Ausbildung im Beschäftigungssystem spiegelt - und hieran hat sich im Zeitablauf kaum etwas geändert - deren hohe Bedeutung eindrucksvoll wider. Ungelernte tragen - obwohl ihr Anteil und ihre Zahl stark rückläufig sind - die weitaus höchsten Risiken der Arbeitslosigkeit, und ihr Humankapital ist mit 85 % am wenigsten ausgelastet. Die Arbeitslosigkeit der
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Gelernten, gleich welcher Qualifikationsstufe, ist dagegen unterdurchschnittlich, ihr Auslastungsgrad bewegt sich bei 95 %. Auch in den neuen Ländern hat sich - bei höherem Niveau der Arbeitslosigkeit - im Laufe des Transformationsprozesses eine ebenso eindeutige Rangordnung der Arbeitslosigkeit zugunsten der qualifizierten und insbesondere hochqualifizierten Personen herausgebildet. Rezessionsbedingt steigt allerdings auch die Arbeitslosigkeit der Fachkräfte und Hochschulabsolventen an, bei den letzteren auch in den Fächern, die bisher weitgehend begünstigt wurden (Chemiker, Ingenieure, Physiker). Hier sollte zudem bedacht werden, daß junge Hochschulabsolventen in der Arbeitslosenstatistik untererfaßt sind, weil ein Großteil von ihnen normalerweise keine Leistungsansprüche hat und dementsprechend auch andere Suchwege einschlägt. Längere Suchphasen nach dem Studium sind aber nicht erst in jüngster Zeit zu verzeichnen; aktuelle Entwicklungen sollten daher keinen Anlaß zu Fehleinschätzungen des mittel- und längerfristigen Qualifikationsbedarfs geben. Ein hilfreiches Überbrükkungsinstrument ist die Einstellung junger Absolventen auf Teilzeitbasis für eine Übergangszeit. Auch andere Indikatoren belegen den engen Zusammenhang zwischen Ausbildungshöhe und Beschäftigungsposition und damit die "Bildungsmeritokratie" unserer Gesellschaft. Die Einkommensverteilung nach Qualifikationsebenen und auch die Renditen einer weiterführenden Ausbildung zeigen, daß sich Ausbildung nach wie vor lohnt. In engem Zusammenhang damit nehmen Hochschulabsolventen in der betrieblichen Hierarchie weithin die höheren Positionen ein - Absolventen des dualen Systems haben bisher ungleich geringere Aufstiegschancen. Zudem sind nahezu 30% aller betrieblich ausgebildeten Fachkräfte auf An- oder Ungelerntenarbeitsplätzen eingesetzt, wenn auch oft mit höheren Einkommen, als sie in ihrem Ausbildungsbetrieb erzielt hätten; von den Hoch- und Fachhochschulabsolventen sind maximal 14 % in Positionen beschäftigt, die eindeutig unterhalb ihres Qualifikationsniveaus liegen. Auch die Weiterbildungsteilnahme als wichtige Voraussetzung der Qualifikationserhaltung und -erweiterung, der Sicherung des Arbeitsplatzes und des beruflichen Aufstiegs zeigt gruppenspezifische Unterschiede: Nach wie vor nehmen Hochschulabsolventen überdurchschnittlich häufig an Weiterbildung teil; die Beteiligung mittlerer Fachkräfte liegt, obwohl steigend, immer noch unter dem Durchschnitt, vor allem für die Altersgruppen über 45 Jahre. Für das Humankapital ist Weiterbildung das, was für das Sachkapital die Pflege, Erneuerung, Instandhaltung etc. ist; unterbleibt sie, verliert das Kapital an Wert.
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VI. Die Attraktivität der Teile des Bildungssystems wird über den Arbeitsmarkt vermittelt Angesichts dieser Befunde ist es notwendig, daß Bildungsreform das gesamte Bildungssystem und seinen über den Arbeitsmarkt vermittelten Attraktivitätszusammenhang in den Blick nimmt. Das gilt also für das allgemeinbildende Schulwesen, die berufliche Bildung im dualen System, die Hochschulausbildung und die berufliche Weiterbildung. Im Zusammenhang mit den Reformerfordernissen ist nicht nur über Geld zu sprechen, aber auch darüber. Jedenfalls ist es bedenklich, daß Bildungspolitik in Deutschland, gemessen am Anteil des Bildungsbudgets am Bruttoinlandsprodukt, an Bedeutung verloren hat. Für Westdeutschland betrug dieser Anteil ausweislich der Grund- und Strukturdaten des BMBW 1980 5,2 %, 1985 4,6% und 1992 4,2% (BMBW 1993). Im Rahmen beruflicher Bildung bestehen Reformerfordernisse bei der Erhöhung der Attraktivität der betrieblichen Lehre, bei der Verbesserung der Studienbedingungen in den Hochschulen und bei der Entwicklung der Weiterbildung zur voll gültigen vierten Säule des Bildungssystems . Um den Fachkräftebedarf der Zukunft zu decken, muß die Attraktivität der dualen Ausbildung durch Maßnahmen im Beschäftigungssystem verbessert werden, Gleichwertigkeit zwischen berufspraktischer und schulisch-theoretischer Ausbildung kann am ehesten durch eine entsprechende Anerkennung in der anschließenden Beschäftigung erreicht werden. Aussichtsreichere Perspektiven für Fachkräfte aus dem dualen System ergäben sich im Überschneidungsbereich ihrer Aufstiegspositionen mit neuen Einsatzfeldern für Hochschulabsolventen dann, wenn sie von den Unternehmen mehr als bisher in die Personalstrukturplanung einbezogen und ihnen transparentere und realisierbare Erwerbskarrieren eröffnet würden. Hierzu gehört auch eine flexiblere Laufbahnstruktur im öffentlichen Dienst. Zur Steigerung der Attraktivität des dualen Systems sind prinzipiell zwei Reformoptionen gegeben: Die eine besteht darin, die Einkommens- und Statusunterschiede zwischen Absolventen betrieblicher Lehre und Hochschulabsolventen zu verringern. Das könnte dadurch geschehen, daß Hochschulabsolventen wie dargestellt zunehmend in Bereiche diffundieren, die bisher von erfolgreichen Absolventen betrieblicher Lehre mit Praxiserfahrung besetzt wurden. Da damit aber gleichzeitig ein Verdrängungseffekt verbunden ist, ist diese Option nicht sehr empfehlenswert, da sie gleichzeitig die traditionellen Aufstiegswege ausgebildeter Fachkräfte zu verstopfen droht. Gerade diese Aufstiegswege gilt es aber zu verbreitern und zu sichern, wenn die Attraktivität der betrieblichen Lehre wiedergewonnen werden soll. Und an dieser Stelle ist der Zusammenhang zum Ausbau der Weiterbildung gegeben. In den Vorschlägen der Spitzenverbände der Wirtschaft zur Weiterentwicklung von Schule, Berufsbildung und Hochschule, die unter dem Titel "Differenzierung, Durchlässigkeit, Leistung" (Spitzenver-
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bände 1993) veröffentlicht wurden, wird konsequenterweise eine ganzheitliche Personalentwicklung für Fachkräfte nach einer betrieblichen Ausbildung gefordert und die Stichworte dazu lauten: Qualifizierung und Berufsentwicklung sind zu verzahnen, eine neue Qualifikationspalette ist zu gestalten und in zielgerichteter Berufsentwicklungsplanung zu realisieren, Alternativen zu "klassischen" Karrierewegen für Fachkräfte sind zu schaffen. Kontraproduktiv war in dieser Hinsicht die Streichung der Förderung der Aufstiegsfortbildung im Rahmen des AFG durch die am 1.1.1994 in Kraft getretene Novelle. Diese Streichung steht auch im Widerspruch zu der richtigen Position im Eckwertepapier von Bund und Ländern (1993) zur Förderung der Attraktivität beruflicher Bildung durch Weiterbildung.
VII. Notwendigkeit der Hochschulreform Die Hochschule steht gleichermaßen unter Reformdruck. Die Ansatzpunkte reichen von einer Studienstrukturreform mit dem Ziel einer Verkürzung der Studiendauer, der Verringerung des Studienabbruchs, der Verbesserung der Qualität der Lehre und insgesamt einer höheren Effizienz des Studiums über die Veränderung der inneren Steuerungssysteme einschließlich der Hochschulfinanzierung bis hin zu einer Flexibilisierung der Laufbahnordnungen im öffentlichen Dienst. Die Hochschule muß sich darüber hinaus der Weiterbildung - nicht nur für ihre eigenen Absolventen - stärker öffnen, somit besteht auch hier ein enger Zusammenhang zur Entwicklung der vierten Säule des Bildungssystems. In dieser Hinsicht gibt die Rahmenvereinbarung zwischen der Fachhochschulrektorenkonferenz und den Spitzenverbänden der Wirtschaft ein geeignetes Signal. Darüber hinaus werden Formen der Kooperation von Hochschulen, Hochschuldozenten und anderen Weiterbildungsträgern erprobt und zur Diskussion gestellt. Aber die Hochschulen kranken an chronischer Unterfinanzierung und sie bedürfen der Studienstrukturreform. Der Wissenschaftsrat hat dies in seinen 10 Thesen zur Hochschulpolitik (1993) überzeugend begründet. Die langgehegte Hoffnung, die Unterfinanzierung der Hochschulen sei ein vorübergehendes Phänomen, hat sich als trügerisch erwiesen. Die Strategie der Untertunnelung des Studentenberges war im Ansatz verfehlt, weil es zu keinem Zeitpunkt im letzten Drittel dieses Jahrhunderts in der Bundesrepublik einen nennenswerten, lediglich demographischen - und damit vorübergehenden - Anstieg der Studentenzahl gegeben hat und geben wird. Der Anstieg ist durch Veränderungen im Bildungsverhalten verursacht und ist dauerhaft. Die Hochschulen sind also selbst bei schlechten Studienbedingungen in Gefahr, an ihrer Attraktivität zu ersticken. Diese Attraktivität hängt - ich betone es noch einmal - mit den beruflichsozialen Erwartungen von Eltern und jungen Erwachsenen zusammen. Und dies weist wiederum auf die Notwendigkeit hin, die Attraktivität alternativer beruflicher Bildungsgänge wieder zu erhöhen. Dies genügt freilich allein nicht. Deshalb
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wurde im Vorfeld des Bildungsgipfels Konsens darüber herbeigeführt, daß Krisensymptome im Hochschulsystem sowohl Ergebnis der Unterfinanzierung als auch Folge unterlassener Strukturreformen sind. Deswegen sollten Veränderungen hier wie dort ansetzen. Dieser Zusammenhang ist nicht Ausdruck und Ergebnis eines politischen Aushandlungsprozesses, vielmehr ergibt er sich zwingend als Sachzusammenhang. Denn die Überwindung der Unterfinanzierung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, daß die Studienbedingungen verbessert und damit die Grundlagen für eine erfolgreiche Studienreform gelegt werden. Wie die Diskussion über den 23. Rahmenplan für den Hochschulausbau exemplarisch gezeigt hat, ist aber die Hochschulfinanzierung, gemessen an den Erfordernissen, gegenwärtig weiter auf dem Rückmarsch. Worum dort gestritten wurde, nämlich, ob im Jahr 1994 seitens des Bundes 1,6 oder 2,0 oder 2,4 Mrd DM zur Verfügung gestellt werden können, also jeweils 400 Mio DM mehr oder weniger, und was am Ende zum fast niedrigsten Ergebnis von 1,68 Mrd DM führte, bewegt sich in den Dimensionen der Tagesausgabe der Bundesanstalt für Arbeit. Damit wird kein Urteil über die Sinnhaftigkeit von Ausgaben für die Arbeitsmarktpolitik bei anhaltender Unterbeschäftigung und zur Bewältigung der Transformationskrise in Ostdeutschland gefällt, aber doch zum Nachdenken über gesellschaftspolitische Prioritäten aufgefordert. Bildungspolitische Priorität heute soll ja arbeitsmarktpolitische Reparaturen morgen und übermorgen vermeiden helfen. Zur Begründung der geringen finanzpolitischen Priorität für den Hochschulausbau hat der Slogan "Wir haben mehr Studenten an Hochschulen als Auszubildende im dualen System" herhalten müssen. Betrüge freilich die durchschnittliche Studiendauer an Universitäten nicht 14 Semester, sondern 9 bis 10 Semester, und würde auch an den Fachhochschulen die durchschnittliche Studiendauer wieder reduziert, dann hätten wir weniger Studenten an Hochschulen als Auszubildende im dualen System. In der zu langen Studiendauer liegt also das Problem, und ein wesentlicher Beitrag zu seiner Lösung bestünde in der Verbesserung der Studienbedingungen. Auch wenn es auf diese Weise schließlich gelänge, Studiendauer und Abbruchquote deutlich zu reduzieren, blieben die Ausbauvorstellungen des Wissenschaftsrates mit 1,2 Mio Studienplätzen im Vergleich zu derzeit 0,9 Mio Studienplätzen bedarfsgerecht. Die Entwicklung der Nachfrage am Arbeitsmarkt unterstützt die Forderung des Wissenschaftsrates, daß dabei auch dem Ausbau der Fachhochschulen besondere Bedeutung zukommt.
VIII. Studienstrukturreform und Ausbau der Weiterbildung sind unverzichtbar Die Binnendifferenzierung des Studienangebots in ein auf Wissenschaft gegründetes berufsbefähigendes Studium und die nachfolgende Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist richtig. Der Wissenschaftsrat hat aber nicht
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hinreichend deutlich gemacht, daß nicht nur der wissenschaftliche Nachwuchs für Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch die anderen Absolventen des berufsbefähigenden Studiums der Weiterbildung bedürfen, und daß diese Weiterbildung nicht nur eine betriebliche, sondern auch eine öffentliche Aufgabe sein kann. Binnendifferenzierung heißt also auch neue Schneidung zwischen den Ausbildungsinhalten für einen berufsqualifizierenden ersten Abschluß und der sich notwendigerweise anschließenden Weiterbildung. Erstens deshalb, weil am Arbeitsmarkt das zunehmende Durchschnittsalter der Berufsanfänger als Problem empfunden wird, zweitens deshalb, weil die Verwertbarkeitsdauer einmal erworbenen Wissens bei schnellem Strukturwandel nicht für eine lange Phase des Arbeitslebens ausreicht, drittens, weil im Zuge der Veränderung beruflich-sozialer Erwartungen innerhalb einer Erwerbsbiographie zunehmend die Möglichkeit zum Erwerb neuen Wissens gefragt wird. Weiterbildung muß gleichzeitig zum zweiten Bildungsweg beruflicher Bildung weiterentwickelt werden. Die Chance zur Teilnahme an beruflicher Weiterbildung und zur Mitbestimmung an der Auswahl ihrer Inhalte und Gelegenheiten muß für jugendliche Berufswähler und ihre mitbestimmenden Eltern glaubhaft nachvollziehbar sein. Sonst entsteht der uns aus der betrieblichen Weiterbildung nach der Lehre bekannte Effekt, daß unklare Chancen und unübersichtliche Wege von jungen Leuten abgewählt werden. Sie bevorzugen dann, wie Hurrelmann einmal formulierte, die Kurswagen über Abitur und Studium zum erhofften Erfolg am Arbeitsmarkt gegenüber dem Warten auf unsichere Anschlußzüge auf zugigen Bahnhöfen. So gilt ähnliches wie für Hochschulabsolventen: Auch dort muß auf Wissenschaft gegründete berufsbezogene Weiterbildung erreichbar, kalkulierbar und trittsicher ausgebaut werden.
IX. Die Ordnung unserer Hochschulen ist nicht hinreichend anreizkompatibel Studienstrukturreform kann auf unterschiedlichen Wegen vorangetrieben werden, durch staatliche Regulierungen zu ihrer Durchsetzung oder durch Motivation zur Veränderung. Der Unterschied liegt in "Durchsetzung politisch erwünschter Ergebnisse" bzw. "Initiierung erfolgversprechender Prozesse". Als Teilnehmer an der Studienreformdebatte der siebziger Jahre habe ich Zweifel am erstgenannten Weg. Zur Begründung der Vorteilhaftigkeit des zweiten zitiere ich Wilhelm von Humboldt: "Um den Übergang von dem gegenwärtigen Zustand zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man soviel wie möglich jede Reform von den Ideen und den Köpfen der Menschen ausgehen". Das ist in der Sprache der Theorie der Regulierung ein Programm für prozedurale Regulierung anstelle von substantieller Regulierung. Anders ausgedrückt geht es darum, statt inhaltlicher Vorgaben Freiraum für intelligente Prozesse zu schaffen. Intelligente Prozesse könnten z. B. durch mehr Wettbewerb zwischen Hochschulen initiiert werden
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oder durch den Übergang von der an Studenten/Studienanfängern orientierten Inputsteuerung zu einer mehr an erfolgreichen Absolventen orientierten Outputsteuerung bei der Hochschulfinanzierung. International scheint sich dementsprechend die Philosophie durchzusetzen, wonach sich die Rolle des Staates darauf beschränken möge, Rahmenbedingungen festzulegen, unter denen das Hochschulsystem operieren kann, wobei mehr Handlungsspielräume auf Hochschulebene gewährt werden sollen (Goedegebuure u.a. 1993). Indem ich dafür spreche, stelle ich gleichzeitig die Frage, ob die Hochschul autonomie neben einer notwendigen auch eine hinreichende Bedingung zur Erreichung der Qualitätsziele ist und verneine sie unmittelbar. In seiner 10. These zur Hochschulpolitik formuliert der Wissenschaftsrat: "Der Erfolg der vorgeschlagenen Reformmaßnahmen ist davon abhängig, daß die Hochschulen in die Lage versetzt werden, die Reformziele aufzugreifen und autonom umzusetzen. Dies setzt handlungsfähige Hochschulen voraus, denen durch schrittweise Globalisierung der Haushalte und Deregulierung des Haushaltsvollzugs mehr Budgetsouveränität eingeräumt werden sollte. Hochschulautonomie und Eigenverantwortlichkeit verlangen nach einem entscheidungsfähigen Hochschulmanagement, vor allem nach einer Stärkung der Dekane." (a.a.O.) Dem kann ich mich im Grundsatz anschließen. Aber ich muß den Wissenschaftsrat erneut ergänzen und die Frage stellen, ob seine Lösungsvorschläge ausreichen, um in den Hochschulen die erforderlichen selbst organisierten Reformprozesse wirksam werden zu lassen. Dazu ergänze ich die zitierte Humboldt'sche Regel so: "Um die Menschen in unseren Universitäten zum nachhaltigen Einsatz für hervorragende Leistungen in Lehre und Forschung anzuhalten, gebe man den Universitäten eine Ordnung, die diesen Einsatz belohnt und sein Fehlen bestraft." In der Sprache eines heutigen Ökonomen (Ger/ach, 1993) liest sich das so: "Als Fazit bleibt ... , daß man von einer Institution wie der Universität erwarten sollte, daß sie Anreize und Belohnungen bereithält für ein Verhalten, zu dem sie ermutigen möchte, und Sanktionen für Verhaltensweisen, die ihr abträglich erscheinen." Die Ordnung unserer Hochschulen ist aber nicht hinreichend anreizkompatibel. Sie eröffnet z.B. die Möglichkeit, daß auf Lebenszeit beamtete und nach Anciennität besoldete Professoren mit abträglichen Verhaltensweisen über Ressourcen verfügen, die jungen Talenten mit zuträglichen Verhaltensweisen für ihren qualifizierten und qualifizierenden Beitrag zu Lehre und Forschung fehlen. Deshalb sollte geprüft werden, wie die Einführung von Quasi-Marktelementen die Ordnung der Universitäten anreizkompatibler gestalten kann. Drei in der internationalen Diskussion befindliche Themen (Glennerster 1991) verdienen in diesem Zusammenhang auch bei uns Beachtung: -
Erstens: Die Ausstattung von Studenten mit Bildungsgutscheinen, mit denen sie sich an den Hochschulen bewerben können. Hochschulen würden dann zwar ihre Studenten selbst auswählen können, sie müßten freilich bei Ablehnung auch einen Einnahmeverlust kalkulieren. Interessanterweise ist ein sol-
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ches, wenngleich auch nach dem Urteil der britischen Kollegen bisher nicht gut funktionierendes, System von der konservativen Regierung in Großbritannien eingeführt worden, um die Universitäten zu veranlassen, mehr Studenten auszubilden. Hinzuweisen ist auch auf die Erfahrungen holländischer Kollegen mit den Implementationsproblemen bei der Einführung von Bildungsgutscheinen. Die Idee ist im Prinzip attraktiv, aber bisher nicht gelungen umgesetzt. -
Die stärkere Abhängigkeit der Gehaltsstruktur der Professoren und der auf Dauer beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiter von den Leistungen in Forschung und Lehre. Wer solches fordert, sieht sich freilich dem Einwand gegenüber, daß im Hochschulbereich eine präzise Erfassung von Output und Qualität nicht möglich sei. Das ist aber unzutreffend. Bemerkenswert ist, wie amerikanische und neuerdings auch niederländische Hochschulen dieses Problem gelöst haben (Gerlach 1993).
-
Als Minimalprogramm für die Einführung anreizkompatibler Strukturen plädiert der Wissenschaftsrat in seinen 10 Thesen für die Stärkung des Reputationswettbewerbs zwischen Forschern und Lehrern, Fachbereichen und Hochschulen durch verbesserte Berichtssysteme über ihre Leistungen und durch deren unabhängige Evaluierung. Das ist ein in jedem Fall sinnvoller Ansatz, der im Interesse der Qualitätssicherung von Lehre und Forschung weiterverfolgt werden sollte. Im Interesse des Praxis- und Arbeitsmarktbezugs ist dabei die Zusammenarbeit mit z.B. Arbeitgebern und Gewerkschaften erwägenswert. Freilich ist von den bisherigen Honoratiorenkuratorien ein qualitativer Sprung nicht zu erwarten, vielmehr sind neue Kooperationsformen notwendig. Nachdenkenswerte Anregungen zu "Pufferinstanzen" zwischen Hochschule, Wissenschaft und Gesellschaft finden sich wiederum in den niederländischen Erfahrungen (Goedegebuure et al. 1993).
X. Mehr Parallelen als Widersprüche? Der Unterschied zwischen AusbildungsanspTÜchen des Beschäftigungssystems und den Vorstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen über wünschenswerte Arbeitsbedingungen und -inhalte stellt sich gegenwärtig weniger akzentuiert dar, als vor einem Vierteljahrhundert diskutiert wurde. Folgen veränderter Strukturbedingungen für den Arbeitsmarkt begünstigen aus heutiger Sicht -
forschungs- und entwicklungsintensive Wirtschaft,
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umweltverträgliche Wirtschaftsstrukturen,
-
weitgehende Auslandsorientierung,
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hohen Dienstleistungsanteil der Tätigkeiten in den Berufen und Sektoren,
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dezentrale Strukturen,
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flexible Strukturen,
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individuelle Arbeitszeitmuster.
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Erforderlich sind demnach steigende Anteile -
flexibler, kreativer Erwerbspersonen,
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breit angelegter, fachübergreifender Qualifikationen,
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hoher beruflicher und sozialer Qualifikationen.
Dabei fällt auf, daß sich die geforderten Qualifikationen nicht auf berufsfachlich eng begrenzte beschränken und daß neben hohen beruflichen auch insbesondere soziale Qualifikationen angesprochen werden. Das heißt auch, daß aus den Vorstellungen zur Zukunft der Arbeitswelt keine Anforderungen an das Bildungssystem im Sinne eines ökonomischen Determinismus abgeleitet werden dürfen. Fachkompetenz bildet auch nach dem Urteil befragter Unternehmen den Kern beruflicher Qualifikation. Schlüssel- und insbesondere Sozialqualifikationen werden daneben als besonders wichtig herausgestellt. Dies gilt nicht nur für Hochschulabsolventen. Befragungen betrieblicher Experten zu Beschäftigungsaussichten und beruflichen Anforderungen in Ausbildungsberufen lassen erkennen, daß auch von den Absolventen des dualen Systems der Berufsausbildung in erster Linie die folgenden Fähigkeiten erwartet werden: Denken in Zusammenhängen, Bereitschaft und Fähigkeit zur Teamarbeit, Umstellungsfähigkeit auf wechselnde Aufgaben, Fähigkeit zum Planen und Organisieren sowie sozialkommunikative Fähigkeiten. Dies freilich könne, fordern die Spitzenverbände der Wirtschaft (Spitzenverbände 1993), nicht isoliert, sondern müsse vernetzt vermittelt werden. Eine solche Herausforderung entspricht nicht nur Arbeitgeber-, sondern auch Arbeitnehmerinteressen. Das veränderte Bildungsverständnis unserer Zeit, insbesondere mehr Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitswelt, läßt für einen akademischen Überlegenheitsdünkel immer weniger Raum. Duale Ausbildungsformen zur Verbesserung des Vermittlungsprozesses von Theorie und Praxis gewinnen konzeptionell an Bedeutung. Sie gestaltend zu verwirklichen, ist eine bildungspolitische Herausforderung auf allen Qualifikationsebenen, die dabei gleichzeitig noch durchlässiger werden müssen. Ich will freilich nicht so weit gehen zu behaupten, daß Interessenkonflikte zwischen Arbeitsangebots- und Nachfrageseite und Zielkonflikte zwischen Bildung und Ausbildung damit ausgeschlossen wären. Cui bono? bleibt eine relevante Frage. Das Kooperationsfeld ist aber weiter, als in früheren Konfliktmodellen angenommen wurde.
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Literatur Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Grund- und Strukturdaten 1993/94, Bonn 1993. Buttler, F. / Tessaring, M.: Humankapital als Standortfaktor, Argumente zur Bildungsdiskussion aus arbeitsmarktpolitischer Sicht, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarktund Berufsforschung, Heft 4, 1993. "Eckwerte-Papier" der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des vorgesehenen bildungspolitischen Spitzengesprächs 1993 vom 5.5.1993.
Gerlach, K.: Anreizstrukturen und Forschungsaktivitäten in wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichen, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 10, Frankfurt / New York 1993, S. 245-268. Glennerster, H.: Quasi-Markets für Education? In: The Economic Journal, September 1991, S. 1268-1276. Goedegebuure, L. / Kaiser, F. / Maassen, P. / Meek, L. / van Vught, F. / de Weert, E.: Hochschulpolitik im internationalen Vergleich, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1993. Lampert, H.: 20 Jahre Arbeitsförderungsgesetz, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarktund Berufsforschung, Heft 2, 1989. Spitzenverbände der Wirtschaft: Differenzierung, Durchlässigkeit, Leistung: Vorschläge der Spitzenverbände der Wirtschaft zur Weiterentwicklung von Schule, Berufsbildung und Hochschule, Bonn 1993. Wissenschaftsrat: 10 Thesen zur Hochschulpolitik, Berlin 22.1. 1993.
Schwerbehindertenarbeitslosigkeit Ein strukturelles Dauerproblem? Von Horst Sanmann 1. Schon seit bald zwei Jahrzehnten ist in unserem Lande die Arbeitslosigkeit unter den schwerbehinderten Erwerbspersonen besonders hoch. Dafür soll hier als Beleg gelten, daß die gruppenspezifische Arbeitslosenquote der Schwerbehinderten die allgemeine Arbeitslosenquote dauerhaft und deutlich übertrifft. Ähnlich beweiskräftig ließe sich zeigen, daß der Anteil der schwerbehinderten Arbeitslosen an allen Arbeitslosen den Anteil der schwerbehinderten Beschäftigten an allen Beschäftigten beharrlich übersteigt; aus Raumgründen soll darauf hier aber nicht weiter eingegangen werden. Angesichts dieser Sachlage ist es nicht verwunderlich, daß die amtliche Berichterstattung über den Arbeitsmarkt die arbeitslosen Schwerbehinderten, zusammen mit einigen anderen, auf welche Weise auch immer besonders betroffenen Arbeitslosengruppen, unter dem Rubrum "Problemgruppen" abhandelt (ANBA 1992, S. 901-912).
Nun ist es keineswegs so neu wie es scheinen mag, in der Gruppe der Schwerbehinderten unter dem Aspekt von Arbeitslosigkeit eine Problemgruppe zu sehen. Tatsächlich hat nämlich der Staat diese Sichtweise (jedoch nicht den Begriff) schon Jahrzehnte lang gehabt, bevor die Gruppe durch überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit neuerdings auffällig wurde. So hat der Staat denn auch bereits vor rund einem Dreivierteljahrhundert, in einer Situation mutmaßlich gleichen, eher stärkeren Problemdrucks als heute, daraus die Konsequenz gezogen, eine speziell auf Schwerbehinderte zugeschnittene Arbeitsmarktpolitik zu schaffen und zu betreiben, um diesen Druck aufzufangen, zu mindern, hinfort in Grenzen zu halten. Das ist gros so modo über bemerkenswert lange Zeitspannen hinweg bemerkenswert gut gelungen. Warum in der jüngsten Vergangenheit und in der Gegenwart nicht? Das ist die Frage, der dieser Beitrag nachgehen soll. 2. Erste Aufschlüsse über das Problemfeld möge ein kursorischer Rückblick auf Entstehung und Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik für Schwerbehinderte geben (ausführliche Darstellung und Analyse bei Sanmann 1988a, S. 50-76, und 1988b, S. 24-31). Die Situation starken Problemdrucks, die zur Etablierung der speziellen Arbeitsmarktpolitik führte, ergab sich aus dem für Deutschland negativen und abrupten Ende des Ersten Weltkrieges. Dieser Kriegsausgang hatte nämlich dazu
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geführt, daß binnen kürzester Zeit Männer in Millionenzahl aus dem Militärdienst und den Rüstungsbetrieben entlassen wurden und entweder ihre früheren Arbeitsplätze wieder einzunehmen suchten oder als Arbeitslose auf den Arbeitsmarkt strömten. Der daraus entstehende Konkurrenzdruck mußte die Schwerbehinderten als die schwächeren Wettbewerber, ob in Arbeit oder arbeitslos, besonders bedrohen. Der Staat reagierte fast sofort. Nur gerade zwei Monate nach dem Tag des Kriegsendes erließ das Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung die "Verordnung über Beschäftigung Schwerbeschädigter" vom 9. Januar 1919, sozusagen die Geburtsurkunde der staatlichen - gesamtstaatlich einheitlichen und vom Gesamtstaat getragenen - Arbeitsmarktpolitik für Schwerbehinderte in Deutschland. 3. Die Verordnung spricht nicht von Schwerbehinderten, sondern von Schwerbeschädigten und definiert diese als ehemalige Soldaten mit einer auf Dienstbeschädigung beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. oder mehr sowie als Personen mit einer durch Dienst- oder Arbeitsunfall bewirkten MdE in gleicher Höhe. Man fragt also nach der Ursache der Behinderung (Kausalprinzip), hebt die höhergradig invaliden Kriegs- und Arbeitsopfer als Schwerbeschädigte aus der Gesamtheit der Schwerbehinderten heraus und entwickelt allein für diese Untergruppe eine spezielle Arbeitsmarktpolitik. Von dieser ausgeschlossen bleiben mithin alle übrigen Schwerbehinderten, also jene, die zwar auch infolge Behinderung eine MdE von 50 v.H. oder mehr erlitten haben, deren Behinderung aber angeboren oder durch Krankheit entstanden oder durch Unfall, der nicht Dienst- oder Arbeitsunfall war, herbeigeführt worden ist (Schwererwerbsbeschränkte ). An dieser Verfahrensweise, mittels des Kausalprinzips die Schwerbehinderten in Schwerbeschädigte und Schwererwerbsbeschränkte zu unterscheiden und die Arbeitsmarktpolitik für Schwerbehinderte allein auf die Schwerbeschädigten auszurichten, hat der Staat (Weimarer Republik, NS-Staat, Bundesrepublik) über ein halbes Jahrhundert lang festgehalten. Dabei sind in die Gruppe der Schwerbeschädigten zusätzlich zu den Kriegs- und Arbeitsopfern nur selten und in vergleichsweise geringer Anzahl andere Schwererwerbsbeschränkte mit hineingenommen worden, so 1934-1945 die "Kämpfer für die nationale Erhebung", 1953 die Opfer nationalsozialistischer Verfolgungs- oder Unterdrückungsmaßnahmen sowie - einzige Ausnahme vom Kausalprinzip - die Zivil blinden, schließlich 1961 diejenigen Personen, die als Bundeswehrsoldaten, als Zivildienstleistende oder als DDR-Häftlinge im Sinne des Häftlingshilfegesetzes zu Schaden gekommen sind. Allerdings hat es schon seit 1920 Auflockerungen dieser engen Abgrenzungen dadurch gegeben, daß den Schwerbeschädigten andere Behinderte entweder als Gruppe von Gesetzes wegen gleichgestellt wurden (z.B. seit 1922 die Zivilblinden) oder, meist unter einschränkenden Voraussetzungen, als Person durch Einzelfallentscheid der zuständigen Behörde gleichgestellt werden konnten (z. B.
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seit 1922 Personen aus den Gruppen der Schwererwerbsbeschränkten und der weniger schwer beschädigten Kriegs- und Arbeitsopfer). Erst 1974 sind solche und ähnliche Differenzierungen obsolet geworden, weil für die Zielgruppenbestimmung der Arbeitsmarktpolitik das Kausalprinzip aufgegeben und durch das Finalprinzip ersetzt wurde, wonach es ohne Rücksicht auf die Ursache nur noch auf die Schwere der Behinderung ankommt, um zur Zielgruppe zu gehören. Darüber später mehr. 4. Am Anfang wurden zwei Politikinstrumente geschaffen: Den öffentlichen und privaten Arbeitgebern, sofern sie mindestens über eine genau definierte Anzahl von Arbeitsplätzen verfügten (Schwellenwert), wurde auferlegt, erstens einen bestimmten Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitsplätze (Quote) mit Schwerbeschädigten zu besetzen (Beschäftigungspflicht) sowie zweitens für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem Schwerbeschädigten eine bestimmte Frist einzuhalten und die Zustimmung der zuständigen Behörde einzuholen (Kündigungsschutz). Was die Beschäftigungspflicht betrifft, so haben zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich hohe Schwellenwerte und unterschiedlich hohe Quoten gegolten. Zeitweilig sind nach Sektoren (öffentlich oder privat), nach Bereichen (öffentliche Verwaltungen oder öffentliche und private Betriebe) und nach Wirtschaftszweigen differenzierte Schwellenwerte und Quoten vorgekommen. Andererseits finden wir auch zweimal einen längeren Zeitabschnitt mit gleichem Schwellenwert und gleicher Quote für alle Arbeitgeber. So beliefen sich von 1924 bis 1945 einheitlich und unverändert der Schwellenwert auf 21 Arbeitsplätze und die Quote auf 2 v.H. Ähnlich heute, da schon seit 1974 einheitlich und unverändert der Schwellenwert auf 16 Arbeitsplätze und die Quote auf 6 v. H. festgelegt worden sind. Der Kündigungsschutz hat, nach dramatischem Hin und Her in den Anfangsjahren, im Kern schon 1922 seine weitgehend endgültige Form gefunden. Seither und auch heute noch gilt, daß die Kündigungsfrist mindestens vier Wochen beträgt und daß die Kündigung nur mit behördlicher Zustimmung wirksam wird. Im Laufe der Jahrzehnte unterschiedlich geregelt worden sind allerdings die Fragen, in welchen Fällen der Kündigungsschutz ausnahmsweise nicht gilt und in welchen Fällen die Behörde ihre Zustimmung zur Kündigung geben muß oder soll oder kann. Zu den beiden Instrumenten Beschäftigungspflicht und Kündigungsschutz sind erst nach Jahrzehnten weitere Instrumente hinzugekommen. Dabei handelt es sich einerseits um eine 1953 eingeführte, die Beschäftigungspflicht flankierende Zwangs abgabe in Geld, die pro nicht regulär besetztem Pflichtarbeitsplatz pro Monat erhoben und Ausgleichsabgabe genannt wird, weil als ihr Hauptzweck gilt, den Kostenvorsprung auszugleichen, der durch die Beschäftigung eines Nichtbeschädigten anstelle eines Schwerbeschädigten entsteht. Das Finanzauf-
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kommen aus der Ausgleichsabgabe wurde zweckgebunden; es darf von den zuständigen Behörden nur zur Finanzierung von Fördermaßnahmen verwendet werden, die direkt oder indirekt mit der Eigenschaft des Schwerbeschädigten als Arbeitskraft zusammenhängen. Dazu zählt seit 1953 auch die Arbeits- und Berufsförderung und seit 1961 außerdem noch die Nachgehende Fürsorge am Arbeitsplatz. Weil es sich bei alledem vorrangig darum handelt, individuell auf den einzelnen Schwerbeschädigten zugeschnittene Hilfen zu gewähren, soll hier zusammenfassend von Individualhilfen die Rede sein, wenn das diesbezügliche Instrumentarium gemeint ist. 5. Bei den schon mehrfach erwähnten zuständigen Behörden handelt es sich auf der Länderebene, so gut wie von Anfang an und auch heute, um die 1919 neu geschaffenen Hauptfürsorgestellen sowie auf der Reichs- bzw. Bundesebene anfangs um den Reichsarbeitsminister, der aber später seine Befugnisse an die 1927 neu errichtete Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung delegiert, die seit 1953, nun als Bundesanstalt (ab 1969 als Bundesanstalt für Arbeit) firmierend, ihre Zuständigkeiten unmittelbar vom Gesetzgeber erhält. Nach Art und Umfang ihrer Befugnisse lassen sich beide Behörden teils als Vollzugsorgane, teils aber auch als Träger der Arbeitsmarktpolitik begreifen; das soll hier jedoch nicht näher erörtert werden. 6. Die Politik ist, darauf war eingangs schon hingewiesen worden, in längeren Zeitabschnitten erfolgreich gewesen. Allerdings müssen zwei Zeitperioden ganz außer Betracht bleiben: Für den Zeitraum 1919 - 1927 sind die einschlägigen Sachverhalte größtenteils überhaupt nicht (1919-1926) und im übrigen (1927) so lückenhaft erhoben worden, daß wir vollständig im Dunkeln tappen. Im Ergebnis gleich liegen, aus den gleichen oder ähnlichen Gründen, die Dinge für den Zeitraum 1940-1952. Somit verbleiben für die Dokumentation erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik die Zeitabschnitte 1928-1939 und 1953-1973; für 1974 sind, weil mitten im Jahr der Wechsel der Zielgruppe von der Untergruppe der Schwerbeschädigten zur Gesamtgruppe der Schwerbehinderten stattfand, die statistischen Erhebungen unvollständig und 1975 beginnt schon die eingangs dieses Beitrags thematisierte Zeitspanne des arbeitsmarktpolitischen Mißerfolgs, die vorläufig bis 1992 reicht. Wann kann man eine spezielle, d.h. zugunsten einer bestimmten Zielgruppe betriebene, Arbeitsmarktpolitik als erfolgreich bezeichnen? Erstens sicherlich schon dann, wenn es ihr gelingt, die Arbeitslosenquote ihrer Zielgruppe grosso modo auf gleicher Höhe mit der allgemeinen Arbeitslosenquote zu halten; denn die spezielle Arbeitsmarktpolitik gibt es ja gerade deswegen, weil ohne sie die Zielgruppe als besonders von Arbeitslosigkeit bedrohte Gruppe eine die allgemeine Arbeitslosenquote übersteigende Arbeitslosenquote aufweisen würde, und andererseits kann man von der speziellen Arbeitsmarktpolitik nicht erwarten, daß sie ihre Zielgruppe gänzlich von Arbeitslosigkeit freizuhalten vermag. Daher
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ist, zweitens, die spezielle Arbeitsmarktpolitik dann als besonders erfolgreich zu bewerten, wenn es ihr gelingt, die zielgruppenspezifische Arbeitslosenquote unterhalb der allgemeinen Arbeitslosenquote zu halten. Schließlich drittens: Der Mißerfolgsindikator - zielgruppenspezifische Arbeitslosenquote größer als allgemeine Arbeitslosenquote - verliert dann seine Aussagekraft, wenn beide Quoten sich im Bereich von Voll- oder Überbeschäftigung (d. h. um bzw. deutlich unter 3 v.H.) befinden. Alle drei Erfolgsfalle finden sich in unseren beiden Referenzperioden. Von 1928 bis 1937 lag die Arbeitslosenquote der Schwerbeschädigten deutlich bis drastisch unter der allgemeinen Arbeitslosenquote, dabei in den schwersten Krisenjahren 1931 und 1932 um mehr als die Hälfte. 1938 und 1939 hatte sich das Verhältnis der beiden Quoten zueinander zwar ins Gegenteil verkehrt, doch beide Quoten lagen im Voll- bzw. Überbeschäftigungsbereich. In der Periode 1953-1973 zeigen die Anfangsjahre das Problemgruppenbild; denn von 1953 bis 1957 ist die Arbeitslosenquote der Schwerbeschädigten zwar rückläufig, doch liegt sie deutlich über der allgemeinen Arbeitslosenquote, die schon 1956 mit 2,6 v.H. die Voll- und Überbeschäftigungszone erreicht, dann weiter sinkt und von 1959 bis 1973 Werte um oder deutlich unter 1 v. H. aufweist. Die Quote der Schwerbeschädigten erreicht diese Zone erst 1959, zufallig auch mit 2,6 v.H., und verbleibt dann dort mit Werten von wohl meist unter 2 v.H. (das statistische Material hat Lücken) bis zum Ende der Periode. 7. Mit der 1974 erfolgten Umsteuerung der hier erörterten speziellen Arbeitsmarktpolitik von der Schwerbeschädigten- zur Schwerbehindertenpolitik ändert sich das Bild radikal, wie die Tabelle (Anhang) erkennen läßt. Lagen 1975 beide Arbeitslosenquoten noch nahezu gleichauf, so übertrifft schon 1976 und dann ständig in allen folgenden Jahren die Schwerbehindertenquote die allgemeine Quote deutlich. Zu bedenken sind freilich einige Tücken und Lücken der Statistik. So beruht der Anstieg der Beschäftigten- und der Arbeitslosenzahlen (Spalten 2 und 3) ab 1976 bis etwa zum Beginn der achtziger Jahre in erster Linie nicht auf realer Zunahme von Beschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit, sondern auf dem Umstand, daß viele beschäftigte bzw. arbeitslose Schwerbehinderte sich erst jetzt als Schwerbehinderte amtlich anerkennen ließen und dadurch auch erst jetzt als solche in die Statistik aufgenommen wurden. Man tut also gut daran, sein Augenmerk hauptsächlich auf die Zeit ab 1982 zu richten. Sodann ist zu beachten, daß die Beschäftigtenzahlen nur die Beschäftigung bei Arbeitgebern mit 16 oder mehr Arbeitsplätzen verzeichnen, weil nur diese regelmäßig jährlich erhoben wird. Die tatsächliche Beschäftigung liegt also um die Zahl der bei Arbeitgebern mit 15 oder weniger Arbeitsplätzen Beschäftigten höher als hier ausgewiesen. Die diesbezüglichen Erhebungen finden aber leider nur alle fünf Jahre statt und öffentlich mitgeteilt werden dann nur gerundete
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Zahlen, nämlich 63.000 für das Jahr 1979, 69.500 für 1984 und 112.600 für 1989 (ANBA 1993, S.906). Unter Einbeziehung dieser Zahlen lägen in den genannten drei Jahren die Arbeitslosenquoten der Schwerbehinderten um 0,5 bzw. 0,9 bzw. 1,6 Prozentpunkte unter den in der Tabelle ausgewiesenen Quoten. Irgendwo in diesem Bereich mag man auch die Abweichungen in den anderen Jahren vermuten, so daß es sich gewiß nicht um vernachlässigenswerte Größenordnungen handelt. Jedoch ändern sich dadurch die Quotenkonstellationen und also auch der Problemgruppenbefund grundsätzlich nicht. Schließlich noch der Hinweis, daß die Zahlen der beschäftigten Schwerbehinderten (Spalte 2) ab 1986 auch die - unbekannten - Zahlen der schwerbehinderten Arbeitgeber enthalten, also für Quotenberechnung und -vergleich leicht (?) überhöht sind. Auch dies dürfte Quotenkonstellationen und Problemgruppenbefund nicht grundsätzlich in Frage stellen. Lage und Befund geben Anlaß zu der Vermutung, daß sie wesentlich durch den Übergang von der Schwerbeschädigten-Arbeitsmarktpolitik zur Schwerbehinderten-Arbeitsmarktpolitik herbeigeführt worden sind. Der Vermutung soll durch Untersuchung der neuen Arbeitsmarktpolitik in ihren Kernelementen Zielgruppe, Instrumentarium, Träger / Vollzugsorgane - nachgegangen werden. Zugrundegelegt wird dafür das aus dem Schwerbeschädigtengesetz von 1953 durch Novellierung 1974 entstandene Schwerbehindertengesetz nach seinem derzeit (15.10.1993) geltenden Wortlaut. 8. Das Gesetz bezeichnet als Schwerbehinderte "Personen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50 ... " (§ 1) und sagt über "Personen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30 ... ", sie sollen "auf ihren Antrag vom Arbeitsamt Schwerbehinderten gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz ... nicht erlangen oder nicht behalten können." (§ 2 Abs. 1). Dabei bezeichnet der Terminus "Grad der Behinderung" den gleichen Sachverhalt, der früher mit "Minderung der Erwerbsfähigkeit" benannt war. "Behinderung" definiert das Gesetz dann als "die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten." (§ 3 Abs. 1). "Die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung ist als Grad der Behinderung (GdB), nach Zehnergraden abgestuft, von 20 bis 100 festzustellen." (§ 3 Abs. 2). Es war von vornherein zu erwarten gewesen und ist dann auch eingetreten, daß diese weitgefaßte Neubestimmung die Zielgruppe sowohl zahlenmäßig stark vergrößern als auch in ihrer Zusammensetzung erhe_1:>Uch verändern würde. So hat sich die Größe der Zielgruppe, die sich 1971 - aus diesem Jahr stammt die letzte greifbare Zahl vor der Neubestimmung der Zielgruppe 1974 - auf
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gut 0,45 Mio. Personen belief (ANBA 1973, S. 135), schon 1979 mit 0,95 Mio. reichlich verdoppelt und 1982 mit 1,13 Mio. den bisherigen Höchststand erreicht, der 1983 und 1984 nur wenig unterschritten wurde; danach hat sie sich bis 1991 auf rund eine Million eingependelt, aber schließlich 1992 mit 1,11 Mio. Personen fast wieder den früheren Höchststand erreicht (Tabelle, Spalten 2 + 3, und Hinzurechnung, jeweils für 5 Jahre, der oben genannten Beschäftigtenzahlen der kleinen Betriebe / Dienststellen). Die Struktur der Zielgruppe hat sich mindestens in zweifacher Hinsicht deutlich verändert, nämlich im Anteil der Frauen an der Zielgruppe und in der Gewichtung der Behinderungsursachen und -arten innerhalb der Zielgruppe. Vollständig und zugleich präzise läßt sich das allerdings nicht nachweisen, weil es statistische Unterlagen über strukturelle Untergliederungen nur für die Untergruppe der arbeitslosen Schwerbehinderten gibt, nicht dagegen für die sehr viel größere Untergruppe der erwerbstätigen Schwerbehinderten. Daher muß man sich, will man wenigstens näherungsweise etwas über die Struktur der Zielgruppe als ganze erfahren, auf die allgemeine Schwerbehindertenstatistik stützen, die allerdings alle Schwerbehinderten erfaßt und dabei nicht nach Erwerbspersonen (d.h. unserer Zielgruppe) und Nichterwerbspersonen gegliedert ist. Zudem finden die einschlägigen Erhebungen nur in zweijährigem Turnus statt und zuverlässige, untereinander voll vergleichbare Ergebnisse gibt es erst für 1987, 1989 und 1991. Daraus lassen sich für unsere Zwecke folgende Anhaltspunkte gewinnen (Seewald 1988, S. 738/1990, S. 854 /1992b, S. 814). In den drei genannten Jahren gab es insgesamt 5,13/5,31/5,37 Mio. Schwerbehinderte. Von diesen befanden sich 1,88/1,88/1,89 Mio. im Erwerbsfahigenalter von 15 bis unter 60 Jahren (unter 15 Jahren besteht Schulpflicht, die Vollendung des 60. Lebensjahres erlaubt nach Pensions- und Rentenrecht den Schwerbehinderten den Eintritt in den Ruhestand ohne Abschlag von ihren Altersbezügen). Zu dieser Altersgruppe dürfen wir mit ziemlicher Sicherheit so gut wie vollständig die Gruppe der schwerbehinderten Erwerbspersonen, also unsere Zielgruppe, rechnen, die in den drei Referenzjahren 0,97/1,00/1,01 Mio. Personen umfaßte (die in Betrieben / Dienststellen mit weniger als 16 Arbeitsplätzen Beschäftigten eingeschlossen). Zur genannten Altersgruppe gehörten 0,76 Mio. = 40,2 v.H./O,76 Mio. = 40,4 v.H./O,n Mio. = 40,6 v.H. Frauen. Nun liegt, wie man weiß, die allgemeine Erwerbsquote der Frauen unter derjenigen der Männer (BMAS 1993, Tab. 2.3). Auch bei den Behinderten insgesamt (Schwerbehinderten + leichter Behinderten) ist es so, wie der Mikrozensus 1989 ergeben hat (Seewald 1992a, S. 511). Wir dürfen annehmen, daß es sich bei den Schwerbehinderten allein nicht anders verhält. Daher wird der Anteil der Frauen an der Zielgruppe deutlich kleiner als ihr Anteil an der Altersgruppe sein. Andererseits ist die allgemeine Erwerbsquote der Frauen in den letzten zwei Jahrzehnten spürbar gestiegen, nämlich von 30,3 v.H. in 1970 bis auf 36,5/37,2/38,2 v.H. in unseren drei Referenzjahren 1987,
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1989,1991 (BMAS 1993, Tab. 2.3), eine Entwicklung, die wohl auch die schwerbehinderten Frauen, jedenfalls in der Tendenz, mitgemacht haben. Nach alledem läßt sich schätzen, daß der Anteil der Frauen an unserer Zielgruppe in den Referenzjahren um 30 v.H., eher weniger, betragen hat - und damit um ein Mehrfaches höher liegt als der Anteil der Frauen an der früheren Zielgruppe der Schwerbeschädigten.
Durch die Neubestimmung der Zielgruppe stark verschoben hat sich sicherlich auch ihre Gliederung nach Ursachen und Arten der Behinderung. Auch hier müssen wir auf die o. a. allgemeine Schwerbehindertenstatistik zurückgreifen. Danach war die Ursache der Behinderung, bei Mehrfachbehinderten die Ursache der am schwersten wiegenden Behinderung, in den Jahren 1987/1989/1991 nur noch bei 6,2/5,5/4,2 v.H. aller Schwerbehinderten eine Kriegs-, Wehrdienstoder Zivildienstbeschädigung, aber bei 81,3/82,5/83,3 aller Schwerbehinderten Krankheit. Unsere Zielgruppe dürfte ebenfalls deutlich diese Strukturmerkmale aufgewiesen haben, vielleicht mit noch geringerem Anteil der Beschädigtengruppe, weil altersbedingt da nur noch die wenigsten Kriegsbeschädigten im Arbeitsleben gestanden haben werden. Jedenfalls aber stellt die Struktur der jetzigen, weiten Zielgruppe mehr oder weniger die Umkehrung der Struktur der früheren, engeren Zielgruppe dar, in der die Untergruppe der Kriegsbeschädigten überragend dominant war und krankheitsbedingt Schwerbehinderte im wesentlichen nur als solche Personen vorkamen, die an anerkannten Berufskrankheiten litten. Was die Behinderungsarten betrifft, so lag 1991 bei 33,6 v.H. aller Schwerbehinderten eine Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen bzw. Organsystemen vor, bei 16,7 v.H. lag die schwere Behinderung in einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule und des Rumpfes sowie einer Deformierung des Brustkorbes, bei 15,1 v.H. in Funktionseinschränkungen der Gliedmaßen und 12,6 v. H. aller Schwerbehinderten litten an einer geistig-seelischen Behinderung. Dieses Strukturbild zeigten auch schon die beiden anderen Referenzjahre 1989 und 1987. Leider fehlt es an Informationen über den Zusammenhang zwischen Behinderungsursachen und Behinderungsarten, so daß wir auf diesem Wege über das Vorkommen der verschiedenen Arten von Behinderung in unserer Zielgruppe nichts erfahren können. Wir wissen lediglich, daß bei den Kriegsbeschädigten die Funktionseinschränkungen innerer Organe keinen auch nur annähernd so herausragenden Platz einnahmen wie heute in der Großgruppe aller Schwerbehinderten, und wir können angesichts der gegenwärtigen Dominanz von Krankheit als Ursache der Schwerbehinderung annehmen, daß diese Art von Behinderung vorwiegend krankheitsbedingt sein wird. Schließlich wissen wir, daß wegen des Übergewichts krankheitsbedingter Behinderungen Schwerbehinderung bei älteren und alten Menschen sehr viel häufiger als bei jüngeren Menschen vorkommt; in den drei Referenzjahren waren 73,6/74,0/74,4 v.H. aller Schwerbehinderten 55 Jahre alt oder älter.
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Auch in der hier besonders interessierenden Altersgruppe - 15 bis unter 60 Jahre - ist diese Schieflage schon deutlich erkennbar; denn in den Referenzjahren befanden sich 69,9/69,3/68,2 v.H. aller Männer und 66,8/66,2/65,0 v.H. aller Frauen dieser Gruppe im Alter von 45 Jahren und darüber. Anders ausgedrückt: Auf das oberste Altersdrittel der Schwerbehinderten im Erwerbsfähigenalter entfallen bei den Männern wie bei den Frauen rund zwei Drittel der Gesamtzahlen. Für unsere Zielgruppe, die ja zu dieser Altersgruppe gehört, wird man wohl ähnliche Relationen annehmen können. Diese Alterslastigkeit ist ein Dauerproblem der Zielgruppe, weil die hauptsächlichen Ursachen der Schwerbehinderung fortdauernd wirken, wohingegen die frühere, engere Zielgruppe nur zeitweilig, nämlich in den sechziger und siebziger Jahren, alterslastig war, weil die Kriegsbeschädigten als ihre zahlenmäßig dominierende Untergruppe zunächst in aller Regel zu den unteren Altersklassen gehörten, also erst im Laufe der Jahre in die oberen Klassen hineinwuchsen, und weil sich in der langen Friedensperiode nach dem Zweiten Weltkrieg die unteren Klassen nicht wieder auffüllten. 9. Die dramatischen Veränderungen der Zielgruppe, die aus ihrer Neubestimmung von 1974 resultierten - mehr als Verdoppelung der Personenzahl, signifikant höherer Anteil der Frauen, Krankheit als dominierende Behinderungsursache, Funktionsbeeinträchtigung innerer Organe als wichtigste Behinderungsart, starke Alterslastigkeit - sind nicht von ähnlich dramatischen Veränderungen des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums oder auch nur der Instrumentenanwendung begleitet gewesen; sie haben sie auch nicht später zur Folge gehabt. Der Instrumentenkasten enthält auch heute noch nur die schon seit Jahrzehnten bekannten und benutzten vier Instrumente bzw. Instrumentenbündel Beschäftigungspflicht, Ausgleichsabgabe, Kündigungsschutz, System von Individualhilfen. Die Beschäftigungspflicht beginnt für alle Arbeitgeber bei dem Schwellenwert von 16 Arbeitsplätzen und beläuft sich einheitlich auf die Quote von 6 v. H. Damit werden an die privaten Arbeitgeber nur die gleichen, an die öffentlichen Arbeitgeber sogar geringere Anforderungen gestellt als vor der Neubestimmung der Zielgruppe 1974. Die Ausgleichsabgabe, 1953 mit DM 50,- pro nicht regulär besetztem Arbeitsplatz pro Monat eingeführt, 1974 auf DM 100,- und 1986 auf DM 150,erhöht, beläuft sich seit 1990 auf DM 200,-. Im Kern, d. h. hinsichtlich der Kündigungsfrist von vier Wochen und hinsicht1ich der behördlichen Zustimmungsbedürftigkeit der Kündigung, ganz unverändert geblieben (seit 1922!) ist der Kündigungsschutz, nur sein Geltungsbereich ist seit 1974 verändert worden, z.B. durch Einbeziehung der außerordentlichen Kündigung und Herausnahme der Arbeitsverhältnisse auf Probe. Inzwischen hat die Kündigungsfrist auch den letzten Rest ihrer einstmaligen Eigenschaft verloren,
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ein gruppenbezogener Sonderschutz zu sein; das Kündigungsfristengesetz vom 30.9. 1993 bestimmt vier Wochen als sog. Grundkündigungsfrist, d. h. als Fristenminimum, für alle Arbeitsverhältnisse. Im System von Individualhilfen ist aus der Nachgehenden Fürsorge am Arbeitsplatz (1961) zunächst die Nachgehende Hilfe im Arbeitsleben (1974), schließlich die Begleitende Hilfe im Arbeits- und Berufsleben (1986) geworden, und dabei handelt es sich keineswegs um bloßen Namenswechsel, sondern auch um Ausbau und Anreicherung von Mitteln und Möglichkeiten der HauptfürsorgesteIlen, um dem einzelnen Schwerbehinderten durch individuell angepaßte Maßnahmen zu der Leistungsflihigkeit zu verhelfen, die ihn als Arbeitskraft für einen Arbeitgeber akzeptabel macht. Kein Zweifel, daß die hier, beim System der Individualhilfen, vorgenommene Verbesserung des Politikinstrumentariums an der - besser: an einer --=- richtigen Stelle ansetzt. Aber ebenso wenig ist zweifelhaft, daß die Arbeitsmarktsituation der Schwerbehinderten, soweit sie sich im Ausmaß der Arbeitslosigkeit ausdrückt, noch durchaus als unbefriedigend gilt. Das ist hier an früherer Stelle schon dargelegt worden. 10. Wenn wir nun die Frage nach dem Warum der hohen Arbeitslosigkeit unter Schwerbehinderten wieder aufnehmen, dann soll die Antwort darauf in der Weise gesucht werden, daß wir erst bei den potentiellen Nachfragern nach Arbeitsleistungen von Schwerbehinderten, also bei den Arbeitgebern, und dann bei den erfolglos gebliebenen Anbietern solcher Leistungen, also bei den arbeitslosen Schwerbehinderten, nach möglichen Gründen forschen. Von den beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern wissen wir, daß seit vielen Jahren ziemlich wenige die Quote von 6 v. H. erfüllen, noch weniger sie überfüllen und die große Mehrzahl ihre Quote nicht erfüllen, so daß im Gesamtdurchschnitt nur zwischen 5 und 6 v. H. der Arbeitsplätze, die der Quotenberechnung zugrunde liegen, mit Schwerbehinderten (und anderen anrechnungsfähigen Personen) besetzt sind (ANBA, wie im Quellennachweis zu Spalte 2 der Tabelle). Das hat verschiedene Gründe. Betriebe und Dienststellen haben, je nach Branche bzw. Sparte, für die Beschäftigung Schwerbehinderter unterschiedlich gut geeignete Arbeitsplätze. Insoweit würden entsprechend differenzierte Quoten statt der Einheitsquote von 6 v. H. ein besseres Gesamtergebnis erbringen können. Auch gibt es Betriebe und Dienststellen, die für die Beschäftigung Schwerbehinderter geeignete Arbeitsplätze nicht besetzen können, weil Schwerbehinderte mit den gesuchten Anforderungsprofilen unter den Arbeitslosen nicht zu finden sind. Hier wird in manchen Fällen die Begleitende Hilfe im Arbeits- und Berufsleben erfolgreich sein können. Sehr häufig hört oder liest man von Arbeitgebern, sie schreckten wegen des Kündigungsschutzes vor der Beschäftigung Schwerbehinderter zurück. Hier mag es bei einigen an Rechtskenntnissen bezüglich der trotz Kündigungsschutzes
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gleichwohl noch gegebenen Kündigungsmöglichkeiten fehlen, so daß Aufklärung durch die zuständigen Behörden - über das schon vorhandene Maß hinaus am Platze ist. Viel öfter dürfte jedoch vorkommen, daß die Berufung auf den Kündigungsschutz ein bloß vorgeschobener Grund für das Nichtbeschäftigen von Schwerbehinderten ist und daß das Zahlen der Ausgleichabgabe als bequemere, d.h. kostengünstigere, Alternative angesehen wird. Dann wäre, was sehr wahrscheinlich ist, die Ausgleichabgabe zu niedrig; man wundert sich ja ohnehin, in welch willkürlichen Abständen und wie selten sie bisher erhöht wurde, dazu immer um den gleichen Betrag, warum sie für Betriebe und Dienststellen aller Art, d. h. mit den unterschiedlichsten Kostenstrukturen, die gleiche Höhe hat und warum sie nicht längst dynamisiert wurde. Tatsächlich erfüllt die Ausgleichsabgabe schon wegen des ihr innewohnenden Schematismus wohl nur hier und da und ganz sicher nur zufällig ihre Funktion, den durch Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten erlangten Kostenvorteil auszugleichen. So liegt es nahe, ihre andere Funktion, nämlich die des Anreizes zur Beschäftigung von Schwerbehinderten, in den Vordergrund zu rücken und sie, sei es direkt durch Erhöhung des Geldbetrages, sei es indirekt durch Erhöhung der Beschäftigungsquote, so stark anzuheben, daß die Beschäftigung Schwerbehinderter zur gleichwertigen, vielleicht sogar zur bequemeren Alternative wird. Das paßt allerdings nicht zur derzeitigen finanzund wirtschaftspolitischen Maxime, die Abgabenbelastung der Unternehmen nicht zu erhöhen, um nur einen Einwand von mehreren zu nennen (Rendenbach 1990, S. 176 -195). Nicht nur deswegen, sondern auch wegen seiner größeren ökonomischen Effizienz mag ein jüngst präsentierter Vorschlag mehr Sympathie erringen, der darauf hinausläuft, die Ausgleichsabgabe abzuschaffen sowie die Beschäftigungsquote nur noch als gesamtwirtschaftliches Ziel, nicht mehr auch als einzelwirtschaftliche Vorgabe, beizubehalten und dann mittels eines AbgabenPrämien-Fonds sowie mittels handelbarer BeschäftigungszertifIkate ökonomische Anreize und Wettbewerbsmechanismen für das Ziel höherer Schwerbehindertenbeschäftigung nutzbar zu machen (Knappe / Wa/ger 1993, S. 428-439). Der Vorschlag sollte einen Modellversuch wert sein. Ob der Kündigungsschutz wegen seiner - tatsächlichen oder vermuteten Bremswirkung auf das Einstellungsverhalten der Arbeitgeber aufgehoben werden sollte (Rendenbach 1990, S. 164-168) oder ob diese Begründung fehlgeht und außerdem noch andere Gründe für seine Beibehaltung sprechen (Sadowski / Frick 1992, S. 169), ist streitig. Schon deswegen ist, jedenfalls fürs erste, die Beibehaltung vorzuziehen. Darauf zurückzuführende Verweigerungshaltungen der Arbeitgeber wäre auf anderem Wege zu begegnen. Vom System der Individualhilfen können keine Nachteile für die Arbeitgeber ausgehen. Sie haben im Gegenteil nur Vorteile davon, sei es indirekt, indem die durch Individualhilfen gesteigerte Arbeitsleistung des schwerbehinderten Mitarbeiters auch ihnen zugute kommt, sei es direkt, indem sie selbst im Zusammenhang mit der Beschäftigung Schwerbeschädigter fInanzielle Zuschüsse erhalten.
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Dieses Instrument ist also hinsichtlich beider Seiten des Arbeitsmarktes sachgerecht konstruiert. Zusammengefaßt ergibt sich, daß mit Blick auf die Nachfrageseite des Arbeitsmarktes die Möglichkeiten, die das Instrumentarium der SchwerbehindertenArbeitsmarktpolitik bietet, durchaus noch nicht ausgeschöpft sind. Hier ist hauptsächlich der Gesetzgeber gefordert, aber auch die Hauptfürsorgestellen und die Bundesanstalt für Arbeit sind in der Pflicht. Allerdings würde die Ausweitung der Nachfrage, die ein verbesserter Instrumenteneinsatz durch Ausräumen von Beschäftigungshemmnissen erwarten läßt, umso weniger erfolgreich sein, je stärker auf der Angebotsseite Beschäftigungshemmnisse wirksam sind; bekanntlich kommt Markterfolgja nur durch das Zusammenwirken von Nachfrage und Angebot zustande. Wenden wir uns daher nun dem Angebot zu, das aus den arbeitslosen Schwerbehinderten besteht. Von den arbeitslosen Schwerbehinderten im Jahre 1992 waren ziemlich genau zwei Drittel 45 Jahre alt und älter (ANBA 1993, S. 515) und ziemlich genau ein Drittel waren Frauen (Tabelle). Insoweit ähnelt das Strukturbild dem der gesamten Zielgruppe. Hinzu kommt, daß auch die Personen ohne Berufsausbildung einen hohen Anteil ausgemacht haben werden; im Jahreszugang 1992 waren es rund 46 v.H. (ANBA 1993, S. 907). Leider fehlt eine Aufgliederung nach Behinderungsarten. Aber auch schon so wird erkennbar, daß bei nicht wenigen arbeitslosen Schwerbehinderten die Behinderung nicht der einzige beschäftigungshemmende Faktor war. Je mehr dieser Faktoren zusammentrafen, desto länger war die Dauer der Arbeitslosigkeit; 1992 waren 19,2 v. H. der arbeitslosen Schwerbehinderten 1-2 Jahre und 27,1 v.H. länger als zwei Jahre arbeitslos (ANBA 1993, S. 907,514). Dies düstere Bild, das hier für das Jahr 1992 gezeichnet wurde, ist mutatis mutandis auch charakteristisch für viele Jahre davor und es wird, so steht zu erwarten, auch für viele Jahre danach noch typisch sein. Denn gegenüber den Faktoren, die sich, womöglich in Kumulation, hier auswirken - Schwere der Behinderung, Alterslastigkeit, geringe Berufsbildung, möglicherweise auch noch die Art der Behinderung - , findet die Arbeitsmarktpolitik, auch in Gestalt ihrer ausgefeilten Individualhilfen, oft frühe Grenzen, und ansonsten wird den Faktoren, wenn überhaupt, allenfalls längerfristig erfolgreich entgegengewirkt werden können (Beispiel: Hebung des Berufsbildungsniveaus). Daher werden wir gut daran tun, uns auf die Schwerbehindertenarbeitslosigkeit als ein strukturelles Dauerproblem einzustellen, dem die Arbeitsmarktpolitik für Schwerbehinderte allein aber wohl nicht mehr gewachsen ist.
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Anhang Beschäftigung und Arbeitslosigkeit Schwerbehindertera) in der Bundesrepublik Deutschland (ohne neue Bundesländer)
1975-1992
I
Ende Oktober 1975 1976 1977 197K 1979 19KO 19KI 19K2 19K3 19K4 19K5 19K6 1987 19KK 1989 1990 1991 1992
3
2 Erwerbstätige Schwerbehinderte b) 1000
571,5 620,4 693,0 755,5 828,4 914,7
e)
951,7 896,8 850,3 811,7 793,0 778,4 772,6 766,0 763,7 782,4 876,8
4
5
Arheitslose Schwerbehinderte insgesamt Männer Frauen 1000
29,2 39,5 40,8 49,5 62,9 69,2 93,8 116,9 133,3 136,0 131,2 120,7 125,7 127,9 122,5 116,6 115,2 127,7
1000
23,5 30,1 32,3 3K,6 43,0 46,0 62,3 7~,9
91,4 94,8 90,K 80,8 83,7 K4,7 80,6 76,7 76,1 85,2
1000 5,~
9,4 ~,5
10,9 19,6 23,2 31,5 3K,0 41,9 41,3 40,5 40,0 42,0 43,1 41,8 39,9 39,2 42,4
6
7
Arbeits1)senquote Schwerbeh. c allgemein d ) v.H. v.H. 4,9 6,0 5,6 6,2 7,1 7,0
-
10,9 12,9 13,8 13,9 13.2 13,9 14,2 13,8 13,2 12,8 12,7
4,6 4, I 4,2 3,9 3,3 3,8 5,9 7,9 8,7 8,6 8,6 8,1 8,3 8,0 7,3 6,5 6,0 6,7
., Schwerbehinderte und Gleichgestellte gemäß Schwerbehindertengesetz v. 29.4.1974 in der jeweils geltenden Fassung. b, Nur bei Arbeitgebern mit mindestens 16 Arbeitsplätzen. Seit 1986 einschließlich der im eigenen Betrieb tätigen schwerbehinderten Arbeitgeber. Spalte 3 in v. H. von Spalten (2 + 3). d) Alle Arbeitslosen in v. H. aller abhängigen zivilen Erwerbspersonen. e) Erhebung wurde statistisch nicht ausgewertet. •
0'
Quellen: Spalte 2: ANBA 1977 (S. 542). 1978 (S. 623). 1979 (S. 379). 1980 (S. 84). 1981 (S. 280). 1981 (S. 1439). 1984 (S. 46).1985 (S. 48).1986 (S. 62).1987 (S. 52).1988 (S. 631).1988 (S. 1755). 1990 (S. 70).1991 (S. 68).1992 (S. 92). 1993 (S. 68), 1994 (S. 94). Spalten 3 -5 u. 7: ANBA. Dezemberhefte der Jahre 1975 - 1992. jeweils Übersicht 1/2. Spalte 6: Eigene Berechnung nach den ungerundeten Ursprungszahlen.
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Horst Sanmann
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Einige ordnungs politische Überlegungen zum Gesundheitswesen Von Joachim Genosko
I. Zur Problemstellung In den letzten beiden Jahren sind zwei für das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland wesentliche Reformgesetze in Kraft getreten, nämlich das "Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung" (Rentenreformgesetz / RRG) zum 1. Januar 1992 sowie das "Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung" (Gesundheitsstrukturgesetz/GSG) zum 1. Januar 1993 (vgl. Genosko, 1993b, S. 83 und Genosko, 1993a, S. 5 f.). Beide Gesetze schienen zunächst die Reformdebatte über die soziale Sicherung in Deutschland zu beenden. Dies war jedoch ganz offenkundig ein Trugschluß. Denn für Öffentlichkeit und Wissenschaft gleichermaßen unerwartet brach der sächsische Ministerpräsident im Verlaufe des Jahres 1993 eine Diskussion über die mittel- und langfristige Sicherung der gesetzlichen Renten und damit letztendlich über das System der gesetzlichen Rentenversicherung vom Zaun. Ebenso verdeutlichte der amtierende Bundesgesundheitsminister, daß in der nächsten Legislaturperiode die in Gang gesetzte Reform des Gesundheitswesens fortgeführt werden müßte. Zu diesem Zweck hat der Bundesgesundheitsminister vom wissenschaftlichen Beirat seines Ministeriums ein Sondergutachten erbeten, das bis Juni 1994 in seiner Endfassung vorliegen soll. Die zuletzt genannten weiterführenden Reformdiskussionen, die im übrigen auch die Diskussion um die Arbeitslosenversicherung respektive die Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit einbeziehen (vgl. Lampert, 1993, S. 37), sind eingebettet in die umfassende Debatte über die Frage, kann unser Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Ausprägung in den nächsten Jahrzehnten noch überleben oder bedarf er einer - im ursprünglichen Sinne des Wortes - radikalen Um- bzw. Neugestaltung. Diese Debatte hat im Gefolge der deutschen Vereinigung, vor allem aber im Gefolge der schwersten wirtschaftlichen Rezession der Nachkriegszeit in der BRD und der damit einsetzenden Diskussion über die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland, die vornehmlich an den Lohn- und Lohnnebenkosten festgemacht worden ist, ein sich selbst verstärkendes Momentum erhalten. 21*
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Joachim Genosko
In der wissenschaftlichen Sozialpolitik findet dieser Diskurs allerdings nicht erst seit gestern statt (vgl. z. B. Gitter / Oberender, 1987). Gleichwohl verdient ein neuer Aufsatz von Lampert (1993) besondere Erwähnung, da er in einer umwie zusammenfassenden Darstellung den "Sozialstaat auf den Prüfstand" stellt (vgl. hierzu auch Lampert, 1991, S. 427 -440). Im Verlaufe der weiteren Ausführungen wird des öfteren auf den eben zitierten Aufsatz rekurriert werden müssen, in Sonderheit auf die dort formulierten Reformziele und -prinzipien (vgl. Lampert, 1993, S. 61-69). Von einer anderen Ecke her, nämlich aus der Sicht der Risikoallokation, widmet sich Hübner (1994, S. 97 ff.) dem bundesdeutschen Sozialstaat. Seine Darlegungen sind zum Teil Apologetik des existierenden Sozialstaates, zum Teil Reformansatz zur Verbesserung der Risikoallokation in verschiedenen sozialpolitischen Handlungsfeldern. In einer Zwischenposition zwischen dem ordnungstheoretischen und -politischen Diskurs Lamperts einerseits und dem eher allokations theoretischen Diskurs Hübners entwickelt Widmaier (1994, S. 39-43) eine "Dialogik der Kooperation" "als Aufhebung des Marktes zugunsten von Selbstgestaltung" , wobei er durch die "Morals by Agreement" soziale Konflikte und Probleme einer Lösung zuführen will. Für ihn gehört zur Selbstgestaltung "der Einbezug sozialer nichtmarktlicher Ziele ebenso wie die Verhandlung über die Veränderungen der institutionellen Nebenbedingungen". Seine "Dialogik der Kooperation" ergänzt er um eine Typologie wichtiger gesellschaftlicher Allokationssysteme (vgl. ebd., S. 42); aus der Kombination von "Kooperation" und anderen "Allokationsmechanismen" sieht er Chancen für eine (demokratische) Neugestaltung von Sozialpolitik und Sozialstaat. Da die Frage nach dem Umbau und der Reform unseres Sozialstaates, wie die letzten Ausführungen eindrucksvoll verdeutlichen, viele Facetten hat, die in diesem Beitrag nicht alle abzuhandeln sind, sollen die folgenden Ausführungen sich auf einen (kleinen) Mosaikstein dieser Debatte beschränken, der allerdings für einen zentralen Teil der sozialen Sicherung, das Gesundheitswesen, von großer Bedeutung ist - von einer Bedeutung, deren Brisanz bei der öffentlichen Auseinandersetzung um das GSG und in der sich 1993 anschließenden weiteren Reformdebatte nicht wahrgenommen worden ist (vgl. Härtel, 1992, S. 500); erst in allerjüngster Zeit wird diese Brisanz (auch in der veröffentlichten Meinung) perzipiert. Es geht im Klartext um die Organisationsstruktur in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die über die ersten Ansätze des GSG wohl hinausgehen wird müssen. Lampert (1993, S. 70) selbst hat in seinem bereits mehrfach erwähnten Aufsatz diesem Reformbedarf innerhalb der GKV eine hohe Priorität zugebilligt. Vor der "Kulisse" der bisherigen Ausführungen gliedert sich der vorliegende Aufsatz wie folgt: Im nächsten Abschnitt soll geschildert werden, welche organisationsstrukturellen Ansätze das GSG von 1993 im Krankenversicherungsbereich
Überlegungen zum Gesundheitswesen
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im weitesten Sinne bereits vorsieht. Daran schließen sich ordnungs-, allokationsund versicherungstheoretische Überlegungen zu einer Umgestaltung des Krankenversicherungswesens an. Sie bilden den Hintergrund für eine Bewertung der derzeit geltenden Regelungen in diesem Bereich des Gesundheitswesens. Enden wird der Beitrag mit einer Skizze dessen, wie in Zukunft das Krankenversicherungswesen umgestaltet werden soll, wobei ebenfalls auf bereits heute erkennbare Fehlentwicklungen hingewiesen wird, die, wird ihnen nicht rechtzeitig Einhalt geboten, die nächste Reform des Gesundheitswesens scheitern bzw. ins Leere laufen lassen werden.
11. Gesundheitsstrukturgesetz und Krankenkassenwesen Das GSG hat in bezug auf das Krankenversicherungswesen zwei Neuerungen gebracht, von denen vor allem die zuerst angeführte größeres öffentliches Aufsehen erregt hat: -
Der Arbeits- und Sozialrechtssprechung in anderen Bereichen folgend, sollen in Zukunft (ab 1996) die Ersatzkassen, die bislang nur den Angestellten offenstanden, auch den Arbeitern geöffnet werden (vgl. Genosko, 1993 a, S. 22 und Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992, Bundesgesetzblatt 1992, Nr. 59, TeilI, S. 2291 f.). Wesentliches Motiv für diese Maßnahme ist der von der Rechtsprechung mehrfach festgestellte Sachverhalt, daß zwischen dem sozialrechtlichen Status von Angestellten und Arbeitern praktisch kein Unterschied mehr besteht.
-
Nach dem GSG soll zwar das gegliederte System der GKV in seiner Gänze erhalten bleiben (als da sind die RVO-Kassen, Ersatzkassen, landwirtschaftliche Krankenversicherung, Bundesknappschaft, See-Krankenkasse usw.), gleichzeitig soll aber auch ein Risikostrukturausgleich zwischen allen Krankenkassen und Krankenkassenarten durchgeführt werden, dessen (technische) Einzelheiten im GSG geregelt sind (vgl. ebd., S. 2295 ff.). Dabei soll ab 1994 der Risikostrukturausgleich in der Allgemeinen Krankenversicherung (AKV) und ab 1995 in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) durchgeführt werden. "Mit dem Risikostrukturausgleich werden die finanziellen Auswirkungen von Unterschieden in der Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, der Zahl der nach § 10 Versicherten (mitversicherte Familienangehörige-JG) und der Verteilung der Versicherten auf nach Alter und Geschlecht getrennte Versicherungs gruppen ... zwischen den Krankenkassen ausgeglichen ... Die Höhe des Ausgleichsanspruchs oder der Ausgleichsverpflichtung einer Krankenkasse wird durch Vergleich ihres Beitragsbedarfs mit ihrer Finanzkraft ermittelt. Der Beitragsbedarf einer Krankenkasse ist die Summe ihrer standardisierten Leistungsausgaben ... " (Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992, Bundesgesetzblatt 1992, Nr. 59, Teil I, S. 2295). Der Ausgleich soll grundsätzlich bundesweit durchgeführt, bis zur
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Joachim Genosko Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse in den neuen Bundesländern aber für Ost- und Westdeutschland noch getrennt vorgenommen werden (vgl. Genosko, 1993a, S. 22).
Grundsätzlich ist der Risikostrukturausgleich zu begrüßen (vgl. Härtel, 1992, S. 500). Er ist auch mit Hilfe von geeigneten Simulationstechniken und -verfahren praktizierbar; gemäß dem GSG soll die praktische Umsetzung des Risikostrukturausgleichs dem Bundesversicherungsamt übertragen werden. Nach einem durchgeführten Risikostrukturausgleich dürften Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen nur noch auf Unterschiede in der Angebotsdichte und Versorgungsqualität sowie auf Unterschiede im Management der Kassen (Kasseneffizienz) zurückzuführen sein (vgl. Henke, 1991, S. 162 ff.). Dennoch hat diese, wie erwähnt, prinzipiell zu begrüßende Organisationsreform ihre Tücken. Fürs erste müßte die Wahlfreiheit der Kassenart um die Aufhebung der regionalen Bindung der Allgemeinen Ortskrankenkassen ergänzt werden, d.h. jeder Versicherte müßte unabhängig von seinem Wohnort Zugang zu jeder AOK haben. Überdies müßten neben den Ersatzkassen auch die Betriebsund Innungskrankenkassen zur Aufnahme (betriebsfremder) Beitrittswilliger verpflichtet werden. Außerdem müßten Betriebs- bzw. Innungsangehörige aus der Exklusivbindung an je einschlägige Betriebs- und Innungskrankenkassen entlassen werden. Anders ausgedrückt, die Wahl der Kassenart muß auch Mitarbeitern bzw. Mitgliedern von Betrieben und Innungen freigestellt werden, die über eigene Krankenkassen verfügen (vgl. Härtel, 1992, S. 500). Allerdings würde eine solche Öffnung rechtliche und organisatorische Konsequenzen für Betriebs- und Innungskrankenkassen haben, auf die weiter unten noch hingewiesen werden wird. Nur wenn die eben skizzierten Bedingungen erfüllt sind, könnte ein Versicherter tatsächlich die für ihn beitragssatzgünstigste Kasse bzw. Kassenart wählen. Außerdem wäre damit eine erste notwendige Voraussetzung für einen wirksamen Kassenwettbewerb erfüllt. Um einen wirklich effektiven Kassenwettbewerb zu ermöglichen, sind allerdings zwei weitere Reformschritte erforderlich: Zum ersten sollten die Krankenkassen bei der Gestaltung ihres Leistungsangebotes frei sein, soweit dieses über die Grundsicherung hinausgeht. Zum zweiten müßten die Kassen auch die Möglichkeit haben, selbst mit den Versicherten Art und Umfang von Selbstbehalten zu vereinbaren, möglicherweise selbst auch mit den Leistungserbringern über Preise zu verhandeln 1 sowie alternative Präventionsangebote zu unterbreiten (vgl. Henke, 1991, S. 163; Härtel, 1992, S. 500)2. Auch diese Voraussetzungen eines wirksamen Kassenwettbewerbes werden weiter unten nochmals aufgegriffen. 1 Allerdings sollte dieses Recht etwa im Hinblick auf die Fallpauschalierung im stationären Bereich differenziert gestaltet werden (vgl. hierzu Breyer, 1985, S. 751-762 sowie Genosko, 1993a, S. 14 ff.). 2 Interessanterweise finden sich ähnliche Überlegungen bereits in der von Achinger, Höffner, Mutthesius und Neundörfer verfaßten "Rothenfelser Denkschrift" aus dem Jahr 1955.
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Bereits an dieser Stelle sei jedoch vennerkt, daß der Risikostrukturausgleich allein, ohne ergänzende Refonnschritte, die Gefahr in sich birgt einer tendenziellen Entwicklung des gegliederten GKV -Systems hin zur staatlichen Einheitsversicherung, da die gegliederte Struktur dann allenfalls noch verwaltungstechnische Bedeutung hätte (vgl. sinngemäß hierzu Geitermann, 1993, S. 50 f.). Ein wirksamer Kassenwettbewerb wird deshalb gefordert, weil man sich hiervon einen stärkeren Druck auf die Produzenten von Gesundheitsgütern erhofft und damit Leistungsverbesserungen zum Wohl der Konsumenten (vgl. Gitter / Oberender, 1987, S.34). Ob dem die Realität gerecht wird, wird im weiteren Verlauf ebenfalls noch zu hinterfragen sein. Als Zwischenfazit läßt sich festhalten, daß das GSG eine allenfalls rudimentäre Organisationsrefonn im Krankenversicherungsbereich anbietet, bei der viele Fragen und Probleme offen bleiben.
III. Einige theoretische Darlegungen In seinen "Prinzipien ordnungskonfonner Sozialpolitik" räumt Lampert dem "Prinzip maximaler Orientierung der Sozialpolitik an den Grundwerten der erstrebten Gesellschaftsordnung" hohe Priorität ein. Zu diesen Grundwerten zählt Lampert u. a. Solidarität und Subsidiarität, Grundwerte, die besonders auch im Kontext der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu sehen sind, weil diese Prinzipien konstitutiv für die GKV sind (vgl. sinngemäß Lampert, 1991, S. 209 und derselbe, 1993, S. 66 ff. sowie Wollenschläger, 1993, Abschnitte C.1.2 und C.1.4). Das Solidaritätsprinzip manifestiert sich in der GKV dadurch, daß bis zur Beitragsbemessungsgrenze einkommensabhängige Beiträge erhoben werden, die Leistungen der GKV sich aber am Bedarf orientieren (v gl. Wollenschläger, 1993, S. 66). Das Subsidiaritätsprinzip 3 bezieht sich im Krankenversicherungssystem auf zwei Dimensionen: Zum einen appelliert dieses Prinzip an die Eigenverantwortlichkeit des Individuums in bezug auf seine Gesundheit, zum anderen erstreckt es sich auch auf die Trägerschaft und die Organisation der Krankenversicherung. Lampert verweist in diesem Zusammenhang auf die Vorschläge von Gitter und Oberender (1987), die diese im Hinblick auf eine (Organisations-)Refonn der GKV unterbreiten. Grob skizziert, lassen sich deren Refonnvorschläge und -forderungen wie folgt zusammenfassen (vgl. Gitter / Oberender, 1987, S. 39 f.): -
Eine soziale Krankenversicherung kann auch von privaten Unternehmen, die Regulierungen unterliegen, bzw. von transferunterstützten Unternehmen getragen werden.
3 Eine inhaltliche Präzisierung des Subsidiaritätsprinzips findet sich z. B. bei Genosko (1986, S. 404 f.). Zur Genese des Subsidiaritätsprinzips vgl. auch Wollenschläger (1993, S. 69 f.) und die dort zitierte Literatur.
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Joachim Genosko
-
Die Gesellschaft muß vor einem Mißbrauch des Systems der sozialen Sicherung geschützt werden.
-
Eine GKV soll sich auf die Großrisiken (existenzgefahrdenden Risiken) beschränken, während Bagatellrisiken der Verantwortung des Individuums übertragen werden sollen. Versicherungsprinzip (Äquivalenzprinzip) und allgemeine Umverteilungsaufgaben sind voneinander zu trennen. Anders ausgedrückt, die Parafisci dürfen nicht zu einem intransparenten "sozialen Verschiebebahnhof' werden.
-
Aus der GKV sind versicherungsfremde Leistungen zu eliminieren; aktuelles Beispiel hierfür sind die Ausgaben für Pflegeleistungen, die bislang von der GKV getragen worden sind.
Im engeren organisatorischen Sinne verlangen Gitter und Oberender (1987, S. 119) eine stärkere Dezentralisierung der GKV und eine Stärkung der "Selbstverwaltung an der Basis" im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, weil so am ehesten individuelle Präferenzen zum Tragen kommen 4 • Die auf den Ordnungsprinzipien von Solidarität und Subsidiarität beruhende Herleitung der Reformvorschläge für das Krankenversicherungswesen läßt sich ebenso überzeugend auf allokations- und versicherungstheoretischen Überlegungen aufbauen. So gehen Breyer und Zweifel (1992) ganz "orthodox" neoklassisch vom Marktversagens-,,Axiom" aus: Damit ist gemeint, sie prüfen, ob es Kategorien von Marktversagen gibt, die es ausschließen, privaten Versicherungsmärkten allein die Aufgabe der Absicherung gegen das (materielle und immaterielle) Risiko "Krankheit" zu überlassen 5. Breyer und Zweifel (1992, S. 148 ff.) erkennen in der Tat zwei solche Kategorien, die einen gesetzlichen Versicherungszwang erforderlich machen, aufgrund deren Existenz also rein private Versicherungsmärkte nicht pareto-optimal sind: Im ersten Fall geht es um eine Form von "Triubreufahrerverhalten". "Free riding" kommt nach dieser Argumentationslinie dadurch zustande, daß es sich eine reiche Gesellschaft in einem sozialen Rechtsstaat nicht leisten kann, die Behandlung von Menschen von ihrer Zahlungsfähigkeit abhängig zu machen 6• Es wäre zwar im Prinzip möglich, Bedürftige kostenlos zu behandeln, aber unabhängig davon ob und wie Bedürftigkeit abgegrenzt wer4 Aus ökonomischer Sicht ist dies auch der Tenor des Rechtsgutachtens von Wollenschläger (1993, S. 85 f.). 5 Bei Gitter und Oberender (1987, S. 39) klingt für den Leser prima vista die ausschließliche Privatheit der Versicherungsmärkte an, wenn sie schreiben: "Die Aufgabe (individuelle Risiken durch eine soziale Sicherung aufzufangen - JG) kann dabei auch von regulierten privaten Unternehmen ... übernommen werden". 6 Abgesehen davon, läßt sich auch aus der Theorie der Güterexternalitäten die Notwendigkeit einer medizinischen Versorgung von Bedürftigen herleiten; es liegt selbstverständlich im Interesse aller Gesellschaftsmitglieder, durch medizinische und hygienische Maßnahmen z. B. die Ausbreitung von hochgradig ansteckenden Krankheiten zu verhindern.
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den kann, ergibt sich das Problem, daß Personen, die nur wenig oberhalb einer wie auch immer gezogenen Bedürftigkeitsgrenze liegen, kaum einen Anreiz haben, sich selbst gegen das Krankheitsrisiko abzusichern, da sie durch die Prämienausgaben möglicherweise nur ein geringeres Konsumniveau verwirklichen können als die von Anfang an als bedürftig eingeschätzten Gesellschaftsmitglieder. Damit kann es rasch zu einer Situation kommen, in der ein System kostenloser medizinischer Behandlung Bedürftiger überfordert sein müßte. Es ist deshalb zweckmäßig, in einer solchen Lage die kostenlose Behandlung Bedürftiger durch die Versicherungspflicht (Versicherungszwang) für alle zu ersetzen. M. a. W.: Durch den Versicherungszwang werden in Sonderheit Individuen, die ihre zukünftigen Bedürfnisse beträchtlich unterschätzen und die deswegen kaum oder nur unzureichend Vermögen bilden, gezwungen, selbst zu den Kosten für eine spätere Gesundheitsversorgung beizutragen; die Gesellschaft insgesamt schützt sich so vor der Ausbeutung durch Teile der Gesellschaft. Im zweiten Fall läßt sich die Notwendigkeit einer staatlichen Zwangsversicherung mit dem Vorliegen asymmetrischer Information über das Krankheitsrisiko begründen (vgl. hierzu auch Rees, 1989, insbesondere S. 77 f.). Asymmetrische Information ist gegeben, wenn zwar der einzelne sein individuelles Krankheitsrisiko kennt, die Versicherungsgesellschaft jedoch die individuellen Risiken nicht beobachten kann und daher alle Versicherungsnehmer gleich behandeln (sprich: gleiche Prämiensätze setzen) muß. Der Versicherer wird den Versicherungsnehmern demnach einen Standard-Versicherungsvertrag anbieten, bei dem zumindest die erwarteten Ausgaben der Versicherungsgesellschaft durch die Prämieneinnahmen gedeckt werden, wobei die Ausgaben eine Funktion der Verwaltungskosten sowie der Erkrankungswahrscheinlichkeiten und der Behandlungskosten der Klientel sind. Geht man von einer Vollversicherung (volle Abdeckung der Krankheitskosten) aus, so wird ein solcher Vertrag vor allem für die "schlechten Risiken" attraktiv sein, während die "guten Risiken" wegen des für sie ungünstigen "Preis-Leistungs-Verhältnisses" auf den Abschluß eines solchen Vertrages verzichten. Es kommt zu der in der Versicherungstheorie hinlänglich bekannten "adversen Selektion", die im Gleichgewicht zur Folge hat, daß nur noch die "schlechtesten Risiken" im Versicherungspool sind 7. Bei der Gefahr "adverser Selektion" kann formal nachgewiesen werden, daß eine staatliche Zwangsversicherung "mit einheitlicher Prämie unter Umständen eine Pareto-Verbesserung für die Gesellschaft herbeiführen kann" (Breyer / Zweifel, 1992, S. 150 und S. 161-167). Eine für die weiteren Überlegungen wichtige Einschränkung ist allerdings die, daß eine 7 Durch den Ausfall der .. guten Risiken" wird die Prämie höher gesetzt werden müssen als wenn ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung versichert würde. Diese höhere Prämie wird zum Ausscheiden der ..zweitbesten" Risiken führen, was eine erneute Prämienanhebung erforderlich macht. Es kommt damit zu einer ..Spirale", die, wie erwähnt, zu einer "Solidargemeinschaft der schlechtesten Risiken" führt.
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solche Pareto-Verbesserung nur dann eintritt, wenn die Zwangsversicherung nicht alle Krankheitskosten abdeckt, sondern das "Restrisiko" der individuellen Abdeckung einer privaten Zusatzversicherung überläßt. Dadurch erfolgt eine Risikomischung. Diese hat für die "schlechten Risiken" den Vorteil, bei gleichem Versicherungsschutz die Prämie verringern zu können, für die "guten Risiken" den Vorteil, daß sie nur im obligatorischen Teil der Krankenversicherung die höheren Kosten, die "schlechte Risiken" mit sich bringen, mittragen müssen. Eine Variante der eben beschriebenen Kombination von Zwangs- und privater Zusatzversicherung wäre dahingehend denkbar, daß man nach Risikoklassen getrennte Versicherungsverträge anbietet. So könnten "schlechte Risiken" einer risikoäquivalenten (staatlichen) Vollversicherung zugeordnet werden, während die "guten Risiken" eine Teilversicherung bekommen, deren Deckungsgrad jedoch so gering sein muß, daß "schlechte Risiken" keinen Anreiz haben, sich als "gute Risiken" auszugeben. Abgesehen von den empirischen Problemen der Abgrenzung von Risikoklassen, enthält dieser Vorschlag auch eine Reihe theoretischer Probleme, die an dieser Stelle nicht im einzelnen erörtert werden können (vgl. Richter / Wiegard. 1993, S. 185 ff.). In einer Art Exkurs sei noch auf ein "Gerechtigkeits argument" zur Begründung des Versicherungszwanges eingegangen. Menschen können von Natur aus mit unterschiedlichen "gesundheitlichen Startchancen" ausgestattet sein. Bei einer privaten Krankenversicherung muß jeder Versicherte eine Prämie bezahlen, die z. B. dem Erwartungswert seiner künftigen Krankheitskosten entspricht. Dieser Logik folgend, müssen deshalb Personen mit einer höheren "natürlichen" Krankheitsanfälligkeit (angeborene Krankheiten oder Behinderungen) eine höhere Prämie bezahlen als diejenigen mit einer besseren "gesundheitlichen Anfangsausstattung". Eine Marktlösung würde in diesem Zusammenhang wohl als "ungerecht" empfunden werden, weil die Betroffenen an ihrer erhöhten Krankheitsanfälligkeit "unschuldig" sind. Geeignete Maßnahmen wären in diesem Fall die Einführung eines gesetzlichen Versicherungszwangs verbunden mit einem zusätzlichen Kontrahierungszwang für die Versicherungsgesellschaften. Der Versicherungszwang sorgt über die Gleichheit der Prämie für eine tatsächliche Umverteilung zugunsten der gesundheitlich Benachteiligten, der Kontrahierungszwang dafür, daß diese Gruppe nicht bereits bei Vertrags abschluß diskriminiert wird (v gl. Breyer / Zweifel. 1992, S. 152 sowie Gitter / Oberender. 1987, S. 38). Aufgrund der bisherigen Ausführungen erscheint es sowohl ordnungs- wie auch allokations- und versicherungstheoretisch als unumstritten, daß eine entwikkelte Gesellschaft einer sozialen Krankenversicherung mit Zwangsmitgliedschaft bedarf, d.h. der Versicherte kann und darf ein Mindestmaß an Versicherungsschutz nicht unterschreiten. Damit bleibt aber noch die Frage nach Art und Umfang des obligatorischen Versicherungsschutzes offen. Art und Umfang dieses Versicherungsschutzes
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müssen gewisse Optimalitätseigenschaften aufweisen, insbesondere soll ein rational handelndes Individuum freiwillig den obligatorischen Versicherungsschutz wählen. In diesem Kontext spielen versicherungstechnische Überlegungen zum Phänomen "Moral Hazard" eine wesentliche Rolle. Generell gesprochen ist "Moral Hazard" dann gegeben, wenn die informierte Marktseite 8 in der Lage ist, eigene Merkmale endogen zu ihrem Vorteil zu verändern, ohne daß dies von der Gegenseite kontrolliert oder beobachtet werden kann (vgl. Richter I Wiegard, 1993, S. 183 sowie NeU, 1993, S. 105 ff.). Im Falle des Risikos "Krankheit" kann "Moral Hazard" in zwei unterschiedlichen Formen auftreten: -
Das Individuum kann durch Krankheitsprophylaxe bzw. durch seinen Lebenswandel seine Erkrankungswahrscheinlichkeit manipulieren. Es handelt sich um ein "Ex ante-Moral Hazard". Dies ist kein besonderes Spezifikum des Risikos "Krankheit", da fast jede Schadensart hinsichtlich ihres Eintritts vorbeugend beeinflußbar ist. Ist eine Krankheit bereits einmal eingetreten, dann lassen sich die damit verbundenen Behandlungskosten nicht eindeutig festlegen, da es teurere und billigere Therapien gibt. In diesem Fall spricht man von einem "Ex postMoral Hazard", da der Schadensfall bereits eingetreten ist. Diese Form des "Moral Hazard" ist die eigentliche Besonderheit des Risikos "Krankheit". "Ex post-Moral Hazard" kann auftreten, weil die Leistung der Versicherung im Schadensfall bei Versicherungsbeginn nicht einfach in einem Geldwert ausgedrückt, sondern nur allgemein umschrieben werden kann (vgl. Breyer / Zweifel, 1992, S. 172). So legt § 1 SGB V als Aufgabe der Krankenversicherung fest, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wieder herzustellen oder zu verbessern, und zwar in ausreichender, zweckmäßiger und wirtschaftlicher Weise.
Gibt es das "Ex post-Moral Hazard", so läßt sich dem einmal dadurch entgegenwirken, daß das Entgelt für medizinische Leistungen entsprechend gestaltet wird. Zu denken wäre hier etwa an die Fallpauschalierung im stationären Bereich (v gl. Genosko, 1993 a, S. 13 ff.). Aus dem Blickwinkel des Versicherten spricht einiges für eine Selbstbindung, weil er nur so einen Anreiz besitzt, Gesundheitsgüter kostenbewußt in Anspruch zu nehmen. In die Praxis umgesetzt, bedeutet die Selbstbindung die Akzeptanz von Selbstbehalten bei der GKV9. Dabei kann es 8 Ebenso wie bei der "adversen Selektion" handelt es sich auch bei dem "Moral Hazard" um ein Problem asymmetrischer Infonnation. Asymmetrische Infonnation liegt generell vor, wenn eine Marktseite über (private) Infonnationen verfügt, die, zunächst jedenfalls, der Gegenseite nicht zur Verfügung stehen. 9 Die praktische Ausgestaltung der Selbstbehalte kann in vielfältiger Fonn vorgenommen werden; eine Diskussion der verschiedenen denkbaren Varianten würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Zur Praxis von Selbstbehalten sei auf Genosko (1993a, S. 10 ff.), zur Theorie auf Breyer / Zweifel (1992, Abschnitte 6.4 und 6.5.) verwiesen.
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sich allerdings nur um eine "second best-Lösung" handeln, da die "first bestLösung" an einen Versicherungsvertrag gebunden wäre, bei dem der Versicherte die vollen Grenzkosten seiner Behandlung bezahlen müßte, also die Versicherungsleistung und damit die von ihm zu erbringende Prämie an seinen Gesundheitszustand gebunden wären. Dazu müßte jedoch der Versicherer den Gesundheitszustand des Versicherten kennen und ihn auch prognostizieren können, was realiter kaum möglich sein dürfte. Bei "Ex ante-Moral Hazard" ist die gerade skizzierte Selbstbindung in Form von Selbstbehalten wegen ihrer Anreizwirkung für das individuelle Verhalten ebenfalls bedeutsam. Darüber hinaus läßt es das "Ex ante-Moral Hazard" sinnvoll erscheinen, GKV und private Zusatzversicherung zu kombinieren, da dadurch der Versicherungsnehmer, z.T. wenigstens, an den Grenzkosten seiner Behandlung beteiligt wird (vgl. Breyer / Zweifel, 1992, S. 215 f.). Schließlich wäre als weitere Variante einer "second best-Lösung" ein Risikoaufschlag auf den Beitrag zur GKV für bestimmte Gruppen denkbar, nämlich für Gruppen, die durch ihren allgemeinen Lebenswandel eine erhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit erwarten lassen: Insbesondere die zuletzt genannte LÖsung trägt auch dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung, das, wie bereits früher erwähnt, auf die Eigenverantwortlichkeit des Individuums abstellt (vgl. Lampert, 1993, S. 62 f.). Allerdings ist dieser Vorschlag nicht unumstritten, wie noch darzulegen sein wird. An dieser Stelle ist es wesentlich darauf hinzuweisen, daß alle versicherungsrechtlichen Ausgestaltungen, die Anreizwirkungen entwickeln sollen, in ihrer Effektivität von der Preiselastizität der Nachfrage abhängig sind. Ist nämlich die Nachfrage nach medizinischen Leistungen vollkommen starr, so bleiben Anreize unwirksam, und der (rational) Versicherte wird einen Versicherungsvertrag ohne Selbstbeteiligung wählen, weil er damit sein Risiko vollständig auf den Versicherer abwälzen kann. Wie elastisch oder wenig elastisch die Nachfrage nach Gesundheitsgütern ist, läßt sich nur empirisch beantworten. Wille / Ulrich (1991, S. 72) ziehen aus ihrer empirischen Untersuchung den Schluß, "daß nachfrageseitige Anreizmechanismen zumindest bei einigen Behandlungsarten zu einer Eindämmung des Ausgabenwachstums beitragen können". Sie sehen die Anreizwirkung vor allem im Arzneimittelbereich. Breyer und Zweifel (1992, S. 261 ff.) prüfen anhand einer Reihe von Untersuchungen die Preiselastizität der Nachfrage nach medizinischen Leistungen. Sie kommen zu folgendem Ergebnis: "Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen, insbesondere nach ,Erstkontakten' mit einem Arzt reagiert signifikant auf den Umfang des Versicherungsschutzes, auch wenn der Wert der Preiselastizität nur bei etwa -0,1 bis -0,2 liegt" (ebd. S. 217). Auch Gitter und Oberender (1987, S. 101 f.) gehen, allerdings auf der Basis theoretischer Überlegungen, von einer von Null abweichenden Preiselastizität der Nachfrage aus und deduzieren, wie die empirischen Studien, daß die Nachfrage in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens unterschiedlich preiselastisch sein wird. Preistheoretische Gründe würden in diesem Fall eine Preisdiffe-
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renzierung nahelegen, was konkret unterschiedliche Selbstbeteiligungsniveaus bedeuten würde. Beide Autoren wenden sich jedoch nachdrücklich gegen eine derartige Differenzierung, weil sie bei einer solchen Vorgehensweise Substitutionsprozesse und Rationalisierungsbarrieren befürchten, die die Gesundheitsversorgung tendenziell verschlechtern und verteuern.
IV. Zur Bewertung geltender Regelungen im Krankenversicherungswesen In diesem Abschnitt wird die Diskussion des Abschnittes 11 nochmals aufgenommen und vertieft. Erklärtes Ziel des "Lahnsteiner Kompromisses" zwischen den Regierungsfraktionen und der SPD über das GSG (vgl. Bundesminister für Gesundheit, 1992, Pressemitteilung Nr. 117 und Genosko, 1993 a, S. 22) ist die Schaffung eines wirtschaftlichkeitsorientierten Wettbewerbs zwischen den Kassen. Ehe auf Detailfragen dieses Komplexes eingegangen wird, ist die grundsätzliche Frage zu beantworten, ob ein Kassenwettbewerb überhaupt erstrebenswert ist. In Abschnitt 11 werden als Befürworter des Kassenwettbewerbes Gitter und Oberender zitiert. Neben ihren dort holzschnittartig vorgestellten Argumenten verweisen sie des weiteren darauf, daß eine Begrenzung wettbewerblicher Marktprozesse im Gesundheitswesen den Konsumenten überhöhte Preise abverlangt und zugleich Zutrittsbarrieren für jüngere Unternehmer aufbaut, die die Verbraucher besser und preiswerter bedienen. Zur Untermauerung ihrer Argumentation verweisen sie auf die vehemente Verteidigung der überhöhten Einkommenspositionen durch die Anbieter im Gesundheitswesen sowie auf die subtilen Methoden der Zugangsbeschränkung wie Numerus clausus oder regionale Niederlassungsbeschränkungen für Ärzte und Zahnärzte 10. Zudem stärken ihrer Ansicht nach wettbewerbliche Prinzipien den Gedanken der Subsidiarität (vgl. Gitter / Oberender, 1987, S. 34) - eine Argumentation, die sich auch in den "Prinzipien ordnungskonformer Sozialpolitik" Lamperts in ausgefeilterer Form wiederfindet (vgl. Lampert, 1993, S. 66 f.). Es gibt nun auch Stimmen, die einem verstärkten Kassenwettbewerb eher mit Skepsis begegnen. Ihr Hauptargument lautet, daß ein verstärkter Wettbewerb zwischen den Kassen nicht zu einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis bei medizinischen Leistungen führt, sondern die Kassen veranlassen wird, aus ihrer "Versichertengemeinschaft" "schlechte Risiken" auszuschalten. Selbst bei Kontrahierungszwang und Versicherungspflicht hätten die Kassen die Möglichkeit der "Rosinenpickerei". Sie werden junge, gesunde und gut verdienende Leute durch attraktive Zusatzangebote besonders anlocken und chronisch Kranke durch 10 Die Protagonisten des GSG sehen allerdings die Zulassungsbeschränkungen anders. Für sie sind sie eine "Waffe" im Kampf gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, weil sie mehr Anbieter im Gesundheitswesen mit höheren Kosten gleichsetzen. Eine ausführlichere Diskussion hierzu findet sich bei Genosko (l993a, S. 17 ff.).
334
Joachim Genosko
schlechten Service zur Konkurrenz abzudrängen versuchen (vgl. Breyer / Zweifel, 1992, S. 153 f.). Daß hierbei sogar im Rahmen der GKV ein gewisser Handlungsspielraum besteht, der den Argumenten der "Wettbewerbsskeptiker" auch ein empirisches Gewicht gibt, belegen Gitter und Oberender (1987, S. 54 ff.), insbesondere wenn sie auf den wettbewerblichen Aktionsparameter "Mitgliederbetreuung" verweisen. Trotzdem ist m.E. die Argumentation der "Wettbewerbsskeptiker" nicht stichhaltig, wenn geeignete Rahmenbedingungen für den Kassenwettbewerb geschaffen werden. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit im folgenden. Eine ungeeignete Rahmenbedingung sind sicherlich die nach wie vor bestehenden regionalen und sektoralen Beschränkungen in der Wahlfreiheit der Kassen (vgl. Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992, Bundesgesetzblatt 1992, Nr. 59, Teil I, S. 2291). Daß sie aufgehoben werden müssen, wird bereits im Abschnitt 11 gefordert. In Abschnitt 11 wird ebenfalls darauf hingewiesen, daß die Öffnung von Betriebs- und Innungskrankenkassen für Betriebs- bzw. Innungsfremde erhebliche Konsequenzen für diese Kassenart haben müßte. Abgesehen von der günstigen Struktur ihrer Mitglieder haben diese Kassen auch den Vorteil, daß die Verwaltungskosten durch den Arbeitgeber übernommen werden. Um nun Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Kassenarten auszuschalten, müßten Betriebs- und Innungskrankenkassen mit ihren Verwaltungskosten belastet werden, was folglich Niederschlag in ihren Prämien finden müßte. Dies würde dieser Kassenart zwar möglicherweise noch immer kostenmäßige Wettbewerbsvorteile einräumen, aber sie wären nicht mehr so gravierend wie derzeit. Eine andere "Schwachstelle" bei der Neugestaltung des Krankenkassenwesens sind die Allgemeinen Ortskrankenkassen. Dies hängt zum einen mit dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität (vgl. § 141, Abs. 2 und § 71 SGB V) zusammen, zum anderen mit der durch Risikostrukturausgleich und Öffnung der Ersatzkassen für Arbeiter verschärften wettbewerblichen Positionierung dieser Kassenart. Als Antwort auf diese neuen Herausforderungen verfolgen die Allgemeinen Ortskrankenkassen die Strategie der Zentralisierung. So bestehen in einer Reihe von Bundesländern Bestrebungen - in Hessen wurden sie bereits in die Tat umgesetzt - , die lokalen Allgemeinen Ortskrankenkassen zu einer Landes-AOK zusammenzufassen. Fernziel ist die Bildung einer einheitlichen Bundes-AOK (vgl. Geitermann, 1993, S. 50 f.). Nur so glauben die Allgemeinen Ortskrankenkassen mit den Ersatzkassen und den besonders günstigen Betriebskrankenkassen bei den Beitragssätzen mithalten zu können. Aufgrund transaktionskostentheoretischer sowie versicherungsmathematischer Überlegungen glaubt man das Ziel der Vereinheitlichung anstreben zu müssen. Eine zentralisierte AOK, so das Argument, könnte im Verwaltungsbereich Skalenerträge realisieren und durch zentralisierte Verhandlungen mit den medizinischen Leistungsanbietern Transaktionskosten senken. Außerdem ließen sich, so eine weitere Behauptung, Nachteile im Verhandlungsprozeß beheben, da bislang den Monopolen der verschiedenen Lei-
Überlegungen zum Gesundheitswesen
335
stungsanbieter ein oligopolistisch strukturiertes Kassenwesen gegenübersteht. Schließlich böte eine größere Versichertengemeinschaft bessere Chancen für eine Beitragssatzstabilität, da in diesem Fall eher mit einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung als Klientel gerechnet werden kann. Wie "ernst" die Situation ist, zeigt sich etwa dadurch, daß die baden-württembergische Sozialministerin bereits von einer "Volksversicherung" spricht, die anzustreben sei. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß am Ende des beschriebenen Prozesses nicht nur die Allgemeinen Ortskrankenkassen als Kassenart miteinander fusionieren könnten, sondern die Kassenarten insgesamt, und daß einem solchen Ergebnis die Politik durchaus wohlwollend gegenübersteht. Die das Krankenkassenwesen betreffenden Regelungen des GSG stießen dann keinen Kassenwettbewerb an, sondern gäben den Impuls gerade zur Beseitigung dieses Wettbewerbs. Abgesehen davon, daß eine solche Strategie im AOK-Bereich dann nicht notwendig ist, wenn die oben angedeuteten Wettbewerbs vorteile etwa der Betriebskrankenkassen beseitigt werden, verletzt sie ganz grundsätzlich in eklatanter Weise den Subsidiaritätsgedanken (vgl. Bund katholischer Unternehmer, 1993, S. 20). In der Praxis hätte das u. a. Auswirkungen auf die Selbstverwaltungsorgane, wodurch sicherlich die Partizipation der Basis (der Versicherten und Beitragszahler) wie auch der Kontakt zur Basis eingeschränkt würden. Des weiteren käme es zu einer Transaktionskostenverlagerung auf die Versicherten, da besonders die Allgemeinen Ortskrankenkassen nicht mehr lokal präsent wären, was den Versicherten erhöhte Fühlungskosten auferlegen würde, da manche Auskünfte "face to face"-Kontakte erfordern und nicht auf telekommunikativem Wege erledigt werden können. Überdies wären faktisch die Kontrollbefugnisse der Selbstverwaltungsorgane beschnitten; die Bürgernähe geht verloren. In ökonomischer Terminologie gesprochen heißt dies, daß ohne ersichtliche Not individuelle Präferenzen durch die Präferenzen von Funktionären ersetzt werden, da sie es sein werden, die die zentralisierten Selbstverwaltungsorgane "bevölkern" würden (v gl. Wollenschläger, 1993, S. 82 f.). Aufgrund der vorgebrachten Einwände gegen die Zentralisierungsstrategie ist m. E. nicht einmal gesichert, daß diese tatsächlich Beitragsvorteile für die Versicherten bringt. Angesichts der theoretisch wie empirisch ungeklärten Sachverhalte erscheint es deshalb sinnvoll, zur Wettbewerbssicherung im Krankenkassenwesen an die Beiziehung wettbewerbsrechtlicher Instrumente zu denken, wie sie das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB) kennt. Eine entsprechende Novellierung des GWB wäre daher vorzunehmen, ebenso wie eine einschlägige Änderung der Reichsversicherungsordnung.
v. Folgerungen für
die Umgestaltung des Krankenkassenwesens
Die Ausführungen in den Abschnitten 11 - IV erlauben es nun, einige Schlüsse über ein zukünftiges Aussehen des deutschen Krankenversicherungssystems zu
336
Joachim Genosko
ziehen 11. Gleich vorweg sollte in Übereinstimmung mit Lampert (1993, S. 62) festgehalten werden, daß hier nicht dem "Leitbild des Minimalstaates" das Wort geredet wird, weil es extrem individualistisch ist und in seiner einseitigen Marktorientiertheit den Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht wird. Einem Kernsatz der christlichen Soziallehre, der Mensch habe im Mittelpunkt allen politischen Handelns zu stehen, würde dieses Leitbild mit Sicherheit nicht Rechnung tragen. Dennoch bedeutet die Abkehr von diesem Leitbild nicht das andere Extrem, nämlich den völligen Verzicht auf marktliche Elemente. Vielmehr soll dem Grundsatz gefolgt werden, soviel Staat wie nötig und soviel Markt wie möglich. Wie die bisherigen Überlegungen belegen, wird diesem Grundsatz am ehesten dadurch entsprochen, daß man in der Krankenversicherung zwischen Grund- und Zusatzsicherung unterscheidet bzw. trennt. Dazu böten sich zunächst systemimmanente Lösungen an. Beide sind bereits in diesem Aufsatz angesprochen worden. Es wäre durchaus denkbar, daß innerhalb der GKV die Trennung zwischen Grund- und Zusatzsicherung vorgenommen wird. Dazu müßte den Kassen der GKV "lediglich" die Möglichkeit eingeräumt werden, den potentiellen Versicherungsnehmern jenseits der Grundsicherung differenzierte Angebote zu unterbreiten, Angebote, die sich z. B. hinsichtlich der Höhe der Selbstbehalte oder der Leistungsausschlüsse unterscheiden. Zu denken wäre auch an alternative Präventionsangebote (v gl. Henke, 1991, S. 163; Härtet, 1992, S. 500) dergestalt, daß mit der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen die Zuzahlungen der Kassen variieren. Eine solche umfassende Reform der GKV dürfte allerdings auf erhebliche technische und politische Schwierigkeiten stoßen (zu Einzelheiten vgl. Henke, 1991). Da, wie in Abschnitt III ausführlich dargelegt, die Aufspaltung in Grund- und Zusatzsicherung nicht nur der Kostendämpfung im Gesundheitswesen im fiskalischen Sinn dienen soll - der Versicherte wird teilweise äquivalent an seinen Gesundheitskosten beteiligt - , sondern auch dem Anreiz zur Prophylaxe, wäre eine zweite systemimmanente Lösung denkbar, die allerdings nicht auf diese Trennung baut. Sie würde vielmehr die Beiträge für den "normalen" Versicherten unverändert lassen und bestimmte Versicherungsgruppen wie Übergewichtige, Raucher, Motorradfahrer, Leute, die gefahrliche Sportarten betreiben, Alkoholkonsumenten etc. mit Risikozuschlägen auf ihre Beiträge "sanktionieren" (v gl. hierzu beispielsweise Stokes, 1983). Obwohl ein solcher Vorschlag sicherlich einen gewissen Charme hat, ist er nicht unproblematisch. Zum einen wird der Versicherungsgedanke in gewisser Weise ad absurdum geführt, denn wenn man Risikozuschläge ernst nimmt, dann müßten sie beispielsweise auch auf gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen ausgedehnt werden. Am Ende würde dies 11 Wie bereits eingangs erwähnt, kann es sich hier nur um eine Skizze handeln. Alle Facetten dieser Thematik, die hier eine Rolle spielen (wie z. B. die Entgeltregelungen oder die Krankenhausfinanzierung), würden den Rahmen eines solchen Beitrages sprengen.
Überlegungen zum Gesundheitswesen
337
zu millionenfach verschiedenen Einzelrisiken führen, weil die Lebens- und Arbeitsbedingungen für fast jeden anders aussehen. Zum zweiten ist es schwer vorstellbar, wie solche Risikolagen ermittelt und kontrolliert werden sollen es soll z. B Menschen geben, die erfolgreich und auf Dauer ihr Gewicht vermindern, von den Problemen mit dem Schutz der Privatsphäre einmal ganz abgesehen. Zum dritten sind eine Reihe von Krankheitsfaktoren entweder überhaupt noch nicht erkannt oder innerhalb der Medizin umstritten. Zum vierten ist zu fragen, wie man mit dieser Thematik umgehen will, wenn die Genforschung weitere Fortschritte macht und zunehmend Informationen über Krankheitsprädispositionen zutage fördert (vgl. Genosko, 1993a, S. 20). Außerdem würden Risikozuschläge das "Ex post-Moral Hazard" kaum erfassen. Anders ausgedrückt, "das Ausmaß des moralischen Risikos in der Krankenversicherung läßt sich daher mit der Belohnung gesundheitsbewußten Verhaltens bzw. mit einer Bestrafung gesundheitsschädlicher Aktivitäten ... kaum eindämmen" (NelI, 1993, S. 228). Im übrigen könnte mancher zu der zynischen Einschätzung gelangen, "der frühe Tod erspare Behandlungskosten im Alter" (Henke, 1991, S. 125). Angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten mit den systemimmanenten Lösungen liegt für einen Wirtschaftspolitiker, der in Ziel-Mittel-Kategorien denkt, eine andere Alternative nahe. Diese Alternative bestünde darin, die gesundheitliche Grundversorgung der GKV zu übertragen und darüber hinausgehende Versicherungswünsche der privaten Krankenversicherung (PKV) zuzuordnen. Dies hätte den Vorteil, daß GKV und PKV gemeinsam die allokativen bzw. Effizienzziele in der Gesundheitsversorgung verwirklichen, während die heute noch gegebenen distributiven Aufgaben der GKV (wie etwa der Familienlastenausgleich), aber auch die neu entstehenden Verteilungsaufgaben im Zusammenhang mit einer derart grundlegenden Reform der Krankenversicherung dem staatlichen Steuer-Transfer-System überlassen werden könnten. Man hätte dann zwei wirtschaftspolitische Instrumente, um zwei wirtschafts-(sozial-)politische Ziele zu verwirklichen. Zwei Punkte sollen zum Abschluß noch explizit genannt werden: Eine Kombination von GKV und PKV wirkt tendenziell der Risikoselektion (dem "cream skimming") durch den Versicherer entgegen, weil der freiwillige Teil der Prämie die erwarteten Versicherungs leistungen für den Versicherten widerspiegelt. Da die optimale Höhe der Selbstbeteiligung entscheidend sowohl vom individuellen Erkrankungsrisiko wie auch von den individuellen Präferenzen abhängt, wird sie sich interpersonell unterscheiden. Eine Versicherungsdeckung (in der Praxis die weitgehende Voll deckung der Krankheitskosten), die für alle verbindlich vorgeschrieben ist, kann schon allein deswegen nicht wohlfahrtsmaximierend sein, weil sie der "Konsumentensouveränität zuwiderläuft" (v gl. Breyer / Zweifel, 1992, S. 154 und 219).
22 Festschrift Lampert
338
Joachim Genosko
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Überlegungen zum Gesundheitswesen
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22"
Von der fiskalischen Betrachtung zu mehr Patienten orientierung im Gesundheitswesen Von Klaus-Dirk Henke
I. Zum Begriff der Rationalität und zur Rationalität der Gesundheitsversorgung Der Begriff der Rationalität wird innerhalb der Wirtschaftswissenschaften unterschiedlich verwendet. Von einer ökonomisch rationalen Wirtschaftspolitik kann gesprochen werden, wenn der wirtschaftspolitische Mitteleinsatz auf ein wohl durchdachtes, in sich widerspruchfreies Zielsystem ausgerichtet ist und den jeweils bestmöglichen Erfolg erreicht, der unter den gegebenen Umständen möglich ist (v gl. Giersch, 1961, S.22). Rationalität ist in diesem Sinne ein Ideal, und die normative Ökonomie bemüht sich, Wege aufzuzeigen, sich daran anzunähern. Als Beispiel können in diesem Zusammenhang theoretische Überlegungen zu einem ökonomisch rationalen Steuersystem, womit ein Steuersystem gemeint ist, das bestmöglichst die verschiedenen sich teilweise widersprechenden Ziele der öffentlichen Finanzwirtschaft erfüllt, genannt werden (v gl. Zimmermann / Henke, 1994, S. 130 ff.).
In einem anderen Kontext ist der Begriff der politischen Rationalität zu sehen. Hierunter werden die tatsächlichen Beweggründe und das Eigeninteresse der an politischen Entscheidungen beteiligten Politiker, Beamten und Verbandsvertreter gefaßt. Die politische und die ökonomische Rationalität stehen zumindest im Idealfall in einem fruchtbaren Wechselverhältnis. Ökonomische Rationalität fließt z. B. in Form der Politikberatung in politische Entscheidungen ein, während politische Vorgaben wiederum bei ökonomischen Überlegungen helfen können. Es kann jedoch auch zu einem Konflikt zwischen diesen bei den Rationalitäten kommen, insbesondere mit dem der politischen Rationalität innewohnenden Eigennutzstreben der politischen Entscheidungsträger. Schließlich gibt es auch so etwas wie eine gewachsene oder historische Rationalität. Insbesondere bezüglich des Gesundheitswesens kann man davon sprechen, daß die jahrelangen Auseinandersetzungen um die richtigen Regelungen quasi im Wege eines "trial and error"-Verfahrens rationale Lösungen hervorbrachten. Dieser Aspekt ist besonders dann von Bedeutung, wenn tiefgreifende, systemverändernde Reformen ohne Rücksicht auf die gewachsenen Strukturen gefordert werden, denn diese können unkalkulierbare Risiken in sich bergen.
Klaus-Dirk Henke
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Es fehlt an einer ausgebauten Theorie zur Rationalität der Sozial- bzw. Gesundheitspolitik. In der gesundheitspolitischen Diskussion wird dieser Mangel beklagt, und es wird deutlich, daß der ausschließliche Verweis auf die Grundsätze der Solidarität und Subsidiarität als Grundlage für eine empirisch überprüfbare Gesundheitspolitik nicht mehr ausreicht (Schulin, 1988, S. 85 ff.). Über die (ökonomische) Analyse der Berechtigung staatlicher Intervention in die Krankheitsversorgung und gesundheitlicher Betreuung der Bevölkerung hinaus, sind Kriterien erforderlich, die die Rationalität einer Versorgung beurteilen helfen (siehe hierzu Henke, 1994, S. 71 ff.). Zu fragen ist ähnlich wie in der Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft, in welche Richtung sich die soziale Sicherung insgesamt und speziell im Krankheitsfall weiterentwickeln soll und welche Kriterien zur Beurteilung des Systems und seiner Reform herangezogen werden können. E. von Hippet (1979) nennt beispielsweise folgende Gesichtspunkte, die sich auf die Soziale Sicherung insgesamt beziehen: -
angemessene Sicherung der Bevölkerung gegen die wichtigsten Lebensrisiken;
-
Verbot willkürlicher Differenzierungen,
-
größtmögliche Transparenz,
-
optimale Prävention und Rehabilitation,
-
Förderung der Eigenverantwortung,
-
gerechte Lastenverteilung,
-
maximale Effizienz,
-
Minimierung der Verwaltungskosten.
Unter der Überschrift "Förderung der Eigenverantwortung" ist es seiner Ansicht nach beispielsweise wichtig, Beiträge und soziale Leistungen so auszugestalten, daß der Anreiz zur eigenen Bemühung nicht verloren geht, sondern gefördert wird. Dieser Gesichtspunkt spricht seiner Meinung nach grundsätzlich gegen eine Finanzierung von Sozialleistungen aus dem allgemeinen Steueraufkommen, weil den Versicherten hier nicht klar vor Augen geführt wird, "daß die soziale Sicherung - wie alle knappen Güter und Dienste - erarbeitet werden muß" und er nicht klar zu ermessen vermag, "welche eigenen Verantwortungen er trägt" (S. 67 f.). Deshalb ist eine Finanzierung durch einkommensbezogene Abgaben (Beiträge oder Sondersteuern) vorzuziehen, denn so bleibt den Gesicherten das Bewußtsein dafür erhalten, daß sie ihre Ansprüche auf Sozialleistungen durch Selbstvorsorge verdienen müssen - eine Selbstvorsorge, die übrigens auch die Rechtfertigung für die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung und für den Schutz vor unangemessener Entziehung von sozialrechtlichen Ansprüchen durch Art. 14 GG bildet.
Patientenorientierung im Gesundheitswesen
343
Im Kontext dieses Beurteilungskriteriums kommt von Hippel (S. 27 ff.) auch auf Fragen der Grundsicherung und führt aus: "Der Staat solle die Initiative und Verantwortung des einzelnen nicht ersticken, sondern durch Beschränkung auf die Sicherung eines Existenzminimums dem einzelnen Raum für eine freiwillige zusätzliche Daseinsvorsorge lassen. Eine weitergehende Zwangsvorsorge (zu entsprechend höheren Beitragslasten) verkürze nicht nur die Freiheit des einzelnen, über sein Einkommen nach eigenem Gutdünken zu verfügen, sondern wirke sich auch gesamtwirtschaftlich nachteilig aus: sie beeinträchtige nämlich privates Sparen und private Versicherung und vermindere so die Bildung von Kapital, das die Wirtschaft für Investitionen benötige." Nach dieser Ansicht sollen die Leistungen der Sozialversicherung nur das Existenzminimum garantieren. Einer zweiten Ansicht folgend sollen hingegen in etwa das bisherige Erwerbseinkommen und damit der erarbeitete Lebensstandard gesichert werden. Es fällt nicht schwer, die Beurteilungskriterien auf einzelne Systeme der sozialen Sicherung zu übertragen. Auf die Gesetzliche Krankenversicherung bezogen sehen H. Lampert und A. Bossert (1993) als Hauptziel einer sozialen Sicherung im Krankheitsfall eine ordnungskonforme Sozialpolitik. Diese ließe sich ihrer Ansicht nach umsetzen durch -
eine maximale Orientierung der Sozialpolitik an den Grundwerten der erstrebten Gesellschaftsordnung,
-
die Sicherung maximaler Wirtschaftssystemverträglichkeit bei der Verwirklichung sozialpolitischer Ziele,
-
eine maximale sozialpolitische Ausrichtung der Wirtschaftsordnungspolitik,
-
den Vorrang der Sozialordnungspolitik vor einer interventionistischen Sozialpolitik,
-
eine maximale soziale und wirtschaftliche Effizienz bei minimaler Eingriffsintensität und
-
Beachtung sozialstaatlicher Grenzen, d. h. vor allem, daß Mißbrauch weitgehend ausgeschaltet werden muß und daß die Abgabenlast der Unternehmen in Grenzen gehalten werden sollte.
Zieht man diese Kriterienkataloge heran und ergänzt sie um die folgenden Ziele der Gesundheitsversorgung, so ergeben sich zusätzliche Ansatzpunkte zur Beurteilung der Vorschläge zukünftiger Ausgestaltung des Krankenversicherungsschutzes.
11. Ziele einer ergebnisorientierten Gesundheitsversorgung Im Sinne einer ergebnisorientierten Gesundheitsversorgung, wie sie jüngst vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Sachstandsbericht 1994 konzipiert und diskutiert wurde, sollen die Ziele
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Klaus-Dirk Henke
der Krankenversorgung und gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung und der Gesundheitspolitik den Ausgangspunkt für die Gestaltung von Organisation und Finanzierung der Gesundheitsversorgung bilden (v gl. SVRKAiG, 1994, S. 35 ff.). Der Abbildung 1 sind verschiedene Zielebenen zu entnehmen. Aus Sicht der Versorgung der Bevölkerung und aus ärztlicher Sicht steht zunächst die Zielebene I im Vordergrund; sie umfaßt u. a. die Verhütung, die Heilung und Linderung von Krankheit sowie damit verbundenem Schmerz und Unwohlsein und die anderen dort genannten Elemente. Auf der zweiten Zielebene der Abbildung 1 werden zusätzlich unverzichtbare gesundheitspolitische Vorstellungen aufgenommen. Im Vordergrund steht die Versorgung mit dem medizinisch Notwendigen für die gesamte Bevölkerung unabhängig von Einkommen, Wohnort und sozialem Status. Das Finanzierungssystem muß dafür sorgen, daß derjenige Anteil an volkswirtschaftlichen Ressourcen, der gesellschaftlich für die gesundheitliche Versorgung als notwendig erachtet wird, aufgebracht wird. Diese Frage rückt insbesondere durch die Politik der Budgetierung und Deckelung, von der die natürliche Wachstumsdynamik des Gesundheitswesens beeinflußt wird, stärker in den Mittelpunkt. Weitere Ziele sind der Zielebene 11 zu entnehmen. Im Sinne einer ergebnisorientierten Gesundheitspolitik ist besonders die Struktur der zu finanzierenden Gesundheitsleistungen von Bedeutung. Sie sollte bestmögliehst den Präferenzen der Versicherten, der Patienten mit ihren Angehörigen bzw. der Gesellschaft entsprechen. Die neueren Diskussionen um die Vorteile und Möglichkeiten einer "sprechenden Medizin" sowie um die Probleme der "Apparatemedizin" und schließlich um die Bedeutung der Gesundheitsvorsorge zeigen, daß die gewachsene Struktur der Gesundheitsleistungen keineswegs unumstritten ist. Ein rationales Finanzierungssystem muß durch die Gewährleistung von Selbststeuerungsfähigkeit dafür sorgen, daß das Angebot an Gesundheitsleistungen immer wieder den veränderten Bedürfnissen angepaßt werden kann und Anreize für zuwendungsorientierte Leistungen setzen. Darüber hinaus ist der Zielebene III auch eine gruppenspezifische Orientierung nach Krankheitsarten zu entnehmen, die z. B. im Zusammenhang mit der demographischen Herausforderung eine besondere Akzentuierung erfährt. Schließlich gehört auch eine bestmögliche Sicherung der Qualität der Gesundheitsversorgung für alle Bürger zu den Zielen. Das Finanzierungssystem kann dazu beitragen, z. B. Anreize zur Sicherung der notwendigen Fachkunde zu setzen, den medizinischen und medizinisch technischen Fortschritt zu nutzen, um einen möglichst hohen Behandlungserfolg zu erzielen. Die Orientierung an den genannten Zielen gilt für alle Leistungsbereiche des Gesundheitssystems. Ohne in diesem Beitrag darauf eingehen zu können, sei darauf verwiesen, daß auch die zuständigen Träger gefunden werden müssen, die die Verantwortung für die Ziel- und Aufgabenbereiche übernehmen. Dabei
Patientenorientierung im Gesundheitswesen
-
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Zielebene I: Krankenversorgung und gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung: Verhinderung des vermeidbaren Todes, Verhütung, Heilung und Linderung von Krankheit (und Versorgung bei Pflegebedürftigkeit) sowie damit verbundenem Schmerz und Unwohlsein, Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Funktionstüchtigkeit, Wahrung der menschlichen Würde und Freiheit auch im Krankheitsfall und beim Sterben, ,,Angstfreiheit" durch Verfügbarkeit von Leistungen für den Eventualfall (Kompetenz, Rechtzeitigkeit, freie Arztwahl etc.), Stärkung des Gesundheitsbewußtseins, Förderung des medizinischen und medizinisch-technischen Fortschritts. Zielebene 11: Gesundheitspolitische Ziele:
-
gleicher Zugang zu einer "unabdingbar notwendigen" Krankenversorgung mit bestmöglicher Qualität,
-
Höchstmaß an Freiheit und Eigenverantwortung für alle Beteiligten (Freiberuflichkeit, Selbststeuerungskraft etc.),
-
einzelwirtschaftliche Effizienz und gesamtwirtschaftlich vertretbare Höhe der (öffentlich finanzierten) Gesundheitsausgaben,
-
Absicherung des Pflegerisikos,
-
Reduktion schichtenspezifischer Unterschiede in Mortalität und Morbidität,
-
Staatliche Sicherstellung von Solidarität und intergenerativer (Fii1anzierungs-) Gerechtigkeit.
Zielebene 111: Gruppenspezifische Orientierung nach Krankheitsarten und Bevölkerungsgruppen -
Ziele nach Krankheitsarten sowie Bevölkerungsgruppen (z. B. geriatrisch gerontologische Rehabilitation und Prävention) Wünsche der Versicherten und Patienten bei der Behandlung (z. B. primärärztliche Grundversorgung und spezialärztliche Zusatzversicherung; Bestellsystem, bestimmte Öffnungszeiten von Praxen). Abbildung 1: Zielebenen im Gesundheitswesen
fällt dem Grundsatz der Subsidiarität und den Erkenntnissen aus der Theorie des Föderalismus besondere Bedeutung zu (Zimmermann / Henke, 1994, S. 171 ff.). In den folgenden Ausführungen steht die Finanzierung einer stärker ziel- bzw. ergebnisorientierten Krankenversorgung und gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung im Vordergrund. Bei der Ermittlung von Rationalitätskriterien der Finanzierung des Gesundheitswesens soll zwischen äußerer Finanzierung (Mittelaufbringung) der Krankenversicherungsausgaben und innerer Finanzierung (Mittel verwendung) der Gesundheitsleistungen unterschieden werden.
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111. Anforderungen an die äußere Finanzierung I Bei der äußeren Finanzierung ist zunächst der Finanzierungsgegenstand einer Krankenversicherung zu umschreiben. Da die Krankenversorgung und gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung die Risikovorsorge im Krankheitsfall umfaßt, kann die Risikovorsorge zum einen darauf gerichtet sein, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens zu mindern (Risikoprävention), zum anderen die finanziellen Konsequenzen eines Behandlungsfalls abzudecken (Risikoübernahme). Bei der Art der Finanzierung stehen verschiedene grundsätzliche Finanzierungsoptionen zur Wahl, die durch unterschiedliche ordnungspolitische Ausrichtungen gekennzeichnet sind und in unterschiedlicher Weise mit den Finanzierungsformen (Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren) verknüpft sind (vgl. Abb. 2). Dort wird nach dem Finanzierungsgegenstand, den Finanzierungsformen, der Finanzierungsart und schließlich dem eingeführten Finanzausgleich nach Risikoelementen (GKV) und nach Ausgaben (Pflegeversicherung) unterschieden. I) Finanzierungsgegenstand
einer Krankenversicherung
Mindcnmg der Schadenswahrschcinlicltkcit (Risikorriivclltion)
Risikovorsorge im Krankhcitsl~111
Bezahlung der Ausgabl!1l
eines ßchandlungsfallcs (Risikoühcmalnllc)
UmJagevcrfahrcll
2) Finanzierungsform
~
3) Finanzierungsart
~
(Koslenmäßigc Äquivalenz im Querschnitt) KapitaldcckwlgsvcrfallfCll (Kostcll- und marktmäßige Äquivalenz im Längsschnitt) risikooriemicTtc Beiträge cinkommcnsoriclllicrtc 13citrligc allgemeine Dcckungsmiucl (Steuern)
4) Finanzausgleich ~ zwischen den Trägem
nach RisikoclcmcntclI
(z. B. Alter, Geschlecht, Familienangehörige, beitragspflichtiges Einkommen, Erwerbs-/Berufsunrethigkcit)
versichenmg
nach Ausgaben
(z. ß. für Rentner. Pflegefalle)
der Kranken-
nicht erforderlich
Abbildung 2: Mittelautbringung: äußere Finanzierung Als prinzipielle Arten der äußeren Finanzierung gelten im Rahmen der Finanzierungsmöglichkeiten der Daseinsvorsorge Rücklagen, risikoorientierte Beiträge (Versicherungsprämien), einkommensbezogene Sozialversicherungsbeiträge und allgemeine Deckungsmittel (überwiegend Steuern) (vgl. Abb. 3). I Siehe zu folgendem im einzelnen Henke, K.-D., Alternativen zur Weiterentwicklung der Sicherung im Krankheitsfall, in: Hansmeyer, K.-H. (Hrsg.), Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherung H, S. 120-134, siehe auch Henke, K.-D. / Lutz, P. / Ade, c., Anforderungen an eine rationale Finanzierung von Gesundheitsleistungen, in: Dokumentationsband zum 3. IKK-Forum "Soziale Krankenversicherung: Erfolgs- oder Auslaufmodell? - Das Gesundheitswesen in Deutschland zwischen Solidarität und Eigenverantwortung" , Bergisch-Gladbach 1994.
Patientenorientierung im Gesundheitswesen
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