208 10 22MB
German Pages 206 [216] Year 2010
Thomas Apolte und Uwe Vollmer (Hg.)
Bildungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft
Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft
Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gutmann, Köln Dr. Hannelore Hamel, Marburg Prof. Dr. Helmut Leipold, Marburg Prof. Dr. Alfred Schüller, Marburg Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Düsseldorf Prof. Dr. Stefan Voigt, Marburg
Unter Mitwirkung von Prof. Prof. Prof. Prof.
Dr. Dr. Dr. Dr.
Dieter Cassel, Duisburg Karl-Hans Hartwig, Münster Hans-Günter Krüsselberg, Marburg Ulrich Wagner, Pforzheim
Redaktion:
Dr. Hannelore Hamel
Band 91:
Bildungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft
©
^.ΐ·
L u c i u s & L u c i u s · Stuttgart - 2 0 1 0
Bildungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft
Herausgegeben von
Thomas Apolte und Uwe Vollmer
Mit Beiträgen von Thomas Apolte, Klaus Beckmann, Björn Frank, Antje Funcke, Achim Hauck, Oliver Jennissen, Andreas Knorr, Martin Leschke, Nadine Lindstädt, Jochen Michaelis, Heiko Peters, Maik Pradel, Rahel Schomaker, Heinz-Dieter Smeets, Alexander Spermann, C. Katharina Spieß, Daniel Tibor, Uwe Vollmer
Lucius & Lucius · Stuttgart -2010
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Thomas Apolte Westfälische Wilhelms-Universität Institut für Ökonomische Bildung Scharnhorststraße 100 48151 Münster [email protected]
Prof. Dr. Uwe Vollmer Universität Leipzig Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Marschnerstraße 31 04109 Leipzig [email protected]
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft; Bd. 91) ISBN 978-3-8282-0503-1
© Lucius & Lucius Verlags-GmbH · Stuttgart «2010 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Isabelle Devaux, Stuttgart Druck und Einband: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Printed in Germany
ISBN 978-3-8282-0503-1 ISSN 1432-9220
Vorwort Weil Wissen eine wertvolle Ressource ist, stellt die Organisation von Wissensbildung eine wichtige Aufgabe dar, die einer ökonomischen Analyse zugänglich ist. Hierbei werden Qualität und Rentabilität von Bildungsinvestitionen nicht zuletzt durch staatlich gesetzte Rahmenbedingungen beeinflusst, was auch an den Ergebnissen der PISA-Studie deutlich wurde. Umgekehrt beeinflusst die Qualität der Wissensbildung individuelle Aufstiegschancen und hat langfristig auch Konsequenzen für den Ordnungsrahmen in einer Gesellschaft. Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, den Zusammenhang zwischen Wissensbildung und ökonomischem Ordnungsrahmen am Fallbeispiel der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland zu untersuchen. Er gibt einige Beiträge (einschließlich von Korreferaten) wieder, die vom 15. bis zum 22. Februar 2009 im Forschungsseminar Radein vorgestellt wurden. Dort werden ökonomische Methoden angewendet, aber auch interdisziplinäre Sichtweisen eingebracht und pädagogische Aspekte betrachtet. Im Mittelpunkt des Bandes steht die Frage, welche Bedeutung der Rechtsrahmen für Qualität und Rentabilität von Bildungsinvestitionen und deren Allokation hat; gefragt wird aber auch, warum Bildungsinvestitionen (bzw. deren Fehlen) von Bedeutung für das Fortbestehen der Sozialen Marktwirtschaft sind. Der Band ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden einzelne bildungspolitische Kernbereiche genauer betrachtet und verschiedene Bildungsangebote im individuellen Lebenszyklus als Gliederungskriterium verwendet. Zunächst beschäftigt sich C. Katharina Spieß (Berlin) in ihrem Beitrag „Sieben Ansatzpunkte für ein effektiveres und effizienteres System der frühkindlichen Bildung in Deutschland" mit der Bildung in den ersten Lebensjahren. Sie zeigt, dass öffentliche Investitionen in den Bereich der frühkindlichen Bildung effizient sind und diskutiert verschiedene Ansatzpunkte, wie entsprechende Investitionen in Deutschland noch effizienter gestaltet werden können. Antje Funcke unterstreicht in ihrem Korreferat noch einmal die Bedeutung der Qualität frühkindlicher Bildung, insbesondere im Zusammenhang mit ihrer Rolle für die Chancengleichheit von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Hintergründen. Hieran anschließend diskutiert Björn Frank (Kassel) unter dem Titel „Ökonomische Analyse einiger Elemente des deutschen Schulsystems" ausgewählte Aspekte des Schulsystems in Deutschland, nämlich die Zuordnung von Schülern auf Schulbezirke, die Schulpflicht (die in Deutschland strenger als in anderen Ländern ausfällt, wo auch häuslicher Unterricht zugelassen ist) und die Anreize fur Schulen, die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten von Schülern zu fordern. Achim Hauck (Düsseldorf) diskutiert in seinem Korreferat, ob die Einführung fester Schulbezirke Segregationstendenzen entgegenwirken kann. Im dritten Beitrag mit dem Titel „Hochschulreform und Hochschulfinanzierang im Bologna-Prozess" analysiert Klaus Beckmann (Hamburg) die Hochschulausbildung und diskutiert die mit dem Bologna-Prozess verbundenen Reformen und Änderungen in der Hochschulfinanzierung. Sein Anliegen ist es, die Verbindungen zwischen Hochschulreform und Hochschulfinanzierung auszuloten und zu zeigen, dass von der Hochschulfinanzierung zukünftig eine größere Anreizwirkung ausgehen wird. Heinz-Dieter Smeets unternimmt es im anschließenden Korreferat, den sehr inhaltsreichen Beitrag Beck-
VI
Vorwort
matins mit Blick auf die gestellten Finanzierungsfragen von Hochschulen zu systematisieren. Ebenfalls mit der Hochschulbildung befassen sich Rahel Schomaker, Daniel Tibor und Andreas Knorr (Speyer) in dem Beitrag „Qualitätssicherung durch Akkreditierung?", der den ersten Teil des Bandes beendet. Sie führen ausgiebig in das deutsche Akkreditierungssystem ein, stellen deren Akteure, Kriterien und Verfahren vor und hinterfragen dessen Eignung, als Instrument der Qualitätssicherung zu dienen. Nadine Lindstädt (Pforzheim) diskutiert im Korreferat einige im Hauptreferat nicht oder nur kurz angesprochene Fragen, wie die nach der optimalen Größe des Marktes fiir Akkreditierungsagenturen oder die mit der Re-Akkreditierung von Akkreditierungsagenturen verbundenen Probleme. Der zweite Teil des Bandes behandelt den Zusammenhang zwischen Bildung, Dynamik des Arbeitsmarktes und sozialer Vorsorge. Dazu thematisiert zunächst Oliver Jennissen (Münster) im Beitrag „Die Rolle der Bildung in der Sozialen Marktwirtschaft" den Zusammenhang zwischen Bildung und Ungleichheit und diskutiert, inwieweit Bildungsmaßnahmen für benachteiligte Kinder ein zentrales wirtschaftspolitisches Instrument in der Sozialen Marktwirtschaft sind. Martin Leschke bündelt in seinem Korreferat die zentralen Argumente Jennissens noch einmal und stellt im Anschluss die Frage, welche bildungspolitischen Schritte in Deutschland vor diesem Hintergrund angemessen wären. Mit Blick auf versäumte Bildungsinvestitionen untersuchen Thomas Apolte und Heiko Peters (beide Münster) unter dem Titel „Lohnspreizung und Qualifikation von Arbeitnehmern: Internationale Erfahrungen und theoretische Erkenntnisse", worin die in den letzten Jahrzehnten beobachtbare zunehmende Lohnspreizung zwischen hoch qualifizierten und gering qualifizierten Arbeitskräften begründet ist. Sie interessiert, ob diese Entwicklung auf veränderte Bildungsrenditen oder auf einen Wandel in der Struktur des Arbeitsangebots zurückzuführen ist. Zudem fragen sie, ob sich die wachsende Lohnspreizung modelltheoretisch durch technischen Fortschritt oder zunehmende Globalisierung erklären lässt. Maik Pradel (Leipzig) ergänzt die Modellanalyse und deutet in seinem Korreferat an, wie sich strukturelle Effekte, bedingt durch demografischen Wandel oder Migrationen, auf die Lohnspreizung mithilfe des Instrumentariums der kooperativen Spieltheorie abbilden lassen. Abschließend bieten Jochen Michaelis (Kassel) und Alexander Spermann (Freiburg) unter dem Titel „Geringqualifizierte Arbeit, Marktlöhne und Sozialpolitik: Konzepte für Deutschland" einen Überblick über die jüngere Diskussion zur Grundsicherung in Deutschland und diskutieren die Auswirkungen verschiedener Reformvorschläge. Sie zeigen, dass Arbeitslosigkeit unter gering qualifizierten Personen in Deutschland Ausdruck eines politischen Dilemmas ist und die derzeit diskutierten Vorschläge dieses Dilemma nicht auflösen können. Uwe Vollmer (Leipzig) fragt in seinem Korreferat, welche Lehren aus Erfahrungen in anderen Ländern für die deutsche Diskussion gezogen werden können und ob ein Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Qualifikationsniveau besteht. Natürlich beabsichtigt der Band mit der Zusammenstellung dieser sieben Beiträge keinen umfassenden Überblick über die Bedeutung von Bildung in der Sozialen Marktwirtschaft, sondern will allein einzelne Teilaspekte des Themas berühren. Dennoch hof-
Vorwort
VII
fen die Herausgeber, mit der vorliegenden Zusammenstellung dem an bildungsökonomischen Fragen interessierten Leser einige Anregungen bieten zu können. Der Band konnte nicht ohne die Hilfe anderer entstehen, denen die Herausgeber Dank schulden. Genannt seien insbesondere Ulrike Michalski (Duisburg) sowie Nele Franz und Marie Möller (beide Münster), die den Band redaktionell betreut und ihn in seine endgültige Form gebracht haben. Besonders gedankt seien der Henkel-Stiftung und der Ludwig-Erhardt-Stiftung für die finanzielle Förderung des Seminars. Münster und Leipzig, im Dezember 2009 Thomas Apolte
Uwe Vollmer
Inhalt
Teil I: Bildungspolitische Kernbereiche C. Katharina Spieß
Sieben Ansatzpunkte für ein effektiveres und effizienteres System der frühkindlichen Bildung in Deutschland
3
Antje Funcke
Korreferat
19
Björn Frank
Ökonomische Analyse einiger Elemente des deutschen Schulsystems
25
Achim Hauck
Korreferat
45
Klaus Beckmann
Hochschulreform und Hochschulfinanzierung im Bologna-Prozess
49
Heinz-Dieter Smeets
Korreferat
79
Rahel Schomaker Daniel Tibor Andreas Knorr
Qualitätssicherung durch Akkreditierung?
83
Nadine Lindstädt
Korreferat
111
Teil II: Bildung, Arbeitsmarkt und soziale Vorsorge Oliver Jennissen
Die Rolle der Bildung in der Sozialen Marktwirtschaft
119
Martin Lesehke
Korreferat
137
Thomas Apolte Heiko Peters
Lohnspreizung und Qualifikation von Arbeitnehmem: Internationale Erfahrungen und theoretische Erkenntnisse
141
Maik Pradel
Korreferat
165
Jochen Michaelis Alexander Spermann
Geringqualifizierte Arbeit, Marktlöhne und Sozialpolitik: Konzepte für Deutschland
173
Uwe Vollmer
Korreferat
203
Teilnehmer des Forschungsseminars Radein 2009
206
Teil I: Bildungspolitische Kernbereiche
Thomas Apolte und Uwe Vollmer (Hg.), Bildungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 91 • Stuttgart • 2010
Sieben Ansatzpunkte für ein effektiveres und effizienteres System der frühkindlichen Bildung in Deutschland
C. Katharina Spieß
Inhalt 1.
Einführung
4
2.
Erster Ansatzpunkt: Mehr öffentliche Ressourcen
4
3.
Zweiter Ansatzpunkt: Bundesbeteiligung nachhaltig sichern
5
4.
Dritter Ansatzpunkt: Weitere Mittel der Länder und Kommunen
7
5.
Vierter Ansatzpunkt: Privat-gewerbliche Anbieter ebenfalls
6.
Fünfter Ansatzpunkt: Steigerungen der pädagogischen Qualität
11
7.
Sechster Ansatzpunkt: Größere Zielgruppenorientierung
12
8.
Siebter Ansatzpunkt: Familien stärker integrieren
14
9.
Fazit
15
Literatur
fördern
8
16
4
1.
C. Katharina Spieß
Einführung1
In den letzten Jahren wird zunehmend auf die Bedeutung der frühen Kindheit für die Bildung im Jugend- und Erwachsenenalter bzw. für Bildungsprozesse schlechthin hingewiesen. Dies wird unterlegt mit Forschungsergebnissen aus der neuronalen Hirnforschung, der Entwicklungspsychologie, der Erziehungswissenschaft und vermehrt auch aus dem Bereich der Bildungsökonomie. Nicht zuletzt weist in jüngster Vergangenheit der Ökonomienobelpreisträger James Heckman in unterschiedlichen Arbeiten immer wieder darauf hin, dass die Rendite von Investitionen in das Humanvermögen in den frühen Jahren am höchsten ist, insbesondere wenn Kinder aus benachteiligten Familien betrachtet werden (vgl. statt vieler Cunha et al. 2006; Heckman 2000; 2007). Dem frühkindlichen Bildungsbereich sollte von daher eine besondere Bedeutung zukommen, denn frühkindliche Bildungsinvestitionen können volkswirtschaftlich hoch rentabel sein. Dies haben belastbare Kosten-Nutzen-Analysen aus dem angloamerikanischen Raum belegt. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis umfasst in diesen Studien eine Bandbreite von 1:3 bei der Carolina Abecedarian Study bis zu 1:17 beim Perry Preschool Project (für zusammenfassende Darstellungen vgl. Spieß 2009a; 2004). Allerdings ist diesen Interventionsstudien gemeinsam, dass zum einen primär Kinder aus benachteiligten Familien betrachtet wurden und zum anderen die Programme sehr spezifisch auf diese Kinder und ihre Familien zugeschnitten waren. Dies betrifft sowohl die pädagogische Qualität als auch die Integration der Eltern: Die pädagogische Qualität der Programme war überdurchschnittlich hoch und die Elternarbeit der Programme ging weit über die üblicher Förderprogramme hinaus (vgl. Abschnitt 8). Auch in Deutschland gibt es zunehmend Berechnungen, welcher Nutzen der Volkswirtschaft durch einen Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur zu Gute kommt und welche Kosten dem gegenüberstehen. Die Mehrheit dieser deutschen Analysen fokussiert allerdings auf die Nutzenströme, die aufgrund einer erhöhten mütterlichen Erwerbstätigkeit zu erwarten sind. Nur wenige deutsche Kosten-Nutzen-Berechnungen konzentrieren sich auf die Nutzenströme, die aufgrund von frühkindlichen „Bildungsinvestitionen" zu erwarten sind (vgl. für die wenigen Ausnahmen Fritschi und Oesch 2008; Anger et al. 2007). Außerdem sind diese Berechnungen, nicht zuletzt aufgrund einer unzureichenden Datenlage, weniger differenziert. Sie kommen jedoch zu ähnlichen Ergebnissen (vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung bei Spieß 2009a). All diese Studien belegen, dass öffentliche Investitionen in den Bereich der frühen Bildung besonders effektiv und effizient sind. In diesem Beitrag werden sieben Ansatzpunkte benannt und diskutiert, wie in Deutschland entsprechende Investitionen noch effektiver und effizienter gestaltet werden können. Die folgenden Abschnitte sind dementsprechend gegliedert.
2.
Erster Ansatzpunkt: Mehr öffentliche Ressourcen
Im Vergleich der unterschiedlichen Bildungsbereiche westlicher Industrienationen kommt dem frühkindlichen Bereich bildungspolitisch ein geringer Stellenwert zu, auch wenn seine bildungspolitische Bedeutung in den letzten Jahren zugenommen hat. Im Durchschnitt der OECD-Staaten betragen die Ausgaben für die Betreuung von Kindern,
Eine Zusammenfassung dieses Beitrags erschien als Kommentar im Wirtschaftsdienst 2009.
Frühkindliche Bildimg in Deutschland
5
die noch keine Schule besuchen, 0,6 % des Bruttoinlandproduktes (BIP). Anderen Bildungsbereichen, wie dem Primarbereich, kommen im OECD-Mittel mit 1,4% bzw. dem Sekundarbereich mit 2,2 % mehr öffentliche Mittel zu (vgl. OECD 2009a: Tabellen PF10.1 und PF2.1). Dies wird auch dann sehr deutlich, wenn die jährlichen Ausgaben pro Kind betrachtet werden: Im OECD-Durchschnitt betragen diese 3.667 US$ für den Bereich der 3-6 Jährigen, 6.360 US$ pro Schüler im Primarbereich und 7.094 US$ pro Schüler im Sekundarbereich (OECD 2009a: Tabellen PF10.2 und PF2.2). In Deutschland sind insbesondere die Ausgaben für den Bereich der Betreuung und Bildung von Kindern unter drei Jahren sehr niedrig: Insgesamt gibt Deutschland nur 0,1 % seines BIP für diesen Bereich aus, der entsprechende Anteil für Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt ist mit 0,3 % des BIP etwas höher (OECD 2009a: Tabelle PF 10.1). Im Primarbereich betragen die Ausgabenanteile immerhin 0,7 % des BIP und im Sekundarbereich 2,3 % des BIP (OECD 2009a: Tabelle PF2.1). Dieses Bild bestätigt sich, wenn die jährlichen Ausgaben pro Kind betrachtet werden: OECD-Statistiken weisen aus, dass für die Bildung und Betreuung von Kindern im Alter von 3-6 Jahren im deutschen Durchschnitt jährlich 3.538 US$ ausgegeben werden, für Grundschulkinder 5.088 US$ und für Kinder in der Sekundarstufe 6.656 USS pro Schüler (OECD 2009a: Tabelle PF 10.2 und PF2.2 und OECD 2009b: Tabelle X2.5). Für die Altersgruppe der 0-2 Jährigen liegen keine entsprechenden Angaben vor. Für Deutschland kennzeichnend sind die relativ hohen Ausgaben im Bereich der Sekundarstufe. Vor dem Hintergrund der vergleichsweise hohen Renditen im frühkindlichen Bereich sollten in Deutschland demnach weitere öffentliche Mittel investiert werden, auch um mit anderen Bildungsbereichen aufzuschließen.
3.
Zweiter Ansatzpunkt: Bundesbeteiligung nachhaltig sichern
Die Notwendigkeit einer Steigerung öffentlicher Mittel im Bereich der frühen Kindheit haben politische Akteure in Deutschland auf unterschiedlichen Ebenen - des Bundes, der Länder und vieler Kommunen - in den letzten Jahren vermehrt erkannt. Die für die Finanzierung in Deutschland zuständigen Länder und Kommunen haben teilweise ihre Ausgaben in diesem Bereich gesteigert. Auch der Bund hat sich erstmalig zu einer expliziten Mitverantwortung an der Finanzierung der frühen Förderung von Kindern bereit erklärt: In Ansätzen geschah dies bereits mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) aus dem Jahr 2004. Die Bundesbeteiligung wurde noch expliziter mit dem Kinderförderungsgesetz (KiFöG), das am 1. Januar 2009 in Kraft trat. Gemäß dem KiFöG verwendet der Bund insgesamt vier Milliarden Euro für den Ausbau der Betreuung für Kinder unter drei Jahren („U3-Ausbau"). Es stehen 2,15 Milliarden Euro über ein Sondervermögen für Investitionskosten bereit. Außerdem beteiligt sich der Bund in der Aufbauphase bis 2013 mit 1,85 Milliarden Euro an den Betriebskosten für die Einrichtungen, danach dauerhaft mit jährlich 770 Millionen Euro im Jahr. Diese Ausgaben werden durch eine Umverteilung in der Umsatzsteuerverteilung zugunsten der Länder finanziert. Die Beteiligung des Bundes ist ökonomisch sinnvoll und notwendig, denn auch der Bund hat einen hohen Nutzen aus einer frühkindlichen Förderung. Rauschenbach und Schilling (2007) schätzen, dass dem Bund 26 % der zusätzlichen staatlichen Einnahmen, Einsparungen und Minderausgaben zukommen, die nach ihren Schätzungen einem Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur folgen könnten.
6
C. Katharina Spieß
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Döring (2008) vor dem Hintergrund der ökonomischen Föderalismustheorie. Allerdings spricht nach dieser Theorie zunächst einiges für eine dezentrale Aufgabenerfüllung, da nachgeordnete Gebietskörperschaften - in diesem Falle die Kommunen - besser dazu in der Lage sind, ein präferenzengerechtes und kostengünstiges Angebot bereitzustellen. Wenn allerdings kommunale Aufgaben einen Nutzen aufweisen, der über die regionalen Grenzen hinweg geht, so stimmen im Sinne des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz Nutznießer und Kostenträger der kommunalen Leistungen nicht mehr überein. Wie einschlägige Kosten-Nutzen-Betrachtungen zeigen (vgl. ζ. B. auch Vesper 2004), ist dies im deutschen System der Kindertageseinrichtungen der Fall. Demnach weisen im Bereich der Kindertageseinrichtungen („Kita") zumindest in Teilen räumlich zu erwartende Spillover-Effekte auf eine zentralstaatliche Finanzierungszuständigkeit hin (Döring 2008, S. 258 ff.), also zumindest auf eine Mitfinanzierungszuständigkeit des Bundes. Ein weiteres Argument für eine Bundesbeteiligung kann in dem grundgesetzlich verankerten Auftrag der Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse gesehen werden. Wie ζ. B. in Spieß et al. (2008) sowie in der Studie der Bertelsmann Stiftung (2008) dargelegt, sind einheitliche Lebensverhältnisse im gegenwärtigen „Status quo" der frühkindlichen Bildung in Deutschland nicht gewährleistet. Es gibt nicht nur große regionale Unterschiede im Kinderbetreuungsangebot zwischen den Ländern, sondern auch zwischen den Kreisen (vgl. auch Statistisches Bundesamt 2007). Wenn also aus verteilungspolitischen Überlegungen regional gleichwertige „Förderchancen" im Bereich der frühen Kindheit gewährleistet werden sollen, spricht auch dies für eine nachhaltige Bundesbeteiligung (vgl. dazu auch Döring 2008, S. 262). Es ist zu erwarten, dass dann regionale Unterschiede geringer sind. Vieles spricht demnach für eine Beteiligung des Bundes an der Finanzierung. Welche Formen sollte diese annehmen? Die gegenwärtigen Regelungen zu einer Bundesbeteiligung, wie sie im KiFöG festgehalten sind, sind eine verfassungskonforme Möglichkeit, wie der Bund sich direkt an den Investitionskosten und indirekt an den Betriebskosten eines Kita-Ausbaus beteiligen kann. Diese Regelungen stellen allerdings nicht explizit sicher, dass die vom Bund zur Verfügung gestellten Mittel im Betriebskostenbereich auch tatsächlich dem Bereich der Kinderbetreuung zukommen. Die Länder müssen ihre höheren Umsatzsteueranteile nicht zwingend in den Ausbau von Kindertageseinrichtungen investieren, dazu kann sie keiner verpflichten. Die Bundesbeteiligung an den Ausgaben für Kindertageseinrichtungen kommt damit nicht zwingend und eventuell nicht in vollem Umfang diesem Bereich zu. Letztlich ist es im gegenwärtigen System nach wie vor eine Frage der politischen Prioritätenfestsetzung, ob diese Mittel für den Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur verwandt werden. 2
2
Einen empirischen Beleg dafür, wie politische Mehrheiten das Kinderbetreuungsangebot einer Region beeinflussen, liefert eine aktuelle empirische Studie von Schlotter (2009). Für eine theoretische Analyse der Anreizkompatibilitäten des deutschen Finanzausgleichs auf Ebene der Länder und Kommunen vgl. Döring (2008), der zu dem Ergebnis kommt, dass das deutsche System Fehlanreize bezüglich verstärkter Investitionen in den frühkindlichen Betreuungsbereich setzt.
Frühkindliche Bildung in Deutschland
7
Grundsätzlich wäre von daher eine andere Form der Bundesbeteiligung vorzuziehen: Im Sommer 2007 wurde überlegt, ob der Bund sich über Bundesgutscheine an den Kosten fur den Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur beteiligt (vgl. ζ. B. Emundts 2007). Dies ist eine Lösung, die eine Zweckbindung der Mittel garantiert (vgl. dazu Spieß 2009b; 2008a; 2008b; BMFSFJ 2008). Eine dauerhaft angelegte Beteiligung des Bundes an der Finanzierung von Kindertageseinrichtungen könnte über dieses Finanzierungsmittel expliziter gesichert werden, da zumindest die Verwendung der Bundesmittel nicht von der politischen Prioritätensetzung der Länder und Kommunen abhängig wäre. Sie könnte in Anlehnung an „Bafog-Zahlungen" für Schüler und Studierende als Bundesleistung direkt und zweckgebunden den Nachfragern einer frühkindlichen Förderung zukommen. 3 Diese Alternative ist auch insofern diskussionswürdig, da sie nahezu die einzige verfassungskonforme Möglichkeit ist, wie sich der Bund explizit an den Betriebskosten für Kindertageseinrichtungen beteiligen kann (vgl. dazu ζ. B. Richter 2007). Zweckgebundene Transfers an die Nachfrager, wie Gutscheine, haben darüber hinaus den Vorteil, dass mit ihnen Steuerungswirkungen verbunden sein können (vgl. dazu ζ. B. Spieß 2009b). Dies kann vor dem Hintergrund einer größeren anzustrebenden Zielgruppenorientierung zusätzlich sinnvoll sein (vgl. dazu Abschnitt 7). Es spricht zusammenfassend Einiges dafür, eine Bundesbeteiligung nachhaltig zu sichern - und zwar über die gegenwärtige Ausbauphase hinaus. Denn auch mittel- bis langfristig wird der Bund einen hohen Nutzen aus einer bedarfsgerechten Infrastruktur im U3-Bereich haben. Darüber hinaus sollte konkret darüber nachgedacht werden, ob der Bund sich in Form von Bundesgutscheinen nicht auch an der Förderung von Kindern im Alter von drei Jahren und älter („Kindergartenalter") beteiligt. Denn auch hier entsteht ein Nutzen, der über die räumlichen Grenzen von Kommunen und Ländern hinausgeht. Es lässt sich hier analog dem Bereich der Betreuung für Kinder unter drei Jahren argumentieren.
4.
Dritter Ansatzpunkt: Weitere Mittel der Länder und Kommunen
Die Ausgaben des Bundes sollen mit dazu beitragen, dass bis zum Jahr 2013 für 35 % der Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsplatz zur Verfugung steht. Die ostdeutschen Bundesländer haben mit einer Betreuungsquote von 42,4 % diese Zielmarke bereits erreicht, in den westdeutschen Bundesländern ist sie mit 12,2 % (Stand: März 2008) noch weit unter dem anvisierten Platzangebot (vgl. Schilling 2009a). Es muss deshalb insbesondere in Westdeutschland von den für den Betreuungsausbau verantwortlichen Ländern und Kommunen noch einiges mehr investiert werden. Sie sollten die vom Bund zur Verfugung gestellten Mittel, die ihnen über mehr Umsatzsteuerpunkte zukommen, tatsächlich für diesen Ausbau ausgeben. Wie bereits diskutiert ist dies nicht zwingend. Kurzfristig könnten die Länder sich dazu aber in einem Staatsvertrag verpflichten, dies würde den Druck und auch die Verbindlichkeit der entsprechenden Steuermittelverwendung erheblich erhöhen (vgl. für diesen Vorschlag Färber 2008, S. 211).
3
Dabei meint dieser Hinweis auf das deutsche „Bafög" nicht, dass die öffentlichen Transferleistungen im Kita-Bereich künftig als Kredite ausgezahlt werden sollen. Dieser Aspekt der „Bafög-Zahlungen" ist hier ausdrücklich nicht angesprochen.
8
C. Katharina Spieß
Oder die Kommunen und Länder einigen sich darauf, den kommunalen Finanzausgleich zu reformieren (vgl. Vesper 2004). Aus ökonomischer Sicht spricht Einiges dafür, eine an der Kinderbetreuung orientierte Ausgestaltung von Nebensätzen im kommunalen Finanzausgleich vorzunehmen: Je mehr Kinder in einer Gemeinde leben und je besser die Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind, umso mehr Geld sollte zur Verfugung gestellt werden. Dies könnte den Wettbewerb zwischen den Kommunen um eine bedarfsgerechte Betreuungsinfrastruktur beleben. Unabhängig davon ist auf der Ebene der Länder und insbesondere der Kommunen eine effiziente Angebotsplanung unerlässlich. Kinderbetreuungsangebote müssen sich an der lokalen Bedarfsentwicklung orientieren und die räumlich unterschiedlichen Präferenzen der Eltern berücksichtigen. Döring (2008, S. 260) spricht in diesem Kontext von einer dezentralen Zuständigkeit für die Produktion des „Gutes Kinderbetreuung", die allerdings keine dezentrale Finanzierungsverantwortung beinhaltet. Auch im Bereich der Betreuung und Bildung von älteren Vorschulkindern müssen zusätzliche finanzielle Anstrengungen der Länder und Kommunen mit dazu beitragen, das Angebot zu verbessern. Hier geht es nicht um eine Schaffung von Plätzen schlechthin, dies gewährleistet bereits der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem vierten Lebensjahr eines Kindes. Im „Kindergartenbereich" geht es vielmehr um die Bereitstellung umfassender bzw. ganztägiger Betreuungsangebote. In Westdeutschland gibt es nur für 22 % der Kindergartenkinder Ganztagsplätze (Schilling und Lange 2009). Hinzu kommt, dass nach wie vor insbesondere in Westdeutschland nicht in allen Einrichtungen die Betreuung über die Mittagszeit mit einem Essen gewährleistet ist. In Ostdeutschland erhalten 97 % bzw. 96 % aller Kinder unter drei Jahren bzw. der Kinder im Kindergartenalter ein Mittagessen, während dies in Westdeutschland mit 56 % bzw. 33 % sehr viel weniger Kinder sind. Der Vergleich zwischen den Ländern zeigt zudem große Divergenzen: In der jüngeren Altersgruppe erhalten beispielsweise in BadenWürttemberg nur 37 % der Kinder eine Mittagsverpflegung, während es in Hamburg fast 93 % sind. Für die ältere Altersgruppe sind in Baden-Württemberg die Anteile mit knapp 17 % noch geringer und in Hamburg mit 76 % ebenfalls geringer als in der jüngeren Altersgruppe. In den ostdeutschen Bundesländern ist die Versorgung mit einem Mittagessen fast für alle Kinder in Kindertageseinrichtungen gegeben (vgl. ζ. B. Spieß et al. 2008). Von daher müssen insbesondere in Westdeutschland neben dem Bund, den Ländern und den Kommunen auch die Träger der Einrichtungen bei einem Ausbau in vielerlei Hinsicht mitziehen. Dabei sind die kommunalen Träger ebenso gefragt wie die Träger der freien Jugendhilfe. Sie sind es, die in Deutschland den frühkindlichen Bildungsbereich dominieren.
5.
Vierter Ansatzpunkt: Privat-gewerbliche Anbieter ebenfalls fördern
Allerdings sollten Länder und Kommunen auch privat-gewerbliche Anbieter fördern. Sie könnten mit dazu beitragen, den bedarfsgerechten Ausbau sowohl im „U3-Bereich" als auch im Bereich der Bildung und Betreuung von Kindergartenkindern zu beschleu-
Frühkindliche Bildung in Deutschland
9
nigen. Bisher haben sie in Deutschland kaum eine Bedeutung. Der Marktanteil der nicht staatlichen Träger, die nicht gemeinnützig wirtschaften, betrug im Jahr 2008 im U3Bereich in Westdeutschland 4 % und in Ostdeutschland 1,2 % (dies umfasst die rein privat-gewerblichen Einrichtungen wie auch betriebliche Einrichtungen). Im Bereich der Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren war der Anteil mit 0,7 % (West) und 0,4 % (Ost) noch niedriger (vgl. Schilling 2009b). Diese geringe Marktpräsenz ist vorrangig darauf zurückzufuhren, dass eine Förderung privat-gewerblicher Träger bis zum Jahr 2005 grundsätzlich nicht möglich war. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) hat der Bundesgesetzgeber es den Ländern allerdings freigestellt, andere Regelungen zu treffen. Eine anvisierte bundeseinheitliche Regelung, die in einen Gesetzentwurf zum KiFöG Eingang gefunden hat, hat sich allerdings nicht durchgesetzt. In sechs Bundesländern war die Förderung von so genannten „Wirtschaftsunternehmen" jedoch bereits im Jahr 2007 zulässig, und in drei weiteren Ländern war dies in Ausnahmefallen möglich. Lediglich fünf Bundesländer lehnen dies grundsätzlich ab (vgl. Schilling 2008b). Die Gründe dafür mögen unterschiedlich sein. Insgesamt bestehen vielerorts immer noch „Vorbehalte" gegenüber privat-gewerblichen Angeboten (vgl. ζ. B. Der Paritätische Gesamtverband 2008 oder GEW 2008). So wird teilweise vermutet, dass eine Aufgabe des Gemeinnützigkeitsstatus als Voraussetzung für eine öffentliche Förderung zu Einbußen bei der Qualität führt und Preissteigerungen zu erwarten sind. Es wird davon ausgegangen, dass eine Aufgabe des Gemeinnützigkeitsstatus dem Übergang zu einem „Marktmodell" gleichkäme, das dann mit erheblichen Qualitätseinbußen, schlechteren Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und einer größeren Anzahl von „Marktein- und -austritten" verbunden ist. Diese Vermutungen, die mit Empirie aus den USA oder auch dem australischen Markt begründet werden (vgl. dazu auch Moss 2008), ignorieren allerdings, dass Einbußen in der Qualität oder auch Preissteigerungen nur in einem „Markt" zu erwarten sind, der keine oder nur eine geringe Qualitätssicherung und einen freien Preiswettbewerb aufweist bzw. zulässt (vgl. dazu auch Apolte und Funke 2008, S. 235). Der britische oder auch der australische Markt sind solche Märkte. Der deutsche „Markt" ist im Vergleich zu anglo-amerikanischen „Märkten" allerdings stark reguliert, er weist Markteintrittsbeschränkungen, Qualitätsmindeststandards und Preisregulierungen auf (vgl. Spieß 1998; 2008b). In Deutschland ist der Markteintritt aller Anbieter über eine Betriebserlaubnis geregelt, und es werden staatliche Qualitätssicherungsmaßnahmen bei allen Kindertageseinrichtungen durchgeführt - auch bei den bisher nicht bundesweit geforderten privat-gewerblichen Trägern. Darüber hinaus finden sich bereits im zuständigen Bundesgesetz, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, Regelungen zu der Erhebung von „Kostenbeiträgen". Die große Mehrheit der Länder regelt die „Preise" für Kindertageseinrichtungen verbindlich, so dass im Bereich frühkindlicher Bildung keine freie Preissetzung möglich ist (vgl. ζ. B. Lange 2008). Wenn privat-gewerbliche Anbieter öffentliche Fördergelder erhalten, sind auch für sie entsprechende Gebührenordnungen bindend. Massive Preissteigerungen sind von daher nicht zu erwarten. Vielmehr würde eine Einbindung der privat-gewerblichen in die öffentliche Förderung die Anreize zu einem potentiellen „Rosinenpicken" nichtig machen. Dies ist im bisherigen deutschen System zu erwarten, da sich privat-gewerbliche Träger auf-
10
C. Katharina Spieß
grund von Wettbewerbsbeschränkungen auf jene Nachfrager konzentrieren, die eine hohe Zahlungsbereitschaft aufweisen. Diese Nachfragergruppen sind bereit, die hohen „Preise" zu zahlen, die die privat-gewerblichen aufgrund einer fehlenden Förderung verlangen müssen und dürfen. Würden privat-gewerbliche Anbieter in Deutschland dagegen flächendeckend gefördert werden und damit entsprechend an Gebührenordnungen gebunden sein, ist eine Konzentration auf einkommensstarke Nachfragergruppen nicht mehr zu erwarten. Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass auch „Non-Profit-Anbieter" nicht per se eine gute Qualität anbieten. Auch wenn sie keine direkte Gewinnerzielung verfolgen, so haben auch sie Anreize, verdeckte Überschüsse zu erwirtschaften, die dann typischerweise in den laufenden Kosten versteckt werden, um offen ausgewiesene Gewinne zu vermeiden. Apolte und Funke (2008, S. 235) weisen darauf hin, dass diese Kosten aus Aufwendungen bestehen können, welche den (leitenden) Mitarbeitern direkten Nutzen stiften und damit ein Ersatz sind für Gewinne, die sie der „Non-ProfitEinrichtung" nicht entnehmen dürfen. Außerdem belegen fundierte empirische Studien, dass auch „For-Profit-Anbieter" eine gute pädagogische Qualität zu Kosten anbieten können, die sogar leicht unter den Kosten der „Non-Profit-Anbieter" liegen (vgl. dazu Blau und Currie 2008). Abschließend lässt sich also festhalten, dass in dem regulierten deutschen System noch mehr Länder die Förderung privat-gewerblicher Anbieter nutzen sollten, um die Geschwindigkeit des Ausbaus zu forcieren. Dass darin ein Potential besteht, zeigt der Anteil der privat-gewerblichen am „U3-Ausbau" der letzten drei Jahre: Er betrug zwischen 2006 und 2008 immerhin 7 % und dies, obwohl gewinnorientierte Anbieter keinesfalls bundesweit gefördert werden (Schilling 2009b). Auch Beispiele aus anderen sozialen Dienstleistungsbereichen Deutschlands zeigen, dass die Förderung privatgewerblicher zu einem raschen Angebotsausbau beitragen kann, ohne mit Qualitätseinbußen verbunden zu sein. Dabei ist aber von hoher Relevanz, dass es sich um einen stark regulierten sozialen Dienstleistungsbereich handelt: Mit der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes im Jahr 1995 wurde es privat-gewerblichen Anbietern im Bereich der Altenpflege erstmalig möglich, eine öffentliche Förderung zu erhalten. Inzwischen sind privat-gewerbliche Anbieter in diesem Bereich etabliert, und es bestehen kaum noch fachöffentliche Diskussionen darüber, ob die Förderung privat-gewerblicher Anbieter im Bereich der Altenpflege sinnvoll ist.4 Das Beispiel Finnlands zeigt darüber hinaus, dass in der Förderung privat-gewerblicher Kita-Anbieter ein Potential liegen kann. Dort wurden vor einigen Jahren Gutscheine für die Betreuungsleistungen privatgewerblicher Anbieter eingeführt. Wie die Studie von Vitannen (2008) zeigt, konnte dadurch die Dynamik im Ausbau der Betreuungsinfrastruktur tatsächlich erhöht werden.
4
Auch vor dem Hintergrund der EU-Dienstleistungsrichtlinie ist eine Förderung privatgewerblicher Träger notwendig, da ansonsten eine Wettbewerbsbeschränkung gegenüber anderen Dienstleistungsanbietem bestehen würde.
Frühkindliche Bildung in Deutschland
6.
11
Fünfter Ansatzpunkt: Steigerungen der pädagogischen Qualität
Ein rein quantitativer Ausbau wird allerdings nicht ausreichen, wenn die grundsätzlich hohe Rendite frühkindlicher Bildungsinvestitionen ausgeschöpft werden soll. Auch unter qualitativen Gesichtspunkten muss Deutschland weiter aufholen. Hier hat sich in den letzten Jahren Einiges getan: Auf Bundesebene hat der Bund ζ. B. das „Aktionsprogramm Kindertagespflege" ins Leben gerufen. Damit soll die Kindertagespflege in Deutschland zu einer qualitativ gleichwertigen Alternative für die Betreuung insbesondere sehr junger Kinder werden. Mit dem „Forum frühkindliche Bildung" will der Bund Impulse für die qualitative Weiterentwicklung der Kindertageseinrichtungen geben. Nach wie vor liegt die originäre Aufgabe der Qualitätssicherung aber bei den Ländern und Kommunen. Auch diese haben in den letzten Jahren vielfältige Anstrengungen unternommen, um die pädagogische Qualität der Bildungs- und Betreuungsangebote zu verbessern. Auf regionaler Ebene oder auch auf der Ebene einzelner Einrichtungen gibt es viele Vorbilder. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass es in Deutschland kein systematisches Vorgehen für eine Qualitätssicherung im System der frühkindlichen Bildung und Betreuung gibt (Apolte und Funke 2008, S. 234). Wenn im schulischen Bereich große Unterschiede zwischen den Bundesländern beklagt werden, so kann im Elementarbereich von einer noch sehr viel größeren Heterogenität gesprochen werden (vgl. dazu auch Bertelsmann Stiftung 2008; Spieß et al. 2008). Bildungschancen variieren im frühkindlichen Bereich noch sehr viel stärker regional als in anderen Bildungsbereichen. Es fehlt ein einheitliches bundesweites Qualitätskonzept. Dieses wäre aber ökonomisch sinnvoll, wenn davon auszugehen ist, dass zumindest Mindeststandards für eine gute pädagogische Qualität fest stehen. Wenn dem so ist, sollten davon alle Kinder in ganz Deutschland profitieren. Darüber hinaus sprechen ökonomische Gründe nicht nur für ein gesamtdeutsches Qualitätskonzept, das zu gleichwertigen Bildungschancen in ganz Deutschland beitragen kann, sondern es spricht vieles für eine bundesweit einheitliche Qualitätssicherung. Der Bund sollte sich, so Färber (2008, S. 211), gegen die Abgabe von Steuereinnahmen das Recht sichern, vergleichende Leistungsmessungen durch eine unabhängige wissenschaftliche Einrichtung durchführen zu lassen. So wird argumentiert, dass dezentralisierte Kompetenzen, wie sie in Deutschland vorliegen, noch schlechtere und ineffizientere öffentliche Leistungen als in unitaristischen Staaten verursachen (vgl. Färber 2008, S. 211). Es sollte deshalb diskutiert werden, eine unabhängige Institution mit der Sicherung einer guten pädagogischen Qualität zu beauftragen. Forschungsbasiert könnte diese Institution Mindeststandards formulieren und weiterentwickeln (vgl. für einen ähnlichen Vorschlag Kreyenfeld et al. 2001; Spieß und Tietze 2002; Apolte und Funke 2008, S. 237, S. 243). Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass sich alle Länder in jüngster Vergangenheit auf die Einführung von Bildungsplänen verständigt haben. Positiv hervorzuheben ist, dass zwischen 2002 und 2006 alle Länder entsprechende Pläne erarbeitet und veröffentlicht haben. Ein genauerer Blick auf die Bildungspläne zeigt jedoch, dass diese extrem heterogen sind, was ihre Inhalte, ihre Implementierung, aber insbesondere auch ihre Verbindlichkeit angeht (vgl. auch Diskowski 2007). So ist in sieben von 16 Ländern keine landesrechtliche Regelung zu finden, welche Kindertageseinrichtungen zur Im-
12
C. Katharina
Spieß
plementation von Bildungsplänen verpflichtet (vgl. dazu Lange 2008, S. 243). Darüber hinaus ist häufig nicht erkennbar, welche Anreize gesetzt wurden, um eine Einhaltung der Bildungspläne zu garantieren. Einige Länder, wie ζ. B. Berlin, machen künftige Finanzierungszusagen an die Einrichtungen auch von qualitativen Aspekten abhängig, die über die bisherigen Standards hinausgehen. Solche Anreize sind insbesondere dann effektiv und effizient, wenn sie mit transparenten, validen und belastbaren Qualitätsfeststellungsverfahren verbunden sind. Fernerhin sollten einheitliche Qualitätsfeststellungsverfahren auch deshalb weiter vorangetrieben werden, da sie auch als ein Instrument dienen können, welches Eltern eine bessere Beurteilung der pädagogischen Qualität ermöglicht. Ein solches Instrument ist aus ökonomischen Überlegungen notwendig, um die asymmetrischen Informationsverhältnisse in diesem „Marktsegment" zu verringern (für eine Diskussion derselben in Märkten für Kinderbetreuung siehe Spieß 1998; Duncan und Giles 1996; Apolte und Funke 2008). Wie auch empirische Untersuchungen zeigen, überschätzen Eltern häufig die pädagogische Qualität (für eine neuere Studie vgl. Mocan 2007). Verbraucherschutz ist hier notwendig (vgl. dazu Spieß 2003), und die Nachfrager brauchen Instrumente, wie beispielsweise ein Qualitätsgütesiegel, um eine fundierte Entscheidung für ihre Kinder und sich treffen zu können (vgl. Spieß und Tietze 2002; Tietze und Förster 2005). Ein zentraler Aspekt der Qualität von Kindertageseinrichtungen ist die Ausbildung des Personals. Es ist empirisch nachgewiesen, dass die Qualifikation der Fachkräfte häufig einen größeren Einfluss auf die Qualität der Bildung und Betreuung hat, als andere Merkmale der Strukturqualität, wie ζ. B. die Gruppengröße oder der BetreuerKind-Schlüssel (vgl. Blau 2001). 5 Diesem Aspekt der Qualitätssicherung kommt von daher ein besonderer Stellenwert zu. In deutschen Fachkreisen wird zurzeit vielfach diskutiert, die Qualifikation der Erzieherinnen und Erzieher zu verbessern. Es existieren vielfältige Ansätze. Sie sollten bundesweit noch stärker gebündelt und aufeinander abgestimmt werden. Wenn es in Deutschland - und Vieles spricht gegenwärtig dafür - zu einer Anhebung des Ausbildungsniveaus von Erzieherinnen und Erziehern kommt, wäre dies außerdem mit höheren Löhnen für diese Berufsgruppe verbunden. Das heißt eine Höhergruppierung von Erzieherinnen im öffentlichen Dienst wäre notwendig. Auch von daher müssen mehr Ressourcen in den frühkindlichen Bereich fließen, wenn die Kosten in anderen Bereichen nicht reduziert werden sollen.
7.
Sechster Ansatzpunkt: Größere Zielgruppenorientierung
Die potentiell hohe Rendite frühkindlicher Bildungsinvestitionen kann jedoch nicht alleine durch einen quantitativen und qualitativen Ausbau frühkindlicher Förderangebote realisiert werden. Vielmehr sind insbesondere jene Gruppen zu beachten, deren Förderung eine besonders hohe Rendite verspricht. Dies sind Kinder aus benachteiligten Familien. Auf der einen Seite gilt der deutsche Elementarbereich international betrachtet als vorbildlich, da er grundsätzlich auf Kinder aller Familien ausgerichtet ist und in
5
Dies darf nicht heißen, dass allein eine Akademisierung des Personals in Kindertageseinrichtungen mit einer besseren pädagogischen Qualität gleichzusetzen ist.
Frühkindliche
Bildung in
Deutschland
13
diesem Sinne als „universal approach" zu bezeichnen ist (vgl. OECD 2006). Eine Analyse der Nutzergruppen von deutschen Kindertageseinrichtungen zeigt auf der anderen Seite, dass gerade jene Gruppen, die von einer frühkindlichen Förderung besonders profitieren könnten, in deutschen Kindertageseinrichtungen unterrepräsentiert sind. Dies ist insbesondere für Kinder im „U3-Bereich" der Fall. Kinder aus einkommensarmen oder auch deprivierten Haushalten sind vor allem in den früheren Jahren in Kindertageseinrichtungen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit vertreten (vgl. Fuchs 2006; Kreyenfeld 2008). Dies belegen auch differenzierte Analysen auf der Basis des Soziooekonomischen Panels (SOEP): Wird das Konzept der Einkommensarmut verwendet, so zeigt sich, dass sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland Kinder aus armen Haushalten eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit haben, eine Kindertageseinrichtung zu nutzen, als nicht-arme Kinder. Im Westen verringert sich diese Wahrscheinlichkeit c. p. um etwas mehr als 5 %, wenn das Kind in einer einkommensarmen Familie lebt. Im Osten beträgt dieser Wert sogar nahezu 10 %. Wenn das Konzept der Deprivationsarmut anstelle von Einkommensarmut benutzt wird (vgl. Spieß et al. 2008), dann zeigen sich noch stärkere negative Effekte der Armutssituation. In Ostdeutschland sinkt die Nutzungswahrscheinlichkeit von armen Kindern um fast 14 % und in Westdeutschland um 12 % (vgl. Spieß et al. 2008). Kinder, bei denen beide Elternteile einen Migrationshintergrund aufweisen, haben im Westen ebenfalls eine signifikant geringere Wahrscheinlichkeit, eine Kindertageseinrichtung zu besuchen. Mit einer um fast 12 % verringerten Wahrscheinlichkeit gegenüber Kindern ohne Migrationshintergrund ist dieser Effekt sehr hoch. Kinder, bei denen nur ein Elternteil einen Migrationshintergrund aufweist, haben dagegen keine signifikant niedrigere Nutzungswahrscheinlichkeit als Kinder ohne Migrationshintergrund. Ein Bildungssystem, das frühkindlich in das Humanvermögen der Zukunft investieren möchte, darf Kinder aus benachteiligten Familien nicht außen vor lassen. Im frühkindlichen Bereich sollten demnach öffentliche Ressourcen noch gezielter eingesetzt werden, um diese Gruppen zu fördern. Dies darf nicht bedeuten, dass der deutsche Ansatz einer Kindertageseinrichtung für alle Kinder obsolet wäre. Denn eine alleinige Förderung von ganz bestimmten Zielgruppen ist aus unterschiedlichen Gründen ebenfalls nicht sinnvoll. Barnett diskutiert die „Pros" und „Cons" universeller Programme und solcher, die ausschließlich benachteiligte Kinder fördern (vgl. Barnett et al. 2004). Zum einen gibt er zu bedenken, dass die Kosten einer universellen Förderung geringer sind, als die alleinige Förderung einzelner Gruppen, da zum einen Stigmatisierung vermieden werden kann und zum anderen der Fördererfolg erhöht werden kann, wenn Kinder in heterogenen Gruppen betreut werden. Außerdem weist er darauf hin, dass für universell ausgerichtete Programme eine größere öffentliche Unterstützung zu erwarten ist, da von ihnen potenziell alle profitieren. Darüber hinaus haben zielgruppenspezifische Programme das Problem der Zielgruppenabgrenzung und Zielgruppenerreichbarkeit. Zum anderen gibt Barnett aber auch zu bedenken, dass rein universelle Programme weniger auf die spezifischen Bedarfe einzelner Zielgruppen eingehen und deshalb nicht effektiv und effizient sind. Von daher ist ein Ansatz, der als „target within universal" bezeichnet wird, sinnvoll. Wenn sich das deutsche System in diese Richtung orientiert, so muss stärker über konkrete Vorschläge diskutiert werden, wie die Nutzungsquoten von Kindern aus benachteiligten Gruppen in Deutschland erhöht werden können.
14
C. Katharina
Spieß
Üblicherweise würden Ökonomen vermuten, dass niedrigere Preise zu einer höheren Inanspruchnahme fuhren. Es ist für Deutschland allerdings nicht zu erwarten, dass eine weitere Befreiung der Eltern von „Kita-Gebühren" zu einer stärkeren Inanspruchnahme von Kindertageseinrichtungen durch Kinder aus benachteiligten Gruppen führen wird. Vielmehr sind die damit verbundenen „Mitnahmeeffekte" hoch und nicht zwingend effektiv. Darüber hinaus zahlen Familien mit geringem Einkommen bereits heute häufig keine oder nur geringe Beiträge. In nahezu allen Bundesländern sind einkommensgestaffelte Elternbeiträge die Regel. Lediglich vier Bundesländer geben nur eine Empfehlung zur Staffelung der Elternbeiträge, d. h. dort ist eine Staffelung nicht verpflichtend (vgl. Lange 2008). In Härtefällen entfallen die Gebühren häufig oder werden von anderen öffentlichen Stellen übernommen. Insgesamt zahlen nach Berechnungen von FuchsRechlin (2008) 9 % der Familien keine Beiträge. Hinzu kommt, dass die Gebühren in Deutschland im internationalen Vergleich relativ gering sind. Standardisiert für eine Familie mit einem zwei Jahre alten Kind, zeigen die Ergebnisse der Berechnungen von Immervoll und Barber (2005), dass deutsche Familien mit einem Gebührenanteil von 12 % am Einkommen unter dem Durchschnitt anderer OECD-Länder von 16 % liegen. Eine stärkere zielgruppenspezifische Förderung in einem universellen System könnte vielmehr über zweckgebundene Transfers an die Subjekte - in diesem Falle die Eltern verstärkt werden. Gutscheine im frühkindlichen Bereich, die Kinder aus benachteiligten Familien stärker fördern, können ökonomisch sinnvoll sein. Den Einrichtungen könnten indirekt über Gutscheine für die Bildung und Betreuung benachteiligter Kinder mehr öffentliche Gelder zukommen. Familien wiederum würde ein expliziter Transfer zukommen, den sie mit einer größeren Wahrscheinlichkeit nutzen als eine indirekte Förderung über eine „Objektförderung" (vgl. für entsprechende empirische Hinweise Besharov und Samari 2000 sowie eine theoretische Diskussion Levin und Schwartz 2007). In jedem Fall dürfen Bedarfskriterien für eine Förderung nicht allein auf die Erwerbstätigkeit, Ausbildung von Eltern oder deren Erwerbssuche abstellen. Aus bildungsökonomischen Überlegungen sind insbesondere auch Kinder aus benachteiligten Familien zu fördern. Das heißt Bedarfskriterien sollten, wie es in einigen Bundesländern bereits praktiziert wird, ζ. B. auch den Migrationsstatus berücksichtigen. Andere Vorschläge, wie ζ. B. der von Färber (2008, S. 208), die dafür plädiert eine „Schulpflicht" ab zwei Jahren einzuführen, haben meines Erachtens im gegenwärtigen System der deutschen Kinder- und Jugendhilfe weniger Umsetzungschancen. Sie haben aber letztlich die gleiche Intention, nämlich allen Kindern gleiche frühkindliche Bildungschancen zu ermöglichen bzw. das Humanvermögen aller Kinder zu fördern.
8.
Siebter Ansatzpunkt: Familien stärker integrieren
Ein quantitativer, qualitativer und zielgruppenorientierter Ausbau von Kindertageseinrichtungen ist ein zentraler Schritt, um die frühkindliche Bildung in Deutschland zu verbessern. Er kann in seiner Effektivität und Effizienz gesteigert werden, wenn ein weiteres wichtiges Spezifikum der frühkindlichen Bildung mit bedacht wird. So ist es frühkindlichen Bildungsprozessen eigen, dass sie insbesondere dann erfolgreich sind, wenn die Familien miteinbezogen werden. Wenn Unterschiede in den Fähigkeiten von jungen Kin-
Frühkindliche Bildung in Deutschland
15
dem erklärt werden sollen, ist es nach wie vor die Familie, die am meisten an Varianz erklärt, und nur an zweiter Stelle die Kindertageseinrichtung. Noch konkreter: Die Familie hat einen zwei- bis dreimal größeren Effekt auf Bildungs- und Sozialisationsoutcomes von Kindern als Kindertageseinrichtungen (vgl. ζ. B. Tietze 2007). Dieser Einfluss der Familie wird mit zunehmendem Alter der Kinder geringer. Pädagogisch ambitionierte Bildungsprogramme, die weltweit für ihren Erfolg insbesondere bei Kindern aus benachteiligten Familien bekannt sind, sind daraufhin ausgerichtet. So ist ζ. B. dem „Perry Preschool Program" eine enge Elternarbeit immanent: Eltern werden in das Programm mit einem eigens auf die Eltern zugeschnittenen Programmteil eingebunden. Es erfolgen vielfache Elterngespräche und Hausbesuche (vgl. ζ. B. Schweinhardt et al. 2005). EinzelEvaluationen und Meta-Analysen zeigen, dass solche kombinierten Programme, die institutionelle Förderung der Kinder mit intensivem Einbezug von Eltern verbinden, in kurzfristiger wie auch in längerfristiger Perspektive bessere Effekte auf den späteren Schuloutcome und die spätere Lebensführung haben als Programme mit nur institutioneller oder nur familiärer Förderung (vgl. ζ. B. die Meta-Analyse von Gorey 2001). Auf den deutschen Kontext übertragen heißt dies, dass neuere Entwicklungen, die bereits in einigen Bundesländern Schule machen, auch aus bildungsökonomischen Gesichtspunkten als sehr effektiv und effizient zu bewerten sind. Gemeint sind Entwicklungen hin zu Familienzentren, Eltern-Kind-Zentren, „Häusern für Kinder und Familien" oder Dienstleistungszentren für Familien (für einen aktuellen Überblick vgl. Diller 2006 oder speziell zu Familienzentren Stöbe-Blossey et al. 2008). Konkreter soll es darum gehen, dass Kindertageseinrichtungen über ihre klassischen Bildungs- und Betreuungsprogramme hinaus auch Angebote der Elternbildung und der Elternarbeit anbieten. Von solchen Ansätzen können insbesondere Kinder aus benachteiligten Familien profitieren, wenn es sich um niedrigschwellige Angebote handelt. Allerdings müsste dann in einem ersten Schritt erreicht werden, dass auch diese Kinder früh Kindertageseinrichtungen nutzen und nicht erst im letzten Jahr vor der Einschulung (vgl. dazu vorheriges Kapitel). Darüber hinaus werden diese Ansätze nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht zu Qualitätseinbußen im bisherigen „Kerngeschäft" von Kindertageseinrichtungen führen. Zusätzliche finanzielle Ressourcen sind auch für eine solche Weiterentwicklung notwendig.
9.
Fazit
Summa summarum braucht das deutsche Bildungssystem mehr Ressourcen im frühkindlichen Bereich. Diese müssen von allen Gebietskörperschaften gemeinsam erbracht werden, und zwar nachhaltig. Sie dürfen nicht von der politischen Prioritätenfestsetzung einzelner Akteure abhängig sein. Öffentliche Gelder sollten allen Anbietern in gleichem Umfang zukommen. Darüber hinaus sind effektive Instrumente der Qualitätssicherung notwendig, sie sollten bundesweit eine Mindestqualität sichern und Spielräume für eine lokale Bedarfssicherung offen halten. In dem „universellen" deutschen System sollte eine stärkere Zielgruppenorientierung erfolgen, um potentiell hohe Bildungsrenditen auch wirklich realisieren zu können. Bei all dem müssen Strukturen gefunden werden, wie die Familie, die fur frühkindliche Bildungsprozesse von besonderer Bedeutung ist, an den Bildungsprozessen beteiligt und dabei unterstützt wird. Dabei wird deutlich, dass mehr
16
C. Katharina Spieß
Effizienz und mehr Effektivität im deutschen Bildungssystem insbesondere dann erreicht werden können, wenn die vielfaltigen Ansätze für Veränderungen integriert werden und die vielen Akteure im Bereich der frühkindlichen Bildung zusammenarbeiten. Die Wahrscheinlichkeit dazu steigt, wenn der politische Handlungsdruck groß ist und gesellschaftspolitisch ein Konsens dahingehend besteht, dass frühkindliche Bildungspotentiale genutzt werden sollten, nicht zuletzt deshalb, weil sie eine hohe Rendite versprechen.
Literatur Apolte, T. und A. Funcke (2008): Qualitätssicherung und Qualitätsfestsetzung im System frühkindlicher Bildung und Betreuung aus ökonomischer Sicht, in: T. Apolte und A. Funcke (Hg.): Frühkindliche Bildung und Betreuung, Baden-Baden, S. 215-250. Anger, C., A. Plünnecke und M. Tröger (2007): Renditen der Bildungsinvestitionen in den frühkindlichen Bereich, Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Barnett, W. S„ K. Brown und R. Shore (2004): The Targeted vs. Universal Debate: Should the United States Have Preschool for All?, Preschool Policy Matters Brief by the National Institute for Early Education Research (NIEER), New Brunswick. Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2008): Länderreport: Frühkindliche Bildungssysteme 2008, Gütersloh, http//www.Kinder.frueher-foerdern.de [Stand: 3. Juni 2008]. Blau, D. M. (2001): The Child Care Problem: An Economic Analysis, New York. Blau, D. und J. Currie (2008): Efficient Provision of High-Quality Early Childhood Education: Does the Private Sector or Public Sector Do It Best?, in: DICE REPORT - Journal for Institutional Comparisons, Vol. 6, pp. 15-20. Besharov, D. J. und Ν. Samari (2000): Child-Care Vouchers and Cash Payments, in: E. C. Steuerle, O. van Dooren, G. Petersen und R. D. Reischauer (eds.): Vouchers and the Provision of Public Services, Washington D.C., pp. 195-223. BMFSFJ - Bundesministerium für Familie, Jugend, Frauen und Senioren (Hg.) (2008): Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder unter drei Jahren - elterliche und öffentliche Sorge in gemeinsamer Verantwortung, Kurzgutachten des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Berlin. Cunha, F., J. J. Heckman, L. Lochner und D. V. Masterov (2006): Interpreting the Evidence on Life Cycle Skill Formation, in: E. A. Hanushek und F. Welsh (eds.): Handbook of the Economics of Education, Amsterdam. Der Paritätische Gesamtverband (2008): Stellungnahme des Paritätischen Gesamtverbandes zum Referatsentwurf eines Gesetzes zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (KiföG), Frankfurt. Diller, A. (2006): Eltem-Kind-Zentren: Grundlagen und Rechercheergebnisse, München. Diskowski, D. (2007): Bildungspläne für Kindertagesstätten: Ein neues und noch unbegriffenes Steuerungsinstrument, Potsdam, mimeo. Döring, T. (2008): Föderale Kompetenzzuordnung im Bereich der frühkindlichen Betreuung und Bildung - Status Quo der Zuständigkeitsverteilung und Reformbedarf in Deutschland, in: T. Apolte und A. Funcke (Hg.): Frühkindliche Bildung und Betreuung, BadenBaden, S. 251-284. Duncan, Α. und C. Giles (1996): Should We Subsidise Pre-School Childcare, and If So, How?, in: Fiscal Studies, Vol. 17 (3), pp. 39-61. Emundts, C. (2007): Geld macht nicht schlau, in: Die Zeit, Nr. 24, 6. Juni 2007.
Frühkindliche Bildung in Deutschland
17
Färber, G. (2008): Die Finanzierung frühkindlicher Bildung und Betreuung - staatlich versus privat?, in: T. Apolte und A. Funcke (Hg.): Frühkindliche Bildung und Betreuung, BadenBaden, S. 195-214. Fritschi, T. und T. Oesch (2008): Volkswirtschaftlicher Nutzen von frühkindlicher Bildung in Deutschland: Eine ökonomische Bewertung langfristiger Bildungseffekte bei Krippenkindern, Projektbericht des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS, BASS 12/2008 (Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung), Bern. Fuchs, K. (2006): Wovon der Besuch einer Kindertageseinrichtung abhängt!, in: T. Rauschenbach und M. Schilling (Hg.): Kinder- und Jugendhilfereport, 2. Analysen, Befunde und Perspektiven, Weinheim, S. 157-173. Fuchs-Rechlin, K. (2008): Kindertagesbetreuung im Spiegel des Sozioökonomischen Panels, in: Zahlenspiegel 2007, München, Kapitel 8. GEW(2008):
Privatisierungsreport - 7 Kindertagesstätten, Frankfurt.
Gorey, Κ. M. (2001): Early Childhood Education: A Meta-analytic Affirmation of the Shortand Long-term Benefits of Educational Opportunity, in: Social Psychology Quarterly, Vol. 16, pp. 9-30. Heckman, J. J. (2000): Policies to Foster Human Capital, in: Research in Economics, Vol. 54 (1), pp. 3-56. Heckmann, J. J. (2007): The Economics, Technology and Neuroscience of Human Capability Formation, Proceedings of the National Academy of Sciences, Vol. 104 (33), pp. 13250-13255. Immervoll, Η. und D. Barber (2005): Can parents afford to work? Childcare Costs, Tax Benefit Policies and Work Incentives, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 31, Paris. Kreyenfeld, M., C. K. Spieß und G. G. Wagner (2001): Finanzierungs- und Organisationsmodelle institutioneller Kinderbetreuung: Analysen zum Status quo und Vorschläge zur Reform, Neuwied. Kreyenfeld, M. (2008): Kinderbetreuung und soziale Ungleichheit, in: R. Becker und W. Lauterbach (Hg.) (2007): Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit, 2. Auflage, Wiesbaden 2007. Lange, J. (2008): Rechtliche Entwicklungen im Bereich der Kindertagesbetreuung, in: Zahlenspiegel 2007, München, Kapitel 10. Levin, Η. Μ. und Η. L. Schwartz (2007): Educational Vouchers for Universal Pre-schools, in: Economics of Education Review, Vol. 26, pp. 3-16. Mocan, N. (2007): Can consumers detect lemons? An emprical analysis of information asymmetry in the market for child care, in: Journal of Population Economics, Vol. 20, pp. 743-780. Moss, P. (2008): Markets and Democratic experimentalism: Two models for early childhood education and care, Discussion Paper der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. OECD (2006): Starting Strong II, Early Education and Care, Paris. OECD (2009a): OECD Family database, http://www.oecd.org/els/social/family/database [Stand: Juni 2009]. OECD (2009b): OECD Education database, http://www.oecd.org/edu/eag2006 [Stand: Juni 2009], Rauschenbach, Τ. und Μ. Schilling (2007): Erwartbare ökonomische Effekte durch den Ausbau der Betreuungsangebote für unter Dreijährige auf 750.000 Plätze bis 2013, Deutsches Jugendinstitut, München. Richter, I. (2007): Die Betreuungsfinanzierung des Bundes im Krippenalter - Verfassungsrechtliche Voraussetzungen und Grenzen, Schriftliche Fassung des Vortrage am 9. Oktober 2007 beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge in Berlin. Schilling, M. (2008): Wirtschaftsuntemehmen als Träger von Kindertageseinrichtungen, in: KOMdat, 11. Jg. (1+2), S. 17-19.
18
C. Katharina
Spieß
Schilling, Μ. (2009a): Der U3-Ausbau kommt (zu) langsam voran, in: KOMdat, 12. Jg. (1), S. 14-15. Schilling, M. (2009b): Zwischen konfessionellen Trägern und Wirtschaftsunternehmen - stabile Trägerlandschaften, in: KOMdat, 12. Jg. (1), S. 16-17. Schilling, M. und J. Lange (2009): Expansion der Kindertagesbetreuung nicht nur in Westdeutschland, in: KOMdat, 12. Jg. (1), S. 12-13. Schlotter, M. (2009): Kindergarten Attendance and Decision Makers' Political Leaning - Difference-in-Differences Evidence from German Municipalities, Paper presented at the Spring Meeting of Young Economists (SMYE 2009), Istanbul, Türkei, April 2009. Schweinhart, L. J., J. Montie, Z. Xiang, W. S. Barnett, C. R. Belfleld und Μ. Nores (2005): Lifetime Effects: The High/Scope Perry Preschool Study Through Age 40, Ypsilanti Michigan. Spieß, C. K. (1998): Staatliche Eingriffe in Märkte für Kinderbetreuung. Analysen im deutschamerikanischen Vergleich, Frankfurt a. M. und New York. Spieß, C. K. (2003): Verbraucherschutz in Kindertageseinrichtungen - warum er auch in diesem Bereich unabdingbar und elementar ist, in: A. Habisch, H.-L. Schmidt und M. Bayer (Hg.): Familienforschung interdisziplinär, Grafschaft, S. 55-68. Spieß, C. K. (2004): Kosten und Nutzen von Kinderbetreuung: Internationale und nationale Betrachtungen aus ökonomischer Perspektive, in: L. Mohn und R. Schmidt (Hg.): Familie bringt Gewinn, Gütersloh, S. 124-134. Spieß, C. K. (2008a): Öffentlich finanzierte Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur fur Kinder - Warum, wo und wie Veränderungen in Deutschland notwendig sind, in: H. Bertram (Hg.): Mittelmaß für Kinder, München, S. 193-219. Spieß, C. K. (2008b): Early Childhood Education and Care in Germany: The Status Quo and Reform Proposals, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaftslehre, Bd. 67, S. 1-20. Spieß, C. K. (2009a): Volkswirtschaftliche Bedeutung der Kinderbetreuung: Wie ist diese zu bewerten und was können wir dabei aus dem Ausland lernen?, in: U. von der Leyen und V. Spidla (Hg.): Voneinander lemen - miteinander handeln: Aufgaben und Perspektiven der Europäischen Allianz für Familien, Baden-Baden, S. 251-263. Spieß, C. K. (2009b): Zehn Mythen über Kinderbetreuungsgutscheine, erscheint in: T. Betz, A. Diller und T. Rauschenbach (Hg.): Kita-Gutschein und ihre (un)beabsichtigten Wirkungen, München. Spieß, C. K. und W. Tietze (2002): Qualitätssicherung in Kindertagesstätten - Gründe, Anforderungen und Umsetzungsüberlegungen für ein Gütesiegel, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, Jg. 5 (1), S. 139-162. Spieß, C. Κ., Ε. M. Berger und O. Groh-Samberg (2008): Overcoming Disparities and Expanding Access to Early Childhood Services in Germany: Policy Considerations and Funding Options, UNICEF Innocenti Research Centre Working Paper IWP-2008-03, Florence. Statistisches Bundesamt (2007): Kindertagesbetreuung regional 2006, Wiesbaden. Stöbe-Blossey, S., S. Mirerau und W. Tietze (2008): Von der Kindertageseinrichtung zum Familienzentrum - Konzeption, Entwicklung und Erprobung des Gütesiegels „Familienzentrum NRW", in: Zeitschrift fur Erziehungswissenschaften, Jg. 11, Sonderheft 11, S. 105-122. Tietze, W. (2007): Sozialisation in Krippe und Kindergarten, in: K. Hurrelmann, M. Grundmann und S. Walper (Hg.): Handbuch der Sozialisationsforschung, 7. Auflage, Weinheim, S. 274-289. Tietze, W. und C. Förster (2005): Allgemeines pädagogisches Gütesiegel für Kindertageseinrichtungen, in: A. Diller, H. R. Leu und T. Rauschenbach (Hg.): Der Streit ums Gütesiegel: Qualitätskonzepte für Kindertageseinrichtungen, München, S. 31-66. Vesper, D. (2004): Anreize für Kommunen mehr Kinderbetreuungsmöglichkeiten bereitzustellen, DIW Berlin - Politikberatung Kompakt, Nr. 5, Berlin. Viitanen, Τ. K. (2008): Public versus Private Provision of Daycare: An Experimental Evaluation, IZA Discussion Paper, No. 3009, Bonn.
Thomas Apolte und Uwe Vollmer (Hg.), Bildungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 91 · Stuttgart • 2010
Korreferat zu C. Katharina Spieß, Sieben Ansatzpunkte für ein effektiveres und effizienteres System der frühkindlichen Bildung in Deutschland
Antje Funcke
In dem Aufsatz von C. Katharina Spieß werden sieben Ansatzpunkte benannt, die dazu beitragen sollen, das System der frühkindlichen Bildung in Deutschland „effizienter und effektiver" zu gestalten. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die Feststellung, dass den ersten Lebensjahren für die Entwicklung eines Menschen eine sehr wichtige Bedeutung zukommt - dies wurde in den vergangenen Jahren von verschiedensten Disziplinen über Neurobiologie, Psychologie, Pädagogik bis hin zur Ökonomik immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt. Ein „effizientes und effektives" System früher Bildung könnte demnach eine hohe Rendite für die Gesellschaft erwirtschaften. Verfolgt man die öffentliche Diskussion, so scheint dieser Sachverhalt in der breiten Öffentlichkeit und auch in der Politik weitestgehend beachtet und anerkannt zu werden. In Deutschland wurde vor allem unter dem Ziel der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den vergangenen Jahren einiges in der frühen Bildung, Betreuung und Erziehung angestoßen - insbesondere ist hier der Ausbau der Plätze für Kinder unter drei Jahren hervorzuheben. In allen Bundesländern sind zudem Bildungspläne für den frühkindlichen Bereich entwickelt worden. Eine Vielzahl an Programmen zur Sprachförderung, zur Beobachtung und Dokumentation von Bildungsprozessen oder zur Qualifizierung und Weiterbildung der Erzieherinnen wurde auf den Weg gebracht. Trotz dieser Bemühungen haben in Deutschland aber lange nicht alle Kinder - unabhängig von ihrem sozioökonomischen oder kulturellen Hintergrund - Zugang zu qualitativ guten, öffentlichen Angeboten früher Bildung. 1 -
Die Teilhabequoten an früher Bildung für Kinder unter drei Jahren sind zwischen den Bundesländern sehr unterschiedlich. Während Sachsen-Anhalt im Jahr 2008 eine Teilhabequote von 86 % der Zweijährigen aufweist, liegt die Teilhabequote in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen lediglich bei 19 %.
1
Die folgenden Daten sind dem Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme 2009 entnommen (Bertelsmann Stiftung 2009).
20
Antje Funcke
-
Kinder mit Migrationshintergrund besuchen weniger oft eine Kindertageseinrichtung als Kinder ohne Migrationshintergrund. Der Unterschied in der Teilhabequote ist auch bei über dreijährigen Kindern noch erheblich.
-
Der Personalschlüssel - als ein wichtiger Indikator fur Qualität in der Arbeit in den Kindertageseinrichtungen - variiert zwischen den Bundesländern, aber auch innerhalb der Länder deutlich. Bei den Kindern von drei bis sechs Jahren im Kindergarten lag der Personalschlüssel im Jahr 2008 in Bremen bei 1 zu 8, in MecklenburgVorpommern hingegen bei 1 zu 13,4. Der in dieser Altersgruppe empfohlene Personalschlüssel ist 1 zu 7,5. Bei den Kindern unter drei Jahren ist ein Vergleich der Personalschlüssel zwischen den Bundesländern schwieriger, da es viele verschiedene Gruppentypen mit sehr unterschiedlichen Personalschlüsseln gibt. Während der Personalschlüssel in geöffneten Kindergartengruppen (zwei bis sechs Jahre) im Bundesdurchschnitt bei 1 zu 9,3 lag, war der Personalschüssel in Krippengrappen (Null bis unter Dreijährige) mit 1 zu 6 deutlich besser. In der in den westlichen Ländern am häufigsten vorzufindenden Gruppenform - den altersübergreifenden Gruppen (Null bis Sechsjährige) - gab es Personalschlüssel von 1 zu 5,3 in Bremen bis hin zu 1 zu 7,7 in Niedersachsen oder 1 zu 9,9 in Brandenburg. Der fur Kinder unter drei Jahre empfohlene Personalschlüssel liegt bei 1 zu 3.
-
In den Bundesländern wird in unterschiedlicher Höhe in die frühe Bildung von Kindern investiert. Im Bundesländervergleich liegt die Spannbreite der höchsten und niedrigsten Ausgaben pro Kind unter 10 Jahren zwischen rund 1.100 Euro und 2.400 Euro.2
Der Blick in die Daten bestätigt damit die Position von Katharina Spieß - in der frühen Bildung muss noch viel unternommen werden, damit sich jedes Kind in Deutschland bestmöglich entwickeln kann. Ein „effizientes und effektives" System früher Bildung sollte die Teilhabe aller Kinder an qualitativ guter früher Bildung ermöglichen, die Individualität von Kindern anerkennen und bedarfsgerechte, auf die familiären und kulturellen Hintergründe zugeschnittene Bildungswelten eröffnen. Erst dann kann ein System früher Bildung für eine Gesellschaft einen hohen Nutzen stiften - können die Investitionen in das System „effektiv und effizient" sein. Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung des Systems müssen dabei die Bedürfnisse und Ausgangslagen von Kindern sein. Vielen der von Katharina Spieß formulierten Forderungen kann vor diesem Hintergrund zugestimmt werden. Allerdings erfordert eine auf das Kind zentrierte Sichtweise eine andere Schwerpunktsetzung. Dies soll im Folgenden exemplarisch anhand von drei entscheidenden Ansatzpunkten in der frühen Bildung skizziert werden.
2
Bei diesen Werten muss darauf hingewiesen werden, dass bei den hier genannten Nettoausgaben der öffentlichen Hand neben Ausgaben für die Kinder in vorschulischen Angeboten (u. a. Krippen, Kindergärten, Einrichtungen mit altersübergreifenden Gruppen) auch Tageseinrichtungen mit Schulkindern (ζ. B. Horte) berücksichtigt werden. Zwischen den Ländern schwankt der Anteil der Schulkinder, die in Horten betreut werden, erheblich. Dies ist bei einem Vergleich der Werte zu berücksichtigen.
Korreferat zu C. Katharina Spieß
21
1. Frühe Bildung findet an vielen Orten statt - der erste Ansatzpunkt sind aber die Eltern und Familien Die erste und nachhaltigste Erfahrungswelt für ein Kind ist seine Familie (Bronfenbrenner 1979). Die Eltern und das familiäre Umfeld sind die ersten und wichtigsten Bezugspersonen für frühe Bildungsprozesse. Sie entscheiden gerade in den ersten Lebensjahren über den Zugang zu weiteren Bildungsformen und Bildungsorten. Frühe Bildung gelingt daher nur, wenn die zentrale Rolle der Eltern anerkannt und in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern berücksichtigt wird. Als erste öffentliche Bildungseinrichtung für die meisten Kinder haben Kindertageseinrichtungen die Chance und den Auftrag, die Entwicklung der Persönlichkeit und aller Kompetenzen eines Kindes gezielt zu fordern. Das kann aber nur gelingen, wenn die Familien mit ihren jeweiligen kulturellen Hintergründen sowie ihren Lebensbedingungen im Sozialraum in diese Arbeit miteinbezogen werden. Es reicht nicht aus, wenn nur einige Kindertageseinrichtungen zu sogenannten Familienzentren werden. Elternarbeit ist vielmehr in allen Kindertageseinrichtungen eine grundlegende Voraussetzung und muss bei der Ausstattung der Einrichtung mit personellen Ressourcen von Anfang an mit bedacht werden. Zudem können Kindertageseinrichtungen nicht allein die notwendigen Unterstützungen für viele Familien bieten. Familien benötigen heute vielmehr auf die jeweiligen Lebensbedingungen im Sozialraum zugeschnittene Unterstützungs- und Hilfeleistungen, die am besten aus einem Netzwerk für Kinder und Familien bestehen - aus Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, kulturellen Einrichtungen, Verbänden und Vereinen, Schulen, Institutionen der Gesundheitsförderung etc. Erst ein Zusammenwirken der verschiedenen Bildungs- und Unterstützungsangebote im direkten Lebens- und Wohnumfeld von Kindern bildet ein solides Fundament für frühe Bildungsprozesse.
2. Frühe Bildungsprozesse brauchen Qualität Kindertageseinrichtungen können nur dann bedarfsgerechte und auf die einzelnen Kinder zugeschnittene Bildungsarbeit leisten, wenn sie über hinreichende Personal- und Sachressourcen verfügen. Die erforderlichen Ressourcen lassen sich dabei u. a. aus dem Alter und den Voraussetzungen der Kinder, den Betreuungszeiten und den konkreten Bildungs- und Entwicklungszielen herleiten. Entscheidend für gute Bildungsprozesse ist in den ersten Lebensjahren insbesondere eine ausreichende Personalausstattung - sowohl den Personalschlüssel als auch die Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte betreffend. Damit sich zwischen Kindern und Fachkräften stabile Bindungen aufbauen können, muss genügend Zeit für Interaktionen und Gespräche zwischen Erzieherinnen und Kindern da sein. Erzieherinnen brauchen aber auch Zeit für die Vorbereitung von Projekten oder die Dokumentation und Reflexion von Bildungsprozessen. In der politischen Diskussion um den Ausbau von Plätzen für unter Dreijährige wird die Bedeutung der Qualität früher Bildung vernachlässigt, was - wie oben gezeigt häufig zu einer unzureichenden Personalausstattung in den Kindertageseinrichtungen führt. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass eine schlechte Bildungsqualität Folgewirkungen für die Kinder und letztendlich auch für die Gesellschaft hat. Denn Kinder lernen immer und jederzeit - auch in Kindertagseinrichtungen, die eine schlechte Qualität
22
Antje
Funcke
haben. In personell schlecht ausgestatteten Kindertageseinrichtungen sinkt für Kinder die Chance, kontinuierliche und verlässliche Bindungen zu Erwachsenen zu entwickeln. Eine Grundvoraussetzung für förderliche Bildungsprozesse ist nicht gegeben.3 Qualität in der frühen Bildung erfordert mehr finanzielle Ressourcen im System früher Bildung. Entscheidend ist dabei, dass in der Finanzplanung zuerst die Frage geklärt wird, welche Ressourcen für eine qualitativ gute frühe Bildung bereitgestellt werden müssen. Welche Rahmenbedingungen für gute Arbeit in Kindertageseinrichtungen erfüllt sein müssen, ist leider bisher nur unzureichend empirisch untersucht worden. Internationale Studien haben aber gezeigt, dass die Erfüllung bestimmter struktureller Rahmenbedingungen eine wichtige Voraussetzung für qualitativ gute Arbeit in den Einrichtungen ist.4 Zu nennen sind hier ζ. B. die Qualifikation und Weiterbildung der Fachkräfte, die Gruppengröße, der Personalschlüssel oder die Leitungsfreistellung. Welche Zielwerte im Hinblick auf diese strukturellen Rahmenbedingungen gesetzt und in der Finanzplanung berücksichtigt werden sollten, wurde in der Vergangenheit in verschiedenen internationalen Studien und Expertennetzwerken diskutiert und festgehalten.5 Diese Qualitätsanforderungen können als ein erster Anhaltspunkt für eine an der Qualität ausgerichtete Finanzausstattung von Kindertageseinrichtungen genutzt werden. Ein quantitativer Ausbau, der auf Kosten der Qualität erfolgt, ist angesichts der mittelund langfristig erwartbaren negativen Auswirkungen auf die Bildungsbiographie der Kinder sehr kritisch zu beurteilen. Er dürfte jedenfalls nicht zu einem „effektiveren und effizienteren" System früher Bildung beitragen. Die Forderung nach qualitativ hochwertiger früher Bildung sollte auch bei der Steuerung des frühen Bildungssystems Beachtung finden. Spieß fordert, dass privatgewerbliche Anbieter genauso mit öffentlichen Mitteln gefordert werden sollten wie die bisherigen gemeinnützigen Träger in der frühen Bildung. Da das deutsche System sehr stark reguliert sei und staatliche Qualitätssicherungsmaßnahmen bei allen Kindertageseinrichtungen greifen, besteht ihrer Meinung nach keine Gefahr, dass privat-gewerbliche Anbieter eine schlechtere Qualität anböten oder sich die „Rosinen herauspicken" könnten. Wie eingangs beschrieben, kann in dem System früher Bildung in Deutschland bisher nicht die Rede davon sein, dass einheitliche und verbindliche Qualitätsstandards bundesweit eingehalten werden. Vielmehr existieren in Deutschland 16 verschiedene Systeme früher Bildung mit höchst unterschiedlichen Personalschlüsseln und Teilhabequoten. Der „Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2008" hat ebenso wie der „Ländermonitor 2009" (Bertelsmann Stiftung 2008; 2009) gezeigt, dass es in Deutschland in den Bundesländern sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen für Bildungsqualität gibt. Während es in den meisten Ländern allgemeine Regelungen im Hinblick auf die strukturellen Rahmenbedingungen guter Qualität gibt (ζ. B. maximale Gruppengrö3
Für einen kurzen Überblick der Studien zum Zusammenhang zwischen dem Personalschlüssel und dem Verhalten und der Entwicklung von Kindern siehe Viernickel und Schwarz (2009).
4
Für eine kurze Diskussion der Studien siehe Apolte und Funcke (2008).
5
Einen Überblick über die Standards findet man bei Textor (1999) oder Fthenakis (2003). Die Bertelsmann Stiftung gibt im Länderreport 2008 auch Empfehlungen zum Personalschlüssel und der Erzieher-Kind-Relation, differenziert nach dem Alter der Kinder.
Korreferat zu C. Katharina
Spieß
23
ße, Leitungsfreistellung, Personalschlüssel), fehlen vielfach genaue Definitionen von Qualitätsstandards. Die zahlreichen empirischen Untersuchungen aus Kanada, den USA und Australien, die belegt haben, dass gemeinnützige Kindertageseinrichtungen im Durchschnitt eine höhere Qualität früher Bildung anbieten als privat-gewerbliche Einrichtungen, sollten vor diesem Hintergrund ernst genommen werden.6 Ebenso die Hinweise, dass privat-gewerbliche Anbieter die Qualität ihrer Einrichtungen je nach Klientel variiert haben. Kinder aus sozial benachteiligten Familien besuchten danach Kindertageseinrichtungen niedrigerer Qualität, während Kinder aus wohlhabenden Familien in qualitativ bessere Einrichtungen gingen (Japel et al. 2005). Eine bundesweite öffentliche Förderung privat-gewerblicher Anbieter ist daher angesichts der bisherigen Qualitätssicherungsmaßnahmen in den Bundesländern offensichtlich mit Risiken für die Qualität der frühen Bildung in Deutschland verbunden und sollte aktuell nicht erfolgen.
3. Chancengerechtigkeit in der frühen Bildung erfordert Differenz - in den Bildungsangeboten wie in der Ressourcenausstattung Internationale Studien haben gezeigt, dass gerade frühe Bildung eine entscheidende Rolle dabei spielen kann, mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu erzielen. Kinder, die aufgrund ihrer familiären Lebensverhältnisse nur eingeschränkten Zugang zu sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen haben, profitieren von Angeboten in der frühen Bildung besonders, indem wichtige Grundlagen für spätere Bildungsprozesse gelegt werden. Auch hier ist die Qualität der frühen Bildungsangebote von herausragender Bedeutung für den Erfolg. Daher sollten gerade Kinder aus benachteiligten familiären Lebensverhältnissen zusätzliche Aufmerksamkeit und Angebote für ihre Entwicklung und Bildung in Kindertageseinrichtungen bekommen. Damit dies gewährleistet werden kann, ist es zum einen notwendig, gerade diese Kinder für frühe Bildungsangebote zu gewinnen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist der oben skizzierte sozialräumliche Ansatz in der frühen Bildung, der Familien und Kindern unterschiedliche Unterstützungs- und Bildungsangebote macht und ihre jeweiligen familiären Lebenssituationen und kulturellen Hintergründe berücksichtigt. Zum anderen sind Finanzierungssysteme erforderlich, die eine zielorientierte und transparente Mittelverteilung auf die Einrichtungsebene bewirken, damit die Ressourcen für Kindertageseinrichtungen jeweils so bemessen werden können, dass eine wirksame und bedarfsgerechte Bildungspraxis für die Kinder möglich wird.
Literatur Apolte, T. und A. Funcke (2008): Qualitätssicherung und Qualitätssetzung im System frühkindlicher Bildung und Betreuung aus ökonomischer Sicht, in: T. Apolte und A. Funcke (Hg.): Frühkindliche Bildung und Betreuung: Reformen aus ökonomischer, pädagogischer und psychologischer Perspektive, Baden-Baden, S. 215-249.
6
Siehe ζ. B. Kagan (1991), Whitebrook et al. (1989), Japel et al. (2005), Cleveland et al. (2008). Für eine Übersicht über die Studien siehe Bertelsmann Stiftung (2008a). Auch Blau und Currie (2008) fordern strikte Qualitätsstandards als Voraussetzung für frühe Bildungsangebote.
24
Bertelsmann
Antje
Funcke
Stiftung (2008): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2008, Gütersloh.
Bertelsmann Stiftung (2008a): Stellungnahme der Bertelsmann Stiftung zur Öffentlichen Anhörung Kinderförderungsgesetz (KifÖG), URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/ rde/xchg/SID-0A000F0A-33AF8C7E/bst/hs.xsl/16856_l 6870.htm. Bertelsmann Stiftung (2009): Ländermonitor Frühkindliche Bildungssystems 2009, URL: www. laendermonitor.de. Blau, D. und J. Currie (2008): Efficient Provision of High-Quality Early Childhood Education: Does the Private Sector or Public Sector Do It Best?, in: CESifo DICE REPORT - Journal for Institutional Comparisons, Vol. 6, pp. 15-20. Bronfenbrenner, Urie (1979): The ecology of human development: Experiment by nature and design, Cambridge. Cleveland, G., B. Forer, D. Hyatt, C. Japel und Μ. Krashinsky (2008): Frühkindliche Bildung und Betreuung in Kanada: Eine ökonomische Perspektive auf die aktuelle und zukünftige Rolle gemeinnütziger Einrichtungen, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, URL: http:// www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_24388_24389_2.pdf. Fthenakis, W. E. (2003): Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland, herausgegeben vom BMFSFJ, Weinheim u. a. Japel, C., R. E. Trembley und S. Cöte (2005): Quality Counts! Assessing the Quality of Daycare Services Based on the Quebec Longitudinal Study of Child Development, IRPP Choices, Vol. 11, No. 5. Kagan, S. L. (1991): Examining Profit and Nonprofit Child Care: An Odyssey of Quality and Auspices, in: Journal of Social Issues, Vol. 74 (2), pp. 87-104. Textor, M. R. (1999): Qualität der Kindertagesbetreuung: Ziele des Netzwerks Kinderbetreuung der Europäischen Kommission, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 79, URL: www.kindergartenpaedagogik.de/360.html. Viernickel, S. und S. Schwarz (2009): Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung Wissenschaftliche Parameter zur Bestimmung der pädagogischen Fachkraft-KindRelation, Expertise im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes, der Diakonie und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Berlin. Whitebrook, M., C. Howes und D. Phillips (1989): Who Cares? Child Care Teachers and the Quality of Care in America: Final Report - National Child Care Stuffing Study. Child Care Employee Project, URL: http://www.eric.ed.gov/ERICDocs/data/ ericdocs2sql/con t e n t s t o r a g e O 1 /0000019b/80/22/46/4b.pdf.
Thomas Apolte und Uwe Vollmer (Hg.), Bildungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 91 • Stuttgart • 2010
Ökonomische Analyse einiger Elemente des deutschen Schulsystems
Björn Frank
Inhalt 1.
Einleitung
26
2.
Die beste Schule für mein Kind? Schulbezirke
26
3.
Keine Schule für mein Kind? Schulbesuchspflicht
33
4.
Ein „Probierstein des Gehirns" für mein Kind? Schulfächer und -organisation
38
5.
Schluss
40
Literatur
41
26
1.
Björn Frank
Einleitung
Der geplante Titel dieses Beitrags lautete eigentlich: „Ökonomische Analyse des deutschen Schulsystems". Ich sehe von dem - meines Erachtens fragwürdigen - Versuch ab, das Schulsystem als systemisches Ganzes in seiner Komplexität zu analysieren. Stattdessen folge ich dem bescheideneren Ansatz, das deutsche Schulsystem als Summe seiner wesentlichen Regelungen zu begreifen: Schulpflicht, Lehrerausbildung, Schularten, Anreize, Wettbewerb etc. Ein ökonomischer Standardansatz zur Organisation der Analyse könnte ungefähr so aussehen: Man nehme den üblichen Katalog von Gründen für staatliche Eingriffe plus Meritorik und prüfe, ob sich Rechtfertigungen für Elemente des deutschen Schulsystems ergeben: für Mindestqualifikationen der Lehrkräfte aus Informationsasymmetrien, für Schulpflicht aus Externalitäten und der Meritorik, für staatliche Schulaufsicht aus Informationsasymmetrien und dem Problem lokaler Monopole. Zu befürchten wäre bei diesem Ansatz, dass wortreich begründet wird, worüber sich alle einig sind.1 Dagegen will ich im Folgenden einiges präsentieren, was ex ante weniger klar ist. In Kapitel 2 diskutiere ich den Versuch, die freie Auswahl einer staatlichen Schule räumlich zu beschränken. Gegenstand von Kapitel 3 ist die Schulpflicht, die in Deutschland strenger gehandhabt wird als in den meisten anderen Ländern, die auch häuslichen Unterricht durch die Eltern zulassen. In Kapitel 4 werden anhand eines speziellen Beispiels die Anreize für Schulen diskutiert, mit facherübergreifenden Angeboten die allgemeinen kognitiven oder sonstigen Fähigkeiten der Schüler zu fördern. Allen Kapiteln liegt eine Gemeinsamkeit zugrunde, die es erlaubt, sie als Unterkapitel eines Beitrags zu betrachten, allerdings ist diese Gemeinsamkeit in gewisser Weise skurril, so dass sie hier nicht weiter expliziert wird, sie wird sich selbst bei flüchtiger Lektüre ohne weitere Vorrede erschließen.
2.
Die beste Schule für mein Kind? Schulbezirke
Die Wahl der Grundschule ist typischerweise auf den jeweiligen Schulbezirk beschränkt, soweit es sich um staatliche Schulen handelt (Beaucamp 2003, S. 19); bis vor wenigen Jahren galt dies ausnahmslos 2 . Die meisten Bundesländer haben eine ähnliche Regelung auch für weiterführende Schulen. Gelegentlich ist die Auswahl noch stärker eingeschränkt als auf den Schulbezirk, nach der aktuell in Hamburg vorgesehenen Schulreform ζ. B. auf drei bis vier Grundschulen eines „Anmeldeverbundes". Gegen diese Regelung sprechen im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens würde freie Schulwahl zu einem besseren Matching von Schüler und Schule führen, etwa in Bezug auf die Sprachenfolge oder den Schwerpunkt, ζ. B. naturwissenschaftlich versus künstlerisch (Hoxby 2000, S. 1209). Zweitens gibt es deutliche Evidenz dafür, dass Wettbewerb zwischen den Schulen die Qualität vergrößert (Wößmann 2007a), so dass es nachteilig ist, diesen Wettbewerb einzuschränken. 1
W o das nicht der Fall ist, empfiehlt sich die Lektüre des ausgezeichneten Buches von Kubon-Gilke (2006), die sich in Kapitel 2 mit den genannten Fragen befasst.
2
Im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen ist diese Regelung mittlerweile nicht mehr enthalten.
Ökonomische Analyse des deutschen
Schulsystems
27
Für die Regelung spricht aus ökonomischer Sicht möglicherweise ebenfalls zweierlei. Erstens ist vorstellbar, dass die Eltern sich im Bemühen darum, ihre Kinder auf die beste Schule zu schicken, in einer Art rat race befinden, in dem durch Überfüllung und Pendelkosten Renten vernichtet werden. Dieses Argument, das ich nicht für überzeugend halte, werde ich im Folgenden vernachlässigen. Zweitens wird vermutlich ein Motiv dafür, die Schulwahl räumlich zu beschränken, die Vorstellung gewesen sein, damit unerwünschte Segregationsprozesse zu verhindern. Solche Prozesse stehen in diesem Abschnitt im Mittelpunkt. Segregation heißt hier, dass Eltern die Schulen so wählen, dass auf bestimmten Schulen Schüler mit bestimmten Merkmalen häufiger vertreten sind, als dies bei zufälliger Schulwahl oder bei Besuch der geographisch nächstliegenden Schule der Fall wäre. Bildungspolitisch relevant sind dabei insbesondere die Merkmale „Migrationshintergrund" und „Bildungsnähe der Eltern". Im Folgenden zeige ich, dass sich das einfachste und bekannteste, von Schelling (1978) populär gemachte Segregationsmodell, das sich eigentlich auf die Wahl des Wohnortes bezieht, leicht um die Schulwahl erweitern lässt. Die Idee von Schelling (1978) war es, unterschiedliche Spielsteine - im Folgenden Bauern und Springer - zufallig auf einem Schachbrett zu verteilen, die Steine mit „Wünschen" hinsichtlich der Nachbarschaft auszustatten und umziehen zu lassen, bis ein Gleichgewicht erreicht ist.3 Diagramm (a) in Abbildung 1 zeigt eine zufällige Verteilung aus Schelling (1978, S. 149). Als Nachbarschaft werden die 8 Felder bezeichnet, die mit einem geraden oder diagonalen Schritt erreichbar sind, für den Springer auf Diagramm (a) auf d5 also die Felder e4, d4, c4, c5, c6, d6, e6 und e5. Ein nicht zu geringer Anteil der Nachbarn muss vom eigenen Typ sein; diese Bedingung ist von Schelling (1978) wie folgt spezifiziert: -
Gibt es insgesamt ein oder zwei Nachbarn, so muss mindestens einer vom gleichen Typ sein.
-
Gibt es insgesamt drei, vier oder fünf Nachbarn, so müssen mindestens zwei vom gleichen Typ sein.
-
Gibt es insgesamt sechs, sieben oder acht Nachbarn, so müssen mindestens drei vom gleichen Typ sein. Wer sich unwohl fühlt, zieht auf das nächste freie Feld, auf dem er sich wohlfühlt.
Das Ergebnis einer Simulation mit diesen Regeln hängt davon ab, in welcher Reihenfolge die Steine gezogen werden. In jedem Fall ist aber eine deutliche Segregation erkennbar; nach einem Durchlauf von Schelling (1978) ergibt sich die in Abbildung 1, Diagramm (b) gezeigte Verteilung. 4 Als Folge sind im Durchschnitt nur 23 % der Nachbarn von Bauernhaushalten Springer; im Ausgangszustand waren es 48 %.
Schelling verwendet statt Schachfiguren nickels und pennies, in einer früheren und wenig bekannten Version zudem ein „Schachbrett" mit 16x13 Feldern, vgl. Schelling (1971). 4
Ich glaube zeigen zu können, dass Schelling mindestens ein Verstoß gegen seine Regel, dass unzufriedene Spieler auf das nächstliegende gute freie Feld ziehen, unterlaufen sein muss, was am Ergebnis allerdings wenig ändert. Eine mögliche Abfolge von Zügen, die von Dia-
Björn Frank
28
A b b i l d u n g 1: D i a g r a m m e z u m S c h e l l i n g - S e g r e g a t i o n s m o d e l l
gramm (a) zu Diagramm (b) fuhrt, ist folgende: d8-c8, g2-g3, f8-d8, e2-G, c5-a6, c2-cl, aSc2, d l - a l , e5-e2, cl-a2, g7-g2, h6-h2, g 5 - h l , fB-fl. Züge, mit denen eine größere Entfernung als nötig zurückgelegt wird, sind kursiv gekennzeichnet.
Ökonomische Analyse des deutschen Schulsystems
29
Bei einer nicht zufalligen Ausgangsverteilung müsste es allerdings keineswegs zu einer Segregation kommen, denn es genügt den Schellingschen Haushalten im Durchschnitt (über die Zahl der Nachbarn), wenn 45 % der Nachbarn vom eigenen Typ sind. Es lassen sich daher stabile Verteilungen ohne Segregation konstruieren (Schelling 1978, S. 149). Ein Beispiel zeigt Diagramm (c) in Abbildung 1. Ein reales Gegenstück dazu sind heterogene Großstadtbezirke, in denen das Zusammenleben von Haushalten verschiedener Kulturen und/oder sozioökonomischer Hintergründe als relativ geglückt empfunden wird, beispielsweise Friedrichshain-Kreuzberg. Nun ist allerdings zu beobachten, dass sich einige Familien dort nur solange wohl fühlen, wie die Kinder noch nicht schulpflichtig sind.5 Wir bereichern das Schelling-Modell um Haushalte mit jeweils einem Kind, das sind in Abbildung 1 (d) alle schwarz markierten 6 , und um zwei Schulbezirke, die durch die senkrechte Linie in Diagramm (e) getrennt werden. Auf den Feldern a6 und h3 stehen die beiden Schulen, jeweils mit einer gleichen Anzahl von Bauern- und Springerkindern. Was würde sich bei freier Schulwahl ändern? Nehmen wir an, die Haushalte haben eine lexikographische Nutzenfunktion: Am wichtigsten ist, dass mehr als 1/3 der Kinder der Schule vom eigenen Typ sind. Am zweitwichtigsten ist die Entfernung. 7 Die Entfernung wird gemessen als Zahl der Züge, die ein Turm vom Wohnort zur Schule benötigen würde (d. h. Züge in eine Richtung, aber von beliebiger Länge). Man sieht, dass die Haushalte f6 und d3 nun ihr Kind in den anderen Schulbezirk umschulen möchten. Anschließend sind im linken Schulbezirk nur noch 1/3 Springer, im rechten Schulbezirk nur noch 1/3 Bauern. Dies induziert weitere Umschulungswünsche; es kommt schließlich zu einer vollständigen Segregation der Schüler. Sind die Nutzenniveaus der Eltern das einzige Kriterium, dann gibt es keinen Grund, diese Entwicklung schlecht zu finden. Es gibt allerdings Evidenz dafür, dass für den Durchschnitt aller Schüler die peer effects heterogener Schulen günstig sind. 8 Auch kann die Segregation der Kinder sozialpolitisch unerwünscht sein. Ein spezielles Problem, auf das ich im Folgenden eingehe, ist der Beitrag der Segregation zu dem Phänomen, dass die familiäre Umgebung den Bildungserfolg der Kinder prägt. Diese Abhängigkeit der Kinder vom Elternhintergrund (Family Background Effects, FBE) ist in verschiedenen Ländern unterschiedlich stark; in Deutschland ist sie auffallend hoch. Dies ist in verschiedenen Studien gut belegt (zuletzt Ehmke und Baumert 2007). Schütz, Ursprung und Wößmann (2008) gehen nun einen Schritt weiter und finden einige Variablen, die im internationalen Querschnitt einen Einfluss auf die FBE
5
Geringe ethnische Segregation in Verbindung mit ausgeprägter schulischer Segregation dokumentiert Rangvid (2007) für Kopenhagen.
6
Ansonsten sind schwarze und weiße Springer vom gleichen Typ, schwarze und weiße Bauern auch.
7
Für das Folgende könnten wir ebenso gut annehmen, dass der Nutzen beispielsweise dem Quotienten aus dem Anteil der Kinder vom eigenen Typ und der Zahl der Turmzüge entspricht.
8
Eine kritische Literaturübersicht findet sich bei Vigdor und Nechyba (2007).
30
Björn Frank
haben (Tabelle 1, Spalte l). 9 Die Ergebnisse sind nicht überraschend und gut interpretierbar (siehe auch Schütz und Wößmann 2006); so ist der Einfluss des Elternhauses höher, wenn Kinder früh auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium aufgeteilt werden. Wo sie länger gemeinsam lernen, werden die zunächst leistungsschwächeren Schüler länger von anderen als den heimischen Einflüssen geprägt. Hier kommt die Segregation als zusätzlicher Effekt ins Spiel. Bradley und Taylor (2002) finden, dass die Freiheit der Schulwahl in England die Segregation insbesondere in Großstadtregionen vergrößert hat; Burgess et al. (2007) untersuchen die Segregation in England sowohl nach schulischer Leistungsfähigkeit als auch nach ethnischer Herkunft. Für alle Merkmale finden sie, dass die Segregation der Schulen (im Verhältnis zur Segregation der Bevölkerung im jeweiligen Bezirk) umso stärker ausgeprägt ist, je höher die Dichte der zur Verfugung stehenden Schulen ist. Für den internationalen Querschnitt steht nur eine grobe Proxyvariable fur die Dichte der Schulen zur Verfugung, nämlich der Urbanisierungsgrad. Dort, wo der Urbanisierungsgrad gering ist, haben die Eltern im Durchschnitt weniger Möglichkeiten, ihre Kinder - nach welchen Merkmalen auch immer - auf verschiedene Schulen zu „sortieren". Es ist also zu vermuten, dass mit sinkendem Urbanisierungsgrad auch die FBE geringer sind. Deutliche empirische Unterstützung für diese Hypothese ergibt sich, wenn man der Regression von Schütz et al. (2008) den Urbanisierungsgrad als weitere erklärende Variable hinzufügt, siehe Spalte 2 von Tabelle 1. Der Urbanisierungsgrad ist der Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung, die Definition von Stadtbevölkerung (urban population) ist allerdings international nicht standardisiert, so dass hier von einem beträchtlichen Messfehler auszugehen ist. 10 Allerdings ist das Sample in der rechten Spalte von Tabelle 1 gegenüber der linken Spalte um vier Beobachtungen verringert: Island ist herausgefallen, weil die Variable Urbanisierungsgrad nicht vorliegt, Kuwait, Singapur und Hongkong sind Ausreißer mit einem extrem hohen Urbanisierungsgrad von 98 bis 100 %. Schätzt man die linke Spalte mit denselben 45 Beobachtungen wie in der rechten Spalte, so zeigt sich, dass allein dadurch das R 2 nur um 0,02 steigt (linke Spalte in Anhang 1), der wesentliche Effekt also in der Tat auf Hinzunahme der Variable Urbanisierungsgrad zurückgeht. Ferner ist der Urbanisierungsgrad auch mit dem vollständigen Sample (notwendigerweise ohne Island) signifikant, wenn der quadrierte Urbanisierungsgrad hinzugenommen wird, um auf die durch die Ausreißer entstehende Nichtlinearität Rücksicht zu nehmen; vgl. rechte Spalte in Anhang 1.
9
10
Ich danke den Autoren, insbesondere Gabriela Schütz, für die Überlassung der Daten und für weitere Hinweise. Quelle: United States Population Fund (2007). Der ungewichtete Durchschnitt der Urbanisierungsgrade in den Ländern im Sample ist 73 %. Der Urbanisierungsgrad hat auch andere Effekte, ζ. B. direkt auf PISA-Testergebnisse und indirekt auf die Stärke von Variablen, die diese Testergebnisse beeinflussen, vgl. Wößmann et al. (2007, Abschnitt 5.3).
31
Ökonomische Analyse des deutschen Schulsystems
Tabelle 1: Determinanten der Stärke des Einflusses von familiärem Hintergrund auf schulische Leistungen Abhängige Variable: FBE {Family Background Effects), d. h. der Regressionskoeffizient bei Regression der durchschnittlichen Testpunktzahl für Mathematik und Naturwissenschaften auf den heimischen Buchbestand. - Linke Spalte aus Schütz et al. (2008). Alter bei erster schulischer Selektion Vorschul-Besuchsquote (Vorschul-Besuchsquote)
2
Dauer des Vorschulprogramms Bildungsausgaben je Schüler/1000 Landesdurchschnitt Testpunktzahl/100 BNE pro Kopf
-0,926*** -0,946*** (2,73)
(2,74)
0,213*
0,200*
(1,85)
(1,87)
-0,002*
-0,002**
(2,01)
(2,22)
-1,317
-1,081
(1,52)
(1,34)
-0,140
-0,646
(0,34)
(1,55)
4,916***
4,854***
(2,87)
(2,72)
-0,158
0,070
(0,72)
(0,30)
Urbanisierungsgrad
0,122** (2,05)
Konstante
9,615
1,605
(0,93)
(0,15)
R2
0,37
0,45
adj. R 2
0,27
0,33
Beobachtungen (Länder)
49
45
Gewichtete Kleinst-Quadrate Schätzung (Weighted Least Squares)·, die Gewichte für die linke Spalte wurden von Schütz et al. (2008) nach Anderson (1993) berechnet und hier für die rechte Spalte übernommen. t-Werte in Klammern, Signifikanzniveaus: 1% ***, 5% **, 10% *
32
Björn Frank
Diese indirekte Evidenz ist kompatibel mit direkter Evidenz aus den USA, wonach hinreichend kleine Schulbezirke die Segregation beschränken, was die Leistungen der Schüler aus bildungsfernen Haushalten verbessert; dies gilt auch für Angehörige von benachteiligten Minoritäten (Urquiola 2005). Im internationalen Querschnitt, der Tabelle 1 zugrunde liegt, ist es allerdings die de facto-Unmöglichkeit der Segregation durch relativ geringe Urbanisierung, die zu diesem positiven Effekt fährt. Den Zusammenhang von Urbanisierungsgrad und FBE dürfte es nicht geben, wenn die de jure Barrieren gegen Segregation, also Schulbezirke, wirken würden. Das tun sie nicht oder nur sehr unvollkommen. Ein Grund dafür ist, dass Segregation nicht nur durch die Wahl der Schule stattfindet, sondern auch durch die Wahl des Wohnortes, die ordnungspolitisch viel schwerer zu beeinflussen ist. Gelegentlich werden Umzüge auch vorgetäuscht: „So kam es (...) in meinem Stadtbezirk zu tumultartigen Auseinandersetzungen, als die Grundschule mit dem 'besten Ruf unter der Last der Bewerbungen zusammenzubrechen drohte. Mit allen Tricks versuchten die Eltern, ihre Sprösslinge dort und nur dort unterzubringen - man täuschte Umzüge vor und meldete sich .schwarz' um, damit man irgendwie ins Einzugsgebiet dieser einen Schule kam" (Lehmann 2008). CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen argumentierten für eine freie Schulwahl mit dem Argument: „Schon heute ist es nicht so, dass jedes Kind die für seinen Wohnort zuständige Grundschule besucht. Aus wichtigem Grund sind Ausnahmen möglich. Wie man gegenüber der Schulaufsichtsbehörde die Genehmigung einer solchen Ausnahme durchsetzt, wissen vor allem die Eltern aus bildungsnahen Familien."11 De jure-Barrieren gegen segregierende Schulwahl wirken auch dann nicht, wenn Segregation innerhalb eines Schulbezirks (Hoxby 2000) oder innerhalb einer Schule stattfindet. Echenique et al. (2006) verwenden Daten über soziale Beziehungen zwischen Schülern verschiedener Hautfarbe in den USA und finden Evidenz für Segregation innerhalb von Schulen, ohne dass dies allerdings einen negativen Einfluss auf die Leistung hat. Weiterhin ist zu beobachten: Wird die Möglichkeit der Auswahl zwischen staatlichen Schulen beschränkt, nimmt die Nachfrage nach privaten Schulen zu (für die USA Urquiola 2005). Fazit: Die empirischen Ergebnisse unterstützen zwar einerseits das Argument, dass Wahlmöglichkeiten - und zwar de facto-Wahlmöglichkeiten durch die Urbanisierung neben positiven auch einen negativen Einfluss haben können, indem die Abhängigkeit der Leistung vom Bildungshintergrund der Eltern verstärkt wird. Andererseits kann dieses Ergebnis nur zustande kommen, wenn die de jure-Beschränkungen der Schulwahl nicht wirklich wirksam sind. Trotzdem würde ich die ersatzlose Aufgabe der lokal beschränkten Schulwahl für einen reichlich resignativen Politikansatz halten. Es ist zu überlegen, ob Segregationstendenzen nicht anders vorgebeugt werden könnte; mögliche
11
Zit. nach Brügelmann (2005); eine Analyse der Elternentscheidung zwischen Wuppertaler Grundschulen (Riedel et al. 2009), eine Interviewstudie mit Eltern aus Tempelhof-Schöneberg (Noreisch 2007) und auch entsprechende Evidenz aus Neuseeland (Thrupp 2007) bestätigen diesen Punkt.
Ökonomische Analyse des deutschen Schulsystems
33
Kandidaten, die hier aus Platzgründen nicht weiter diskutiert werden können, wären ÖPNV-Gutscheine für Schüler aus einkommensschwachen Haushalten, Zuschüsse für Schulen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft der Schüler, so dass benachteiligte Schüler gezielt umworben und mit Wahlmöglichkeiten konfrontiert würden, und die gezielte Platzierung von fachlich spezialisierten Schulen wie Musik- oder Sportgymnasien in Problemgebieten.
3.
Keine Schule für mein Kind? Schulbesuchspflicht
Artikel 6 II Grundgesetz besagt, dass „Pflege und Erziehung der Kinder (...) das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht" sind. Sind (oder fühlen) sich Eltern in der Lage, ihre Kinder selbst zu unterrichten, dann wird ihnen diese Möglichkeit in Deutschland jedoch verwehrt. Verwaltungsgerichte entscheiden nach Beaucamp (2003) regelmäßig so, als sei die vorrangige Grundgesetznorm Artikel 7 I: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates." Nicht alle Staaten handhaben die Schulbesuchspflicht so streng wie Deutschland, wo die Schulbesuchspflicht gegen Eltern, die sich ihr verweigern, mit Gefängnisstrafen durchgesetzt wird (Fries 2008). Selbst das sozialistische Ungarn ließ - wenngleich widerstrebend - eines der bekanntesten Experimente mit häuslichem Unterricht zu. Über dieses berichte ich im Folgenden zunächst kurz, nicht als Einleitung zu einer normativen Diskussion der Schulpflicht, sondern um die positive Analyse zu motivieren: Welche ökonomischen und kulturellen Variablen haben einen Einfluss darauf, ob ein Staat den Besuch einer Schule für verbindlich erklärt? Die Schwestern Zsuzsa, Zsofia und Judit Polgar, Jahrgang 1969, 1974 und 1976, sind in Ungarn aufgewachsen, ohne je eine Schule von innen gesehen zu haben. Die Eltern, beide Lehrer, hatten ihren Kindern bis zum Erreichen des Einschulungsalters schon so viel beigebracht, dass von der Schule reichlich Zeitverschwendung zu erwarten war, fatal angesichts der zeitaufwändigen Pläne des Vaters: die Kinder zu hervorragenden Schachspielern auszubilden. Die Polgars hatten Erfolg. Alle drei Schwestern erreichten relativ früh den Großmeistertitel der Männer. Judit erreichte mit 12 Jahren die höchste Weltranglistenpunktzahl, die eine Frau bis dahin jemals gehabt hatte (Forbes 1992, S. 174). Während sich die beiden älteren Polgar-Schwestern mittlerweile aus dem aktiven Turnierschach zurückgezogen haben, führt Judit Polgar die Weltrangliste der Frauen mit großem Abstand an.12 Allerdings zeigt dieses Beispiel auch, dass es verschiedene Grade von Schulpflicht bzw. von deren Durchsetzung gibt. Immerhin frustrierte die ungarische Schulbehörde Laszlo Polgar so sehr, dass er von seinem Plan Abstand nahm, mit seiner Frau sechs Kinder zu zeugen und zusätzlich sechs Waisenkinder zu adoptieren, um die Bedeutung
12
Der Abstand wird in Elo-Punkten gemessen, von denen Judit Polgar im Oktober 2008 2711 aufweisen konnte, mit 93 Punkten Abstand auf die Zweitplatzierte Humpy Koneru. Derselbe absolute Abstand in Punkten besteht bei den Männern zwischen Nr. 1 und Nr. 33 der Weltrangliste (http://ratings.fide.com/toplist.phtml, October 2008, Zugriff 26.11.2008).
34
Björn Frank
frühkindlicher Erziehung nachzuweisen und die Irrelevanz der Vererbung zu demonstrieren {Psychologie Heute 1988). Die Frage, auf die ich im Folgenden eine erste Antwort zu geben versuche, ist nun: Gibt es messbare Faktoren, die einen Einfluss auf die Entscheidung einer Regierung haben, Hausunterricht zuzulassen oder zu verbieten? Die Analyse bleibt stets positiv, die normative Frage, ob und nach welchen Kriterien Hausunterricht gut ist und bestimmte Bildungsziele erreicht, klammere ich aus (hierzu vgl. Blok 2004). In einem ersten Schritt werfe ich einen Blick auf die USA; ein Grund für dieses Vorgehen ist die gute Datenverfügbarkeit, ein anderer die quantitative Bedeutung des Hausunterrichts in diesem Land. Anschließend prüfe ich, wieweit die dort gewonnenen Ergebnisse auch im internationalen Querschnitt gelten, und wie das strikte Vorgehen gegen Hausunterricht in Deutschland vor diesem Hintergrund zu erklären ist. In den USA werden gut 2 % der Schulkinder ausschließlich zu Hause unterrichtet (Isenberg 2007), eine von 43 Müttern unterrichtet mindestens eines ihrer Kinder selbst (Isenberg 2002). Hausunterricht ist in allen Staaten legal, aber an sehr unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft. Für die Kodierung der abhängigen Variable „law" verwende ich die Kategorien, mit denen die Home School Legal Defense Association die Schulgesetze der Bundesstaaten (zuzüglich District of Columbia) klassifiziert (www.hslda.org/ laws/abgerufen 10.1.2009): -
0: In diesen zehn Staaten ist Hausunterricht komplett voraussetzungslos möglich.
-
1: In diesen 13 Staaten setzt Hausunterricht lediglich eine Anmeldung voraus.
- 2: In diesen 22 Staaten müssen Eltern Testergebnisse oder externe Einschätzungen des Lemfortschritts der Kinder einreichen. -
3: Zusätzlich zu den Regelungen in den Staaten der Gruppe 2 bestehen in diesen sechs Staaten Anforderungen, wie Vorlage und Genehmigung des Lehrplans, didaktische Fortbildungen der Eltern oder Hausbesuche durch Schulbeamte.
Die möglichen Determinanten dieser Gesetzgebung lassen sich in drei Gruppen einteilen: Erstens fiskalische Gründe: Da Hausunterricht für den Staat kostenlos ist, ist diese Unterrichtsform besonders für die ärmeren Staaten attraktiv, daher ist das GDP pro Kopf eine plausible erklärende Variable. Ferner gilt, dass es in dünn besiedelten Staaten besonders aufwändig ist, die Infrastruktur bereitzustellen, die für den Besuch einer öffentlichen Schule notwendig ist, beispielsweise Schulbusse. Daher könnte auch die Bevölkerungsdichte einen Beitrag dazu leisten, wie der Staat dem Hausunterricht gegenüber eingestellt ist. Zweitens könnte es Gründe geben, die auf der Nachfrageseite liegen und die mit der Qualität der öffentlichen Schulen zusammenhängen. In der empirischen Bildungsforschung ist umstritten, wie wichtig kleine Klassen für den Lernerfolg sind (Hanushek 2006; Peterson und Woessmann 2007, S. 16, mit weiteren Nachweisen), aus Elternsicht jedoch ist dies ein wichtiger und relativ transparenter Qualitätsindikator. Je schlechter dieser ausfällt, je geringer also die Zahl der Lehrer im Verhältnis zur Zahl der Schüler
Ökonomische Analyse des deutschen Schulsystems
35
ist, desto stärker wird der politische Druck sein, das Ausweichen auf Alternativen durch entsprechende Gesetze zu erleichtern. Drittens könnte es auf Nachfrage- wie auf Angebotsseite ideologische Gründe für den Hausunterricht geben bzw. für Gesetze, die diesen erleichtern. In Elternbefragungen ist ein häufig genanntes Motiv der Konflikt von persönlicher religiöser Überzeugung und Lehrplan (Sexualkunde, Darwinismus etc.). Es liegt also nahe, den Einfluss des Anteils von Angehörigen fundamentalistischer protestantischer Kirchen an der Bevölkerung des jeweiligen Staates zu testen. Ein Kandidat für erklärende Variablen könnten auch Proxy-Variablen für Frauenrechte und Frauenbeschäftigung sein, da der Hausunterricht typischerweise von den Müttern übernommen wird. Ferner könnten Einschränkungen des Hausunterrichts paternalistisch motiviert sein, d. h. die Entscheidungsfreiheit der Familien wird um ihrer selbst Willen eingeschränkt. Proxy-Variablen zu patemalistischer Politikgestaltung lassen sich aus der Gesetzgebung zur MotorradHelmpflicht, zum Glücksspiel, zum Marijuana-Konsum und zum Konsumentenschutz finden. Die Ergebnisse der Ordered-probit-Regression sind angesichts der langen Zahl von möglichen polit-ökonomischen Determinanten eher enttäuschend. Tabelle 2 zeigt eine Art Basis-Regression mit drei relativ stabil signifikanten erklärenden Variablen: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf/1000 (1999), Schüler/Lehrer-Verhältnis 2006/2007 (Sable und Noel 2008) und prozentualer Stimmenanteil für die Republikaner bei der Präsidentschaftswahl 2004. Keine weitere der oben genannten Variablen wird daneben signifikant. 13 In gewisser Weise korrespondiert dies mit den Ergebnissen von Haushaltsbefragungen, in denen eine ausgesprochene Gemengelage von Motiven für home schooling gefunden wurde (Isenberg 2007), die zum Teil miteinander negativ korrelieren könnten. Besonders überraschend ist das Vorzeichen des Koeffizienten für die Variable BIP pro Kopf/1000: Anders als oben vermutet, steigt mit wachsendem BIP pro Kopf die Wahrscheinlichkeit, dass der Staat Hausunterricht an keine oder nur geringe Voraussetzungen knüpft. Dies kann kein Ergebnis umgekehrter Kausalität sein, dazu ist die Bedeutung des Hausunterrichts quantitativ zu gering. 14 Möglich wäre, dass in Staaten mit (im Durchschnitt) einkommensschwächeren Familien eher beide Ehepartner arbeiten müssen, so dass keiner Zeit für Hausunterricht hat. Eine entsprechende Analyse allein für Deutschland ist nicht machbar. Die Schulgesetze der Bundesländer sind hinsichtlich der Schulbesuchspflicht zwar leicht unterschiedlich formuliert (Spiegier 2008, Kapitel 5), es ist aber nicht erkennbar, dass dies zu unterschiedlicher Rechtspraxis fuhren würde. Familien, die der rechtlichen Sanktionierung des Hausunterrichts entgehen wollen, wechseln - soweit erkennbar - nicht das Bundesland, sondern verlegen, tatsächlich oder zum Schein, ihren Wohnsitz ins Ausland.
13 14
Daten und Regressionen stelle ich auf Anfrage gern zur Verfugung. Auch Multikorrelation kommt nicht als Ursache in Frage, für BIP und das Schüler/LehrerVerhältnis ist der KorrelationskoefFizient r= -0,04, fiir BIP und für Rep-vote-2004: 0,14.
36
Björn Frank
Tabelle 2: Determinanten der Gesetzgebung zum home schooling in den Staaten der USA Ordered Probit; abhängige Variable: law Koeffizient p(law=0) BIP pro Kopf/1000 Schüler/Lehrer Rep-vote-2004
Marginale Effekte auf: p(law=l) p(law=2)
p(law=3)
-0,048**
0,011**
0,008*
-0,012**
-0,007*
(2,45)
(2,28)
(1,86)
(2,01)
(1,92)
-0,126**
0,029*
0,020
-0,032
-0,017*
(1,99)
(1,91)
(1,63)
(1,72)
(1,70)
-0,076*** 0,018***
0,012**
-0,019**
-0,010* ;
(3,38)
(2,18)
(2,43)
(2,28)
(2,98)
Pseudo R2 = 0,13, 51 Beobachtungen, Prob > χ 2 = 0,0007 Marginale Effekte für Mittelwerte der unabhängigen Variablen z-Werte in Klammern, Signifikanzniveaus: 1% ***, 5% **, 10% * Deutschland ist daher im Folgenden eine Beobachtung im Sample der OECD-Staaten zuzüglich weiterer europäischer Länder, für die Daten über Schulbesuchspflicht vorlagen. Dies sind insgesamt 30 Länder.15 In zehn von diesen ist Hausunterricht gesetzlich verboten und/oder durch behördliche Praxis stark erschwert, die Variable prohib nimmt hier den Wert eins an, in den anderen ist Hausunterricht möglich {prohib=0). Eine Probit-Regression soll nun zeigen, ob die Entscheidung für Schulbesuchspflicht „erklärbar" (im statistischen Sinn) ist. Tabelle 3 zeigt einige Ergebnisse, die leider nicht ganz leicht zu interpretieren sind. Anders als für die Bundesstaaten der USA ist die Bevölkerungsdichte (Einwohner je km 2 /1000) signifikant. Dass dort, wo die Bevölkerung weit verstreut wohnt, die Wahrscheinlichkeit steigt, Hausunterricht zuzulassen, deutet zunächst auf ein Kostenmotiv hin. Wie in den USA sind es im internationalen Querschnitt die reicheren Länder, die eher den Hausunterricht zulassen. Das (logarithmierte) Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist allerdings nicht mehr signifikant, wenn ein Weltbank-Index für die Regierungs- bzw. Regulierungsqualität als erklärende Variable hinzugefügt wird, in den Spalten (2), (3) und (5) Voice&Accountability, "measuring the extent to which a country's citizens are able to participate in selecting their government, as well as freedom of expression, freedom of association, and a free media" (Kaufmann et al. 2007, S. 3). Die anderen von der Weltbank angebotenen Indikatoren führen zu ähnlichen Ergebnissen, beispielhaft in Spalte (4) Government Effectiveness, "measuring the quality of public services, the quality of the civil service and the degree of its independence from political pressures, 15
Die Informationen über Hausunterricht in außereuropäischen Nicht-OECD-Staaten sind so lückenhaft, dass - neben anderen Problemen - von einem sample selection bias auszugehen wäre.
Ökonomische Analyse des deutschen
37
Schulsystems
the quality of policy formulation and implementation, and the credibility of the government's commitment to such policies" (S. 3). Anders als in den USA hat der Regressionskoeffizient für das Schüler/Lehrer-Verhältnis16 (Spalte 5) keinen signifikanten Einfluss; das Vorzeichen ist zudem nicht das erwartete. Tabelle 3: Determinanten der Gesetzgebung zum home schooling in Europa und anderen OECD-Staaten Probit; abhängige Variable: prohib (1) ln(BIP pro Kopf)
-1,28 ** (2,16)
Bevölkerungsdichte
7,34 ** (2,32)
Voice&Accountability
(2)
(3)
(4)
(5)
0,51 (0,51)
8,81**
9,02**
7,73**
(2,27)
-4,47*
-3,70**
-3,53**
(1,95)
(2,27)
(2,06)
Gov. Effectiveness
(2,17)
8,60*
(2,22)
(1,81)
-1,20** (2,19)
Schüler/Lehrer
0,12 (1,02)
Konstante
10,99**
-1,63
-0,43
-0,14
0,43
(1,97)
(0,20)
(0,77)
(0,22)
(0,16)
Beobachtungen 30 30 30 30 29 PseudoR 2 0,34 0,48 0,47 0,38 0,50 z-Werte in Klammern, Signifikanzniveaus: 1% ***, 5% **, 10% * Marginale Effekte für Spalte (3): Dichte 3,26; Voice&Accountability -1,34 Ebenfalls nicht signifikant werden die von Alesina et al. (2003) zur Verfügung gestellten Maße für ethnische, sprachliche oder religiöse Fraktionalisierung. Möglicherweise heben sich zwei entgegengesetzte Effekte der Fraktionalisierung weitgehend gegenseitig auf. Fraktionalisierung mag das Bedürfnis isoliert wohnender Angehöriger etwa einer Religion erhöhen, ihren Kindern einen speziell angepassten Unterricht zukommen zu lassen, den eine staatliche Schule in ihrer Nähe nicht bieten kann. Entsprechend stark wäre der Druck, den die Eltern als Wähler auf die Schulpolitik ausüben. Andererseits mag Fraktionalisierung gerade dazu führen, dass der Staat die Integration von Minderheiten über die Schulbesuchspflicht forcieren will.
16
Quelle: UNESCO (http://stats.uis.unesco.org/unesco/TableViewer/tableView.aspx7ReportId = 165), bezogen auf die Primarstufe, 1999 oder nächstes verfügbares Jahr.
38
Björn Frank
Die Regressionsgleichung aus Tabelle 3, Spalte (3), führt für Deutschland lediglich zu einer erwarteten Wahrscheinlichkeit der Schulbesuchspflicht in Höhe von 0,31 (bzw. 0,24, wenn die Gleichung ohne Deutschland im Sample geschätzt wird). Spekulativ könnte man nun nach Gründen dafür suchen, dass Deutschland zum „Ausreißer" wurde. Vielleicht ist es die Bedeutung der Schulpflicht für die Autoren der Weimarer Verfassung nach der Revolution von 1918/1919, die eine Zeit erlebt hatten, in der die Oberschichtenkinder sich durch Privatunterricht der Gesellschaft anderer Schüler entzogen. 17
4.
Ein „Probierstein des Gehirns" für mein Kind? Schulfächer und -organisation
Nach einem der weniger bekannten Zitate aus Götz von Berlichingen ist Schach ein „Probierstein des Gehirns". Das legt nahe, dass Schachtraining, von der Steigerung der Spielstärke im Schach abgesehen, noch weitere kognitive Fähigkeiten verbessert. Dies glaubt unter anderem die Deutsche Schulschachstiftung (www.schulschachstiftung.de); sie verweist auf eine Untersuchung an einer Trierer Grundschule, die aber nur in kurzen Auszügen veröffentlicht wurde (ο. V. 2007). Danach sollen sich Wahrnehmungsvermögen und Konzentrationsfähigkeit vor allem in den beiden ersten Schuljahren und bei den leistungsschwachen Schülern signifikant erhöht haben, ebenso Leistungsmotivation und Sozialkompetenz im dritten und vierten Schuljahr. Die Ergebnisse internationaler Studien sind allerdings uneinheitlich, wie Gobet und Campitelli (2006) zeigen, die zudem Kriterien für ein „ideales" Untersuchungsdesign formulieren, die die besagte Trierer Studie, soweit ersichtlich, noch deutlicher als andere verfehlt (für einen weniger kritischen Überblick vgl. Bönsch-Kauke 2008). Was genau Schachtraining bei Schülern bewirkt, braucht hier nicht entschieden zu werden, denn Schachtraining steht letztlich nur stellvertretend für Unterricht, von dem man sich plausiblerweise positive und langfristige Effekte für mehrere andere Fächer erhofft. Weitere Beispiele wären Musikprojekte, Tai Chi, creative writing etc. Welche Anreize haben Schulen, solche letztlich fächerübergreifend und langfristig wirksamen Angebote zu machen? Betrachten wir eine Schule im Primarbereich, in den meisten deutschen Bundesländern also Klasse 1 bis 4. Ihre Zielfunktion Π Ρ π hängt ab von der messbaren Leistung der Schüler L j , welche wiederum von der Qualität des Fachunterrichts in den Kernfächern q i und der Qualität des Schachunterrichts (um weiter an diesem Beispiel zu argumentieren) S p r i abhängt. Beides beeinflusst auch die Kosten (im weitesten Sinne) C j , d. h. p r
p r
p r
17
Historische Zufälligkeiten spielten vermutlich auch im Fall der eingangs erwähnten PolgarFamilie eine Rolle, die das Glück hatten, dass mit Jänos Kädär ein „fanatical chess fan and amateur player" (Berend 1996, S. 270) der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei als Generalsekretär vorstand. Zudem ist Ungarn ein schachbegeistertes Land; im Zeitraum 2001 bis 2006 war Ungarn weltweit das Land mit der zweithöchsten Zahl von Turnieren pro Einwohner (zählt man nur die vom Weltschachverband FIDE gelisteten Turniere; vgl. Ariga et al. 2008).
Ökonomische Analyse des deutschen Schulsystems
— Lpri(qpri,spn)
39
Cpn (qpri, spri).
Eine rationale Schulleitung wird nun also q p r i und s pr j so lange erhöhen, bis Grenzertrag und Grenzkosten - jeweils an der eigenen Schule - gleich sind. Unberücksichtigt bleiben positive externe Effekte. Die Leistungsfähigkeit und die Leistungen der Schüler der Sekundarstufe, L^k, hängen u. a. auch von der Qualität des Unterrichts in der Primarschule ab. Die externen Effekte der Qualität des Fachunterrichts der Primarstufe, qpri, sind im Prinzip leicht internalisierbar; die positiven Anreize oder die möglichen Sanktionen für die Lehrer und Schulleitungen müssen stark genug auf das Kriterium „Leistungsstand in Kernfächern" reagieren. In Primarschulen wird dieser Leistungsstand regelmäßig so geprüft, dass ein Vergleich mit anderen Schulen oder anderweitig gesetzten Benchmarks möglich ist. Dagegen ist die Aussage „Schule Α unterrichtet Schach besser als Schule Β Tanzen" nahezu sinnfrei; für Fächer wie Schach können Leistungskontrollen nicht in gleicher Weise funktionieren wie in Kernfächern. Welche Bedingungen führen dann dazu, dass die Schulleitungen die externen Effekte dennoch in ihren Entscheidungen berücksichtigen? a) Ein einfacher Weg ist die Internalisierung durch (vertikale) Integration. Der Effekt SLsek/dSpri ist nicht mehr exogen, wenn Primarstufe und Sekundarstufe I in einer Schule vereint sind. Effizienzvorteile der Internalisierung positiver externer Effekte durch Unterrichtsangebote, die für eine standardisierte Leistungskontrolle wenig geeignet sind, sollten also dazu fuhren, dass der Lehr- bzw. Lernerfolg im Durchschnitt umso höher ist, je länger die Schüler gemeinsam lernen bzw. j e später nach der Grundschule die über den Übergang auf Hauptschule, Realschule oder Gymnasium entschieden wird. Die empirische Evidenz hierzu ist gemischt (Pekkarinen et al. 2009, mit weiteren Hinweisen), und wo gefunden wird, dass eine späte Trennung der Schüler zu besseren Ergebnissen führt, konkurriert die Internalisierung positiver externer Effekte als Erklärung mit peer group effects (Henderson et al. 1978): Längerer Verbleib im undifferenzierten Klassenverband bringt den unterdurchschnittlichen Schülern mehr, als die überdurchschnittlichen an Lernerfolg einbüßen. b) Auch auf der Kostenseite lässt sich ansetzen. oC/os pn lässt sich zunächst ebenfalls durch die Integration von Primär- und Sekundarstufe I in einer Schule senken. Der Grund ist trivial: Solche integrierten Schulen sind größer, und damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine hinreichend große Auswahl an Wahlangeboten wie Schach bereitgestellt werden kann. Diese sollen schließlich den Bedürfnissen der Schüler entsprechend und fachlich kompetent unterrichtet werden. Ebenfalls hilfreich ist eine große Autonomie der Schule in Bezug auf die Auswahl der Lehrer. (Welchen direkten Einfluss die Autonomie der Schulen bei der Lehrerauswahl unabhängig von dem hier diskutierten Punkt auf die Leistungen der Schüler hat, hängt in der Studie von Fuchs und Wößmann 2007, vom Fach und von institutionellen Rahmenbedingungen ab.) c) Da aus Sicht der Eltern bei der Wahl der Grundschule alle Einflüsse auf die Leistungen in der Sekundarstufe, einschließlich erft + ß2berfi + ß-fierf? + ßtberf* + ß5kAbi, + ßtmAbi, + ß-,verheit + ßsindus\j + ß9indus2i + ßwindus3; + ßuindus4i + ßilindus5l + ßnindus6: + ß^indusl ί + β indus%i + ε,.
Dabei ist i der Personenindex, und die endogene Variable ist der logarithmierte reale Bruttostundenlohn Ihwage. Die exogenen Variablen sind die potentielle Berufserfahrung berf sowie Dummyvariablen für den höchsten erreichten Bildungsabschluss, den Familienstand verhei (Referenzkategorie nicht verheiratet) und Wirtschaftssektoren auf der Einstellerebene indus (Referenzkategorie Dienstleistungssektor).8 Für die potentielle Berufserfahrung wird eine biquadratische funktionale Spezifizierung gewählt, da damit der Verlauf der Löhne in einem Lohn-Berufserfahrungs-Diagramm empirisch gut abgebildet wird (vgl. dazu Lemieux 2006). Wir verwenden für den Bildungsabschluss zwei Dummyvariablen. Die erste nimmt den Wert 1 an, wenn der höchste erreichte Bildungsabschluss höher als Abitur mAbi ist, und sonst den Wert 0. Die zweite ist 1, wenn der höchste erreichte Bildungsabschluss geringer als Abitur kAbi ist. Als Referenzkategorie dient der Abschluss Abitur, ε ist der Störterm.9
7
Die potentielle Berufserfahrung ist definiert als Alter-Ausbildungsjahre-Einschulungsalter (Vgl. Mincer 1974, S. 84). Kinder werden in der Regel im Alter von 6 Jahren in Deutschland, den USA und Australien eingeschult (siehe Puhani und Weber 2006, S. 36.).
8
Durch die Verwendung dieser Variable fallen für die USA die Beobachtungen für das Jahr 1995 weg.
9
In weiteren Spezifikationen wurden Kohortendummies, Periodendummies und die Anzahl der Kinder verwendet. Nach den Informationskriterien AIC, BIC und dem korrigierten Bestimmtheitsmaß verschlechterte sich der Erklärangsgehalt des Modells. Daher wurden diese Variablen nicht verwendet. Regionendummies wurden nicht verwendet, da damit viele Beobachtungen verloren gehen. Die Schätzung der Gleichung 1 mit einem Panelmodell mit fixen Zeit- und Personeneffekten ist der hier verwendeten Querschnittsregression eindeutig vorzuziehen, da der nicht beobachtbaren Heterogenität Rechnung getragen wird. Wir verwenden dennoch die Querschnittsregression, da die Dekomposition von Juhrt et al. (1993) auf einer OLS-Querschnittsregression beruht. Die Schätzung eines Panelmodells der Gleichung 1 mit fixen Personen- und Zeiteffekten ergibt für kAbi eine Bildungsrendite von -0.036 für Australien (nicht signifikant), 0.010 für die USA (nicht signifikant) und -0.364 für Deutschland (signifikant zu 1 %) für den gemeinsamen Zeitraum von 2001 bis 2005. Für den Abschluss mAbi ergeben sich 0.252 für Australien, 0.191 für die USA (beide signifikant zu 1 %) und 0.122 für Deutschland (signifikant zu 10 %). Für die jeweilige gesamte Beobachtungsperiode für Deutschland ergibt sich für kAbi ein Wert von -0.300 (signifikant zu 1 %)
und für mAbi 0.110 (signifikant zu 1%). Für die USA ist der Wert für kAbi -0.019 (nicht signifikant) und für mAbi 0.041 (signifikant zu 5 %).
Lohnspreizung und Qualifikation von Arbeitnehmern
147
In Abbildung 3 sind die Bildungsrenditen für den höchsten erreichten Bildungsabschluss niedriger und höherwertiger als Abitur dargestellt.10 Dazu sind die Konfidenzintervalle des 5 %-Signifikanzniveaus mit der gestrichelten Linie mit eingezeichnet. Daran lässt sich aus der Grafik leicht ablesen, ob die Schätzergebnisse signifikant auf dem 5 %-Niveau von Null abweichen oder nicht. Die Bildungsrenditen sind die Schätzergebnisse der Dummyvariablen für kAbi und mAbi aus Gleichung 1. Da wir uns auf die Entlohnung zwischen Qualifikationsniveaus konzentrieren, sind die Schätzergebnisse der anderen exogenen Variablen nicht mit angegeben. Die dargestellten Werte geben demzufolge die prozentuale Veränderung des Lohnes für kAbi und mAbi relativ zum Abschluss Abitur an. Da für England für den Schulabschluss und die Dauer der formalen Ausbildung keine Daten vorliegen, muss England im Folgenden von der Untersuchung ausgeschlossen werden. Der negative Abstand der Entlohnung des niedrigeren Abschlusses als Abitur relativ zum Abschluss Abitur ist für Australien mit -10 % am geringsten. Für Australien schwankt die Bildungsrendite im Zeitraum von 2001 bis 2005 um dieses Niveau herum. Die Bildungsrendite für kAbi pendelt für Deutschland im Zeitraum von 1984 bis 1991 um das Niveau von -20 % herum und sinkt dann bis 1994 auf -15 %. Seitdem verschlechtert sich die Entlohnung des Abschlusses kAbi. Der negative Abstand erhöht sich seit 1994 um 15 Prozentpunkte bis zum Jahr 2005. Für die USA ergibt sich ein negativer Lohnabstand in Höhe von ungefähr 25 % für den Zeitraum von 1980 bis 1994. Seitdem schwankt der Wert um das Niveau von -20 %. Die Bildungsrendite für den Abschluss höher als Abitur beträgt für Australien im Jahr 2001 26 %, steigt auf 30 % im Jahr 2002 und bleibt auf diesem Niveau im Jahr 2003. Bis 2005 kommt es zu einem Abfall um 10 Prozentpunkte. Für einen höherwertigen Abschluss als Abitur erhöht sich die Bildungsrendite in den USA von ca. 35 % auf ungefähr 50 % zwischen den Jahren 1980 und 1988. Seitdem schwankt die Bildungsrendite um 50 %. Für den Zeitraum von 1984 bis Anfang der 1990er Jahre verläuft die Entwicklung in Deutschland analog zu der in den USA. Seit Anfang der 1990er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre sinkt die Entlohnung für einen Abschluss höher als Abitur jedoch auf ein Niveau von 35 % ab. In den letzten Jahren des Beobachtungszeitraums von 2001 bis 2005 kommt es zu einem starken Wiederanstieg der Bildungsrendite auf das alte Niveau Anfang der 1990er in Höhe von 50 %. Zusammenfassend ergibt sich für Australien mit einem Unterschied zwischen den Qualifikationsniveaus in Höhe von ungefähr 30 Prozentpunkten der geringste Wert im Jahr 2005. Deutschland und die USA haben einen Unterschied in Höhe von ca. 75 Prozentpunkten. In den letzten Jahren des Beobachtungszeitraumes aller drei Länder ist es zu einer Senkung des Bildungsrenditeabstandes zwischen den Qualifikationsniveaus in Australien und zu einer Erhöhung in Deutschland und den USA gekommen. Der Bildungsrenditeabstand nach Qualifikationsniveau schwankt in Deutschland zwischen 1984 und Anfang der 2000er Jahre im Bereich von 60 bis 65 Prozentpunkten. Seit 2001 gibt es eine Steigerung um 10 Prozentpunkte. In den USA hat sich der Abstand von 1980 bis Mitte 10
Das Bestimmtheitsmaß der Querschnittsregression von Gleichung 1 liegt zwischen 0.189 und 0.201 fiir Australien, zwischen 0.345 und 0.430 für Deutschland und zwischen 0.189 und 0.250 für die USA. In Abbildung 3 sind die mit exp(.)-l transformierten Schätzergebnisse der beiden Dummies kAbi und mAbit dargestellt.
148
Thomas Apolte und Heiko Peters
der 1990er Jahre von einem Niveau von 57 Prozentpunkten um 20 Prozentpunkte erhöht. Nach einer leichten Senkung schwankt der Abstand um das Niveau von 70 Prozentpunkten. Die Entwicklung ist konsistent mit der vorherigen deskriptiven Betrachtung. Abbildung 3: Schätzergebnisse der Querschnittsregressionen
s
' «t
1 1980
ζ":*"»
1 1 1982
1 1 1984
1 1
1 1
1986
1988 —
1 1980
1 1
1 1
1 1
1982
1984
1986
1 1
1
1990 AUS"·"
1 1 1992
1 1 1994
USA" "
1988 —
1 1 1998
1 2000
Γ 2002
2004
DEU
1
Γ
1 1 1996
1 1 1 1 1 1 1 1 Γ
1990 1992 1994 1996 A U S " · " USA» DEU
1998
2000
2002
2004
Quelle: Eigene Berechnungen mit CNEF-Daten unter Verwendung von Querschnittsgewichten.
Nun ist eine zunehmende Lohnspreizung zwischen dem oberen und unteren Lohnsegment nicht notwendigerweise und vor allem nicht unbedingt allein auf eine Änderung von Bildungsrenditen zurückzuführen. Vielmehr kann sie auch auf eine Veränderung der Struktur der Beschäftigten innerhalb der jeweiligen Lohnsegmente zurückzuführen sein. Wenn beispielsweise die Entlohnung im ersten Dezil sinkt, dann kann dies daran liegen, dass ein durchschnittlich gebildeter Beschäftigter in diesem Dezil einen geringeren Lohn bezieht, oder es kann darauf zurück zu fuhren sein, dass der Anteil derjenigen innerhalb des Dezils gesunken ist, die ein höheres Bildungsniveau aufweisen und damit auch einen höheren Lohn beziehen. Um die quantitative Bedeutung dieser beiden Effekte voneinander zu unterscheiden, werden wir im Folgenden die gesamte Lohnspreizung aufspalten. Demnach sprechen wir im Folgenden von Preiseffekten, wenn sich der Lohn von Arbeitnehmern mit einem gegebenen Bildungsniveau verändert. Dagegen sprechen wir von Mengeneffekten, wenn sich der Lohn in einem Einkommensdezil als Folge einer Veränderung der Qualifikationsstruktur der Beschäftigten innerhalb dieses Dezils verändert. Sofern Mengeneffekte für eine Zunahme der Lohnspreizung verantwortlich sind, liegt die tiefere Ursache nicht in einer Veränderung der Bewertung von Arbeitnehmerqualifika-
Lohnspreizung
und Qualifikation von
149
Arbeitnehmern
tionen am Arbeitsmarkt. Vielmehr ist in einem solchen Falle allein die Zusammensetzung der Beschäftigten nach Bildungsstand verantwortlich für die Veränderung des Lohngefalles. Daher sind Mengeneffekte für die Analyse von Bildungsrenditen nicht relevant. Aus diesem Grunde stellt sich die empirische Frage, welcher Teil der gesamten Lohnspreizung auf Preiseffekte zurückzufuhren ist und welcher auf Mengeneffekte. In Abbildung 4 ist hierzu zunächst die Entwicklung der Bildungsbeteiligung anhand der Abschlüsse niedriger als Abitur kAbi, Abitur Abi und höher als Abitur mAbi für Australien, Deutschland und die USA dargestellt. Mit Hilfe der Dekompositionsmethode von Juhn et al. (1993) lässt sich die Änderung der Lohnungleichheit zwischen zwei Zeitpunkten, gemessen durch den Interdezilsabstand, empirisch aufspalten. Dabei wird neben dem Preiseffekt und dem Mengeneffekt noch ein Residualeffekt ausgewiesen, welcher nicht beobachtbare Charakteristika der Arbeitnehmer enthält. Als beobachtbare Variablen verwenden wir die exogenen Variablen in Gleichung 1. Formal lässt sich mit dem Preiseffekt jener Anteil der Änderung der Lohnungleichheit bestimmen, welcher auf eine Veränderung in der Entlohnung der beobachtbaren Charakteristika (wie ζ. B. Bildung) bei Konstanz der Zusammensetzung der Arbeitnehmer (Mengenkomponente) zurückzuführen ist. Im ResidualefFekt werden Veränderungen der Mengen- und der Preiskomponenten von nicht beobachtbaren Eigenschaften, ζ. B. kognitive Fähigkeiten und Motivation, zusammengefasst. 11 Abbildung 4: Entwicklung der Bildungsbeteiligung
I I I II 1980
I I I
1984 USA: kAbi
I I I 1980
I I I I
I I
I I I
1984 1988 DEU: kAbi
I I I I I I 1992 19! DEU: Abi
1988
IIIII II I 2000
2004
USA: mAbi
I I I I I I 1 I 2000 2004 DEU: mAbi
Quelle: Eigene Berechnungen mit CNEF-Daten unter Verwendung von Querschnittsgewichten.
11
Siehe fur eine ausführliche Darstellung dieser Dekompositionsmethode Juhn et al. (1993).
150
Thomas Apolte und Heiko Peters
Die Ergebnisse der Dekomposition sind für den Zeitraum von 1984 bis 2005 und 2001 bis 2005 in Tabelle Al im Anhang zusammengestellt. Dabei sind die Veränderung des Lohnes im ersten, fünften und neunten Dezil, der Interdezilsabstand sowie die Lohnspreizung in der unteren und der oberen Hälfte der Verteilung angegeben. Hierbei ist der Interdezilsabstand die Maßzahl für die Lohnungleichheit. Für die einzelnen Dezile sind die Werte in Prozent und für die Dezilsabstände in Prozentpunkten angegeben. Die Basisperiode für die Referenzpreise und die Referenzresidualverteilung ist 1984 bzw. 2001. Tabellen 1 und 2 fassen die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammen. Der Residualeffekt als Differenz aus dem totalen Effekt und der Summe aus Preis- und Mengeneffekt ist hier nicht ausgewiesen. Tabelle 1: Veränderungen des Lohnes von 2001 bis 2005 in Prozent
AUS USA DEU
Total 11,8 -8,4 2,4
1. Dezil Menge 0,5 -1,0 6,8
Preis 9,0 -7,1 -1,9
Total 6,7 2,0 4,4
9. Dezil Menge 2,8 -0,3 -1,1
Preis 6,8 1,1 2,8
Quelle: Siehe Tabelle A l im Anhang.
Was den kürzeren Zeitraum von 2001 bis 2005 angeht, so bildet Australien insoweit eine Ausnahme zu den anderen beiden Ländern, als dass in diesem Land die Lohnungleichheit gesunken ist. So ist der Lohn im ersten Dezil um 11,8 % gestiegen, während er im neunten Dezil nur um 6,7 % zugenommen hat. In den USA und in Deutschland ist die Lohnungleichheit für diesen Zeitraum allerdings gestiegen. In den USA ist der Lohn für das erste Dezil sogar um 8,4 % absolut gesunken, während die Löhne des neunten Dezils mit 2 % leicht gestiegen sind. In Deutschland sind die Löhne des neunten Dezils mit 4,4 % annähernd doppelt so stark gestiegen wie jene des ersten Dezils, die um 2,4 % zunahmen. Für den längeren Zeitraum von 1984 bis 2005 konnten für Australien aufgrund der Datenlage leider keine Werte ermittelt werden. Für die USA und für Deutschland ergibt sich allerdings eine noch stärker ausgeprägte Lohnspreizung als fur den kürzeren Zeitraum. So ist der Lohn im ersten Dezil in den USA um 9 % gesunken, während er im neunten Dezil fast 30 % anstieg. In Deutschland liegt der Anstieg im neunten Dezil ebenfalls bei annähernd 30 %. Im ersten Dezil sind die Löhne in Deutschland zwar im Gegensatz zu den USA auch gestiegen, allerdings nur um gut 12 %. Tabelle 2: Veränderungen des Lohnes von 1984 bis 2005 in Prozent
USA DEU
Total -9,0 12,1
1. Dezil Menge 6,4 9,7
Quelle: Siehe Tabelle A l im Anhang.
Preis -7,2 11
Total 29,4 29,8
9. Dezil Menge 11,8 7,0
Preis 4,3 16,5
Lohnspreizung und Qualifikation von Arbeitnehmern
151
Wie bereits angesprochen, ist für die Frage der Lohnspreizung zwischen hoch- und gering qualifizierten Beschäftigten allein der Preiseffekt von Bedeutung, weil nur dieser die Entwicklung der Entlohnung bei gegebener Qualifikation wieder gibt. Hierzu ist für den kürzeren Zeitraum für Australien wiederum eine Kompression der Lohnverteilung festzuhalten, weil der Preiseffekt die Löhne des ersten Dezils um 9 % und im neunten nur um 6,8 % angehoben hat. Für die USA und für Deutschland hat der Preiseffekt allerdings zu einer Zunahme der Lohnspreizung geführt. So hat er die Löhne in den USA um 7,1 % am unteren Ende gesenkt, während er sie am oberen um 1,1 % angehoben hat. In Deutschland hat der Preiseffekt die Löhne im ersten Dezil ebenfalls gesenkt, wenn auch nur um knapp 2 %, während er sie im 9. Dezil um 2,8 % angehoben hat. Für den längeren Zeitraum von 1984 bis 2005 ergibt sich ein ähnliches Bild, allerdings für Deutschland weniger scharf. In den USA hat der Preiseffekt in diesem Zeitraum die Löhne im ersten Dezil um 7,2 % sinken und im neunten Dezil um 4,3 % steigen lassen. Der deutlich kleinere Anstieg im neunten Dezil gegenüber dem Totaleffekt von 29,4 % weist darauf hin, dass der größte Teil des Anstiegs in der oberen Einkommensklasse in den USA nicht auf eine höhere Bildungsrendite zurückzuführen ist, sondern struktureller Natur ist. Dies gilt allerdings nur für den längeren Zeitraum. In Deutschland hat der Preiseffekt die unteren Einkommen um 11 % und die oberen um 16,5 % ansteigen lassen, womit die Bildungsrenditen gestiegen sind. Insgesamt ergibt sich demnach auch nach Bereinigung um Struktur- und Residualeffekte für Deutschland und die USA eine deutliche Spreizung der Löhne zwischen hochund gering qualifizierten Beschäftigten. Dieser Befund ist entweder auf Verschiebungen des relativen Angebotes oder auf Verschiebungen der relativen Nachfrage im Sinne der Abbildung 1 zurückzufuhren. Dies wirft nun die Frage nach möglichen tieferen Gründen für solche Verschiebungen auf, welche Gegenstand des folgenden Abschnittes sind.
4.
Erklärungsansätze zur Entwicklung der Lohnspreizung zwischen gering und höher qualifizierten Beschäftigten
Theoretische Ansätze sehen sich dem Anspruch ausgesetzt, die beobachtete Zunahme des Relativlohnes mit der gleichzeitigen Zunahme des relativen Angebotes an hoch qualifizierter Arbeit in den Industrieländern in Übereinstimmung zu bringen. Denn im Rahmen eines relativen Angebots-Nachfrage-Schemas ist dies nur durch eine überkompensierende Zunahme der relativen Nachfrage möglich. Hierzu werden in der Literatur zwei Ansätze behandelt, die teilweise miteinander konkurrieren, sich teilweise aber auch ergänzen. Der erste Ansatz bezieht sich auf die zunehmende internationale Handelsintegration im Rahmen der Globalisierung, während der andere sich auf den technischen Fortschritt konzentriert, soweit dieser komplementär zur höher qualifizierten Arbeit ist und insoweit deren Produktivität erhöht. Beide Ansätze erscheinen spontan plausibel. Eine nähere Analyse weist jedoch auf verschiedene Widersprüchlichkeiten hin, welche vor allem den Globalisierungsansatz als weniger plausibel erscheinen lässt, zumindest soweit er in einen traditionellen Heckscher-Ohlin-Rahmen eingebettet ist (Acemoglu 2002; Machin 2003):
152
Thomas Apolte und Heiko Peters
— In den Industrieländern hätten die relativen Preise wenig qualifikationsintensiver Güter sinken müssen, was aber zumindest nicht in einer für die Erklärung hinreichenden Weise geschah. — Die Qualifikationsintensität der Produktion hätte für alle Güter sinken müssen; tatsächlich ist sie fast überall gestiegen. — In den Entwicklungs- und Schwellenländern hätte die Lohnspreizung sinken müssen, während sie in den Industrieländern stieg; tatsächlich ist die Lohnspreizung aber nicht nur in den Industrieländern gestiegen. — Schließlich reicht der Anteil der Importe aus Entwicklungs- und Schwellenländern nicht aus, um das Ausmaß des Anstiegs der Lohnspreizung zu erklären. Aus diesen Gründen greift die in der öffentlichen Diskussion populäre Erklärung der zunehmenden Lohnspreizung in Folge der Globalisierung zumindest zu kurz. Ohne den damit einhergehenden technischen Fortschritt kann der beobachtete Anstieg des Reallohns kaum zureichend erklärt werden. Aber auch der technische Fortschritt ist nur unter sehr spezifischen Bedingungen als Erklärungsfaktor geeignet. Tatsächlich kann technischer Fortschritt den Relativlohn erhöhen, aber er kann ihn theoretisch durchaus auch senken. Es kommt hier auf das Zusammenspiel verschiedener Faktoren an, zu denen nicht nur, aber auch der internationale Handel gehört. Um die Problematik in einem einheitlichen Analyserahmen zu untersuchen, sei eine Volkswirtschaft mit hoch qualifizierter Arbeit H, und gering qualifizierter Arbeit L, betrachtet, welche in den Sektoren i=h,l eingesetzt werden, wobei der Index h ein im Vergleich zu / humankapitalintensiver hergestelltes Gut kennzeichnet (siehe ähnlich Acemoglu 2002, 2003). Es werde zu konstanten Skalenerträgen produziert, es gebe vollständigen Wettbewerb auf Arbeits- und Gütermärkten, es herrsche Vollbeschäftigung und die Unternehmen verhielten sich Gewinn maximierend. Demnach werden die Arbeitskräfte nach ihrem jeweiligen Grenzprodukt entlohnt und der Gewinn der Unternehmen ist null. Schließlich seien alle Arbeitskräfte international immobil. In einem ersten Schritt wird auch intersektorale Immobilität angenommen. Diese Annahme wird dann aber aufgehoben. Für Zwecke der grafischen Darstellung wird eine Einheitskostenfunktion definiert, welche die Kosten der Produktion aller Güter auf eins normiert: (2)
c;=w*-H
+ w'-L
= 1.
Der Arbeitseinsatz wird mit einem Effizienzparameter (AHi;ALj) dass sich die Einheitskostenfunktion schreiben lässt als (3)
+
A
m
= A
mit
multipliziert, so
Hei=HrAH-Lei=LrAu.
u
Der Produktionswert wird ebenfalls auf einen Einheitswert von eins normiert und durch eine CES-Produktionsfunktion beschrieben:
Lohnspreizung und Qualifikation von Arbeitnehmern
fid (4)
153
£ci
1 = YrK'
mit 0 < γ ί < 1.
Durch Ableiten von (4) nach den effektiven Arbeitseinsätzen unter der Nebenbedingung (3) ergibt sich der Relativlohn w, im Gewinnmaximum als: 1
(5)
1 ε,·
-r, Yi
U ;
/
ε,-1
V
Es lassen sich nun verschiedene Konstellationen isolieren. Sofern die Volkswirtschaft aus zwei Sektoren besteht und zugleich mit hoch und gering qualifizierter Arbeit produziert, kann technischer Fortschritt erstens sektorneutral oder sektorspezifisch und zweitens faktorneutral oder Faktor verzerrend wirken. Wenn technischer Fortschritt sektorneutral ist, dann wirkt der technische Fortschritt in allen Sektoren gleichermaßen Produktivität steigernd, ist er sektorspezifisch, dann wirkt der technische Fortschritt in einem Sektor stärker auf die Produktivität ein als in einem anderen. Wenn technischer Fortschritt faktorneutral ist, dann erhöht er die Produktivität der Faktoren in gleichem Maße, so dass d(Am!Au) = 0. Von Faktor verzerrendem Fortschritt sprechen wir im Folgenden, wenn der technische Fortschritt einseitig die Produktivität der hoch qualifizierten Arbeit verbessert, so dass d(Am / ALi)>0. In einem ersten Schritt wird nun Faktor verzerrender technischer Fortschritt in einer einfachen Ein-Sektor-Volkswirtschaft analysiert.
4.1. Faktor verzerrender technischer Fortschritt im einfachen Ein-Sektor-Modell Für den Fall einer Ein-Sektor-Volkswirtschaft lässt sich die Wirkung von Faktor verzerrendem technischen Fortschritt durch die Ableitung von (5) nach (Am / Au ) unmittelbar ersehen. Sie lautet:
SWi
S(AHi/ALi)
_ 1" Yi r,
~ 1 f Hi s, [L,
1
1
Da y, zwischen null und eins liegt, ist Gleichung (6) immer dann positiv, wenn die Substitutionselastizität zwischen hoch qualifizierter und gering qualifizierter Arbeit ε, größer als eins ist. Daher gilt, dass Faktor verzerrender technischer Fortschritt den Relativlohn und damit die Qualifikationsprämie w dann und nur dann ansteigen lässt, wenn die Substitutionselastizität größer ist als eins. Damit ist bereits die erste Einschränkung der Vermutung benannt, wonach Faktor verzerrender technischer Fortschritt die Qualifikationsprämie erhöht. Im Falle einer Cobb-Douglas-Technologie ergibt sich wegen der Substitutionselastizität von eins keine Änderung des Relativlohns, während eine Substitutionselastizität von kleiner eins sogar zu einer Verringerung der Qualifikationsprämie führen würde. Der Wirkungsmechanismus lässt sich graphisch folgendermaßen verdeutlichen (Abbildung 5).
Thomas Apolte und Heiko Peters
154
Abbildung 5: Faktor verzerrender technischer Fortschritt im Einsektorenmodell
L
H0
H*
Η
Quelle: Eigene Darstellung.
Der Tangentialpunkt Ε der durchgezogenen Indifferenzkurve mit der Einheitskostengerade c\ markiert die Ausgangssituation, wobei die Steigung von c\ den negativen Wert des Relativlohns w angibt. Weil zunächst noch angenommen wird, dass es nur einen Sektor in der Volkswirtschaft gibt, werden bei Vollbeschäftigung immer H* hoch qualifizierte und L* gering qualifizierte Personen beschäftigt, so dass die Faktorproportion mit (L/H)* fix ist. Wenn nun Faktor verzerrender technischer Fortschritt eintritt, dreht sich die Indifferenzkurve zunächst im Uhrzeigersinn, so dass die gleiche Menge nunmehr im Tangentialpunkt Τ der gepunkteten Kostengerade C2 mit der gepunkteten Indifferenzkurve erzielt werden kann. In diesem Punkt würde mit einem geringeren Einsatz von Η und dem gleichem Einsatz von L produziert. Da Η nunmehr produktiver ist und beide Faktoren nach dem Grenzprodukt entlohnt werden, ist die gepunktete Kostengerade C2 steiler als c\ und zeigt damit einen höheren Relativlohn W=Wh/WL an. Allerdings ist hoch qualifizierte Arbeit im Punkt Τ unterbeschäftigt, weil die Produktivitätserhöhung zunächst bei gleicher Produktion hoch qualifizierte Arbeit einspart. Außerdem repräsentieren die gepunktete Kostengerade sowie die gepunktete Indifferenzkurve nicht die Einheitskosten- und Produktionswerte von eins. Vielmehr sind die Kosten kleiner als eins, so dass ein Gewinn entsteht und damit kein langfristiges Gleichgewicht vorliegen kann. Um zu Vollbeschäftigung in einem langfristigen Gleichgewicht zurück zu kehren, muss sich die Indifferenzkurve entlang des Expansionspfades (L/H)* nach außen verschieben, bis sie (als gestrichelte Indifferenzkurve) den Punkt (L*/H*) erreicht hat. Die in diesem Punkt zur Indifferenzkurve tangential verlaufende Kostenkurve C3 repräsentiert wieder Einheitskosten von eins und verläuft flacher als die gepunktete Kostenkurve C2, was dem Substitutionseffekt geschuldet ist, der sich durch den Wiederaufbau der Beschäftigung hoch qualifizierter Arbeit von Ho auf H* bei sinkender Grenzproduktivität ergibt. Allerdings ist c 3 steiler als die ursprüngliche Einheitskostenkurve ci, worin sich der ursprüngliche Faktor verzerrende Produktivitätsfortschritt widerspiegelt. Es ist zu beachten, dass der Nettoeffekt des ursächlichen Faktor verzerrenden Ef-
Lohnspreizung und Qualifikation von Arbeitnehmern
155
fekts und des Substitutionseffekts beim Wiederaufbau der hoch qualifizierter Beschäftigung von Ho auf H* nur dann positiv auf den Relativlohn wirkt, wenn die Substitutionselastizität zwischen Η und L größer als eins ist, wie schon durch Bedingung (6) zum Ausdruck gebracht wurde. Graphisch drückt sich dies darin aus, dass die Indifferenzkurven keine zu große Krümmung aufweisen dürfen, weil sonst der Relativlohn entlang der Indifferenzkurve zu stark fällt. Es ist also in einem einfachen Ein-Sektor-Modell nicht eindeutig, dass Faktor verzerrender technischer Fortschritt den Relativlohn und damit die Qualifikationsprämie erhöht, wenngleich die Empirie nahe legt, dass die Substitutionselastizität ausreichend hoch ist, damit Faktor verzerrender technischer Fortschritt den Relativlohn steigen lässt (Katz und Murphy 1992; Murphy, Riddell und Romer 1998; Card und Lemieux 2000). Im nächsten Schritt ist zu klären, wie die Wirkungen im Falle von zwei Sektoren zu sehen sind.
4.2. Faktor verzerrender technischer Fortschritt im einfachen Zwei-Sektor-Modell Unter der Annahme einer kleinen offenen Volkswirtschaft sind die Güterpreise exogen, so dass der relative Güterpreis auf eins normiert werden kann. 4.2.1. Faktor verzerrender technischer Fortschritt im Zwei-Sektoren-Modell Im Falle eines Zwei-Sektoren-Modells ist die Faktorintensität der Produktion in jedem Sektor bei intersektoraler Mobilität der Arbeitskräfte auch dann nicht mehr fix, wenn die Faktorausstattung für die Volkswirtschaft insgesamt gegeben ist. Weil im Sektor h ein qualifikationsintensives und im Sektor / ein nicht-qualifikationsintensives Gut hergestellt wird, gilt bei gegebenen Faktorpreisen (Hh/Lh)>{Hi/Li). Wegen der Annahme vollständiger sektoraler Mobilität sowohl der hochqualifizierten als auch der gering qualifizierten Arbeitskräfte gleichen sich die jeweiligen Lohnsätze einander vollständig an, so dass im Folgenden wh = whi und w, = wK für i=h,l geschrieben wird. Da in diesem Abschnitt ausschließlich Faktor verzerrender technischer Fortschritt analysiert werden soll, wird von möglichen sektorspezifischen Wirkungen des technischen Fortschritts an dieser Stelle abstrahiert. Daher gilt analog zu den Lohnsätzen AH = Am sowie A, = Au fur i=h,l. Die daraus folgenden Zusammenhänge lassen sich in einem Diagramm mit Isokostenkurven anschaulicher darstellen als in einem Diagramm mit Isoquanten. Daher wird die Produktionsfunktion (4) unter Gültigkeit der Budgetrestriktion (2) und unter Anwendung von Shepard's Lemma in eine auf eins normierte Isokostenfunktion überführt, welche die Gewinn maximierenden Faktoreinsatzmengen beinhaltet:
Durch implizite Ableitung ergibt sich die Steigung der Isokostenkurve als:
156
W
Thomas Apolte und Heiko Peters
r, 7Γ aw, = ~ 1- YJ
ν
y
Λ .
Für eine Substitutionselastizität e,>l wird die Steigung bei d(Ah / A,)> 0 dem Betrage nach kleiner, während sie im Falle ε,1
•w.
Quelle: Eigene Darstellung.
Den Fall einer von eins abweichenden Substitutionselastizität zeigt der rechte Teil von Abbildung 6 am Beispiel des vermutlich für die Realität relevanteren £;>1. Wie aus Gleichung 8 ersichtlich, ist Faktor verzerrender technischer Fortschritt mit d(AH / AL ) > 0 nicht neutral mit Blick auf die Steigung der Isokostenlinien. Vielmehr drehen sich diese im Falle von ε,>1, ausgehend von Punkt c in Abbildung 6, gegen den Uhrzeigensinn (im Falle von c,5
451
dl
d5
d9
«ι
! 495
451
2005-2005 Τ 0.118 0053 0.067 -0.052 0614 -0.066 4084 -0.044 0.026 0.103 0.064 0.040 0.024 0.044 0.044 0019 3.000 O.019 Q 0.085 -0004 0.03 0.1123 0.032 -00® 4010 0.020 -0.003 0.001 4023 0.031 0.068 9.035 4011 4059 4046 4033 m 0 058 0.024 4019 0.007 0.028 0047 0.021 0.026 ? 0.090 0070 00« -0.022 -0.002 -0.029 -0.071 -0.047 0.011 ü 0.03 -0014 •m
-0.052 -0.016 -0.037 -0.003 -0.017 0.011 0.014 0.(08 -0.015 -0.025 0.032 0.027 6 1 8
9.025 0027
1984-2505 Τ
0.384 0.342 0.042 0121 0J50 6.298 0.176 0.048 0128 0064 0.033 0.118 0.054 0.085 -0031 0.097 0079 0.070 -0.026 4009 4017
-0.090 4 « 8 m
Q Ρ
4072 -0.045 0.043 0.115 0.083 0.032 0.110 0148 0.165 0.055 0.017 0.037
c
-0.082 -0.041 0.133 0.215 0.174 0.041 4085 0023
0.Ü6J 0.148 0.040 3108
Anmerkung: Τ = Gesamte Veränderung, Q = Mengeneffekt, Ρ = Preiseffekt, U = Beitrag nichtbeobachtbarer Eigenschaften, d l , d5, d9: Lohnveränderung in den jeweiligen Dezilen; d91, d95, d51: Dezilsabstände der Lohnveränderung. Quelle: Eigene Berechnungen mit CNEF-Daten unter Verwendung von Querschnittsgewichten.
Literatur Acemoglu, D. (2002): Technical Change, Inequality, and the Labor Market, in: Journal of Economic Literature, Vol. 110, pp. 7-72. Acemoglu, D. (2003): Patterns of Skill Premia, in: Review of Economic Studies, Vol. 70, pp. 199-230. Aghion, P. und P. Howitt, (2002): Wage Inequality and the New Economy, in: Oxford Economic Policy, Vol. 18, pp. 306-323. Aydemir, A. und G. J. Borjas, (2007): A Comparative Analysis of the Labor Market Impact of International Migration: Canada, Mexico, and the United States, in: Journal of the European Economic Association, Vol. 5, pp. 663-708. Borjas, G. J. (1995): The Internationalization of the U.S. Labor Market and the Wage Structure, in: F R B N Y Economic Policy Review, Januar. Card, D. und Τ. Lemieux (2000): Can Falling Supply Explain the Rising Return to College for Younger Men?, N B E R Working Paper, No. 7655. Dluhosch, B. (2003): Humankapitalmangel in der New Economy?, in: W. Schäfer (Hg.): Konjunktur, Wachstum und Wirtschaftspolitik im Zeichen der New Economy, Berlin, S. 157-181.
164
Thomas Apolte und Heiko Peters
Feenstra, R., C. und G. H. Hanson (1999): The Impact of Outsourcing and Relative Wages: Estimates for the U.S., 1979-1990, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 114, pp. 907-940. Haskel, J. E. und Μ. J. Slaughter (2002): Does the Sector Bias of Skill-biased technical Change explain Changing Skill Premia?, in: European Economic Review, Vol. 46, pp. 1757-1783. IWF (2007): Spill-overs and Cycles in the Global Economy, World Economic Outlook, April, Washington, D.C. Jaeger, D. (2007): Skill Differences and the Effect of Immigrants on the Wages of Natives, Working Paper, U.S. Bureau of Labor Statistics. Johannsson, H. und 5. Weiler (2005): Immigration and wage inequality in the 1990s: Panel evidence from the current population survey, in: The Social Science Journal, Vol. 42, pp. 231-240. Juhn, C., Κ. M. Murphy und Β. Pierce (1993): Wage Inequality and the Rise in Returns to Skill, in: Journal of Political Economy, Vol. 101 (3), pp. 410-42. Katz, L. und Κ. Μ. Murphy (1992): Changes in Relative Wages: Supply and Demand Factors, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 107, pp. 35-78. Kranz, D. F. (2006): Why has Wage Inequality increased more in the USA than in Europe? An Empirical Investigation of the Demand and Supply of Skill, in: Applied Economics, Vol. 38, pp. 771-788. Krugman, P. R. (2000): Technology, Trade and Factor Prices, in: Journal of International Economics, Vol. 50, pp. 51-71. Learner, Ε. E. (1998): In Search for Stolper-Samuelson Linkages between International Trade and Lower Wages, in: S. Collins (ed.): Imports, Exports and the American Worker, Washington, pp. 141-202. Learner, Ε. E. (2000): Whats the Use of Factor Contents?, in: Journal of International Economics, Vol. 50, pp. 17-50. Learner, Ε. E. und J. Levinsohn (1995): International Trade Theory: The Evidence, in: Handbook of International Economics, Vol. 3, pp. 1339-1394. Lemieux, T. (2006): The Mincer Equation Thirty Years after Schooling, Experience and Earnings, in: S. Grossbard (ed.): Jacob Mincer, a Pioneer of Modern Labor Economics, New York, pp. 127-145. Lillard, D. R„ M. Grabka und S. Freidin (2007): Codebook for the Cross-National File 19802005, URL: BHPS-GSOEP-HILDA-PSID-SLID. www.human.cornell.edu/che/PAM/ Research/Centers-Programs/German-Panel/cnef.cfm [Stand: 16.09.2008]. Machin, S. (2003): Skill-Biased Technical Change in the New Economy, in: D. C. Jones (ed.): New Economy Handbook, Amsterdam, pp. 565-581. Mathes, J. (2008): Globalisierung: Ursache zunehmender Lohnungleichheit?, in: Institut der Deutschen Wirtschaft (Hg.): Die Zukunft der Arbeit in Deutschland - Megatrends, Reformbedarf und Handlungsoptionen, Köln, S. 31-63. Mincer, J. (1974): Schooling, Experience and Earnings, New York und London. Murphy, K. M„ W. C. Riddell und P.M. Romer (1998): Wages, Skills and Technology in the United States and Canada, in: E. Helpman (ed.) General Purpose Technologies, Cambridge, Mass., pp. 283-310. Puhani, P. A. und A. M. Weber (2006): Does the Early Bird Catch the Worm? Instrumental Variable Estimates of Educational Effects of Age of School Entry in Germany, University of St. Gallen, Department of Economics, Working Paper Series 2006-02. Shepard, R. W. (1953): Cost and Production Functions, Princeton. Wood, A. (1995): How Trade Hurt Unskilled Workers, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 3, pp. 57-80. Zeira, J. (2006): Wage Inequality, Technology, and Trade, in: Journal of Economic Theory, Vol. 137, pp. 79-103.
Thomas Apolte und Uwe Vollmer (Hg.), Bildungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft • Band 91 • Stuttgart • 2010
Korreferat zu Thomas Apolte und Heiko Peters, Lohnspreizung und Qualifikation von Arbeitnehmern: Internationale Erfahrungen und theoretische Erkenntnisse
Maik Pradel
1. Worauf ist die in den letzten Jahrzehnten beobachtbare zunehmende Lohnspreizung zwischen hoch qualifizierten und gering qualifizierten Arbeitskräften zurückzuführen? Hängt diese Entwicklung vom Wandel in der Struktur des Arbeitsangebotes ab, oder ist eine Veränderung der Bildungsrenditen für diesen Effekt verantwortlich? Welche weiteren Einflussgrößen wirken auf die Lohnspreizung ein? Dies fragen Thomas Apolte und Heiko Peters, wobei ihre Analyse sich in zwei Untersuchungsebenen untergliedert. Zum einen wird anhand von harmonisierten Haushaltsbefragungsdaten sowie Informationen zur Entlohnung verschiedener Bildungsabschlüsse die Entwicklung der Lohnungleichheit für Australien, Deutschland, England und den USA empirisch untersucht. Hierbei liegt das Augenmerk auf der Unterscheidung zwischen Preis- und Mengeneffekt. 1 Zum anderen wird die empirisch beobachtete wachsende Lohnspreizung zwischen hoch qualifizierten und gering qualifizierten Beschäftigten modelltheoretisch zu erklären versucht. Für diese Zwecke wird die Wirkung des technischen Fortschritts auf die Lohnspreizung jeweils in einer geschlossenen, einer kleinen offenen und einer großen offenen Volkswirtschaft untersucht. Die Wirkung des technischen Fortschritts wird hierbei sowohl im Hinblick auf den Sektor (sektorspezifisch oder -neutral) als auch auf den Faktor Arbeit im hoch qualifizierten und gering qualifizierten Bereich (faktorspezifisch oder -neutral) analysiert. Neben diesen zwei Hauptuntersuchungsrichtungen werden noch alternative Ansätze zur Erklärung der Lohnspreizung diskutiert. Im Ergebnis belegen Apolte und Peters empirisch die im Zeitablauf zunehmende Lohnspreizung zwischen hoch qualifizierten und gering qualifizierten Beschäftigten für die untersuchten Länder Deutschland, England und die USA. Für Australien hingegen kann eine Kompression der Lohnverteilung festgestellt werden. Betrachtet man alleinig Unter dem Preiseffekt verstehen Apolte und Peters die Veränderung des Lohnes von Arbeitnehmern mit einem gegebenen Bildungsniveau unter einer konstanten Bildungsstruktur (ζ. B. hochqualifizierte Arbeitnehmer erhalten eine höhere Entlohnung, ohne dass sich die Zusammensetzung zwischen hoch qualifizierten und gering qualifizierten Arbeitskräften verändert: Veränderung von Bildungsrenditen); dagegen sprechen Apolte und Peters von einem Mengeneffekt, wenn der Lohn in einem betrachteten Bereich aufgrund der Veränderung der Qualifikationsstruktur in diesem Bereich variiert (ζ. B. verändert sich das Lohngefuge aufgrund der Verknappung hoch qualifizierter im Vergleich zu den gering qualifizierten Arbeitskräften in einem betrachteten Einkommensbereich).
166
Maik Pradel
die Veränderung der Bildungsrenditen (Preiseffekt), so kann eine ähnliche Schlussfolgerung gezogen werden; für Deutschland und die U S A kann eine Zunahme der Bildungsrenditen im Zeitablauf konstatiert werden, während für Australien eine Abnahme jener Rendite festgestellt wurde. 2 Im Rahmen der modelltheoretischen Untersuchung spannen Apolte und Peters eine breite Analysematrix auf. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen können nur zum Teil die empirischen Beobachtungen der zunehmenden Lohnspreizung erklären, zum Teil widersprechen sich die Ergebnisse einzelner Modellvariationen jedoch. Insofern kann kein einheitliches Bild der modelltheoretischen Erklärung der empirischen Befunde gezeichnet werden. Auch die vorgestellten alternativen Ansätze tragen nicht viel zur Herausbildung einer klaren Linie bei. Umso schwieriger erscheint daher die Prognose der zukünftigen Entwicklung der Lohnspreizung auf Basis der theoretischen Ansätze. 2. Wenngleich die Analyse von Apolte und Peters eine Reihe interessanter Erkenntnisse liefert, gibt es einige Kritikpunkte, auf die kurz eingegangen werden soll. Der empirische Teil der Arbeit räumt der Untersuchung des Preiseffektes bzw. der Entwicklung der Bildungsrenditen den Vorrang ein, weil er den Effekt der Qualifikation auf die Lohnspreizung abbildet. Nicht minder interessant scheint jedoch auch die Fragestellung, inwiefern strukturelle Veränderungen (Mengeneffekt) auf die Lohnspreizung einwirken und worauf sie zurückzufuhren sind; beispielsweise dürften Migrationstendenzen (untergliedert in hoch qualifizierte und gering qualifizierte Arbeitskräfte) für die Lohnspreizung bedeutsam sein. Des Weiteren konzentrieren sich Apolte und Peters in ihrer empirischen Arbeit auf die Betrachtung des Arbeitsangebotes; eine Erhebung und Untersuchung von Daten zur Darstellung der Arbeitsnachfrage erscheint bei der Analyse der strukturellen Veränderungen jedoch auch sinnvoll. Ein Vergleich der wirtschaftlichen Entwicklung der betrachteten Regionen kann schließlich nähere Erkenntnisse zum Wandel der Qualifikationsstruktur und somit zur Beeinflussung der Lohnspreizung liefern. 3 Die in Apolte und Peters herangezogenen modelltheoretischen Untersuchungen, welche den technischen Fortschritt auf den Faktor Arbeit beziehen, gehen fast ausschließlich von zwei Wirkungen aus: entweder von einer faktorneutralen Wirkung (die Arbeitsproduktivität von hoch qualifizierten und gering qualifizierten Beschäftigten verändert sich in gleichem Maße: d(AHi / ALi) = 0 ) oder von einer faktorverzerrenden Wirkung in dem Maße, dass die Arbeitsproduktivität der hoch qualifizierten Beschäftigten stärker steigt als die der gering qualifizierten Arbeitnehmer ( d { A U j / Au)> 0 ) . Es ist jedoch auch der Fall möglich, dass faktorverzerrender technischer Fortschritt zugunsten
2
3
Unter Bildungsrendite kann man vereinfacht den prozentualen Gewinn höher qualifizierender Bildungsmaßnahmen verstehen (ζ. B. aufgrund eines erhöhten Lebenseinkommens etc.). Für weiterführende Darstellungen vgl. u. a. Spraul (2006). Aufgrund mangelnder Daten zu den Schulabschlüssen konnte eine abschließende Untersuchung für England nicht vorgenommen werden. Einen Einblick in diese Thematik bietet (wenn gleich auch schon fast aus historischer Sicht) u. a. Franz (1999).
Korreferat zu Thomas Apolte und Heiko Peters
167
gering qualifizierter Beschäftigter (d(AHj/ALj)< 0 ) eintritt. 4 Die Untersuchung der Wirkung dieser Variation erscheint gerade vor dem enormen Einsparpotenzial und dem daraus resultierendem Druck auf das Lohngefüge im Bereich der gering qualifizierten Beschäftigten nicht nur für wirtschaftspolitische Fragestellungen relevant zu sein. 3. Ein letzter Kritikpunkt resultiert aus der mangelnden Darstellbarkeit von strukturellen Effekten in den vorhandenen modelltheoretischen Untersuchungen. Komplexere Effekte, wie demografischer Wandel bzw. Migrationsbewegungen, lassen sich mit ihnen kaum abbilden. Dabei scheint jedoch die Wirkungsanalyse dieser Effekte vor dem Hintergrund sich zukünftig verändernder Strukturen immer mehr ins Blickfeld zu geraten. Deshalb soll hier auf eine Möglichkeit zur Modellierung, Simulation und Analyse der Entwicklung der Lohnspreizung bei Kombination des Mengen- und Preiseffektes eingegangen werden: die Anwendung der kooperativen Spieltheorie. Dazu sei eine vereinfachte Ökonomie unterstellt, welche aus fünf Personen besteht. 5 Die Personen verfugen über zum Teil unterschiedliche Qualifikationsniveaus, welche in diesem Modell über Verbindungen (so genannte Graphen) zwischen den verschiedenen Personen dargestellt werden. Der Startzustand der Ökonomie sei über die Graphenstruktur aus Abbildung 1 gegeben. Die Graphenstruktur spiegelt hierbei die gegebene Qualifikationsstruktur der Volkswirtschaft in folgender Weise wider: Über je mehr Verbindungsgraphen eine Person verfügt, desto höher sei ihr Bildungsstand bzw. ihre Qualifikation. Aus der Abbildung ist ersichtlich, dass Person 2 über eine hohe Qualifikation verfügt, während die Personen 1 und 3 lediglich über eine geringe Qualifikation verfügen. Person 4 und 5 verfügen über keine Qualifikation/Bildung. 6
4
Es sei ζ. B. an die industrielle Revolution zu denken, welche mit breiter Einführung von Maschinen in den Produktionsprozess zu einer deutlichen Steigerung der Produktivität der gering qualifizierten Arbeitnehmer führte. Natürlich lässt sich erwidern, dass eine Produktivitätsverbesserung im Bereich der gering qualifizierten Arbeitskräfte auch immer auf die hoch qualifizierten Arbeitskräfte einwirkt, sofern die hoch qualifizierten Beschäftigten auch die Arbeit der gering qualifizierten Beschäftigten ausüben. Allerdings wird der hoch qualifizierte Beschäftigte aufgrund der bestehenden Lohnspreizung stets bestrebt sein, eine Beschäftigung entsprechend seiner Qualifikation zu erhalten.
5
In der kooperativen Spieltheorie spricht man häufig von Spielern. Diese Personen lassen sich jedoch auch als Bevölkerungsgruppen bzw. Gruppen von Arbeitnehmern in der Volkswirtschaft interpretieren. Zu den Grundlagen der kooperativen Spieltheorie vgl. Wiese (2005). Spieler 2 ist mit den Spielern 1 und 3 verbunden, während Spieler 1 und 3 jeweils nur mit dem Spieler 2 verbunden sind. Spieler 4 und 5 sind in dieser Konstellation mit keinem anderen Spieler verbunden. Formal lautet die Graphenbeschreibung: A={ 12,23}.
6
168
Maik Pradel
Abbildung 1: Einfache Qualifikationsstruktur
Quelle: Eigene Darstellung.
Der mögliche Gesamtoutput der Ökonomie sei beispielsweise über folgende Koalitionsfunktion v(S) gegeben, wobei die Zahlenwerte durchaus als Geldeinheiten verstanden werden können: 7 es existiert kein Graph zwischen den Personen einer Koalition ein Graph V(5)=
5,'
verbindet die Personen einer Koalition
zwei Graphen verbinden die Personen einer Koalition drei Graphen verbinden die Personen einer Koalition
Die Verteilung des Gesamtoutputs der Ökonomie unter den verschiedenen Personen soll unter Anwendung der Myerson-Lösung (vgl. Myerson 1977a; 1977b) erfolgen. Danach erhält jede Person den Durchschnitt ihrer marginalen Beiträge zu jeder möglichen Koalition unter Beachtung der Graphenstruktur. Zur Ermittlung des Myerson-Wertes fi{vK)i werden alle möglichen Reihenfolgen der Person i, in welcher sie einer Koalition beitreten kann, betrachtet. Die Differenz des Wertes der Koalition mit Person ί und
7
Eine Koalitionsfunktion gibt an, was die einzelnen Spieler bzw. die Spieler gemeinsam an Wert schaffen können, wenn sie sich in unterschiedlichen Koalitionen zusammenschließen. Betrachtet man ζ. B. eine atomare Koalition (jeder Spieler agiert alleine), so kann keiner der Spieler einen Wert schaffen. Betrachtet man die große Koalition (alle Spieler arbeiten zusammen), so kann die Spielervereinigung aufgrund der Graphenstmktur der Abbildung 1 den Wert 5 schaffen (Spieler 1, 2 und 3 sind über zwei Graphen verbunden; Spieler 4 und 5 tragen keinen Wert bei, da sie nicht über einen Graphen mit den anderen Spielern verbunden sind).
8
φ bezeichnet hierbei den Myerson-Wert; das Subskript i kennzeichnet den einzelnen Spieler; v/1 kennzeichnet die Ermittlung des Myerson-Wertes auf Basis der Koalitionsfunktion v(S) unter der Graphenstruktur A.
169
Korreferat zu Thomas Apolte und Heiko Peters
des Wertes der Koalition ohne Person i bildet den marginalen Beitrag von Person i zu der betrachteten Koalition.9 Daraus ergeben sich für die Personen folgende Myerson-Werte, welche als Lohnsätze interpretiert werden können: ρ , ( ν Λ ) = ρ 3 ( ν Λ ) = >ν, = % « 1 , 1 7 , P2(vA) = w „ = % * 2 , 6 7 , ?>4(vA) = p 5 ( v A ) =
Wu
=0.
Es ist ersichtlich, dass die hoch qualifizierte Person 2 eine höhere Entlohnung ( w h ) erhält als die gering qualifizierten Personen 1 und 3 ( w , ) bzw. die ungebildeten Personen 4 und 5 ( w u ) . Eine Veränderung der Qualifikation einzelner Personen lässt sich nun ζ. B. mittels Erweiterung der Graphenstruktur verdeutlichen. Die Ökonomie im Endzustand sei in Abbildung 2 beschrieben. Abbildung 2: Erweiterte Qualifikationsstruktur
1
4
Quelle: Eigene Darstellung.
9
Die Berechnung der Myerson-Lösung sei für die hoch qualifizierte Person 2 verdeutlicht: diese erscheint zu jeweils einem Fünftel aller Reihenfolgen an erster (a), zweiter (b), dritter (c), vierter (d) und letzter (e) Position; ihr marginaler Beitrag beträgt dann fur (a) stets 0; für (b) in '/2 der Fälle 3 (immer dann, wenn vor ihr bereits Person 1 oder 3 in der Koalition ist) und in '/2 der Fälle 0 (vor ihr ist bereits Person 4 oder 5 in der Koalition); für (c) in 1 der Fälle 5 (genau dann, wenn vor ihr Person 1 und 3 in der Koalition sind), in % der Fälle 3 (wenn entweder Person 1 oder Person 3 vor ihr in der Koalition ist) und in der Fälle 0 (vor ihr sind Person 4 und 5 in der Koalition); für (d) in '/2 der Fälle 5 (vor ihr sind die Personen 1 und 3 mit in der Koalition) und in '/2 der Fälle 3 (vor ihr ist nur Person 1 oder Person 3 mit in der Koalition); für (e) stets 5. Daraus ergibt sich der Myerson-Wen: φ2(νΛ)=1/5·0+1/5·(1/2 •3+ 1 / 2 ·0)+ 1 / 5 ·( 1 / 6 ·5+ 4 / 6 ·3+ , / 6 ·0)+ 1 /5·( 1 / 2 ·5+ , / 2 '3)+ 1 / 5 ·5= 8 / 3 .
170
Maik Pradel
In diesem Fall erhöht sich die Qualifikation der Person 2 und 4.10 Person 2 verfugt über die höchste Qualifikation, Person 1, 3 und 4 über die geringe Qualifikation und Person 5 über keine Qualifikation/Bildung. Aufgrund der höheren Qualifikationsstruktur ist die Ökonomie in der Lage, einen höheren Gesamtoutput zu erwirtschaften." Die Anwendung der Myerson-Lömng generiert folgende Auszahlungen (Lohnsätze): Ρ,(ν Λ ) = φ3(νΑ) = φ4(νΑ) = w, = % » 0,83 ,