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German Pages 339 Year 2000
SIEGFRIED R A U H U T
Soziale Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie
Duisburger Volkswirtschaftliche Schriften
Herausgeber: Prof. Dr. Manfred Tietzel (geschäftsführend) Prof. Dr. Dieter Cassel · Prof. Dr. Helmut Cox Prof. Dr. Günter Heiduk · Prof. Dr. Ullrich Heilemann Prof. Dr. Carsten Herrmann-Pillath · Prof. Dr. Dietmar Kath Prof. Dr. Werner Pascha · Prof. Dr. Hans-Joachim Paffenholz Prof. Dr. Josef Schira · Prof. Dr. Klaus Tiepelmann
Band 34
Soziale Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie Eine institutionenökonomische Analyse der politischen Realisierungsbedingungen der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft
Von
Siegfried Rauhut
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rauhut, Siegfried:
Soziale Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie : eine institutionenökonomische Analyse der politischen Realisierungsbedingungen der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft / von Siegfried Rauhut. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Duisburger volkswirtschaftliche Schriften ; Bd. 34) Zugl.: Duisburg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10103-0
Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0936-7020 ISBN 3-428-10103-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Geleitwort Seit der Geburtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 ist ein halbes Jahrhundert vergangen. In dieser Zeit wurde die aus dem liberalen Denken erwachsene Idee, wettbewerbliche Marktwirtschaft mit sozialem Ausgleich zu verbinden, weiterentwickelt und wirtschaftspolitisch umgesetzt. Zugleich hat die Soziale Marktwirtschaft jedoch als wirtschaftspolitisches Leitbild wie als realisierte Wirtschaftsordnung viel von ihrem einstigen Glanz verloren, steht doch Deutschland trotz aller früheren Erfolge sowohl wirtschaftspolitisch-konzeptionell als auch hinsichtlich seiner aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Probleme eher vor einem Scherbenhaufen als vor einem neuen Aufbruch. Angesichts dieses Befundes erschien es als besondere wissenschaftliche Herausforderung, den Ursachen für die Degeneration der Sozialen Marktwirtschaft als wirtschaftspolitische Konzeption und realisierte Wirtschaftsordnung nachzugehen und Möglichkeiten aufzuzeigen, erkannte Defekte zu beheben. Hiermit hat sich Siegfried Rauhut eine fur die Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland und Europa sehr bedeutsame und aktuelle Aufgabe gestellt. Es ist sein besonderes Verdienst, daß er nicht das vermutete und so häufig thematisierte „Konzeptionsversagen" in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt, sondern vielmehr die politischen Realisierungsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft in einer parlamentarischen Demokratie hinterfragt. Somit verläßt der Verfasser den ausgetretenen Pfad der traditionellen Ordnungsökonomik und wendet sich von der Vorstellung ab, es sei ausreichend, sich auf die „ordnungspolitischen Werte zurückzubesinnen", um die ökonomischen und sozialen Probleme unserer Zeit zu lösen. Statt dessen weist Siegfried Rauhut schlüssig nach, daß die Hauptursache für die allseits beklagten Fehlentwicklungen in einem „misfit" zwischen ökonomischem und politischem Subsystem liegt. Darauf aufbauend entwickelt er eigene modelltheoretisch gestützte Ansätze für eine „konzeptionskonforme" Staatsordnungspolitik. Dabei überträgt er wesentliche Gedanken der „Gründerväter" vom ökonomischen auf den politischen Bereich: Einerseits knüpft er mit seiner Forderung, das ,Äquivalenzprinzip" stärker im Politischen zu verankern, am Euckenschen Grundsatz der Haftung an; andererseits weist er auf die Vorteilhaftigkeit eines intensiveren politischen Wettbewerbs hin, um - ganz im Sinne
6
Geleitwort
Franz Böhms - die politischen Akteure zu entmachten und den Redistributionsaspekt im Politischen zurückzudrängen. Die Herausgeber der „Duisburger Volkswirtschaftlichen Schriften" haben die Arbeit von Siegfried Rauhut, die im Sommersemester 1999 vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg als Dissertation angenommen wurde, gerne in ihre Reihe aufgenommen. Indem in der Arbeit das ordoliberale Denken des deutschen Sprachraums mit der angelsächsischen Institutionenökonomik und Public-choice-Theorie verknüpft wird, gibt sie einen innovativen Impuls für die vielfach festgefahrene ordnungspolitische Diskussion der letzten Jahre und kann daher auf großes Interesse und breite Aufmerksamkeit stoßen.
Duisburg, im August 1999
Dieter Cassel
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1999 vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Gerhard-Mercator-Universität - GH Duisburg als Dissertation angenommen. Zum Gelingen dieses Werks haben eine ganze Reihe von Menschen beigetragen - sei es durch fachliche Anregungen, ständige Diskussionsbereitschaft, freundschaftlichen Zuspruch oder technische Hilfe. Allen Beteiligten gebührt an dieser Stelle mein herzlicher Dank. Hervorheben möchte ich zunächst meinen Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dieter Cassel, der mich nicht nur auf den „Pfad" der Ordnungstheorie gebracht, sondern auch dabei geholfen hat, daß ich nicht vom rechten Pfad abkam. Ebenso herzlich bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dr. Manfred Tietzel, der mir wiederholt wertvolle Anregungen gab und das Zweitgutachten in Rekordzeit erstellt hat. Mein Dank gilt ebenso Herrn Prof. Dr. Klaus Barth und Herrn Prof. Dr. Helmut Cox, die sich bereit erklärten, als Mitglieder der Prüfungskommission zu fungieren. Aus dem Kreis meiner Kollegen und Freunde möchte ich insbesondere Frau Dipl.-Vwt. Elsbeth Kuck, Herrn Dr. André Kuck, Herrn Dr. Christian Müller und Herrn Dr. Michael Terporten hervorheben, die mir als „Sparrings-Partner" mit zahlreichen Tips und unerschöpflicher Diskussionsbereitschaft stets zur Seite standen. Ganz besonderer Dank gebührt meinem alten Freund Gerd Detlef Born, der entscheidenden Anteil daran hat, daß die Arbeit auch für andere Leser als den Autor lesbar und verständlich wurde. Sowohl in fachlicher als auch in menschlicher Sicht habe ich wesentliche Unterstützung von den Mitarbeitern des Fachgebiets MikroÖkonomie erfahren, in dem ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig sein durfte. Die überaus familiäre, vertrauensvolle und freundschaftliche Atmosphäre und die großartige Unterstützung mit Rat und Tat von Frau Gisela Neugebauer, Marius Baader, Marcus Craul, Roman Gesatzki, Andreas Heger, Katharina Kötz, Heiko Wetteis und Kai Wille halfen mir über manch ein Tief hinweg. Mein ganz besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Joachim Paffenholz, meinem langjährigen Chef, der mir nicht nur äußerst großzügige Freiräume für die Anfertigung der Dissertation gewährte, sondern stets ein offenes Ohr für mich hatte. Schließlich gilt mein Dank meinen Eltern, Ruth und Karl-Dieter Rauhut, die mir nicht nur das Studium ermöglichten, sondern auch dazu beitrugen, daß manch orthographischer Mangel im Manuskript noch eliminiert werden konnte.
8
Vorwort
Widmen möchte ich diese Arbeit unserer Tochter Anne-Kathrin, die fünf Tage nach der Disputation das Licht der Welt erblickte, und meiner Frau Astrid, die die größten Kosten zu (er-)tragen hatte in Form von durchgearbeiteten Wochenenden, scheinbar nicht enden wollenden Korrekturarbeiten, quälenden Diskussionen und (seltener) schlechter Laune des Autors. Für ihre Geduld, ihre Hilfe und ihr Verständnis bin ich ihr fiir immer zu Dank verpflichtet.
Duisburg, im August 1999
Siegfried Rauhut
Inhaltsverzeichnis Α.
Einleitung: Die Realisierung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft als staatsordnungspolitische Aufgabe
B.
19
Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft: Freiheit, allokative Effizienz, distributive Gerechtigkeit und „starker Staat" I.
II.
27
Die ordnungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit Die Diagnose der Gründerväter
28
1.
Zur Sozialen Frage
29
2.
Zur Frage der Ordnung der Wirtschaft
30
3.
Fazit: Ein neuer Ansatz ist notwendig
35
Von der Wirtschaftsordnung zur Ordnung der Wirtschaft 1. 2.
36
Elemente und Grenzen einer allgemeinen Wettbewerbsordnungspolitik
38
Varianten der speziellen Wettbewerbspolitik
43
a) Ziele und Instrumente
43
b) Institutionelle Ausgestaltung des Monopolamts
47
III. Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung
48
1.
Von der Ordnungspolitik zur Speziellen Sozialpolitik
2.
Die neoliberale Interpretation: Wettbewerb als soziale Veranstaltung.... 53
3.
Ordoliberale Vorstellungen: Die Notwendigkeit einer Speziellen Sozialpolitik
55
Die sozialliberale Variante: Die Betonung der staatlichen Umverteilungsfunktion
58
Fazit
62
4. 5.
IV. Marktkonformität und Subsidiarität als Begrenzungskriterien fiir staatliches Handeln
48
63
1.
Das Konformitätsprinzip
63
2.
Das Subsidiaritätsprinzip
66
3.
Fazit
69
10
Inhaltsverzeichnis V.
Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats bei der Umsetzung der Konzeption
70
1.
Zur Interdependenz von Marktwirtschaft und Demokratie
70
2.
Die Diagnose: Schwacher Staat und Werteverfall
76
a)
Der Wandel des Staats in der Vergangenheit
77
b)
Die gesellschaftlichen Entwicklungen der Vergangenheit
78
3.
Die Therapie: Starker Staat und „Strukturpolitik"
81
a)
Ablehnung des Ständestaats
81
b)
Staat und Eliten
83
c)
Eliten und konstitutionelle Begrenzung des demokratischen Entscheidungsbereichs
88
d)
Zu den gesellschaftspolitischen Überlegungen der Gründerväter.... 91
VI. Fazit: Die Notwendigkeit einer polit-ökonomischen Analyse
C.
94
Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie - Ein Publicchoice-Modell institutioneller Veränderungen
100
I.
101
Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns - Ein Überblick 1.
Eine Systematik effizienzsteigernder und redistributiver staatlicher Maßnahmen
101
a)
Effizienzsteigernde politische Maßnahmen
103
aa) Öffentliche Güter
104
bb) Elemente sozialer Sicherung
105
cc) Freiwillige Umverteilung
107
dd) Berücksichtigung im polit-ökonomischen Modell
108
Redistributive politische Maßnahmen
109
aa) Das traditionelle Umverteilungsargument
109
bb) Umverteilungsmaßnahmen aufgrund von Rent-seeking
112
b)
2.
c) Fazit Eine Bestandsaufnahme polit-ökonomischer Erklärungen für staatliches Handeln
119
a)
Leviathan-Ansätze
124
b)
Nachfrageorientierte Ansätze
130
aa) Der Downs-Ansatz
130
120
Inhaltsverzeichnis
c) II.
bb) Das Meitzer-Richard-Modell
132
cc) Der Ansatz von Peltzman
133
dd) Das Log-rolling-Modell von Buchanan und Tullock
133
ee) Das „Director's Law" von Stigler
134
ff)
Das Regulierungsmodell von Stigler und Peltzman
135
gg) Der Becker-Ansatz des effizienten Gruppenwettbewerbs
136
Fazit
141
Wirtschaftspolitik zwischen Effizienzsteigerung und Umverteilung Ein erweiterter Ansatz
144
1.
Die Grundstruktur des Demokratiemodells
145
2.
Die Konsensdemokratie als sozial-marktwirtschaftliche „Benchmark"
149
a)
Das Modell und seine Ergebnisse
149
b)
Der Autokratiefall zum Vergleich
152
c)
Zwischenfazit
155
III. Die Downs-Variante der Umverteilungsdemokratie: Die Diktatur der Mehrheit 1.
156
Downs-Umverteilung und einheitlicher Steuersatz: Der ZweiGruppen-Fall
156
2.
Umverteilungsdemokratie und Einnahmendifferenzierung
162
3.
Zwischenfazit
165
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie 1.
Von der Redistributionsdemokratie zu einem Transaktionskostenansatz der Politik a)
b)
166 167
Diskretionäre Spielräume als Folge politischer Transaktionskosten
167
aa) Der politische Prozeß als Prinzipal-Agenten-Beziehung
169
bb) Transaktionskosten im politischen Bereich
170
cc) Politische Folgen der Transaktionskosten
172
Determinanten für den politischen Einfluß gesellschaftlicher Gruppen
173
aa) Wahlmacht
174
bb) Fähigkeit zur Einflußnahme auf andere Wähler
178
cc) Beeinflussung und Kontrolle der Entscheidungsträger
180
12
Inhaltsverzeichnis c) 2.
3.
V.
D.
Zusammenfassung
182
Das modifizierte Grundmodell unter dem Einfluß von Transaktionskosten
184
a)
Die optimistische Version
188
b)
Die pessimistische Version
192
Wachsende Anzahl gesellschaftlicher Gebilde und die Erosion des Konsenses
197
a)
Zur Auflösung des Encompassing Interest
198
b)
Modelltechnische Involvierung
199
Zusammenfassung der Ergebnisse
203
Ansätze einer staatspolitischen Ergänzung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft
205
I.
Verstärkte „konstitutionelle" Begrenzung der Staatstätigkeit
209
1.
Ergebnisorientierte Begrenzungen
211
a)
Institutionelle Ausgestaltungsmöglichkeiten
211
b)
Erhoffte Wirkungen und kritische Würdigung
213
c)
Fazit
215
2.
3.
Verfahrensorientierte Beschränkungen
216
a)
Vorschläge zur Erhöhung der personellen Äquivalenz
217
b)
Ein Vorschlag zur Erhöhung der sachlichen Äquivalenz
219
c)
Vorschläge zur Erhöhung der zeitlichen Äquivalenz
220
d)
Kritische Beurteilung der Vorschläge
221
e)
Fazit
223
Organisatorischer Reformen
225
a)
225
Horizontale Trennung staatlicher Aufgaben aa) Der Von-Hayek-Vorschlag zu einem Zwei-KammerSystem - Darstellung und Kritik
4.
225
bb) Separation der Aufgaben nach der Breite
231
cc) Fazit
234
b) Vertikale Trennung staatlicher Aufgaben 234 Fazit: „Konstitutionelle" Beschränkungen sind notwendig, aber nicht hinreichend 239
Inhaltsverzeichnis II.
Schaffung von institutionellem Wettbewerb
242
1.
Erhoffte Wirkungen des institutionellen Wettbewerbs
242
2.
Zur politischen Wirkungsweise des institutionellen Wettbewerbs
245
3.
Zur Funktionsfähigkeit des institutionellen Wettbewerbs
246
4.
Elemente eines Ordnungsrahmens für den institutionellen Wettbewerb
248
Fazit
253
5.
III. Intensivierung des internen politischen Wettbewerbs 1. 2.
Mehr politischer Wettbewerb durch Outsider-Konkurrenz: Die Stärkung der personellen Komponente
255
Intensivierung des Wettbewerbs in sachlicher Hinsicht: Direkt-demokratische Begrenzung staatlicher Macht
262
a)
Ausgestaltungsformen direkt-demokratischer Verfahren
263
b)
Die „Plebisphobie" der Bundesrepublik Deutschland als „Lehre von Weimar"?
266
c)
Internationale Erfahrungen
269
d)
Argumente für und gegen direkt-demokratische Elemente
271
aa) Zur Qualität der politischen Ergebnisse
272
bb) Gesellschaftliche Auswirkungen
276
cc) Das Informationsproblem
278
dd) Zur Rolle von Interessengruppen
280
ee) Fazit Zur konkreten Ausgestaltung direkt-demokratischer Ergänzungen
283
e)
IV. Über die Zusammengehörigkeit der Reformen und deren Grenzen
E.
254
283 285
Fazit: Mehr Soziale Marktwirtschaft durch mehr Äquivalenz und mehr Wettbewerb im politischen Bereich
289
Mathematischer Anhang
293
Literaturverzeichnis
310
Tabellenverzeichnis Tabelle 3.1:
Systematik polit-ökonomischer Modelle zur Umverteilung und Bereitstellung effizienzsteigernder Institutionen
143
Tabelle 3.2:
Stimmenverlust-Szenarien
195
Tabelle 4.1 :
Determinanten des politischen Erfolgs und Elemente einer sozialmarktwirtschaftlichen Staatsordnungspolitik
209
Tabelle 4.2:
Abstimmungsverhalten im Bundesrat
236
Tabelle 4.3:
„Lobbyisten" und Bürokraten im 13. Bundestag (1994-1998)
257
Tabelle 4.4:
Ausgestaltungsformen direkt-demokratischer Verfahren
266
Tabelle 4.5: Tabelle 4.6:
Direkte Demokratie - pro und contra Staatsordnungspolitische Ergänzungen der Sozialen Marktwirtschaft
271 286
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1.1:
Eine Systematik der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft
22
Abbildung 2.1 :
Eine schematische Darstellung der ordoliberalen Wettbewerbspolitik
38
Abbildung 2.2:
Sozialpolitik innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft
53
Abbildung 3.1:
Eine Systematik politischer Maßnahmen
Abbildung 3.2:
103
Das Grundmodell des Rent-seeking: Harberger-Dreieck und Tullock-Viereck
115
Abbildung 3.3:
Ebenen staatlicher Institutionensetzung
122
Abbildung 3.4:
Wohlmeinender oder Leviathan-Staat
127
Abbildung 3.5:
Auslastungsgrad, Abgabensatz und Steueraufkommen
148
Abbildung 3.6:
Wahloptimum in der Konsensdemokratie
152
Abbildung 3.7:
Autokratie versus Konsensdemokratie
154
Abbildung 3.8:
Abgaben, Auslastungsgrad und Umverteilungsdemokratie
160
Abbildung 3.9:
Wahloptimum in der Umverteilungsdemokratie
161
Abbildung 3.10:
Gruppendichte und Dichteparameter d ;
177
Abbildung 3.11:
Bestimmungsfaktoren für den unterschiedlichen Einfluß von Gruppen
183
Abbildung 4.1:
Varianten ergebnisorientierter Begrenzungen
211
Abbildung 4.2:
Eine Systematik verfahrensorientierter Reformen
217
Abbildung 4.3:
Das Verfassungsmodell nach von Hayek
229
Abkürzungs- und Symbolverzeichnis λ
Lagrange-Multiplikator
E
Erwartungswert für den Gewinn der Rente
κ
relative Bedeutung des Einkommens gegenüber ideologischen Positionen
ψ
Gesamtheit der politischen Institutionen
ω;
Ausmaß der Einflußnahme von Gruppe i auf das Wahlverhalten
Yi
Ausmaß der Einflußnahme von Gruppe i auf das Verhalten der Agendasetter
*
Optimallösung
A
Autokratie (Index)
Aj
Anteil der Gruppe i am Markteinkommen
aj
politisches Gewicht von Gruppe i
Β
Budgetrestriktion
bj
Bias eines Gruppenmitglieds gegenüber einer Partei
dj
Dichte der Verzerrungsfaktoren in einer Gruppe
E
Erwerbspersonenpotential
E'
Grenzerlöse
G
Volumen an effizienzsteigernden institutionellen Transaktionen bzw. der Beschäftigung im Sektor Staat
Γ
Nettoeinkommen
Κ
Konsens (Index)
k
Durchschnittskosten
K'
Grenzkosten
L
Lagrange-Funktion
L
Partei L (Index)
m
Elastizität der Gewinnwahrscheinlichkeit in bezug auf den Ressourceneinsatz („Produktivität im Umverteilungsspiel") bzw. Anzahl der gesellschaftlichen Gruppen
Abkürzungs- und Symbolverzeichnis n
i
Anzahl der Mitglieder von Gruppe i
Ν
Volumen der privat Beschäftigten
Ρ
Preis
Pi
Wahrscheinlichkeit der Rentenerlangung durch Gruppe i
PM
Monopolpreis
QM
Monopolmenge
qp
Polypolmenge
r
Auslastungsgrad des Produktionspotentials
R
Partei R (Index) oder Redistribution (Index)
Ri
Aufwand an Rent-seeking-Ressourcen
Si
Anteile der Gruppe i am Markt- und Umverteilungseinkommen
t
Proportionaler Steuersatz
ti
Proportionaler Steuersatz auf das Einkommen von Gruppe i
Tr
Rente, Transfervolumen
U
Nutzen
WV
(Weimarer) Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919
Y
Produktionspotential oder Sozialprodukt
Zi
Volumen der Umverteilung in Richtung Gruppe i
2 Rauhut
17
Α. Einleitung: Die Realisierung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft als staatsordnungspolitische Aufgabe In den 30er und 40er Jahren dieses Jahrhunderts entwarfen Ökonomen des deutschen Sprachraums die Konzeption einer neu zu gestaltenden Wirtschaftsordnung, die uns heute unter dem Terminus Soziale Marktwirtschaft bekannt ist. Sie sollte nach dem Schöpfer des Begriffs Müller-Armack „auf dem Boden der Marktwirtschaft ... die Ideale der Freiheit und die der sozialen Gerechtigkeit" 1 vereinigen. Seither hat sie jedoch nach innen wie nach außen viel von ihrer ehemals hohen Reputation eingebüßt. Im Ausland kursiert das Schlagwort von der „German desease", und im Inland sind immer weniger Menschen von der Richtigkeit dieser Konzeption überzeugt. Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach haben nur noch 40 v. H. der West- und lediglich 22 v. H. der Ostdeutschen eine gute Meinung über das gegenwärtige Wirtschaftssystem. 2 Dieser Vertrauensverlust der Bundesbürger überrascht angesichts der aktuellen Situation kaum: Sie sehen sich konfrontiert mit mehr als vier Millionen Arbeitslosen, einer Staatsverschuldung, die die ZweiBillionen-Grenze überschritten hat, mit geringer wirtschaftlicher Dynamik, einem Reformstau in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens und einem Sozialsystem, das an die Grenzen seiner Belastbarkeit gelangt zu sein scheint. Angesichts dieser Bedrängnisse hat ganz im Sinne der Interdependenzthese, der zufolge wirtschaftliches und politisches Subsystem voneinander abhängen, auch das Vertrauen in das politische System gelitten: Nach der schon zitierten Umfrage glauben nur noch 56 v. H. der West- und 30 v. H. der Ostdeutschen, daß die Demokratie in der Lage sei, die wirtschaftlichen Probleme der Bundesrepublik zu lösen (im Jahre 1992 lagen die Vergleichszahlen noch bei 75 bzw. 52 v. H.). Somit ging der fünfzigste Geburtstag der Sozialen Marktwirtschaft als eher trauriges Ereignis in die Geschichte ein, und um so dringender stellt sich die Frage nach den Ursachen flir diese Entwicklung.
1
Vgl. Müller-Armack (1974a), S. 89. Müller-Armack verwendet den Ausdruck Soziale Marktwirtschaft als Überschrift des zweiten Kapitels seines programmatischen Werks Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft (1966a), S. 78. Erstmals findet sich der Begriff in dieser Schrift auf S. 20 in der Einleitung. 2
Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.07.1997, S. 5.
20
Α. Einleitung
Der Aufbau der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft i m NachkriegsDeutschland begann m i t Erhard, der i m Sommer 1948 als Wirtschaftskommissar der Trizone in Frankfurt am M a i n m i t den von i h m eingeleiteten Reformschritten das ordnungspolitische Fundament für die neue Republik legte. 3 Daß sich daraus ein „Wohlstand für A l l e " (Erhard) entwickelte, war jedoch kein Wirtschafts wunder, sondern das Ergebnis der Umsetzung einer Konzeption, die nach festen Prinzipien der privaten Initiative die Möglichkeit einräumte, sich frei und geordnet zu entfalten. 4 Die Prinzipien, die dabei zur Anwendung kamen, basierten auf Lehren und Erfahrungen der Zwischenkriegs- und Kriegszeit. So sollte die Soziale Marktwirtschaft als „ M i t t e l " 5 bzw. „irenische Formel" 6 die Grundwerte Freiheit und sozialen Ausgleich 7 sichern und damit die bis dahin oft thematisierte „soziale Frage" beantworten. M i t dem Aspekt der Freiheit i m Rahmen einer Wettbewerbsordnung befassen sich primär Ökonomen und Juristen der Freiburger Schule". Interpretiert man -
3
In diesen Zeitraum fallen die Währungsreform, die Preisfreigaben für die meisten Güter sowie die Aufhebung von zahlreichen Bewirtschaftungsvorschriften. Der Übergang zur Marktwirtschaft war aber kein „big bang", da beispielsweise wichtige Bereiche - Grundnahrungsmittel, Agrarprodukte und viele Rohstoffe - weiterhin der staatlichen Kontrolle unterlagen; vgl. Möller (1976), S. 441 ff. Einige Autoren vertreten die Ansicht, daß die Bedeutung der ordnungspolitischen Reformen allgemein überschätzt werde; sie erklären das starke Wachstum im Gefolge der Währungsreform (ansatzweise auch schon davor) als Ausdruck eines kriegsbedingten Nachholbedarfs und die Abschwächung der Wachstumsraten als Rückkehr auf den „normalen" Vorkriegs-Wachstumspfad. Diese Normalisierung sei ein Indiz für die Überschätzung der Ordnungspolitik; so bspw.: Abelshauser (1983), S. 91 ff. 4 Vgl. Erhard (1990), S. 157 f.; kritisch dazu: Abelshauser (1983); vgl. zu dieser Diskussion in jüngster Zeit: Giersch et al. (1992), S. X I I ff.; Dornbusch (1993), S. 884; Dürr (1996), S. 391 ff.; Klump (1996), S. 398 ff.; Lindlar (1997). 5
Den instrumentalen Charakter der Sozialen Marktwirtschaft betont vor allem Müller-Armack: „... die Marktwirtschaft darf primär nur als instrumentales Mittel gelten. ... Die Soziale Marktwirtschaft kann und soll keine Weltanschauung im Sinne des Altliberalismus oder des Sozialismus sein"; Müller-Armack (1966b), S. 238. 6
Vgl. Müller-Armack (1981a), S. 564 ff.: „Das sittliche Wollen des Sozialismus, der Ordogedanke des Katholizismus, die Beseelung der Berufsidee und die brüderliche Hilfsbereitschaft des Protestantismus können im Verein mit der Einsicht in neue Organisationsprinzipien im neuen Liberalismus viel bewirken"; ebenda, S. 575. 7 „Sinn der sozialen Marktwirtschaft ist es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden"; Müller-Armack (1956), S. 390; siehe auch: Blum (1980), S. 153 ff. 8
Ihre Hauptvertreter sind: Walter Eucken, Franz Böhm, Hans Großmann-Dörth, Karl Paul Hensel, Friedrich Lutz, Karl F. Maier, Leonhard Miksch.
Α. Einleitung in ihrem Sinne - Freiheit ökonomisch, so umfaßt sie nach B ö h m die beiden Aspekte Konsumptions- und Gewerbefreiheit. Erstere sorgt dafür, daß das Gewünschte hergestellt und verteilt wird, letztere befähigt jene, die i m Wirtschaftsprozeß tätig sind, dieses auf wirtschaftliche Weise zu leisten. 9 Die ökonomische Freiheit soll allerdings über eine adäquate Ordnung des Wettbewerbs institutionell abgesichert und eingegrenzt werden. Davon erhofft man sich eine effiziente Lenkung des Wirtschaftsprozesses (vgl. Abbildung 1.1). 10
9
Gegen den Grundsatz der Konsumfreiheit wendet Böhm zwei Argumente ein, die er kultur-(erziehungs-) und wirtschafts-(sozial-)politisch begründet. Bei Konsumfreiheit akzeptiere man, daß der individuelle tatsächliche Bedarf auch der gewünschte ist; bei lebensnotwendigen bzw. öffentlichen Gütern sei diese Stellung unproblematisch. Anders verhalte es sich in dem Falle des zusätzlichen individuellen Bedarfs: „Gesundheitsschädlicher, kulturwidriger, die Sittlichkeit gefährdender, ja auch bloß gedankenloser und nervöser Bedarf verdient vom Standpunkt der Gemeinschaft [sie!] nicht Förderung, sondern Bekämpfung"; Böhm (1937), S. 111. Hinzu komme auch der wirtschaftliche Aspekt, nach dem der Konsum in „unsinnige" Bahnen gelenkt werde und damit nicht mehr zum Sparen zur Verfügung stehe. Somit erwachse dem Staat sowohl aus erzieherischen als auch aus wirtschaftlichen - im modernen Sprachgebrauch (de-) meritorischen - Gründen die neue Aufgabe, die Verwendungen der Einkommen zu steuern. Als Mittel der Konsumlenkungen stünden hier neben Zwangsmaßnahmen auf der Nachfrager- (Sparzwang, Besteuerung) oder Anbieterseite (Produktionsverbote, geböte) auch psychologische zur Verfügung. Darunter sind primär erzieherische Maßnahmen zu verstehen; vgl. Böhm (1937), S. 112 ff. Hier zeigt sich die enge Verknüpfung zur Sozial- bzw. Gesellschaftspolitik. Inwieweit diese Maßnahmen als „ordnungskonform" zu bezeichnen sind, sei dahingestellt. 10
Der Effizienzbegriff umfaßt dabei die statische Komponente der modern interpretierten Wohlfahrtseffizienz (Produktions-, Tausch-, Informations- und Transaktionskosteneffizienz) und die dynamische Koordinationseffizienz (Markträumungs-, Renditenormalisierungs-, Machterosions- sowie Produkt- und Verfahrensfortschrittsprozesse); vgl. dazu: Grossekettler (1997), S. 4Iff.
22
Α. Einleitung
Abbildung 1.1: Eine Systematik der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft
Neben dieser ökonomisch allokativen11 Komponente spielt fur die meisten „Gründerväter" die soziale Dimension (in einem weiteren Sinne) eine wichtige Rolle. Speziell die Gruppe des soziologischen Neoliberalismus (Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Alfred Müller-Armack) fordert eine Ergänzung der Wettbewerbsordnung um sozial- und gesellschaftspolitische Elemente.12 In ideeller Hinsicht sollen durch Struktur- (Röpke) oder Vitalpolitik (Rüstow) um es in die Sprache der Neuen Institutionenökonomik13 zu übersetzen - die informellen Institutionen eines meist alten, praesozialistischen Wertesystems in Richtung eines neuen, postsozialistischen verändert werden. Materiell kommt dabei vor allem dem sozial- und konjunkturpolitischen Gestaltungsauftrag Bedeutung zu, was eine gerechtere Verteilung des erwirtschafteten Produkts
11 „Ihrem Entwurf nach sollen alle Wirtschaftsordnungen einer steigenden Gütererzeugung dienen"; Müller-Armack (1966c), S. 201. 12
Vgl. dazu: Becker, Helmut P. (1965), S. 44 ff. Zum Unterschied zwischen „Sozial·" und „Gesellschafts-"Politik: siehe Kapitel B. 13
Vgl. dazu z.B.: Kiwit/Voigt (1995), S. 118 ff.; North (1986), S. 230 ff.; ders. (1987), S. 419 ff.; ders. (1991), S. 98 ff.; ders. (1993a), S. 36 ff.; Denzau/North (1994), S. 3 ff.; ansatzweise auch schon bei: Lachmann (1963), S. 66 ff.
Α. Einleitung
(„distributive Gerechtigkeit") einschließt. Gerade was diesen Aspekt betrifft, gehen die Ansichten der Gründerväter jedoch weit auseinander: Während die einen den sozialpolitischen Gestaltungsauftrag als eng begrenzt ansehen (von Hayek, Miksch) 14 , stellen andere (so vor allem Müller-Armack) ihn ins Zentrum ihrer Überlegungen. In dieser Vielfalt der Ansichten findet sich zunächst - zumindest ansatzweise - auch ein Großteil der gesellschaftlichen Strömungen und Vorstellungen in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft wieder: • Liberale Gruppierungen begrüßen vor allem den in ihr enthaltenen Schutz der Freiheit; • konservative Kreise sehen sich in ihrer Abwehr gegen Wertewandel und -verzehr bestätigt; • Kirchen und religiöse Vereinigungen schätzen die Betonung von christlichen Prinzipien und die Forderung nach einer gegen Säkularisierung gerichteten Politik positiv ein; • soziale Gruppierungen (Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände) anerkennen das ihr immanente Umverteilungs- und Sicherungselement. Doch liegt in eben dieser Breite auch ein Problem ftir die Konzeption: Soll die Soziale Marktwirtschaft die Qualität eines Leitbilds besitzen, muß sie einen auf Dauer angelegten, konkret definierten Orientierungsrahmen für die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger darstellen. Dieser muß bestehen aus erstens einem Zielsystem, zweitens zielkonformen Ordnungsprinzipien zur Bestimmung individueller Entscheidungs- und Handlungsspielräume sowie drittens ziel- und ordnungskonformen Prinzipien und Methoden für das ökonomische Handeln des Staats.15 Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft beruht jedoch auf so vielen Ansätzen und läßt so weite interpretatorische Freiräume - sie ist weder in ihren Zielen, noch in der Reihung dieser Ziele, noch auf der Mittelebene in den
14 Daß von Hayek hier zu den Vertretern einer Sozialen Marktwirtschaft gezählt wird, mag überraschen, da er den Begriff als solchen ebenso wie die des „sozialen Rechtsstaats", der „sozialen Demokratie" oder der „sozialen Gerechtigkeit" ablehnt; vgl. von Hayek (1981a), S. 112 ff.; ders. (1957), S. 72 ff.; ders. (1988), S. 116 ff. Gleichzeitig haben seine Ideen jedoch befruchtend auf die Konzeption gewirkt, und er gesteht immerhin dem Begriff der Sozialen Marktwirtschaft zu, daß „es einigen meiner Freunde in Deutschland ... offenbar mit seiner Hilfe gelungen ist, die Art der Gesellschaftsordnung, für die ich auch eintrete, weiteren Kreisen schmackhaft zu machen"; ebenda, S. 230, Anm. 26. 15
Vgl. Cassel (1984), S. 11 f.
24
Α. Einleitung
anzuwendenden Politiken eindeutig formuliert -, daß sie in wesentlichen Teilen mehr oder weniger zu einer Leerformel degeneriert, an der sich die praktische Wirtschaftspolitik kaum ausrichten kann. Hinzu kommt, daß es den ihr genuinen Begrenzungskriterien Marktkonformität und Subsidiarität an normativer Kraft fehlt. Somit verbietet es sich eigentlich, von der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft zu sprechen. - Dennoch wird im folgenden weiterhin der Terminus Konzeption verwendet, weil zum einen ein besser geeigneter Ausdruck nicht auszumachen ist und zum anderen, weil es so leichter erscheint, die Idee(n) von der Realität abzugrenzen. Ungeachtet der beschriebenen Unschärfe des Begriffs empfiehlt die traditionelle Politikberatung oftmals, mittels einer Gap-Analyse Mißstände aufzudekken und diagnostizierte Abweichungen durch ein Zurück zu den Ursprüngen zu therapieren. Solche Versuche müssen sich jedoch den Vorwurf der Beliebigkeit gefallen lassen,16 und es überrascht nicht, daß entsprechende Ratschläge bei den politischen Entscheidungsträgern verhallen - wenn schon nicht ungehört, so doch ohne konkrete Reaktion oder mit dem Verweis auf das, was „politisch machbar" sei. Eben diese geringe wirtschaftspolitische Resonanz derartiger Bemühungen unterstreicht die Notwendigkeit, die Problematik grundsätzlicher anzugehen. Dies gilt um so mehr, als die geforderte Rückbesinnung auf das Leitbild die eigentlichen Ursachen für die Fehlentwicklungen verkennt. Generell ist das zentrale Element des sozial-marktwirtschaftlichen Forschungsprogramms die staatlich gesicherte Wirtschafts- und Sozialordnung. Hier weisen die Ordoliberalen - anders als die Laissez-f air e-Liberalen - dem starken Staat einen großen Verantwortungsbereich zu, indem er fur den notwendigen institutionellen Rahmen Sorge zu tragen hat. Er soll nicht als Akteur im Wirtschaftsprozeß agieren, sondern als Schiedsrichter über das Geschehen wachen und für „vernünftige" Regeln sorgen. Dabei soll er autonom und unabhängig von ökonomischen Machtfaktoren agieren. Insofern wird der Staat zwar in seiner wirtschaftspolitischen Bedeutung erkannt; wie er jedoch beschaffen sein müßte, um zur Sozialen Marktwirtschaft kompatibel zu sein, wird prima facie kaum dargelegt. Nachfolgende Interpretationen beschränken sich denn zumeist auch darauf, auf die Interdependenz von politischem und ökonomischem Subsystem zu verweisen und die Verbindung von Marktwirtschaft und Demokratie zu betonen.
16 Hinzu kommt, daß eine Reihe von inhaltlichen Vorstellungen (z. B. die zugrundegelegten Wettbewerbs- und geldpolitischen Konzepte) als veraltet anzusehen sind; vgl. dazu mit weiteren Literaturangaben: Haselbach (1991), S. 17.
Α. Einleitung
Bei intensiverem Literaturstudium wird aber ersichtlich, daß schon die Gründerväter zu diesem Aspekt ein differenzierteres Bild entwickelt haben. Sie halten - um ein Ergebnis der Analyse vorwegzunehmen - die Demokratie nur dann für eine geeignete Staatsform zur Einrichtung und Wahrung der Sozialen Marktwirtschaft, wenn in ihr ein dahingehender gesellschaftlicher Wertekonsens existiert oder aber sie ausreichenden Schutz durch externe verfassungsrechtliche Regeln gewährleistet. 17 Die darauf abzielenden Gedanken der Sozialen Marktwirtschaftler werden in Kapitel B.V. ausführlich dargestellt, und es wird deutlich gemacht, welche weitreichenden Diskrepanzen auf staatspolitischem Gebiet zwischen ihren ordoliberalen Vorstellungen und der bundesrepublikanischen Realität bestehen: Den Gründervätern schwebten oligarchische Strukturen vor oder zumindest ein demokratischer Staat, der in seinen Aufgaben verfassungsmäßig stark beschränkt ist. Die tatsächlichen Gegebenheiten in der Bundesrepublik Deutschland mit weitgehend unbeschränkter repräsentativer Demokratie und Wertepluralismus weichen dagegen von diesen Vorstellungen signifikant ab. So findet sich in der Bundesrepublik mit der Betonung der ordnungs- und sozialpolitischen Verantwortung des Staats zwar eine Seite der Konzeption verwirklicht, bei der gesellschafts- und staatspolitischen Institutionalisierung hingegen zeigen sich deutliche Defizite. Daraus ergibt sich als Arbeitshypothese, daß institutionelle Versäumnisse ζ. B. auf den Gebieten der Wettbewerbs· oder Sozialordnung und die angesprochenen Fehlentwicklungen ihren Ursprung in einem misfit zwischen ökonomischem und politischem Bereich haben. Schon von daher erscheint es sinnvoll, in einem nächsten Schritt die staatspolitischen Aspekte der Konzeption einer näheren Analyse zu unterziehen und sich damit auseinanderzusetzen, wie die notwendigen Institutionen ftir ihre Verwirklichung geschaffen werden sollen. Die Arbeiten der Gründerväter führen insofern nicht weiter: Zwar erkennen und beschreiben sie, daß in der Demokratie Probleme in bezug auf die Wirtschaftsverfassung auftreten können, doch sie untersuchen nicht die dafür maßgeblichen politischen Ursachen. So warnen sie bspw. vor der „Entartung in eine Interessenhaufendemokratie", schenken aber den Prozessen, die zu einer solchen Entwicklung führen können, kaum Beachtung. Erst mit dem Instrumentarium, das die Public-choice-Forschung als ein Zweig der Neuen Institutionenökonomik in jüngerer Zeit entwickelt hat, erscheinen die maßgeblichen politischen Abläufe durchschaubarer. Mit seiner Hilfe wird in Kapitel C. der vorliegenden Arbeit ein polit-ökonomisches Modell entworfen, das den in der Bun17
Dabei zeigt sich, daß im Unterschied zu den sozialpolitischen Vorstellungen die staats- und gesellschaftspolitischen Ansichten einen hohen Grad an Homogenität aufweisen.
26
Α. Einleitung
desrepublik gegebenen repräsentativ-demokratischen Strukturen Rechnung trägt. Unter verschiedenen Prämissen wird untersucht, wie der Staat jene Aufgaben erfüllen kann, die die Gründerväter ihm zugedacht hatten und die er realiter auch wahrnimmt. Dazu wird in effizienzsteigernde und redistributionspolitische Maßnahmen unterschieden, wobei die erste Art auch bestimmte sozialpolitische Institutionen umfaßt. Aus polit-ökonomischen Gründen ist es jedoch wenig wahrscheinlich, daß der Staat vorwiegend effizienzsteigernde (sozial-marktwirtschaftliche) Maßnahmen ergreift. Vielmehr wird der Ordnungs- und damit implizit der Allokationsgedanke häufig zugunsten von verteilungspolitischen Überlegungen zurückgestellt und damit im politischen Bereich zu kurz kommen. Zudem ist politische Macht, d. h. die Fähigkeit, seine Interessen im politischen Bereich einzubringen, in aller Regel ungleich verteilt. Redistributive Maßnahmen werden daher nicht unbedingt so beschaffen sein, wie es konzeptionell eigentlich gewünscht wäre. So zeigt sich, daß die Organisationsform der unbeschränkten repräsentativen Demokratie kaum in der Lage ist, einen starken Staat im Sinne der Konzeption zu gewährleisten. Aus dieser Diagnose werden abschließend Therapievorschläge abgeleitet. Dabei wird die häufig vertretene Forderung nach einer „Rückbesinnung auf die ordnungspolitischen Werte" als Nirwana-approach verworfen. Statt dessen werden Optionen aufgezeigt, die auf eine Reform der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft selbst abzielen. Aufbauend auf den Ergebnissen des polit-ökonomischen Modells und den Erkenntnissen der Neuen Institutionenökonomik betreffen die hier vertretenen Vorschläge die Institutionen des politischen Bereichs. Es geht also um die Möglichkeit, mittels einer Staatsordnungspolitik die Chancen der Realisierung einer „echten" Sozialen Marktwirtschaft zu erhöhen. Als wichtigste Ansätze zur Lösung der in Kapitel C. skizzierten Probleme werden eine verstärkte Berücksichtigung des Äquivalenzprinzips sowie der verstärkte Wettbewerb im politischen Bereich angesehen. Insofern besteht eine weitgehende Analogie zu den ordnungspolitischen, nicht aber zu den staatspolitischen Ideen der Gründerväter.
„Obwohl Demokratie selbst nicht Freiheit ist
ist sie
eine der wichtigsten Sicherungen der Freiheit." 1
B. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft: Freiheit, allokative Effizienz, distributive Gerechtigkeit und „starker Staat" Die Soziale Marktwirtschaft ist kein geschlossenes Gedankengebäude.2 Schon Müller-Armack hat diesen von ihm geschaffenen Begriff weder methodisch noch inhaltlich einheitlich interpretiert. Auch nachfolgende Interpreten sind sich in der Terminologie nicht einig: So unterscheidet Giersch zwischen Neoliberalismus, dessen stringenteste Ausprägung der Ordoliberalismus sei, und der Sozialen Marktwirtschaft als einem Leitbild, das vom Neoliberalismus inspiriert sei.3 Lampert dagegen grenzt den „Neoliberalismus" gegen den „Paläoliberalismus" (Rüstow) des Laissez-faire ab,4 während Dürr zwischen ordo- und neoliberal differenziert und darauf hinweist, daß selbst die Gründerväter den Begriff des Neoliberalismus als tendenziös und nicht treffend ablehnten.5 Derartige klassifikatorische Überlegungen sind jedoch für die Zielsetzung der Arbeit nicht wesentlich: Im folgenden geht es vielmehr darum, jenen „dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus" (Rüstow) aufzuzeigen, der sich dadurch auszeichnet, daß • die (neue) soziale Frage gelöst werden soll; • die Notwendigkeit einer Wirtschaftsordnungspolitik
betont wird;
• die Wettbewerbsordnung sozialpolitisch flankiert werden muß;
1
Von Hayek (1981b), S. 20.
2
Im folgenden geht es ausschließlich um die Konzeption, nicht um deren Realisierung; vgl. zu dieser Unterscheidung z.B.: Streit (1998), S. 180 ff.; Hamel (1994), S. 110 ff.; Hasse (1996), S. 90 ff.; Lenel{\91\\S. 29 ff. Umfassende Darstellungen der Konzeption bieten: Dürr (1954); Behlke (1961); Mötteli (1961); Becker, Helmut P. (1965); Blum (1969). 3
Vgl. Giersch (1961), S. 181 ff.; siehe auch: Haselbach (1991), S. 13 f.; ähnlich bei Erhard (1967), S. 24 f., der das Verhältnis von Ordoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft mit dem zwischen Theorie und Praxis vergleicht. 4 5
Vgl. Lampert (1990), S. 32 ff.
So etwa bei: Eucken (1990), S. 374; Röpke (1979a), S. 141 ff.; Miksch (1950), S. 66. Vgl. zu der Aussage selbst: Dürr (1954), S. 5.
28
Β. Soziale Marktwirtschaft
• schließlich dem starken Staat die wesentliche Rolle bei der Umsetzung zugemessen wird. Die Vielzahl der ordo-, neo- und sozialliberalen Strömungen, die diese Gemeinsamkeiten aufweisen, werden im folgenden unter dem Begriff Soziale Marktwirtschaft subsumiert und dargestellt. 6 Dazu wird zunächst die Kritik der Gründerväter an den wirtschaftstheoretischen und konzeptionellen Vorstellungen der Vergangenheit erläutert (Kapitel B.I.) und skizziert, wie die Sozialen Marktwirtschaftler darauf aufbauend eine Therapie in Form einer aktiven Ordnung der Wirtschaft entwickelten (Kapitel B.II.). Ein erster Schwerpunkt liegt dann darauf, ihre unterschiedlichen sozialpolitischen Vorstellungen zu illustrieren (Kapitel B.III.). Zugleich wird festgestellt, daß und warum es den traditionellen Leitbild-Ansätzen an normativer Kraft mangelt. Die sich schon daraus ergebende skeptische Grundhaltung des Verfassers wird unterstützt durch die Ausfuhrungen zu den Begrenzungskriterien staatlichen Handelns, dem Konformitäts- und Subsidiaritätsprinzip (Kapitel B.IV.). Zudem wird innerhalb dieser Abschnitte die Bedeutung des Staats bei der Umsetzung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft veranschaulicht. Als zweiter Schwerpunkt wird der Staat in seiner Rolle als „ordnende Potenz" (Eucken) genauer analysiert und auf seine institutionelle Ausgestaltung hin untersucht (Kapitel B.V.). Dabei zeigt sich, daß die staatspolitischen Anschauungen der Gründerväter in wesentlichen Punkten von der Realität der Bundesrepublik Deutschland abweichen. Insbesondere wird nachgewiesen, daß die von den meisten Protagonisten als wesentlich betonte gesellschaftspolitische Seite in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend vernachlässigt wurde. Diese Erkenntnis wiederum bildet die Basis für die weitere Argumentation.
I. Die ordnungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit Die Diagnose der Gründerväter Thematisch wie zeitlich steht am Anfang des ordoliberalen Forschungsprogramms die Diagnose der ökonomischen Fehlentwicklungen des ausgehenden
6
Dieses Vorgehen läßt sich auch damit begründen, daß Müller-Armack selbst die Vertreter ordo- und neoliberaler Gedanken als geistige Väter seiner Ideen bezeichnet und sie in seinen Werken zitiert; vgl. Müller-Armack (1956), S. 390; ders. (1948), S. 132. Gleichzeitig verwenden zahlreiche der anderen angeführten Ökonomen ungeachtet ihres unterschiedlichen Verständnisses den Terminus Soziale Marktwirtschaft und begrüßen ihn. Anders allerdings von Hayek; vgl. oben Kapitel Α., Fußnote 14; siehe auch: Becker, Helmut P. (1965), S. 47; Watrin (1994), S. 13, Fußnote 7.
I. Die ordnungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit
29
19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. 7 Bei dieser von den Gründervätern vollzogenen „Deutung unserer gesellschaftlichen Lage" (Müller-Armack) geht es vor allem darum, ob und inwiefern die etablierten wirtschaftspolitischen Programme in der Lage gewesen sind, die soziale Frage zu lösen. 1. Zur Sozialen Frage Die soziale Frage wird von den Gründervätern unterschiedlich interpretiert: • Für Eucken hat sie sich mehrfach gewandelt: A m Anfang steht fiir ihn die Arbeiterfrage, die sich in der Notlage der arbeitenden Bevölkerung und der Ungerechtigkeit der Verteilung im Liberalismus äußere.8 Sie verändere sich in der Zeit der „Wirtschaftspolitik der Mittelwege" in ein Problem der privaten Vermachtung, wobei die Unsicherheit der Arbeiter in Reaktion auf die Massenarbeitslosigkeit verschärfend hinzukomme,9 so daß die soziale Frage auch eine der Vermassung werde. 10 Die Vermassung wiederum erreiche in der Wirtschaftsordnung der zentralen Verwaltung ihren Höhepunkt, denn diese führe zu noch mehr Abhängigkeiten und zum Verlust an Freiheitsrechten. So gelangt Eucken zu dem Schluß, daß „die soziale Frage ... in ihrem Kern die Frage nach der Freiheit des Menschen"11 sei. • Auch Böhm stellt die Ordnungsformen der Vergangenheit in den Mittelpunkt seiner Analyse. Für ihn ist es jedoch in erster Linie der Fortschritt der Technik, der die soziale Frage aufgeworfen hat, denn der habe „schwere Erschütterungen, Verwerfungen und Erscheinungen der Massennot"12 mit sich gebracht. Sinnverwandt, aber noch pointierter formuliert Miksch: „Nicht die Wirtschaftsverfassung, sondern die Technik hat alle die schwerwiegenden Probleme geschaffen, die in der sozialen Frage enthalten sind."13
7 Als die beiden ersten zentralen Dokumente des Ordoliberalismus können der Aufsatz von Eucken im Weltwirtschaftlichen Archiv „Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus" {Euchen (1932)) sowie ein Wortbeitrag von Rüstow auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik 1932 (Rüstow (1932a)) gelten. Auf diese beiden „Gründungsmanifeste" wird noch ausführlich im Zusammenhang mit dem Staatsverständnis eingegangen. 8
Vgl. Eucken (1951), S. 31 ff.; ders. (1990), S. 43 ff.
9
Vgl. Eucken (1948a), S. 115 ff.; ders. (1951), S. 40; ders. (1990), S. 55 f f , 140 ff.
10
Vgl. Eucken (1990), S. 16 ff. Zum Begriff der „Vermassung": siehe Kapitel B.V.
11
Eucken (1990), S. 193; vgl. ders. (1948a), S. 120 ff.; ders. (1949), S. 10 ff. Siehe auch: Willgerodt (1998), S. 66 f. 12
Böhm (1960a), S. 146 f.; siehe auch: ders. (1954a), S. 71 ff.
13
Miksch (1949), S. 317 ff.
30
Β. Soziale Marktwirtschaft
• Andere Autoren - insbesondere Röpke, Rüstow und Müller-Armack - knüpfen an denselben Symptomen an: Vermassung und Unfreiheit. 14 Doch stellen sie weniger auf ökonomische Entwicklungen ab, sondern vielmehr auf kulturelle, religiöse oder soziale Phänomene. Für sie rührt die soziale Frage letztlich aus einer Werte- und Kulturkrise her. Wenngleich die Gründerväter das Auftreten der sozialen Frage auf unterschiedliche Ursachen zurückfuhren, stimmen sie doch darin überein, sie letztlich als eine Frage der individuellen Freiheit zu sehen, ungeachtet ob sie nun deren formalen oder den materiellen Aspekt hervorheben. Diese Freiheit kann nun nur durch eine „vernünftige" Ordnung der Wirtschaft gewährleistet werden. Sie lehnen es ab, die menschliche, ökonomische und soziale Entwicklung auf ein wie immer geartetes Geschichtsgesetz zurückzuführen 15 und sehen statt dessen die Möglichkeit der aktiven Gestaltung einer Wirtschaftsordnung . 2. Zur Frage der Ordnung der Wirtschaft Damit ergibt sich das Problem, wie eine Ordnung beschaffen sein müßte, die die soziale Frage beantworten könnte. Zunächst müßte sie das Lenkungsproblem lösen16 und die Vorteile der Arbeitsteilung nutzen und damit für hinreichende Allokationseffizienz sorgen. Eucken betrachtet hierfür zwei Arten der Planung als grundsätzlich denkbar, die er mittels der pointiert hervorhebenden Abstraktion als Idealtypen von Wirtschaftssystemen ermittelt: 17 die zentralgeleitete Wirtschaft und die Marktwirtschaft. 18
14
Vgl. etwa: Rüstow (1950a), S. 109 ff.; Müller-Armack (1979b), S. 23 ff.
(1950), S. 257; Röpke ,
15
Dies gilt sowohl für Ansätze im Schlepptau der zu jener Zeit herrschenden Historischen Schule als auch für die Vorstellungen der St. Simonisten oder von Marx ; siehe etwa: Marx (1986), S. 789 ff. Zur Sicht der Gründerväter: vgl. Eucken (1965), S. 15 ff., 25, 39; ders. (1990), S. 200 ff.; Böhm (1980a), S. 172 ff.; siehe auch: Röpke (1962), S. 107. 16
Vgl. Eucken (1990), S. 2 ff. Dabei ist das Lenkungsproblem ein Teil der sozialen Frage; ebenda, S. 13. 17
Die terminologische Abgrenzung von „Wirtschaftssystem" und „Wirtschaftsordnung" ist in der Literatur nicht einheitlich. So versteht ζ. B. Thieme unter einer Wirtschaftsordnung „alle Regeln, Normen und Institutionen, die als meist längerfristig angelegte Rahmenbedingungen wirtschaftliche Entscheidungs- und Handlungsspielräume von Individuen und wirtschaftlichen Einheiten (Haushalte, Unternehmen) abgrenzen"; Thieme (1995), S. 10. Dagegen definiert er „Wirtschaftssystem" als das Be-
I. Die ordnungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit
31
Für den Begriff der zentralgeleiteten Wirtschaft unterscheidet Eucken zwischen der zentralen Leitung und der Eigenwirtschaft. Letztere zeichne sich dadurch aus, daß in ihr kein Tausch existiert; der Einsatz der Ressourcen, die Verteilung des Outputs und - im Extremfall - der Verbrauch werden zentral geleitet. Der Nachteil der Eigenwirtschaft bestehe darin, daß der Nutzen von Spezialisierung und Arbeitsteilung nicht in angemessener Form zur Geltung käme, weshalb sie als gangbare Alternative ausscheide.19 Dieser Nachteil ergäbe sich nach Eucken aber nicht unter einer zentralen Leitung, die alle Wirtschaftssubjekte der Gebietskörperschaft erfaßt. Hierbei seien Abstufungen denkbar, dergestalt daß • über Ressourceneinsatz, Produktion und Verteilung zwar zentral entschieden wird, jedoch durch freien Tausch Korrekturen möglich sind (zentralgeleitete Wirtschaft mit freiem Konsumgut tausch) oder • die Individuen zudem frei über ihren Konsum entscheiden können (zentralgeleitete Wirtschaft mit freier KonsumwaA/).20 Die Gründerväter jedoch lehnen beide dieser Ordnungsformen der Zentralplanung ab: Einerseits sprächen die Ineffizienzen auf der praktisch-politischen Ebene gegen sie.21 Noch schwerwiegender sei andererseits, daß auf theoretischphilosophischer Ebene innere gegen äußere Lenkung, Koordination gegen Subordination, Freiheit gegen Zwang getauscht würden und letztlich die soziale Frage als eine nach der Freiheit nicht beantwortet würde. Mit der Zentralverwaltungswirtschaft würden automatisch Grundrechte wie Vertragsfreiheit und Freizügigkeit ausgeschlossen und der Rechtsstaat sukzessive durch den Ver-
ziehungsgeflecht zwischen den wirtschaftlichen Entscheidungs- und Handlungseinheiten und unterscheidet Planungs- und Koordinations- bzw. Motivations- und Kontrollsystem; vgl. ebenda, S. 11. Eucken selbst versteht unter einem Wirtschaftssystem die beiden mittels der Methode der „pointiert hervorhebenden" Abstraktion ermittelten Idealtypen „Verkehrswirtschaft" und „Zentralgeleitete Wirtschaft", während er eine Wirtschaftsordnung als die „Gesamtheit der realisierten Formen, in denen der Wirtschaftsprozeß abläuft", definiert; vgl. Eucken (1965), S. 70, 51. 18
Eucken sieht - wie die meisten anderen Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft die Planungskompetenz als konstituierend für eine Ordnungsform an und unterscheidet zentrale und dezentrale Planung. 19 Vgl. Eucken (1965), S. 79 ff.; ders. (1948b), S. 56 ff.; ders. (1990), S. 20 ff.; Böhm (1950), S. X X I I ff. 20 21
Vgl. Eucken (1965), S. 82 ff.
Vgl. Miksch (1950), S. 30 ff.; Böhm (1950), S. X X X I I ff.; siehe auch: MüllerArmack (1966a), S. 73 ff.; ders. (1974a), S. 75 ff. sowie: von Mises (1920/21), S. 86 ff.
32
Β. Soziale Marktwirtschaft
waltungsstaat ersetzt. 22 Die zentrale Planung sei i m vertikalen Staatsaufbau ebenso inkompatibel mit föderalen
Strukturen wie i m horizontalen m i t der
Gewaltenteilung (Legislative, Judikative und Exekutive), da beide Arten der Trennung für diese Ordnungsformen nur hinderlich wären. 23 So bleibt in den Augen der Gründerväter als Ausweg nur eine marktwirtschaftliche, dezentral organisierte Ordnungsform. 2 4 Dabei geht es ihnen nicht u m eine beliebige Wirtschaftsordnung, sondern u m eine Ordnung schaft,
der Wirt-
d. h. ein sinnvolles Zusammenfügen der einzelnen Elemente. Diese
sollte sich an Vorstellungen der „ordre naturel" orientieren, die „... eben eine vom Menschen vorgefundene, nicht von ihm geschaffene Ordnung [ist], eine Ordnung, gekennzeichnet durch Freiheit des Planens unter der Herrschaft eines Gesetzes (also eine Ordnung, wie sie etwa durch die Privatrechtsordnung bei verwirklichter Privatautonomie repräsentiert wird), im Gegensatz zu einer durch Befehl und Gehorsam charakterisierten Ordnung, bei der von Menschen entworfene Gesamtpläne durch andere Menschen in Unterwerfung unter die Weisungsgewalt rechtlich übergeordneter Individuen, die ihr Recht zur Herrschaft entweder von Gott oder vom Volkswillen ableiten, ausgeführt werden." 25 A u c h die Altliberalen hatten geglaubt, m i t der Laissez-faire-Wirtschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts eine Ordnung „gesetzt" zu haben („ordre posit i f ) , die einer ordre naturel 2 6 entspräche. Sie war gekennzeichnet durch eine
22
Vgl. Eucken (1990), S. 122 ff.; Böhm (1980b), S. 56 ff.; Müller-Armack
(1974a),
S. 74. 23
Vgl. Eucken (1949), S. 13; ders. (1990), S. 181 f.
24
Die theoretisch dritte Möglichkeit der Kombination marktlicher und zentralplanerischer Elemente wird abgelehnt, denn in einem solchen Falle „... läßt sich mit einem hohen Grad von Gewißheit voraussagen, daß dieses Experiment verhältnismäßig schnell und gründlich zusammenbrechen wird. Entweder wird die zentrale Leitung gezwungen sein, die Freiheit der Märkte völlig zu beseitigen, oder aber die freien Märkte werden die Absichten der zentralen Lenkung zunichte machen"; Böhm (1950), S. X X V I f. Siehe auch: Müller-Armack (1950), S. 260; ders. (1966c), S. 201 ff.; Dürr (1954), S. 6 f. Zum Gedanken der Privatrechtsgesellschaft bei Böhm: vgl. Nörr (1995), S. 27 ff.; Grossekettler (1995), S. 7 f f Der Gedanke der Freiheit äußert sich konkret im Grundsatz des Privateigentums (Verwendungsfreiheit hinsichtlich usus, usus fructus, abusus und Veräußerung), in Vertragsfreiheit und freiem Marktzutritt sowie in dem Grundsatz der Haftung als Grenze der Freiheit; vgl. dazu: Tuchtfeldt (1995), S. 35. 25
Böhm (1950), S. X L VII (Hervorhebungen im Original); siehe auch: Dürr (1954),
S. 6 f. 26
Vgl. Eucken (1965), S. 52, 238. iyDie Ordnung wird gesucht, welche - anders als die gegebenen Ordnungen - der Vernunft oder der Natur des Menschen und der Dinge entspricht"; ebenda, S. 239 (Hervorhebung im Original). Riese (1972), S. 36, kritisiert diese Vorgehensweise, da „kausaler und finaler Aspekt ... wie eh und je zusammenfallen]".
I. Die ordnungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit Wirtschaftsverfassung 27 ,
i n der Eigentums-,
Patentrechte streng kodifiziert
Vertrags-,
33
Gesellschafts-
und
und staatlich gesichert sein sollten. 28
Man
erwartete, i n diesem „einfachen System der natürlichen Freiheit" 2 9 würde eine Koordination der Einzelpläne über den Preismechanismus des Markts erfolgen, und es würde sich eine „gute" Ordnung aus der Harmonie von Eigennutz und Gemeinwohl spontan herausbilden. 30 Für die „Paläoliberalen" schienen „[was] die Gesamtordnung der Dinge anbelangt, ... die Sicherungen der formalen politischen Verfassungen hinreichend zu sein, die Gesamtlebensordnung zu umspannen" 31 . Die Ordoliberalen hingegen glauben nicht an Möglichkeit und Bestand eines solchen harmonischen Wettbewerbs. Sie legen dar, daß Anbieter und Nachfrager sich der Konkurrenz entziehen und Einzel- oder Kollektivmonopole (Kartelle) etablieren würden. 3 2 Es komme zur Kumulierung privater Macht, so daß der Preis als Knappheitsmesser und Lenkungsmechanismus versage, da er die Signale nur verzerrt weitergebe. Statt nach Leistung werde der Wirtschaftsprozeß nach dem Prinzip der Macht gelenkt. A l s Ergebnis konstatiert MüllerArmack, daß Wettbewerb unter der Laissez-faire-Ökonomie der Vergangenheit erst gar nicht zustande gekommen sei, so daß ihr eigentlicher Schwachpunkt darin bestanden habe, daß sie „in ihrem ausschließlichen Interesse an Fragen einer formalen politischen Verfassung die konkreten Wirtschaftsverfassungen vernachlässigt [hat,] und es unterlassen [hat], die Wirtschaftsordnung zum Problem ausführlicher wirtschaftswissenschaftlicher Untersuchung und auch bewußter wirtschaftspolitischer Gestaltung zu machen"33.
27
Das ist „die Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines
Gemeinwesens"; Eucken (1965), S. 52. 28 Vgl. Eucken (1990), S. 26. Vor dem Hintergrund dieser Textstellen relativiert sich auch die im Anhang zu den posthum veröffentlichten „Grundsätzen" zu lesende Behauptung, die Politik des Laissez-faire hätte die Wirtschaftsordnung wachsen lassen wollen (S. 374). Sie deckt sich nicht eindeutig mit Euckens eigenen Aussagen. 29
Adam Smith zitiert nach: Eucken (1965), S. 52. Die Altliberalen wären demnach „von dem Glauben beherrscht, endlich die allein richtige, natürliche, göttliche Ordnung entdeckt zu haben und zu verwirklichen; die Ordnung nämlich, in welcher die Gesetze der vollständigen Konkurrenz die Produktion und die Verteilung beherrschen"; Eucken (1990), S. 27. 30
Vgl. Eucken (1990), S. 27, 351.
31
Müller-Armack
32
Vgl. Eucken (1990), S. 33 ff.
33
(1966a), S. 105.
Müller-Armack (1966a), S. 81; siehe auch: ebenda, S. 105: „Man hat mit Recht dem Liberalismus vorgeworfen, die Wettbewerbsordnung als Naturform gehalten zu haben, die keiner besonderen Pflege bedarf..." - Dabei drängt sich der Eindruck auf, die 3 Rauhut
34
Β. Soziale Marktwirtschaft
Die Kritik an der Laissez-faire-Ökonomie geht noch weiter: Es sei nicht nur zu erwarten, daß das Allokationsinstrument Markt Schaden nehme, auch die erhoffte Freiheit werde sich nicht einstellen. An die Stelle der unpersönlichen Begegnung von gleichberechtigten Parteien trete häufig das persönliche, unfreie Abhängigkeitsverhältnis, und der Wettbewerb könne seine Aufgabe als „Entmachtungsinstrument" 34 nicht erfüllen. Die Zuversicht, mit einer freien, ungelenkten Wirtschaft ergebe sich automatisch auch eine Wettbewerbswirtschaft, 35 ist für Rüstow nicht mehr als eine trügerische „Glücksduselei'4. Böhm sieht als Folge dieser irrigen Hoffnung „Machthamsterei" durch Monopole, Kartelle und sonstige Machtgruppen, die zu Freiheitsbeschränkungen mit den Mitteln des Privatrechts fuhren. Die elementaren „Baugedanken der Privatrechtsordnung" (Eigentum, Vertragsfreiheit, Spielregeln des Wettbewerbs) würden „denaturiert", und in immer stärkerem Maße bestimme das selbst geschaffene Recht der Wirtschaft 36 den Wirtschaftsprozeß. In der Hand der Kartelle und Monopole werde es dazu genutzt, „Instrumente des Machterwerbs , der Machtbehauptung und der Machtausübung , Instrumente der Unterwerfung , Gleichschaltung und der Subordination" 37 zu etablieren. Die Laissez-faire-Wirtschaft ist daher für die Sozialen Marktwirtschaftler gänzlich ungeeignet, die soziale Frage zu lösen. Ihr Kardinalfehler besteht für sie darin, die Marktwirtschaft als einen in sich selbst ruhenden und „automatisch abschnurrenden" (Röpke) Prozeß zu betrachten und zu mißachten, daß „sie verrotten und mit ihren Fäulnisstoffen alle anderen Bereiche der Gesellschaft vergiften [muß], wenn es neben diesem Sektor [gemeint ist der ökonomische; der Verf.] nicht noch andere gibt: den Sektor der Selbstversorgung, der Staatswirtschaft, der Planung, der Hingabe und der schlichten ungeschäftlichen Menschlichkeit" 38 .
Ablehnend stehen die Gründerväter aber auch dem Versuch gegenüber, dem Versagen des Wirtschaftsliberalismus mit einem Interventionenstaat zu begegnen, wie sie ihn in Zeiten der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches" realisiert sehen: Auch er vermöge nicht, Freiheit zu garantieren. Die Vorstel-
Gründerväter haben bei ihrer Analyse nicht ausreichend zwischen Theorie und Praxis des Paläoliberalismus differenziert. 34
Böhm (1951), S. 199.
35
Vgl. Miksch (1937), S. 8.
36
Dazu zählen bspw. die Lieferungs- und Zahlungsbedingungen und das Aktienrecht; vgl. u. a.: Böhm (1933); ders. (1954b), S. 37. Eine exemplarische Betrachtung der Genese des selbstgeschaffenen Rechts der Wirtschaft in verschiedenen Wirtschaftszweigen bietet: Grossmann-Doerth (1934), S. 61 ff. 37
Böhm (1954b), S. 38 (Hervorhebungen im Original); ähnlich bei: Müller-Armack (1966c), S. 209. 38
Beide Zitate entnommen aus: Röpke (1979c), S. 82 f.
I. Die ordnungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit
35
lung, Fehlentwicklungen mittels staatlicher Eingriffe korrigieren zu können, bewirke nur eine Spirale immer neuer Interventionen, die schließlich den marktlichen Allokationsmechanismus vollständig außer Kraft setze.39 Im Ergebnis entarte die Wirtschaft entweder in die „Wirtschaftspolitik der Experimente" 40, in ein unkoordiniertes Durch- und Nebeneinander von Interventionen, die Abhängigkeiten vergrößern, 41 oder die Ordnungsform transformiere in eine staatliche Zwangswirtschaft, in der alle Freiheiten abgeschafft sind.42 3. Fazit: Ein neuer Ansatz ist notwendig Zur Lösung der sozialen Frage halten die Gründerväter mithin keine Ordnungsform für geeignet, die durch zentrale Verwaltung, Laissez-faire oder Interventionismus geprägt ist. Vielmehr stellen sie diesen Konzepten ihren eigenen - wie Rüstow ihn bezeichnet - „dritten Weg" 43 gegenüber. Danach ist der Wirtschaftsablauf in gewisse Bahnen zu lenken, um Probleme zu vermeiden, die sich aus der Kumulation von Macht, aus subjektiver Willkür oder zentraler Lenkung ergeben können.44 Die Wettbewerbsordnung wird insofern als „Aufgabe" (Miksch) bzw. „rechtsschöpferische Leistung" (Böhm) verstanden, denn „die marktwirtschaftliche Organisationsform [vermag] ihre Überlegenheit nur zu entfalten ..., wenn ihr an geistigen Kräften eine feste äußere Ordnung gegeben wird" 45
39 Als Beispiel dafür mag das Reichsgerichtsurteil vom 04. Februar 1897 dienen, das Kartelle grundsätzlich zuließ; vgl. dazu vor allem: Böhm (1948), S. 197 ff.; Eucken (1990), S. 170 ff. In jüngster Zeit: Nörr (1994), S. 8 ff. Dieses Urteil stellt eine marktinkonforme Intervention dar, „erstens weil sie punktuell ist, d. h. weil bei ihrer Anwendung die Interdependenz alles wirtschaftlichen Geschehens außer Betracht gesetzt wird. ... Und zweitens, weil sie in die Ordnung der Verkehrswirtschaft ... ein Element der Willkür einfügt und damit die Lebensvoraussetzung einer auf Koordination beruhenden Ordnung aushöhlt, nämlich ihre Berechenbarkeit und ihre DurchsichtigkeitBöhm (1950), S. X X X V (Hervorhebungen im Original). 40 Vgl. Eucken (1990), S. 55 ff. Eucken differenziert zwischen Interventionenwirtschaft und dem Zeitalter der Experimente; erstere sieht er geprägt durch einen Konsens darüber, daß den Privaten die Entscheidungsmacht obliegt (ebenda, S. 27 f.), letzteres durch die Bedeutung des staatlichen Allokationsmechanismus (ebenda, S. 35 ff.). Da Eucken selbst einen engen Zusammenhang zwischen beiden Formen betont, wird auf eine exakte Differenzierung verzichtet. 41
Vgl. Müller-Armack
42
Vgl. Eucken (1990), S. 254; Müller-Armack
43
Rüstow (1949), S. 128 ff.; ders. (1950b), S. 90.
( 1966c), S. 223.
44
Vgl. Ä3A/W (1954b), S. 35 f.
45
Müller-Armack
(1966a), S. 28.
(1966c), S. 223 f.
36
Β. Soziale Marktwirtschaft
Die hierzu gestalteten Ansätze werden - aus den bereits dargelegten Gründen - im folgenden unter dem Begriff Soziale Marktwirtschaft zusammengefaßt.
II. Von der Wirtschaftsordnung zur Ordnung der Wirtschaft Verwirft man die paläoliberale Vorstellung einer „prästabilierten Harmonie" 46 , tritt an die Stelle der Naturordnung eine staatliche Veranstaltung, 47 und das „Marktsystem ... [wird] im Sinne eines Halbautomaten"48 interpretiert. Unter der Prämisse der von Eucken entwickelten Faustformel „staatliche Planung der Formen - ja; staatliche Planung und Lenkung des Prozesses - nein" 49 soll der Staat unter Beachtung der Interdependenz allen Handelns den reibungslosen Ablauf des Wirtschaftsgeschehens mit dem Ziel der Lösung der sozialen Frage sicherstellen. Damit besteht die Aufgabe darin, eine Ordnungsform zu generieren, in deren Rahmen sich eine Harmonie von Einzel- und Gesamtinteresse einstellt.50 Ein solcher Zustand des „ordo" ergibt sich nach ordoliberalen Vorstellungen unter der Marktform der vollständigen Konkurrenz, für die es hinreichend sei, daß „der Einzelne infolge der Größe des Marktes und der Geringfügigkeit seines Angebots oder seiner Nachfrage mit einer solchen Reaktion in seinem Wirtschaftsplan rechnet, den Plan also als Plandatum setzt und entsprechend handelt. ... Das mag bei 50 oder 100 oder bei noch mehr Anbietern und Nachfragern der Fall sein." 51
In dieser Sicht sind einzig die Bedingungen entscheidend, unter denen der einzelne Akteur plant. Idealerweise sollten sie so beschaffen sein, daß jeder Marktteilnehmer die Preise als Daten einplanen kann.52 Nach Eucken wird das zwar unter vier verschiedenen Szenarien gegeben sein, wenn nämlich
46 „Anbieter und Nachfrager suchen stets - wo immer es möglich ist -, Konkurrenz zu vermeiden und monopolistische Stellungen zu erwerben oder zu behaupten. Ein tiefer Trieb zur Beseitigung von Konkurrenz und Erwerbung einer Monopolstellung ist überall und stets lebendig"; Eucken (1949), S. 5. Auch Rüstow beschäftigt sich eingehend mit der institutionellen Bedingtheit von Eigen- und Gemeinnutz, die er als eine schon vor Adam Smith bekannte Überlegung herausarbeitet und auch als von Smith zumindest nicht ignorierte Tatsache diagnostiziert; vgl. Rüstow (1950b), S. 58, 64. 47
Vgl. Miksch (1937), S. 9.
48
Müller-Armack
49
Eucken (1949), S. 93; ders. (1990), S. 336.
50
Vgl. Eucken (1990), S. 355.
(1966b), S. 235.
51
Eucken (1965), S. 96, 97 (Hervorhebung durch den Verfasser); so auch: Böhm (1954b), S. 35 f. Miksch sieht diesen Aspekt anders; siehe auch Kapitel B.III.2. 52 Im Unterschied zum neoklassischen Konzept der vollständigen Konkurrenz (vgl. etwa von Stackelberg (1951), insb. S. 190, 219, 234 ff.) müssen also die betrachteten
I
Von der Wirtschaftsordnung zur Ordnung der Wirtschaft
37
• mehrere kleine Unternehmen im Schatten eines großen bzw. eines Kartells existieren; • Preisbindung der zweiten Hand vorliegt, d. h., der Abnehmer einer Ware verpflichtet ist, beim Weiterverkauf einen bestimmten Preis zu fordern; • der Preis behördlich festgesetzt ist; • Anbieter und Nachfrager gleichzeitig den Preis auf einem anonymen Markt als Datum akzeptieren müssen.53 Jedoch sind nur im letztgenannten Fall vollständige Konkurrenz und damit die Voraussetzung für die Deckung von Einzel- und Gesamtinteresse gegeben, denn die Macht- und Abhängigkeitspositionen werden minimiert. Für die Sozialen Marktwirtschaftler ist es daher Aufgabe staatlicher Wirtschaftsordnungspolitik, eine Marktform zu installieren und zu garantieren, in der eine „strenge Lenkung des Wirtschaftsprozesses" 54 nach dem Prinzip der Leistung55 über den Markt erfolgt. Denn „das private Gewinnstreben vermag sich ... sowohl mit dem Grundsatze des wirtschaftlichen Fortschrittes als auch mit dem Grundsatze der Fortschrittshemmung zu verbinden, und zwar liegen hier die Dinge so, daß der vom individuellen Ertragsstreben geleitete Unternehmer im Zustand der Machtlosigkeit (d. h. im Stande der [vollständigen; der Verf.] Konkurrenz) seinen Gewinn nur dadurch verwirklichen kann, daß er dem Fortschritte dient, während er, sobald ihm eine Machtstellung auf dem Markte zugänglich ist, auch aus fortschrittshemmenden Maßnahmen einen individuellen Ertrag herauswirtschaften kann. ... Der Machtlose muß dienen, wenn er seine soziale Position verbessern will, d. h. er muß andere Machtlose ausstechen und überflügeln. Der Mächtige dagegen kann sein Einkommen auf Kosten derjenigen, die seiner Macht ausgeliefert sind, steigern." 56
Sofern es jedoch nicht gelingt, die Marktform der vollständigen Konkurrenz zu etablieren, soll nach den Vorstellungen der Gründerväter die allgemeine Wettbewerbspolitik durch eine spezielle Politik ergänzt werden. Darüber, wie diese beschaffen sein sollte, gehen ihre Vorstellungen allerdings auseinander.
Güter weder homogen sein (siehe auch: Eucken (1965), S. 101), noch wird die isolierte Forderung nach einer großen Anzahl von Marktteilnehmern von Eucken geteilt. Entscheidend ist weder, daß die Nachfrage nach einem Gut völlig elastisch verläuft noch, daß von den Aktionen des einzelnen keine Wirkungen auf den Preis ausgehen. 53
Vgl. Eucken (1965), S. 94 f. sowie das Marktformenschema auf S. 111.
54
Eucken (1949), S. 21.
55
„Leistung" wird dabei gemessen als das „was Gnade vor den Augen der Verbraucher findet"; Erhard (1962), S. 79, 268; siehe auch: Eucken (1990), S. 300 sowie die kritischen Ausführungen Böhms, die in Kapitel B.III.3. vorgestellt werden. 56
Böhm (1933), S. 4.
38
Β. Soziale Marktwirtschaft
Quelle: Eigene Darstellung nach: Eucken, W. (1952, 1990); Miksch, L. (1937); Böhm, F. (1937).
Abbildung 2.1: Eine schematische Darstellung der ordoliberalen Wettbewerbspolitik
Abbildung 2.1 bietet einen Überblick über Systematik und Schwerpunkte einer ordoliberalen Wettbewerbspolitik in der Sicht ihrer drei wichtigsten Wettbewerbstheoretiker Eucken, Böhm und Miksch. 57 Bei der Analyse erschließt sich, daß nach allen Ansätzen der Staat als ordnende Potenz in Erscheinung zu treten hat. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Faktor Staat erscheint daher, insbesondere angesichts des Umfangs und der Wirkungstiefe staatlicher Aufgaben, als unverzichtbar. 1. Elemente und Grenzen einer allgemeinen Wettbewerbsordnungspolitik Die bei weitem umfassendste Darstellung der allgemeinen Wettbewerbsordnungspolitik findet sich bei Eucken.58 Nach Eucken muß es Ziel aller wirt-
57
Auf die wichtigen Vorstellungen von von Hayek zum „Wettbewerb als Entdekkungsverfahren" wird im folgenden nicht eingegangen, da er diese Gedanken erst zum Ende der 60er Jahre entwickelte und hier ein anderer Zeitrahmen betrachtet wird; vgl. z.B. von Hayek (1981b), S. 100 ff. Eine seiner wesentlichen Aussagen ist dabei weiterhin die Vorstellung, Behinderungswettbewerb sei zu unterbinden. 58 Vgl. im folgenden: Eucken (1949), S. 32 ff.; ders. (1990), S. 254 ff. Auch bei anderen Vertretern finden sich dahingehende Ausführungen: Miksch schlägt in seinem „allgemeinen Wettbewerbsrecht" als Maßnahmen vor: ein Verbot von Preisabsprachen,
II. Von der Wirtschaftsordnung zur Ordnung der Wirtschaft
39
schaftspolitischen Maßnahmen sein, Wettbewerb und einen funktionsfähigen Preismechanismus, d. h. Lenkungsapparat, zu etablieren und die Wirtschaftsordnung in einen Zustand allgemeiner Machtlosigkeit zu überfuhren (erstes konstituierendes Prinzip). Dann sollen sich Einzelinteresse und Gemeinwohl gleichgerichtet
entwickeln. 5 9
Institutionenökonomisch
geht
es darum,
die
Transaktionskosten für gewisse ökonomische (Behinderungs-) Aktivitäten auf ein prohibitives Maß zu erhöhen. 60 Zur Verwirklichung dieses Grundprinzips einer Wettbewerbsordnung müssen weitere „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" (Eucken) beachtet werden: • Unter der Zielvorgabe, daß die Preise den Wirtschaftsprozeß lenken sollen, ist vor allem eine konsequente, staatliche Geldpolitik wichtig, die den Geldwert und damit die Lenkungsfunktion der Preise sichert. 61 • Des weiteren ist es privaten Machtgruppen und Einzelunternehmen immer wieder gelungen, Regeln durchzusetzen, mit denen Märkte geschlossen werden, sei es nach außen durch z. B. Einfuhrverbote, Prohibitivzölle, Außenhandelsmonopole oder auch nach innen durch Anbau-, Errichtungs- und
ein geeignetes Vertragsrecht sowie Haftungsvorschriften; vgl. Miksch (1937), S. 40 ff. Böhm will Wettbewerb staatlich „veranstalten"; er hält staatlichen Rechtszwang nur in dem Sinne für nötig, daß - sind die Voraussetzungen für den Wettbewerb erfüllt - der Grundsatz der unbeschränkten Haftung gilt, Wettbewerb ausschließlich aufgrund des Leistungsprinzips geführt wird und marktregelnde Vereinbarungen verboten werden, durch die man sich dem Wettbewerb entziehen kann; vgl. Böhm (1937), S. 104 ff.; ähnlich bei: Röpke (1979a), S. 142 ff.; Müller-Armack (1966a), S. 111 ff. Röpke akzentuiert jedoch anders als die drei hier vorgestellten Vertreter, indem er der Strukturpolitik als weitere Säule der Wirtschaftspolitik besondere Relevanz zukommen läßt. Neben der Rahmenpolitik, die er in erster Linie als Antimonopolpolitik begreift, und der Marktpolitik als „liberalem Interventionismus" fügt sich die Strukturpolitik ein (siehe auch: Kapitel B.V.), die die „sozialen Voraussetzungen" der Marktwirtschaft schafft und auf Einkommens- und Besitzverteilung, Betriebsgrößen und Bevölkerungsstrukturen gerichtet ist; vgl. Röpke (1979c), S. 74 ff.; siehe auch: Müller-Armack (1966a), S. 126 ff. 59 So betont Röpke, daß für den „rechtlich-moralisch-institutionellen Rahmen des Marktverkehrs" zu sorgen sei; vgl. Röpke (1979a), S. 143. 60 61
Vgl. Grossekettler
(1995), S. 5; Ribhegge (1991), S. 46.
Auf das von Eucken präferierte Konstrukt einer Waren-Reserve-Währung, nach der die Zentralbank verpflichtet wird, den Umfang ihrer Kreditgeschäfte vom jeweiligen Bestand an Waren abhängig zu machen und dem sog. Chicago- oder 100-Prozent-Plan, der die Hinterlegung einer „Mindestreserve" in Höhe von 100 v. H.. aller Giralgelder bei der Zentralbank vorsah, sei hier nicht weiter eingegangen. Böhm betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit „der Unterstützung durch eine vorausschauende und grundsatzgetreue Geldpolitik"; vgl. Böhm (1937), S. 138; ähnlich bei: Müller-Armack (1966a), S. 119.
40
Β. Soziale Marktwirtschaft
Zulassungsbeschränkungen, Investitions- sowie Berufsverbote, Lizenzsysteme u. ä. Bleibt dies auf Einzelfälle beschränkt, muß die Marktordnung nicht unbedingt wesentlich gefährdet werden. Grundsätzlich erleichtern solche Entwicklungen jedoch immer die Monopolbildung, sichern Renteneinkommen und stören die Allokationsfunktion der Preise. Daher sind Gewerbefreiheit und Freizügigkeit im Sinne einer Offenhaltung der Märkte staatlich zu garantieren und jede Art des ΒehinderungsWettbewerbs auszuschließen.62 • Ist Wettbewerb vorhanden, wird nach der Interdependenzthese Privateigentum zu einem ökonomisch und sozial brauchbaren Baustein einer Ordnung. Eine staatliche Garantie des Privateigentums ist sinnvoll, denn mit privaten Property-rights ist dann keine Machtstellung verbunden, von der die schon beschriebenen negativen Folgen für die Wirtschaft ausgehen könnten. Vielmehr geht von Privateigentum bei Wettbewerb aufgrund der Knappheit der Ressourcen eine Kontrollfunktion aus, was effizienzsteigernd und wohlfahrtserhöhend wirkt. • Eine weitere unverzichtbare Voraussetzung für die Realisierung der Wettbewerbsordnung ist die Gewährleistung von Vertragsfreiheit. Ohne die Möglichkeit, sich vertraglich zu binden, die Bedingungen dieser Bindung frei und selbst zu bestimmen oder eine solche auch auszuschlagen, sind Wettbewerb und die von ihm erwartete Lenkungsfunktion fur den Wirtschaftsprozeß nicht zu verwirklichen. Gleichzeitig ist jedoch sicherzustellen, daß diese Freiheit nicht dazu mißbraucht wird, den Wettbewerb - etwa durch einen Kartellvertrag - auszuschließen. • Ebensowenig darf die Vertragsfreiheit zu einem Haftungsausschluß fuhren. Effizienter Wettbewerb wird nur dort zustande kommen, wo die Wirtschaftssubjekte für ihre Handlungen verantwortlich sind und deren Kosten im Falle einer Fehlleistung nicht externalisieren können. Ist das nicht gegeben, wird sich regelmäßig das Einzelinteresse zum Schaden des Gemeinwohls durchsetzen. • Von besonderer Relevanz für den Wirtschaftsablauf ist schließlich, daß die Wirtschaftssubjekte mit konstanten Plandaten rechnen können. Da diese Daten in nicht unerheblichem Maße von der staatlichen Wirtschaftspolitik abhängig sind, muß diese überschaubar sowie verläßlich gestaltet sein und muß auf marktinkonforme staatliche Interventionen, die die Basis für wirt-
62 In diesem Zusammenhang kritisiert Eucken das Patentrecht einseitig als systemfremd und monopolfördernd. Er verkennt dabei offensichtlich die „Property-rightsFunktion" von Patenten, die ein zeitlich begrenztes Eigentum an einem Gut (insbesondere an Informationen) sichert und für den dynamischen Wettbewerb bedeutend ist.
II. Von der Wirtschaftsordnung zur Ordnung der Wirtschaft
41
schaftliche Machtpositionen bilden könnten, verzichten. 63 Nur so sind langfristige Investitionen, stabile Preisrelationen und damit eine Sicherung der Erwartungen möglich. Eine nach den vorstehenden Kriterien gestaltete Wettbewerbspolitik soll bewirken, daß sich in vielen 64 , zumindest jedoch einigen Bereichen der Wirtschaft eine natürliche, „machtneutrale" 65 Ordnung etabliert. Die Wirksamkeit einer solchen allgemeinen Wettbewerbspolitik ist letztlich aber begrenzt. Zum einen erscheint Wettbewerb nicht überall wünschenswert. So sehen fast alle Gründerväter den Arbeitsmarkt als Ausnahmebereich an und weisen auf seine strukturellen Besonderheiten hin. 66 Zum anderen existieren systemimmanente Schwächen, denn, wie Miksch betont, hängt die Wirksamkeit einer allgemeinen Wettbewerbspolitik in erster Linie von der zugrundeliegenden Marktform ab, weshalb auf einigen Märkten kein Wettbewerb durchsetzbar sei (natürliche Monopole) oder Wettbewerb nur unter weiteren Regulierungen sinnvoll sei (externe Effekte). 67 Unterscheidet man Miksch folgend in wirtschaftstheoretische Marktform und wettbewerbspolitische Marktverfassung, so besteht die Aufgabe darin, für jede Marktform eine passende Marktverfassung zu entwickeln. Daraus ergeben sich im Sinne von Miksch fünf Aufgaben:
63
Dabei stelle sich heraus, „... daß in unerwartet großem Umfange der Technik zu Unrecht die Schuld an Überdimensionalisierung und Monopolisierung zugeschoben wird, welche in Wahrheit den Juristen und Politikern zufällt, die die Urheber bestimmter Rechtsformen und wirtschaftspolitischer Akte sind"; Röpke (1979a), S. 234 (anders bei Miksch und Böhm\ s. o.). 64 Eucken (1949), S. 23; ders. (1950), S. 16, hält vollständige Konkurrenz in einer Wettbewerbsordnung auf den verschiedenen Märkten für „vorherrschend". 65
Müller-Armack
( 1966c), S. 227.
66
Vgl. z.B. Eucken (1990), S. 45 f., 301 ff., 321 ff.; Müller-Armack (1966b), S. 234; Hensel (1949), S. 246; Miksch (1949), S. 317 ff.; Rüstow (1957a), S. 167 f., 599, Anmerkung 17. Zu den sich aus den Besonderheiten ableitenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen: Eucken (1990), S. 304; Müller-Armack (1948), S. 152; Rüstow (1949), S. 136 f.; ders. (1959a), S. 76, 96, 150; Böhm (1980c), S. 512 ff. Unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten wird das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer kritisch beurteilt; vgl. u. a. Böhm (1954b), S. 75 ff.; Röpke (1958, 1979), S. 322 f., 326; Rüstow (1957a), S. 56. Die wirtschaftspolitischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden, divergieren jedoch: Während Böhm die betriebliche Mitbestimmung ablehnt, befürworten Miksch und Rüstow diese als legitimen Versuch des Ausgleichs des Subordinationsverhältnisses; vgl. Miksch (1950), S. 41 f., 47; Rüstow (1957b), S. 230. 67
Vgl. dazu und zu den „regulierenden Prinzipien" allgemein: Eucken (1990), S. 291 ff.
42
Β. Soziale Marktwirtschaft
„1. Überall, wo die Marktform der vollständigen Konkurrenz besteht, soll die Marktverfassung der freien Konkurrenz eingeführt und gesichert werden. 2. Überall, wo die Marktform der vollständigen Konkurrenz herstellbar ist, soll sie hergestellt werden. 3. Überall, wo die Marktform der vollständigen Konkurrenz hergestellt worden ist, soll anschließend die Marktverfassung der freien Konkurrenz eingeführt und gesichert werden. 4. Überall, wo eine Marktform der unvollständigen Konkurrenz besteht, soll die Marktverfassung der freien Konkurrenz durch die Marktverfassung der gebundenen Konkurrenz ersetzt werden. 5. Überall, wo eine Marktform der unvollständigen Konkurrenz besteht und eine private Marktregelung eingeführt worden ist, soll diese durch die Marktverfassung einer geordneten, gebundenen Konkurrenz ersetzt werden." 68
Für Miksch reicht im Falle der vollständigen Konkurrenz (1 bis 3) die Etablierung bzw. Sicherung eines allgemeinen Wettbewerbsrechts aus. In den anderen Situationen der unvollständigen Konkurrenz 69 sind dagegen spezielle Maßnahmen notwendig, um die damit verbundene Macht zu beschränken70 und effiziente Marktergebnisse zu generieren. Es bedarf eines Konzepts der „ver-
68
Miksch (1937), S. 26 f. Für das Monopol kommt nach Miksch ausschließlich die staatliche Lenkung in Frage; vgl. ebenda, S. 25 69 Abweichend von den o. a. kritischen Ausführungen Euckens leitet Miksch unvollständige Konkurrenz ausschließlich aus der (sinkenden) Zahl der Marktteilnehmer her, denn mit sinkender Anzahl erhöhen sich die Möglichkeiten, gestaltend auf den Preis Einfluß zu nehmen; vgl. Miksch (1937), S. 47, 49 ff. Unvollkommene Konkurrenz wird dabei nicht ausschließlich negativ interpretiert: Miksch weist in diesem Zusammenhang im Rahmen seiner „Theorie des räumlichen Gleichgewichts" darauf hin, daß die Etablierung vollständiger Konkurrenz, d. h. die Dezentralisierung von Unternehmen, nicht überall möglich sei und statt dessen aus wettbewerbspolitischen Überlegungen monopolistische Marktformen sinnvoll sein könnten. Daher hätten gewisse Monopole aufgrund ihrer räumlichen Positionierung einen „natürlichen" Status, vgl. Miksch (1951), S. 5 ff.; ansatzweise auch schon in: ders. (1937), S. 50 ff. Als ursächlich für monopolistische Marktformen werden u. a. ein steigender Fixkostenanteil (vgl. Müller-Armack (1966a), S. 120 ff.) oder eine zunehmende Technisierung angesehen. Letztere hat jedoch auch positive Wettbewerbseffekte, da sie bessere Verkehrs- und Infrastruktursysteme, eine Zunahme von Substitutionsprodukten oder eine größere Anpassungsfähigkeit der Produktion induziert; vgl. dazu: Eucken (1950), S. 11 ff.; ders. (1990), S. 227 ff. 70 Beschränkt man die Analyse auf Oligopole und Monopole (läßt man also Teilmonopole und -oligopole aus der Betrachtung heraus), so ergibt sich das Problem der Macht im Monopol aus der Tatsache, daß der Monopolist die Reaktionen der Marktgegenseite in seine Planungen mitaufnehmen kann. Im Oligopol kommt es entweder zum Kartell, das Marktmacht hat oder aber zu Machtkämpfen, die ebenfalls dem marktlichen Lenkungsprozeß Schaden zufügen; vgl. Eucken (1965), S. 196 ff.
II. Von der Wirtschaftsordnung zur Ordnung der Wirtschaft
43
feinerten Wettbewerbswirtschaft" 71, in dem der Staat als Träger und Gestalter der Wirtschaftspolitik eine herausragende Bedeutung einnimmt. 2. Varianten der speziellen Wettbewerbspolitik a) Ziele und Instrumente Die Ausfuhrungen zur speziellen Wirtschaftspolitik beschränken sich wiederum im wesentlichen auf die drei zentralen Quellen der ordoliberalen Wettbewerbstheorie von Eucken, Böhm und Miksch. 72 Eucken konstatiert die Existenz von Bereichen, in denen keine vollständige Konkurrenz geschaffen werden kann und beschäftigt sich mit der Frage, wie wirtschaftliche Macht wirksam kontrolliert werden kann. Theoretisch sieht er dafür drei Möglichkeiten, von denen er zwei jedoch strikt ablehnt: Die Verstaatlichung von Monopolen sieht er kritisch, denn sie „vereinigt die beiden Sphären der Wirtschaft und der Politik. Aber durch Konzentration ist - wie wir wissen - das Problem der wirtschaftlichen Macht und des Machtmißbrauchs zu keiner Zeit und nirgendwo gelöst worden." 73 Ebenso verwirft er die Möglichkeit der Kontrolle durch die Arbeiterschaft. Werde diese an den Monopolgewinnen beteiligt, so sei eine Interessenharmonie mit den Arbeitgebern zu befürchten, die dem Anliegen der Allgemeinheit zuwiderlaufen würde. 74 Einzig geeignet erscheint für Eucken danach die Einrichtung eines Monopolamts mit dem Ziel,
71
Böhm (1980b), S. 85. Neben den hier dargestellten „Mainstream"-Positionen gibt es im sozial-marktwirtschaftlichen Umfeld weitere wettbewerbspolitische Vorschläge von der Aufhebung monopolfördernder staatlicher Bestimmungen, über eine Monopolsteuer (Stackelberg) bis hin zum kategorischen Monopolverbot; vgl. Dürr (1954), S. 65. 72
Ergänzend dazu plädiert bspw. Röpke für eine prinzipiengesteuerte „Marktpolitik" des „liberalen Interventionismus"; vgl. Röpke (1979b), S. 258 ff.; ders. (1979c), S. 76. Marktpolitik ist jedoch nicht mit einer Vollbeschäftigungspolitik à la Keynes identisch; diese hält Röpke für verfehlt, da sie in dem Streben nach Sicherheit und Versorgung durch den Staat ihren Ursprung habe (ebenda, S. 255) und letztlich nicht an den Wurzeln ansetze, sondern als „kurzfristige Linderungspolitik" (ebenda, S. 265) nur die Symptome bekämpfe. 73 Eucken (1990), S. 293; siehe auch: ders. (1949), S. 66 f.; Miksch (1937), S. 74 f. Im Unterschied dazu befürwortet Röpke in älteren Beiträgen Verstaatlichung als geeignetes Mittel zur Verhinderung von Machtmißbrauch; vgl. Röpke (1979b), S. 292. In späteren Schriften rückt er jedoch von dieser Auffassung ab und stimmt mit Eucken darin überein, daß mit der Verstaatlichung die Konzentration von Macht verbunden ist. 74
Für eine kritische Analyse der Mitbestimmung durch Arbeitnehmer: vgl. Böhm (1980d), S. 315 ff. In der weitreichenden Form der „Wirtschaftsdemokratie" wird das Ordnungsprinzip der Haftung durchbrochen, da Leitungsbefugnis und Eigentumsfrage
44
Β. Soziale Marktwirtschaft
„die Träger wirtschaftlicher Macht zu einem Verhalten zu veranlassen, als ob vollständige Konkurrenz bestünde ..." sowie „Monopole soweit wie möglich aufzulösen und diejenigen, die sich nicht auflösen lassen, zu beaufsichtigen" 75. Ä h n l i c h argumentiert Miksch: I m Rahmen des speziellen Wettbewerbsrechts unterscheidet er den gebundenen
Wettbewerb
und die staatliche
Lenkung.
Schränke der gebundene Wettbewerb den privaten Entscheidungsraum lediglich ein, bedeute staatliche Lenkung die Abschaffung jeglicher privater Entscheidungsfreiheit. 76 I m Falle von Monopolen oder Teilmonopolen 7 7 , deren Entstehung er auf Economies-of-scale-Faktoren zurückfuhrt, präferiert M i k s c h die i m Vergleich zur Euckenschen Lösung „lenkungsintensivere" Variante des staatlichen Einflusses m i t dem Ziel, „die Preisbildung des Monopols dem Zustande der vollständigen Konkurrenz möglichst anzunähern" 78 . Hier soll der Staat nicht nur kontrollieren, sondern sogar steuern, was einen „besonders
voneinander entkoppelt werden (ebenda, S. 23). Böhm erwartet statt dessen eine neue Epoche des Klassenkampfes (ebenda, S. 498); Mitbestimmung münde in die „falsche Demokratie" (ebenda, S. 410) und verkenne die Tatsache, daß eine geordnete Wettbewerbswirtschaft die Macht des Unternehmers durch „marktmäßiges Plebiszit" einschränke und die Produktion in die richtigen Bahnen lenke (ebenda, S. 410). Damit die Lenkungsfunktion nicht gestört werde, sei eine autoritäre, ausschließlich am Betriebserfolg interessierte Unternehmensleitung notwendig (ebenda, S. 411, 441), wobei er ein Mitberatungsrecht in zahlreichen betriebsinternen Fragen zuerkennt (ebenda, S. 326). Auch Eucken steht der Forderung nach betrieblicher Mitbestimmung kritisch gegenüber und fordert „klare Führungsverhältnisse", wobei er ebenfalls die „Mitwirkung der Arbeiter [für] prinzipiell durchaus möglich" hält; Eucken (1990), S. 320. 75 Eucken (1990), S. 295, 294. Der Begriff des Monopols umfaßt bei Eucken sowohl Einzel- als auch Kollektivmonopole. Unter letzteren sind vor allem Kartelle und Syndikate zu verstehen; vgl. Eucken (1965), S. 103 f. Dagegen differenzieren Miksch und Böhm in (Einzel-)Monopole und Kartelle. 76 Vgl. Miksch (1937), S. 12. Wie sich diese beiden Arten der speziellen Wirtschaftspolitik von der Euckenschen Monopolkontrolle unterscheiden, ist nicht klar ersichtlich, denn schon im gebundenen Wettbewerb kann das Unternehmen unter Aufsicht des Staats stehen. Diese Aussage wird hier dahingehend interpretiert, daß die Lenkungsintensität bei staatlicher Lenkung (Miksch) größer ist als bei der staatlichen Monopolaufsicht bei Eucken. 77 Auf eine explizite Analyse von Oligopolsituationen wird verzichtet. Dies läßt sich damit begründen, daß das Oligopol in der Regel keine stabile Marktform ist, sondern es entweder für den Fall, daß ein ruinöser Wettbewerb die anderen Marktteilnehmer aus dem Markt drängt, in ein Monopol transformiert oder in ein Kartell (Kollektivmonopol), in dem sich die Teilnehmer auf eine gemeinsame Strategie einigen. Welche Form gewählt wird, hängt primär vom gesetzlichen Rahmen ab. Für Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg gilt, daß Kollektivmonopole rechtlich sehr weit geschützt wurden und daher Fälle des ruinösen Wettbewerbs eher selten waren; vgl. Miksch (1937), S. 85 ff. 78
Miksch (1937), S. 74.
II. Von der Wirtschaftsordnung zur Ordnung der Wirtschaft
45
hohen Grad von grundsätzlichem Denken" 7 9 erfordert, damit sich tatsächlich Als-ob-Ergebnisse einstellen. 80 Komplizierter sei der Sachverhalt i m Falle von Kartellen, die sehr heterogene Gebilde darstellen können - v o m Konditionenkartell bis hin z u m „QuasiM o n o p o l " , das dann auch als solches zu behandeln ist. Es sind nach M i k s c h zwei Faktoren zu berücksichtigen: Zunächst können Kartelle sich innerhalb verschiedener Marktformen bilden, weshalb sie unterschiedlich zu beurteilen und zu behandeln sind. Existieren sie auf einem Markt mit vollständiger K o n kurrenz, so gilt es, sie mittels des allgemeinen Wettbewerbsrechts aufzulösen. 81 Bestehen Kartelle jedoch auf Märkten m i t unvollständiger
Konkurrenz,
würde eine Beseitigung der Kartelle nicht helfen, da das Preisbindungsverbot umgangen würde oder - wenn dies nicht möglich ist - sich die Marktteilnehmer zu einem Trust zusammenschließen würden. 8 2 Entscheidend - so M i k s c h - sei
79
Miksch (1937), S. 75.
80
Kritisch zu der Vorstellung, man könne Als-ob-Ergebnisse generieren: von Hayek (1981b), S. 102 ff. Überraschenderweise warnt Miksch für den Fall des natürlichen Monopols (er nennt als Beispiele: Schienennetze, Elektrizitäts-, Gas-, Wasser- oder Telefonleitungen) davor, sie unter staatliche Lenkung zu stellen, da es in der Vergangenheit oft genug vorgekommen sei, daß der Staat seine Macht zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen mißbraucht habe. Statt dessen schlägt er die Form der gebundenen Konkurrenz mittels spezieller Wettbewerbsgesetze vor; vgl. Miksch (1937), S. 100 ff. Die divergierende Behandlung von Monopol und natürlichem Monopol erfährt dabei keine Begründung, und es wird auch nicht klar, worin sich beide Monopoltypen genau unterscheiden: Ersteren führt er auf die Betriebsgröße (im Verhältnis zur Marktgröße), letzteren auf natürliche oder technische Faktoren zurück. Gleichzeitig sieht Miksch jedoch die Betriebsgröße als Funktion des technischen Wissens an; vgl. ebenda, S. 58, 100. Hier ergibt sich eine wettbewerbspolitisch relevante, konzeptionelle Schwäche. 81
Miksch stellt fest, daß Kartelle häufig als ungefährlich und daher als zulässig angesehen werden. Wäre das der Fall, bestünde kein Anreiz, private Ressourcen auf die Etablierung zu verwenden; vgl. Miksch (1937), S. 88. 82
Nach Miksch ist auf solchen Märkten anfangs eine monopolartige Preispolitik meist nicht möglich, vielmehr drohen Preiskämpfe. Um diese zu verhindern, werde ein Kartellpreis festgelegt, der sich am Grenzanbieter orientiert und den anderen zu höheren Differentialgewinnen verhilft. Dieser Preis trägt aber nicht den - im Monopol beachteten - Mengeneffekten Rechnung. Zudem sei der Preis meist willkürlich festgelegt, bleibe starr und passe sich nicht (so schnell) an veränderte Rahmendaten (Nachfrage, Produktionsbedingungen u. ä.) an. Je länger das Kartell existiere, desto größer werde die Gefahr der Erosion durch einen Außenseiter. Dies könne man umgehen, indem man das Kartell in eine höhere Ordnung überführe und Quoten festlege oder den Absatz gemeinsam organisiere. Gleichzeitig bewirke der Kartellpreis nicht einen höheren Gewinn (wie im Monopol), sondern wirke kostensteigernd. Das wiederum veranlasse nun Außenseiter auf den Kartellmarkt zu drängen, deren günstigere Kostenstruktur die Kartellmitglieder zwinge, dem neuen entweder günstige Quoten einzuräumen oder ihn zu hohen
46
Β. Soziale Marktwirtschaft
dann der Faktor Zeit: Besteht die Marktform der unvollständigen Konkurrenz erst seit kurzem, so sei sie durch die Einführung der gebundenen Konkurrenz in einen Wettbewerbsmarkt zu überführen. Für den Fall eines seit langem bestehenden Preiskartells - zum Beispiel in Form eines Syndikats - bleibe nur die direkte staatliche Lenkung.83 Wie Miksch hält auch Böhm externe Korrekturen überall dort für notwendig, wo das Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit versagt. Dazu fordert er Instanzen, „die in der Lage sind, sich einen Überblick über die Gesamtwirtschaft zu verschaffen, und diesen Kraft öffentlichen Auftrags die Aufgabe zugewiesen ist, das Interesse der Gesamtwirtschaft in völliger Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Teil- und Gruppeninteressen wahrzunehmen" 84.
Der „Entmachtungsmaschine" Staat stehen dabei zwei Optionen offen: die Rückführung vermachteter Märkte in Wettbewerbsmärkte, indem die Machtansammlungen beseitigt werden, oder bei unvollständiger Konkurrenz die Unterstellung privater Kartelle unter die autoritäre Staatslenkung. Im Vergleich zu Miksch steht Böhm der staatlichen Lenkung jedoch skeptischer gegenüber und spricht sich dagegen aus, bei unvollständiger Konkurrenz langfristig bestehende, kartellierte Märkte in staatliche Lenkungsmärkte zu überfuhren. Prinzipiell sei es zwar möglich, daß die staatliche Lenkung die gleichen Erfolge erbringe wie die Wettbewerbslösung. Aufgrund der praktischen Begrenztheit der Ressourcen werde eine Ausweitung des staatlichen Einflußbereichs jedoch zu einer Wiedererstarkung privater Macht unter staatlichem Protektorat fuhren, weshalb „die Methode der Staatslenkung verglichen mit der Methode des Wettbewerbseinsatzes nicht die stärkere, sondern die schwächere Form der Ordnung" 85 sei. Daher sei zu beachten, daß „je weniger Märkte der Staat unmittelbar zu steuern hat, desto wirksamer kann er in diesen begrenzten Bereichen seiner fachlichen Aufgabe entsprechen"86. Jedoch müsse diese Maxime nicht immer gelten, denn „verfügt der Staat erst einmal über einen geschulten Apparat, sind erst einmal die fachlichen Grundsätze für die Handhabung der staatlichen Marktlenkung gehörig herausgearbeitet und die Mittel zu ihrer Durchführung erprobt worden, stehen erst einmal Erfahrungen in reicher Fülle zu Gebote, dann kann auch ein Übergreifen der
Preisen aufzukaufen. Als Fazit bleibt, daß das Kartell auf keinen Fall leistungsorientiert entlohnt, weshalb es wettbewerbspolitisch abgelehnt wird; vgl. Miksch (1937), S. 89 f. 83
Das Problem, den „richtigen" Als-ob-Preis zu finden, will Miksch mittels staatlicher Kalkulationsvorschriften lösen; vgl. Miksch (1937), S. 91. 84
Böhm( 1937), S. 144.
85
Böhm (1937), S. 147.
86
Böhm (1937), S. 148 f.; siehe auch: ders. (1951), S. 212; kritisch dazu: Miksch (1949), S. 334, Fußnote 1.
II. Von der Wirtschaftsordnung zur Ordnung der Wirtschaft
47
unmittelbaren Lenkungsmethode in Marktbereiche, die heute zweckmäßiger dem Wettbewerb zu überlassen sind, erwogen werden". 87
Allen Ordoliberalen ist demnach gemeinsam, daß sie eine aktive Ordnungspolitik für das geeignete Mittel ansehen, sowohl das Freiheits- als auch das Lenkungs- und damit das Allokationsproblem zu lösen. Hinsichtlich der Lenkungsintensitäten und damit der Rolle des Staats gehen ihre Ansichten jedoch deutlich auseinander: Eucken sieht eine Monopolkontrolle nur als regulierendes Prinzip. Er erwartet, daß nach Auflösung der Kartelle eine straffe Monopolaufsicht und eine allgemeine Ordnung der Wirtschaft ausreichend prophylaktisch wirken werden, um oligopolistische Preiskämpfe zu verhindern, da die Erreichung einer Monopolstellung keine Vorteile mehr bringt. Nach seiner Vorstellung werde schließlich die gebundene Konkurrenz fiir diese Bereiche obsolet,88 so daß ein allgemeines Wettbewerbsrecht als Regelwerk genügen sollte. Miksch hingegen vertritt die Meinung, eine allgemeine Wettbewerbsordnung könne Leistungswettbewerb nur in Ausnahmefällen garantieren. Für die häufiger auftretenden Konstellationen unvollständiger Konkurrenz seien spezielle Regeln notwendig.89 Miksch plädiert dabei fur eine ausgeprägte Lenkungsintensität, wenn er Monopole und zahlreiche Kartelle direkt unter staatliche Leitung gestellt wissen will. 9 0 Eucken möchte es insofern bei der bloßen Kontrolle belassen (qualitatives Argument) und Böhm sucht, die Fälle staatlicher Lenkung zu minimieren (quantitatives Argument). b) Institutionelle Ausgestaltung des Monopolamts Im Vordergrund dieser Arbeit steht die Frage nach der Rolle des Staats bei den Sozialen Marktwirtschaftlern. Daher gilt es, den Aufbau der Monopolbehörde in institutioneller Hinsicht besonders zu betrachten. Die deutlichsten konzeptionellen Vorstellungen hierfür finden sich bei Eucken: Danach soll die staatliche Monopolbehörde
87
Böhm (1937), S. 156.
88
Vgl. Eucken (\990), S. 298 f.
89
So auch: ÄöAm (1951), S. 194.
90
Dies zeigt sich auch, wenn Miksch betont, daß zwischen Liberalen und Sozialisten nicht die Frage der Lenkung im Mittelpunkt steht, sondern nur die Frage nach den Zielen und Methoden der Lenkung; vgl. dazu: Blum (1969), S. 57. Bei Röpke findet sich der Hinweis, daß in gewissen (Not-)Situationen ein „Kollektivismus auf demokratischer Grundlage" möglich sei, „weil hier dem Plan ein eindeutiges und allgemein angenommenes Ziel gesetzt werden kann"; Röpke (1979c), S. 64.
48
Β. Soziale Marktwirtschaft
• aus dem politischen Tagesgeschäft herausgenommen werden und unabhängig und keinem Druck ausgesetzt, nur dem Gesetz unterworfen, allein fur die Monopolaufsicht zuständig sein, • als eine selbständige Staatsbehörde und nicht als Abteilung des Wirtschaftsministeriums eingerichtet werden, • inhaltlich mit streng umgrenztem Aufgabengebiet agieren. Ihre Tätigkeit soll dabei insbesondere auf den Schwerpunkten liegen, • bestehende Machtgebilde aufzulösen bzw. ihr Aufkommen zu verhindern, • bei unvermeidbaren Machtballungen zu wettbewerbsanalogem Verhalten anzuhalten, • privatrechtliche Regeln zu überprüfen sowie • Behinderungswettbewerb und Preisdifferenzierungen zu untersagen.91 Es wurde versucht zu zeigen, daß sich die ordoliberalen Ansätze im engeren Sinne, bei denen das Wettbewerbs- und Monopolproblem im Mittelpunkt steht, schon hinsichtlich der Wettbewerbspolitik deutlich unterscheiden. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft geht aber über diesen Wettbewerbsbereich noch hinaus und widmet sich auch sozial- und gesellschaftspolitischen Aspekten. Die hierzu entwickelten sozialpolitischen Vorstellungen weichen dabei noch weiter voneinander ab.
I I I . Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung 1.
Von der Ordnungspolitik zur Speziellen Sozialpolitik
Neben den Zielen Freiheit und Effizienz spielen in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Gerechtigkeits- und Sicherheitserwägungen eine wesentliche Rolle. 92 Diesem Komplex an Grundwerten ist die Sozialpolitik verpflichtet, die sich in die Konzeption als Komplement zur Wirtschaftsordnung einfügen soll, ohne den wettbewerblichen Prozeß zu stören oder außer Kraft zu setzen. Die Sozialpolitik (im weiteren Sinne) kann in zwei Kategorien eingeteilt werden: in eine ideelle und eine materielle. Im Zentrum der ideellen, im folgenden als Gesellschaftspolitik bezeichneten Variante steht für die Gründerväter die Erkenntnis, daß eine funktionierende Wirtschaftsordnung neben
91
Vgl. Eucken (1990), S. 295; Böhm (1980b), S. 91.
92
So auch: Streit (1988), S. 33 ff.; ders. (1995), S. 13 ff.
III. Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung
49
formalen Institutionen auch informelle Fundamente „jenseits von Angebot und Nachfrage" (Röpke) besitzen müsse. Dieses gesellschaftspolitische Fundament kann als Wertekonsens umschrieben werden. Während dieser Aspekt im weiteren Verlauf der Arbeit im Zusammenhang mit dem Staatsbild der Gründerväter thematisiert wird, 93 steht zunächst die Ausgestaltung einer materiellen Sozialpolitik im Vordergrund. Diese unterteilt Eucken in eine Politik zur Ordnung der Wirtschaft als Sozialpolitik und eine Spezielle Sozialpolitik. 94 Hinsichtlich der Ordnungspolitik als Sozialpolitik besteht zwischen den Vertretern der Sozialen Marktwirtschaft weitgehend Einigkeit: Eine freiheitlich geordnete Marktwirtschaft sei schon an sich sozial, und die Sicherung einer Wettbewerbsordnung stelle das wichtigste Mittel der Sozialpolitik dar. 95 In der Sicht der Gründerväter ist daher eine Politik sozial, die entmachtet und Freiheiten sichert, denn - so die Vermutung - „die Begriffe 'frei' und 'sozial' dekken sich nämlich; je freier die Wirtschaft ist, umso sozialer ist sie auch"96. Durch den freiheitlichen Wettbewerb würden wirtschaftliche Dynamik und Effizienz gewährleistet. Von der damit verbundenen Sozialproduktsexpansion profitierten alle Einkommensschichten, insbesondere auch die Ärmeren, da die Einkommensquoten weitgehend konstant blieben oder sich sogar zu ihren Gunsten verschieben würden. Die sozialpolitische Aufgabe bestehe daher „nicht in der Division, sondern in der Multiplikation des Sozialproduktes" 97. Zudem würden in einer dem Leistungsprinzip verpflichteten, institutionell abgesicherten Wettbewerbsordnung „funktionslose" Residualgewinne abgebaut, und die monopolistischen Einkommens-, Vermögens- und Machtunterschiede aus der Frühphase des Kapitalismus würden verschwinden. Auf dieser Basis sei schon ein Großteil an sozialer Gerechtigkeit garantiert. 98 Hinzu komme, daß die
93 Dies ist auch deshalb notwendig, weil die Konkurrenz als solche - im Unterschied zu den Vorstellungen der klassischen Liberalen - als „weder individuell versittlichend noch sozial integrierend" angesehen wird; Rüstow (1950b), S. 50. 94
Vgl. Eucken (1990), S. 314, 318.
95
Vgl. Eucken (1948a), S. 116 ff.; ders. (1990), S. 314 ff.; ähnlich bei: Böhm (1954a), S. 75 ff.; Müller-Armack (1966c), S. 207 f.; ders. (1966b), S. 234; ders. (1956), S. 391. 96
Erhard {1954), S. 119; siehe auch: ders. (1962), S. 201 f.; Röpke (1959a), S. 198.
97
Erhard (1962), S. 126; siehe auch: ders. (1990), S. 226 f.; Müller-Armack (1948), S. 133 f , 137 f.; ders. (1955), S. 84 ff.; ders. (1956), S. 391; Eucken (1990), S. 315. 98
Vgl. Erhard (1990), S. 8; Röpke (1979b), S. 187; Müller-Armack (1950), S. 265 f. Rüstow betont in diesem Punkt ausdrücklich, daß sich ein Ausgleich der Einkommen nur dann automatisch vollziehe, wenn für ausreichende Chancengleichheit (Startgleichheit bzw. -gerechtigkeit) gesorgt werde. In seinen Augen umfasse dies eine strenge Erbschaftsbesteuerung sowie eine Angleichung der Bildungschancen (z. B. über 4 Rauhut
50
Β. Soziale Marktwirtschaft
geordnete Marktwirtschaft einen hohen Grad an konjunktureller Anpassungsund Stabilisierungsfähigkeit besitze" und in ihr die Anbieter veranlaßt würden, sich an den Wünschen der Konsumenten zu orientieren: „Diese Demokratie der Konsumenten ... hat zwar den - übrigens weitgehend korrigierbaren - Nachteil einer sehr ungleichmäßigen Verteilung der Stimmzettel, aber auch den großen Vorteil eines vollendeten Proporzsystems: es findet keine Majorisierung der Minderheiten statt, und jeder Stimmzettel kommt zur Geltung. Wir erhalten damit eine Marktdemokratie, die an geräuschloser Exaktheit die vollkommenste Demokratie übertrifft." 100
Aufgrund ihrer Effizienz bietet die geordnete Marktwirtschaft ausreichend Spielraum für spezielle sozialpolitische Korrekturen - insbesondere im Hinblick auf mehr „Bedarfsgerechtigkeit" und Sicherheit. 101 Diese Korrekturen finden im Rahmen der Speziellen Sozialpolitik statt. Hinsichtlich dieser Speziellen Sozialpolitik stehen bei den Gründervätern drei Problemfelder im Zentrum der Betrachtung: (1) die Methoden der herkömmlichen Sozialpolitik, (2) unverschuldete Notlagen von Individuen oder bestimmten sozialen Gruppen sowie (3) systembedingte Mängel der marktwirtschaftlichen Ordnung. Bezüglich der ersten beiden Punkte herrscht weitgehende Einigkeit: • Die traditionelle, diskretionär agierende Sozialpolitik wird abgelehnt, da sie sich der Problematik nicht im ganzen stelle, sondern vielfach nur Ausdruck eines punktuellen, teils politisch, teils ideologisch motivierten Denkens sei.102 Sie sei so angelegt, daß sie in den „Wohlfahrts-" oder „Versorgungsstaat" münde, der unter dem Deckmantel staatlicher Sozialfürsorge letztlich nur
Stipendien); vgl. Rüstow (1950b), S. 96 f. Ausgehend von der auf Aristoteles zurückgehenden Trennung in iustitia commutativa und iustitia distributiva sorgt die Wettbewerbsordnung für Verhaltensgerechtigkeit (iustitia commutativa). Diese umfaßt u. a. die Aspekte Vertragsfreiheit (Vertragssicherheit, Leistung-Gegenleistung) und Haftung. Sie kommt aber nur bei Gleichordnung zustande, die aber gerade die Wettbewerbsordnung sichert. Der Frage nach der Verteilung von Gütern und Lasten wendet sich die Spezielle Sozialpolitik zu. 99
Vgl. u. a.: Müller-Armack (1980b), S. 68 f. 100
(1966a), S. 97 f.; Erhard (1962), S. 203 f.; Böhm
Röpke (1979b), S. 167; siehe auch: Erhard {1990), S. 167, 193 ff.
101
Vgl. Erhard (1990), S. 246; ders. (1962), S. 303; Lutz (1953), S. 249 f.; Böhm (1954b), S. 37; vgl. zu diesem Kapitel in jüngerer Zeit: Hamm (1989), S. 363 ff.; Gutmann(m9), S. 332 f. 102
Vgl. Eucken (1951), S. 32 ff.; ders. (1990), S. 185 ff. Die politische Komponente sei durch Bismarck ins Spiel gebracht worden, der durch seine Sozialgesetzgebung die Sozialisten schwächen und das Reich einigen wollte; die ideologische Motivation sei bei den „Kathedersozialisten" des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu finden; vgl. Rüstow (1956), S. 11.
III. Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung
51
einen „Raub durch Stimmzettel"103 bei den gesellschaftlichen Leistungsträgern durchführt. In einem solchen Staatswesen muß der einzelne Einbußen hinsichtlich seiner Freiheit aber auch seiner individuellen Sicherheit hinnehmen, da er zunehmend von den Entscheidungen staatlicher Planungsstellen abhängig wird. Im schlimmsten Fall sieht er sich selbst willkürlichen Maßnahmen ausgeliefert, und es kommt zu einer „Staatssklaverei". Der Kernpunkt der neuen sozialen Frage besteht für die Sozialen Marktwirtschaftler daher auch in der „drückenden Abhängigkeit von diesem Staat"104 und der damit verbundenen Unfreiheit. • Diese Betrachtungsweise führt die Gründerväter zu der Einsicht, daß Freiheit und Sicherheit Komplemente seien. Mit zunehmender Abhängigkeit vom Staat, d. h. schwindender Freiheit, nehme auch die Unsicherheit zu. In letzter Konsequenz schlössen Freiheit und staatlich garantierte „Freiheit von Not" einander aus, da „Freiheit von Not" stets mit Zwang verbunden sei.105 In der Programmatik der Sozialen Marktwirtschaft wird daher die Vorstellung einer „lOOprozentigen staatlichen Sicherung gegen alle Risiken" (Rüstow) verworfen, da sie die Risiken von Freiheits- und Sicherheitsverlust eben nicht ausschließt und der Anspruch in dieser Absolutheit ohnehin nicht zu verwirklichen wäre. Demgegenüber wird eine soziale Sicherung nach dem „Prinzip eines Maximums an Individualfürsorge" 106 vorgeschlagen. Nach ihr soll sich eine nach dem Subsidiaritätsprinzip ausgestaltete soziale Sicherungspolitik beschränken auf die Gruppen der Alten, Kranken, Invaliden, auf Kriegsgeschädigte sowie auf durch Wirtschaftskrisen unverschuldet Arbeitslose. 107
103 Röpke (1979d), S. 228; siehe auch: ders. (1979a), S. 167; Rüstow (1956), S. 8 f f ; Eucken (1990), S. 125 f. 104 Eucken (1948a), S. 119; siehe auch: Willgerodt (1988), S. 273 f f , 279 f. Die mit dem Wohlfahrtsstaat einhergehenden Maßnahmen wie progressive Einkommensbesteuerung, staatliche Sozialversicherungen und deren Ausbreitung auf weite Bevölkerungsteile werden (meist) als „Fiskalsozialismus" {Röpke (1979a), S. 250) abgelehnt, da es sich dabei um massive Abweichungen vom Leistungs- und Subsidiaritätsprinzip (Rüstow (1955), S. 57) handele. Damit befinde man sich auf dem Weg in die Sklaverei; ebenso: Erhard (1962), S. 393, 506; Röpke (1979d), S. 226 ff. 105
Vgl. Röpke (1979d), S. 251 ff.; Eucken (1990), S. 125 f. Dieses Argument ist für das Modell in Kapitel C. relevant. 106
Rüstow (1956), S. 10. Im Unterschied dazu vertritt Müller-Armack die Auffassung, daß es eines zentralgestalteten Sozialversicherungssystems bedürfe. Dieses widerspreche einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht; vgl. Müller-Armack (1948), S. 133, 152. 107 So auch: von Hayek (1981b), S. 82 ff. „Die Zusicherung eines bestimmten Minimaleinkommens für jedermann oder eine Art von unterer Grenze, unter die keiner zu sinken braucht, selbst wenn er außerstande ist, für sich selbst zu sorgen, erscheint nicht nur als legitimer Schutz gegen ein Risiko, das allen gemeinsam ist, sondern notwendiger
52
Β. Soziale Marktwirtschaft
Uneinigkeit besteht bei den Autoren jedoch darüber, in welcher Form und wie intensiv die politischen Akteure die Möglichkeiten der Speziellen Sozialpolitik zur Behebung systembedingter Mängel nutzen sollten. Neben den Neoliberalen, die die Etablierung der Wettbewerbsordnung und obligatorische Versicherungen für ausreichend ansehen,108 gibt es Vertreter, die die Ergänzung der Marktwirtschaft um eine Spezielle Sozialpolitik - jenseits einer reinen Sicherungspolitik - fordern. Dabei gehen die ordoliberalen Vertreter einer Sozialen Marktwirtschaft hinsichtlich der Sozialpolitik in Einzelpunkten über die neoliberale Variante hinaus.109 Zu dieser Gruppe werden Eucken, Erhard sowie - mit Abstrichen - Rüstow und Röpke gezählt. Die weitreichendsten sozialpolitischen Vorstellungen finden sich schließlich bei den sozialliberalen Vertretern Müller-Armack und Böhm, die explizit, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, aktive staatliche Umverteilungspolitik fordern. Damit ergibt sich die in Abbildung 2.2 dargestellte Systematik bezüglich der Richtungen für eine Spezielle Sozialpolitik innerhalb der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. 110
Teil der Großen Gesellschaft, in der das Individuum nicht länger spezifische Ansprüche an die Mitglieder der besonderen kleinen Gruppe hat, in die hinein er geboren worden ist"; ebenda, S. 83; siehe auch: ders. (1971), S. 361. 108
Die Hauptvertreter der neoliberalen Variante sind von Hayek und Miksch.
109
„Ordoliberal" ist hier also anders zu verstehen als üblicherweise und bezieht sich ausschließlich auf das Ausmaß sozialpolitischer Interventionen. 110 Eine ähnliche Differenzierung findet sich bei: Becker, Helmut P. (1965). Es zeigt sich, daß die gewählte Zuordnung verschiedener Repräsentanten in einzelne Kategorien nicht immer eindeutig ist. Kaum einer der Protagonisten äußert sich nicht widersprüchlich zum Thema Sozialpolitik. So fordert ζ. B. Rüstow an einigen Stellen, daß eine Abweichung vom strengen Grundsatz der Leistungsorientierung nur im Falle unverschuldeter Notlagen zuzulassen sei; vgl. Rüstow (1956), S. 10; ders. (1959a), S. 76; ders. (1955), S. 45 ff. Gleichzeitig konstatiert er aber, daß eine Umverteilung „unvermeidlich [ist] ..., obwohl eine solche Egalisierung der Arbeitseinkommen den strengen Prinzipien der Marktwirtschaft widerspricht"; Rüstow (1959b), S. 15; siehe auch: ders. (1949), S. 151. Die einzelnen Zuordnungen ergeben sich vielmehr aus einer kritischen Würdigung der Grundtendenzen der Aussagen.
III. Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung
53
Abbildung 2.2: Sozialpolitik innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft
2. Die neoliberale Interpretation: Wettbewerb als soziale Veranstaltung Die zuvor als neoliberal gekennzeichneten Vertreter wie Miksch und von Hayek sehen in ihren Ansätzen keinen Raum für Umverteilungsmaßnahmen und unterstellen, „jede Abweichung vom Leistungsprinzip ... zerstört die Wettbewerbsordnung" 111. Von Hayek verweist besonders auf das Problem, daß ein Mehr an „materieller Freiheit" aufgrund von Umverteilungsaktivitäten zu einem Weniger an „formaler Freiheit" (Gleichheit in der Behandlung) führe. Je zahlreicher die Ausnahmeregelungen zugunsten bestimmter Gruppen seien, desto weniger allgemein seien die Regeln beschaffen und desto größer sei die Diskrepanz zwischen formaler Freiheit und erzielter sozialer Gerechtigkeit im Sinne einer Gleichverteilung: „Eine notwendige und nur scheinbar paradoxe Schlußfolgerung ... ist, daß die formale Gleichheit vor dem Gesetz sich im Widerstreit befindet, ja unvereinbar ist mit einer Politik, die bewußt die materielle oder substantielle Gleichheit verschiedener Individuen anstrebt und daß irgendeine Politik, die sich direkt das substantielle Ideal der
111
Miksch (1937), S. 55 f. Zur Definition von Leistung: vgl. Kapitel C.II, S. 37, Fußnote 55.
54
Β. Soziale Marktwirtschaft
Verteilungsgerechtigkeit zum Ziel setzt, zur Zerstörung des Rechtsstaates führen muß." 112
Die wesentliche Ursache für die von ihm befürchtete Zerstörung des Rechtsstaats sieht von Hayek darin, daß es denen, die über Verteilungsfragen zu entscheiden haben (Politiker), an einer geeigneten, allgemein verbindlichen moralischen Norm für die Aufteilung fehle: „Die sogenannte aufteilende Gerechtigkeit ist kein ursprüngliches Moralprinzip ..., [da] ein Kollektiv als solches keine sittlichen Verpflichtungen haben kann." 113 Dem Staat fällt eine Richterrolle zu, sobald er entscheidet, wer und in welchem Maße gefördert wird. Dies geschieht um so häufiger, je mehr er umverteilend eingreift, d. h., je mehr er speziellen Interessen gerecht werden will. Wenn der Staat sich bei Ausübung dieses Richteramts aber eben nicht auf eine wie immer geartete „natürliche Moralnorm" beziehen kann, wächst die Gefahr, daß Partikularinteressen, politisches Kalkül und Lobbyismus seine Entscheidungen beeinflussen. Die von ihm getroffenen Maßnahmen können im Extremfall den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz aushöhlen, nämlich dann, wenn sie sich als „willkürlich" darstellen, d. h., „wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung nicht finden läßt" 114 . Für von Hayek ist dies schon dann gegeben, wenn eine Maßnahme einzelnen, identifizierbaren Individuen oder Gruppen nutzt. 115 Mit der Anzahl der „richterlichen" (politischen) Entscheidungen und der damit einhergehenden Vielzahl unterschiedlicher Auslegungen verliert das Rechtssystem zugleich an Überschaubarkeit. Die Rechtssicherheit des einzelnen nimmt ebenso Schaden wie seine formale Freiheit. 116 Die neoliberalen Vertreter stellen den Grundsatz der kommutativen Gerechtigkeit als Wertmaßstab ins Zentrum der Argumentation und lehnen daraufhin ζ. B. eine progressive Besteuerung ab, da sie einen Verstoß gegen den Gleich-
112
Von Hayek (1991), S. 109; zur Kritik an diesen Vorstellungen: Zohlnhöfer (1992), S. 279 ff. 113
Miksch, (1950), S. 59, 60.
114
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 1, S. 52; zitiert nach Schwerdtfeger (1983), S. 188. 115 Nur „weil die Regel in Unkenntnis des Einzelfalles niedergelegt wird, und keines Menschen Wille über den Zwang zu ihrer Durchsetzung entscheidet, ist das Recht nicht willkürlich"; von Hayek (1981b), S. 185. 116
Vgl. Streit (1995), S. 14 ff.; ders. (1988), S. 34 ff. Dies gilt auch für die Zielbeziehung wirtschaftliche Freiheit und materielle Sicherheit. Kein Zielkonflikt besteht, wenn spezielle sozialpolitische Maßnahmen von allen Beteiligten begrüßt werden und daher effizienzsteigernd wirken. Dann wird die Freiheit des einzelnen nicht eingeschränkt.
III. Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung
55
heitsgrundsatz darstelle. 117 Hinsichtlich des Sicherungsgedankens folgt, daß die Unterstützung unverschuldet in Not Geratener nicht aufgrund irgendeiner gesellschaftsbezogenen Überlegung erfolgen darf, sondern ausschließlich aus dem individuellen Caritas-Gedanken, d. h. aus der individuellen „sittliche[n] Verpflichtung, Not zu verhindern" 118. Einschränkend weist Miksch jedoch darauf hin, daß das Marktergebnis nur als bedingt gerecht gelten könne, da ungleiche, nicht auf persönlicher Leistung beruhende, historisch überlieferte Eigentumsverhältnisse die heutige Marktverteilung beeinflussen können. In diesem Fall sei Umverteilung mittels eines adäquaten Vermögens- und Erbrechts zulässig, da sie nicht gegen das Leistungsprinzip verstößt. 119 3. Ordoliberale Vorstellungen: Die Notwendigkeit einer Speziellen Sozialpolitik Die Gruppe der Ordoliberalen, zu der hier neben Eucken, Röpke und Rüstow auch Erhard gerechnet wird, 120 bejaht grundsätzlich das Leistungsprinzip. Jedoch hält sie Korrekturen der marktbedingten Einkommens- und Vermögensverteilung für nötig und unvermeidlich, selbst wenn diese in ordnungspolitischer Hinsicht bedenklich sein könnten. Für Eucken sind Produktion und Verteilung des Sozialprodukts nicht voneinander zu trennen. 121 Gleichwohl betont er, daß die primäre Verteilung keinem ethischen Grundsatz folge und somit nicht - schon gar nicht a priori - als sozial gerecht angesehen werden könne. Unter gegebenen Umständen sei vielmehr eine aktive Umverteilungspolitik notwendig - z. B. mittels progressiver Besteu-
117
Von Hayek ( 1981 b), S. 391 f f , insb. S. 393.
118
Miksch (1950), S. 60.
119
Vgl. Miksch (1950), S. 61. Bspw. kann historisch bedingte Monopolmacht - also nicht Leistung - zu ungerechten Marktergebnissen geführt haben, die die heutige Eigentumsverteilung determiniert. 120
Erhard kann jedoch nur bedingt zu den programmatischen Köpfen gezählt werden, denn seine sozial-marktwirtschaftlichen Hauptwerke - „Wohlstand für alle" und „Deutsche Wirtschaftspolitik" - sind erst nach der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft als populärwissenschaftliche Bücher erschienen (1957 bzw. 1962). Da seine politische Bedeutung jedoch außer Frage steht, werden auch seine Überlegungen mit in die Betrachtung einbezogen. 121
„Die Verteilungspolitik ist ein eminent wichtiger Teil der Wirtschaftspolitik. Aber sie läßt sich nicht aussondern, und sie sollte von vornherein als das angesehen werden, was sie ist: als ein Glied des ordnungspolitischen Gesamtproblems"; Eucken (1990), S. 13; siehe auch: ebenda, S. 92.
56
Β. Soziale Marktwirtschaft
erung. 122 Eine solche steuerliche, d. h. prozeßpolitische, Umverteilung hält er jedoch für die „Second-best-"Lösung. Er präferiert demgegenüber ordnungspolitische Instrumente, die die primäre Einkommensverteilung beeinflussen sollen, wie ζ. B. eine stärkere, jedoch im Rahmen der Gesämtverfassung begrenzte Beteiligung der Arbeiter an Unternehmensentscheidungen sowie eine Entmachtung der Arbeitsmärkte. In diesem Zusammenhang sieht er die Gewerkschaften in einer positiven Rolle, wenn sie „dazu beitragen, die nachfragemonopolistische Situation auszugleichen und Löhne durchzusetzen, die den Wettbewerbslöhnen entsprechen. ... Hier tritt die wirtschaftliche Macht nicht in Widerspruch zur Wettbewerbsordnung." 123
Zugleich warnt Eucken aber vor dem Risiko des Machtmißbrauchs von gewerkschaftlicher Seite, der zu überhöhten Löhnen und Inflexibilitäten führen könne. Auch Rüstow sieht in einer liberalen und individualistischen Wirtschaftsordnung die einzige Form, „in der sich die Forderung wirtschaftlicher Gerechtigkeit erfüllen läßt ... [und] zugleich ... ein Maximum an Freiheit und Würde garantiert [wird]" 124 . Ausdrücklich wendet er sich gegen den reinen Versicherungsstaat, in dem jeder gegen alle Risiken kollektiv versichert ist. Dieser würde alle Leistungs- und Risikoanreize zunichte machen und letztlich in ein System der Unfreiheit fuhren. 125 Zwar akzeptiert Rüstow eine Ungleichheit der Einkommen in Abhängigkeit von der Ungleichheit der Leistung. Im Gegensatz zu den Neoliberalen hält er jedoch auch sozialpolitische Anpassungsinterventionen für sinnvoll. Zudem betrachtet er es, wie auch Miksch, als ungerecht, wenn die Startbedingungen verfälscht sind, ζ. B. aufgrund ererbten Vermögens. Daher plädiert er einerseits für eine angemessene Erbschaftsteuer und andererseits für gleiche Ausbildungschancen unabhängig vom Einkommen der Eltern. Mit einer Nivellierung der Startbedingungen sei ein Maximum an wirtschaftli-
122
Vgl. Eucken (1990), S. 300 f. Hier steht von Hayek - und auch Böhm (siehe Kapitel B.III.4.) - in offenem Gegensatz zu Eucken; siehe auch: Woll (1989), S. 95, der darauf hinweist, daß das Kapitel zur Sozialpolitik in den „Grundsätzen" (S. 312 ff.) nicht von Eucken selbst stammt, sondern von seinem Mitarbeiter Hensel aus hinterlassenen Notizen verfaßt wurde (vgl. die Anmerkung auf S. 312 der „Grundsätze"). 123
Eucken (1990), S. 323.
124
Rüstow (1950b), S. 98.
125
Ähnliche Gedanken finden sich auch bei: Eucken (1990), S. 318 ff. Dieser betont neben vermögenspolitischen und bildungspolitischen Aspekten vor allem die Notwendigkeit von Sozialversicherungen - „... allerdings sollte hier das Moment der Konkurrenz viel stärker zur Geltung kommen, als das in vielen Ländern ... der Fall ist" (ebenda, S. 319) - und von staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen, sofern Selbsthilfe und Versicherung nicht ausreichen.
III. Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung
57
eher und sozialer Gerechtigkeit zu erreichen, denn „jedermann wäre dann seines Glückes Schmied"126. Rüstow wie auch Röpke betrachten solche Eingriffe nicht als reine Umverteilungsmaßnahmen, sondern als Elemente einer weit umfassenderen Vitalpolitik (Rüstow) bzw. einer dazu kompatiblen Strukturpolitik (Röpke)127. Beide sollen vor allem auf die Schaffung von Eigentum abzielen und auf diese Weise der Vermassung und Proletarisierung entgegenwirken. Röpkes Strukturpolitik zielt darauf ab, „die sozialen Voraussetzungen der Marktwirtschaft - die Einkommens- und Besitzverteilung, die Betriebsgröße, die Bevölkerungsverteilung zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft und zwischen den einzelnen Ständen"128 einander anzunähern. Damit geht dieser Absatz über die herkömmliche Sozialpolitik hinaus, da er sich bemüht, „die Empfindlichkeit und Labilität unserer vermaßten, proletarisierten und zentralisierten Gesellschaft durch Dezentralisierung, Entproletarisierung, Verankerung der Menschen in Selbstvorsorge und Eigentum und durch die Stärkung der gesunden Mittelschichten zu mildern und so eine innere Abfederung der Gesellschaft zu erreichen, mit deren Hilfe sie auch dem stärksten Schock der Wirtschaft ohne Panik, Verelendung und Demoralisierung widerstehen kann" 129 .
Eine in dieser Art gestaltete Sozialpolitik ist zu einem guten Teil Wirtschaftsordnungspolitik, da sie an den grundlegenden Strukturen der Gesellschaft ansetzt.130 Materiell geht sie jedoch über reine Ordnungspolitik hinaus, da sie in bemerkenswertem Umfang auch prozeßpolitische Elemente im Rahmen der Vermögens-, Mittelstandsförderungs- oder „konformen" Distributionspolitik vorsieht: „Indessen bemerken wir, daß es in keiner Weise der Marktwirtschaft widerspricht, wenn der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Zwangsmitteln (insbesondere
126 Rüstow (1950b), S. 97; ähnlich auch bei: Röpke (1979b), S. 363 f. Von Hayek sieht das Argument der Chancengleichheit im Bildungsbereich kritischer: „Es ist zumindest zu bezweifeln, daß eine Gesellschaft, in der Ausbildungsmöglichkeiten allgemein nach den mutmaßlichen Fähigkeiten vergeben werden, für die Erfolglosen erträglicher wäre, als wenn die Zufälligkeiten der Geburt zugegebenermaßen eine große Rolle spielen"; von Hayek (1971), S. 473. 127
So: Röpke (1979d), S. 159; Rüstow (1957b), S. 219 ff.; siehe auch Kapitel B.V.3.
128
Röpke (1979c), S. 79 (Hervorhebung im Original).
129
Röpke (1965), S. 296; vgl. dazu ausführlich: Röpke (1979b), S. 363; Rüstow (1950b), S. 92 f. sowie Kapitel B.V. 130 Vgl. u. a.: Röpke (1957), S. 10; ders. (1979c), S. 74 f. Damit ähnelt Röpkes Strukturpolitik stark der Euckenschen Vorstellung, nach der letztlich der eigentliche Hebel zur Lösung der sozialen Frage in einer umfassenden Erneuerung des Fundaments der Marktwirtschaft liege; vgl. Eucken (1948a), S. 111 ff.; ders. (1990), S. 312 ff.; siehe auch: Kapitel B.V.
58
Β. Soziale Marktwirtschaft
mit Hilfe der Besteuerung) zum Zwecke der gleichmäßigeren Distribution eine Umschichtung der Eigentumsverhältnisse vornimmt, und ebensowenig, wenn er ... aus Steuermitteln Zuschüsse zum Arbeiterwohnungsbau oder für die Wasserleitung von Bergdörfern leistet. ... Zwar können dabei gewisse Grenzen nicht überschritten werden, wenn nicht lähmende Wirkungen auf den Produktionsprozeß selbst entstehen sollen, aber es leuchtet ein, daß es sich dabei nicht um Maßnahmen handelt, die den Kern der Marktwirtschaft, nämlich die Preisbildung und den Leistungswettbewerb, selbst berühren." 131
Wie die angestrebte Eigentumsbildung gelingen kann, wird jedoch nicht klar herausgearbeitet: Ebenso wie von Hayek lehnen Rüstow und Röpke eine progressive Einkommensbesteuerung ab.132 Rüstow präferiert vermögenspolitische Maßnahmen (z. B. Erbschaftsteuer), 133 Röpke steht diesen Maßnahmen skeptisch gegenüber, indem er auf die Verbindung zwischen Vermögen, Vererbung und den geistig-moralischen Traditionen hinweist. Er geht sogar soweit zu fordern, daß man die „natürliche Aristokratie" nicht ihrer materiellen Grundlagen berauben dürfe, insbesondere wenn man bedenke, daß es mehrerer Generationen bedürfe, um den „aristokratischen Gemeinsinn" und seinen „Führungsgeist" zur vollen Blüte zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund sei eine Beschränkung des Erbrechts höchst schädlich.134 4. Die sozialliberale Variante: Die Betonung der staatlichen Umverteilungsfunktion Die Betonung des sozialen Elements in der Realität der Bundesrepublik Deutschland überrascht kaum, wenn man bedenkt, daß gerade die Vertreter der sozialliberalen Konzeption auch in der praktischen Wirtschaftspolitik neben Erhard am agilsten waren: Böhm als CDU-Bundestagsabgeordneter und Müller-Armack als langjähriger Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Die Vertreter der sozialliberalen Variante - vor allem Müller-Armack -, entkoppeln in hohem Maße das Markt- und Sozialsystem. Sieht der Ordoliberalismus die beiden Systeme über die Struktur- bzw. Vitalpolitik oder wie bei Eucken zu einem großen Teil über die Ordnungspolitik eng miteinander ver131
Röpke (1979b), S. 306; siehe auch: Röpke (1965), S. 268 f.
132
Vgl. von Hayek (1971), S. 397 ff.; Rüstow (1949), S. 151; Röpke (1979b), S. 180; ders. (1979d), S. 229 ff. 133
Vgl. Rüstow (1949), S. 151. Die Bedeutung einer „ungerechten" Besitzverteilung aufgrund der Historie betont auch: Miksch (1950), S. 61 f. 134
Vgl. Röpke (1979d), S. 194. Hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Implikationen dieser Vorstellung: siehe auch Kapitel B.V.3. - Inwieweit diese Gedanken noch als „liberal" angesehen werden können, muß an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Festzustellen bleibt aber, daß Röpke seine „Nobilitas naturalis" nicht genauer spezifiziert.
III. Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung
59
knüpft, erfolgt nun die gedankliche Trennung der beiden, bei der dem Markt eine rein instrumentale Rolle zugewiesen wird: 135 Sorge der geregelte Markt fur wirtschaftliche Effizienz, so soll die Politik soziale Gerechtigkeit und Sicherheit garantieren. Diese Trennung soll auch institutionell verankert werden: Müller-Armack z. B. will die Sozialversicherungen zentral eingerichtet sehen und schlägt Mindestlöhne vor, um die arbeitsmarktspezifischen Probleme der Lohnbildung zu lösen.136 Mit beiden Vorschlägen steht er im offenen Widerspruch zum Konformitäts- und Subsidiaritätsprinzip und auch zu den Vorschlägen der ordo- und neoliberalen Gruppen. Im Verständnis von Müller-Armack dient eine wirtschaftspolitische Konzeption immer der Bewältigung gegenwärtiger Probleme. Seine - im Zeitablauf beachtlich variierenden - Positionen werden daher am ehesten verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen Zeitströmungen betrachtet. Aus diesem Blickwinkel lassen sich seine Ausführungen erklären, die er 1933 in seiner Denkschrift „Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich" geäußert hat, die eine bedenkliche Nähe zu totalitärem Gedankengut aufzuweisen scheinen. Ebenso erschließt sich, warum er in den 60er Jahren die Notwendigkeit einer zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft (als vorweggenommene Antwort auf die Herausforderung der „68er") betont. Schließlich wird aber auch sein entschiedenes Eintreten und Werben für eine sozialpolitisch stark flankierte Soziale Marktwirtschaft nach 1945 einsichtig. In den Jahren nach 1945 erschien ein solches Engagement für eine „sozial gesteuerte" Wirtschaftsordnung angebracht, da die bisher diskutierten Varianten der Sozialen Marktwirtschaft unter einer bedenklich geringen Akzeptanz in der Bevölkerung litten. In den Augen vieler boten sie kaum einen wahrnehmbaren Vorteil gegenüber anderen wirtschaftspolitischen Vorstellungen wie z. B. der von Beveridge propagierten Vollbeschäftigungspolitik oder einer Politik der Verstaatlichung, wie sie unter Attlee in Großbritannien vollzogen wurde. Gegenüber diesen Ansätzen hat die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft den Nachteil, daß sie Elemente wie etwa das Privateigentum enthält, die den Strömungen des Zeitgeistes nicht entsprechen.137 In anderen Punkten, die mindestens vordergründig mit landläufigen Ansichten übereinstimmen, ergibt sich die Schwierigkeit einer deutlichen Abgrenzung. So wird auch im sozialistischen Dritten Weg die Notwendigkeit eines starken Staats betont, ohne daß sich
135
So auch: Blum (1969), S. 96 f.
136
Vgl. Müller-Armack
137
(1948), S. 146, 152.
Vgl. u. a.: Müller-Armack (1966a), S. 78 f.; ders. (1948), S. 125; Röpke (1979c), S. 49 f.; Miksch (1949), S. 318. Verwiesen sei hier auch auf das Ahlener Programm der CDU von 1947
60
Β. Soziale Marktwirtschaft
dem oberflächlichen Betrachter die grundlegenden Unterschiede zu seiner Rolle i n der Sozialen Marktwirtschaft aufdrängten. U m diesem Mangel an Popularität der neo- oder ordoliberalen Vorstellungen zu begegnen und eine Wirtschaftspolitik auf einem breiten Konsens zu gründen, hält Müller-Armack eine „sozial gesteuerte Marktwirtschaft" für notwendig. Müller-Armack geht insbesondere i n der Umverteilungsfrage über die anderen Varianten hinaus. Er ist wie auch B ö h m der Ansicht, die sozialen Vorteile eines ordnungspolitisch gesicherten Wettbewerbs allein seien gesellschaftlich unzureichend. 1 3 8 Das Leistungsprinzip w i r d zwar anerkannt, 139 doch führe der marktwirtschaftliche Einkommensbildungsprozeß zu Einkommensverschiedenheiten, die als „sozial unerwünscht" erscheinen und einen sozialen Ausgleich - auch unter „einer Berücksichtigung der staatlichen Erfordernisse" notwendig machen. 1 4 0 Müller-Armack verneint, daß m i t der Etablierung v o n Konkurrenzmärkten die „vollständige Natur des Menschen" umschrieben sei, w e i l dadurch noch nicht ausreichend den materiellen Erfordernissen Rechnung getragen werde: „Wir sehen die wirtschaftliche Sphäre nicht als erschöpfenden Lebensbereich, sondern als instrumentale Schicht, die als solche in ihren Gesetzlichkeiten begriffen werden muß, ohne daß damit die Notwendigkeit eines übergreifenden Rechts sozialer, staatlicher und geistiger Werte entfiele. ... [Daher bedarf die Marktwirtschaft, um sozial zu sein,] erheblicher sozialer, politischer, raumplanerischer und konjunktureller Sicherungen" 141.
138 „Der Hinweis auf die sozialen Vorteile eines gegen Macht und Monopole abgeschirmten Wettbewerbs genügt wohl noch nicht"; Müller-Armack (1950), S. 265 f. „Die spezifisch marktwirtschaftliche Verteilung ... kann an sich nicht den Anspruch erheben, eine gesellschaftlich befriedigende Endlösung zu sein ..."; Böhm (1954a), S. 86; siehe auch: ebenda, S. 77; ders. (1937), S. 32, Fußnote 4. 139
„Wir warnen allerdings davor, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit einander gleichzusetzen. Wer sich zur Freiheit als sittlichem Wert, zum echten Leistungswettbewerb und zur freien Preisbildung als organisierendem Wirtschaftsprinzip bekennt, für den bedeutet soziale Gerechtigkeit nicht 'jedem das Gleiche', sondern 'jedem das Seine', und zwar auf Grund seiner Leistungen"; Müller-Armack (1974b), S. 92. Siehe auch: Böhm (1937), S. 123. 140 141
Vgl. Müller-Armack
(1966a), S. 106.
Beide Zitate entnommen aus: Müller-Armack (1966a), S. 107. Oder an anderer Stelle: „Eine freie Ordnung verbürgt als solche noch nicht, daß in ihr bestimmte Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit, Wohlstand und Sicherheit erreicht werden. Sie bietet sich lediglich als Instrument an, möglichst viele dieser Werte zu realisieren, ohne den einen Wert dem anderen völlig opfern zu müssen"; Müller-Armack (1948), S. 144.
III. Sozialpolitik zwischen Sicherung und Umverteilung
61
Während Müller-Armack eher die faktischen Wirkungen einer Ungleichverteilung betont,142 geht es Böhm primär um deren psychologische Effekte: Einkommen hat verschiedene Quellen - Arbeit, Kapital, Boden -, die das Resultat der bestehenden Eigentumsordnung sind. Diese hat - wie Böhm weiter ausfuhrt - einerseits eine positive Anreizwirkung hinsichtlich der effizienten Verwendung von Ressourcen. Andererseits wird die „Lockwirkung" relativiert durch die negativen Folgen der aus ihr resultierenden Ungleichverteilung. Für das Gefühl bei den unteren Einkommensschichten, ungerecht behandelt zu werden, spielt dabei die reine Tatsache der Ungleichheit eine geringere Rolle als ihr (angenommenes) Ausmaß. Verstärkt wird das Problem nach Böhms Ansicht noch insofern, als die Entlohnungen nicht ausschließlich am eigenen Beitrag zum Output bemessen werden, sondern nach ihrer „volkswirtschaftlichen Dringlichkeit", d. h. nach den Wünschen der Nachfrager, auf die der einzelne jedoch keinen Einfluß hätte. Zwar entschärfe die wettbewerbliche Ordnung das Macht- und das damit verbundene Entlohnungsproblem, zusätzlich seien jedoch Maßnahmen zu ergreifen, die die negativen psychologischen Wirkungen in Form von Neid und dem Empfinden von Ungerechtigkeit mildern. 143 Ein sich danach aufdrängendes Umverteilungssystem müsse jedoch überlegt gestaltet werden. Darin liege die Aufgabe der Politik, wobei, so Böhm, dem politischen Ermessen durch die notwendige Rücksichtnahme auf den marktwirtschaftlichen Lenkungsmechanismus eine Grenze gesetzt sei. Direkte sozialpolitische Interventionen, wie z. B. Preisfixierungen, lehnt er ab, da dadurch der Markt blockiert werde. 144 Die Einkommensumlenkung zu jenen Schichten, die nicht am Einkommensprozeß teilnehmen können oder am Markt kein ausreichendes Einkommen erzielen, 145 soll vielmehr im Rahmen einer „Sozialpoli-
142
Müller-Armack (1966a), S. 85 f. und 132, geht es also um eine Verknüpfung von Leistungs- und Bedarfsprinzip. Letztlich spiegeln sich in diesen Spielarten einer marktwirtschaftlichen Ordnung die unterschiedlichen Vorstellungen über Gerechtigkeit und Freiheit wider. Während von Hayek die Bedeutung der Willensfreiheit in den Mittelpunkt rückt (formale Freiheit), geht es Müller-Armack um Handlungsfreiheit (materielle Freiheit). Betont der eine die formale Gerechtigkeit (von Hayek) in Form einer Gleichbehandlung, geht es dem anderen (Müller-Armack) um eine Angleichung mit dem Ziel der materiellen Gerechtigkeit. 143
Vgl. Böhm (1937), S. 116; ders. (1954a), S. 75 ff.
144
„Gegenüber direkten sozialpolitischen Eingriffen, die die Preisbildung selbst berühren, erscheint es richtiger zu sein, einen direkten Einkommensausgleich zwischen hohen und niedrigen Einkommen durch eine unmittelbare Einkommensumlenkung vorzunehmen"; Müller-Armack {1966a), S. 132. 145 Vgl. Böhm (1960b), S. 151 ff.; ders. (1954a), S. 75 ff. Wichtig in Böhms Verständnis ist dabei aber, daß er den modernen Wohlfahrtsstaat ablehnt; vgl. ders. (1960a), S. 82 ff.
62
Β. Soziale Marktwirtschaft
tik der Elastizität, der Anpassungskraft und der Ordnungskonformität" 146 erfolgen. In Übereinstimmung mit Böhm schlägt Müller-Armack einerseits die direkte Besteuerung des Einkommens vor, sofern sie „... jene Grenzen einhält, in denen die Marktanreize noch hinlänglich erhalten bleiben" 147 , andererseits Zuweisungen über Kinderbeihilfen, Mietzuschüsse oder Wohnungsbauzuschüsse, die im „Idealfall" marktgerechte Eingriffe darstellen sollen. Böhm sieht jedoch politische Gefahren in derartigen Maßnahmen bis hin zu der Befürchtung, daß in dem Augenblick, „in dem wir uns berufsweise zusammenrotten, um uns mit anderen Berufen um den Anteil an der Beute Sozialprodukt zu balgen,... wir gemeingefährlich [werden]" 148 . 5. Fazit Die vorangehenden Ausfuhrungen haben gezeigt, daß die Vorstellungen der Gründerväter hinsichtlich einer materiellen Sozialpolitik und somit einer distributiven Gerechtigkeit stark divergieren: Miksch und von Hayek lehnen jegliche Politik der Umverteilung ab, Müller-Armack hingegen plädiert für Umverteilungen bis an die Grenze der Belastbarkeit des ökonomischen Systems. Dazwischen findet sich die Gruppe der Ordoliberalen um Eucken, Röpke und Rüstow sowie der sozialliberale Böhm. Kaum zweifelhaft erscheint dabei, daß die politische Lenkungsintensität desto mehr zunimmt, je deutlicher die sozialpolitische Aufgabe in den Vordergrund tritt - Müller-Armack selbst spricht von einer „gesteuerten Marktwirtschaft" 149 . Soll die staatliche Lenkungskomponente die marktliche Allokationskomponente nicht stören, ist es notwendig, geeignete und verläßliche Kriterien für eine angebrachte Begrenzung von Ausmaß und Intensität staatlicher Interventionen zu bestimmen. Inwieweit diese vom Konformitäts- und Subsidiaritätskriterium geleistet werden kann, wird im folgenden Abschnitt erläutert.
146 Böhm (1956), S. 20. Dies sei im Falle der progressiven Einkommensbesteuerung jedoch nicht der Fall; vgl. ders. (1937), S. 116. 147
Müller-Armack (1948), S. 152. Den sozialpolitischen Spielraum erachten beide Vertreter jedoch als beträchtlich; vgl. Müller-Armack (1966a), S. 133, ders. (1948), S. 152, ders. (1956), S. 391 f.; Böhm (1937), S. 116; ders. (1960b), S. 152 f. 148 Böhm (1954b), S. 39. Aus dem Kontext ergibt sich aber, daß diese Ausführungen weniger in sozialpolitischer Hinsicht relevant sind, sondern sich eher auf Kartelle beziehen. 149
Vgl. Müller-Armack (1966s), S. 110, wobei er die „marktwirtschaftliche Lenkungswirtschaft" ablehnt; ebenda.
IV. Marktkonformität und Subsidiarität
63
IV. Marktkonformität und Subsidiarität als Begrenzungskriterien für staatliches Handeln Die Gründerväter erwarteten, daß das Konformitätsprinzip als Beurteilungsmaßstab hinsichtlich der funktionalen Verträglichkeit einer Maßnahme mit dem marktwirtschaftlichen System dienen könne. Es kann als horizontales Begrenzungskriterium interpretiert werden, insofern als die Ebene staatlichen Handelns unberücksichtigt bleibt. In vertikaler Hinsicht soll das Subsidiaritätsprinzip staatliches Handeln leiten. Mittels dieses Kriteriums sollte die vorgelagerte Frage geklärt werden, welche der staatlichen Ebenen Handlungsträger sein soll. 1. Das Konformitätsprinzip Nach den Vorstellungen der Gründerväter soll staatliches Handeln unabhängig von seiner spezifischen Ausgestaltung die Ziele Freiheit und soziale Gleichheit - wie immer diese im einzelnen definiert werden - irenisch miteinander verknüpfen. Sie sind der Ansicht, daß diese Kombination am besten durch eine indirekte 150 Lenkung unter Beachtung des Grundsatzes der Konformität gelingen könne.151 Hier wird an Euckens Vorstellung der Interdependenz angeknüpft, nach der „alle Einzelfragen, auch die sozialpolitischer Art, ... stets im Rahmen der Gesamtentscheidung zu lösen"152 seien. Die von vielen als deutlichste angesehene Ausformulierung des Konformitätskriteriums findet sich bei Röpke. Demnach sind solche Interventionen konform, „die die Preismechanik und die dadurch bewirkte Selbststeuerung des Marktes nicht aufheben, sondern sich als 'Daten' einordnen und von ihr assimiliert werden, nichtkonform solche, die die Preismechanik lahmlegen und daher durch planwirtschaftliche (kollektivistische) Ordnung ersetzen müssen, [sie!] ... Die Wiederherstellung des äußeren Gleichgewichts einer Volkswirtschaft ... stellt eine konforme Intervention dar. Nichtkonform ist hingegen eine Devisenzwangswirtschaft, da sie es unmöglich
150 „[In gleicher Weise wie; der Verf.] durch die Leistungskonkurrenz der Bevorzugten der Anteil der Benachteiligten wächst, während gleichzeitig durch den Wettbewerb für eine stetige Nivellierung des Leistungsvorsprungs gesorgt wird ..., ist die Spannung zwischen Freiheit und Gerechtigkeit nur in einer indirekten Ordnung zu lösen, welche die Freiheit zu handeln so lenkt, daß sie mit den eben genannten Zielen konform wirkt"; Müller-Armack (1948), S. 144. 151
Überblicke bei: Tuchtfeldt (1960), S. 210 ff.; S. 242 ff.; Gutmann (1980), S. 137 ff.
Becker, Helmut
P. (1965),
152 Eucken (1990), S. 321. Dabei können die Euckenschen Prinzipien als Konformitätskriterien interpretiert werden; vgl. dazu: Grossekettler (1997), S. 52 ff.
64
Β. Soziale Marktwirtschaft
macht, daß der Markt durch das automatische Spiel von Angebot und Nachfrage sein Gleichgewicht findet. ... Wer sich den Unterschied klarmachen will, vergleiche den völlig konformen Charakter von Bestimmungen über den Ladenschluß oder die Sonntagsruhe mit einem Investitionsverbot." 153 Röpke 1 5 4 und stärker noch Rüstow plädieren i m Rahmen des Kriteriums für eine Intervention der „dritten A r t " (Rüstow). Dieser „liberale Interventionismus" sei strikt von den Eingriffen des Wirtschaftsstaats alter Prägung zu trennen, denn „wenn ... Einigkeit darüber besteht, daß jener neue Gleichgewichtszustand, der sich bei freiem Ablauf ergeben würde, wenn auch erst über viele Reibungsverluste und Unerträglichkeiten hinweg, an und für sich die richtigste Lösung sein würde, so läge es doch eigentlich sehr nahe, zu versuchen, diesen Zustand eingreifenderweise sofort herbeizuführen und nur die Zwischenzeit, die sonst vergehen würde, bis der neue, in sich haltbare Zustand erreicht ist, diese Zeit des aussichtslosen Kampfes, des Niedergangs und des Elends, sozusagen auf Null abzukürzen. Das wäre ein Eingreifen in genau der entgegengesetzten Richtung, als in der bisher eingegriffen worden ist, nämlich nicht entgegen den Marktgesetzen, sondern in Richtung der Marktgesetze, nicht zur Aufrechterhaltung des alten, sondern zur Herbeiführung des neuen Zustandes, nicht zur Verzögerung, sondern zur Beschleunigung des natürlichen Ablaufs. Also sozusagen ein liberaler Interventionismus ..." 155 Rüstow geht m i t dieser Forderung nach Anpassungsinterventionen über die Vorstellung Euckens hinaus, der m i t B l i c k auf die von i h m geforderte konstante Wirtschaftspolitik
besondere Maßnahmen für „wahrscheinlich
nicht
nötig" hält. 1 5 6 Rüstow und Röpke dagegen sehen einen konjunkturpolitischen Handlungsbedarf, wenn auch nur i m Falle „sekundärer Krisen" (wie es ζ. B. die Weltwirtschaftskrise war), deren Bewältigung einer „Initialzündung" durch ein Konjunkturprogramm bedürfe. 157 Das soll jedoch nicht auf eine allgemeine Konjunkturpolitik i m Sinne von Keynes hinauslaufen, denn Röpke hält aus-
153
Röpke (1979b), S. 259 f. (Hervorhebung im Original).
154
Vgl. Röpke (1929), S. 866.
155
Rüstow (1932a), S. 64 f.; ähnlich bei: Müller-Armack
156
(1966a), S. 145 ff.
Vgl. Eucken (1990), S. 311. Böhm stimmt hier Eucken ausdrücklich zu, wenn er fordert, „daß prinzipiell erstens unter mehreren Techniken der Intervention diejenige gewählt wird, die einer Wettbewerbsordnung am meisten konform ist, ... daß man es zweitens bei der geringsten Dosierung bewenden läßt, und daß drittens die Zahl der Interventionen auf dasjenige Maß beschränkt bleibt, das sich politisch gerade noch verantworten läßt"; Böhm (1950), S. XXXIII. Rüstow verkennt offensichtlich das von von Hayek betonte Wissensproblem, nach dem „we cannot expect that this problem [the rapid adaptation to changes; der Verf.] will be solved by first communicating all this knowledge to a central board which, after integrated all knowledge, issues its orders"; von Hayek (1945), S. 524. 157
Vgl. Rüstow (1932b), S. 153 ff.
IV. Marktkonformität und Subsidiarität
65
schließlich geldpolitische Instrumente zur konjunkturellen Stabilisierung für akzeptabel.158 Müller-Armack geht wiederum über diese Empfehlungen hinaus und befürwortet geld-, kredit- und konjunkturpolitische Interventionen grundsätzlich. Zwar sieht auch er Gefahren, z. B. durch eine zu hohe staatliche Verschuldung, doch glaubt er, mittels der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen könne der „Gang der Wirtschaft" insgesamt begünstigt werden und steht u. a. dem Rooseveltschen New-Deal positiv gegenüber. 159 Dieses weitreichende Konformitätsverständnis erklärt sich dadurch, daß Müller-Armack nur einen expliziten Marktbezug herstellt, was angesichts der von ihm vorgenommenen Trennung der Bereiche Wirtschaft und Soziales nicht überrascht. 160 Dagegen interpretiert Röpke das Konformitätskriterium im weiteren Sinne als Systemkonformität und wendet es sowohl auf ordnungs- als auch auf prozeßpolitischer Ebene an. Daß Müller-Armack die Subsysteme Wirtschaft und Soziales weitgehend voneinander abkoppelt, erlaubt ihm auch, eine extensive Interventionspolitik zu empfehlen. Er betrachtet sogar Subventionen noch als „marktgerecht" 161 und strebt ein „Maximum möglicher Sozialgestaltung" an, wobei er unterstellt, daß „zwischen Antimarktwirtschaftlichkeit und völliger Marktkonformität ... eine Zwischenschicht noch mit der Marktwirtschaft verträglicher Maßnahmen"162 existiere. Für wie umfangreich Müller-Armack diese Schicht hält, wird deutlich, wenn er ausführt: „ob wir die durch die marktwirtschaftliche Einkommensverteilung gegebenen Bedarfsgrößen einfach annehmen oder durch eine Einkommensumschaltung verändern, ist für den Rechnungsapparat gleichgültig" 163 .
Selbst marktinkonforme Maßnahmen erscheinen für Müller-Armack nicht unbedingt bedenklich, da er davon ausgeht, daß „die Marktwirtschaft einen guten Teil nicht marktkonformer Maßnahmen ohne Einbuße ihres Wesens ertragen kann" 164 . Er steht mit dieser Auffassung allerdings nicht allein da, denn Röpke und Erhard sehen dies ähnlich: Im offensichtlichen Widerspruch zur Interdependenzthese nahm der damalige Wirtschaftsminister an, daß als (politisch) notwendig erachtete Beschränkungen, u. a. auf dem Gebiet der Wohnungswirtschaft, „die marktwirtschaftliche Ordnung im ganzen nicht gefähr-
158
Vgl. z. B. Röpke (1959b); siehe auch: Haselbach (1991), S. 45 ff.
159
Vgl. Müller-Armack
(1966a), S. 159 ff.
160
Siehe auch: Tuchtfeldt
161
Vgl. Müller-Armack
(1960), S. 218 ff.
{1966a), S. 132 f.; ders. (1948), S. 152; ders. (1956), S. 391.
162
Müller-Armack
(1950), S. 265 f.
163
Müller-Armack
( 1966a), S. 114.
164
Müller-Armack
(1966d), S. 258.
5 Rauhut
Β. Soziale Marktwirtschaft
66
den4'165. Röpke pflichtet ihm insofern bei, indem er konstatiert, daß in Randbereichen „eine Suspendierung der Marktwirtschaft keine unmittelbaren Folgen für die Wirtschaftsordnung als ganzes haben wird, so bedenklich sie auch im übrigen sein mag" 166 . Das Konformitätskriterium wird demnach so weit und unterschiedlich interpretiert, daß sich letztlich im Rahmen der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft jeder das aussuchen kann, was ihm gefällt. Damit verliert jedoch das Kriterium völlig an normativer Kraft. 167 2. Das Subsidiaritätsprinzip Die meisten Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft befürworten den Grundsatz einer „soziale[n] Staffelung von unten nach oben" 168 . Es geht ihnen um eine Maximierung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe. 169 So besteht Rüstow darauf, daß der Eigenfürsorge das Primat zukommen solle.170 Er verkennt jedoch nicht, daß dazu jeder zunächst über ein ausreichendes Einkommen verfügen muß, um davon Eigenfursorge betreiben zu können. Da zudem nicht jeder einzelne sich der Bedeutung von Fürsorgemaßnahmen bewußt sei, könne es vonnöten sein, diese Eigenfürsorge für obligatorisch zu erklären. Das läuft jedoch nicht automatisch auf eine staatliche Zwangsversicherung hinaus, wenn auch in Realsystemen weiterhin Gebiete für eine Sozialfürsorge existieren werden. Gemäß der Forderung Röp-
165
Erhard (1962), S. 149.
166
Röpke (1959a), S. 200.
167 Vgl. zu einer genaueren methodischen Diskussion des Konformitätskriteriums: Radnitzky (1993), S. 466 ff. sowie die Starbatty-deJasay-Debatte in Ludwig-ErhardStiftung (1993), S. 9 ff.; zusammenfassend bei: Cassel/Rauhut (1998), S. 18. 168
Vgl. Rüstow (1956), S. 12 f f , hier: S. 13; ders. (1957b), S. 219 ff.; so auch bei: Böhm (1950), S. X X X I I I ; Röpke (1979d), S. 347 f.; ders. (1979c), S. 179; Eucken (1990), S. 348. Ähnlich bei Erhard (1962), S. 303 f , der betont, „daß das Subsidiaritätsprinzip als eines der wichtigsten Ordnungsprinzipien für die soziale Sicherung anerkannt und der Selbsthilfe und Eigenverantwortung so weit wie möglich der Vorrang eingeräumt wird". 169
So sieht Müller-Armack das Subsidiaritätsprinzip schon ansatzweise in der frühliberalen „Sozialpolitik" des 18. und 19. Jahrhunderts verwirklicht, in den Selbsthilfeeinrichtungen der Sparkassen oder Genossenschaften. Diese begrüßt er; vgl. MüllerArmack (\94S), S. 128 f , 148; ders. (1952), S. 241. 170 Oder wie Eucken (1990), S. 319, es ausdrückt: „Wenn Selbsthilfe und Versicherung nicht ausreichen, sind staatliche Wohlfahrtseinrichtungen notwendig. Aber der Akzent sollte, wo irgend angängig, bei der Stärkung der freien Initiative des einzelnen liegen."
IV. Marktkonformität und Subsidiarität
kes und Rüstows nach Dezentrismus und Dezentralisierung jedoch eng zu begrenzen
67
sind diese Bereiche
In dieser sozial-marktwirtschaftlichen Sicht kann man das Subsidiaritätskriterium als Prinzip des minimalen Zwangs und zugleich als Maßstab für die Begrenzung staatlicher Macht interpretieren, denn es soll ein Höchstmaß an individueller Freiheit und das unverzichtbare Muß an öffentlicher Macht miteinander in Einklang bringen. 171 Hier spiegelt sich das ordoliberale Verständnis der sozialen Frage als einer nach der Freiheit des Menschen wider. Das gilt jedoch nur für diese negative Interpretation des Subsidiaritätsprinzips. Betrachtet man statt dessen den positiven Grundsatz, wie er in der katholischen Soziallehre vorhanden ist, aus der er Eingang in die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft fand, 172 verlieren seine Konturen an Eindeutigkeit. Folgt man von Nell-Breuning, besitzt das Subsidiaritätsprinzip als Aufgabenzuordnungsvorschrift zwei Ausprägungen: 173 Negativ interpretiert entspricht es dem ordoliberalen Verständnis: In dem Umfang, in dem sich ein Mitglied der Gesellschaft selbst helfen kann, erwächst diesem sowohl das Recht als auch die Pflicht dazu. Erst wenn das Individuum dazu nicht mehr in der Lage ist, geht die Aufgabe auf die nächst größere Gruppierung über. Dann gewinnt die positive Seite des Grundsatzes an Relevanz, nach der die Gemeinschaft verpflichtet ist zu helfen. Dabei darf die Gruppe dem einzelnen Hilfe weder vorenthalten noch aufdrängen. Die positive Variante erfordert auch, daß jedes Mitglied sich an der Bereitstellung des Gemeinschaftsguts beteiligt; jeder einzelne hat Anspruch auf die Mitwirkung jedes anderen. Meistens wird das Kollektiv dafür gewisse Organe schaffen, durch die die einzelnen Glieder wirken und durch die allgemeine Gemeinschaftsgüter wie öffentliche Verwaltungen, Schulen und soziale Sicherheit bereitgestellt werden - dies schließt auch die Form einer allgemeinen Zwangsversicherung ein. Das Subsidiaritätsprinzip besagt dann nur, daß die nächste oder engste Gemeinschaft diese Institutionen bereitzustellen hat. Im konkreten Fall läßt sich jedoch nicht immer eindeutig feststellen, was die nächste Gemeinschaft sein soll, da u. U. die Ebenen nicht trennbar oder ausrei-
171 Vgl. Hensel (1949), S. 229; vgl. zu dieser negativen Variante: Kliemt. (1997), S. 187 ff. Die Ursprünge des Subsidiaritätsprinzips lassen sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen; Thomas von Aquin und die Scholastiker greifen es dann auf; vgl. von Nell-Breuning (1990), S. 87 f. Schließlich findet der Terminus selbst durch die päpstliche Enzyklika Quadragesimo Anno Einzug in die katholische Soziallehre; vgl. zur Genese des Prinzips: Feld/Kirchgässner (1995a), S. 3 ff. 172
Vgl. Hensel (1949), S. 229 ff.
173
Vgl. im folgenden: von Nell-Breuning (1962), Sp. 826 ff.; ders. (1990), S. 93 ff.
68
Β. Soziale Marktwirtschaft
chend autonom sind. Außerdem ist dieser Ansatz in erster Linie institutionell und gibt keine Auskunft darüber, wann eine untergeordnete Ebene nicht mehr helfen kann und nach welchen Kriterien Hilfen gewährt werden sollen.174 Neben den o. a. Kollektivgütern kann der Staat auch individuelle Leistungen an den einzelnen („Umverteilungsgüter") zur Verfügung stellen, was zum Begriff der individuell-rechtlichen Subsidiarität 175 führt. Auch was Anlaß und Umfang dieser dem einzelnen zugute kommenden Subsidiarität betrifft, gehen die Auffassungen auseinander: Die einen wollen dem einzelnen nur dann Hilfe widerfahren lassen, wenn seine Not das Wohl der Gemeinschaft („bonum commune") in Mitleidenschaft zieht. Andere hingegen vertreten die Ansicht, jedem Individuum erwüchse ein echter subjektiver Anspruch auf Tätig werden des Staats und damit ein Recht, unabhängig von den Rückwirkungen auf das Allgemeinwohl, an den öffentlichen Leistungen „teilzuhaben".176 (Dieses Verständnis liegt den Sozialhilferegelungen zugrunde.) Das Subsidiaritätsprinzip i. S. d. katholischen Soziallehre, auf das sich die Gründerväter beziehen, steht somit den verschiedenartigsten Interpretationen offen: Es begegnen sich ein institutioneller und ein individueller Ansatz; wobei letzterer wiederum zum einen auf ein positives Forderungsrecht zurückgeführt oder zum anderen als vom Allgemeinwohl abgeleiteter Grundsatz verstanden wird. Damit ergeben sich die unterschiedlichsten Möglichkeiten, ein subsidiäres Sozialsystem politisch auszugestalten, mit dem Ergebnis, daß sich fast jeder auf das Prinzip berufen kann. Es erscheint beispielsweise fraglich, ob eine obligatorische Rentenversicherung dem Grundsatz der Subsidiarität genügt. Die Frage könnte bejaht werden, wenn ein auf das Gemeinwohl abzielendes Subsidiaritätsprinzip verlange, daß jeder bei der Bereitstellung des Kollektivguts teilnehme bzw. daß dazu ein entsprechendes Organ zu schaffen sei. Dann ergibt sich allerdings das Problem, ob die Rentenversicherung als private oder staatliche Zwangsversicherung institutionalisiert wird. Die private Alternative stellt sich für von Nell-Breuning - überraschenderweise - gar nicht: Für ihn kommt nur eine staatliche Versicherung in Frage, denn er präferiert das Umlageverfahren, das sich privatwirt-
174
Vgl. Diekmann (1994), S. 196 ff.
175
Diese ist, wie von Nell-Breuning betont, eng verwandt mit dem Solidaritätsprinzip , so daß es „bis zu einem gewissen Grad willkürlich [ist], ob man den Gehalt dieses Zentralbegriffs [gemeint ist das bonum commune; der Verf.] unter dem Stichwort der Subsidiarität oder der Solidarität entfaltet"; von Nell-Breuning (1962), Sp. 831. 176 Diese strittige Diskussion findet sich unter anderen Aspekten, aber inhaltlich und vom Umfang her durchaus vergleichbar unter dem Schlagwort „Grundrechte als Teilhaberrechte" auch im juristischen Bereich wieder; vgl. Scholz (1983), S. 30, 32 ff. m. w. N.
IV. Marktkonformität und Subsidiarität
69
schaftlich kaum realisieren ließe. Diese dem ordoliberalen Subsidiaritätsverständnis zuwiderlaufenden Ausgestaltungsvorstellungen verdeutlichen, daß es sich bei dem Subsidiaritätsprinzip um keine allgemeingültige Regel handelt, sondern um eine fallweise zu interpretierende Richtlinie. 177 Somit ergibt sich aus dem Subsidiaritätsprinzip - sofern es im Sinne der katholischen Soziallehre interpretiert wird - kein Kriterium für den Aufbau einer Staats-, Gesellschafts- oder Wirtschaftsordnung. Das Beziehungsgeflecht der einzelnen Ebenen bleibt ebenso unklar wie die Aufgabenzuordnungen und wann welche Ebene zum Handeln verpflichtet ist. Daher kann es für unterschiedliche politische Zwecke instrumentalisiert werden und ist als Begrenzungs- bzw. Zuordnungsvorschrift kaum geeignet.178 3. Fazit Es muß also festgehalten werden, daß weder das Konformitäts- noch das Subsidiaritätsprinzip ausreichend konkrete politische Handlungsbegrenzungen darstellen. Bedenkt man darüber hinaus, daß sich die Vorstellungen zur sozialpolitischen Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft teilweise deutlich unterscheiden, ist festzustellen, daß ein Leitbild im Sinne eines wie auch immer gearteten Idealtypus der Sozialen Marktwirtschaft nicht bestimmt werden kann. Das erklärt die mangelnde Zugkraft dieses Gedankenkonstrukts im politischen Prozeß und bedeutet zugleich, daß alle Vorschläge, die vorgeblich die Realität an „das Leitbild" anpassen wollen, sich den Vorwurf der Beliebigkeit gefallen lassen müssen. Dem staatlichen Handeln kommt im Rahmen der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft wesentliche Bedeutung zu, doch sind - wie dargelegt - die Begrenzungskriterien für den laufenden („post-konstitutionellen") politischen 177 Vgl. von Nell-Breuning (1960), S. 26. Die Präferierung des Umlageverfahrens ist um so verwunderlicher, als dadurch der Grundsatz der „engsten Gemeinschaft" durchbrochen wird: Mehrere Generationen werden zu einer Gemeinschaft verbunden; vgl. ebenda, S. 344. Die „Beliebigkeit" dieses Grundsatzes äußert sich auch in von NeilBreunings Übereinstimmungen mit den sozialpolitischen Grundsätzen des DGB von 1959 (S. 211 ff.). Noch einen Schritt weiter geht Engelhardt unter Berufung auf eine andere Textquelle von Neil-Breunings. Demnach differenziere von Nell-Breuning zwischen einem engen Verständnis von Subsidiarität (Ansatz bei der kleinsten Einheit) und einem weiten, das die grundsätzliche Notwendigkeit gesteigerter staatlicher Fremdhilfen anerkennt. In diesem Verständnis kehrt sich der klassische Subsidiaritätsbegriff geradezu um; vgl. Engelhardt (1995), S. 6 ff. 178 Siehe auch: Dichmann (1994), S. 203, der einen „modernen" ordoliberalen Entwurf für ein „subsidiäres" Wirtschafts- und Sozialsystem präsentiert (ebenda, S. 237 ff.).
70
Β. Soziale Marktwirtschaft
Prozeß eher vage. Unter dieser Prämisse spielt der Aufbau des Staats, in dem die Konzeption verwirklicht werden soll, - sozusagen als Startbedingung - eine besondere Rolle. Die dahingehenden „konstitutionellen" Überlegungen der Gründerväter werden im folgenden dargestellt.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats bei der Umsetzung der Konzeption 1. Zur Interdependenz von Marktwirtschaft und Demokratie Die Gründerväter sowie ihre späteren Interpreten stimmen darin überein, daß der starke Staat die Rolle der „ordnenden Potenz" (Eucken) übernehmen soll, die die Wettbewerbsordnung etabliert und für die sozial- und gesellschaftspolitische Absicherung sorgt. 179 So eindeutig wie die Zuweisung der Gestaltungsaufgabe für den Ordnungsrahmen auf den Staat ist, so umstritten ist, trotz der ausfuhrlichen Behandlung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft in den Ursprungstexten, welchen Aufbau und welche innere Struktur dieser Staat haben soll. Aus der Erkenntnis, daß der Erfolg der Wettbewerbswirtschaft in erster Linie von der Stärke des Staats abhängt, gelangt Eucken zur Neuinterpretation seiner Rolle. 180 Der starke Staat soll, basierend auf einer einheitlichen Willensbildung, nach Vernunftsgründen handeln.181 Damit stellt sich die Frage, wie ein solcher einheitlicher Staatswille zu erreichen ist. Einige Exegeten vertreten die Auffassung, der von Eucken favorisierte starke Staat könne nur demokratisch organi-
179
Eine moderne institutionenökonomische Rechtfertigung dieser Überlegungen im Sinne der Lösung sozialer Dilemmata durch den Staat findet sich ζ. B. bei: Buchanan (1975); Mueller, Dennis C. (1996), S. 50 ff. Im Gegensatz zu der hier vertretenen These, in den verschiedenen Varianten der sozial-marktwirtschaftlichen Konzeption gäbe es hinreichend viele Übereinstimmungen bezüglich des Staatsverständnisses, versuchen Lange-von Kulessa und Renner diametrale Unterschiede zwischen dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule und der Sozialen Marktwirtschaft Müller-Armacks zu begründen; vgl. Lange-von Kulessa/Renner (1998), S. 81 ff. Ursächlich für diese unterschiedlichen Ansichten ist die Tatsache, daß sich die beiden Autoren ausschließlich auf frühes Schrifttum von Müller-Armack konzentrieren und übersehen, daß sich die Ansichten Müller-Armacks im Zeitablauf stark änderten; siehe für eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Thesen Lange-von Kulessas und Renners auch: Willgerodt (1998), S. 70 ff. 180
Siehe auch: Lenel(\915\
181
Vgl. Eucken (1990), S. 329 f.; Böhm (1950), S. XXVIII.
S. 56.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
71
siert sein.182 Andere halten dem die Behauptung entgegen, die parlamentarische Demokratie passe nicht zu dem von ihm entwickelten Ordnungsbild. 183 So läßt Streissler in seiner Interpretation Eucken nach einem starken Staat „hungern", der, „wenn erst von den vielen Braunen und vielleicht auch einigen Roten gesäubert, mächtig sein und klug handeln werde" 184 . Riese geht noch einen Schritt weiter, indem er eine „Dichotomie von totaler Freiheit, sich eine Wirtschaftsordnung zu wählen und totalem Zwang, die Wirtschaftspolitik an der einmal getroffenen Wahl auszurichten" 185 ausmacht und diesen Gedanken folgend Eucken vom Zeitgeist geprägt sieht: „Die Parallele ist überdeutlich. Auch der faschistische Führerstaat bezog seine Legitimation aus einem singulären Akt des Volkswillens; ebenso verlangte die Verwirklichung und Sicherung des Volkswillens dann eine entsprechend rigorose Politik." 1 8 6
Kirchgässner stellt bezüglich des Ordoliberalismus im allgemeinen fest, daß dem Ruf nach dem starken Mann ein Bild staatlichen Handelns zugrunde liegt, „welches in der ökonomischen Theorie und insbesondere in der (deutschsprachigen) Finanzwissenschaft Tradition hat, das Bild des wohlmeinenden Diktators" 187 . Dieses (Vor-)Urteil scheint auch durch Aussagen Böhms untermauert zu werden, der fragt, ob „ein Nationalökonom oder ein Wirtschaftsrechtler bei seinen theoretischen Überlegungen nicht ganz schlicht einen nach Vernunftsgründen handelnden 'Staat' voraussetzen [darf]" 188 . Daran anknüpfend fordert Böhm an anderer Stelle, die Bildung der Marktpreise im Monopol sei der wirtschaftspolitischen Führung vorzubehalten, „die kein anderes Interesse kennt als die Pflege der nationalen Wohlfahrt im ganzen"189. Tietzel hingegen bestreitet
182 „Der Ordoliberalismus braucht also nicht nur einen 'starken', sondern auch einen demokratischen Staat"; Blum (1969), S. 63. 183
Vgl. von Beckerath (1953), S. 296.
184
Streissler (1973), S. 1424, der auch eine „Rousseau'sehe Machtneurose" bei Eucken ausmacht; vgl. ebenda. An anderer Stelle definiert er Soziale Marktwirtschaft hingegen als einen „Kompromiß zwischen parlamentarischer Demokratie mit gleichem Wahlrecht und Unternehmerwirtschaft ..."; Streissler (1990), S. 22. 185
Riese (1972), S. 37.
186
Riese (1972), S. 37. Diese, stark an Rousseausche Gedanken erinnernde Formulierung, verkennt jedoch völlig Euckens kritische Haltung zum „einheitlichen Volkswillen" im Rousseauschen Sinne; vgl. dazu: Eucken (1990), S. 361. 187
Kirchgässner { 1988), S. 59.
188
Böhm (1973), S. 18.
189
Böhm (1937), S. 141. Grossekettler erhebt den Vorwurf gegen Böhm, dieser sei Vertreter einer bei Juristen verbreiteten „paternalistischen" Staatsauffassung gewesen; Grossekettler , H. (1995), S. 13. Dieser und der von Kirchgässner erhobene Vorwurf lassen sich bei genauerem Literaturstudium leicht entkräften; vgl. Kapitel B.V.3.
72
Β. Soziale Marktwirtschaft
kategorisch, daß der Gedanke eines benevolenten Diktators dem ordoliberalen Staatsbild immanent sei, wobei er sich ebenfalls auf die ausführliche Diskussion der Rolle des Staats vor allem bei Eucken bezieht.190 Diese divergierenden Interpretationen bezüglich eines Sachverhalts in ein und demselben Forschungsprogramm überraschen; sie lassen sich jedoch damit erklären, daß die Autoren auf unterschiedlichen Ebenen argumentieren: Kirchgässner übersieht, daß im ordoliberalen Staatsverständnis eine Diagnose- und eine Therapieebene zu unterscheiden sind. Demnach läuft Kirchgässners Kritik, nach der die Ordoliberalen einer organischen Staatstheorie anhingen, auf der Diagnoseebene fehl, die Tietzel betont. Hier sehen die Sozialen Marktwirtschaftler in einem inadäquaten staatlichen Willensbildungsprozeß die Hauptursache für die „Krisis des Kapitalismus". Insofern findet sich hier ein Vorläufer der modernen Public-choice-Theorie. Auf der Therapieebene dagegen geht es den Ordoliberalen darum, einen organischen Staat zu schaffen, der „wohlmeinend" und über den Individualinteressen stehend das „Gemeinwohl" maximiert. Somit ist das staatspolitische Ziel der wohlmeinende Diktator. 191 Unklar bleibt jedoch zunächst, wie dieser wohlmeinende Diktator institutionell abgesichert werden soll. Festzustellen ist, daß die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft der bundesdeutschen Staatsordnung überwiegend positiv gegenübergestanden haben.192 Aus dieser Tatsache könnte man - im Sinne Blums und anderer - annehmen, ihnen wäre es um die Etablierung einer repräsentativen Demokratie gegangen. Diese Betrachtungsweise erscheint zunächst verständlich: Zwar steht das Grundgesetz der Wirtschaftsordnung formal neutral gegenüber, 193 doch finden sich in der vom Grundgesetz vorgegebenen politischen Ordnung zahlreiche Bestimmungen, die für das sozial-marktwirtschaftliche Programm wesentlich sind; namentlich wichtige Freiheitsrechte, die horizontale und vertikale Gewaltenteilung, Formen der staatlichen Selbstbeschränkung sowie das „Subsidiaritätsprinzip". 194
190
Vgl. Tietzel (\99\),S.
191
Ähnlich bei: Willgerodt
192
Zusammenfassend bei: Kloten (1986), S. 16 ff.
29. (1998), S. 64.
193
Vgl. ζ. B. zu dieser weit verbreiteten Auffassung: Maunz/Zippelius (1985), S. 235 f. De jure ergibt sich zwar eine Neutralität, de facto dürfte das Grundgesetz jedoch viele andere Ordnungsformen ausschließen. 194 Dies ist aber auf keinen Fall hinreichend, denn auch in der Weimarer Verfassung finden sich zahlreiche „marktwirtschaftliche Bestimmungen". Streng genommen ging die Weimarer Verfassung sogar über die Bestimmungen des Bonner Grundgesetzes hinaus: Neben dem Recht auf Freizügigkeit (Art. 111), auf persönliche Freiheit (Art. 114) und Bildungsfreiheit (Art. 142) gab es ein ganzes Kapitel zur Ordnung des Wirtschaftslebens (Art. 151-165), das u. a. folgende Bestimmungen enthielt: eine freiheitliche und „gerechte" Wirtschaftsordnung (Art. 151), Vertragsfreiheit (Art. 152), das
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
73
In zahlreichen Abhandlungen zur Sozialen Marktwirtschaft wird denn auch hinsichtlich des Staatsaufbaus nur auf die meist eindeutig interpretierte Interdependenzthese verwiesen, nach der im Politischen die Demokratie und im Ökonomischen die wettbewerblich organisierte Marktwirtschaft zu etablieren und zu sichern seien.195 Prima facie erscheint dieses Argument berechtigt und ausreichend, finden sich doch bei vielen Gründervätern Verweise auf die Interdependenz von politischer und wirtschaftlicher Ordnung in diesem Sinne: • Müller-Armack betont, daß geistige und politische Freiheit in der Geschichte dort nie auf Dauer existieren konnten, wo ein geschlossener politischer oder wirtschaftlicher Machtapparat vorhanden gewesen sei. Mit einem Verweis auf Montesquieu stellt er fest, daß Freiheit nur dort gedeihen könne, wo die Machtmittel aufgeteilt seien. Dies gelte auch im Politischen.196 • Auch bei Rüstow finden sich derartige Gedanken, wenn er in seinem Aufsatz über „die Fundierung der Demokratie und der Wirtschaftsordnung" schreibt, „daß zwangsläufige Interdependenzen, zwangsläufige wechselseitige Zuordnungen und Abhängigkeiten bestehen, und zwar in der Weise, daß die Planwirtschaft der Diktatur, der totalitären Staatsform, zugeordnet ist, und umgekehrt der Demokratie die Wirtschaftsfreiheit, daß nur die Wirtschaftsfreiheit ... die Grundlage der Demokratie bilden kann" 197 . • Für Böhm „qualifiziert sich ... die Wettbewerbsordnung als ein geradezu idealer sozialer Unterbau für eine demokratische Staatsordnung, denn sie beruht auf dem Gedanken, die Möglichkeit des Koordinierens freier Menschen unter geistvoller Inanspruchnahme psychologischer Reaktionsgesetzlichkeiten, gesellschaftlicher Spielregeln und Zivilrechtsordnungen bis zum Rande auszuschöpfen und der Methode der Subordinierung des Menschen unter menschliche Befehls- und Planungsgewalt nur soviel Spielraum zuzugestehen, als zum Schutz der Freiheitsordnung und zur Verhinderung typischer sozialer Unrechtslagen unbedingt erforderlich ist" 198 .
Recht auf Privateigentum und Vererbung (Art. 153, 154) - allerdings mit Ausnahmen bezüglich des Besitzes von Boden und des Rechts auf Vergesellschaftung (Art. 155, 156) -, Vereinigungsfreiheit, sofern dadurch nicht andere in ihren Freiheiten eingeschränkt werden sowie Schutzbestimmungen für den einzelnen (Art. 157, 160, 161). Trotz dieser formal ausreichenden Kodifizierung wird die Weimarer Demokratie von vielen Gründervätern als „Interessenhaufen"-Demokratie abgelehnt. 195
In jüngster Zeit: Streit (1995), S. 28; Watrin S. 17; Schlecht (1990), S. 49. 196
Vgl. Müller-Armack
197
Rüstow {\954\
198
5ö/*m(1980b), S. 87.
(1966a), S. 82 f.
S. 16.
(1990), S. 13 f., 23; Thieme (1991),
74
Β. Soziale Marktwirtschaft
• Für Erhard gehören „Demokratie und freie Wirtschaft ... logisch ebenso zusammen, wie Diktatur und Staats Wirtschaft". 199 • Von Hayek betont in seinem Werk die Interdependenz von Marktwirtschaft und Demokratie - so ζ. B. in seinem „Der Weg zur Knechtschaft", in dem er ein ganzes Kapitel darauf verwendet, die Unvereinbarkeit von Demokratie und Planwirtschaft zu illustrieren, und darauf hinweist, daß nur im Rahmen eines auf Wettbewerb und Privateigentum beruhenden Wirtschaftssystems die Demokratie möglich sei.200 • Eucken spricht ebenfalls von der „Interdependenz der Wirtschaftsordnung und Staatsordnung"; in seinem Hauptwerk findet sich allerdings kein direkter Bezug zur Demokratie, sondern ausschließlich zur Freiheit. Im Anschluß konstatiert er, daß die Grundsätze für die Ordnung des Staates und der Wirtschaft konform sein müssen.201 Was sich bei Eucken schon andeutet, wird bei näherem Literaturstudium Gewißheit: Letztlich ist die Haltung der Protagonisten doch nicht so eindeutig, wie es die vorgenannten Aussagen zunächst erscheinen lassen. In seiner 1933 verfaßten Schrift „Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich" zeigt beispielsweise Müller-Armack noch ein ganz anderes Verständnis der Interdependenz. Er beklagt, daß der Parlamentarismus nichts anderes als der „laisser faire im Politischen"202 sei und begrüßt die autoritäre Regierungsführung des Nationalsozialismus: „Der elementare Sinn des Führerprinzips ist nicht seine technische Zweckmäßigkeit für die staatliche Verwaltung, ist nicht, die Mängel der parlamentarischen Form zu beheben. Es ist vielmehr das politische Prinzip einer Zeit, die sich bewußt zur aktiven Geschichtsgestaltung bekennt und weiß, daß ohne die Vorgabe einer autoritären Geltung jede Regierung in Verwaltungstätigkeit oder parlamentarischer Abhängigkeit ersticken muß. ... So sehr sich dieses Führerprinzip von den Wegen der formalen Demokratie entfernt, so wenig kann es in einem tieferen Sinne undemokratisch genannt werden. Schon die Väter der Formaldemokratie, ζ. B. Rousseau, wußten, daß der Volkswille keineswegs so klar in der Mehrheitsentscheidung zutage komme. Eine
199
Erhard ( 1990), S. 14.
200
Vgl. won Hayek (1991), S. 82 ff.; insb. S. 98; siehe auch: ders. (1971), S. 201 f f , wo er den Gegensatz zwischen Isonomia (Gleichheit vor dem Gesetz) und Demokratie herausstellt. Ebenda, S. 125, formuliert er: „Gleichheit vor dem Gesetz führt zu der Forderung, daß auch alle Menschen gleichermaßen an der Gesetzgebung beteiligt seien. Hier treffen der traditionelle Liberalismus und die demokratische Bewegung zusammen." 201
Vgl. Eucken (1990), S. 332 ff. Die einzigen direkten Bezüge zur Demokratie finden sich bezeichnenderweise als Fremdzitate auf den Seiten 140 und 244. 202
Müller-Armack
(1933), S. 33.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
75
Abstimmung zeigt sehr wohl den Willen der Individuen an, aber nicht den Gesamtvolkswillen. Dieser ist freilich nicht durch Abstimmungen und dergleichen zu ermitteln, noch konkret vorhanden. Er bildet sich erst im Vorgange der politischen Zusammenfassung eines Volkes und gibt der autoritären Regierungsführung ihre letzte Legitimität. Daß autoritäre Regierungsführung in ihrem Endsinne das Volk als Einheit formen will und von seinem künftigen Gesamtwillen die endgültige Bestätigung ihres Rechtes erhofft, berechtigt, um ein Wort Mussolinis anzuwenden, das neue Reich direkt als 'akzentuierte Demokratie' zu bezeichnen."203 Aber auch bei Eucken, Rüstow, B ö h m und Röpke lassen sich bei näherer Betrachtung Hinweise dafür finden, daß sie einen autoritären, sich durch „Führertum" auszeichnenden Staatsaufbau als Ziel sehen, wenn sie auch anders als M ü l l e r - A r m a c k keine Sympathien für den Nationalsozialismus oder Faschismus hegten. 204 Institutionell wollen die Gründerväter die Demokratie als Willensbildungsverfahren vor allem durch zwei Mechanismen für die Fälle beschränken, in denen es an einem adäquaten „gesellschaftlichen Unterbau" mangelt: Z u m einen soll den „ E l i t e n " ein starkes Gewicht zufallen, zum anderen finden sich Vorschläge einer konstitutionellen Beschränkung kollektiven Handelns
im
Sinne der modernen Constitutional Economics. W i l l man das Staatsverständnis der Sozialen Marktwirtschaftler in Gänze erfassen, bedarf es daher einer genauen Analyse ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Das bedeutet, diese weniger i n ihren - bereits dargestellten materiellen Aspekten zu betrachten, als vielmehr hinsichtlich ihrer ideellen Ausprägungen.
203 204
Müller-Armack
(1933), S. 34 f.
Daher sind auch Versuche, die Ordoliberalen in einem „braunen" Licht erscheinen zu lassen, verfehlt. So bemüht sich Haselbach, eine geistige Nähe der Ordoliberalen zu den Ansichten des Juristen Carl Schmitt und dessen Kaprizierung auf den nationalsozialistisch geprägten Begriff der „Rasse" zu konstruieren; vgl. Haselbach (1991), S. 81 f f ; ähnlich schon bei: Hellwig (1955), S. 17; siehe auch: Fischer (1993), S. 153 ff. Diese Suggestion ist jedoch nicht haltbar: Erstens finden sich dafür keine Textbelege, und zweitens sprechen die historischen Fakten dagegen: Böhm wurde zeitweilig von seiner Professur suspendiert, Eucken gehörte dem weiteren Kreis des Widerstands an (Goerdeler-Kreis), Röpke und Rüstow verließen kurz nach der „Machtergreifung" das Reich und blieben die gesamten „1000 Jahre" im neutralen Ausland (Türkei, Schweiz). Anders verhält es sich bei Müller-Armack; vgl. S. 82, Fußnote 237. Im übrigen lehnt Böhm (1960a), S. 97, das Schmittsche Denken als „nicht rechtsstaatlich" ab. Siehe auch in jüngster Zeit: Willgerodt (1998), S. 51 ff
76
Β. Soziale Marktwirtschaft
2. Die Diagnose: Schwacher Staat und Werteverfall Um dieser Absicht gerecht zu werden, bietet es sich an, zunächst die Diagnose der Gründerväter bezüglich der Versäumnisse der Vergangenheit darzustellen. Eucken und die anderen hegen Zweifel, ob der Staat zur ordnenden Potenz gemacht werden kann, „nachdem die geschichtliche Entwicklung so viele Enttäuschungen gebracht hat und der Staat sich nur zu oft als schwach, als Spielball in den Händen von Interessengruppen erwiesen hat" 205 .
Zum Zeitpunkt ihrer Diagnose sahen sich die Gründerväter einem Zerfall staatlicher Macht und Unabhängigkeit gegenüber, der sich vor allem in zwei Formen ausdrückte: zum einen in der Zunahme des Einflusses von Interessengruppen auf staatliche Entscheidungen, zum anderen in der Übertragung staatlicher Kompetenzen an private Machtgruppen. Dies mußte sich negativ auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auswirken, weil damit die politische Entscheidungsbildung unter den Einfluß privater Partialinteressen geriet, wenn nicht sogar von ihnen bestimmt wurde. Zugleich war aufgrund der zunehmenden Interaktionen durch vermehrte Arbeitsteilung und Technisierung der Bedarf an einer allgemeinen Ordnung bzw. Ordnungspolitik gestiegen.206 Äußerlich zeigte sich die Schwäche des Staats in der Expansion staatlicher Interventionen, die sich in Regulierungen, der Größe des bürokratischen Apparats oder der Höhe der Besteuerung äußerten und mit einer kontinuierlichen Abnahme der staatlichen Autorität einhergingen. 207 Eucken gelangt daher - wie auch Rüstow und Müller-Armack 208 - zu dem Schluß, der Staat der liberalen Doktrin bilde die eigentliche Ursache für die „Krisis des Kapitalismus" und habe maßgeblich zum Untergang der Wettbewerbswirtschaft beigetragen.
205
Eucken (1990), S. 325 f.
206
Vgl. Eucken (1990), S. 327 ff. In die Sprache der modernen Institutionenökonomik übertragen, steigt der Bedarf an externen Institutionen, da die Interaktionshäufigkeit bei fortschreitender Arbeitsteilung und Diversifikation zunimmt und damit interne Institutionen an Bedeutung verlieren. 207
Vgl. Eucken (1990), S. 325.
208
Vgl. Rüstow (1932a), S. 62 ff.; Müller-Armack
(1932), S. 97 f f , 193 ff.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
77
a) Der Wandel des Staats in der Vergangenheit Für Eucken sind letztlich vier interdependente Gruppen von Ursachen für die Wandlung vom merkantilen über den liberalen zum kapitalistischen Staat maßgeblich: 209 • Mit dem Ende des Merkantilismus geht die strikte Trennung von Staat und Wirtschaft verloren; auf der wirtschaftlichen Ebene bildet sich die Tendenz zur Intervention heraus. • Auf der politischen Seite wird diese Entwicklung durch die zunehmende Demokratisierung begünstigt. Durch sie werden (Wahl-)Volk und Staat enger miteinander verknüpft, und es wird den Parteien und den hinter ihnen stehenden Klientelen ermöglicht, größeren Einfluß auf die Leitung des Staats und damit auf die Wirtschaftspolitik zu nehmen.210 Im Zeitablauf gelingt es einzelnen Wirtschaftsgruppen, Unternehmern und Gewerkschaften immer stärker, über den Staat ihre Partikularinteressen durchzusetzen. Diese sind jedoch nicht von „Staatsraison" getragen, und die schon bestehende Tendenz verstärkt sich zu einem ungeregelten Interventionismus, mit dem eine „pluralistische Entartung des Staates" einhergeht. Dort werden die Parteien zu „parlamentarischen Agenturen" der Pressure-groups und verteilen durch Koalitionen und „Kuhhandel" die „Beute". 211 • Der zunehmende Einfluß bestimmter sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen hängt wiederum eng zusammen mit der „Soziologieblindheit" 212 der Altliberalen; diese wird darin gesehen, daß der Einfluß solcher Gruppen auf die politischen Entscheidungen unterschätzt, wenn nicht ignoriert wurde. Die paläoliberale Vorstellung einer Sollensordnung, in der bei ausreichenden Freiräumen die Dinge von selbst ins Gleichgewicht kommen, diese gesellschaftliche „Glücksduselei" (Rüstow), erweist sich als verfehlt. Es wird verkannt, daß „die Gewährung von Freiheit eine Gefahr für die Freiheit selbst werden kann" 213 : Wirtschaftsteilnehmer organisieren sich, um die Freiheit in ihrem Sinne zu nutzen und - womöglich - die der anderen durch Monopolisierung oder Kartellierung einzuschränken. So wird wirtschaftlicher und sozialer Druck ausgeübt und der Rechtsschutz, den der Rechtsstaat zwischen den Bürgern errichtet hat, gerät ins Hintertreffen. Es kam im Laufe des 19.
209
Vgl. zu dieser Darstellung primär: Eucken (1932), S. 301 ff.
210
Vgl. Eucken (1932), S. 306.
211
Rüstow (1950b), S. 79 ff.; siehe auch: Miksch (1937), S. 10, der den Staat im .Schlepptau anonymer Wirtschaftsmächte" sieht. 212
Rüstow (1950b), S. 79.
213
Eucken (1990), S. 53.
78
Β. Soziale Marktwirtschaft
Jahrhunderts dazu, daß sich die faktischen Wirtschaftsordnungen über die wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundlagen der Vertragsfreiheit, des Privateigentums und des Wettbewerbs erhoben und sich immer mehr von der Rechtsordnung entfernten. 214 • Ihren letzten Impuls erhält diese Entwicklung schließlich durch den Wertewandel in der Gesellschaft: Tradierte, meist religiös bestimmte Werte verlieren an Bedeutung und gesellschaftlicher Relevanz, es kommt zum „Zusammenbruch der überkommenen Lebensordnung" 215, und der Staat übernimmt zunehmend die Funktion einer „Ersatzreligion". 216 Die breite Masse verfällt in Staatsgläubigkeit, der Antikapitalismus gewinnt an Popularität, und daraus erwächst letztlich das Ziel der Abschaffung des marktwirtschaftlichen Systems. Da die Massen durch die „Pluralisierung", d. h. Demokratisierung, des politischen Systems217 mehr Einfluß gewinnen, werden „marktkonforme" politische Maßnahmen seltener, und die Systemlosigkeit in den staatlichen Entscheidungen wächst. b) Die gesellschaftlichen
Entwicklungen
der Vergangenheit
Die staatspolitische Seite zeigt sich daher eng verbunden mit der gesellschaftspolitischen, die vor allem von Müller-Armack, Röpke und Rüstow in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen gestellt wird 218 und die neben der Ordnungs- und der Sozialpolitik die dritte Säule des sozial-marktwirtschaftlichen Forschungs- und Reformprogramms darstellt. Für den Anfang der 30er Jahre glauben die drei Vorgenannten eine Kulturkrise ausmachen zu können, in der der Wertewandel in Form eines Werteverzehrs die soziologischen Grundlagen der Wettbewerbswirtschaft und die gewachsenen Ordnungen der Vergangenheit auflöst. Für Müller-Armack steht seine Gegenwart unter dem Zeichen der Säkularisierung, deren Zeitalter er mit dem Tod Goethes aufkommen und mit dem Zweiten Weltkrieg enden sieht. In dieser Phase sei es zu einem Verfall der 214
Vgl. Eucken (1965), S. 53. Diese Entfernung äußert sich vor allem in Kartellen und Monopolen, die das Ordnungsprinzip des Wettbewerbs aushöhlen. 215
Eucken (1932), S. 305.
216
Siehe auch: Haselbach (1991), S. 24 sowie Röpke (1962), S. 107 f f , 120 ff.
217
Auf diesen Faktor stellt auch Müller-Armack (1932), S. 108 f f , ab, der eine zunehmende „Breite" bei abnehmender „Tiefe" der Interventionen ausmacht. Dies sind für ihn Zeichen der Schwäche des Staats. 218
Auch bei Eucken finden sich schon früh derartige Ansichten im Zusammenhang mit dem „Zusammenbruch der überkommenen Lebensordnung"; vgl. Eucken (1932), S. 305.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
79
europäischen K u l t u r gekommen, zu einem Verlust an Transzendentalem und zu dessen Ersatz durch weltliche Idole, durch „Werte des natürlichen Daseins, des Wirtschaftlichen, Biologischen und Politischen" 2 1 9 . Diese Idolbildung ist gemäß M ü l l e r - A r m a c k auch für den Untergang der Demokratie in Weimar verantwortlich. Es bedürfe hier einer Umkehr, denn „so wie in Deutschland die Formen der Demokratie versagen mußten, sobald Weltanschauungsgruppen den formalen Verfassungsmechanismus benutzten, um ihren Totalitätsanspruch durchzusetzen, wird auch in Zukunft sich die Demokratie den schwersten Problemen gegenübersehen, solange die Weltanschauungsidole die eigentlichen Triebkräfte der Parteienbildung bleiben" 220 . Während M ü l l e r - A r m a c k eher religiös-historisch argumentiert, stehen für Röpke und Rüstow soziologische Entwicklungen i m Vordergrund, 2 2 1 wobei Übereinstimmung insoweit besteht, als das zentrale gesellschaftliche Problem der Werteverfall sei und die Aufgabe darin bestehe, „den gefährlichen Prozeß der Aufzehrung der gesellschaftlichen Bindungskräfte aufzuhalten" 2 2 2 . Kernpunkt der K r i t i k Röpkes und Rüstows ist die - auch von Eucken angesprochene - „Soziologieblindheit" des „Paläoliberalismus" des 19. Jahrhunderts, die sich darin manifestiere, daß man „ernstlich der Meinung [war], daß die durch die Konkurrenz gesteuerte Marktwirtschaft einen in sich ruhenden Kosmos, einen 'ordre naturel' darstelle, der nur von allen Eingriffen befreit werden braucht, um auf eigenen Füßen zu stehen. ... Man schrieb der Marktwirtschaft also eine soziologische Autonomie zu und mißachtete die außerwirtschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn sie funktionieren soll. In charakteristischem Aufklärungsglauben hielt man für ein Naturgewächs, was in Wirklichkeit ein höchst gebrechliches Kunstprodukt der Zivilisation ist." 223
219
Vgl. dazu vor allem: Müller-Armack (1981b), S. 398 ff., hier: 413. So interpretiert Müller-Armack - im Widerspruch zu seinen eigenen Werken Anfang der 30er Jahre den Nationalsozialismus, aber auch den Kommunismus sowjetischer Prägung als Ausfluß dieser Säkularisierung, der ,,innere[n] religiöse[n] Auflösung"; ebenda, S. 424. 220
Müller-Armack (1981c), S. 138, wobei er die Demokratie selbst als ein „Idol unserer Zeit" charakterisiert; ebenda, S. 139. Die Lösung besteht für Müller-Armack darin, über ein „irenisches Gespräch" mit den Kirchen und Konfessionen zu einem Konsens zwischen den christlichen Soziallehren und dem neuen Liberalismus zu kommen; vgl. ders. (1948), S. 264; siehe zum Verlust an Religiösem auch: Röpke (1979d), S. 25. 221
Becker spricht daher auch vom „Soziologischen Neoliberalismus"; vgl. Becker, Helmut P. (1965), S. 44 f. 222
Müller-Armack
223
Röpke (1979b), S. 87; siehe auch: Rüstow (1950b), S. 44 ff.
(\950), S. 264.
80
Β. Soziale Marktwirtschaft
Unter dem Liberalismus sei der Markt zu einer „Wirtschaftstheologie" verkommen, in deren optimistischer Variante die Marktwirtschaft nicht verbesserungsbedürftig, in deren pessimistischer sie nicht verbesserungs/ä/zz'g war. 224 Eben diese Verabsolutierung des Marktautomatismus zu einem Glaubenssatz habe den Liberalismus anfällig gemacht gegenüber Interventionen: Bei den Verlierern sei die Bereitschaft geschwunden, die „Marktniederlage" hinzunehmen; statt dessen sei man „bei der kleinsten Schramme gleich laut schreiend zum Vater Staat gelaufen ..., um sich ein Subventionspflaster aufkleben zu lassen"225. Diese Form der „modernen Massendemokratie", des „kranken Pluralismus" mit seinem „ungeschriebenen, parakonstitutionellen Einfluß der Sondergruppen" sei nicht länger der „monistische Staat der demokratischen Doktrin", der mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung kompatibel ist. 226 Nach Röpke haben die Massen an Einfluß gewonnen, ohne jedoch über jenen Wertekonsens und jene Fähigkeiten zu verfügen, die die liberale Gesellschaft benötigt, um existieren zu können. Damit stelle sich die „Gesellschaftskrisis der Gegenwart" als eine Werte- und Elitenkrise dar. Aufgrund des „kulturellen" und „geistig-moralischen Reservenverzehrs" 227 träte an die Stelle der humanistischen Bildung, der Kenntnisse griechischer Sprache und Philosophie und der Geschichte eine „ungesunde" Halbbildung, die sich aus Comics, Radio, Kino und Fernsehen herleitet. Reklame und Propaganda ersetzten die „tragenden Ideen und Wertvorstellungen unserer abendländisch-christlichen Kultur" 228 . Der Verlust der Eliten, der „Aristokraten des Gemeinsinns", der „Nobilitas naturalis" 229 gehe einher mit einer „Proletarisierung" der Gesellschaft: Ohne Eigentum und Ersparnisse sei vielen die materielle Unabhängigkeit abhanden gekommen; der moralische Rückhalt sei mit der Entwertung und Auflösung der Familie, der nachbarschaftlichen Gemeinschaft und der Solidarität von Berufsgenossen 224
Rüstow (1950b), S. 48 f , spricht hier von einem „Unbedingtheitsaberglauben".
225
Rüstow (1950b), S. 47.
226
Vgl. dazu und zu den Halbzitaten: Röpke (1979d), S. 205 ff.; siehe auch: ders. (1959c), S. 42 ff. Hier finden sich auch Parallelen zu von Hayeks Unterscheidung zwischen englischem und französischem Liberalismus; vgl. von Hayek (1971), S. 247 f f , 491 ff. Ähnlich argumentiert auch Böhm, der „kollektive Kampffronten" ausmacht, die letztlich zu einer „Verpfründung" und „Verzunftung" der Gesellschaft führen und die „Privatrechtsgesellschaft" auflösen; vgl. Böhm (1954b), S. 38; siehe zu der „Politisierung der Gesetzgebung" auch: ders. (1960a), S. 99. 227
Röpke (1979b), S. 17, 51; ders. (1979a), S. 162 f.; siehe auch schon: ders. (1962), S. 120 ff. 228 Röpke (1957), S. 20. Die „Vermassung der Gesellschaft", die der Idolbildung bei Müller-Armack entspricht, drückt sich z. B. darin aus, daß jenes „Mindestmaß an Vertrautheit" mit antiken Sprachen, Figuren oder Mythen verlorengegangen sei; vgl. Röpke (1979c), S. 270. 229
Vgl. Röpke (1979d), S. 191 ff.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
81
verlorengegangen und habe zu Wurzellosigkeit, „Diskontinuität, Fremdgesetzlichkeit und Beliebigkeit", zu einer „Verflachung, Einebnung, Unselbständigkeit, Herdenhaftigkeit
und banale[n] Durchschnittlichkeit
des
Denkens" 2 3 0
231
impliziert i n
gefuhrt. Die „Vermassung" und der „Aufstand der Massen"
Röpkes Augen einen „politisch-ökonomischen" Effekt, der sich darin äußert, daß „an die Stelle der echten Integration durch wirkliche Gemeinschaft, die das Band der Nähe, der Natürlichkeit des Ursprungs und die Wärme der unmittelbaren menschlichen Beziehung braucht, ... die Pseudointegration durch Markt, Konkurrenz, zentrale Organisation, äußere Zusammenpferchung, Stimmzettel, Polizei, Gesetz, Massenversorgung, Massenvergnügen, Massenemotionen und Massenbildung getreten [ist], eine Pseudointegration, die dann im kollektivistischen Staate ihre äußerste Steigerung erfährt" 232 . Damit besteht nach Ansicht der Gründerväter auch i m gesellschaftspolitischen Bereich die Notwendigkeit der aktiven Gestaltung. Wie diese auszusehen und wie der Staat, der Ordnungs-, Sozial- und Gesellschaftspolitik treiben soll, aufgebaut sein soll, w i r d i m folgenden erläutert.
3. Die Therapie: Starker Staat und „Strukturpolitik"
a) Ablehnung
des Ständestaats
Zwar fordern die Gründerväter einen starken Staat, doch lehnen sie eine privatwirtschaftliche Ordnung 2 3 3 , wie sie zur selben Zeit in der Konzeption des Ständestaats (berufsständische Ordnung 2 3 4 ) z u m Ausdruck kommt, ab. Beson-
230
Röpke (1957), S. 19.
231
So der Titel des Buches von Ortega y Gasset, das auf alle Ordoliberalen einen bleibenden Einfluß ausgeübt hat: vgl. z. B.: Röpke (1979b), S. 24; ders. (1979c), S. 247; ders. (1962), S. 123; Eucken (1990), S. 16; Rüstow (1957a), S. 146; Müller-Armack (1950), S. 258; von Hayek (1957), S. 77. 232
Röpke (1979b), S. 24, der allerdings darauf verzichtet zu erläutern, was er unter „echt" versteht; siehe auch: ders. (1957), S.19ff.; ähnlich auch bei: Böhm (1937), S. 46 f., der ebenfalls die Vermassung und Auflösung gesellschaftlicher Strukturen beklagt und dem Staat die Aufgabe zuweist, hier Einhalt zu gebieten, denn sonst werde der einzelne sein „soziales Anlehnungsbedürfnis" außerhalb des Staats zu befriedigen suchen. 233
Diese ist streng zu unterscheiden von der „Privatrectegesellschaft" bei Böhm; darunter ist eine staatlich gesicherte Rechtsordnung zu verstehen; vgl. Böhm (1960a), S. 95 ff.; Grossekettler (1995), S. 8 ff.; Nörr{\995\ S. 27 ff. 234
Eine Gesamtdarstellung des damals populären korporatistischen Staatsaufbaus bietet: Messner (1936). 6 Rauhut
82
Β. Soziale Marktwirtschaft
ders für Miksch und Hensel ist das ein Anliegen: Miksch lehnt private Marktregelungen - wie zum Beispiel die Allgemeinen Geschäftsbedingungen grundsätzlich ab, da sie anarchisch zustande gekommen seien und somit einer wettbewerbspolitischen Gesamtordnung widersprächen. Letztlich stellten private Regelungen keine Verbesserung zum Status quo dar. 235 Hensel - wie auch Eucken - verweist darauf, daß die berufsständische Ordnung mit dem subsidiären Charakter einer Gesellschaft nicht vereinbar sei und gegenüber dem Bestehenden keinen Fortschritt bedeute.236 Bei zunehmender Arbeitsteilung und wachsenden Abhängigkeiten zwischen den Wirtschaftszweigen bildeten Berufsstände nur weitere Grenzen und behinderten Kooperationsgewinne. A m schwerwiegendsten wirke dabei, daß Berufsstände von ihrer Anlage her Interessenvertretungen seien, mit dem Ziel, Konkurrenz und damit Wettbewerb zu minimieren. Dies komme vielleicht noch den Arbeitern und Angestellten eines Berufsstands zugute, nicht jedoch den Konsumenten und den Outsidern. Somit sei zu erwarten, daß rechtlich abgesicherte Berufsstände exakt so und mit denselben negativen Auswirkungen auf das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben agierten, wie Kartelle, Syndikate und Trusts. Daher sei ein sich „durch Autorität und Führertum" auszeichnender Staat „oberhalb der Wirtschaft und Interessenten" 237 vonnöten, der das Verhalten der Stände kontrolliert 235
Vgl. Miksch (\92>7), S. 25.
236
Vgl. im folgenden insbesondere die Kritik an den beiden päpstlichen Enzykliken „Rerum Novarum" (1891) und „Quadragesimo Anno" (1931) bei: Hensel (1949), S. 237 ff.; ferner: Eucken (1990), S. 145 f f , 347 f.; Böhm (1937), S. 145 f.; Röpke (1979b), S. 152 ff. Müller-Armack sah dies zunächst anders: vgl. Müller-Armack (1933), S. 44 ff. Für eine kritische Analyse aus institutionenökonomischer Sicht: vgl. z. B. North (1991), S. 108 ff.; ders. (1992), S. 136 ff.; Olson (1991a), S. 166 ff. 237
Rüstow (1932a), S. 68; Eucken (1990), S. 331; siehe auch: ders. (1932), S. 307; ders. (1948b), S. 68 ff.; ders. (1951), S. 8; Röpke (1965), S. 307. Es ist zu beachten, daß der Begriff des „Führers" und des „Führertums" nicht allein von den Nationalsozialisten „besetzt" wurde; es handelt sich vielmehr um einen schon deutlich vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus in der sogenannten „Jugendbewegung" allgemein verbreiteten Begriff. Daraus auf irgendwelche Affinitäten zum Nationalsozialismus zu schließen, wie es Riese (1972), S. 37, tut, ist schlicht verfehlt; vgl. Haselbach (1991), S. 42. Dieser „starke Staat" kontrastiert auf das schärfste mit den Vorstellungen, die Müller-Armack Anfang der 30er Jahre hegt. Während Rüstow und Eucken Staat und Wirtschaft anknüpfend an liberale Tradition trennen, hält Müller-Armack diese Dichotomie für verfehlt und glaubt, man könne beide in „beschwingender Gemeinsamkeit" (Müller-Armack (1933), S. 42) miteinander verknüpfen. Daher plädiert er - im Gegensatz zu den anderen - für eine korporative Wirtschafts- und Gesellschaftsform; ebenda, S. 44 ff. Angetan von den faschistischen Ideen Mussolinis wünscht er nicht eine Überwindung des Wirtschaftsstaats und somit eine Trennung in Staat und Wirtschaft, sondern geht den umgekehrten Weg einer vollständigen Politisierung der Wirtschaft: „Da
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
83
und sanktioniert. A n die Stelle der Naturordnung tritt demnach die „staatliche Veranstaltung". 2 3 8 Diese explizite Betonung einer starken Staatsgewalt, die hier besonders deutlich z u m Ausdruck kommt, sich aber auch so oder wenig anders bei den anderen Protagonisten findet, kann als das eigentlich Neue der K o n zeption angesehen werden. 2 3 9
b) Staat und Eliten
Zwar behauptet Eucken, die Lösung des Staatsordnungsproblems
über-
schreite die Grenzen des ordoliberalen Forschungsprogramms, w i e w o h l er ausdrücklich die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung m i t diesem Problem erkennt. 240 Allerdings finden sich an zahlreichen Stellen Hinweise darauf, wie
nicht damit zu rechnen ist, daß der Staat seinen Charakter als Wirtschaftsstaat aufgibt, wird alles davon abhängen, daß er auch im Wirtschaftlichen seine volle Souveränität gegenüber den einzelnen Interessenten erlangt, die er bisher nicht besessen hat. Gelingt eine derart völlige Integration der Gesellschaft im Staate, so wird sich möglicherweise die Richtung des Interventionsstaats völlig verschieben"; Müller-Armack (1932), S. 126. Ihm geht es um die Ausrichtung aller gesellschaftlichen Schichten auf ein Ziel, den „nationalen Staat", so daß „auf Dauer eine völlige nationale Durchstrukturierung der Wirtschaftsorganisation [entsteht], in der kaum eine Schicht an der nationalen Wirtschaftspolitik uninteressiert bleibt"; ebenda, S. 214. Indem die Wirtschaft vollständig in den Staat einbezogen wird und die Privatsphäre den Staat nicht länger einschränkt, soll letzterem wieder mehr Spielraum gegeben werden; vgl. ebenda, S. 126 f. 238
Vgl. Miksch (1937), S. 9.
239
Ähnlich bei: Blum (1969), S. 48; Streit/Wohlgemuth (1997), S. 7. Zugegebener Maßen ist zu konstatieren, daß auch schon bei den Altliberalen oder bei den Physiokraten eine Betonung des Staats zu finden ist. 240
„Und so bedarf der Aufbau des Staats abermals von Grund aus [sie!] ordnungspolitischer Durchdenkung. Natürlich überschreitet dieses Problem als ganzes weit den Rahmen unserer Untersuchung. ... Aber es ist nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, auch von Seiten der Wirtschaftspolitik das Problem zu stellen - eben weil ohne diese ordnende Potenz des Staats eine zureichende Wirtschaftsordnung nicht aufgebaut werden kann und weil umgekehrt eine neue Staatsbildung im Zusammenhang mit dem Aufbau der Wirtschaftsordnung steht"; Eucken (1990), S. 332. Damit knüpft er an die eigene programmatische Aussage seiner „Grundlagen" an, nach denen polit-ökonomische Aspekte, wie z. B. die Staatsverfassung oder das „politische Wollen der leitenden Staatsmänner" {Eucken (1965), S. 157), sich ökonomischen Analysen entziehen und in den Datenkranz verwiesen werden. „Gesamtwirtschaftliche Daten sind diejenigen Tatsachen, die den ökonomischen Kosmos bestimmen, ohne unmittelbar von ökonomischen Tatsachen bestimmt zu sein. An den faktischen gesamtwirtschaftlichen Daten endigt die theoretische Erklärung. Aufgabe der Theorie ist es, die notwendigen Zusammenhänge bis zum Datenkranz zu verfolgen und umgekehrt zu zeigen, wie von einzelnen Daten das wirtschaftliche Geschehen abhängt. Aber die ökonomische Theorie ist nicht fähig, ihr Zustandekommen zu erklären."
84
Β. Soziale Marktwirtschaft
der Staat beschaffen sein muß, um „der unabhängige und wohlwollende Vater seiner Bürger" 241 zu sein. Zunächst sind die beiden staatspolitischen Grundsätze zu nennen: Einerseits müsse eben der Staat so stark sein, daß er über den Massen steht und genug Staatsautorität besitzt, um die angestrebte Wettbewerbsordnung zu realisieren. Letzteres glaubt Eucken, durch seinen ersten staatspolitischen Grundsatz sichern zu können, nach dem „die Politik des Staates darauf gerichtet sein [sollte], wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktionen zu begrenzen. Jede Festigung der Machtgruppen verstärkt die neufeudale Autoritätsminderung des Staates."242
Andererseits verweist Eucken auf die klassischen liberalen Staatsdenker, in deren Arbeiten es vor allem um die Begrenzung staatlicher Macht gegenüber den Bürgern geht. Hier zeigt sich das traditionelle, liberale Mißtrauen gegenüber dem Staat,243 das vor dem Hintergrund der „vermassten Gesellschaft" und mächtiger sozialer Gebilde sogar noch wächst.244 Eucken hofft nun, staatlichen Einfluß dadurch zu begrenzen, daß sein zweiter staatspolitischer Grundsatz befolgt wird: „Die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates sollte auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses."245
Der starke Staat zeichnet sich somit dadurch aus, daß er sich weder in alles einmischt noch alles an sich zieht. Er muß in der Lage sein - wie Röpke formuliert -, zwischen „Agenda und Non-Agenda" zu unterscheiden. 246 Über diese beiden Grundsätze hinaus finden sich bei Eucken und anderen Autoren weitere Hinweise darauf, wie der Staat zu gestalten und zu ergänzen 241
Eucken (1990), S. 330.
242
Eucken (1990), S. 334; siehe auch: ders. (1932), S. 318. Die gesamte Problematik wird von Röpke ähnlich gesehen: vgl. z. B. Röpke (1979b), S. 311 f. 243
Eucken verweist in diesem Zusammenhang auf von Humboldt, Grotius, Locke, Montesquieu und vor allem auf den Kulturhistoriker Burckhardt (vgl. Eucken (1990), S. 331, 332, Fußnote 1) und führt aus: „Für ihn [Burckhard; der Verf.] war Macht 'an sich böse'. Zugleich aber sah er im Staate eine 'Wohltat'. Ohne Macht kann jedoch kein Staat existieren. Die Überwindung dieses Dilemmas ist vielleicht die entscheidende Aufgabe aller Politik, auch der Wirtschaftspolitik"; ebenda, S. 175; ähnlich bei: Rüstow (1950b), S. 69 f. Siehe auch: Miksch (1949), S. 334, Fußnote 1, der vor der Gefahr eines übertriebenen Staatsskeptizismus unter den Ordoliberalen (namentlich Böhm) warnt. 244
Vgl. im einzelnen: Eucken (1990), S. 175, 331, 332.
245
Eucken (1990), S. 334; siehe auch: ders. (1951), S. 72.
246 Vgl. Röpke (1979b), S. 310 f. Derartige Beschränkungen finden sich auch bei: von Hayek (1971), S. 398; Röpke (1979d), S. 208; Böhm (1980b), S. 91 ff.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
85
ist, so daß der Vorwurf, mit diesen Vorschlägen bliebe die „staatspolitische" Therapie auf halber Strecke stehen und sie stelle bloß eine noch abzuarbeitende Agenda dar, 247 in dieser Form nicht haltbar ist. Ebensowenig wird es allerdings zu vertreten sein, sämtliche Vorschläge als „wegweisend" zu betrachten. In ökonomischer Hinsicht wird der Staat bei Eucken als „Erfüllungsgehilfe" bei der Etablierung der Wettbewerbsordnung angesehen.248 Dieser Erfüllungsgehilfe kann der Staat aber nur sein, wenn sich alle gesellschaftlichen Kräfte auf die Verwirklichung dieses Ziels verpflichten lassen. Pluralistische Vorstellungen haben hier wenig Raum, Kompromisse sind letztlich nur dann „statthaft", wenn sie der Durchsetzung der von Eucken identifizierten natürlichen Wettbewerbsordnung dienen.249 Gerade dies ist aber ein Problem, denn noch „fehlt es in allen Ländern an einer Führungsschicht, die begriffen hat, was die Wettbewerbsordnung ist ..." 250 . Solange dieses „allgemeine Bewußtsein" nicht vorhanden ist und die Ergebnisse von den „Zufälligkeiten politischer Machtgruppierungen" 251 abhängen, sind demokratische Entscheidungen kontraproduktiv. 252 Daran anknüpfend plädiert von Hayek explizit dafür, demokratische Entscheidungen auf jene Bereiche zu beschränken, in denen „eine gemeinsame allgemeine Vorstellung von der Gesellschaftsordnung" herrscht. 253 Ein weiterer Baustein zu dem „Staat mit einheitlicher und konsequenter Willensbildung" 254 besteht nach Eucken darin, auf der Basis eines föderalen
247
So etwa: Kloten (1986), S. 12 f.
248
Siehe dazu auch: Fischer (1993), S. 127 ff.; Lamberti (1990), S. 10 f.
249 Es besteht „die Notwendigkeit eines stabilen Staatsapparates, der genug Macht besitzt, um bestimmte, genau umschriebene Ordnungsaufgaben zu erfüllen"; Eucken (1990), S. 331. Je nach Ausprägung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft kommen dann noch sicherungs- und verteilungspolitische Aufgaben hinzu. 250
Eucken (1990), S. 371.
251
Eucken (1932), S. 309.
252
Hier ergeben sich Analogien zu von Hayek, der ebenfalls den instrumentalen Charakter der Demokratie „zur Erhaltung der Freiheit" betont; vgl. von Hayek (1971), S. 142; ders. (1981b), S. 19 ff. Gleichzeitig bedarf sie aber der Freiheit der Menschen, weshalb eine Beschränkung der Mehrheitsentscheidungen notwendig ist: „Wenn die Demokratie erhalten bleiben soll, muß sie einsehen, daß sie nicht Urquell der Gerechtigkeit ist. ... Die Gefahr ist, daß wir ein Mittel zur Sicherung der Gerechtigkeit für die Gerechtigkeit selbst halten"; won Hayek (1971), S. 142. 253 Vgl. won Hayek (1971), S. 139 ff.; ders. (1991), S. 86 ff.; ähnlich: Röpke (1979b), S. 164, der Lincoln zitiert und das Wesen der Demokratie damit beschreibt, daß „no man is good enough to govern another man without that other's consent". 254
Eucken (1990), S. 329.
86
Β. Soziale Marktwirtschaft
Staats255 die drei Gewalten Legislative, Judikative und Exekutive auf die Zielsetzung „Wettbewerbsordnung" auszurichten. Insbesondere die Judikative könne - so Eucken - dabei ein Problem darstellen, denn sie habe in der Vergangenheit mehrfach ihr „wirtschaftspolitisches Unverständnis" unter Beweis gestellt.256 In Zukunft sei es jedoch „nötig, daß der Richter sich der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Gesamtentscheidung unterordnet und ein genaues Bild von den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen hat" 257 .
Die Ausfuhrungen zur richterlichen Gewalt leiten über zur nächsten ordnenden Potenz: Schon in seinem ersten Aufsatz im Rahmen des Ordoliberalismus von 1932 betont Eucken die Rolle der Wissenschaft; der Aufsatz endet mit einem Exkurs zum Thema „Ideologien", in dem er den Bedarf nach einer „strengen theoretisch-ökonomischen Schulung" konstatiert, „um die Ordnung des Wirtschaftsablaufs zu verstehen" 258. Wenn die Geschichte nicht nach einem bestimmten Geschichtsgesetz verlaufe, dann hätten einzelne Entscheidungen Einfluß auf den Verlauf der Geschichte, und es bleibe „die Möglichkeit, durch geistige Arbeit und durch ihren Einfluß Ordnungen in Staat und Gesellschaft zu gestalten"259. Dabei seien insbesondere jene gefordert, die sich durch einen „überlegenen Geist" und durch „Leistung, Vitalität und Selbstsicherheit" auszeichnen - unabhängig davon, „ob Hinz und Kunz die Ergebnisse richtigen Denkens anerkennen" 260. Diese „Führerschicht" könne die Massengesellschaft leiten, da sie unabhängig sei und über die notwendige Sachkenntnis verfuge. 261
255
Denn es hatte sich gezeigt, „daß ein zentralistisch geleiteter Staat stärker zur zentralen Planung tendiert als ein föderalistischer Staat"; Eucken (1990), S. 332. 256 Vgl. dazu Euckens Ausführungen zum Kartellurteil des Reichsgerichts am 04. Februar 1897: Eucken (1990), S. 170 f f , 306 f.; siehe auch: Böhm (1948), S. 197. 257
Eucken (1990), S. 307. Die Exekutive muß ebenso auf das eine Ziel hin ausgerichtet werden, was jedoch für Eucken kein Problem darstellt; vgl. ebenda. - Hier spiegelt sich das Ziel der Freiburger Schule wider, Ökonomen und Juristen zusammenzuführen. Durch das richtige Setzen des Datenkranzes kann auch die Verwaltung veranlaßt werden, sich dem obersten Ziel unterzuordnen und von den jeweiligen Zweckmäßigkeiten abzusehen; vgl. won Hayek ( 1954), S. 9 ff. 258
Eucken (1932), S. 319.
259
Eucken (1990), S. 339. Diese Vorstellung ist offensichtlich Ortega y Gasset entlehnt: „Von dem, was man heute denkt, hängt das ab, was morgen auf Plätzen und Straßen gelebt wird"; y Gasset (1965). 260
Eucken bleme denkend wirkung, in der Schichten liegt 5. 80,81. 261
(1933), S. 151. „Die Lösung der modernen Wirtschaftsordnungs-Provorzubereiten, ist Sache der Wissenschaft." Und weiter: „In der Dauerallmählichen Formung des ordnungspolitischen Denkens von führenden ihre [der Wettbewerbsordnung; der Verf.] Chance"; Eucken (1947),
Eucken (1990), S. 194, 340 f.; ders. (1932), S. 320.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
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Nur sie sei letztlich in der Lage, als normsetzende Instanz die Probleme der Zeit zu lösen. Leistet sie das nicht, wie im 19. Jahrhundert unter dem Einfluß der Positivisten, „so entsteht in der Führung einer Nation ... ein geradezu verhängnisvolles Vakuum. Funktionäre von Machtgruppen und Literaten [!] drängen in dieses Vakuum ein. Solange die Völker stärker aus der Tradition heraus lebten, waren sie weniger auf die Wissenschaft als ordnende Potenz angewiesen. Seit 1789 ist das anders. - Gerade aber im folgenden Jahrhundert hat sich besonders unter dem Einfluß der Positivisten die Wissenschaft einer Aufgabe entzogen, die dringlicher war als zuvor. - So konnte die Führerschicht in dem geschichtlichen Moment den an sie gestellten Ansprüchen nicht genügen, als es darum ging, Ordnungsprobleme besonderen Ausmaßes zu bewältigen." 262
Die Wissenschaft wird also für Eucken ebenfalls zu einer bedeutenden Kraft. Die Kirchen hingegen seien, solange sie an bestimmten Vorstellungen festhielten, als ordnende Potenzen ungeeignet: Einerseits habe die katholische Kirche mit dem Grundsatz der Subsidiarität ein dem Wettbewerb kompatibles Grundprinzip entwickelt, andererseits müsse ihr Eintreten für eine berufsständische Ordnung ebenso abgelehnt werden wie die skeptische Haltung der evangelischen Kirche gegenüber einer aktiven Ordnung. Da jedoch sowohl die Kirchen als auch die Wissenschaft dasselbe Ziel der Etablierung einer menschenwürdigen Ordnung verfolgten, hält es Eucken für möglich, daß die Vorstellungen beider Gruppen im Rahmen einer Wettbewerbsordnung „zur Koinzidenz gebracht werden" können.263 Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Rüstow, der aber weniger auf Wissen und Verstand abzielt, sondern auf den „anständigen Kern", der in jedem stecke: „In jedem Staatsbürger, selbst in dem egoistischsten borniertesten Interessenten, steckt irgendwo ein anständiger Kern, der danach verlangt, anständig ..., im Sinne des Ganzen regiert zu werden. ... Es ist das entscheidende Kriterium einer richtig und organisch konstruierten Verfassung, daß sie den Menschen in diesem seinem noch unzersetzten Kern trifft und integriert, und nicht etwa den Interessenten im Menschen als Integrationselement verwendet." 264
So soll ein „Wissenschafts-" oder „Elitenstaat" entstehen, der sich, ergänzt durch eine „vernünftige" Verfassung, dem Einfluß privater Interessen ent-
262 Eucken (1990), S. 346. Hier ergeben sich starke Parallelen zu Böhm, der vor allem in seinen Frühwerken den Rückzug der Wissenschaft aus dem gesellschaftlichen Leben anprangert; vgl. z. B. Böhm (1937), S. 7 ff. 263 264
Vgl. dazu: Eucken (1990), S. 347 ff., insb. S. 350.
Rüstow (1932a), S. 68 f. Damit bleibt die Machtquelle des neuen Staats bei Eucken und Rüstow weitgehend im unklaren.
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Β. Soziale Marktwirtschaft
zieht265 und dem Allgemeinwohl dient. Ein so beschaffener Staat kann dann als „wohlmeinender" Diktator verstanden werden. c) Eliten und konstitutionelle Begrenzung des demokratischen Entscheidungsbereichs Die Betonung der „Eliten" kann man auch als Beleg dafür werten, daß es den Sozialen Marktwirtschaftlern nicht in allen Bereichen darum ging, eine repräsentative Demokratie zu etablieren. 266 Dies wird besonders bei Röpke deutlich, der die rechtsstaatliche Begrenzung demokratischer Entscheidungen nicht für ausreichend ansieht und staatliche Strukturänderungen für notwendig hält. Wie die anderen Ordoliberalen betont auch er, daß die Macht der Interessengruppen abgebaut und ein zuverlässiger Beamtenstand geschaffen werden müsse, der sich der Umsetzung des politisch Gewollten verpflichtet fühlt. Ferner bedürfe es Menschen, die sich Vernunft und Anstand verpflichtet fühlen. 267 Röpke differenziert weitergehend in Wesen und Formen der Demokratie: 268 Für ihn sind Parlamentarismus und allgemeines und gleiches Wahlrecht nur Formen der Demokratie, nicht jedoch deren Wesen. Diese Formen - parlamentarische, direkte, präsidiale, direktoriale oder sogar diktatorische Demokratie seien veränderliche Größen; unveränderlich darüber stünde einzig das Wesen einer Demokratie. Auf die sich danach ergebende Grundfrage: „Wie bildet sich der Staatswille?" gibt es nach Ansicht von Röpke nur zwei grundsätzliche Antworten: durch Autonomie oder Heteronomie, durch Eigenwillen oder Fremdwillen. Im Kern bleibt dann für Röpke nur die Autonomie einer Nation , so daß er Demokratie und Selbstbestimmung des Volkes gleichsetzt. Unter Demokratie subsumiert er somit jede Staatsform, in der „das Band zwischen Volk und Staatswillen nicht zerschnitten wird und, wer immer die Macht aus265
In die gleiche Richtung geht auch von Hayek mit seinem Vorschlag einer ZweiKammer-Verfassung; vgl. dazu: von Hayek (1981b); Nienhaus (1982); Kapitel D.I.3. 266
Auch der spätere Bundeskanzler Erhard ist gegenüber einer gewissen Demokratieskepsis nicht immun: „Nur mit einer gewissen Scheu wage ich, die Frage zu stellen, ob es in einem parlamentarisch-demokratischen System möglich oder auch nur denkbar gewesen wäre, eine in das gesellschaftliche und soziale Leben so tief einschneidende Maßnahme, wie es die Währungsreform 1948 war, zu vollziehen. Meine tief wurzelnde demokratische Haltung und Gesinnung wehrt sich wohl dagegen, jene Frage schlüssig zu beantworten, aber ich würde unehrlich sein, wenn ich meine Zweifel unterdrücken wollte. Ja, nach allem, was ich in der Folgezeit erlebte, bin ich dessen fast gewiß, daß wir nicht zur Bewahrung der Freiheit hätten durchstoßen können, wenn die Lösung in einem Kompromiß hätte gefunden werden müssen"; Erhard (1962), S. 8. 267
Röpke (1979b), S. 311 ff.
268
Vgl. im folgenden: Röpke (1979b), S. 163 ff.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
89
übt, der Rechnungslegung vor dem Volke und seiner Kontrolle unterworfen und daher absetzbar bleibt" 269 . Der Staat ist nach Röpke also so zu organisieren, daß er den Wettbewerb sichert, das kulturelle und moralische Erbe bewahrt und einen Konsens zwischen Staatsvolk und Staatsgewalt gewährleistet. Hinsichtlich des Staatsaufbaus folgert Röpke, daß in einer „intakten" Gesellschaft, die sich durch ein „Mindestmaß an nationalem Gemeinschaftsgefühl und an Gleichförmigkeit des Denkens und Empfindens" 270 auszeichnet, Föderalismus und Begrenzung der Staatsgewalt auf die „allgemeinsten und elementarsten Fragen der Nation" ausreichen, um das Funktionieren der Demokratie als kollektives Entscheidungsverfahren zu gewährleisten. 271 Für den Fall der „vermassten Gesellschaft" 272 erwartet er jedoch keine „rationalen" Entscheidungen. Vielmehr bedürfe es dann einer Gesellschaftspolitik, um den „Verantwortungssinn aller zu heben". Dazu seien die Eliten zu stärken und „eine wirkliche Regierung der Verantwortlichen zu ermöglichen", was staatsordnungspolitisch u. a. impliziert: 273 • Es ist eine zweite Kammer einzurichten, in der die verantwortungsbewußten, „rechten" Männer sitzen und ein Gegengewicht gegen die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene erste Kammer bilden. Der dahinterstehende Gedanke ist eine weitgehende Dezentralisierung politischer Macht. Röpke orientiert sich insofern an dem Senat in den USA oder dem Ständerat in der Schweiz.
269 Röpke (1979b), S. 165. An anderer Stelle heißt es: „Wenn der Liberalismus daher die Demokratie fordert, so nur unter der Voraussetzung, daß sie mit Begrenzungen und Sicherungen ausgestattet wird, die dafür sorgen, daß der Liberalismus nicht von der Demokratie verschlungen wird"; Röpke (1962), S. 124. 270
Röpke (1979b), S. 145.
271
Vgl. Röpke (1979b), S. 146.
272
Zu einer Umschreibung dessen siehe auch: Röpke (1979c), S. 243 f., wo er sich auf die frühen „Warner" und „Gesellschaftspessimisten" beruft, die diese Entwicklung schon lange beobachtet hätten. Zu ihnen zählt er J. W. Goethe, W. von Humboldt, J. St. Mill und A. de Tocqueville. 273 Vgl. Röpke (1979c), S. 186 ff. Er beklagt an derselben Stelle (S. 211) eine „Art von Prüderie", die es verbietet, z. B. die nützliche Rolle von Führungspersönlichkeiten oder Geschlechtern zu betonen, denen durch Geburt ein hervorgehobener Platz in der Gesellschaft zukomme. Hier scheint er alten Gesellschaftsordnungen nachzutrauern; in diesen, von ihm als „gesund" empfundenen Gesellschaften, in denen letztlich die politische Macht bei Bauern, Handwerkern, Gewerbetreibenden, Freiberuflern sowie Familien mit großem Besitz gelegen habe, habe Verantwortungsgefühl geherrscht. Das sei durch die Demokratisierung verlorengegangen, denn durch das allgemeine Wahlrecht haben Schichten Einfluß erlangt, denen dieser Sinn einfach abgehe; siehe auch: Eucken (1990), S. 16 ff.
90
Β. Soziale Marktwirtschaft
• Das Wahlalter ist „vernünftig" festzusetzen. • Möglicherweise seien beim Wahlrecht Differenzierungen vorzunehmen, dergestalt daß ζ. B. Familienväter oder im Beruf Bewährte mehrere Stimmen haben. Hier geht es um die Stärkung der Nobilitas naturalis, zu der - ähnlich wie Eucken - auch die Wissenschaft zählen soll, der Röpke eine größere Rolle in der Gesellschaft zubilligen möchte.274 Stärker als bei den anderen Vertretern tritt somit bei Röpke die Vorstellung einer Nobilitas naturalis auch institutionell in Erscheinung. Hier macht sich Röpkes Unterscheidung in Wesen und Formen der Demokratie bemerkbar, denn der Grundsatz eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts gehört für ihn nicht unbedingt zu ihrem Wesen. Einen anderen Schwerpunkt setzt Böhm in seinem Aufsatz „Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung" 275, in dem er den Aspekt der „organisch konstruierten Verfassung" aufgreift: Für ihn ist ein marktwirtschaftliches System mit einer rechts staatlichen Demokratie kompatibel. Diese muß, um funktionsfähig zu sein, institutionell abgesichert werden. Kriterien dafür sind in erster Linie der Rechtsstaat, materielle rechts staatliche Garantien und eine institutionell streng umgrenzte Aufgabenstellung. Letzteres schließt ein, daß bestimmte Aufgaben (insbesondere die Monopolaufsicht) aus dem politischen Alltagsgeschäft herausgelöst und an ein Expertengremium delegiert werden. 276 Bei den Überlegungen der zitierten Gründerväter stehen demnach drei Aspekte im Vordergrund: • Die prinzipielle Kompatibilität von parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft wird konstatiert.
274 Vgl. Röpke (1979d), S. 196 ff. Ein allgemeines gleiches Wahlrecht fügt sich auch nicht in die hierarchischen Gesellschaftsvorstellungen Röpkes ein; vgl. dazu: ders. (1979b), S. 23; ders. (1979d), S. 349 f. Hier orientiert sich Röpke offensichtlich am antiken Athen zur Zeit Solons (nach 594 v. Chr.), als die politischen Rechte vom Vermögen abhingen („Timokratie"); siehe dazu ζ. B.: Möckli (1994), S. 42 f. 275 276
Vgl. im folgenden: Böhm (1980b), S. 53 ff.
Vgl. Böhm (1980b), S. 91 ff. Somit gehen Böhms staatspolitische Vorstellungen weiter als die von Eucken oder Rüstow. Diese Sicht erinnert an den modernen Konstitutionalismus, und unter diesem Datum erscheint eine Verkürzung der Analyse auf den „Public Interest State", was von Kirchgässner kritisiert wurde, u. U. möglich; siehe auch: Grossekettler (1995), der Böhm als einen Vorläufer der modernen ökonomischen Analyse des Rechts und der Constitutional Economics ansieht - was ihn jedoch nicht daran hindert, einen Hang zum Paternalismus bei Böhm zu diagnostizieren (s. o.); ähnlich bei: Streit/Wohlgemuth (1997), S. 20 ff.
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
91
• Dieses Entscheidungsverfahren ist konstitutionell auf bestimmte Bereiche zu begrenzen. • „Eliten" wird eine besondere Rolle zugedacht. d) Zu den gesellschaftspolitischen
Überlegungen der Gründerväter
Soziologische Überlegungen sind noch unter einem weiteren Blickwinkel von Bedeutung: Schon 1929 hatte Rüstow sich für eine „Diktatur mit Bewährungsfrist" durch den Reichskanzler ausgesprochen, mit dem Ziel der Sicherung des staatlichen Gefüges und der „Aufrechterhaltung der Demokratie" wenngleich nicht der parlamentarischen. 277 Diese „Diktatur" erachtet Rüstow deshalb für notwendig, weil die gesellschaftlichen Fundamente verlorengegangen seien. Die Integrationsfähigkeit des Markts alleine sei zu begrenzt, um diese „Atomisierung" 278 zu stoppen; statt dessen stünden „außerhalb der Wirtschaft viel zahlreichere und wirksamere Integrationsmöglichkeiten politischer, ethischer und religiöser Natur" zur Verfügung, von denen „dann freilich auch mit doppeltem Nachdruck Gebrauch gemacht werden" 279 müsse. Notwendig sei vor allem die Schaffung einer „Wertegemeinschaft", wobei Rüstow neben der Rolle des Staats auch die der Kirchen betont. Es bedürfe einer „Vitalpolitik" 280 mit dem Ziel der „Wiederverwurzelung" des Menschen, wobei in Analogie zu Röpke die kleinbäuerliche Gesellschaft als Referenz dienen soll. 281 Insbesondere durch die Schaffung von Eigentum, die Unterstützung der Familie als gesellschaftliche Keimzelle und durch Siedlungsbau soll eine „Entproletarisierung" erreicht und das System stabilisiert werden; konjunkturelle Krisen sollen dadurch aufgefangen und soziale Krisen (z. B. aufgrund von Arbeitslosigkeit) entschärft werden, so daß sich - wie Röpke formuliert - „auch schwerere Gleichgewichtsstörungen ohne ernste Schäden und ohne Kopflosigkeit ertragen lassen"282.
277
Rüstow (1959c), S. 85 ff.
278
Rüstow (1950a), S. 111; diese Vereinzelung des Menschen ist also wesensgleich der Vermassung bei Röpke. 279
Rüstow {\950b\
280
Vgl. Rüstow (1957b), S. 219 ff.
S. 52.
281
Vgl. Rüstow (1950b), S. 94 ff.; ders. (1957b), S. 220 ff.; siehe auch: Röpke (1979b), S. 46. Eucken (1990), S. 183, verweist in diesem Zusammenhang auf die gegenseitigen Abhängigkeiten von Staats- und Wirtschaftsverfassung und der Gesellschaftsordnung. 282 Röpke (1979b), S. 198. Die Therapie zur Lösung der „Krise der modernen Demokratie" bestehe demnach in der „Dezentralisation", der „Wiederverwurzelung", der
92
Β. Soziale Marktwirtschaft
Es wird also eine auf Wahrung und Wiederherstellung des alten Wertesystems gerichtete, konservative Gesellschaftspolitik vertreten. Somit scheinen Rüstow wie Röpke in einem Spannungsfeld zu stehen zwischen der ökonomischen Moderne in Form eines geordneten, durch einen „festen politisch-rechtlich-moralisch-institutionellen Rahmen"283 gesicherten Wettbewerbs und einer kulturellen Antiquiertheit, die mit einer Gesellschaftsform der Kleinbauern und Bürger sympathisiert. Für Müller-Armack folgt aus seiner „Diagnose unserer gesellschaftlichen Lage" als Therapie die „Soziale Marktwirtschaft", die unter staatspolitischem Blickwinkel zwei Säulen benötigt: Zur „öffentlichen Ordnung des Wettbewerbs" 284 gehöre zunächst ein gesellschaftlicher Grundkonsens, 285 denn sonst sei die Demokratie instabil: „Solange unsere Zeit von säkularisierten Ersatzmetaphysiken beherrscht wird, bilden diese eine stete Bedrohung demokratischer Einrichtungen." 286 Wenn ein Grundkonsens noch nicht erreicht ist, bedürfe es eines Staats, der nicht nur Wettbewerb sichert, sondern auch umfassend Gesellschaftspolitik treibt mit dem Ziel, eben diesen Grundkonsens zu errichten. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft enthält daher „einen weiteren gesellschaftspolitischen und einen engeren wirtschaftspolitischen Bereich, die sinnvoll aufeinander abgestimmt werden müssen"287. Die gesellschaftliche
„Entmassung" und der „Entproletarisierung"; siehe auch: ders. (1979d), S. 24; ders. (1979c), S. 178 f , wo er Dezentralisierung und Subsidiarität gleichsetzt. „Das Motto muß sozusagen lauten: Wirtschaftsfreiheit auf dem festen Grunde des Masseneigentums, des eigenen Heims, der eigenen Werkstatt und des eigenen Gartens"; Röpke (1979a), S. 154. Siehe auch: ebenda (1959a), S. 203; ders. (1979b), S. 275 f. Dagegen sind Müller-Armacks sozialpolitische Vorstellungen eher wohlfahrtsstaatlich orientiert - oder wie Leipold (1998), S. 168, formuliert: „Wo Röpke und Rüstow an ein Häuschen mit Schrebergarten denken, stellt sich Müller-Armack eine Siedlung des sozialen Wohnungsbaus mit öffenlichem Freizeitpark vor." 283
Röpke (1979a), S. 143.
284
Müller-Armack
(1981 c), S. 287.
285
Dem Werteverzehr setzt Müller-Armack ebenso wie Böhm anfangs die staatlicherseits zu betonende einheitsstiftende, „halb echte, halb dazuerfundene" Idee der „Nation" entgegen - nicht jedoch die der „Rasse"; vgl. Müller-Armack (1932), S. 213; siehe auch: ders. (1933), S. 20 f , 48, 62; Böhm (1937), S. 47; ders. (1933), S. 370. In späteren Werken betont Müller-Armack die Bedeutung der „Religion" für den Encompassing Interest ; vgl. dazu insbesondere Müller-Armacks religionssoziologische Studien „Das Jahrhundert ohne Gott" (1981b) und „Diagnose unserer Gegenwart" (1981c). 286 287
Müller-Armack
(\9S\c\
S. 139.
Müller-Armack (1966a), S. 237. Ähnliches findet sich bei Böhm (1937), der mittels des „Primats der Politik", d. h. des starken Staats, eine Ordnung der Wirtschaft schaffen will, die „im geistig-weltanschaulichen Sinne ... zur Steigerung des gesamtpo-
V. Gesellschaftspolitische Vorstellungen und die Rolle des Staats
93
Umorientierung besteht für Müller-Armack nach 1945 in einer Rückkehr zu den alten, christlichen Werten: „Eine Rechristianisierung unserer Kultur ist damit die einzige realistische Möglichkeit, ihrem inneren Verfall i n letzter Stunde entgegenzutreten." 288 Ä h n l i c h wie Röpke fordert denn auch MüllerArmack einen „Wertewandel entgegen dem Wertewandel", wobei auch er die Bedeutung einer geistigen Elite hervorhebt. 289 Es bleibt festzuhalten: I n den Augen der Gründerväter bedarf ein demokratischer Staat neben verfassungsmäßigen Beschränkungen zusätzlich eines gesellschaftlichen Unterbaus, denn die „ideale Demokratie setzt ... eine wesentliche Einheit des Volkswillens hinsichtlich der Staatsführung voraus" 2 9 0 . Diese Tatsache w i r d heute in der öffentlichen Diskussion genauso weitgehend vernachlässigt, wie das schon bei der Implementierung der Sozialen Marktwirtschaft der Fall war.
litischen Lebensgefühls und zur Vervollkommnung der nationalen Einheit beiträgt" (S. 11). Dies soll durch ein System der mittelbaren Lenkung gelingen, das nicht nur auf Vernunft und Zweckmäßigkeit basiert, sondern „die sittlichen Werte eines Volkes" (S. 7) anspricht und in dem sich die Wirtschaft der „Staatsraison" unterwirft (S. 5). Dieser Staat steht sogar im Widerstreit zum Subsidiaritätsprinzip, da Böhm „eine denkbar straffe Konzentration und Zentralisierung der wirtschaftspolitischen Führung" fordert; ebenda, S. 188. 288
Müller-Armack (1981c), S. 496. Der innere Widerspruch dieser „Strategie" wird hier nicht ausgeführt; allerdings beantwortet auch Müller-Armack nicht die Frage nach dem „Wie", d. h., aufweiche Weise diese Umorientierung gegen den „Zeitgeist" vonstatten gehen soll. Hinzu kommt, daß Müller-Armack selbst an anderen Stellen wesentlich pessimistischere Aussagen trifft, wenn er den allgemeinen Werteverzehr beklagt; ebenda, S. 256 f. 289
Vgl. Müller-Armack (1981c), S. 129 f. Die Notwendigkeit einer gesellschaftspolitischen Flankierung erkennt Müller-Armack in den ersten Jahren der Sozialen Marktwirtschaft immer deutlicher. Den Versäumnissen und Fehlentwicklungen will er konzeptionell durch eine „Zweite Phase" gerecht werden - wie auch Erhard mit seiner „formierten Gesellschaft" -, indem er die ursprüngliche Konzeption um das „Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik" zu ergänzen sucht; vgl. Müller-Armack (1966e), S. 270 ff. Davon erhofft er sich, daß die Soziale Marktwirtschaft zu einer irenischen, gesellschaftspolitischen Integrationsformel wird, „die zwar Divergenzen, Konflikte und Gegensätze weder ausschließt noch endgültig zu überwinden versucht, die aber doch gestaltend eingreift, um ein Maximum an Spannungen zu binden und eine realistische Basis der Gemeinsamkeiten aufzuzeigen"; Müller-Armack (1966 f)> S. 303. Doch auch dieser Versuch der Integration blieb in den Anfängen stecken. 290
Röpke (1979b), S. 145.
94
Β. Soziale Marktwirtschaft
VI. Fazit: Die Notwendigkeit einer polit-ökonomischen Analyse Die Argumentation der Gründerväter hinsichtlich ihrer ursprünglichen Konzeption und die Kritik daran lassen sich im wesentlichen auf zehn Punkte komprimieren: 1.
Für die Gründerväter hatten sich die realen Wirtschafts- „Ordnungen" vor dem „Dritten Reich" als unfähig erwiesen, die soziale Frage zu lösen, was zu einer Diskreditierung der Marktwirtschaft im öffentlichen Bewußtsein beigetragen hatte.
2.
Die Hauptursache für den Niedergang der liberalen Wirtschaft wird in der ordnungspolitischen Abstinenz des Staats und seiner Korrumpierung durch Sonderinteressengruppen gesehen.
3.
Als verstärkender Faktor für den Verfall der liberalen Wirtschafts- „Ordnung" wird der Wertewandel in Form von Werteverzehr, Vermassung und Idolbildung bei gleichzeitig zunehmender Bedeutung politischer Entscheidungen („Demokratisierung") betrachtet.
4.
Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft soll einen Versuch darstellen, aus den Versäumnissen der Vergangenheit Lehren für die Zukunft zu ziehen und die soziale Frage als eine nach der formalen oder materiellen Freiheit zu lösen.
5.
Ihre Kernbestandteile sind eine Wirtschaftsordnungspolitik mit dem Ziel einer allokativ effizienten Lenkung der Ressourcen durch eine funktionierende Wettbewerbsordnung (Allokationsziel) sowie eine sozial- und gesellschaftspolitische Flankierung, die die sozialen Spannungen durch mehr „Gerechtigkeit" zu minimieren sucht (Distributionsziel).
6.
Über Art und Ausmaß der (materiellen) speziellen Sozialpolitik und ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbsordnung gibt es jedoch unterschiedliche Vorstellungen, so daß von der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft kaum gesprochen werden kann.
7.
„Bewahrer" der Sozialen Marktwirtschaft soll der Staat sein, der als starke und unabhängige Institution über den Dingen stehen und in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine Widerlagerfunktion gegenüber dem Wertewandel wahrnehmen soll.
8.
Staatliche Aktivitäten sollen durch die Prinzipien der Ordnungskonformität und der Subsidiarität begrenzt werden. - Diese erweisen sich aber als weitgehend inhaltsleer und lassen normative Kraft für die politische Praxis vermissen.
VI. Fazit: Die Notwendigkeit einer polit-ökonomischen Analyse
9.
95
Die „Stärke" des Staats kann entweder formell aus einer engen, kodifizierten Aufgabenbegrenzung 291 bzw. der Etablierung oligarchischer Strukturen erwachsen oder informell aus dem gesellschaftlichen Wertekonsens. Dabei gilt: Die (repräsentative) Demokratie wird nur in den Bereichen staatlichen Handelns als die geeignete Willensbildungsform angesehen, in denen ein gesellschaftlicher Grundkonsens herrscht, der durch Struktur- oder Vitalpolitik herbeizuführen ist. Hier könne der Staat stark und demokratisch sein. Bestehe kein Grundkonsens, so bedürfe in der „schwächeren Variante" die repräsentative Demokratie einer verfassungsmäßigen Begrenzung, um der Gefahr einer „pluralistischen" Entartung zu begegnen. In der „stärkeren" Version könne der Staat in einer pluralistischen Gesellschaft nur dann wohlmeinend über den Einzelinteressen stehen, wenn den Eliten größerer Einfluß zugestanden wird, um den Einfluß der „Massen" zu begrenzen. - Was unter „Elite" zu verstehen ist, bleibt jedoch weitgehend unklar. Eine entscheidungstheoretische Fundierung dieser Diagnose und der daraus abgeleiteten staatsordnungspolitischen Implikationen erfolgt nicht. Deshalb sind auch die Reformmaßnahmen in diesem Punkt wenig konkret und kaum ausgearbeitet.292
10. Dieses „Versäumnis" wirkt um so schwerwiegender, als innerhalb der Konzeption dem Staat neue Aufgaben gerade in jenen Bereichen zugewiesen werden, in denen kein Konsens besteht und daher „Flankierungen" notwendig wären. Die bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, welche außergewöhnliche Bedeutung der staatlichen Institutionensetzung im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft zukommt. Der Staat soll dort, wo die tradierten Werte verlorengegangen sind, eine Widerlagerfunktion wahrnehmen und mittels Ordnungs-, Sozial- und Gesellschaftspolitik Halt geben. An die Stelle „natürlicher" religiöser und moralischer Werte sollen staatlich gesetzte Institutionen treten. Derartige Überlegungen werden heute im Forschungsprogramm der Neuen Institutionenökonomik thematisiert und können vor diesem Hintergrund interpretiert werden. Institutionen dienen dazu, Erwartungen zu stabilisieren, indem Handlungsalternativen ausgeschlossen werden - oder allgemeiner formuliert: Sie sollen ein gesellschaftliches Zusammenleben ermöglichen:
291
Dies betonen auch: Streit/Wohlgemuth
292
So auch: Vanberg{ 1988), S. 24; Streit/Wohlgemuth
(1997), S. 8. (1997), S. 21.
96
Β. Soziale Marktwirtschaft
„Institutions are the structure that humans impose on human interaction and therefore define the incentives that, together with the other constraints (budget, technology, etc.), determine the choices of societies and economies over time." 293 Institutionen bestehen aus einer Regel- und einer Überwachungskomponente. Eine Regel dient dazu, sich wiederholende Vorgänge mittels Geboten oder Verboten zu ordnen. Damit dies gelingt, muß die Regel gesellschaftlich bekannt sein; 294 damit sie Relevanz besitzt, muß ein Mißbrauch (möglichst) ausgeschlossen sein. Das wiederum erfordert,
sie m i t Hilfe
verschiedener
Mechanismen zu überwachen. Zunächst können Regeln selbstbindenden Charakter aufweisen, wenn jedes Wirtschaftssubjekt den Anreiz hat, Regeln zu beachten: V o r allem in Koordinationsspielen reichen Sitten und Konventionen aus; moralische Werte oder staatliche Kontrolle sind hingegen kaum gefragt. 295 I m Konfliktfall jedoch ist die Motivationsstruktur eine andere, und es bedarf einer Überwachungsinstanz. Diese kann sich informell als moralische oder religiöse Bindung ergeben oder sich formell als A k t staatlicher Überwachung vollziehen. 2 9 6 Genau hier setzt das sozial-marktwirtschaftliche Programm an: A n die Stelle der privaten Bindung 2 9 7 tritt in der Konzeption größtenteils die durch einen starken Staat gewährleistete Bindung. Mittels Wirtschafts-, Gesellschafts- und
293
North (1993a), S. 35.
294
Hinsichtlich der Evolution von Regeln ist bemerkenswert, daß man sie zwar als Resultat menschlicher Aktion, nicht aber unbedingt als Ergebnis menschlichen Planens interpretieren kann. Im Zusammenhang mit dem Entwicklungsaspekt ist zu beachten, daß Regeln auf der einen Seite eine gewisse Stabilität aufweisen müssen, damit sie überhaupt als ordnende Potenzen in Erscheinung treten können, auf der anderen Seite jedoch ausreichend flexibel sein müssen, um sich geänderten Rahmenbedingungen anpassen zu können. Dies bedeutet, daß Regeln (1) allgemein sein sollen, denn je allgemeiner sie sind, desto stärker werden die Erwartungen stabilisiert, (2) gewiß sein sollen, d. h., daß man einerseits erkennt, ob eine Regel durchbrochen wird und man sich andererseits auf den Fortbestand einer Regel verlassen kann, und (3) offen sein soll, so daß das System nicht erstarrt; vgl. dazu: Kiwit/Voigt (1995), S. 2 ff. 295
Vgl. Schotter (1981), S. 23; Wellesen (1994), S. 11 ff.
296
Vgl. Schotter (1981), S. 24 f.; North (1991), S. 97; ders. (1993a), S. 36 ff.; Kiwit/Voigt (1995), S. 6 f.; Mummert (1995), S. 3 ff.; Lachmann (1963), S. 66 ff. Dabei können formale Institutionen einerseits budgetwirksam sein; so beeinflussen und strukturieren die Regeln der Besteuerung oder das Ausgabenverhalten des Staats die Aktionen der Akteure. Andererseits ergibt sich bei vielen Regulierungen, Gesetzen und Verordnungen die budgetäre Inzidenz nur indirekt. 297
Daß es sich bei moralischen Werten um bindungsbedürftige handelt (Konfliktspiel), dürfte außer Frage stehen, denn das friedliche Zusammenleben ist stets gefährdet; siehe auch: Leipold ( 1998), S. 168 f.
VI. Fazit: Die Notwendigkeit einer polit-ökonomischen Analyse
97
Sozialpolitik soll der Staat das gesamtgesellschaftliche Gefüge ebenso wie die individuelle Freiheit sichern. 298 Damit gewinnt die Struktur der Willensbildung des Staats Relevanz, und es stellt sich die Frage, wie diese „Institutionensetzung" vonstatten geht. Zwar bejahen die Gründerväter die Demokratie grundsätzlich, doch erkennen sie ihre Grenzen, wiewohl sie sie nicht klar nennen: Demokratische Entscheidungen seien nur dort „vernünftig", wo ein Grundkonsens über das Ziel vorliegt und keine „Ausbeutung der Minderheit" durch die Mehrheit oder durch organisierte Interessengruppen zu erwarten ist. So finden sich hier, wenn auch nur rudimentär ausgearbeitet, Aspekte der modernen Constitutional Economics.299 Für die Fälle, in denen kein Konsens existiert bzw. gesellschaftspolitisch herstellbar ist, ist ein demokratisches Entscheidungsverfahren ungeeignet; dieses Verfahren ist für die Sozialen Marktwirtschaftler kein „Wert an sich", sondern „Mittel zum Zweck", d. h. zur Realisierung der Wettbewerbsordnung, der (Sozialen) Marktwirtschaft oder im Hayekschen Sinne allgemein zur Sicherung der Freiheit. In den Fällen, in denen das demokratische Verfahren zu keinen „befriedigenden" Ergebnissen führt und „gefährlich" ist, sind zum einen institutionelle Begrenzungen vorgesehen, 300 oder es gewinnen zum anderen Vorstellungen hinsichtlich einer Elitenherrschaft an Bedeutung. Diese oligarchischen Ansichten finden sich besonders ausgeprägt bei Röpke, implizit aber auch bei den anderen: Die Nobilitas naturalis, die Erfahrenen, die Experten und Wissenschaftler sollen die Geschicke (in den „Konflikt-Bereichen") lenken, da andernfalls wieder die Entartung in eine Demokratie der „Interessenhaufen" und der Verlust der Freiheit drohen. Damit brechen in diesen Fällen ökonomischer und politischer Liberalismus - oder in einer anderen Sprachregelung: Liberalismus und Demokratie - auseinander.301
298 Siehe auch: Grossekettler (1997), S. 6 f f , der in der Betonung dieser Aufgaben durch die Ordoliberalen das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen Alt- (von Hayek, Friedman) und Ordoliberalen sieht; siehe auch: Böhm (1960a), S. 88. 299 Siehe dazu auch: Tietzel (1991); Leipold (1989); ders. (1990). Überblicke zur Constitutional Economics finden sich bei: Buchanan (1990); Mueller , Dennis C. (1996). 300 Besonders elaboriert sind diese institutionellen Begrenzungen bei von Hayek. Da dieser aber nicht zum „inner circle" der Gründerväter gezählt wurde, wurden seine Überlegungen nur am Rande gestreift. Sie gewinnen aber hinsichtlich der Reformoptionen (Kapitel D.) an Relevanz und werden dort zum Teil ausführlich dargestellt. 301 Vgl. Haselbach (1991), S. 77. Dieses heißt aber nicht, wie Haselbach schließt (vgl. ebenda, S. 125), daß im Ordoliberalismus mittels dieser Ordnung eine „ideologische Formierung" der Gesellschaft vorgenommen werden solle. Die „Ordnung" bezieht sich zunächst, wie auch sonst immer kritisiert wird, nur auf die Wettbewerbsordnung; die politische Ordnung ist dann „Mittel zum Zweck" (ökonomischer Wettbewerb), d. h , der Politiker degeneriert zum Erfüllungsgehilfen, jedoch nur im Hinblick auf die Wirt7 Rauhut
98
Β. Soziale Marktwirtschaft
Hier besteht ein konzeptioneller Widerspruch: Einerseits soll der Staat Wertekonsens etablieren bzw. moralische Werte durch „staatliche" Institutionen ersetzen, andererseits bedarf der Staat, um stark und demokratisch zu sein, gerade dieses Wertekonsenses vor der Etablierung. Wenn man aber bedenkt, daß gerade in gesellschaftlichen Konfliktbereichen (Sozial- oder auch Wettbewerbsordnungspolitik) dem Staat neue Aufgaben übertragen werden, so darf die staatliche Willensbildung in diesen Bereichen eben nicht (unbeschränkt) demokratisch organisiert sein. Denn sonst droht gerade wieder die Entartung in die „Interessenhaufendemokratie". Für die Praxis der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gilt jedoch, daß der bei Fehlen eines allgemeinen Konsenses notwendige Staatsaufbau nur in wenigen Politikbereichen (in der Geld- und mit Abstrichen in der Wettbewerbspolitik) existiert. Der dortige „Erfolg" scheint den Gründervätern Recht zu geben. Im übrigen gilt einerseits, daß der Staat demokratisch aufgebaut ist, fast nirgends oligarchische oder technokratische Strukturen aufweist und zudem kaum verfassungsmäßige Begrenzungen staatlicher Aufgaben existieren. Andererseits herrscht jedoch selten Konsens, und es wurde kaum ein Versuch unternommen, dort, wo kein „Wertekonsens" existiert, eine - wie auch immer geartete - gesellschaftliche Strukturpolitik zu treiben. Genau darin liegen die Hauptgründe dafür, daß die Konzeption in der Praxis nur bruchstückhaft realisiert wurde und die Politisierung - insbesondere bei den sozialpolitischen Entscheidungen - zunahm,302 so daß ein „ökonomisch rationaler" Aufund Ausbau des Systems verhindert wurde. Im folgenden gilt es daher, bei Wertepluralismus unter repräsentativ-demokratischen Rahmenbedingungen näher zu begründen und zu analysieren, ob es Möglichkeiten gibt, die Realisierungschancen für eine Soziale Marktwirtschaft zu erhöhen, oder allgemeiner: die Widerlagerfunktion des Staats zu stärken. Dazu ist es zunächst notwendig, die Wirkungszusammenhänge im politischen System, die im ordoliberalen Programm auf einer rudimentären Ebene verbleiben, zu analysieren. Bisher erfolgte die staats- und gesellschaftspolitische Diagnose des Pressure-group-Staats ohne eine entscheidungstheoretische Begründung auf deskriptive Art. Eucken, Röpke und die anderen erkennen zwar die Gefahr, die von Monopolen, Kartellen und Interessengruppen ausgeht; worauf deren Einfluß in der Demokratie beruht und wie die Gruppen zu Macht kommen, bleibt aber unklar. Deshalb lassen auch die „staatspolitischen" Vorschläge inhaltlich Konkretes vermissen, und sie verbleiben im allgemeinen (Trennung von Agenda und Non-Agenda; Primat der Ordnungspolitik; Zurückhaltung bei
schaftsordnung. Daher kann es sich höchstens um eine Wirtschaftsideologie, nicht aber um eine politische Ideologie im eigentlichen Sinn handeln. 302 Siehe auch: Kloten (1986), S. 73.
VI. Fazit: Die Notwendigkeit einer polit-ökonomischen Analyse Interventionen;
Verfassungsbeschränkung
in
„bestimmten"
99
unbestimmten
Bereichen u. ä.). Diese Lücke soll i m folgenden m i t Hilfe eines Public-choiceapproach geschlossen werden, denn „a 'theory of polities', defined as the theory of the working properties of the political process under alternative sets of rules, is logically and necessarily prior to any responsible discussion of constitutional alternatives themselves"303.
303
Brennan/Buchanan (1980), S. 187.
„Die Idee der Allgewalt der Mehrheit ist... eine Degeneration des Ideals der Demokratie, eine Degeneration, die freilich bisher überall eingetreten ist, wo die Demokratie lang genug bestanden hat. Sie ist jedoch keineswegs eine notwendige Folge des Prinzips der Demokratie, sondern nur notwendige Folge der irrigen Ansicht, daß ein bestimmtes Verfahren zur Feststellung der Meinung der Mehrheit auf alle möglichen Fragen eine Antwort geben müsse, die wirklich die Meinung der Mehrheit wiedergibt." 1
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie Ein Public-choice-Modell institutioneller Veränderungen Im Zentrum der Überlegungen der Gründerväter steht der Einfluß staatlicher Instanzen und Institutionen auf das Verhalten der Wirtschaftssubjekte. Deutlich weniger beachtet blieb bei ihnen hingegen die Frage, unter welchen politischen Voraussetzungen die für eine Soziale Marktwirtschaft notwendigen Rahmenbedingungen in demokratischen Systemen geschaffen werden.2 Diese wird im folgenden untersucht. Zunächst werden die denkbaren politischen Maßnahmen in die beiden Kategorien effizienzsteigernd und redistributiv - abweichend von der traditionellen finanzwissenschaftlichen Klassifikation Musgravescher Provenienz - eingeteilt. Dies ist notwendig, um die Modellergebnisse vor dem Hintergrund des konzeptionell Gewollten bewerten zu können. Daran anschließend werden etablierte polit-ökonomische Ansätze zur Erklärung staatlicher Institutionensetzung dargestellt. Diese werden allerdings für den Fortgang der Arbeit als wenig geeignet beurteilt, weil sie gesellschaftliche Strukturen und die Bedeutung staatlicher effizienzsteigernder Maßnahmen nur unzureichend berücksichtigen. Daher wird ein eigener Ansatz entwickelt. Anknüpfend an der Forderung der Gründerväter nach einem Wertekonsens wird im modelltheoretischen Teil hergeleitet, welche Entscheidungen Politiker für den Fall einer Kons ensges ellschaft treffen werden. Diese Modellvariante 1 2
Von Hayek (1965), S. 38 f.
Siehe auch: Kirsch (1981), S. 256 ff. Dieser Prozeß der kollektiven Institutionenbildung wird nachfolgend auch als Bereitstellung politischer Güter oder als politische Maßnahmen bezeichnet.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
101
dient als Referenzpunkt („benchmark"). Die Konsensannahme wird aufgegeben, und statt dessen werden die politischen Ergebnisse für eine pluralistische, nicht konsensuelle Gesellschaft modelliert. Hier zeigt sich, daß es politisch durchaus rational sein kann, Politik „auf Kosten anderer" zu treiben. Ursächlich dafür ist die Möglichkeit, Aufwand und Ertrag einer Maßnahme zu trennen, also das Prinzip der Haftung zu umgehen. Im Rahmen eines Transaktionskosten-Ansatzes der Demokratie wird dann analysiert, welche Gruppen im politischen Prozeß erfolgreich sein werden, d. h., es wird versucht, die Determinanten des politischen Erfolgs herauszuarbeiten. Erst die Unvollkommenheiten des politischen Markts und die unterschiedlichen Fähigkeiten von Gruppen, damit umzugehen, begründen Machtpositionen. Diese können dafür genutzt werden, politisch eigene Interessen durchzusetzen und bedingen z.B., daß redistributive Maßnahmen nicht unbedingt - wie zum Teil konzeptionell gewünscht - den Bedürftigen zugute kommen. Aus der Kombination von politischer Macht und der Möglichkeit, Leistung und Gegenleistung voneinander zu trennen, folgt, daß über den politischen Prozeß nicht jene Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Gründerväter vorsahen. Hier ergeben sich ursachenadäquate Ansatzpunkte für politinstitutionelle Reformen.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns Ein Überblick 1. Eine Systematik effizienzsteigernder und redistributiver staatlicher Maßnahmen Um die Vielzahl der denkbaren politischen Handlungsalternativen hinsichtlich ihrer Bedeutung und Auswirkung auf die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft beurteilen zu können, drängt es sich auf, sie zunächst in eine Systematik zu bringen. Folgt man Musgrave und der traditionellen Finanzwissenschaft, kann man nach allokativen, redistributiven und - wie häufig vorgenommen - ergänzend nach stabilisierenden Maßnahmen unterscheiden.3 Diese Einteilung erscheint letztlich jedoch nur wenig überzeugend: • Werden Allokation und Distribution getrennt und unabhängig voneinander betrachtet, könnte man zu dem Schluß gelangen, die Bereitstellung öffentlicher Güter sei verteilungsneutral. Da entsprechende Maßnahmen jedoch stets
3
Für diese Differenzierung grundlegend: Musgrave (1969), S. 7 ff.
102
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
auch finanziert werden müssen, können die Lasten hierfür unterschiedlich verteilt sein.4 • Abgesehen davon ist die Bereitstellung öffentlicher Güter schon an sich nicht verteilungsneutral: Allein die gesetzliche Zuordnung von Property-rights im Rahmen einer Eigentumsordnung besitzt hohe verteilungspolitische Relevanz. Und auch ein Gut wie die äußere Sicherheit, das - zumindest grundsätzlich - allen nutzt, erhält Verteilungssignifikanz, wenn in seinem Umfeld Entscheidungen wie beispielsweise über Rüstungsaufträge oder Standorte getroffen werden.5 • Umgekehrt hat jede verteilungspolitische Maßnahme wiederum allokative Konsequenzen, da die Zuweisung von Teilen in der Regel auch Auswirkungen auf das Gesamtvolumen hat. Diese Folgen divergieren: Meistens wird zwar ein Trade-off diagnostiziert, 6 doch gibt es auch redistributive Maßnahmen, die sich allokativ positiv auswirken („Pareto-optimale Umverteilung"). In diesem Zusammenhang sei auf die wichtige Trennung von sozialer Sicherung und sozialer Gerechtigkeit im Rahmen der Konzeption hingewiesen, die durch einen einzigen Distributionsbegriff nicht erfaßt wird. • Redistributive Maßnahmen in der Terminologie von Musgrave zielen auf eine Norm der sozialen Gerechtigkeit ab. Dabei ergibt sich zunächst die methodische Schwierigkeit, diese Norm zu spezifizieren. 7 Vor allem aber ist zu beachten, daß es Umverteilungen gibt, die eben nicht in dieses Muster passen. Schon die Gründerväter weisen auf Umverteilungsaktivitäten hin, die mit Ressourcen-Einsatz verbunden sind und den zuvor erwähnten Trade-off noch verstärken. Diese Rent-seeking-Umverteilungen („tactical redistribution") haben in der Regel andere Erscheinungsformen als die sozialpolitisch motivierten („programmatic redistribution"), 8 die die traditionelle Finanzwissenschaft betont.
4
Vgl. Buchanan/Congleton (1998), S. 52 ff.
5
So auch: Buchanan/Congleton (1998), S. 108 ff.
6
Vgl. vor allem: Okun (1975); Meade (1993); Browning/Johnson S. 175 ff.; Musgrave (1974), S. 625 ff.
(1984),
7 Innerhalb der Konzeption erweist sich Müller-Armack als Vertreter exogener, ergebnisorientierter Gerechtigkeitsvorstellungen; vgl. Gutmann (1989), S. 330 ff. Vorstellungen einer konsensualen Verfahrensgerechtigkeit finden sich dagegen u. a. bei Hensel und Eucken; vgl. Gröner (1989), S. 310 ff. In der politischen Diskussion wird dagegen häufig über soziale Gerechtigkeit oder Gleichheit diskutiert, ohne zu klären, was darunter verstanden wird. Kritisch dazu: Kristol (1972), S. 41 ff. 8 Überblicke zum Verhältnis von Redistribution und Allokation finden sich bei: Kirchgässner/Pommerehne (1989), S. 1 ff.; Tullock (1983), S. 1 ff.; Lindbeck (1985), S. 309 ff. Vgl. zu der Unterscheidung in programmatische, am „Gleichheitsziel" ausge-
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
103
Die Zweiteilung politischer Maßnahmen in der beschriebenen traditionellen Form vorzunehmen, ist daher für das weitere Vorgehen und für die Beurteilung politischer Entscheidungen nicht zweckdienlich. Statt dessen wird zwischen effizienzsteigernden und redistributiven Maßnahmen unterschieden, wobei beide Begriffe zum Teil anders als in der üblichen Literatur interpretiert werden.9 Es ergibt sich die in Abbildung 3.1 dargestellte Systematik staatlicher Maßnahmen. Politische Maßnahmen
redistributiv (Z)
effizienzsteigernd (G)
Bereitstellung öffentlicher Güter
Sicherheit vor Externalitäten - Versicherungsmotiv - Selbstschutz - Einkommensglättung
Nutzeninterdependenzen - Altruismus - Philantropie - (Neid)
enges Eigennutzstreben I enges Eigennutzstreben II - natürliche Umverteilung (Z,) - Rent-seeking (Z 2 ) Abbildung 3.1: Eine Systematik politischer Maßnahmen
a) Effizienzsteigernde
politische Maßnahmen
Im folgenden sollen staatliche Maßnahmen beschrieben werden, die sich effizienzsteigernd auswirken können, wiewohl dieser Effekt nicht bei allen von vornherein einsichtig ist. Effizienzsteigernd bedeutet, daß sich der institutionelle Handlungsrahmen für die Wirtschaftssubjekte dergestalt ändert, daß ein gesamtwirtschaftlicher Nettowohlfahrtsgewinn entsteht.10
richtete, und taktische, sich aus dem politischen Prozeß ergebende Umverteilungsmaßnahmen: Dixit/ Londregan (1996), S. 1132 ff. 9
Eine inhaltlich ähnliche Unterscheidung in „goods and services" und „redistribution and transfers" wählt: Breton (1996), S. 5 ff.; siehe auch: Bromley (1989), S. 109 ff., insb. S. 128 ff. 10
So auch: Dixit (1996), S. 39; Williamson (1996), S. 195.
104
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
aa) Öffentliche Güter In diesen Bereich gehört zunächst der klassische Fall der Bereitstellung öffentlicher Güter, einschließlich der Etablierung des „protective" und „productive state" im Sinne Buchanans." Somit wird auch die Einführung einer effizienzsichernden Wettbewerbsordnung inklusive der konstituierenden Prinzipien zu dieser Kategorie gerechnet: Ein Mehr an Ordnungspolitik steigert das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen („Ordnungspolitik als Sozialpolitik"). So sinken z. B. marktliche Transaktionskosten, wenn die Wirtschaftssubjekte nicht fürchten müssen, von der Gegenseite „ausgeraubt" zu werden, und das Harberger-Dreieck, d. h. der Effizienzverlust in Form entgangener Konsumenten- und Produzentenrenten, verringert sich. Zugleich begünstigen gesicherte Eigentumsverhältnisse die Akkumulation von Kapital und langfristige Investitionen, die zu einem Produktivitätsanstieg und somit zu einer Einkommenserhöhung führen. 12 Mit der Etablierung einer Wettbewerbsordnung (sowie von Teilen des sozialen Sicherungssystems) entstehen redistributive Effekte, die durchaus nicht Pareto-verbessernd sind: Bisherige Monopolisten oder Kartellangehörige stehen sich gegenüber dem Status quo ante schlechter, wenn z. B. Kartellverträge verboten sind oder ihre Preissetzungsmacht sinkt.13 Ihr ökonomischer Möglichkeitenraum verringert sich, und die Transaktionskosten für bestimmte Handlungen steigen. Ökonomisch gesehen sind derartige wirtschaftspolitische Maßnahmen trotz der negativen Konsequenzen für einzelne jedoch unproblematisch, da sie zu Nettowohlfahrtsgewinnen (kleineres Harberger-Dreieck bzw. gemäß dem Kaldor-Hicks-Kriterium) fuhren. 14
11 Dieser Sachverhalt erschließt sich leicht: Ohne eine durchsetzungsfähige Garantie der Property-rights (Eigentumsordnung) würde es sich für das einzelne Individuum nicht lohnen, materielle Güter zu kumulieren bzw. zu tauschen; vgl. Buchanan (1975). Überblick bei: Bund ( 1984), S. 20 ff.; siehe auch: North (1988), S. 62 ff. 12
Grundlegend dazu: Barro (1990), S. S106 ff.
13
Die Tatsache, daß eine Wettbewerbsordnung transaktionskostensteigernd wirkt, betonen: Grossekettler (1995), S. 5; Ribhegge (1991), S. 46. 14
Unter der Annahme eines „Schleiers der Ungewißheit" sind sie auch politisch unproblematisch, denn in Unkenntnis ihrer tatsächlichen Position könnten alle Gesellschaftsmitglieder diesen Institutionen zustimmen. Diese, der Constitutional Economics entlehnte Argumentation wird hier nicht weiter berücksichtigt, denn bei der Betrachtung realer politischer Phänomene besteht kein „veil of ignorance"; vielmehr sind sich die Wirtschaftssubjekte über ihre Situation und Interessenlage weitgehend („bounded rationality") im klaren, was insbesondere für die Reformdebatte (vgl. Kapitel D.) zentral ist. Kritisch zum Konzept des „veil of ignorance": Müller, Christian (1999).
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
105
bb) Elemente sozialer Sicherung Auch Teile des sozialen Sicherungssystems können effizienzsteigernd wirken und Zahler und Empfänger besserstellen. Es kann ein Interesse des Individuums unterstellt werden, sich vor negativen Folgen zu schützen, die durch fremdes oder eigenes Handeln hervorgerufen werden können. Aus dieser Sorge für das eigene Wohlergehen heraus ist der einzelne bereit, freiwillig Leistungen zu erbringen. 15 Dabei können nach Brennan drei Motive ausschlaggebend sein: 1.
das Versicherungsmotiv,
2.
das Selbstschutzargument sowie
3.
der Wunsch, den Lebenseinkommensstrom zu „glätten". 16
Das Versicherungsmotiv besagt, daß ein risikoscheues Individuum bestrebt ist, sich ein gewisses Mindesteinkommen zu garantieren, sofern es vorübergehend oder auch auf Dauer Einkommens Verluste hinnehmen muß. Dem Selbstschutzargument liegt das Bestreben zugrunde, sich vor Risiken zu sichern, die nicht dem eigenen Verantwortungsbereich entspringen, sondern von anderen ausgehen. Freiwillige Transferleistungen an Bedürftige können insoweit dazu beitragen, als sie politische Stabilität und einen gewissen Schutz vor Revolutionen und Enteignungen gewährleisten, sofern diese eine Funktion der Einkommensverteilung sind. Insbesondere für Investitionen bedarf es sicherer Property-rights; diese Sicherung („protective state" bei Buchanan) erfordert Ressourcenaufwand, der durch eine gleichmäßigere Verteilung gesenkt und in produktive Verwendungen realloziiert werden kann, woraus sich positive Effizienzwirkungen ergeben.17 So lassen sich zum Beispiel auch Sozialhilfezahlungen oder eine Arbeitslosenversicherung begründen.18
15 Daß Einstimmigkeit unter Unsicherheit möglich ist, zeigt: Wessels S. 430 ff. 16
(1993),
Vgl. Brennan (1975), S. 256 ff.
17
Das belegen im Rahmen eines spieltheoretischen Zwei-Personen-zwei-PeriodenModells: Eaton/White (1991), S. 338 ff. 18
Transferzahlungen zum Schutz vor - allgemein - politischer Unruhe sind dabei nur unter bestimmten Annahmen sinnvoll, insbesondere wenn man bedenkt, daß dadurch die „Revolutionsressourcen" der relevanten Gruppe erhöht werden. Entscheidend dabei ist der Saldo des Nutzens des derzeitigen (sicheren) Einkommens und der Summe der mit den (Miß-) Erfolgswahrscheinlichkeiten gewichteten Nutzenströme, die aus dem Einkommen bei Erfolg oder Mißerfolg einer Revolution fließen; ähnlich bei: Tullock (1971a), S. 89 ff. Wesentliche Unbekannte in diesem Spiel ist die Risikoneigung der Spieler, so daß sich unterschiedliche institutionelle Arrangements ableiten lassen. So könnten z. B. alternativ zu Transferzahlungen die Property-rights-Strukturen auch über
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
106
Ferner ist das Motiv der Einkommens glättung über den Lebenseinkommenszyklus zu nennen. Sofern der Kapitalmarkt unvollkommen ist, d. h., solange es einfacher ist, Kredit zu geben als es für Konsumzwecke aufzunehmen, erscheint Zukunftskonsum „kostengünstiger" als Gegenwartskonsum. In aller Regel wird jedoch die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen höher eingeschätzt werden als die Aussicht auf eine zukünftige Zufriedenstellung, so daß sich ein intertemporales Dilemma ergibt. Dies läßt sich jedoch - unter der (strengen) Annahme identischer Lebenskonsumkurven - dergestalt lösen, daß höhere Einkommen, die tendenziell in späteren Lebensphasen anfallen, progressiv besteuert und den Jüngeren (Bedürftigeren) zugeführt werden. 19 Ein vergleichbarer Gedankengang findet sich bei Becker und Murphy, die aus humankapitaltheoretischen Überlegungen die Notwendigkeit einer staatlichen Rentenversicherung begründen. 20 Sie gehen von der Annahme aus, daß Eltern ihre Kinder aktuell unterstützen, um in späteren Zeiten wiederum von ihnen versorgt zu werden. Dieser „Vertrag" ist jedoch unvollständig, da die Gegenleistung der Kinder nicht als sicher angenommen werden kann. Vermögende Eltern können Leistungen zurückhalten und ihre Vergabe von der Einlösung abhängig machen. Damit zwingen sie „egoistische" Kinder zur Einhaltung des „Generationenvertrags". Eltern hingegen, die nur über beschränkte finanzielle Ressourcen verfügen, haben keine Möglichkeit, derart auf ihre Kinder einzuwirken. Sofern sie mit Blick auf die eigene Zukunftssicherung Mittel aufsparen, besteht vielmehr die Gefahr, daß sie zuwenig in das Humankapital der Kinder investieren. Können sie jedoch auf die Absicherung durch eine öffentliche Rentenversicherung vertrauen, kann die Gefahr verringert werden: „Taxes receive achieve without port for
on adults help finance efficient investments in children. In return, adults public pensions and medical payments when old. This compact tries to for poorer and middle-level families what richer families tend to achieve government help; namely, efficient levels of investment in children and supelderly parents." 21
Maßnahmen gesichert werden, die die Erfolgswahrscheinlichkeiten einer Revolution minimieren oder das Risiko der Bestrafung und die Höhe der Strafe prohibitiv heraufsetzen; siehe auch: Grossman , Herschel I. (1992), S. 2 ff. 19 Gibt man die Annahme identischer Lebenskonsumpfade auf, so kommt es auch zu interpersonalen Umverteilungen; diese lassen sich nur rechtfertigen, wenn die „Gewinne" der intertemporalen Allokation signifikant groß sind. Das wird vor allem dann der Fall sein, wenn erstens der gewünschte und der ohne staatliche Umverteilung realisierbare Konsumpfad stark voneinander abweichen, zweitens der Substitutionseffekt zwischen gegenwärtigem und zukünftigem Verbrauch ausreichend groß ist und drittens die Effizienzkosten der Besteuerung („disincentive effects") gering sind. 20
Vgl. im folgenden: Becker/Murphy
21
Becker/Murphy
(1988), S. 9.
(1988), S. 3 ff.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
107
Eine staatliche Organisation der aus diesen Überlegungen folgenden Sicherungsmaßnahmen bedarf - auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips - der Begründung. Hier sind vor allem Marktversagensargumente relevant, wie z. B. • Economies-of-scale in dem Sinne, daß „risk-pooling" allen nutzt, oder • externe Effekte bei der Bereitstellung der Versicherung. 22 Externe Effekte können z. B. bei der Arbeitslosenversicherung vermutet werden: Wenn jeder versichert ist, fällt durch die Arbeitslosenversicherung der Konsum weniger stark als ohne, was sich über die bekannten Multiplikatoreffekte gesamtwirtschaftlich positiv auswirkt. 23 Ein ähnlicher Effekt ergibt sich bei dem Konzept der Risikoproduktivität, wie Sinn es erläutert. 24 Unter der Bedingung der Risikoaversion ist demnach Umverteilung über staatliche Versicherungen auch deshalb sinnvoll, weil andernfalls ertragreiche, produktive, aber risikoreiche Investitionen ausblieben. cc) Freiwillige Umverteilung Bei den zuvor dargestellten Umverteilungen, die aus Sicherungsüberlegungen erfolgen, sind - sieht man vom letztgenannten Argument ab - Höhe, Zahler und Empfänger a priori unbekannt. Daneben sind aber auch Maßnahmen mit redistributiven Charakter denkbar, bei denen Zahler und Empfänger von vornherein feststehen. Den Nehmer, der dank ihrer von einem höheren Einkommen profitiert, wird das unberührt lassen. Fraglich ist allerdings, ob eine Motivationslage denkbar ist, die auch dem Abgebenden ein freiwilliges Umverteilen sinnvoll erscheinen läßt.25 Diesbezüglich am weitesten verbreitet in der öffentlichen Diskussion - und für von Hayek einzig zulässig - ist das Caritas-, Altruismus- oder - allgemeiner - Nutzeninterdependenzargument. In seiner einfachsten ökonomischen Inter-
22
Siehe auch: Brennan (1975), S. 240 ff. Buchanan/Tullock (1962), S. 189 ff. Wird diese „Versicherungssumme" über den politischen Prozeß bereitgestellt, ist der Betrag notwendigerweise für alle Gesellschaftsmitglieder gleich. Außerdem zahlen diejenigen Bürger die Versicherungssumme, die gerade nicht von der Einkommensfluktuation betroffen sind, womit sich der staatliche Prozeß entscheidend von privaten Versicherungen unterscheidet. Hinsichtlich des „Risk-pooling"-Arguments ist jedoch zu bedenken, daß etwas derartiges auch durch Internationalisierung erreichbar ist und dem Prozeß wohl Grenzen („optimale Versicherungsgröße") gesetzt sind. 23
Vgl. Brennan (1973), S. 51 ff.; ders. (1975), S. 261 ff.
24
Vgl. Sinn, Hans Werner (1995), S. 498 ff.
25
Siehe dazu auch: Kirchgässne/Pommerehne S. 1 ff.; Lindbeck (1985), S. 309 ff.
(1989), S. 1 ff.; Tullock (1983),
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C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
pretation besagt es, daß die Wohlfahrt anderer Individuen als positive Variable in die eigene Nutzenfunktion eingeht. Bei abnehmendem Grenznutzen des Einkommens können Wohlhabende sich veranlaßt sehen, aus dem Gedanken der Mildtätigkeit, einer angenommenen gesellschaftlichen Verantwortung, aber auch aufgrund des Prestigegewinns auf Teile ihres Einkommens zugunsten bedürftigerer Personen zu verzichten. Für Zahler und Empfänger bedeutet das einen Nutzenzuwachs und damit eine Pareto-Verbesserung. 26 Somit gibt es Umstände, „under which the strictly applied Paretian welfare framework actually requires redistribution, ... In the context of familiar Musgravian welfare framework, the equity and efficiency goals may over a large range be seen as working essentially in the same direction" 27 .
Derartige Redistributionskonstellationen werden in großen Gesellschaften durch Free-riding bedroht. Daher können staatliche Lösungen in diesen Fällen des Marktversagens effizienzsteigernd sein.28 dd) Berücksichtigung im polit-ökonomischen Modell Effizienzsteigernde staatliche Maßnahmen, die aus den bisherigen Überlegungen hinsichtlich öffentlicher Güter, sozialer Sicherungen und Umverteilungen resultieren, werden in den folgenden modelltheoretischen Überlegungen mit „G" symbolisiert. Sie sind im wesentlichen kompatibel mit den Ideen der Gründerväter, die u. a. die Sicherung von Property-rights, eine klare Rechtsund Geldordnung, den Schutz vor Rent-seeking, die Etablierung sozialer Siche-
26
Vgl. zu diesem Konzept vor allem: Hochman/Rodgers (1969), S. 543 ff.; Furstenberg/ Mueller, Dennis C. (1971), S. 628 ff. Bei den hier dargestellten Ansätzen handelt es sich um Konzepte der Regelgerechtigkeit - entweder innerhalb von Regeln (Hochman/Rodgers) oder Meta-Regeln (Brennanj; vgl. Blankart (1994a), S. 83 ff. Kritisch dazu: Hagel (1993), S. 269 ff. 27
Brennan (1975), S. 239, 255 (Hervorhebungen im Original); siehe auch: ders. (1973), S. 43 ff. 28
Einen über den einfachen Caritas- oder Nutzeninterdependenzgedanken hinausgehenden Ansatz verwendet Thurow, der in der Einkommensverteilung an sich ein öffentliches Gut sieht. Eine Umverteilung in Richtung Gleichverteilung läßt sich dann damit begründen, daß „... the individual is simply exercising an aesthetic taste for equality or inequality in nature to a taste for paintings"; Thurow (1971), S. 327. In die eigene Nutzenfunktion geht nun nicht der Nutzen anderer ein, sondern ein Argument bezüglich der Verteilungssituation. Für die weiteren Überlegungen kann dieser Ansatz jedoch vernachlässigt werden.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
109
rungssysteme oder eine gesellschaftliche Strukturpolitik vorsahen. 29 Somit stellt das staatliche Angebot von G den Kern der Konzeption dar.
b) Redistributive
politische
Maßnahmen
aa) Das traditionelle Umverteilungsargument
V o n den institutionellen Maßnahmen, die entweder auf Effizienzsteigerungen abzielen oder m i t ihnen verbunden sind, sind jene zu unterscheiden, bei denen allein ein Umverteilungsziel verfolgt w i r d und gegebenenfalls negative allokative Konsequenzen nicht beachtet bzw. billigend i n K a u f genommen werden. Dies ist bei eigennutzorientierten Umverteilungen i m engeren Sinne der Fall, d. h. bei denjenigen, die gegen den W i l l e n und auf Kosten des Gebers durchgeführt werden und daher den „ b i g tradeoff 4 (Okun) zwischen A l l o k a t i o n und Redistribution begründen. 30 Demnach gilt, daß „equality i n material welfare has much lower benefits and far higher costs than equality o f political and c i v i l entitlements" 3 1 . Gerechtigkeit, verstanden als Gleichbehandlung vor dem Gesetz, ist in ökonomischer Hinsicht in der Regel unkritisch: Formale Gleichheit 3 2 führt zu einer
29
So auch hinsichtlich Eucken und Müller-Armack: Grossekettler
(1997), S. 59 ff.
30
Im folgenden wird die immaterielle Ebene, d. h. die Ziele Freiheit und soziale Gerechtigkeit, modelltechnisch nicht weiter verfolgt und ausschließlich materiell argumentiert. Dieses Vorgehen läßt sich folgendermaßen rechtfertigen: Den Gründervätern geht es um eine „entmachtete", „leistungsorientierte" Gesellschaft. Stehen Freiheit und Macht in einem Spannungsverhältnis und definiert man Macht als die Fähigkeit, individuellen Aufwand und individuellen Ertrag voneinander abzukoppeln, so schrumpft das Maß an Freiheit - als Gegenteil von Macht und Zwang - in dem Maße, wie die Abhängigkeit des eigenen Wohlergehens vom Handeln anderer, auf das man keinen Einfluß hat, wächst. Das geschieht z. B., wenn über Besteuerung, um staatliche Umverteilung zu finanzieren, Einkommen gemindert wird. Ebenso ist ein Mehr an unfreiwilliger Umverteilung mit einem Weniger an Freiheit für die Zahlenden verbunden. Gleichzeitig wirkt sich die Besteuerung negativ auf das Allokationsziel aus (s. o.). Diese Argumentation, die sich auch bei Röpke und von Hayek findet, ist angelehnt an: Bonus (1980), S. 57 ff. Insofern trifft auch die Kritik nicht zu, nach der die Konzeption im folgenden modelliert werde als Marktwirtschaß plus Umverteilung; vgl. dazu: Grossekettler (1997), S. 18, 72; Mestmäcker (1997), S. 56. 31
Okun (1975), S. 47; ähnlich auch bei: Meade (1964), S. 11 ff. Zu beachten ist, daß formale und materielle Gleichheit eng miteinander verknüpft sind: Umverteilungsmaßnahmen erfordern, daß vom Grundsatz der rechtlichen Gleichbehandlung abgewichen wird; siehe auch: Streit (1995), S. 14. 32
Konsequent bei: Radnitzky ( 1996), S. 149 ff.
110
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
Verteilung von Einkommen gemäß dem Leistungsprinzip und bildet so die Basis für allokative Effizienz - gemessen als aggregiertes Einkommen. Das gilt allerdings nicht für die materielle Gleichheit, denn eine Gesellschaft - so argumentieren auch schon die Gründerväter -, die im Extrem einen vollkommenen materiellen Ausgleich als Ziel anstrebt, würde darauf verzichten, materielle Produktionsanreize zu nutzen. „And that would lead to inefficiencies that would be harmful to the welfare of the majority." 33 Das oben angesprochene Trade-off- Verhältnis beruht primär auf der Vorstellung, daß sich Wirtschaftssubjekte streng eigennützlich, d. h. am eigenen Einkommen orientiert, verhalten. Es läßt sich plausibel an Hand ernes exemplarischen Szenarios begründen: 34 Angenommen es existieren zwei Individuen oder homogene Individuengruppen in einer Volkswirtschaft. Beide ziehen den Nutzen aus ihrem verfügbaren realen Einkommen, das sie z. B. für den Konsum von Marktgütern verwenden, und aus Freizeit. Allerdings unterscheiden sie sich durch ihre Qualifikation, so daß die eine (Gruppe 1) nur einen niedrigeren (Real-)Lohnsatz am Markt realisieren kann als die andere (Gruppe 2). Das jeweilige Gruppeneinkommen ergibt sich durch Multiplikation mit der Arbeitszeit. Unter den so gegebenen Umständen maximiert jedes Kollektiv seinen Nutzen bezüglich des verfügbaren Einkommens und der Freizeit, so daß sich eine nutzenmaximale Aufteilung in Arbeits- und Freizeit ergibt. Aus diesem Kalkül resultiert ein bestimmtes aggregiertes effizientes Einkommen. Werden in der betrachteten Volkswirtschaft nun redistributive Maßnahmen ergriffen, hat dies Auswirkungen auf die (privatwirtschaftliche) Effizienz - hier gemessen als Summe der erwirtschafteten Einkommen - der Gruppen. Zum einen sinkt das Nettoeinkommen je geleisteter Arbeitsstunde bei der wohlhabenderen Gruppe 2, zum anderen fällt den Mitgliedern der Gruppe 1 ein arbeitsunabhängiges Einkommen in Höhe der Transferzahlung zu. Normalerweise35 wird Gruppe 2 mit steigendem Steuersatz Arbeitszeit zugunsten von Freizeit reduzieren, da mit steigendem Steuersatz, d. h. geringer werdender direkter Gegenleistung, die Opportunitätskosten der Freizeit sinken. Damit sinken Brutto- und Nettoeinkommen bei der besteuerten Gruppe (Finanzie33
Okun (1975), S. 48. Wie dargelegt, versuchten die Gründerväter mittels der Kriterien Konformität und Subsidiarität dieses Spannungsverhältnis zu entschärfen, was sich jedoch als problematisch erweist. 34 Modelltheoretisch bei: Musgrave (1974), S. 625 ff.; Browning/Johnson (1984), S. 175 ff.; Gabisch (1988), S. 75 ff. Ein polit-ökonomisches Modell, das sich dieses Wirkungsmechanismus bedient, liefern: Meitzer/Richard (1981), S. 916 ff. 35 Zwar ist auch der Fall denkbar, daß ein sinkendes Realeinkommen den „Reichen" veranlaßt, sein Arbeitsangebot auszuweiten („Workaholic-Verhalten" für den Fall, daß Freizeit ein inferiores Gut ist). Davon wird aber - auch aufgrund des empirischen Bildes - abstrahiert.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
111
rungseffekt). 36 Bei der „armen" Gruppe fuhrt die Transferzahlung zwar zu einer Erhöhung des Gruppeneinkommens; das Gesamteinkommen steigt jedoch nicht in entsprechender Höhe, da aufgrund der leistungsunabhängigen Zahlung der Anreiz zu eigener Leistung und damit das selbsterzeugte Einkommen sinkt (Ausgabeneffekt). Es kommt zu einem „excess burden" oder zu „deadweight losses", so daß sich ein Trade-off zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer Gleich- bzw. Gleicherverteilung begründen läßt. Zudem wird das Transfervolumen auch durch Transaktionskosten gemindert. Im einfachsten Fall handelt es sich dabei um die „Verwaltungskosten", die bei der Umverteilung durch die Steuererhebung oder die Implementierung und Durchführung von Transferprogrammen entstehen. Okun beschreibt dies metaphorisch: Versucht man mit Hilfe eines löchrigen Eimers, Wasser von einem See ins Landesinnere zu transportieren, kommt schließlich nur ein Bruchteil davon an („Leaky-bucket-Effekt"). 37 Ebenso verhält es sich, wenn der Staat es unternimmt, Einkommen von den Wohlhabenderen abzuziehen und es den Bedürftigeren zukommen zu lassen. Unbenommen dieser negativen Effekte lassen sich diese Umverteilungen von reich zu arm (im folgenden mit Z\ symbolisiert) in einer demokratisch organisierten Gesellschaft bei Wahlen mit Mehrheitsregel dadurch begründen, daß die personelle Einkommensverteilung linkssteil verläuft. 38 Nicht erklärbar hingegen sind Umverteilungen auf Kosten der weniger Begüterten zugunsten der Bessergestellten oder innerhalb einer bestimmten Schicht.39 Dabei handelt es sich meist nicht um direkte, offene Transfers, sondern um eine verdeckte „Umverteilung ökonomischer Vorteile" (Bromley). Derartige politische Programme durchzusetzen, erfordert in der Regel einen Ressourceneinsatz,40 so daß man bei der Rent-seeking- Problematik (im folgenden Z 2 ) angelangt ist.
36 Eine indirekte Entlohnung könnte z. B. darin bestehen, daß das gesellschaftliche System stabilisiert und der „soziale Frieden" gesichert werden. 37 Vgl. Okun (1975), S. 91 f. Okun subsumiert unter diesem Effekt ebenfalls die negativen Arbeitsanreize; siehe auch: Rothschild (1982), S. 572 ff. 38
Dann ist der Median-Wähler Mitglied von Gruppe 1.
39
Vgl. Kapitel C.I.2. sowie: Lindbeck (1985), S. 317; Tullock (1983), S. 17 ff.; Knappe (1980), S. 86 ff. 40
Sieht man davon ab, daß das Wählengehen mit Informations- und Entscheidungskosten verbunden sein kann.
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C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
bb) Umverteilungsmaßnahmen aufgrund von Rent-seeking Umverteilung stellt neben der Eigenproduktion die zweite Möglichkeit dar, Einkommen zu erzielen. Eine Quelle für Umverteilungseinkommen ist der Staat, so daß „as the expansion of modern government offers more opportunities for rents, we must expect that the utility-maximizing behaviour of individuals will lead them to waste more and more resources in trying to secure the 'rents' or 'profits' promised by government" 41.
Dieses Phänomen wird seit Ende der 60er Jahre in der Public-choice-Theorie unter dem Stichwort „rent-seeking" diskutiert. 42 Die Bemühungen werden sich dabei häufig nicht auf direkte Zahlungen beziehen, sondern eher auf eine verdeckte Umverteilung ökonomischer Vorteile und künstlicher Renten. Unter einer Rente ist eine Zahlung an den Besitzer einer Ressource zu verstehen, die über die Opportunitätskosten (Zahlung für die nächstbeste Verwendung) hinausgeht. Es kann sowohl zwischen natürlicher und künstlicher als auch zwischen privater und politischer Rente unterschieden werden: Natürliche Renten entstehen beispielsweise, wenn sich auf einem Markt Angebot und Nachfrage verlagern. Solche Renten sind in der Regel aber nur von kurzer Dauer und werden über den Wettbewerb wieder abgeschmolzen. Sie stellen temporäre Monopolgewinne dar, wie sie aus der dynamischen Wettbewerbstheorie bekannt sind, so daß es sich bei natürlichem Rent-seeking eigentlich um Profit-seeking handelt. Künstliche Renten hingegen sind längerfristiger Natur und entstehen nicht aus dem Marktprozeß, sondern werden von außen in Form von Marktstrukturänderungen (private Renten z. B. durch Monopolisierung) oder über den politischen Prozeß (politische Renten) eingeführt. Die folgenden Betrachtungen richten sich auf eben diese künstlichen, in erster Linie politischen Renten.43 Solche Renten (im Modell durch „ Z 2 " symbolisiert) ent-
41
Buchanan (1991), S. 39; siehe auch: ders. (1980a), S. 4.
42
Der erste moderne Aufsatz auf diesem Gebiet stammt von: Tullock (1967), S. 224 ff. Der Terminus Rent-seeking wurde von Krueger (1974), S. 291 f f , in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht. Dixit/Londregan (1996), S. 1133, sprechen von „tactical redistribution". Diesbezügliche Überlegungen finden sich schon bei Mill (1972), S. 165: „Every function superadded to those already exercised by the government causes its influence over hopes and fears to be more widely diffused, and converts, more and more, the active and ambitious part of the public into hangers-on of the government, or of some party which aims at becoming the government." 43
„The theory of rent seeking involves the study of how people compete for artificially contrived transfers." Tollison (1982), S. 576. Siehe auch: Rowley/Tullock (1988), S. 4 ff.; Mueller, Dennis C. (1989), S. 299 ff.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
113
stehen z. B. durch Regulierungen (Monopolrechte oder Markteintrittsbarrieren), Importrestriktionen, direkte Transfer- oder Subventionszahlungen.44 Analog zur mikroökonomischen Preistheorie ist es dann solange lohnend, Ressourcen zu investieren, um die Renten zu erlangen - oder zu schaffen -, bis die Rendite in dieser Verwendung so hoch ist wie in anderen.45 In dem Umfang, in dem daher Möglichkeiten existieren oder geschaffen werden, politische Renten zu erlangen, werden knappe Ressourcen dafür verwandt. Da Rent- und Profit-seeking- Verhalten unter der Annahme begrenzter Ressourcen in einem Substitutionsverhältnis stehen, bewirkt ein Mehr des einen eine Abnahme des anderen, woraus Wohlfahrtsverluste resultieren. 46 Jedoch sind nicht alle Aufwendungen für Rent-seeking auch volkswirtschaftliche Kosten: Wird ein Rechtsanwalt angestellt oder ein Lobbyist bezahlt, so stellt deren Aufwand Verschwendung dar, da die Ressourcen anderweitig nicht mehr genutzt werden können.47 Wenn hingegen ein Rent-seeker einen Politiker zum Essen einlädt, muß von den daraus resultierenden privaten Kosten der monetäre Nutzen des Politikers subtrahiert werden. Dabei werden, wie Becker zeigt, rationale Individuen die Kosten zu minimieren suchen.48 Des weiteren stellt z. B. die Zahlung von Bestechungsgeldern keine Verschwendung dar, sondern nur eine Transferzahlung. Dabei müssen aber Effizienzverluste - z. B. durch ein geringeres Arbeitsangebot aufgrund des gestiegenen Basiseinkommens beim Empfänger - beachtet werden. 49 Bei der Frage, wer Nutznießer des Rent-seeking-Wettbewerbs ist, ist zunächst zu vermuten, daß „rent-seeking most likely promotes more significant inequalities in the distribution of income"50, da die Ressourcen für den Umver-
44
Vgl. zur Regulierungsdiskussion grundlegend: Stigler (1971), S. 3 ff.; Peltzman (1976), S. 211 ff. sowie Kapitel C.I.2. 45
Siehe dazu auch: Hirshleifer(
46
Vgl. Märtz (1990), S. 27 ff.
1994), S. 1 ff.
47
Vgl. Tollison (1997), S. 508.
48
Vgl. Becker, Gary S. (1983), S. 371 ff. sowie Kapitel C.I.2.
49
Vgl. Dougan/Snyder (1993), S. 793 ff. Über die tatsächliche Höhe der Rent-seeking-Kosten besteht keine Einigkeit; Schätzungen variieren z. B. für die USA zwischen 3 und 50 v.H.; vgl. Tollison (1997), S. 514. Diese Spannbreite resultiert daraus, daß in der einen Schätzung lediglich die Kosten aus Regulierung enthalten sind, während die andere auch Ausgaben für Polizei, Militär, Sicherheitsvorkehrungen etc. als Rent-seeking- bzw. -protection-Ausgaben interpretiert. In den folgenden Ausführungen werden zwar Rent-seeking-Kosten berücksichtigt, sie sind jedoch für den Ansatz nicht konstituierend. 50
Tollison (1997), S. 518.
8 Rauhut
114
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
teilungswettbewerb ungleich verteilt sind.51 Hinzu kommt, daß nicht jede Gruppe jedes Anliegen gleich gut organisieren kann. Kritische Variablen sind dabei nach Olson der Gruppenumfang und eng damit verbunden die Höhe der Organisationskosten52 sowie die Größe des einzelnen Mitglieds, d. h. die individuelle Nutzenmenge aus dem Kollektivgut, die Art des Ziels (inklusiv vs. exklusiv) und die Fähigkeit, positive und negative selektive Anreize zu bieten. So sind allgemeine Vorhaben (z. B. die generelle Senkung eines Steuertarifs) schwerer durchzusetzen als spezielle, z. B. in Form einer bestimmten Sonderregelung („loopholes" im Sinne von Freibeträgen bzw. -grenzen für Haushaltshilfe, Arbeitszimmer u. ä.). Entscheidend für den Erfolg einer Gruppe auf dem politischen Markt ist demnach letztlich, inwieweit sie fähig ist, politischen Druck auszuüben.53 Außer von diesen internen Faktoren hängt die Höhe der Rendite des Rentseeking auch vom institutionellen Umfeld ab; es fallen insbesondere die insgesamt zur Verfügung stehende Rentensumme sowie Zahl und Verhalten der „Wettbewerber" ins Gewicht. Das Grundmodell dieser externen Rent-seekingBedingungen geht auf Tullock zurück, der den Fall eines Monopols analysiert und von den internen Möglichkeiten und Grenzen der Erzeugung politischen Drucks abstrahiert. 54
51
So auch: Kristov et al. (1992), S. 145. Eine Relativierung dieses Arguments bietet: Hirshleifer (1991a), S. 177 ff.; ders. (1994), S. 7; ders. (1995), S. 28 ff. Er zeigt, daß unter der Annahme von Reaktionsinterdependenzen (Cournot-Verhalten) Ressourcen aus produktiven in Umverteilungsverwendungen umgelenkt werden, wenn sich der Rent-seeking-Wettbewerb verschärft. 52 Da die Anzahl der bilateralen Kontakte innerhalb einer Gruppe, bestehend aus η Mitgliedern, n (n-l)/2 beträgt, werden die Organisationskosten überproportional zu der Gruppengröße steigen; vgl. Fritsch et al. (1996), S. 303, deren Formel jedoch fehlerhaft ist. 53 Vgl. dazu: Olson (1968), S. 27 ff.; Stigler (1971), S. 13 ff.; McCormick/Tollison (1981), S. 31 ff.; Becker, Gary S. (1983), S. 375; ders. (1985), S. 331; Findlay/Wellisz (1984), S. 93 ff.; Benson/Engen (1988), S. 734 f.; Dunleavy (1991), S. 34 f f , 62 ff.; Breton (1996), S. 318 ff; siehe auch die Weiterentwicklung des Olson-Ansatzes bei: Moe (1980), S. 22 ff.; Überblicke bei: Märtz (1990), S. 75 ff.; Wellesen (1994), S. 100 ff. Der Erfolg der eigenen Aktivitäten ist auch von dem Verhalten der anderen Marktteilnehmer abhängig. Im Unterschied dazu argumentieren Kirchgässner/Pommerehne (1989), S. 14, daß aus dem Free-riding-Problem folgt, Rent-seeking sei nicht so verbreitet und die gesellschaftliche Verschwendung sei geringer als vermutet; siehe auch: Breton (1996), S. 65 f. In dem Maße aber, wie Ressourcen aufgewendet werden, um das Trittbrettfahrerproblem zu überwinden, verliert dieses Argument an Relevanz. 54
Vgl. Tullock (1967), S. 224 ff.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
P,K\k
115
•
q E' Quelle: Modifiziert übernommen aus: Tullock, G. (1993), S. 7.
Abbildung 3.2: Das Grundmodell des Rent-seeking: Harberger-Dreieck und Tullock-Viereck
Hierzu wiederum ein exemplarischer Fall: Sofern ein Unternehmen mit linear-homogener Produktionstechnologie 55 auf einem Markt das Monopol besitzt, ist es in der Lage, das Gut zu einem Preis anzubieten, der oberhalb der Grenzkosten liegt (vgl. Abbildung 3.2). Bei einer normal geneigten Nachfragekurve realisiert der Monopolist sein Gewinnmaximum bei einem Preis p M , was zu einem Rückgang der abgesetzten Menge von q P auf q M führt. Dies impliziert zunächst eine Umverteilung von Konsumenten- in Produzentenrente, die mit einem Wohlfahrtsverlust in Höhe des sogenannten Harberger-Dreiecks ABC verbunden ist. Dieser Rückgang ist dabei zwar um so geringer, je unelastischer die Nachfrage verläuft, desto größer ist aber c. p. (d. h. bezogen auf dasselbe Polypol-Referenzergebnis) das Tullock-Viereck p M C A p P , das die Umverteilung
55
Diese Annahme rechtfertigt konstante Grenzkosten und vereinfacht die Analyse; bei unterlinear-homogener Produktionstechnologie (steigenden Grenzkosten) müßten noch die Effekte auf die Produzentenrente analysiert werden; dies würde die „Umverteilungsmasse", um die konkurriert wird, reduzieren. Für die weitere Argumentation ist dieser Aspekt jedoch unerheblich.
116
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
darstellt. Seine D i m e n s i o n repräsentiert - i m Sinne der Gründerväter - das Ausmaß der M a c h t u n d des Ausbeutungsspielraums der Anbieter. 5 6 A n dieser Stelle endet die Betrachtung der traditionellen,
neoklassischen
M i k r o Ö k o n o m i e ; sie verkennt damit j e d o c h Fälle, i n denen das M o n o p o l k e i n natürliches, sondern ein künstliches ist, das z. B. durch eine staatliche Regulierung garantiert w i r d . W i e jedes andere ist auch dieses M o n o p o l m i t einer höheren Verzinsung der eingesetzten Ressourcen verbunden, als eine Unternehmung sie a u f k o m p e t i t i v e n M ä r k t e n erzielen könnte. Das hat zur Folge, daß es i n der Regel nicht zu einem Wettbewerb auf d e m M a r k t , sondern zu einem Wettbewerb um den M a r k t k o m m t , daß n ä m l i c h andere Interessenten versuchen, ihrerseits die M o n o p o l s t e l l u n g zu erlangen. I n der ursprünglichen A r g u m e n t a t i o n T u l l o c k s führt dies dazu, daß volkswirtschaftlich der gesamte Umverteilungsg e w i n n i n Höhe des T u l l o c k - V i e r e c k s p M C A p P durch den Einsatz v o n Rentseeking-Ressourcen R aufgezehrt w i r d . 5 7 Jedes einzelne Unternehmen
wird
einen T e i l des erwarteten Distributionserfolgs „investieren", u m i n den Genuß des Monopolrechts zu k o m m e n . 5 8
56 Erinnert sei hier an das Monopolmaß von Lerner, das die auf den Preis bezogene Differenz zwischen Preis und Grenzkosten darstellt. Je größer diese Differenz ist, desto größer ist die Monopol macht. Die Differenz wiederum ist der Ordinatenabschnitt des Tullock-Vierecks. 57 „There is no reason to think that monopoly has a significant distributive effect. Consumers' wealth is not transferred to the shareholders of monopoly firms; it is dissipated in the purchase of inputs into the activity of becoming a monopolist"; Posner (1975), S. 821. 58 Die vorgestellte Argumentation knüpft an eine Überlegung Tullocks an. Würde das Harberger-Dreieck ABC die gesamten Kosten der Monopolbildung abbilden, so wäre der Aufwand, der bei der Diskussion um das Monopol getrieben wird, unverständlich, da eben die Effekte - abgesehen von nicht erwünschten Umverteilungswirkungen relativ gering wären, insbesondere bei unelastischer Nachfrage. Empirische Schätzungen aus den 60er Jahren gehen für die USA von einem Harberger-Verlust von ca. 0,1 v.H. des Volkseinkommens aus; vgl. Tullock (1993), S. 3.
Höhere Effizienzverluste können sich weiterhin ergeben, wenn der verminderte Wettbewerbsdruck zu (technischen) X-Ineffizienzen (Leibenstein) beim Monopolisten führt. Der Monopolist produziert dann nicht mehr zu polypolistischen Grenzkosten K ' P , sondern zu höheren K ' M . Dadurch reduziert sich die Outputmenge im Vergleich zum vorherigen Schaubild von q M auf q M J , und der Preis steigt von p M auf p M ] , womit sich der Harberger-Verlust von ABC auf D B Q erhöht. Dieser negative Effekt wird noch unterstützt durch die X-Ineffizienz in Höhe von K'MA^PJ». In einer zweiten Interpretation macht sich die Leibenstein-Ineffizienz nicht in den marginalen, sondern in den durchschnittlichen Kosten bemerkbar („overhead", der zu höheren Fixkosten führt). Der X-ineffiziente Monopolist wird dann genauso viel anbieten wie der effizient produzierende Monopolist; die „ineffizienten" Stückkosten werden durch die Linie A j A ^ G abgebildet. Der Monopolist produziert die Menge q M zu Stückkosten k M . Der Wohl-
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
117
Das Tullock-Viereck stellt in dieser Interpretation somit das Ausmaß der gesellschaftlichen Verschwendung dar, die resultiert aus (1) den Aufwendungen seitens der potentiellen Monopolisten, (2) den Anstrengungen seitens der Regierung als Reaktion auf diese Aktivitäten und (3) den Verwerfungen bei anderen Marktteilnehmern oder auf anderen Märkten, die wiederum auf dieses Monopol oder die Reaktion der Regierung zurückgehen. 59 Da der Umfang der Effizienzverluste aber auch vom Verhalten der „Marktteilnehmer" und den institutionellen Gegebenheiten abhängt, ist nicht sicher, ob das Tullock-Viereck das tatsächliche Ausmaß der Einbuße widerspiegelt. In einer Erweiterung des Grundmodells für Rent-seeking60 wird die Wahrscheinlichkeit pi, daß der Akteur i in Konkurrenz zu n-1 Wettbewerbern die Rente Tr mit einem Ressourcenaufwand Rj erlangt, 61 durch die Funktion (1)
pt
Rm — , mit j = 1,.., i,... η; m > 0,
-
j=1
beschrieben. Demnach ist sein Erfolg von den relativen Rent-seeking-Aufwendungen abhängig. Der Exponent m wird auch als Massen-Wirkungs-Parameter bezeichnet, der die Produktivität im Umverteilungswettbewerb ausdrückt bzw. spezifischer die Elastizität der Gewinnwahrscheinlichkeit in bezug auf den Ressourceneinsatz: (2)
m
=
Ü ^ L A ,mitm>0. dR ( P l
Je geringer m ist, desto geringer sind die erzielbaren Rent-seeking-Gewinne; mit steigendem Wert von m hingegen werden Umverteilungskämpfe lohnender. 62 Der Erwartungswert E für den Gewinn der Rente Tr kann dann formuliert werden als:
fahrtsverlust durch X-Ineffizienz wird dann durch das Rechteck kj^A'jApp abgebildet und ist exakt so groß wie im ersten Fall (K'MAJDPP). Der allokative Wohlfahrtsverlust ist aber geringer und beträgt ABC; vgl. Tullock (1993), S. 6 f.; ursprünglich bei: Crew/Rowley (1971), S. 199 ff. 59
Vgl. Buchanan (1980a;, S. 12 ff.
60
Vgl. im folgenden: Tullock (1980), S. 101 ff.; ders. (1995), S. 181 ff. Ein Überblick mit weiteren Modifikationen findet sich bei: Bartsch/Thomas (1995), S. 174 ff. 61
Modelle, die die Aufteilung der Ressourcen in produktive sowie in offensive und defensive Umverteilungsmaßnahmen berücksichtigen, liefern: Grossman , Herschel I. (1991), S. 913 ff.; Grossman, Herschel I./Kim (1995), S. 1277 ff. 62 Vgl. Tullock (1980), S. 103 ff.; Hirshleifer (1995), S. 32. Buchanan/Congleton (1998), S. 63, formulieren: „Rational coalition builders and rent seekers clearly will not
118 (3)
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie E(7V)
=
Pr(Tr-R l)
+
(\-p i).(-R i).
Unter bestimmten Annahmen ergibt sich dann für die Höhe des effizienten individuellen Rent-seeking-Einsatzes ein Wert i n Höhe von: 6 3 W
Rj
=
R
=
ÜLiOfA.jy. η
Jeder Wettbewerber w i r d u m so mehr Ressourcen für Rent-seeking aufwenden, j e größer seine Rent-seeking-Produktivität m ist, j e höher die zu erzielende Rente Tr ist und j e weniger Wettbewerber η vorhanden sind. 64 I n dieser Formulierung können die gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsverluste höher oder niedriger als oder genauso hoch wie das Tullock-Viereck sein. A l l g e m e i n gilt dabei, daß die Gefahr einer „Überinvestition" m i t steigender Produktivität i m Umverteilungskampf ( m wächst) und steigender Wettbewerberzahl (wachsende Anonymität und sinkende Reaktionsverbundenheit) zunimmt. 6 5 Bezieht man i n
participate in the political influence game in areas governed by more or less permanent user-rights-assignments." Es kommt also nicht nur auf die absolute, sondern auch auf die relative Höhe von m an: Es ist vorstellbar, sich auf verschiedenen Rent-seekingMärkten um Umverteilungseinkommen zu bemühen, ζ. B. auf dem ökonomischen und auf dem politischen Markt. Im ersten Fall werden Ressourcen Rj darauf verwandt, Monopole zu sichern, Kartelle aufrechtzuerhalten oder Außenseiter zu bekämpfen, im zweiten Fall geht es um Subventionen oder Transfers. Wenn aber die Konfliktentlohnung in dem einen Bereich - ζ. B. durch eine strenge Wettbewerbsgesetzgebung o. ä. sinkt, wird es lohnender, Renten in anderen Bereichen zu suchen. Auch bei solchen Aktivitäten gilt das Gesetz vom Ausgleich der bewerteten Grenznutzen. Eine Formalisierung dieses Gedankens findet sich - bezogen auf produktive und Rent-seeking-Investitionen - bei: Murphy et al. (1991), S. 515 ff. 63 Die mathematische Herleitung dieser Formel ist im Anhang unter Ziffer C.I.2. dargestellt. 64 Mit diesem Ansatz kann auch begründet werden, warum einzelne Interessengruppen daran interessiert sind, daß Politik auf zentraler Ebene getrieben wird, wo die Renten Tr c. p. größer sind als auf lokaler Ebene; vgl. Buchanan/Lee (1994), S. 222. Kompensierend dürfte dagegen wirken, daß auf zentraler Ebene die Anzahl der Wettbewerber größer sein wird. Allerdings werden mit steigendem Budget (Tr) die politischen Überwachungskosten steigen und produktivitätserhöhend wirken. Für eine genauere Analyse vgl. Apolte (1995). 65
Eine Quantifizierung findet sich bei: Tullock (1980), S. 102. Magee et al. (1989) vertreten die These, daß es denkbar ist, daß annähernd sämtliche Ressourcen einer Volkswirtschaft fur Rent-seeking-Aktivitäten aufgewendet werden. In weiteren Modellierungen wird zusätzlich die Risikoneigung berücksichtigt. Grundlegend dazu: Hillman/Katz (1984), S. 105 ff., die zu dem Schluß kommen, „that competition among riskaverse rent seekers appears to result in substantial rent dissipation for small rents; but, on the other hand, when rents are large, competitive rent dissipation by risk averse rent seekers may be far from complete"; ebenda, S. 108. Siehe auch: Bartsch/Thomas (1995), S. 174 ff.; Tullock (1995), S. 181 ff. Die bisherige Formulierung als Partialmodell
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
119
diese Ausfuhrungen den Staat ein, so degeneriert dieser zu einer Umverteilungs- und Rent-granting-Agentur. Bedenkt man, daß die Ressourcen insgesamt begrenzt sind, 66 läßt sich ein bislang vernachlässigter Effekt ableiten: M i t steigendem Rent-seeking-Volumen werden immer weniger Ressourcen produktiv verwandt (Primäreffekt). Da ein Anwachsen des Volumens i n der Regel m i t einer stärkeren Belastung der produktiv verwandten M i t t e l einhergeht (z. B. durch eine höhere Besteuerung), kommt es zu einer „reallocation o f talents", denn es w i r d für die talentiertesten Wirtschaftssubjekte unrentabel, sich produktiv zu verhalten; statt dessen werden sie Rent-seeker, was die Produktivitätsentwicklung bremst und die stagnativen Tendenzen verstärkt (Sekundäreffekt). 67
c) Fazit
Es wurde zwischen zwei Kategorien politischer Maßnahmen differenziert, die sich hinsichtlich ihres Gegenstandes, ihrer allokativen Konsequenzen und ihrer Redistributionsrichtungen unterscheiden. Dabei zeigte sich, daß die i n der Finanzwissenschaft übliche Trennung i n A l l o k a t i o n und Redistribution theoretisch fraglich und für das polit-ökonomische M o d e l l unbrauchbar ist. Für die
berücksichtigt auch keine Spill-over-Effekte auf andere Märkte. Varian entwickelt dagegen ein allgemeines Gleichgewichtsmodell und zeigt, daß unter bestimmten Annahmen das Tullock-Viereck eine angemessene Quantifizierung des Wohlfahrtseffekts darstellt; vgl. dazu.: Varian (1989), S. 85 ff.; Bartsch/Thomas (1995), S. 177 f. Die Möglichkeit von Rent-seeking-Aufwendungen, die größer sind als die zu verteilende Rente, überzeugt auch nicht, wenn man wiederholte Spiele und Lerneffekte betrachtet. Für weitere Modifikationen: Grüne (1997), S. 116 ff. 66
Es läßt sich eine Budgetgleichung der Form: Ei = Nj + R f , mit Ν = produktive Ressourcen einer Gruppe (ζ. B. Arbeitszeit), Ej = Ressourcenausstattung formulieren, die letztlich die beiden Wege, individuelles Einkommen zu mehren, beschreibt: über Rent-production oder Rent-seeking. Zu einer interessanten „philosophischen" Betrachtung dieser Gleichung: vgl. Hirshleifer (1994), S. 1 ff.; siehe auch: Buchanan (1980a;, S. 5 ff. Es ist zu vermuten, daß in dem Maße, wie die Produktivitäten im ökonomischen Prozeß gesteigert werden, d. h , je weniger Nj zur Produktion von Einkommen jenseits eines gewissen „Suffizienzniveaus" alloziiert werden müssen, der Spielraum für politische Betätigungen steigt. Auch diese Überlegung mag eine Ursache für das Anwachsen des Umverteilungsstaats sein. Ähnlich bei: Kristov et al. (1992), S. 140. 67 Vgl. dazu: Murphy et al. (1991), S. 506 ff.; ähnlich bei: Magee et al. (1989), S. 111 ff. Als empirisches Indiz für eine Verschwendung von Humanressourcen im Rent-seeking-Sinne dient dabei die Relation der Rechtsanwälte zu Ärzten (bei Magee u. a.) bzw. das Verhältnis juristischer zu technischer Hochschulexamina (bei Murphy u. a.). Für historische Belege dieser These aus dem antiken Rom sowie dem mittelalterlichen China und Europa: Baumol ( 1990), S. 898 ff.
120
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
weitere Analyse werden politische Maßnahmen betrachtet, die effizienzsteigernd sind (G) und solche, durch die Einkommen auf Kosten anderer umverteilt werden (Zj) bzw. die den ökonomischen Möglichkeitenraum verändern und dabei Ressourceneinsatz erfordern (Z 2 ). Im folgenden sollen die Ursachen und Bedingungen für die verschiedenen politischen Maßnahmen herausgearbeitet werden. Da die polit-ökonomische Literatur in diesem Bereich sehr umfangreich ist, erscheint zunächst ein Überblick sinnvoll. 2. Eine Bestandsaufnahme polit-ökonomischer Erklärungen für staatliches Handeln Traditionell wird analysiert, wie sich staatliches Handeln (Besteuerung, Regulierungen, Transfers etc.) auf die Entscheidungen der Wirtschaftsakteure auswirkt (Pfeil Φ in Abbildung 3.3). Im folgenden wird demgegenüber ein Ansatz entwickelt, der die Entstehung dieser formalen Institutionen als Ergebnis polit-ökonomischer Prozesse (Pfeil ©, Abbildung 3.3) erklärt. 68 Dabei beschränkt sich die Betrachtung auf eine demokratische Staatsform. Dafür sprechen drei Gründe: Zunächst wurde sie ungeachtet aller Kritik von den Gründervätern präferiert. Überdies ist sie die in der Bundesrepublik Deutschland etablierte Staatsordnung, an der sich theoretische Überlegungen empirisch messen lassen, und schließlich weist die Demokratie komparative Vorteile gegenüber anderen Organisationsformen auf, was es nicht sinnvoll erscheinen läßt, sich mit diesen auseinanderzusetzen.69 Kennzeichnend für einen demokratischen Staatsaufbau ist, daß70 • es eine Konkurrenz von zwei (oder mehr) Parteien/Koalitionen um die Regierungsmacht gibt, • eine dieser Parteien oder Koalitionen von der Bevölkerung beauftragt wird, politische Güter bereitzustellen, wenn sie die einfache Mehrheit der Stimmen
68
Allgemein zu Ansätzen des institutionellen Wandels: Bromley (1989), S. 12 ff.; Eggertsson (1990), S. 247 ff.; Viellesen (1994), S. 33 ff.; Richter/Furubotn (1996). 69 Vgl. zu den negativen Seiten nicht-demokratischer Systeme: Tullock (1987); Lambertz (1990); McGuire/Olson (1996). Daß diese positive Beurteilung der (repräsentativen) Demokratie noch relativ jung ist, belegen: Schmidt (1997), S. 18 f.; Möckli (1994), S. 32 ff. 70
Vgl. im folgenden: Downs (1968), S. 23.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
121
erreicht hat (Modell der repräsentativen parlamentarischen oder indirekten Demokratie), 71 • Wahlen in regelmäßigen, exogen gegebenen Zeitabständen stattfinden, • diese Wahlen frei, gleich, geheim und allgemein sind,72 • Grundrechte - wie Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung, Koalitionsfreiheit etc.73 - in ihrer Substanz jeglichem Zugriff entzogen sind. Die parlamentarische Demokratie ist, wie von Hayek es bezeichnet, (weitgehend) unbeschränkt: 74 Zwar sind die Verfahren der politischen Entscheidungsfindung festgelegt, ihre Inhalte sind jedoch weder positiv noch negativ determiniert und finden ihre Grenzen nur in den zuvor erwähnten Grundrechten. Sie weicht von wesentlichen Vorstellungen der Gründerväter ab, de facto aber liegt diese Form der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland vor. 75 Mittels dieser Modellierung gelingt es daher, wesentliche real vorfindbare Probleme zu erklären und zu begründen, warum wichtige Elemente der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft nur zu rudimentären Teilen umgesetzt wurden.
71
Welche Partei oder Koalition dies ist, bleibt unberücksichtigt. Für eine endogene Bestimmung der Personen: vgl. Besley/Coate (1995), S. 8 ff. 72 Regelungen wie die des preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts oder wie sie Röpke vorschlägt, sind also unzulässig, können aber ohne weiteres in das Public-choice-Modell integriert werden. 73
Vgl. die Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes: „Grundrechte sind von der Verfassung verliehene individuelle Rechte des einzelnen oder des einzelnen in Verbindung mit anderen einzelnen"; Scholz (1983), S. 41. 74 Vgl. von Hayek (1969), S. 117 sowie jüngst: Buchanan/Congleton (1998), S. 86: „We assume the presence of a constitutional regime described by individual liberty, private ownership of property, and a market economy, which is subject, however, to politicization that is relatively unconstrained regarding the range and scope of governmental action on either the spending or the taxing side of the fiscal account." 75
So auch: Blankart (1992), S. 512; Leschke (1993), S. 169; Bernholz/Breyer (1994), S. 251 ff.; Kruse (1995), S. 19; Tietzel (1998), S. 686 ff.
122
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
Quelle: Modifiziert übernommen aus: Bromley, D. W. (1989), S. 33.
Abbildung 3.3: Ebenen staatlicher Institutionensetzung
Bromley folgend können drei Ebenen staatlicher Institutionensetzung unterschieden werden (Abbildung 3.3): die politische, organisatorische und operationale.76 In repräsentativen Demokratien umfaßt die politische Ebene, die das institutionelle Umfeld (Gesetze, Rechtsfortbildung etc.) determiniert, die Legislative (Parlamente inkl. Regierungen) 77 und die Judikative. Die Umsetzung der so zustande kommenden institutionellen Arrangements obliegt der organisatorischen Ebene, der Exekutive. Durch sie werden die geschaffenen Institutionen auf konkrete Sachverhalte „angewendet". Diesem Umfeld begegnen auf der operationalen Ebene die Wirtschaftssubjekte (Haushalte, Unter-
76 77
Vgl. dazu: Bromley (1989), S. 31 ff.
Der politische Teil der Regierung wird im folgenden nicht, wie formaljuristisch üblich, der Exekutive zugeordnet, sondern der Legislative, da davon ausgegangen wird, daß eine Gewaltenteilung im strengen Sinne rebus sie stantibus nicht gegeben ist. Hingegen wird die Ministerialbürokratie zur Exekutive und somit zur organisatorischen Ebene gezählt.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
123
nehmen, Interessengruppen), die sich innerhalb des institutionellen Rahmens (frei) entfalten können bzw. sollen, wenngleich ihre Handlungsmuster durch das Institutionenset beeinflußt werden. Dieses Zusammenspiel von Rahmen und Handlungen führt zu Ergebnissen, die durch die Akteure bewertet werden und unter Umständen zu einer Reform des institutionellen Rahmens Anlaß geben.78 Art und Umfang politischer Entscheidungen sind in demokratischen Systemen durch die Kontrolle der Wähler eingeschränkt.79 Ob, inwieweit und in welche Richtung auch die Institutionenbildung von ihnen determiniert wird, hängt von der Wirksamkeit der Kontrolle ab und wird im folgenden problematisiert. Dabei wird die Rolle der Bürokratie (in Abbildung 3.3: zweite Ebene; gestrichelte Linie (D) nicht eigens beleuchtet. Denn obschon der Einfluß von Verwaltungen auf den politischen Prozeß außer Zweifel steht,80 erscheint eine gesonderte Betrachtung nicht notwendig. Dafür spricht zunächst, daß vorliegend die Frage nach der Interdependenz von Demokratie, Gesellschaft und Marktwirtschaft analysiert wird, die grundsätzlich unabhängig von bürokratietheoretischen Aspekten ist.81 Darüber hinaus ist häufig, wenn Personalunionen vorliegen, eine Abgrenzung zwischen Legislative und Exekutive nicht möglich. 82 Und selbst wenn man diese Trennung vollzieht, ist nicht zu verkennen, daß sich Büros als eigennutzorientierte Handlungseinheiten analog zu anderen gesellschaftlichen Gruppen verhalten: Wie diese versuchen sie, ihre Anliegen durch Ausnutzen ihrer politischen Macht durchzusetzen.83 Dabei ist es von
78
Als Beispiel für einen derartigen Prozeß mag das in Kapitel B . I , S. 15, erwähnte Reichsgerichtsurteil zur Kartellbildung von 1897 dienen; zu einer institutionenökonomischen Interpretation dieser Analyse: Grossekettler (1995), S. 1 ff. 79
Das diskutierte Brennan-Buchanan-Modell des Leviathan-Staats negiert diese Restriktion. 80
Bürokratieanalysen bieten: Downs (1965), S. 439 ff.; Niskanen (1968), S. 293 ff.; ders. (1974); ders. (1975), S. 618 ff.; Migué/Bélanger (1974), S. 27 ff.; Blankart (1975), S. 166 ff.; Breton/ Wintrobe (1982), S. 195 ff. Überblicke bei: Orzechowski (1977), S. 229 ff.; Roppel (1979); Moene (1986), S. 333 ff.; Dunleavy (1991), S. 147 ff. 81
Kritisch dazu: Grossekettler
( 1997), S. 74.
82
Brennan/Buchanan (1980), S. 20, sprechen daher von „politicians/bureaucrats" und behandeln „government" als einen Monolithen; ebenda, S. 28 ff. 83 Buchanan und Tullock untersuchen z. B. die Bezahlung von öffentlichen Angestellten in den USA und stellen fest, daß sich diese wesentlich dynamischer entwickelt hat als im nicht-staatlichen Sektor. Ursächlich dafür ist ihrer Auffassung nach die zunehmende politische Macht in Form von mehr Wählerstimmen: „As agencies become larger, .., and the bureaucracy members come to make up a larger and larger share of the voting constituency, the possibility of the usage of civil servant power to expand salaries directly becomes real"; Buchanan/Tullock (1977), S. 148. Analog dazu belegen Frey/Pommerehne (1982), S. 255 f f , daß der Anteil öffentlich Bediensteter an der
124
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
untergeordneter Bedeutung, daß sie zur organisatorischen Ebene zählen; ihre polit-ökonomische Involvierung soll in dieser Arbeit vielmehr systematisch auf der operationalen Ebene erfolgen. So bleibt zu untersuchen, in welchem Ausmaß die verschiedenen Maßnahmekategorien i m politischen Prozeß Berücksichtigung finden und in welche Richtung sich Umverteilungspolitik in einer Demokratie vollzieht. Faßt man dazu den politischen Prozeß in Analogie z u m ökonomischen Markt als Austausch auf, 84 ergeben sich zwei mögliche Ansätze der Analyse: Die erste richtet das Augenmerk auf das Angebot durch Politiker, Parteien und Bürokraten und damit auf die Monopolmacht der Regierenden gegenüber den Regierten. Es w i r d auf Umverteilungen abgestellt, über die Regierende i m Rahmen diskretionärer Spielräume verfugen; die entsprechenden Überlegungen münden
im
Extrem i n die Leviathan-Theorie über den Staat. D e m steht eine Analysevariante gegenüber, die stärker die Nachfrage,
d. h. die Wähler(-gruppen), berück-
sichtigt.
a) Leviathan- Ans ätze
Wie dargelegt tragen Eucken, Röpke und die anderen Gründerväter Bedenken hinsichtlich der negativen Seiten staatlicher Macht und befurchten eine
Wahlbevölkerung hoch ist, die Wahlbeteiligung dieser Gruppe höher als der Durchschnitt ist, die Gruppe spezielle eigene Interessen hat und diese auch artikuliert, daß sie zu einem Großteil gewerkschaftlich organisiert ist und daß ihr Anteil an den Abgeordneten erheblich ist (Blankart (1994a), S. 458, berechnet für die 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, daß von den 662 Abgeordneten 247 (38 v.H.) öffentlich bedienstet waren; nach eigenen Berechnungen belief sich dieser Anteil für die 13. Periode auf über 40 v.H.; vgl. Kapitel D.II.l.). Wachsende Nachfragemacht der Bürokraten wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - betonen auch: Borcherding (1977), S. 63; Brennan/Buchanan (1977), S. 258 ff.; Benson/Engen (1988), S. 734; Tullock (1993), S. 51 ff. Kritisch zu dieser Sicht: Breton/Wintrobe (1982), S. 36 f. Eine andere Berücksichtigung bürokratischen Verhaltens wird im Zusammenhang mit dem LeviathanAnsatz über den Staat diskutiert. 84
Der politische Entrepreneur versucht, über das Angebot von politischen Institutionen dem Allgemeinwohl zu dienen oder eigene Interessen in Form von Macht, Einfluß, Renten u. ä. zu sichern; als Gegenleistung wird ihm von den Nachfragern politische Unterstützung in Form von Wählerstimmen, Finanzmitteln, Lobbyaktivitäten u. ä. zuteil; vgl. dazu u. a.: Stigler (1971), S. 3 ff.; Breton (1974); McCormickJTollison (1981), S. 18 ff.; Benson/Engen (1988), S. 733 ff.; Buchanan (1984a), S. 18 f.; ders. (1988), S. 136 f.; North (1990), S. 359 ff. Im Unterschied zum ökonomischen Tausch, bei dem im Idealfall die Beteiligten auch Betroffene sind, divergieren im politischen Raum Beteiligte und Betroffene regelmäßig; vgl. dazu insbesondere: Buchanan/Congleton (1998), S. 16 ff. Dieses Faktum wird im folgenden noch eingehend problematisiert.
I. Polit-ökonomische Erklärungen staatlichen Handelns
125
Tendenz zur Ausbeutung der Bürger. Ihre Argumentation wird in jüngeren Ansätzen aufgegriffen, die die Gefahr des „Leviathan"-Staats heraufbeschwören. Dabei zeigen sich beträchtliche Unterschiede in den Ansichten der Hauptvertreter dieses Standpunkts: Brennan und Buchanan unterstellen dem Staat recht einseitig einen „predatory character", 85 der nur darauf abziele, die Bevölkerung zu exploitieren. North hingegen lehnt diese Sicht ab, indem er die Ambivalenz staatlicher Macht betont. Zwar könne der Staat seine Macht auf Kosten der Bürger zu seinem eigenen Vorteil ausbauen, doch erfülle er auch wichtige produktive Funktionen.86 Außerdem entwickelt North sein Modell allgemein für verschiedene Staatsformen, während Brennan und Buchanan sich explizit auf repräsentative Demokratien beziehen. Dieser Unterschied ist jedoch irrelevant, da bei ihnen zumindest insoweit Übereinstimmung besteht, „that the political process, as it operates postconstitutionally, is not effectively constrained by electoral competition as such, and that the political process can appropriately constrain the natural proclivities of governments only when it is accompanied by additional constraints and rules imposed at the constitutional level" 87 .
Beide Ansätze können daher anhand desselben Modells analysiert werden, wobei das Ergebnis von den jeweils angenommenen institutionellen Rahmenbedingungen abhängt:88 Das Volkseinkommen Y ist sowohl eine Funktion der Faktoren privater Arbeit (N) und Kapital (Ka) als auch abhängig von einem Faktor „öffentliche Ordnung", der vom Staat bereitgestellt und durch die Anzahl der staatlich beschäftigten Arbeitnehmer G symbolisiert wird: (5)
Y
=
Y(N,Ka 9G)9mit
Y G > Ο;89 Y G G < 0; Y N > 0 , YNN r Ä und / ™ x . r ™ x
>t r-r R-
186
Im übrigen ist in dieser Variante die Staatsquote c. p. kleiner als bei einheitlichem Abgabensatz; siehe dazu das Zahlenbeispiel im Anhang unter Ziffer C.III.2. Dieses Ergebnis resultiert einzig aus der Annahme, die realwirtschaftlichen Reaktionen auf Besteuerung (r(t)) seien bei beiden Gruppen identisch. 187
Dessen unbenommen ergeben sich auch in diesem Fall weitere endogene Begrenzungen der Ausbeutungsmacht: Je stärker z. B. die Mehrheit bei der Produktion auf die Minderheit angewiesen sind, desto geringer wird c. p. das Ausbeutungsniveau sein. Eine
III. Die Downs-Variante der Umverteilungsdemokratie
165
Behandlung. Der größere Ausbeutungsspielraum hat zudem einen wichtigen Nebeneffekt: Schon aus Gleichung (4) (S. 118) ergab sich, daß mit steigendem Rentenvolumen die individuellen Rent-seeking-Aufwendungen wachsen. In diesem Modellkontext bewirkt dieser Mechanismus, daß es für Individuen lohnender wird, Ressourcen darauf zu verwenden, an die Regierung zu kommen bzw. Mitglied im Ruling Interest zu werden. Daher werden in der Variante mit Steuersatzdifferenzierung die Rent-seeking- und -protecting-Aufwendungen höher sein als im Modell der allgemeinen Besteuerung.188 Summa summarum ist diese Art der Umverteilungsdemokratie negativer zu beurteilen als jene mit einheitlichem Steuersatz. 3. Zwischenfazit Die vorangegangene modelltechnische Analyse hat die Annahme der Gründerväter bestätigt, daß eine Konsensdemokratie und eine Soziale Marktwirtschaft kompatibel sind. Röpke ist zuzustimmen, wenn er feststellt: „Jeder weiß, daß eine Demokratie nur dann wirklich funktionieren kann, wenn in allen wesentlichen Fragen des Gemeinschaftslebens praktisch Übereinstimmung besteht: in necessariis unitas." 189
In der Tat ist die Demokratie dann anderen Regierungsformen überlegen, wenn „über die letzten Ziele und Werte Einmütigkeit besteht" und die Diskussion „auf den Boden der allen gemeinsamen letzten Überzeugungen" 190 gestellt wird. Ist dies nicht der Fall, so besteht die Gefahr der „Politisierung des gesamten Wirtschaftsprozesses" 191, die sich im Falle der Umverteilungsdemokratie in einer gestiegenen Staatsquote manifestiert. Erklärt man die Richtung der Umverteilung ausschließlich aus der unterschiedlichen Größe der Gruppen, gelangt man zu dem bekannten Ergebnis der Diktatur der Mehrheit. Empirisch finden sich hierfür jedoch kaum Belege. Ein erster Grund dafür mag darin bestehen, daß die Politiker nicht sicher damit rechnen können, zu 100 v. H. von der großen Gruppe gewählt zu werden, selbst wenn sie in Aussicht stellen, sie durch bestimmte Maßnahmen bevorzugt zu
Formalisierung dieses Aspekts bieten u. a.: Kiser/Barzel (1991a), S. 179 ff.; (1991b), S. 130 ff.
(1991), S. 400 ff.; Hirshleifer
188
Vgl. dazu jüngst: Buchanan/Congleton (1998), S. 89 ff.
189
Röpke (1979b), S. 145.
190
Röpke (1979b), S. 136 f.
191
Röpke (1979b), S. 144.
166
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
behandeln.192 Sie müssen vielmehr davon ausgehen, daß neben der Hoffnung, von umverteilungspolitischen Maßnahmen zu profitieren, auch andere Beweggründe für die Wahlentscheidung ausschlaggebend sind und die Mehrheit sofern man noch davon sprechen kann - in sich inhomogen ist. Die Politiker sehen daher u. U. keinen Grund, große Mengen an Haushaltsressourcen zugunsten dieser Leute zu verwenden, sondern berücksichtigen in ihren Entscheidungen auch die Wünsche der anderen Gruppe. 193 Mit diesem Faktum allein ließe sich zwar begründen, warum das Umverteilungsvolumen in Richtung arm nicht unbegrenzt wächst, es gibt aber keinen Aufschluß über den Umfang staatlicher Redistributionsmaßnahmen im allgemeinen. Demnach sind noch weitere Elemente zu berücksichtigen. Daher werden im folgenden das politische System und die in ihm bestehenden Transaktionskosten betrachtet. Denn je fähiger sich eine Gruppierung darin zeigt, diese Faktoren in ihr Kalkül einzubeziehen, desto größer wird ihr politischer Einfluß sein, auch wenn sie von der Anzahl der Stimmen eher unbedeutend ist. Daraus rührt eine ungleiche Verteilung politischer Macht her, die in den gängigen Theorien weitgehend vernachlässigt wird. 194 Wie die Ausfuhrungen insbesondere zu Eucken, Rüstow und Röpke zeigen, wurde sie von den Gründervätern allerdings klar erkannt und herausgearbeitet, wenngleich sie sich zu ihren Ursachen ausschwiegen. Im folgenden gilt es, letztere mittels einer „Transaction Costs Theory of Politics" zu analysieren und auch die aktive Rolle von Politikern stärker hervorzuheben.
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie Der bisher entwickelte Ansatz ignoriert tatsächlich vorhandene Erscheinungen wie Lobbyismus, Gruppentätigkeit, Rent-seeking oder politische Unternehmer. Das liegt daran, daß die Gewinnergruppe, der Ruling Interest, stets eindeutig definiert ist. Man konzentriert sich einseitig auf exogen gegebene gesellschaftliche Parameter und vernachlässigt institutionelle Aspekte der Demokratie. Ebenso wie im ökonomischen bestehen jedoch auch im politischen 192 So nehmen auch McGuire/Olson ein „optimizing monolith".
(1996), S. 84, vereinfachend an, die Mehrheit sei
193 So bemerkt Tullock (1983), S. 105: „People in general are poor for reasons that not only make them inept in a private marketplace, but also make them inept in the political marketplace." Dagegen weist Varian (1980), S. 50 ff., auf die Bedeutung von Glück („luck") für den wirtschaftlichen Erfolg hin. In diesem Zusammenhang begründet er auch Umverteilung über Steuern mit dem Ziel, „unglückliche" Umstände auszugleichen. 194
Diesen Mangel erkennen auch McGuire/Olson
(1996), S. 93.
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
167
Bereich Transaktionskosten und Unvollkommenheiten, die Spielräume für Politiker sowie Interessengruppen und Lobbies bieten und opportunistisches Verhalten und Olsonsche Redistributionen ermöglichen. 195 Art und Umfang der Spielräume determinieren die Effizienz im politischen System. 1. Von der Redistributionsdemokratie zu einem Transaktionskostenansatz der Politik Um die Transaktionskosten auf dem politischen Markt zu spezifizieren und ein Wahlmodell zu entwickeln, in dem Raum für politische Entrepreneure bleibt, müssen zum einen das Verhältnis der Entscheidungsträger (Politiker und Parteien) zu den Wählern und Interessengruppen problematisiert und zum anderen die Machtfaktoren der Wähler(-gruppen) herausgearbeitet werden. a) Diskretionäre
Spielräume als Folge politischer Transaktionskosten
Bisher wurde die Aufgabe der Politiker oder der Parteien, d. h. die der Politikanbieter, einzig darin gesehen, die klar definierten, wohl formulierten Wünsche der (Mehrheit der) Wähler zu erfüllen. Analog zu einem neoklassischen Marktmodell existieren keine Transaktionskosten, und die Anbieter bedienen die fest umrissenen Bedürfnisse der Nachfrager. 196 Es bietet sich eine politische Arrow-Debreu-Welt dar, in der Verträge über alle Zeiten hin auf der Stelle per Kassa und Termin abgeschlossen werden. Opportunismus und Betrügereien kommen nicht vor, da sie sich nicht lohnen, denn der Wähler würde diese sofort erkennen und entsprechend (negativ) reagieren. In diesem fiktiven, von allen Transaktionskosten freien Raum ist der Politiker nurmehr reiner Erfüllungsgehilfe der Mehrheit. 197 Tatsächlich aber werden in der politischen Realität zahlreiche Entscheidungen getroffen, die weder effizienzsteigernd sind noch der Mehrheit der Wählerschaft zugute kommen198 - sie nutzen vielmehr nur einer Minderheit und sind 195
Vgl. Olson (1991a), S. 78; so auch: Benson/Engen (1988), S. 734: „Wealth transfers flow to well organized, politically powerful interest groups from either relatively less powerful groups, or unorganized individuals." Eine ähnliche Unterscheidung in Olson- und Downs-Umverteilungen findet sich schon bei: Tullock (1971b), S. 380 f., der sich nicht auf Olson, sondern auf B. Ward bezieht. 196 Bezogen auf den ökonomischen Markt: Richter/Bindseil auch: Furubotn (1994), S. 5 ff. 197 198
(1995), S. 133; siehe
Vgl. North (1986), S. 231.
Es gilt also nicht das, was Eggertsson (1990), S. 248, als die „Makro-Version des Coase-Theorems" bezeichnet; siehe auch: Scully (1992), S. 87; North (1990), S. 356 ff.
168
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
zudem oft genug mit (hohen) Wohlfahrtskosten verbunden. So wird die heimische Landwirtschaft durch Mindestpreise, Importquoten, Zölle u. ä. geschützt. Der Saldo aus monetärem Nutzen für die Landwirte und Kosten für die Verbraucher dürfte dabei negativ sein; gleiches gilt für den Bergbau oder den Schiffbau. Die ökonomische Theorie böte hier Mittel an, die größeren Erfolg versprechen, sei es, daß die Landwirte bei der Umschulung und Umwandlung unterstützt werden oder sie einen einmaligen Verlustausgleich erhalten, der daran geknüpft ist, daß sie sich eine neue Beschäftigung besorgen. Ungeachtet dessen hält man jedoch hartnäckig am Gewohnten fest. Das wird - in der Tradition Olsons - gewöhnlich dadurch erklärt, daß sich eine „client politics" durchgesetzt habe. Bei einer solchen Interpretation bleiben jedoch wesentliche Fakten und Faktoren außer acht, so z. B. Countervailing-Aktivitäten anderer Gruppen. 199 Auch ist nicht ohne weiteres einzusehen, warum gegnerische politische Unternehmer im Parallelwettbewerb kein Kapital daraus schlagen. Ursächlich für das Ausbleiben sind die Transaktionskosten im politischen Bereich, 200 die eine Erklärung dafür liefern, daß „in fact one of the most evident lessons from history is that political systems have an inherent tendency to produce inefficient property rights which result in stagnation or decline" 201 .
Transaktionskosten kann man in Anlehnung an Williamson als „comparative costs of planning, adapting, and monitoring task completion under alternative governance structures" 202 definieren. Ihre Höhe und Verteilung wird in Abhängigkeit von gegebenen institutionellen Faktoren gesehen, und sie bewirken, daß die Ergebnisse politischer Maßnahmen in der Regel von den „first-best-soluti-
199
Häufig wird nicht nur dem „anonymen Verbraucher" geschadet, sondern auch leichter organisierbaren Interessen. 200 Vgl. im folgenden: Dixit (1996), S. 45 ff.; North (1989), S. 662 ff.; ders. (1990), S. 355 ff.; ders. (1992), S. 21 ff.; Wilson (1989), S. 357 ff.; Williamson (1996); Wohlgemuth (1998), S. 4 ff.; siehe auch: Brennan/Buchanan (1980), S. 13 ff.; Wohlgemuth (1995a), S. 74 ff. Mit Bezug auf die Parallelen von ökonomischem und politischem Wettbewerb: Stigler (1972), S. 91 ff.; Kirsch (1993), S. 221. Siehe auch die kritische Betrachtung bei: Moe (1990a), S. 215 ff. 201 202
North (1987), S. 422; siehe auch: North (1988), S. 23.
Williamson (1996), S. 58. Für North setzen sich die Transaktionskosten „aus den Kosten der Messung der wertvollen Attribute der getauschten Gegenstände und den Kosten des Rechtsschutzes und der Überwachung und Durchsetzung zusammen"; North (1992), S. 32. Überblicke zur Neuen Institutionenökonomik bieten: North (1986), S. 230 ff.; Eggertsson (1990); Richter (1994); Richter/Furubotn (1996).
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
169
ons" abweichen.203 Anknüpfend an dem Ansatz der „Transaction Cost Economics" gelangt man zu der schon oben angesprochenen „Transaction Cost Theory of Politics". 204 aa) Der politische Prozeß als Prinzipal-Agenten-Beziehung Betrachtet man den Wähler als Prinzipal und den Politiker bzw. die Partei 205 als Agenten,206 so wird zwischen beiden ein (meist impliziter) Vertrag 207 dahingehend geschlossen, daß der Politiker bzw. die Partei beauftragt wird, bestimmte Sachverhalte für den Wähler zu regeln. Die Agenten stellen zunächst in Form eines Wahlprogramms - politische Institutionen bereit, die vom Wähler in unterschiedlichem Maße nachgefragt und in Form von Wählerstimmen honoriert werden. Der Agent verhält sich dabei eigennutzmaximierend und will Wahlen gewinnen, winken ihm doch mit dem Amt selektive Belohnungen im Sinne Olsons in interner („Hingabe") 208 wie auch externer Form (Prestige, Macht, Autorität, Einkommen o. ä.).209 In den Termini des Modells erhöhen die Agenten durch Kombination von G, t und Zj ihre Wahlchancen und sichern sich so die persönlichen selektiven Vorteile. Derartige politische Verträge zwischen Politikern und Bürgern zu überwachen erfordert, Transaktionskosten aufzubringen. Diese Kosten sind in der
203
Als effizient gilt in diesem Ansatz ein Resultat, wenn „no feasible superior alternative can be described and implemented with net gains"; Williamson (1996), S. 195. 204 Grundlegend dazu: North (1990), S. 355 ff.; Dixit (1996), S. 31 ff.; siehe auch: Furubotn/Richter ( 1989), S. 1 ff. 205 Im folgenden wird vereinfachend unterstellt, daß Parteien sich als Ein-MannUnternehmen verhalten; vgl. dazu: Downs (1968), S. 24 ff. Es existiert demnach eine stark ausgeprägte Parteiraison, die dazu fuhrt, daß sich die individuellen Politiker an der Parteilinie orientieren; vgl. dazu: Galeotti/Breton (1986), S. 153 ff. Zur Bedeutung von Parteien für Politiker in der Bundesrepublik Deutschland: Kruse (1995), S. 14 ff. 206
Allgemein dazu: Mueller, Dennis C. (1996), S. 48 ff. Weitere Agency-Relationen werden im folgenden nicht betrachtet; zu denken ist hier etwa an die zwischen Politikern und Bürokraten oder Bürgern und Bürokraten, zwischen Parlament und Ausschüssen oder Parteimitgliedern und Parteiführern; vgl. dazu: Dixit (1996), S. 51 ff. 207 Ein expliziter Vertrag würde in der Regel auch als Bestechung oder Wahlbetrug interpretiert. 208 Dies dürfte das Hauptargument für zahlreiche OrdnungspoWùktT gewesen sein. 209
der Gründerjahre
Vgl. Olson (1968), S. 53 ff.; überblicksartig bei: Kirsch (1993), S. 149 ff. Downs (1968), S. 11, formuliert analog: „Nach jeder Wahl beherrscht die Partei, die die meisten Stimmen ... erhält, bis zur nächsten Wahl den gesamten Staatsapparat."
170
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
Regel höher als bei privatrechtlichen Verträgen, so daß sich besondere Probleme ergeben.210 bb) Transaktionskosten im politischen Bereich Im wesentlichen setzen sich die politischen Transaktionskosten, sieht man von den bereits dargestellten gruppenspezifischen Organisationskosten ab, aus Informations- und Kontrollkosten zusammen.211 Bevor der Wähler seine Entscheidung trifft, muß er herausfinden, welche Politik ihm nutzt oder schadet, was Wahlprogramme wirklich aussagen (Screening-Kosten) und wie die Politik der Vergangenheit zu beurteilen ist. Dafür muß er Informationskosten aufwenden. Dabei existieren im politischen Bereich spezifische Aspekte, die das Informationsproblem gegenüber dem ökonomischen Markt verschärfen: • Politische Verträge haben zunächst komplexe Programme zum Inhalt (,,Multi-issue"-Phänomene), was zu einem hohen Grad an Unsicherheit und damit Unvollkommenheit fuhrt. 212 • Anders als beim privatrechtlichen synallagmatischen Vertrag („do ut des") steht inhaltlich der Leistung des Wählers in Form seiner Stimme keine exakt festgelegte Gegenleistung des Politikers gegenüber. Dies gilt insbesondere für fiskalische Maßnahmen. Diese Trennung begründet nicht nur ein hohes Maß an Fiskalillusion, sondern erschwert es den Wählern auch, Kosten und Nutzen einer Maßnahme zu beurteilen. • Den höheren Informationskosten steht im politischen eine im Vergleich zum ökonomischen Bereich niedrigere Informationsbereitschaft gegenüber. Denn ein Bürger ist sich kaum über seine Rolle als möglicher Median-Wähler im klaren; daher wird er regelmäßig seinen Einfluß auf das Wahlergebnis als verschwindend gering einschätzen213 und selten bereit sein, die entsprechenden Kosten aufzuwenden, um Informationen zu sammeln. Damit gewinnt das Argument der begrenzten Rationalität („bounded rationality") seitens der politischen Akteure an Plausibilität.
210
So auch: Grillo (1997), S. 51 f.
2,1
Ähnlich bei: Dixit (1996), S. 54 ff.; Mueller, Dennis C. (1996), S. 48.
212 Dieses Argument ist jedoch nur eingeschränkt von Relevanz, denn auch auf dem ökonomischen Markt werden Güter wegen ihres Konglomerats an Eigenschaften nachgefragt, wie z. B. Lancaster oder Becker gezeigt haben. 213
Vgl. zur These der rationalen S. 407 ff.; Downs (1968), S. 236 ff.
Ignoranz
grundlegend: Schumpeter (1950),
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
171
• Aber selbst wenn der Bürger über alle relevanten Informationen verfügt, ist damit nicht gewährleistet, daß er sie auch korrekt verarbeiten kann.214 Vielmehr verhindern die Verifikationskosten, daß Vertragsbrüche überhaupt erkannt werden. 215 Mit der Abgabe seiner Stimme hat der Wähler schließlich seinen Teil des Vertrags erfüllt und eine unumkehrbare „betriebsspezifische Investition" getätigt. Wenn er erfahren will, ob sich diese auch gelohnt hat, kommen nun Kontrollkosten auf ihn zu. 216 Diese sind aufgrund der Spezifika des politischen Systems höher als im ökonomischen: • Da zeitlich zwischen Leistung und Gegenleistung grundsätzlich kein irgendwie gearteter Zusammenhang besteht (sieht man von der Dauer der Legislaturperiode ab), ist die Gefahr opportunistischen Verhaltens seitens des Politikers in dem Sinne gegeben, daß er politische Maßnahmen ergreift, die den Interessen seiner Wähler im Grunde zuwiderlaufen. • Dadurch, daß Leistung und Gegenleistung sowohl zeitlich als auch inhaltlich getrennt sind, erwächst dem Agenten praktisch die Möglichkeit, gegebene Zusagen nachträglich beliebig neu zu interpretieren oder auch ihr Scheitern auf unbeteiligte Dritte abzuschieben. • Im Unterschied zum wirtschaftlichen System besitzt der Politiker nur temporär gewisse politische Property-rights, die er weder vererben noch weitergeben kann, sondern mit seiner Abwahl verliert. Zugleich kann er die positiven Wirkungen effizienter Politiken kaum internalisieren. Daher wird der interne Anreiz, sich effizient zu verhalten, beim Agenten weniger stark ausgeprägt sein, was die Kontrollkosten seitens des Prinzipalen erhöht. • Hinsichtlich der Durchsetzbarkeit gibt es in der Regel keine Instanz, an die sich der Wähler in Streitfällen wenden könnte. • Die Prinzipal-Agenten-Kosten erhöhen sich schließlich gegenüber dem privatrechtlichen Bereich, da häufig die Vertragspartner bzw. Betroffenen nicht deutlich bestimmt sind und auch die Rollenverteilung eine andere ist: Beim politischen Vertrag liegt die eigentliche Macht (Kompetenzkompetenz) nicht
214
Zu dem Aspekt der „information-impactedness": Williamson (1996), S. 65.
215
Diesen Aspekt betont insbesondere: North (1990), S. 356 f f ; siehe auch: Bernholz/Breyer (1994), S. 166 ff.; Lott (1997a), S. 8 f. Ein Modell, das politische Ergebnisse in Abhängigkeit vom Informationsstand der Wähler erklärt, entwickeln: Denzau/Munger ( 1986), S. 89 ff. 216
Vgl. dazu: Williamson (1996), S. 54 ff.; Moe (1990a), S. 231 f. Die Bedeutung von Informationskosten für die Art der Umverteilung illustriert: Baba (1997), S. 104 ff.
172
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
beim Prinzipal, sondern bei den Agenten: „They can use their authority to structure the behavior of their principals" 217 . Den im Vergleich zum ökonomischen Bereich höheren Kontrollkosten stehen insofern niedrigere Erträge gegenüber, als es einem Bürger kaum gelingt, die Erträge ähnlich vollständig wie beim ökonomischen Tausch zu internalisieren. Vielmehr muß er sie mit anderen teilen. cc) Politische Folgen der Transaktionskosten Politische Verträge sind damit regelmäßig unvollständiger als ökonomische: „Imperfect models of the complex environment that the politician (and the constituent) is attempting to order, the institutional inability to get credible commitment between principal and agent (voter and legislator; legislator and implementors of policies), the high cost of information, and the low payoff the individual constituent of acquiring information all conspire to make political markets inherently very imperfect." 218
Die politischen Transaktionskosten bewirken zunächst, daß der Wähler solche Verträge bevorzugt, die ihm kurzfristig Vorteile versprechen und damit glaubwürdig, weil überprüfbar erscheinen; auf lange Frist angelegten Zusagen hingegen wird er skeptisch begegnen. Dem entsprechend werden die Politiker ihre Angebote ausrichten, um so mehr, als sie etwaige Konsequenzen kaum tragen müssen. Im politischen sind des weiteren Verträge denkbar, durch die sich nicht jeder der unmittelbaren Vertragspartner besser steht, wie es bei den freiwilligen ökonomischen Verträgen üblich ist. Im Wesen des politischen Vertrags liegt es sogar, daß zudem andere als die an der jeweiligen Vertragsschließung Beteiligten von ihm betroffen sind, wobei die Betroffenen aufgrund der Informationskosten u. U. die politischen Kausalitäten nicht erkennen. Daraus folgt geradezu zwingend, daß Verträge auf Kosten jener geschlossen werden, die die politischen Transaktionskosten nicht bewältigen können. Aus einer Politik des Gebens und Nehmens („politics as exchange") wird dann eine Politik des Neh-
217
Moe (1990a), S. 233. „This kind of outcome - a redistribution that makes some people better off and some people worse off - is alien to the economic world of voluntary exchange. ... This is what makes politics so different, and why it cannot be well understood in terms of voluntary exchange and gains of trade"; ebenda, S. 221. 2,8
North (1990), S. 361; so auch: ders. (1988), S. 22, 28 f. (Fußnote 12). Dichmann erklärt Rent-seeking-Phänomene aus diesen Unvollständigkeiten; vgl. Dichmann (1992), S. 288 ff.
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
173
mens („politics as taking"), 2 1 9 und die politische Arena w i r d z u m Austragungsort ineffizienter Umverteilungskämpfe. 2 2 0 Aus der Fähigkeit, die so vorgegebenen Spielräume zum eigenen Vorteil zu nutzen, erwachsen demnach politischer Einfluß und damit - in Form einer ZjPolitik - politische Renten. Anknüpfend an die Ausführungen in Kapitel C.I.2. werden nun weitere Ursachen für Asymmetrien in den Fähigkeiten zur K o n trolle und Information und damit i n der politischen Macht herausgearbeitet. 221
b) Determinanten
für den politischen
Einfluß gesellschaftlicher
Gruppen
I m Unterschied zu Brennan und Buchanan, die in ihrer Analyse des Leviathan· Staats die Möglichkeiten der Kontrolle durch Wähler gänzlich vernachlässigen (s. o.), werden nun - der traditionellen Capture-Theorie folgend Gründe dafür analysiert, daß einige Prinzipale sehr w o h l dazu i m Stande sind. Insbesondere Lobbyisten und Interessengruppen können die Ergebnisse des politischen Tauschs zu ihren Gunsten beeinflussen, indem sie politischen Druck ( i m Modell: ai · « . ) ausüben. 222 Determinanten des Erfolgs i m Umverteilungsspiel sind dabei: • die Wahlmacht,
219
So ausführlich bei: Buchanan/Congleton (1998), S. 16 ff.
220
Prägnant bei: Rowley (1997), S. 20 f. Dies läßt sich anhand der Verschuldungsproblematik illustrieren: Selbst wenn die Politiker die langfristig negativen Wirkungen von Verschuldung erkennen würden und Konsolidierungsmaßnahmen ergreifen wollten, müssen sie berücksichtigen, daß es aufgrund der zukünftigen Wahlen unsicher ist, ob sie auch in den Genuß der positiven Wirkungen kommen. Negativ auf die Performance der Akteure wirkt hier wiederum, daß die politischen Property-rights aufgeweicht sind; vgl. Buchanan (1997), S. 121 ff. Hinzu kommt, daß Verschuldung letztlich einen Eingriff in die Property-rights zukünftiger Generationen darstellt, die im politischen Prozeß keine Lobby haben. Da die Schuldnergruppe - im Gegensatz zu privater Verschuldung - nicht identifiziert werden kann, die Verlierer also keine Wahlmacht haben, ist es politisch rational, sich zu verschulden. 221
Vgl. zusätzlich zu den Überlegungen in Kapitel C.I.2.: Wittman (1995), S. 77; Hirshleifer (1991a,), S. 179 ff. Eine Interessengruppe wird so lange Ressourcen in die Produktion politischen Drucks investieren, bis sich Grenzkosten und -erträge entsprechen. Bei exogen, durch das politische System gegebenen Erträgen werden diese Investitionen bei unterschiedlichen Kostenverläufen divergieren. Tullock trägt dem Gedanken der Asymmetrie zwischen Rent-seeking-Wettbewerbern dadurch Rechnung, daß er einen Bias in der Form einfuhrt, daß jede Investition a priori unterschiedliche Erfolgsaussichten hat; vgl. Tullock (1980), S. 109 ff. 222
Überblick bei: Grüne (1997), S. 152 ff.
174
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
• die Befähigung, das Informationsproblem zu lösen bzw. für eigene Anliegen zu nutzen (Möglichkeit, andere Wähler zu beeinflussen), sowie • die Befähigung, den Agenten zu kontrollieren bzw. direkt zu beeinflussen (Einfluß auf die Entscheidungsträger zu nehmen). aa) Wahlmacht Ein Politiker wird seine Zusagen und sein Interesse vor allem auf jene Gruppen richten, die glaubwürdig versichern können, daß sie ihm auch in Zukunft eine Gegenleistung in Form von Stimmen zukommen lassen.223 Wer zu diesen Gruppen zählt und das entsprechende Wahlverhalten zeigt, wurde in der bisherigen Betrachtungsweise einzig vom Einkommen abhängig gemacht. Außerdem galt, daß das politische Gewicht einer Gruppe proportional zu ihrer Größe zunahm. De facto spielen jedoch für eine Wahlentscheidung auch Belange „jenseits von Angebot und Nachfrage" (Röpke) eine Rolle. Wähler machen ihre Entscheidung nicht ausschließlich von ökonomischen Kriterien abhängig, sondern auch von „soft facts", wie der Religionszugehörigkeit, dem gesellschaftlichen Status oder einfach ideologischen Motiven. 224 Im folgenden wird zur Vereinfachung nur auf das Bemühen um politische Einkommen Zj abgestellt.225 Ob eine Gruppe im Umverteilungskampf erfolgreich ist, hängt zunächst davon ab, wie wichtig der politische Einkommensaspekt in ihrem Kalkül ist. Anknüpfend an das „Swing-voter-Modell" von Dixit und Londregan läßt sich dieser Sachverhalt durch die folgende repräsentative Nutzenfunktion für ein Mitglied j der Gruppe i formalisieren: κ
(34)
U Jt(Z t)
=
·Zl~Ai
- L - j p
mit 0 < Aj < 1 und K; > 0, damit gilt: U Z i =
223
> 0; U Z i Z i < 0 .
Ähnlich bei: Austen-Smith (1993), S. 800; Buchanan/Lee (1982), S. 346.
224
Die Bedeutung von Ideologien betonen: North (1988), S. 7 f., 46 ff.; Denzau/North (1994), S. 21 ff.; Dixit/Londregan (1995), S. 858 ff.; dies. (1996), S. 1136 ff. 225 Es wird also eine additive Nutzenfunktion unterstellt, die positiv von G und Ζ { abhängt; für das selbsterwirtschaftete Einkommen lautet diese: U J [ ( l - t ) p Y A j ] = ( l - t ) r Y Aj. Damit ist eine Kompatibilität mit den anderen Ansätzen gewährleistet. Die für die Existenz eines Wahlgleichgewichts notwendige - Bedingung der Konkavität resultiert aus den produktionstechnischen Eigenschaften der Funktion Y(G).
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
175
Der erwartete Nutzen 226 Ujj des Individuums j in der Gruppe i ist eine Funktion des politisch bereitgestellten Einkommens Z x. Aj repräsentiert den (als gegeben angenommenen) Anteil am Markteinkommen der Gruppe und den abnehmenden Grenznutzen des politischen Einkommens. Ein Wert von Aj nahe null besagt, daß die Gruppenmitglieder kaum eigenes Einkommen erzielen. Die Wähler der Gruppe messen daher dem Umverteilungseinkommen eine hohe Bedeutung zu und reagieren relativ stark auf marginale Schwankungen von Z x. Wahlentscheidend ist nicht nur das politische Einkommen, sondern auch dessen relative Bedeutung gegenüber anderen (ideologischen) Faktoren. Dieser Sachverhalt wird durch die Größe κ χ symbolisiert, die anknüpfend an den Ausführungen der Gründerväter als Vermassungsparameter bezeichnet werden soll. Je höher der Wert von Kj ist, desto wichtiger sind c. p. staatliche Umverteilungen im Kalkül des Wählers. 227 Je höher nun der Nutzen einer Zj-Maßnahme ist, desto eher wird die Gruppe den Entscheidungsträger unterstützen. Außerdem ist den Unvollkommenheiten des politischen Systems Rechnung zu tragen: Die Parteien mögen die Nutzenfunktion der Gruppenmitglieder richtig einschätzen, sie müssen aber beachten, daß der Wähler j innerhalb der Gruppe einen ideologischen Bias für (bj > 0) oder gegen (bj < 0) eine Partei besitzen kann. Formal wird er bei einem Bias zugunsten der Partei L nur dann Partei R wählen, wenn gilt: (35)
AUJ
=
UJ(ZJ R) - UJ(Z
JL)
>
bJL,
d. h., die versprochene positive - kardinal meßbare - Nutzendifferenz aus beiden Parteiprogrammen muß größer sein als die persönliche Vorliebe für Partei
226 Vgl. Luce/Raiffa (1957), S. 50. Dies ist im Zusammenhang mit den oben angesprochenen Glaubwürdigkeits- und Unsicherheitsaspekten von Bedeutung. 227
Vgl. Dixit/Londregan (1995), S. 859; dies. (1996), S. 1138 f.; ähnlich bei: Coughlin (1992), S. 67. Wie das Allensbach Forschungsinstitut fur Demoskopie feststellt (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.02.1998, S. 5), sieht ein Großteil der Bevölkerung den Staat in der Verantwortung für Vollbeschäftigung, Schutz vor Armut und vor Krankheitsfolgen Die Bevölkerungsanteile, die diese Auffassung vertreten, haben in den letzten Jahren zugenommen. Das kann als Indiz fur einen hohen Kj -Wert bei breiten Schichten der Bevölkerung angesehen werden und als weitere Rechtfertigung für eine ausschließlich am eigenem Einkommen orientierte Argumentation in dieser Arbeit. In einer weitergehenden Interpretation symbolisiert die Variable Kj das Ausmaß, in dem soziotrophische Argumente die Wahlentscheidung beeinflussen; vgl. dazu allgemein: Nannestad/Paldam (1994), S. 222 ff.; Fiorina (1997), S. 404 ff. Je kleiner dann der Wert von Kj ist, desto stärker spielen soziotrophische Überlegungen eine Rolle.
176
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
L. Ist der individuelle Bias bj gleich null, macht der Wähler seine Entscheidung einzig von den Politikangeboten abhängig. 228 Stimmt z. B. die Diagnose, daß die Parteibindungen in der Bundesrepublik Deutschland loser geworden sind, 2 2 9 steigt die Bedeutung des ökonomischen
Haushalts, denn durch Wahlverspre-
chen lassen sich Stimmengewinne generieren. 230 Eine Partei ist dann gezwungen, nicht nur die individuelle Verzerrung bj abzuschätzen, sondern auch deren Verteilung. Je geringer deren Varianz ist, desto einfacher ist es ftir eine Partei, ihr Politikangebot und die tatsächlichen Präferenzen der Wähler i n Übereinstimmung zu bringen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, daß m i t einer i n Aussicht gestellten Maßnahme Stimmen zu gewinnen sind. Aus Sicht der Interessengruppe nimmt ihre politische Macht mit steigender Homogenität zu.
228
Jene Parteien/Kandidaten, die über eine (ideologisch determinierte; s. u.) Stammwählerschaft verfügen, haben dabei einen Vorteil: Sie müssen weniger politische Renten verteilen bzw. können für jede gegebene Rentenzahlung mehr an Gegenleistung in Form von Wahlkampfspenden etc. erwarten. Vor diesem Szenario sind die Aussagen bezüglich der Effizienz des politischen Systems, d. h., wieviel Ressourcen angebotsseitig (Umverteilungspolitik) oder nachfrageseitig (Rent-seeking-Aufwendungen) „verschwendet" werden, unklar: Zwar müssen die politischen Entrepreneure wenig versprechen (wenig Umverteilungspolitik), dafür müssen die Rent-seeker mehr investieren, um einen bestimmten Rückfluß zu erreichen. Letzteres wird jedoch - ab einem bestimmten Punkt - dadurch konterkariert, daß mit steigender Wahlsicherheit das Volumen der Umverteilung aufgrund der Sicherheit auf Seiten der Regierung sinken wird. Sie sehen sich nicht mehr gezwungen, für ihre Wahl zu „bezahlen"; vgl. dazu: Baron (1989), S. 59 ff. Dieser Effekt mag dadurch aufgehoben werden, daß - bei sicherer Wiederwahl der diskretionäre Spielraum für Sonderinteressenpolitik steigt. Für die Summe der Rentseeking-Aufwendungen ergeben sich dann unterschiedliche Hypothesen: Einerseits läßt sich vermuten, daß die Gesamtausgaben mit steigender Wahlwahrscheinlichkeit, d. h. mit wachsender Asymmetrie für die Gewinnerwartung eines Kandidaten, zunehmen werden, da die erwarteten Rückflüsse sicherer werden. Andererseits werden aufgrund des sinkenden politischen Drucks auf den favorisierten Kandidaten die zu erzielenden Renten sinken oder teurer werden, was die Gesamtaufwendungen reduziert. 229 So berichtet Der Spiegel, daß von 1980 bis 1994 der Anteil der CDU-Wähler mit starker Parteibindung von 62,8 v.H. auf 38,9 v.H. gesunken, während derjenige derer, die keine Parteiidentifikation besitzt, im selben Zeitraum von 8,8 v.H. auf 25,2 v.H. gestiegen ist; vgl. Der Spiegel vom 27.04.1998, S. 49. Dieser Bias ist im übrigen ein Grund dafür, daß Wähler sich an Wahlen beteiligen: Parteibindung senkt politische Transaktionskosten und das Free-rider-Verhalten und fiihrt zu der internen Verpflichtung, wählen zu gehen; so auch: Galeotti/Breton (1986), S. 58. 230
So auch: Lindbeck/Weibull
(1987), S. 279.
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
177
f(AUj)
Wähler präferiert Partei L
Wähler präferiert Partei R
Quelle: In Anlehnung an: Bernholz, P.; F. Breyer (1994), S. 176.
Abbildung 3.10: Gruppendichte und Dichteparameter dj a)
Modellmäßig sei dieser Aspekt derartig erfaßt, daß die Politiker unterstellen, die Individuen einer Gruppe besäßen identische Nutzenfunktionen hinsichtlich Zj, jedes Mitglied habe jedoch eine persönliche Präferenz für oder Abneigung gegen eine Partei (bj). Aus Sicht der Politiker sind diese Verzerrungsfaktoren zufällig verteilt, so daß das individuelle Wahlverhalten eine Zufallsvariable wird. Da die Politiker die Verteilung der Zufallsvariable nicht kennen, nehmen sie an, daß die Verzerrungsfaktoren bj gleichverteilt über ein Intervall [lj, η] seien (vgl. Abbildung 3.10, S. 177). Daher läßt sich eine Variable dj definieren als: dj = l/(r r lj), die die Dichte der Verzerrungsfaktoren innerhalb einer Gruppe widerspiegelt. Je geringer das Intervall [lj, r j ist, d. h., je größer die Dichte ist, desto größer ist c. p. die Bedeutung der Gruppe im Entscheidungskalkül der Politiker, denn um so genauer kann die Wahlwirkung einer Maßnahme eingeschätzt werden und um so glaubwürdiger erscheint sie. Die Gruppenvarianzen di können als Funktion der Gruppengröße, des natürlichen Homogenitätsgrads und der Ressourcen R i ? die die Gruppenmitglieder in die Organisation der Gruppe investieren, angesehen werden. 231 Letztere wiederum sind direkt abhängig von der erzielbaren Rente (vgl. Gleichung (4), S. 118) und damit von der Stabilität und Glaubwürdigkeit 232 der politischen Institutionen. 12 Rauhut
178
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
Empirisch ist diese Überlegung insofern relevant, als sie erklärt, warum Wirtschaftssubjekte, die in stagnierenden Branchen beschäftigt sind und eine relativ homogene politische Gruppe formen, kaum in prosperierende Bereiche wechseln. Würden Landwirte, Stahl- oder Werftarbeiter sich nämlich umorientieren, würden sie ihr politisches Kapital - hier gemessen als Gruppendichte - entwerten und nur noch geringe politische Beachtung finden. 233 Zugleich sind Politiker ebenfalls kaum an einem Wechsel interessiert, würden sie doch dann „Wahlvolk" verlieren. 234 bb) Fähigkeit zur Einflußnahme auf andere Wähler Die Ressourcen Rj werden jedoch nicht nur intern investiert, um den Organisationsgrad der Gruppe zu erhöhen, sondern auch extern, um andere Wähler zu beeinflussen. 235 So kann eine Gruppe der Regierung und der Öffentlichkeit Informationen über bestimmte Sachverhalte bereitstellen 236 oder einer Partei finanzielle Ressourcen zukommen lassen, sei es direkt in Form von Spenden237
231
Ein Teil der Ressourcen einer Gruppe kann dazu verwandt werden, die Varianz der Gruppe zu verringern, d. h.: dj = dj (Rj), mit dd/dRj > 0; so auch: Weede (1997), S. 337. 232
Moe (1990b), S. 122; ders. (1991), S. 124 f., bezeichnet dies als „political uncer-
tainty". 233
Dieser Sachverhalt ähnelt dem des „hampered rent seeking" bei: Tullock (1989),
S. 14. 234
Langfristige Verträge dagegen, die den Ausstieg aus einer stagnierenden Branche regeln sollen, sind in der Regel „not feasible", da es ihnen an Glaubwürdigkeit mangelt; vgl. Besley/Coate (1995), S. 27 ff. 235
Eine Formalisierung dieses Gedankens bietet: Clark (1997), S. 181 ff., der nachweist, daß die Fähigkeit, Wähler zu beeinflussen, zum einen von der Grundüberzeugung der Bevölkerung und zum anderen von der internen Fähigkeit, politischen Druck auszuüben, abhängt (Parameter m, Gleichung 2). Je größer der A-priori-Bias und m sind, desto größer ist der politische Erfolg einer Gruppe. „Because preferences over consequences are primitive, 'influence' occurs ... through changing beliefs. And the extent to which any information offered to alter beliefs is effective depends on the credibility of the lobbyist to the legislator in question"; Austen-Smith (1993), S. 800. 236 So folgt aus begrenzten Kapazitäten der Politiker, daß sie mit wachsendem Entscheidungsbereich stärker auf die Unterstützung und „Zuarbeit" von Interessengruppen angewiesen sind; vgl. u. a. Kruse, (1995), S. 2 ff., 10 ff.; Breton (1996), S. 63. 237
Vgl. van der Beek (1994), S. 40 ff.
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
179
oder indirekt z. B. über Anzeigenkampagnen.238 Die Höhe der Ausgaben ist sowohl eine Funktion des politischen Systems (ψ) 2 3 9 als auch der Gruppenspezifika. Es lohnt sich auch deshalb für eine Gruppe, Informationen bereitzustellen, weil die individuelle Wahrscheinlichkeit, den Wahlausgang meßbar zu beeinflussen, für jedes Individuum denkbar gering ist. Die Wähler besitzen daher einen „veil of insignificance" (Kliemt), der sie dazu verleiten mag, entgegen ihren eigentlichen, persönlichen Nutzen zu stimmen und individuelle Einkommenseinbußen hinzunehmen („Denkzettel verteilen"). 240 Brennan und Lomasky vertreten insofern die Auffassung, Wähler würden sich für jene Alternative entscheiden, die den allgemeinen moralischen Grundsätzen entspricht. In dem Fall werden Lobbies und Pressure-groups - ζ. B. Gruppe 2 - u. U. Ressourcen R 2 aufwenden, um in der Öffentlichkeit als Vertreter moralischer Interessen dazustehen,241 so daß ihre Anliegen auch von anderen Wählern unterstützt werden.242 In der Politik werden daher Privilegien für Minderheiten in der Regel nicht offen als solche benannt, sondern es wird behauptet, sie dienten einem übergeordneteten, allgemeinen Interesse. So wird vorgegeben, Kohlesubventionen würden die deutsche Energieautarkie oder einen Technologievorsprung in diesem Bereich sichern. 243 Gelingt es, die Begünstigung der Interessengruppe zu verschleiern und ist der „veil of insignificance" ausgeprägt und damit der Einfluß der tatsächlichen Politik auf die Wahlentscheidung gering, 244 dann sind die
238 Erinnert sei hier nur an die Kampagne des Tengelmann-Konzerns im Vorfeld der Bundestagswahl 1994. 239 Je zentralisierter die staatliche Macht ist, desto vollständiger ist die Kontrolle über die politischen Ressourcen und desto schwieriger sind Vergleiche mit anderen Politikanbietern für die Wähler. Bei ausgeprägt föderalen Strukturen werden dagegen „Preference-shaping"-Versuche offensichtlich; siehe dazu auch: Dunleavy (1991), S. 112 ff 240
Bei Wahlen handelt es sich um „low costs decisions", d. h. um Entscheidungen, bei denen die Konsequenzen kaum auf das einzelne Individuum zurückrechenbar sind ζ. B. im Gegensatz zu individuellen Investitionsentscheidungen. Die individuelle Wahl ist für einen selbst irrelevant, obschon die Kollektiventscheidung für jedes Subjekt von Bedeutung ist; vgl. u. a.: Kliemt (1986), S. 333 ff.; Kirchgässner/Pommerehne (1993), S. 108 ff.; Fiorina (1997), S. 407 ff. 241 Vgl. dazu insbesondere: Brennan/Lomasky (1985), S. 190 ff.; dies. (1989), S. 50 ff.; dies. (1993), S. 2 ff.; siehe auch: Denzau/Munger (1986), S. 92 ff. 242
Vgl. Breton (1996), S. 319 f.
243
Siehe dazu auch: Wehner (1992), S. 68 ff.; Folkers (1996), S. 141.
244
Siehe dazu auch: Appelbaum!Katz (1987), S. 686.
180
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
Opportunitätskosten in Form von Stimmenverlusten bei „der Mehrheit" 245 und der Verlust von Reputation auf seiten des Politikers niedrig. 246 Vorteilhaft wirkt zudem, daß vom Empfänger - der Öffentlichkeit - häufig unterstellt wird, die Interessengruppe verfuge über Expertenwissen. Daher wirke es positiv auf das politische Ergebnis, wenn diese Gruppen in den politischen Entscheidungsprozeß eingebunden werden. In öffentlichen Anhörungen oder durch Gutachten können sie ihre Position publik machen, wodurch sich die Chancen erhöhen, daß private Verteilungsvorteile von der Allgemeinheit der Wähler als positiv betrachtet werden. 247 Das Ausmaß der Einflußnahme auf andere Wähler wird im Modell durch den Parameter ω illustriert. Je größer C0j ist, desto stärker fließen die Interessen der Gruppe in das Kalkül der Politiker ein.248 cc) Beeinflussung und Kontrolle der Entscheidungsträger Es gelingt bestimmten Gruppen auch deshalb, ihre wahren Absichten zu verschleiern, weil sie während einer Legislaturperiode direkt auf die Programmformulierung („agenda setting") Einfluß nehmen. Zugleich erreichen sie, indem sie sich direkt, jenseits von Wahlen, mit den Entscheidungsträgern auseinandersetzen, Leistung und Gegenleistung zu verbinden und damit für sich das Opportunitätsproblem zu entschärfen. Wichtig ist daher die Fähigkeit γ, den Politiker zu kontrollieren und das politische Programm in die eigene Richtung zu beeinflussen. 249
245
Diesen Aspekt betonen ζ. B.: Folkers (1998), S. 204 ff.; Laux (1984), 127 ff.
246
Eine Formalisierung dieses Gedankens findet sich bei: Coate/Morris (1995), S. 1219 ff. Voraussetzung dafür ist, daß die Wähler nicht nur über die Wirkungen einer Maßnahme unvollständig informiert sind („policy uncertainty"), sondern auch bezüglich des Politikers („politician uncertainty"). 247 „These 'preferences' [i. e. bezüglich der Wahlprogramme; der Verf.] can be manipulated and created through the information and mis-information provided by interested pressure groups, who raise their political influence partly by changing the revealed 'preferences' of enough voters and politicians"; Becker, Gary S. (1983), S. 392; siehe zum Informationsproblem auch: Tullock (1983), S. 39 f f ; Austen-Smith (1997), S. 298 ff. 248
Mit Bezug auf das parlamentarische (Ausschuß-)System: Austen-Smith (1993), S. 800 ff. 249 Denn: „Greater Control over the agenda yields results more favorable to the controller"; Denzau (1985), S. 196. Denzau (ebenda, S. 189 ff.) diskutiert dieses Phänomen in erster Linie unter dem Aspekt der Sicherung einer Gleichgewichtslösung. Davon kann
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
181
Das politische System (Ψ) beeinflußt diese Fähigkeit vor allem durch die Anzahl der vorgesehenen Agenda-setter (Programmanbieter), wobei zwei Ebenen zu unterscheiden sind: • Zunächst ist es wesentlich, wie zentralistisch ein Gemeinwesen aufgebaut ist. Werden viele Entscheidungen auf einer politischen Ebene getroffen (zentralistischer Staat), so ist das Delegationsvolumen an den einzelnen Politiker recht hoch. Dessen Fähigkeiten, Sachverhalte fachlich zu beurteilen und den Wählerpräferenzen entsprechend einzuordnen, sind jedoch begrenzt. Daher ist er grundsätzlich auf die Unterstützung von Interessengruppen angewiesen, wobei deren Einfluß auf Entscheidungen der Politiker c. p. um so größer ist, je größer das Delegationsvolumen an den Agenten ist. 250 Zugleich dürfte es für jede Interessengruppe kostengünstiger sein, sich an einem Ort für eigene Belange einzusetzen als an mehreren. 251 Der Einfluß yx wächst also mit steigendem staatlichen Verantwortungsbereich, weshalb auch die Gefahr einer Ausbeutung durch Interessengruppen steigt.252 • Innerhalb einer staatlichen Ebene vollzieht sich der Prozeß der AgendaSetzung im Rahmen einer repräsentativen Demokratie in der Regel in Ausschüssen.253 Existiert ein Monopol - darf bspw. nur ein Ausschuß über Vorschläge entscheiden -, so wird der Ausschuß mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Vorschlagsalternative wählen, die ihm ein Maximum an Nutzen garantiert unter der Nebenbedingung, daß er von den Wählern (Parlamentsabgeordneten) gerade noch akzeptiert wird. Interessengruppen werden daher in erster Linie auf die Ausschußmitglieder einwirken. 254 Dies wird c. p.
hier abstrahiert werden, da das Problem durch die Annahme von Wahlwahrscheinlichkeiten gelöst wird. 250
So auch: Kruse (1995), S. 9 ff.; Mueller, Dennis C. (1996), S. 11 f.; Breton (1996), S. 326 f. 251
Vgl. dazu prägnant für die USA: Dye (1990), S. 105 ff.
252
Vgl. zu dieser Capture-These grundlegend: Stigler (1971), S. 4 ff.; Peltzman (1976), S. 211 ff.; McCormick/Tollison (1981), S. 7 ff.; Tollison (1982), S. 591 ff. Die extreme Version von Brennan und Buchanan wurde in Kapitel C.I.l. schon dargestellt. 253
Vgl. dazu: Shepsle (1979), S. 31 ff.
254
Die Bedeutung dieser Ausführungen zeigt sich prägnant bei den Beratungen zur ersten Fassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen; vgl. dazu zusammenfassend: Robert (1976); von Bethusy-Huc (1962). Der Einfluß der Interessengruppen auf das Gesetzgebungsverfahren bewirkte schließlich, daß Gesetz und ordoliberale Vorstellungen nicht zur Deckung kamen; vgl. Nörr (1994), S. 140. Im Gegensatz zu der beschriebenen Komplementarität der beiden Strategien sind auch Fälle denkbar, bei denen sich für Interessengruppen die Frage stellt, ob sie Agendasetting betreiben oder eine Präferenzänderungsstrategie verfolgen; vgl. dazu: AustenSmith (1993), S. 801 ff. Entscheidend ist allerdings dabei die Annahme, daß Agenda-
182
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie
einfacher sein, wenn nur ein Ausschuß Agenda-setting-Macht besitzt, ist die Anzahl der zu beeinflussenden Politiker doch gering (Kostenargument) und sind die Ergebnisse aufgrund der obigen Überlegungen relativ eindeutig zu prognostizieren (Erlösargument). Sind dagegen mehrere Agenda-setter zugelassen (z. B. über direkt-demokratische Elemente die Bürger selbst), werden im Parallelwettbewerb Anpassungen induziert, die die Ergebnisse schwerer vorhersehbar machen und damit den gruppenspezifischen Einfluß ^ reduzieren. 255 Der direkte Einfluß auf die Politiker selbst (yj) ist also um so bedeutender, je zentraler die politischen Entscheidungen getroffen werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung ist dann auch zu beachten, daß der Aufbau des politischen Systems weniger die Ursache für ineffiziente politische Resultate ist, als vielmehr das Ergebnis von Bemühungen, eben jene Ergebnisse herbeizufuhren. Ebenso wie eine Wettbewerbspolitik im ökonomischen Bereich bestimmte Transaktionskosten erhöhen soll, sind umgekehrt im politischen Bereich Regelungen denkbar, die die Transaktionskosten für bestimmte Akteure senken und damit erst ineffiziente Resultate ermöglichen. So ist Log-rolling erst in Parlamenten oder deren Ausschüssen praktikabel, und es läßt sich eine Klientelpolitik leichter durchfuhren, wenn darüber nicht im Plenum, sondern hinter verschlossenen Türen in Ausschüssen beraten wird. 256 Aus dieser Überlegung läßt es sich dann auch rechtfertigen, wesentliche institutionelle Vorkehrungen, die in der Realität vorzufinden sind, in der Modellanalyse unbeachtet zu lassen: Sie können, wie die diskutierten Maßnahmen selbst, als Ergebnis politischer Überlegungen interpretiert werden. c) Zusammenfassung Die Überlegungen hinsichtlich eines Transaktionskostenansatzes der Politik sind in Abbildung 3.11 zusammengefaßt. Die politischen Transaktionskosten lassen sich - abgesehen von den Organisationskosten - in Kosten der Information und der Bewältigung des Prinzipal-Agenten-Problems (Kontrollkosten) einteilen. Diese Reibungsverluste bewirken, daß nur ein unvollständiger politi-
setting (Ausschuß) und Abstimmung (Parlament/Wahl) institutionell getrennt sind. Ist dies nicht der Fall und hat das Parlament/der Wähler selbst Vorschlagsrecht, so sinkt der Einfluß der Lobbyisten auf der Agenda-Ebene und steigt auf der Abstimmungsebene (ebenda, S. 813), weshalb im folgenden auch der wahlverzerrende Einfluß von Lobbies im Vordergrund steht; Überblick bei: ders. (1997), S. 296 ff. 255 256
Für eine exakte Modellierung dieses Ablaufs: Denzau (1985), S. 190 ff.
So: Dixit (1996), S. 121 ff.; Weingast et al. (1981); in Ansätzen auch bei: Moe (1990a), S. 232; Brennan/Buchanan (1980), S. 17 f.
IV. Ein Transaktionskostenansatz der Demokratie
183
scher Vertrag geschlossen wird, der einen opportunistischen Spielraum für den Agenten (Politiker) begründet. Wie und von wem dieser Raum genutzt wird, ist abhängig davon, wie gut die politischen Akteure mit den Transaktionskosten umgehen können. Im folgenden Modell werden diese unterschiedlichen Fähigkeiten durch den politischen Machtparameter aj erfaßt; aj ist eine Funktion des (exogen) gegebenen politischen Systems Ψ sowie gruppenspezifischer Faktoren. Dabei gilt, daß der Wert von aj um so höher ist, je stärker eine Gruppe Einfluß auf Politiker und Wähler nehmen kann, je homogener sie ist, je geringer ihr Gruppenumfang ist und je mehr Ressourcen ihr zur Verfügung stehen: (36)
=
ày i
^[^(^,Ψ);^^,^);^;^;^;^],
dco x
äi (
wobei im Modell Gruppe 2 für die Politiker homogener erscheint und stärker beachtet wird: a 2 > aj > 1. Für ein aj = 1 wirkt die Gruppe nicht verzerrend. 257
Politisches System Ψ
Abbildung 3.11 : Bestimmungsfaktoren für den unterschiedlichen Einfluß von Gruppen
257 Die aj werden ebenso als exogene Größe in die Betrachtung eingeführt wie der Umfang des unproduktiven Ressourceneinsatzes Rj.
184
C. Soziale Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie 2. Das modifizierte Grundmodell unter dem Einfluß von Transaktionskosten
I m Vergleich zu dem vorherigen Ansatz (Kapitel C.III.) ändert sich das M o d e l l nun dahingehend, daß aufgrund der allgemeinen Unsicherheit auf Seiten der Politiker, die sich aus den Unvollkommenheiten des politischen Systems ergibt, sowohl
die Interessen der Mehrheit als auch die der Minderheit i m
K a l k ü l der Politikanbieter Berücksichtigung finden. Daher ist es für beide Wählergruppen gegebenenfalls lohnend, sich an dem Umverteilungsspiel zu beteiligen. I n diesem Probabilistic-voting-Ansatz werden jene Gruppen v o n Politikern u m so stärker beachtet, j e größer ihr politischer Einfluß ( a ^ ) ist. Dabei w i r d unterstellt, daß die Wahlwahrscheinlichkeit m i t zunehmender Übereinstimmung der vermuteten, m i t der Gruppengröße und -stärke gewichteten (ai-nj) Präferenzen m i t dem Wahlprogramm steigt. 258 Der Modellansatz verändert sich gegenüber den Gleichungen (22-24) in: 2 5 9
258
Vgl. dazu: Coughlin (1992), S. 25 ff.; Coughlin et al. (1990a), S. 685 ff.; Bernholz/Breyer (1994), S. 130 f f , 175 ff.; Mueller, Dennis C. (1989), S. 198 ff. Unterstellt man zwei Parteien - wobei es ausreicht, eine zu betrachten -, so würde sich im Falle eines deterministischen Modells die Treppenfunktion [PriL=l]^UiL>UiR; [Pr i L = 0 ] < - > U i L < U i R ; [PriR=l]^UiL
- i L - - 4 - , mit: r \-Al
und Α, Φ 1.
1-4
Berücksichtigt man das Ergebnis fur den optimalen Abgabensatz in Bedingung (al), erhält man die Optimalbedingung fur die Bereitstellung effizienzsteigernder Institutionen G: (\-t R).r R-r.A x
(26a)
+ t R.r R.r-\
r R · F'((l
Unter Berücksichtigung r R-r{(\-t
- t R \ Ax + t R)
R)-Ai
t R)
+
1
r Ä.y
=
(
=
o;
1;
von Gleichung (21 ) gilt:
und wegen Bedingung (25), wonach ^
(26b)
=
*
(1 -t R)'A x+t R
=
= t
1 -
r R - TS,
' r + r r-(l-t)-r'
ist:
= "Γ
S,
33
1-0-0·-. r
Mathematischer Anhang
300
Diese kann man umformen in: r
1 LO-'ä)· A \ +*r\- r R '
=
r
R ' Λ ι -t R-r R-
r
(26c)
Γ
=
1
=
! r R- Ax + t R-r R·
AJ +
•
, wegen ^ - 1 = Λ2
-A2.
Der Nenner stellt die marginalen Wohlfahrtskosten der Besteuerung dar; mit steigendem t wachsen diese. Im Zähler steht der marginale Gewinn aus Umverteilung. 5 Mit steigendem Steuersatz nimmt dieser ab. Für Aj < 1 sind die marginalen Wohlfahrtskosten größer als die Umverteilungsgewinne. Je höher der Anteil A\ am Volkseinkommen ist, desto geringer ist die Abweichung zwischen den marginalen Gewinnen und den Kosten. Allgemeiner formuliert wählt eine Umverteilungsmehrheit jenen Steuersatz, bei dem ihr Anteil an den marginalen Deadweight-costs ihrem Umverteilungsgewinn entspricht. Dies wird auch in einer anderen Formulierung deutlich: Vergleicht man die privaten Vorteile bzw. Gruppenvorteile mit den sozialen Kosten und Nutzen, ergibt sich folgender Zusammenhang: Die Mehrheit realisiert im Optimum einen Anteil Si an den sozialen Gewinnen oder Verlusten. Daraus folgt, daß die marginalen Kosten und Erträge ihrer Handlungen für die Gesellschaft genau dem reziproken Wert von S! entsprechen. Es gilt dann, wenn man in Bedingung (26b) A j substituiert: _
_i_
tr'
+r
r-(\-t)-r
J_
;
ι
S]
%
f Λ
_
tr'+r
λ
~ r-O-O-r'J
1 y
Sì
t • r + r + [r - (1 - /) · r'] · / - t
'
' 2
· r' - / · r
[r-(l-t)r 0 und: υ
0;£/ z/z/