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German Pages 215 Year 2011
Schriften zum Strafrecht Heft 216
Sozialadäquanz im Strafrecht Zur Knabenbeschneidung
Von
Thomas Exner
Duncker & Humblot · Berlin
THOMAS E XNER
Sozialadäquanz im Strafrecht
Schriften zum Strafrecht Heft 216
Sozialadäquanz im Strafrecht Zur Knabenbeschneidung
Von
Thomas Exner
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat diese Arbeit im Jahre 2010 als Dissertation angenommen.
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Paul-Gerhard Exner memor beneficiorum
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Vorwort Unter dem Titel „Knabenbeschneidung. Zur Sozialadäquanz im Strafrecht“ hat die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena die vorliegende Arbeit im Sommersemester 2010 als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde die Schrift überarbeitet. Rechtsprechung und Literatur konnten inhaltlich bis September 2010 erfasst werden. Ich danke zuvörderst meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. G. Jerouschek M.A. Ohne seine Anregung zu dem Promotionsvorhaben sowie seine Betreuung und die Freiräume, die er zur Ausarbeitung des Themas bot, wäre diese Arbeit nicht entstanden. Ihm und auch Prof. Dr. U. Ebert danke ich zugleich für die Erstellung der Gutachten. Tiefer Dank gebührt meinem Doktorvater überdies für die Beschäftigung an seinem Lehrstuhl, ohne welche das Promotionsvorhaben wirtschaftlich nicht zu bewältigen gewesen wäre. Mein herzlicher Dank gilt nicht zuletzt der vielfältigen und selbstlosen Hilfe bei der technischen Fertigstellung der Arbeit. Frau Jana Thierbach hat das Manuskript mit unersetzlicher Präzision und Urteilsschärfe vollständig Korrektur gelesen. Orthographischen Fehlern zu Rande gerückt sind ferner Frau Elisabeth Remmers und Herr Sebastian Steinmetz – letzterem ist zudem die Vorlage einer filmreifen Druckvorlage für das Promotionsverfahren geschuldet. Verbleibende Fehler spiegeln allein die Unzulänglichkeiten des Autors. Jena, im September 2010
Thomas Exner
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Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einleitung
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A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Beschneidung als medizinische Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Beschneidung als Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 C. Untersuchungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Teil 2 Tatbestandsmäßigkeit der Beschneidung
30
A. Einfache Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 B. Gefährliche Körperverletzung § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Teil 3 Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung
36
A. Vorüberlegungen zur Möglichkeit der Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung 36 B. Kindeswohl – Die Grenze der elterlichen Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 C. Elterliches Erziehungsinteresse und Interessensphäre des Kindes . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Die durch die Beschneidung betroffenen Rechtsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Das elterliche Recht auf religiöse Kindererziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Recht auf körperliche Unversehrtheit/Selbstbestimmung des Minderjährigen 46 II. Abwägung der betroffenen Rechtsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
10
Inhaltsverzeichnis Teil 4 Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
58
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 I. Zuordnung innerhalb des Deliktsaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Sozialadäquanz auf Schuldebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a) Roeders Argumentation: Sozialadäquanz im Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (1) Der Ansatz Roeders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 (2) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (a) Sozialadäquanz im Rahmen des Erfolgs- und Handlungsunrechts bei Fahrlässigkeitsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (b) Sozialadäquanz und finaler Unrechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 (4) Sozialadäquanz im Fahrlässigkeitsdelikt bei nicht-kausalistischem Unrechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 b) Schuld und Sozialadäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 c) „Sozialadäquanz“ oder „sozialadäquates Risiko“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 d) Vorsätzliche Rechtsverletzung als sozialadäquates Verhalten . . . . . . . . . . 83 e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Unrechtstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (1) Die Zuordnungsentscheidung Welzels für einen Rechtfertigungsgrund 87 (2) Zur Standortbestimmung durch Klug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (3) Sozialadäquanz als gewohnheitsrechtlicher Rechtfertigungsgrund . . . 92 (4) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (1) Sozialadäquanz als Tatbestandsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (2) Teleologische Auslegung bzw. Reduktion statt Sozialadäquanz? . . . . 101 (3) Aufgehen der Sozialadäquanz in einem sozialen Handlungsbegriff? . 107 3. Gesamtergebnis zur Verortung im Deliktsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Inhaltliche Anforderungen an eine Sozialadäquanzlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Sozialadäquanz und Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Consuetudo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Opinio iuris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Inhaltsverzeichnis
11
2. Beachtliche Sozialadäquanz – Unbeachtliche Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Die Differenz von tatsächlichem Sein und normativem Sollen . . . . . . . . . 119 b) Zur Möglichkeit der normativen Kraft des Faktischen – Die Berechtigung der Welzelschen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3. Merkmale sozialadäquater Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Soziale Unverdächtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (1) Sozialadäquanz und Geringfügigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (2) Soziale Unauffälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 b) Billigung durch die Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 (1) Bezugspunkt der allgemeinen Billigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 (2) Allgemeine Billigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 c) Geschichtliche Üblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 III. Sozialadäquanz als Rechtsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1. Soziale Adäquanz – Eine normative oder empirische Kategorie? . . . . . . . . . 158 2. Die strafrechtliche Sozialadäquanzlehre im Gefüge der Gesamtrechtsordnung 164 IV. Zusammenfassendes Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 B. Rituelle Beschneidung als sozialadäquates Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Soziale Unverdächtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 II. Allgemeine Billigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 III. Geschichtliche Üblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 IV. Exkurs: Rechtliche Gleichbehandlung der Beschneidung von Knaben und Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Teil 5 Zusammenfassung
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A. Knabenbeschneidung im gegenwärtigen Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 B. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
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Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. abgedr. abl. Abs. Abschn. a.E. AEG a.F. AG allg. Alt. a.M. Anm. Apg. ARSP Art. AT ausdr. Az. BAG BayObLG Bd. BeckOK begr. BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BJU BRD BR-Drucks. Bsp(e) Bspr. bspw. BT-Drucks. BVerfG
andere Ansicht am angegebenen Ort abgedruckt ablehnend Absatz Abschnitt am Ende Allgemeines Eisenbahngesetz alte Fassung Amtsgericht allgemein/allgemeiner/allgemeines/allgemeine Alternative am Main Anmerkung Apostelgeschichte Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Stuttgart: Franz Steiner Verlag) Artikel Allgemeiner Teil ausdrücklich Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Bayerisches Oberstes Landesgericht Band Beckscher Onlinekommentar begründet Bürgerliches Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen British Journal of Urology (Internetressource: Blackwell Synergy) Bundesrepublik Deutschland Drucksache(n) des Deutschen Bundesrates Beispiel(e) Besprechung beispielsweise Drucksache(n) des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht
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BVerfGE bzgl. bzw. ca. dass./ders./dies. d. h. d.i. diff. Dig. Diss. DJT Dtld. ebd. EKD engl. Erg. et al. etc. EuGRZ exempl. f./ff. FamRZ F.A.Z. FG fortgef. FPR FR FS FuR Fußn. GA Gal. gedr. gem. GewA GG ggf. grds. Habil. Halbbd. h.M. HRRS Hrsg.
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Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich beziehungsweise circa (lat.: schätzungsweise) dasselbe/derselbe/dieselbe(n) das heißt das ist differenzierend Digesten Dissertation Deutscher Juristentag Deutschland ebenda Evangelische Kirche Deutschland englisch Ergebnis et alii (lat.: und andere) et cetera (lat.: und so weiter) Europäische Grundrechts-Zeitschrift (Kehl u. a.: N.P. Engel Verlag) exemplarisch folgende Seite/n Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (Bielefeld: Verlag Ernst und Werner Gieseking) Frankfurter Allgemeine Zeitung (Fazit-Stiftung: Frankfurt a.M.) Festgabe fortgeführt Familie, Partnerschaft, Recht. Zeitschrift für die Anwaltspraxis (München: C.H. Beck) Frankfurter Rundschau (Druck- und Verlagshaus Frankfurt am Main) Festschrift Familie und Recht. Zeitschrift für die anwaltliche und gerichtliche Praxis (Neuwied: Luchterhand) Fußnote Goltdammers Archiv für Strafrecht (Heidelberg: R. v. Deckers Verlag) Der Brief des Paulus an die Galater gedruckt gemäß Gewerbe Archiv. Zeitschrift für Wirtschaftsverwaltungsrecht (München: Gildebuchverlag) Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls grundsätzlich Habilitation Halbband herrschende Meinung Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (www.hrr-strafrecht.de) Herausgeber
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i. d. F. i. d. R. i. d. T. i. e. S. insbes. insges. i.S.(d.) i.V.m. JA JR JRE JuS JZ KlinPädiatr Kol. krit. lat. LG lit. Lit. LS Lsg. Luk. m. MDR MdS MedR MünchKomm-BGB
Abkürzungsverzeichnis
in der Fassung (vom) in der Regel in der Tat im engeren/eigentlichen Sinne insbesondere insgesamt im Sinne (des) in Verbindung mit Juristische Ausbildung (Köln: Carl Heymanns Verlag) Juristische Rundschau (Berlin: Walter De Gruyter) Jahrbuch für Recht und Ethik (Berlin: Duncker & Humblot) Juristische Schulung (München: C.H. Beck) Juristenzeitung (Tübingen: Mohr Siebeck) Klinische Pädiatrie (Stuttart/New York: Georg Thieme Verlag) Der Brief des Paulus an die Kolosser kritisch; Kritik lateinisch Landgericht littera (lat.: Buchstabe) Literatur Leitsatz Lösung Evangelium nach Lukas mit Monatsschrift für Deutsches Recht (Köln: Verlag Dr. Otto Schmidt KG) Metaphysik der Sitten Zeitschrift für Medizinrecht (Berlin/Heidelberg: Springer) Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (München: C.H. Beck) MünchKomm-StGB Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch (München: C.H. Beck) m.w.N. mit weiteren Nennungen/Nachweisen Nachw. Nachweis n. Chr. nach Christi Geburt n.F. neue Fassung NJW Neue Juristische Wochenschrift (München: C.H. Beck) NJW-RR Rechtsprechungs-Report der Neuen Juristischen Wochenschrift (München: C.H. Beck) Nr(n). Nummmer(n) NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht (München: C.H. Beck) NStZ-RR Rechtsprechungsreport der Neuen Zeitschrift für Strafrecht (München: C.H. Beck) NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (München: C.H. Beck) o. ä. oder ähnlich(e/es) o. g. oben genannt(en) o. J. ohne Jahr(-esangabe) OLG Oberlandesgericht OLG-NL OLG-Rechtsprechung Neue Länder (München: C.H. Beck) o.O. ohne Ort(-sangabe)
Abkürzungsverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Orig. o.Verl. OVG PKS Ps. Rdnr(n). RegE resp. RGSt RGZ Röm. Rspr. RW s. S. scil. SGb SGB II SGB V SGB XII s. o. sog. spez. StA StGB StrRG stRspr. StV Suppl. TierSchG TStGB u. u. a. umstr. Univ. Urt. usf. usw. UTB u. U. v. v. a. Var. VG VGH vgl. Vol.
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Original ohne Verlag(-sangabe) Oberverwaltungsgericht Polizeiliche Kriminalstatistik Psalm Randnummer(n) Regierungsentwurf respektive Amtliche Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Strafsachen Amtliche Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen Der Brief des Paulus an die Römer Rechtsprechung Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung (Baden-Baden: Nomos) siehe Seite scilicet (lat.: nämlich) Die Sozialgerichtsbarkeit (Wiesbaden: Chmielorz GmbH) Sozialgesetzbuch 2. Buch (Arbeitslosenversicherung, Arbeitsförderung) Sozialgesetzbuch 5. Buch (Gesetzliche Krankenversicherung) Sozialgesetzbuch 12. Buch (Sozialhilfe) siehe oben so genannte(r/s) speziell Staatsanwaltschaft Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland Strafrechtsreformgesetz ständige Rechtsprechung Strafverteidiger (Köln: Wolters Kluwer) Supplement (engl.: Beilage) Tierschutzgesetz Strafgesetzbuch der Türkei und unter anderem umstritten Universität Urteil und so fort und so weiter Uni-Taschenbücher GmbH unter Umständen vom/von vor allem Variante Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Volume (engl.: Jahrgang)
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Vor(bem). WHO WStG z. B. ZIS zit. ZKJ ZRP ZStW zust. Zust.
Abkürzungsverzeichnis Vorbemerkung World Health Organization Wehrstrafgesetz zum Beispiel Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (www.zis-online.com) zitiert Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (Köln: Bundesanzeiger Verlag) Zeitschrift für Rechtspolitik (München: C.H. Beck) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Berlin/New York: De Gruyter) zustimmend Zustimmung
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Teil 1
Einleitung A. Einführung „So far it is known, only Antiochus IV Epiphanes, Hadrian, Stalin and Hitler have outlawed ritual male circumcision. Is this the company with which todays opponents of circumcision would feel happy?“1
Die Beschneidung zu Lasten Mädchen und junger Frauen in Form der Verletzung bzw. teilweisen oder vollständigen Entfernung der weiblichen Genitalien wird einhellig unter den Begriff der „Genitalverstümmelung“ gefasst. Übereinstimmend bewerten Rechtsprechung sowie Rechtslehre einen solchen von den Eltern veranlassten, zumeist religiös-kulturell motivierten Eingriff in die Körperintegrität eines Kindes als Körperverletzung im strafrechtlichen Sinne.2 Zugleich wächst das Bestreben des Gesetzgebers, derartige Übergriffe in die Körperintegrität weiblicher Minderjähriger als schwere Körperverletzung expressis verbis in das StGB aufzunehmen.3 Weitaus weniger Aufmerksamkeit strafrechtlicherseits erfährt hingegen der komplementäre Eingriff zu Lasten von Knaben, obwohl auch dieser einen Eingriff in die Körpersphäre eines Kindes darstellt. Nur selten ist der mit dem neutraleren Begriff der „Zirkumzision“ belegte Eingriff zu Lasten des männlichen Nachwuchses Gegenstand von Gerichtsurteilen. Und auch dort, wo die Gerichte über die rechtlichen ACHTUNGREFolgen von Zirkumzisionen zu entscheiden hatten, waren in aller Regel die Besonder1
Freeman, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 74 f. (S. 77). BGH, NJW 2005, 672 (673); OLG Karlsruhe, NJW-RR 2008, 1174 (1175 f.); OLG Dresden, OLG-NL 2003, 199 (200); AG Bonn, ZKJ 2008, 256 (256); vgl. auch OLG Karlsruhe, NJW 2009, 3521; VGH Kassel, NVwZ-RR 2006, 504 (505); VG Frankfurt a.M., NVwZ-RR 2002, 460 (461 f.); VG Frankfurt a.M., NVwZ (Beilage) 1999, 71 (71). Bumke, NVwZ 2002, S. 423 ff. m.w.N.; Kentenich/Utz-Billing, Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), S. A 842 ff. (S. A 845); Möller, ZRP 2002, S. 186 ff. (S. 186 f.); Rosenke, ZRP 2001, S. 377 ff. (S. 378); Wüstenberg, Der Gynäkologe 10 (2006), S. 824 ff. (S. 827, passim). 3 BR-Drucks. 867/09 (dazu: Hagemeier/Bülte, JZ 2010, S. 406 ff.; Hahn, ZRP 2010, S. 37 ff.); BT-Drucks. 16/12910 [Gesetzesentwurf: „Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der Genitalverstümmelung“]; 16/9420 [Antrag: „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen“]; 16/1391 [Antwort der Bundesregierung: „Schutz von Frauen und Mädchen vor der Verstümmelung weiblicher Genitalien“]; 16/1188 [Kleine Anfrage: „Schutz von Frauen und Mädchen vor der Verstümmelung weiblicher Genitalien“]. 2
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Teil 1: Einleitung
heiten des Einzelfalls für die jeweilige Entscheidung ausschlaggebend, so dass eine dezidiert rechtliche Beurteilung der Knabenbeschneidung in der Rechtsprechung bisher noch aussteht. Symptomatisch hierfür steht das Zivilverfahren gegen einen rituellen Knabenbeschneider vor dem LG Frankenthal im Jahr 2004. Das LG befand die elterliche Einwilligung in solch einen Eingriff für unwirksam, weil die Eltern nach dem Personensorgerecht nicht die Befugnis hätten, „unvernünftige Entschlüsse zum Nachteil ihrer Kinder zu treffen, weshalb ihre Entscheidungsfreiheit in aller Regel auf medizinisch indizierte Eingriffe beschränkt ist“4. Entscheidend für die im Ergebnis pejorative Entscheidung war nun allerdings nicht der nahe liegende Gesichtspunkt, dass die rituelle Beschneidung grundsätzlich zu den medizinisch nicht indizierten Körpereingriffen zu zählen wäre, als vielmehr die Ausführungsmodalitäten der entscheidungsgegenständlichen Beschneidung: Der „von einem Nichtmediziner unter unsterilen Bedingungen durchgeführte körperliche Eingriff [verstößt] nach Auffassung der Kammer gegen das Kindeswohl“5, so das LG Frankenthal. Eine Stellungnahme zur allgemeinen Rechtmäßigkeit der Zirkumzision blieb das LG darum ebenso schuldig wie das OLG Frankfurt a.M., das in einem Zivilverfahren 2007 gar ausdrücklich festhielt, es könne „offenbleiben, ob generell und bis zu welchem Alter die Einwilligung zu einer Beschneidung durch muslimische Eltern oder durch einen muslimischen Vater allein als vom Erziehungs- und Sorgerecht umfasst angesehen werden kann“6. Ein ähnlicher Befund gilt für die wenigen Stellungnahmen im Gesamtschrifttum. Entsprechende Äußerungen erschöpfen sich dort in aller Regel auf die Anklage oder Apologie grundsätzlicher Aspekte, wofür etwa das Eingangszitat besonders deutlich zeichnet. Auch Stellungnahmen im rechtswissenschaftlichen Kontext sind nicht selten auf apodiktische Äußerungen begrenzt.7 Inhaltlich ausführlichere Erörterungen konzentrieren sich dabei zumeist auf die Abwägung der empirischen Auswirkungen des Eingriffs, d. h. auf den Verlust der Vorhaut (sog. Präputium) sowie auf mögliche präventive Wirkungen. So zentriert sich der Festschriftbeitrag von Putzke zur strafrechtlichen Relevanz der Beschneidung von Knaben bezeichnenderweise auf eine empirische Frage: „Welchen Nutzen verspricht die religiöse Beschneidung? Er muss messbar und rational begründbar sein“8. Im Übrigen verbleiben seine Erörterungen in den Bahnen der gängigen strafrechtlichen Kategorien und Institute. Selbst der bisher umfassendste Beitrag zum Thema Knabenbeschneidung im Rahmen der Dissertationsschrift Schneiders ist auf die Subsumtion innerhalb altbekannter dogmati-
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LG Frankenthal, MedR 2005, 243 (244). LG Frankenthal, MedR 2005, 243 (244) – Hervorhebung durch den Autor: T.E. 6 OLG Frankfurt a.M., NJW 2007, 3580 (3581). 7 Vgl. etwa Gropp, AT (2005), § 6 Rdnr. 231; Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen (2001), S. 194. 8 Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 701). 5
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scher Figuren beschränkt.9 Die spezifisch rechtsdogmatische Dimension des Beschneidungseingriffs bleibt darum nur unzureichend ausgeleuchtet. Namentlich die Frage nach der sozialen Adäquanz der Zirkumzision erfährt in der rechtswissenschaftlichen Forschung erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Da eine wissenschaftliche Darlegung zur inhaltlichen Dimension einer „Sozialadäquanzlehre“ bisher noch aussteht, muss die Stichhaltigkeit, rituelle Beschneidungen womöglich als Ausdruck einer sozialadäquaten Verhaltensform zu qualifizieren, notwendig im Dunkeln verharren. So apodiktisch wie Gropp für die Adäquanz solcher Eingriffe optiert, so bestimmt stellt ACHTUNGREJerouschek selbige in Abrede.10 Misslich ist dieser Befund nicht nur, weil damit wesentliche rechtliche Aspekte der Zirkumzision unreflektiert bleiben, sondern auch, weil dadurch die Gelegenheit versäumt wird, die Sozialadäquanzlehre einer dogmatischen Validitätsprüfung zu unterziehen. Diese Forschungslücke zu füllen, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Bevor allerdings näher auf die strafrechtliche Bewertung der Zirkumzision eingegangen wird, sind zunächst einige vertiefende Anmerkungen zum Gegenstand sowie zum Verlauf dieser Arbeit erforderlich.
B. Untersuchungsgegenstand I. Beschneidung als medizinische Maßnahme Veranlasst der gesetzliche Vertreter zu Lasten seines männlichen Nachwuchses die Vornahme einer medizinisch indizierten Entfernung des Präputiums, entstehen keine Rechtmäßigkeitsbedenken. Jederzeit ist der gesetzliche Vertreter, d. h. in aller Regel die Eltern, berechtigt, mit Wirkung für sein minderjähriges Kind in einen ärztlich notwendigen Eingriff rechtfertigend einzuwilligen. Die Vornahme eines solchen von den Eltern konsentierten Eingriffs ist mangels Rechtswidrigkeit nicht strafbar.11 Welche Umstände allerdings tauglich sind, den Eingriff medizinisch notwendig werden zu lassen, ist unklar. Unsicherheiten in diesem Bereich wurden im Laufe der Geschichte immer wieder fruchtbar gemacht, selbst rituell motivierte Beschneidungen als medizinisch erforderliche Maßnahme zu deklarieren.12 Vor allem das von 9
Schneider, Die männliche Beschneidung (2008); wenig anderes gilt für Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff., der zwar eine verfassungsrechtliche Perspektive zugrunde legt, gleichwohl das Feld bewährter Rechtsinstitute nicht verlässt. 10 Gropp, AT (2005), § 6 Rdnr. 231; Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 317). 11 Vgl. BGH, NJW 1981, 633 (633 f.); s. ferner Kern, NJW 1994, S. 753 ff. (S. 756, 758 f.) oder Laufs, NJW 2000, S. 1757 ff. (S. 1760). Die in Abweichung zur Rspr. in der Lit. vertretene Ansicht, den medizinisch indizierten Eingriff bereits tatbestandlich nicht als Körperverletzung einzustufen (zu diesem Streit: Schönke/Schröder/Eser, StGB [2006], § 223 Rdnrn. 9 f.), führte ebenfalls zur Straflosigkeit derartiger Eingriffe. 12 Dazu z. B. Dunsmuir, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 1 ff. (insbes. S. 8 ff.); Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 138 ff.
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Teil 1: Einleitung
beschneidungsbefürwortenden Eltern oftmals vorgebrachte Vorliegen einer Phimose (Vorhautverengung) ist als medizinische Indikation inzwischen kaum mehr valide. Zählt doch die Verengung der Vorhaut bzw. deren Anhaften an der Glans (der „Eichel“) in ihrer häufigsten Form, der sog. physiologischen Phimose, bei Neugeborenen just zu einer natürlich-physiologisch angeborenen Erscheinung, die sich bis in das dritte Lebensjahr ohne operativen Eingriff von alleine verliert.13 Zudem kann dieser Form der Phimose in bis zu 95 % der Fälle mit einer steroidhaltigen Salbe abgeholfen werden.14 Etwas anderes gilt lediglich für die pathologisch – in Folge von Entzündungen (scil. rezidivierende Balanoposthitiden) oder Atrophien mit Elastizitätsverlust (sog. Balanitis xerotica obliterans) – erworbene Phimose, welche die chirurgische Entfernung der Vorhaut aus medizinischer Sicht in der Tat notwendig macht. Im Durchschnitt wäre damit jedoch allenfalls bei ca. 4 % der Knaben eine Beschneidung ärztlich indiziert.15 Obgleich der Großteil der durchgeführten Beschneidungen folglich medizinisch überhaupt nicht erforderlich ist, wird nichtsdestoweniger ein umfangreiches Repertoire an weiteren Indikationen ins Feld geführt, welche allesamt helfen sollen, die Entfernung der Vorhaut zu einer ärztlich notwendigen Maßnahme zu erklären. Mit 29 verschiedenen Heilanzeigen führte Ricketts im Jahr 1894 eine ganze Phalanx einschlägiger Umstände ins Feld. Neben der Vorhautverengung sollten auch Hygiene, Warzen, Ödeme, Leberflecken und Tuberkulose sowie Masturbation, Bettnässen und Impotenz eine Operation erforderlich machen.16 Mit wachsendem medizinischen Wissen sowie zunehmender Sensibilität gegenüber Körpereingriffen wurden jedoch all diese beanspruchten Vorteile im Wege der ärztlichen Forschung sukzessive widerlegt, wobei freilich die Entkräftung einer reklamierten Indikation immer wieder von der Berufung auf einen anderen Vorteil abgelöst worden ist.17 Inzwischen wird für den Beschneidungseingriff aufgrund einer 2005 in Kenia und Uganda durchgeführten Studie der WHO verstärkt eine HIV-präventive Wirkung reklamiert.18 Doch auch 13 Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff. (S. 786); Rickwood, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 45 ff. (S. 46); Stehr et al., Klinische Pädiatrie 213 (2001), S. 50 ff. (S. 52). 14 Stehr/Putzke/Dietz, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A 1778 ff. (S. A 1779). 15 Zu den Zahlen Stehr et al., Klinische Pädiatrie 213 (2001), S. 50 ff. (S. 52); s. auch Rickwood, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 45 ff. (S. 47 f.) – medizinisch zwingend ist die Vorhautentfernung weiterhin einzig bei einer komplizierten Harnwegsinfektion mit assoziierter Pathologie des Harntraktes, deren Häufigkeit indes kaum eine Rolle spielt (dies., a.a.O.). Bezogen auf die an der Uni-Klinik Frankfurt a.M. im Jahr 2000 vorgenommene Gesamtzahl an Beschneidungen spricht Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 4 von 16,02 % medizinisch nicht indizierten Eingriffen. Zu Herkommen und Übersteigerung der PhimoseIndikation: Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 116 ff. 16 Liste aller Indikationen bei Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 137. 17 Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 174 ff.; Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. spricht von „sich abwechselnden Konjunkturen unterschiedlicher medizinischer Indikationen“ (a.a.O., S. 314 m.w.N.). 18 Vgl. WHO, Statement vom 13.12.2006. Vgl. ferner Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 119 f.); Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 197 f.; Putzke/Stehr/Dietz,
B. Untersuchungsgegenstand 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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eine solche Wirkung wird berechtigtermaßen angezweifelt. Nicht nur weil die WHO ihre Studie selbst unter den Vorbehalt fortbestehender Ansteckungsmöglichkeit gestellt hat,19 sondern auch, weil die HIV-Infektionsrate beschnittener afrikanischer Männer allenfalls auf eine Korrelation zwischen dem Umstand des Beschnittenseins und der Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion, nicht aber auf ein Kausalverhältnis hindeutet.20 Beschneidungsbefürworter strengen zur medizinischen Legitimation darum zusehends verstärkt vage allgemein-präventive Wirkungen an, seien es nun Vorbeugung gegen Gebärmutterhalskrebs oder etwa Vorteile sozial-integrativer Art.21 Die Entfernung eines gesunden Präputiums aus diesen Gründen kann sodann freilich a limine nicht mehr als Heil-Behandlung charakterisiert werden. Zwar vermag die Vorhaut mit ihrer körperlichen Abtrennung nicht mehr erkranken resp. Krankheiten verursachen, jedoch sind derart vorbeugende Maßnahmen bestenfalls medizinisch ratsam, nicht aber zugleich ärztlich indiziert.22 Eingriffen präventiver Art fehlt die medizinische Notwendigkeit, welche den vom gesetzlichen Vertreter veranlassten Körpereingriff zwanglos rechtfertigen könnte. Es bleibt somit bei dem festgestellten Befund. Von den Fällen der Phimose in ihren besonderen Erscheinungsformen abgesehen, ist die Knabenbeschneidung ein medizinisch nicht angezeigter Eingriff in die Körpersphäre des Minderjährigen, der darum erhebliche strafrechtliche Bedenken auslöst. II. Beschneidung als Ritual Ungeachtet der Tatsache, dass die genaue Gesamtzahl der jährlich in Deutschland vorgenommenen Beschneidungen nicht zuletzt aufgrund der durch die jeweiligen ACHTUNGREIndikationskontroversen generierten Grauzone zwischen medizinisch notwendiger und rituell vorgenommener Zirkumzision nur schwierig zu ermitteln ist, kann doch Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff. (S. 786) oder Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 22. 19 WHO, Statement vom 13. 12. 2006, S. 1. 20 Vgl. Waldeck, University of Cincinnati Law Review 455 (2003/2004), S. 455 ff. (S. 485). Umfassend zur Reklamation präventiver Wirkung gegen Geschlechtskrankheiten s. van Howe et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 52 ff. 21 Zu ersterem Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 18 ff. oder Putzke/Stehr/ Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff. (S. 786) u. Waldeck, University of Cincinnati Law Review 455 (2003/2004), S. 455 ff. (S. 486 ff.) speziell zur Frage der Verhütung von Gebärmutterhalskrebs; zu letzterem v. a. Freeman, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 74 ff. (S. 75 u. 76). Entsprechend opak verweist auch Fateh-Moghadam, RW 2010, S 115 ff. (S. 119 f.) darauf, dass bei der Beschneidung religiöse Motive keine Rolle spielen müssten, sondern weitere Aspekte, „etwa der jeweilige Stand der präventiv-medizinischen Wissenschaft, ästhetische und traditionelle Überlegungen“ für die Vornahme der Zirkumzision eine Rolle spielten und warnt zugleich vor einer „Kulturkampf-Rhetorik“ (a.a.O.), welche die juristische Diskussion des Beschneidungsthemas häufig belaste. 22 Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 334); Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff. (S. 786); vgl. überdies Waldeck, University of Cincinnati Law Review 455 (2003/2004), S. 455 ff. (S. 490).
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Teil 1: Einleitung
an dieser Stelle zumindest abstrakt festgestellt werden, dass der Großteil der ZirACHTUNGREkumzisionen nicht aus ärztlichen Gründen, sondern allein aus religiös-traditionell ACHTUNGREgeprägten Motiven heraus vorgenommen wird, obgleich medizinische Vorteile der oben genannten Art ohne Frage oftmals zusätzlich zur Legitimation angeführt ACHTUNGREwerden. Während etwa in den USA die Beschneidung von Knaben in Form eines ACHTUNGREschlichten ärztlichen Routineeingriffs dominierend ist,23 wird der Eingriff in Deutschland gewöhnlich aus rituell-religiösen Beweggründen vorgenommen24 (dazu sogleich). Die Probleme, derartige Eingriffe einer eineindeutigen juristischen Bewertung zuzuführen, werden anhand eines Vergleichs der Rechtsprechung in den USA mit der Urteilslage im Vereinigten Königreich bzgl. der Rechtmäßigkeit medizinisch nicht indizierter Knabenbeschneidungen anschaulich: Im Verfahren Wisconsin gegen Yoder setzte der Supreme Court der elterlichen Erziehungsgewalt dort eine Grenze, wo deren Ausübung eine Gefahr für die Gesundheit des Kindes hervorrufen würde, weshalb untere amerikanische Gerichte wie bspw. im Fall Little gegen Little den Eltern entsprechend die Zustimmung zu medizinisch nicht indizierten Eingriffen zu Lasten ihrer Kinder ausdrücklich verweigern.25 Diametral entgegengesetzt votieren zwei Urteile der jüngeren Zeit aus dem Vereinigten Königreich. In Gleichsetzung mit üblichen Operationen, Tätowierungen und sportbedingten Verletzungen wurde hier für die Rechtmäßigkeit ritueller Knabenbeschneidung entschieden – auch und gerade mit dem Argument der verpflichtend empfundenen Glaubensbindung dieses Eingriffs,26 womit zugleich eines der Problemfelder umrissen ist, vor dem die juristische Bewertung auch nach deutschem Recht steht. Mit der Knabenbeschneidung steht nicht bloß die rechtliche Beurteilung eines medizinisch nicht indizierten Körpereingriffs an. Strafrechtlich zu bewerten gilt vielmehr ein Körpereingriff, in welchem sich tiefliegende religiös-traditionelle Vorstellungen Bahn brechen.27 Charakteristisch für die in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschende rituelle Knabenbeschneidung sind zum einen die religiös-jüdische Tradition (sog. Berit
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Wobei die Rate routinemäßiger Beschneidungen rückläufig ist (derzeit ca. 60 % der Neugeborenen): Fox/Thomson, The International Journal of Childrens Rights 13 (2005), S. 161 ff. (S. 161 f.); Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 1; Stehr et al., Klinische Pädiatrie 213 (2001), S. 50 ff. (S. 50, 52) – nach Waldeck, University of Cincinnati Law Review 455 (2003/2004), S. 455 ff. (S. 455) glauben 10 % der amerikanischen Eltern gar, dass der Eingriff gesetzlich vorgeschrieben sei. 24 Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 313 f.); Kern/Köhler, Ärzteblatt Sachsen 2006, S. 104 f. (S. 104). 25 van Howe et al., BJU 83 (1999), S. 63 ff. (S. 63 f. m.w.N.). 26 Gilbert, European Human Rights Law Review 2007, S. 279 ff. (S. 208 f., 286 f.) samt Angabe der Rspr.-Fundstellen; im Gegensatz dazu steht der Befund der Queensland Law Reform Commission aus dem Jahr 1993: „on a strict interpretation of the assault provisions of the Queensland Criminal Code, routine circumcision could be regarded as a criminal act“ (van Howe et al., BJU 83 [1999], S. 63 ff. [S. 64 – Hervorhebung im Orig.]). 27 Dies blendet Lenzen-Schulte, F.A.Z. Nr. 215 aus 2009, S. N 1 vollkommen aus.
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Milah oder Brit Milah bzw. kurz Bris28) sowie zum anderen das religiös-muslimische Herkommen (dort sog. Khitan29). Selbst dem christlichen Glauben ist die Beschneidung nicht vollkommen fremd. Gerade mit der jüdischen Überlieferung bestehen insofern durchaus beachtliche historisch-genetische Schnittmengen. So tritt – in Übereinstimmung mit dem christlichen Glauben – die Beschneidung männlicher Abkömmlinge im jüdischen Glaubensgebäude gemäß der Überlieferung des alttestamentlichen Pentateuchs (Tora) an die Stelle der Bündnispflicht der Menschen gegenüber Gott, den jeweils erstgeborenen Sohn als Blutopfer darzubringen.30 Gott gestand Abraham, dem Stammvater Israels (vgl. Röm. 4, 1), mit Wirkung für alle Israeliten die beschnittene Vorhaut als hinreichendes Ersatzopfer zum Zeichen seines Bundes mit den Menschen zu: „Und Gott sprach zu Abraham: So haltet nun meinen Bund, du und deine Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht. Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch“ (1. Mose 17, 9 ff.).31
Auf das Beschneidungsmotiv wird in vor- wie in nachexilischen Erzählungen des Pentateuchs in changierender Weise wiederkehrend Bezug genommen; sei es als zur Hochzeit vermeintlich erforderliches Zeichen der Gruppenzugehörigkeit ( 1. Mose, 34), als Zulassungsvoraussetzungen zum Passafest (2. Mose 12, 48) oder als Gebot im Kontext eines Reinheitsgesetzes (3. Mose 12, 3).32 Überdies findet die Zirkumzision als ein metaphorischer Topos – „Beschneidung des Herzens“ (z. B. 5. Mose 30, 6) – Erwähnung, während sie im Neuen Testament33 sodann als zu bekämpfende Gesetzlichkeit in Bezug genommen wird – „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal. 5, 6). Letztere Erwähnung durch den Brief des Paulus an die Galater bezeichnet zugleich den Bruch des Christentums mit der Beschneidungstradition. Im Zuge der 28 „Berit Milah“: Bund der Beschneidung; „bris“: Ableitung des hebräischen Wortes von Bund (Gollaher, Das verletzte Geschlecht [2002], S. 41). Gängig ist auch die Bezeichnung als „Brit Milah“ (s. Kern/Köhler, Ärzteblatt Sachsen 2006, S. 104 f. [S. 104]; Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. [S. 1126]). 29 Kern/Köhler, Ärzteblatt Sachsen 2006, S. 104 f. (S. 104). 30 „Deinen ersten Sohn sollst du mir geben.“ (2. Mose 22, 28); „Heilige mir alle Erstgeburten bei den Israeliten; alles, was zuerst den Mutterschoß durchbricht bei Mensch und Vieh, das ist mein.“ (Ebd. 13, 2) – Alle Bibelzitate sind der von der EKD 1991 in Stuttgart (Deutsche Bibelgesellschaft) herausgegebenen Lutherbibel entnommen. 31 Und weiter: „Eben auf diesen Tag wurden sie alle beschnitten, Abraham, sein Sohn Ismael, und was männlich in seinem Hause war, im Hause geboren und gekauft von Fremden; es wurde alles mit ihm beschnitten“ (1. Mose 17, 26 f.). 32 Eine ausführliche Darstellung und quellenkritische Analyse alttestamentlicher Beschneidungserzählungen findet sich bei Blaschke, Beschneidung (1998), S. 19 ff.; s. auch Grünwaldt, Exil und Identität (1992), S. 6 ff. 33 Hierzu Blaschke, Beschneidung (1998), S. 361 ff.; zum Gebrauch als Metapher Grünwaldt, Exil und Identität (1992), S. 11 ff.
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Teil 1: Einleitung
aktiven Hinwendung zu den Heiden wurde das Beschneidungserfordernis im Glaubensgebäude christlich-abendländlicher Provenienz suspendiert sowie durch eine weitere Symbolisierung verdrängt. Die Taufe vermittelt fortan die Gemeinschaft der (christlichen) Menschen mit Gott (s. Apg. 2, 38). Schließlich vermochte das seit alters vorgebrachte Hauptargument für die Beschneidung, der Eingriff sei bei Kindern weniger schmerzhaft und diese könnten dem Eingriff überdies weniger fliehen,34 bei den zu bekehrenden Heiden, die überwiegend im erwachsenen Alter standen, nicht mehr zu überzeugen. Um die Heiden also nicht in Unruhe zu versetzen (vgl. Apg. 15, 19 f.) und dadurch den Erfolg der Heidenmission zu gefährden, wurde eine beschneidungsfreie Konversion ermöglicht.35 Während Jesus selbst noch beschnitten war (Luk. 2, 21), wurde an Stelle des körperlichen Einschnitts künftig die durch Taufe vermittelte Anerkennung der Leiden Jesu zum spezifisch christlichen Zugehörigkeitsritus; durch Jesu Kreuzigung wurde die Erbsünde (Ps. 51, 7) stellvertretend für alle Menschen getilgt (Kol. 2, 11 f.) und der Bund zwischen Gott und den Menschen sichergestellt: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen“ (Gal. 3, 26 f.). Im Judentum als auch im Islam ist die Knabenbeschneidung indes bis heute unverändert wesentlicher Bestandteil des religiösen Bekenntniskanons. In historischer Genese geht sie auf das antike Ägypten in der Zeit um das vierte bzw. dritte Jahrhundert vor Christus zurück.36 Entstehung und ursprüngliche Funktion dieses Rituals bleiben freilich im Bereich der Vermutung: Neben der o.g. biblischen Lesart als Gottesopfer kann die Zirkumzision in ihrer historischen Genese insofern sowohl als Akt zur Erlangung kultischer Reinheit, als Initiationsritus, als Weiheakt der Fortpflanzungsorgane oder als apothropäischer Ritus (scil. ein magischer Schutzritus für Hygiene) interpretiert werden.37 Allein gesichert ist, dass es sich bei der Knabenbeschneidung um einen identitätsstiftenden Akt handelt. Die identitätsvermittelnde Funktion der Beschneidung ist speziell vor dem Hintergrund zu unterstreichen, dass die Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben bereits durch Geburt seitens einer jüdischen Mutter vermittelt wird, d. h. die Zirkumzision im Judentum keineswegs ein sakramental-konstitutiver Akt,38 allerdings gleichwohl eine 34
Vgl. bei Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 37 u. Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 314). 35 Blaschke, Beschneidung (1998), S. 361: Mit dem „Verzicht auf die Beschneidung tat das frühe Christentum einen Schritt, dessen theologische und historische Tragweite kaum überschätzt werden kann“. Zur theologischen Begründung der beschneidungsfreien Missionierung: Berger, Theologiegeschichte (1995), § 154; s. ferner Jung, Christen und Juden (2008), S. 22 f. 36 Blaschke, Beschneidung (1998), S. 6; Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 8 ff.; Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 313); kurzer geschichtlicher Gesamtüberblick bei Dunsmuir, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 1 ff. 37 Deutungsversuche bei Blaschke, Beschneidung (1998), S. 6 ff.; Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 9 ff. 38 Statt aller: Spiegel, Was ist koscher? (2007), S. 17, 39.
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essentielle Bestätigung der Zugehörigkeit zu dieser Glaubensgruppe ist. Bis heute begründet das Unbeschnittensein im Judentum nicht nur einen verunstaltenden körperlichen Makel, sondern eine Glaubenszugehörigkeit zweiter Klasse39. Die Beschneidung zählt zum zentralen Kernbestand des jüdisch-kulturellen Selbstverständnisses. Sie ist die erste religiöse Handlung im jüdischen Lebenskreis, welche der Gläubige durchläuft, gefolgt von der „Bar Mitzwa“ (scil. Feierlichkeit zur Erlangung der Religionsmündigkeit)40, der Hochzeit sowie der Toten- und Begräbnisfeier mit dem Lebensende. Mit der Beschneidung wird die Aufnahme des Kindes in den Bund Gottes gleichsam besiegelt; im Anschluss an den Eingriff erhält das Kind seinen Namen. All dies wird traditionellerweise im Rahmen einer Familienfeier ausführlich zelebriert, wodurch dem herausragenden Bedeutungsgehalt dieses Ritus Rechnung getragen werden soll.41 Die Knabenbeschneidung ist nicht nur in der Außenwahrnehmung des Judentums einer der charakteristischen Bräuche dieses Glaubengebäudes. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist sie wohl unangefochten die wirkmächtigste Dokumentation der Gruppenzugehörigkeit. Mit ihrer jeweils individuell wahrnehmbaren Manifestation schafft sie zwischen den (männlichen) Gläubigen ein sublimes, einigendes Band der Identitätsstiftung.42 Die Zirkumzision ist für gläubige Juden sowohl als Symbolisierung wie auch als Stärkung der Gruppenidentität von kaum zu unterschätzender Wichtigkeit. Für das Judentum ist die Knabenbeschneidung mithin ein essentieller Ritus. Ein vergleichbarer Befund ergibt sich für den Islam, wo die Zirkumzision männlicher Abkömmlinge ebenso zu einem, vermutlich dem Einfluss konvertierter Juden geschuldeten, unerlässlichen Brauch zählt. Im Koran an keiner einzigen Stelle erwähnt, zählt die Beschneidung zu den prophetischen Traditionen (sog. Sunnah); außerdem wird sie in den Überlieferungen der Anweisungen Mohammeds (sog. Hadith) erwähnt. Innerhalb der für die Auslegung der Sharia maßgeblichen sechs Schulen des Gesamtislams, den Hanafiten, Jafariten, Malikten, Hanbaliten, Zaiditen und den Shafiiten herrscht trotz Detailstreitigkeiten hinsichtlich einzelner Beschneidungsregeln Einigkeit insofern, als alle Schulen positiv Stellung zu der Vornahme des Eingriffs an sich beziehen; bis auf die Schule der Shafiiten, welche die Zirkumzision sogar für obligatorisch betrachtet (scil. wajib), zählt die Knabenbeschneidung
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So Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 314 m.w.N.); Vries, Jüdische Riten und Symbole (1990), S. 176 f., 191; vgl. Freeman, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 74 ff. (S. 74); Glass, BJU 83 (1999), S. 17 ff. (S. 17 f.): „There is therefore no debate within about the necessity for circumcision in Jewish law“; Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 2 ff. u. 16 ff. In den biblischen Texten wird die Beschneidung als ganzheitliche Hinwendung zu Jahwe verstanden: Grünwaldt, Exil und Identität (1992), S. 17. 40 Bei den Mädchen sog. Bath Mizwa. 41 Ausführlich: Glass, BJU 83 (1999), S. 17 ff. (S. 18 f.), Spiegel, Was ist koscher? (2007), S. 39 ff. oder Vries, Jüdische Riten und Symbole (1990), S. 183 ff. 42 Auf den identitätsstiftenden Aspekt weisen hin: (Insofern zu Recht) Freeman, BJU 83 (1999), S. 74 ff. (S. 77); Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 15 ff.
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Teil 1: Einleitung
nach Sicht der übrigen Schulen zu den anempfohlenen Riten (sunnah).43 D.h., auch im Islam ist die Beschneidung minderjähriger Knaben ein wesentlicher religiöser Grundpfeiler, obgleich sie hier ebenfalls keine konstitutive Funktion für die Glaubenszugehörigkeit hat, welche wiederum schon allein durch Geburt – seitens einer muslimischen Mutter – vermittelt wird44. Wenngleich im Islam kein einheitliches Alter für die Vornahme des Eingriffs vorgesehen ist, wie etwa der achte Tag nach der Geburt im Judentum (s. 1. Mose 17, 12), so überwiegt im muslimischen Kulturkreis ebenfalls die Beschneidung von Kindern,45 weshalb in der hiesigen Untersuchung der Terminus der Knaben-Beschneidung verwendet wird. Ohne an dieser Stelle bereits auf die näheren Modalitäten ihrer Ausführung einzugehen, kann also zunächst festgehalten werden, dass die Knabenbeschneidung integraler Bestandteil sowohl des rituell-jüdischen als auch des rituell-muslimischen Brauchtums ist. In beiden Glaubensrichtungen zählt sie zu den charakteristischsten Manifestationen einer religiös-kulturellen Tradition. Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung ist die strafrechtliche Dimension jener religiös-rituell motivierten Knabenbeschneidung jüdischer resp. muslimischer Provenienz. Etwaig vorgebrachte medizinische Vorteile bleiben außer Betracht. Denn weder spielen derartige Momente eine nennenswert dominante Rolle, noch halten sie in den überwiegenden Fällen – wie dargelegt – einer wissenschaftlichen Überprüfung stand.
C. Untersuchungsverlauf Je nach vertretener Ansicht ist die medizinisch indizierte Entfernung der männlichen Gliedvorhaut aufgrund der medizinischen Notwendigkeit schon tatbestandsmäßig oder doch zumindest über die Annahme einer rechtfertigenden Einwilligung keine strafbare Körperverletzung.46 Die strafrechtliche Dimension der rituellen, nota bene medizinisch nicht indizierten, Knabenbeschneidung wird hingegen – wenn überhaupt – kontrovers beurteilt. Vertreten wird eine beschneidungsbejahende ebenso wie eine -verneinende Rechtsansicht.47 Eine in sich geschlossene strafrechts43 Insgesamt: Rizvi et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 13 ff. (S. 13); vgl. Aldeeb, in: Denniston/Hodges/Milos, Male and female circumcision (1999), S. 131 ff. (S. 142 ff.); Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 314) [samt Zweifeln, ob Mohammed selbst ebenfalls beschnitten war]; Kern/Köhler, Ärzteblatt Sachsen 2006, S. 104 f. (S. 104). 44 Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 73; Rizvi et al., BJU 83 (1999) Suppl. 1, S. 13 ff. (S. 13). 45 I.d.R. wird die Beschneidung spätestens bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres vorgenommen: Rizvi et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 13 ff. (S. 14). 46 Umfassend hierzu neben den o.g. Nachweisen Kröger, Die Rechtfertigung des ärztlichen Heileingriffs (2004). 47 Ersteres etwa Fischer, StGB (2008), § 223 Rdnr. 6b; Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen (2001), S. 194; Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. (S. 1128 f.). Letzteres z. B. Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 339); Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 317 ff.); Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 707).
C. Untersuchungsverlauf 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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systematische Bewertung steht bisher noch aus. Einigkeit scheint lediglich insofern zu bestehen, als dass die rituelle Beschneidung die Frage nach der sozialen Adäquanz solcher Körpereingriffe mit sich bringt. Wo diese Frage innerhalb des Deliktsaufbaus virulent wird, ist dabei ebenso wenig Gegenstand eines einheitlichen Meinungsbildes wie der Inhalt einer „sozialen Adäquanz“. Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die Frage nach der Tatbestandsmäßigkeit der Zirkumzision. Näher einzugehen ist dabei v. a. auf den Umstand, inwiefern durch den bestimmungsgemäßen Einsatz von Operationsbestecken die Qualifikation des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StGB („gefährliches Werkzeug“) verwirklicht wird. Auf der anschließenden Stufe der Rechtswidrigkeit ist die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Beschneidung mit Blick darauf zu untersuchen, dass der Eingriff gerade aufgrund einer elterlichen (Fremd-)Einwilligung hin vorgenommen wird. In Hinblick auf diesen Aspekt werden unter dem Stichwort „Kindeswohl“ (vgl. zugleich § 1627 S. 1 BGB) die Grenzen der elterlichen Einwilligungsbefugnis und mit diesen die mit dem Beschneidungsritual verbundenen Grundrechtspositionen Berücksichtigung finden müssen. Abwägend einzubeziehen sind u. a. das Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sowie deren Recht auf Religionsausübungsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG und das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG). Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit ist freilich einem bereits angedeuteten dritten Untersuchungsschritt gewidmet: Der Auseinandersetzung mit der Rechtsfigur der „Sozialadäquanz“. Mit Hilfe dieses, der Sache nach durchaus anerkannten, rechtlichen Instituts sollen solche Verhaltensweisen vom Strafbarkeitsverdikt ausgenommen werden, die zwar dem Wortlaut einer Strafvorschrift unterfallen, jedoch sinnvollerweise nicht dem tatbestandlichen Unrechtstypus zugeordnet werden können, weil sie „sozialkonform“48 sind. Klärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur, ob die Knabenbeschneidung eine derart sozialadäquate Verhaltensweise darzustellen vermag. Näherer Ausführungen bedarf vielmehr schon die strafrechtliche Kategorie der Sozialadäquanz an sich, da ihre Rechtsnatur, ihr Umfang, ihre Grenzen sowie der Bedarf an ihr in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft erheblich umstritten ist. Umstritten ist, ob es sich bei ihr um einen Rechtfertigungsgrund oder etwa um ein Merkmal des Tatbestandes handelt.49 Oder etwa, ob eine ACHTUNGRESozialadäquanzlehre möglicherweise lediglich eine andere Beschreibung für die ACHTUNGREbekannte Methode der teleologischen Reduktion50 oder gar der einschränkenden Auslegung des tatbestandlichen Wortlauts ist,51 so dass ihr von vornherein jedweder ACHTUNGREeigenständige Wert abgeht. Ungewissheit besteht fernerhin über die dogmatisch-konstruktive Begründung einer solchen Lehre. Worin etwa unterscheidet sich diese 48
Exempl. Ebert, AT (2001), S. 35. Für ersteres: Gropp, AT (2005), § 6 Rdnr. 230; für letzteres: Welzel, Strafrecht (1947), S. 35 f.; Welzel, Strafrecht (1969), S. 55 f. 50 So Barton, StV 1993, S. 156 ff. (S. 159). 51 Bspw. Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnrn. 37 ff. 49
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Teil 1: Einleitung
Rechtsfigur von der allgemeinen Differenz zwischen Normativität und Faktizität? Wird die Sozialadäquanz womöglich bereits auf den bloßen Umstand hin begründet, dass bisher keine strafrechtliche Verurteilung einer Beschneidung (faktisch) zu verzeichnen ist, d. h. begründet u. U. die Urteilspraxis einen bestimmten rechtlichen Imperativ, der sodann mit dem Begriff der „Sozialadäquanz“ belegt wird? Bevor also eine solche Lehre auf einen konkreten Fall angewandt werden kann, muss zunächst Klarheit über das Institut der Sozialadäquanz an sich gewonnen werden. Ein wesentlicher Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung ist darum der Erforschung und Entwicklung der Sozialadäquanzlehre als Strafrechtskategorie gewidmet. Keiner gesonderten Untersuchung bedarf demgegenüber die Möglichkeit, die Zirkumzision über die Schuldebene dadurch dem Strafbarkeitsverdikt zu entziehen, dass der individuelle Schuldvorwurf an den Täter negiert wird, weil letzterer sich mit der Vornahme einer rituell-tradierten Zirkumzision möglicherweise nicht für das Unrecht und somit gegen das Recht entschieden hätte.52 Zwar könnte dem Beschneidungsbefürworter zunächst durchaus unterstellt werden, mit dem Eingriff keine Straftat begehen zu wollen, jedoch wäre ein Schuldausschluss, jeweils auf den individuellen Täter bezogen, angesichts des überindividuellen, von kulturell-religiösen Überzeugungen getragenen Beschneidungsritus nicht nur unangemessen, sondern darüber hinaus dogmatisch nur in den seltensten Fällen begründbar: Ein (individueller) Schuldausschluss gem. § 17 S. 1 StGB setzt die Unvermeidbarkeit des in der fehlenden Unrechtseinsicht liegenden Verbotsirrtums voraus. Dies lässt sich für den Beschneidungseingriff nicht überzeugend annehmen. Selbst wenn dem religiös motivierten Beschneider oder den veranlassenden Eltern im Einzelfall tatsächlich die Einsicht fehlte, mit der Beschneidung bzw. dessen Veranlassung eine verbotene (gefährliche) Körperverletzung und damit Unrecht zu verwirklichen, so wäre ein derartiger Irrtum angesichts der hohen Anforderungen seitens der Rechtsordnung an das individuelle Unrechtsbewusstsein in aller Regel vermeidbar. Der Schuldausschluss gem. § 17 S. 1 StGB kommt nur dort in Betracht, wo der Täter zur Unrechtseinsicht all seine Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen bemüht.53 Hierzu zählt im Falle eigenen juristischen Unwissens v. a. die Pflicht zur Einholung von Rechtsrat.54 Mit anderen Worten, da die rituelle Vorhautentfernung einen Eingriff in ein Rechtsgut des Kernbereichs des Strafrechts darstellt, hätte der Beschneider sowie die den Eingriff veranlassenden Eltern allen Anlass, sich über die rechtliche Bedeutung solchen Verhaltens vor dessen Ausführung bzw. Veranlassung zu informieren, sollten ihnen 52
Vgl. die klassische Schuldformulierung bei BGHSt 2, 194 (200). BGHSt 4, 1 (5); BGH, NStZ 2000, 307 (309). 54 BGHSt 21, 18 (21); BGH, NJW 2006, 522 (529); BayObLG, NJW 1989, 1744 (1744 f.); OLG Köln, NJW 1996, 472 (473); Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 458. Angesichts der beschneidungsbedingten Tangierung von Rechtsgütern, die durch das Kernstrafrecht geschützt sind (vgl. §§ 223 ff. StGB), kann nicht davon ausgegangen werden, dass den Beschneidern bzw. den dessen Verhalten veranlassenden gesetzlichen Vertretern jeglicher Anhalt fehlte, sich über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens zu erkundigen – nur in diesem Fall entfiele aber eine Erkundigungspflicht angesichts des Schuldprinzips (s. etwa Schönke/Schröder/Cramer/ Sternberg-Lieben, StGB [2006], § 17 Rdnrn. 15 f. m.w.N.; Roxin, AT I [2006], § 21 Rdnr. 36). 53
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die entsprechenden strafrechtlichen Wertungen nicht ohnehin bereits bekannt sein. Wo dieser Erkundigungspflicht nicht nachgekommen wird, kann wegen der Vermeidbarkeit dieses auf Informationsmangel beruhenden Irrtums kein Schuldausschluss gem. § 17 S. 1 StGB reklamiert werden. Möglich bliebe in diesen Fällen allein eine Strafmilderung gem. § 17 S. 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB. Ein etwaiger Strafausspruch könnte über die Schuldebene im Ergebnis mithin kaum vermieden werden. Gleiches gilt für einen Lösungsversuch über die Figur des „Gewissenstäters“. Nicht nur weil diesbezüglich schon umstritten ist, inwiefern eine innerlich als unbedingt verpflichtend empfundene Entscheidung (hier zur Vornahme der Beschneidung) zur Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens und damit zur Anerkennung eines Entschuldigungsgrund zu führen vermag.55 Auch befreit die Annahme einer Gewissensentscheidung ohnedies nicht von der Vornahme einer Abwägung der Gewissensfreiheit mit den durch eine solche Entscheidung betroffenen Rechtsgütern56 – ein Untersuchungsschritt, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits bei der Frage nach der Wirksamkeit der elterlichen Einwilligung unter dem Stichwort „Kindeswohl“ zu diskutieren sein wird. Denn da die den Eltern mit dem Begriff des Kindeswohls gezogene Grenze u. a. mit Blick auf die durch die elterliche Einwilligung betroffenen Rechtsgüter bestimmt werden muss, ist ein Zurücktreten der kindlichen Rechtsgüter hinter dem elterlichen Gewissen bereits auf Ebene der Rechtfertigung aktuell. Festzuhalten bleibt darum, dass eine strafrechtliche Bewertung auf individueller Schuldebene dem Charakter des kollektiv verankerten Ritus nicht sachgerecht wird. Aus dem Charakter der Schuld als individuellem Unrechtsvorwurf folgt darum die Leitlinie hiesiger Untersuchung, die strafrechtliche Beurteilung des durch kollektiv tradierte Vorstellungen geprägten Beschneidungsritus auf den (generellen) Deliktsstufen der Tatbestandsmäßigkeit sowie Rechtswidrigkeit abschließend abzuhandeln. Bevor auf eine mögliche Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung oder auf einen Strafausschluss wegen Sozialadäquanz eingegangen werden kann, ist allerdings nunmehr die Tatbestandsmäßigkeit der Zirkumzision in den Blick zu nehmen.
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Ebert, AT (2001), S. 109 f.; s. m.w.N. Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 505 f. Dazu: Roxin, AT I (2006), § 22 Rdnrn. 113 ff.; in der Sache ebenso (insofern zu Recht) Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 139). 56
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Teil 2
Tatbestandsmäßigkeit der Beschneidung A. Einfache Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB Die Beschneidung in Form der jüdischen Berit Milah bzw. muslimischen Khitan führt zum teilweisen und in Form der sie geschichtlich ablösenden radikaleren „(Berit) Periah“1 zum vollständigen Verlust der Gliedvorhaut des zirkumzidierten Knaben. In der Terminologie des Körperverletzungstatbestandes ist die Beschneidung mithin eine substanzverletzende Einwirkung auf den Körper des Knaben; sie führt zum Verlust eines zuvor fest mit dem Körper verbundenen Bestandteils (dem Präputium) und ist damit notwendig eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens von erheblicher Art, kurzum eine körperliche Misshandlung i.S.d. § 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB.2 Auf die Zufügung von Schmerzen kommt es für die Tatbestandsmäßigkeit der Zirkumzision nicht zwingend an,3 so dass ohne Bedeutung bleibt, ob der Eingriff nun unter Verwendung eines Anästhetikums, lege artis und schmerzfrei, oder eben unter Verursachung körperlicher Schmerzen durchgeführt wird.4 Allein der Umstand der Zufügung eines Substanzverlustes führt zur Verwirklichung des Körperverletzungstatbestandes durch den Beschneider als Täter bzw. durch die Kindeseltern als Anstifter (s. § 26 StGB).5 Auf die Einschlägigkeit der zweiten Alternative des § 223 Abs. 1 StGB, der Gesundheitsschädigung, kommt es für die strafrechtliche Bewertung der Knabenbeschneidung daher grundsätzlich nicht mehr an. Nicht entschieden werden muss also, inwiefern der Eingriff geeignet ist, einen vom normalen Zustand der körperlichen Funktionen nachteilig abweichenden, pathologischen Zustand hervorzurufen oder zu steigern – mit den Worten des § 223 StGB also gesundheitsschädigend zu wir1
Zu diesen beiden Beschneidungsvarianten: Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 32 f. und 42 ff. 2 OLG Köln, NJW 1997, 2191 (2191 f.); Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 223 Rdnr. 3. 3 BGH, NJW 1995, 2643 (2643); Kühl, StGB (2007), § 223 Rdnr. 4. 4 A.A. Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. (S. 1128), nach dessen Ansicht die Erheblichkeit der körperlichen Misshandlung gerade „bei einer lege artis durchgeführten Beschneidung ausgeschlossen ist“. 5 Am Vorsatz (vgl. § 15 StGB) dürften kaum Zweifel bestehen: Die tatsächlichen Umstände des Geschehens sind mit der Handlung intendiert und somit zwangsläufig bekannt (vgl. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB), wenngleich auch eine über den Körpereingriff als solchen hinausgehende (religiöse) Intention mit diesem verbunden ist.
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ken.6 Sollte der Beschneidungseingriff freilich im Einzelfall psychotraumatische (Spät-)Folgen von solchem Gewicht mit sich bringen, dass ein medizinisch bedeutsamer Krankheitswert erreicht und der Körper in einen pathologischen, somatisch objektivierbaren Zustand versetzt wird, was insbesondere bei der traditionell ohne Betäubung ausgeführten rituellen Beschneidung nahe liegt,7 so wäre die Beschneidung ohne weiteres zugleich eine tatbestandliche Körperverletzung auch i.S. der 2. Alternative des § 223 Abs. 1 StGB (Gesundheitsschädigung). Dieser strafrechtliche Befund änderte sich selbst dann nicht, wenn es im konkreten Einzelfall medizinisch geschulte, gar approbierte Ärzte sein sollten, die die Zirkumzision auf Wunsch der Eltern an deren Kindern vornehmen.8 Denn wenngleich nicht wenige rechtswissenschaftliche Autoren, im Gegensatz zur Rechtsprechung,9 dahingehend argumentieren, zumindest ärztliche Heilbehandlungen dem Verdikt des Körperverletzungstatbestands zu entziehen,10 kann als gesichert gelten, dass der Charakter eines Eingriffs in die körperliche Integrität nicht anhand der, den Eingriff vornehmenden (hier: medizinisch geschulten) Person, sondern anhand des mit dem Eingriff verfolgten Zweckes zu bestimmen ist. Und da die rituelle Zirkumzision zwar unter Umständen von einem Arzt, jedoch mangels medizinischer Notwendigkeit niemals zu Heilzwecken (s. oben), sondern allein aus einer religiösen Überzeugung heraus vorgenommen wird, kann bei ihr von einem ärztlichen „Heileingriff“ von vornherein, per definitionem, nicht die Rede sein.11 Folglich begehen der Beschneider durch die Vornahme der Zirkumzision, unabhängig von seiner Profession, täterschaftlich sowie die Kindeseltern durch Beauftragung desselben als Anstifter eine Körperverletzung zum Nachteil des Zirkumzidierten, § 223 Abs. 1 Alt. 1 (im Einzelfall auch Alt. 2) StGB.12 6
Hierzu bereits RGSt 29, 58 (59 f.); BGH, NStZ 1997, 123 (123); OLG Düsseldorf, NJW 2002, 2118 (2118); OLG Köln, NJW 1997, 2191 (2192); OLG Köln StV 1985, 17 (17); vgl. auch OLG Zweibrücken, NJW 1991, 240 (241). 7 Zu den psychologischen Folgen ausführlich Goldman, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 93 ff. (S. 94 ff.); s. auch Fischer/Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie (1998), S. 249; ACHTUNGREJerouschek, in: Haedrich, Muslime im säkularen Staat (2009), S. 113 ff. (S. 120); MazarACHTUNGREweh, Zeitschrift für gruppenanalytische Psychotherapie, Beratung und Supervision 15 (2005), S. 67 ff. (S. 83). 8 Überblick über die möglichen Operateurspersonen Blaschke, Beschneidung (1998), S. 3 f. 9 Diese wertet selbst den ärztlichen Heileingriff als eine allenfalls durch den Patienten mittels Einwilligung rechtfertigbare Körperverletzung: Seit RGSt 25, 375 (377 ff., 380) stRspr.: BGHSt 11, 111 (112); 43, 306 (308); BGH, NStZ 1996, 34 (34). 10 Vgl. mit zahlr. Nachweisen bei Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 223 Rdnrn. 30 ff. 11 BGH, NJW 1978, 1206 (1206); vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1985, 684 (684); Schönke/ Schröder/Eser, StGB (2006), § 223 Rdnr. 50. 12 Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 317); Kern/Köhler, Ärzteblatt Sachsen 2006, S. 104 f. (S. 105); umständlich aber im Erg. genauso Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 674 f.); a.A. [Straflosigkeit] Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. (S. 1128).
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Teil 2: Tatbestandsmäßigkeit der Beschneidung
B. Gefährliche Körperverletzung § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB Die Abtrennung des Präputiums erfolgt notwendigerweise unter der Verwendung eines Skalpells oder eines vergleichbaren Schneideinstruments. Ob der konkrete Eingriff nun in einer medizinischen Einrichtung unter (zusätzlichem) Einsatz besonderer Beschneidungsapparaturen13 – z. B. unter Einsatz der sog. Gomco-Klemme sowie der Plastibell-Methode14 – oder im Rahmen einer rituellen Beschneidungsfeier15 vorgenommen wird, stets und immer muss ein Schneidewerkzeug zum Einsatz kommen. Wird durch die Beschneidung darum zugleich der Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB verwirklicht, d. h. ist das jeweils verwendete chirurgische Messer als „gefährliches Werkzeug“ im Sinne der Vorschrift zu qualifizieren? Maßgeblich für die Qualifizierung als „gefährliches“ Werkzeug ist die Eignung des fraglichen Gegenstandes, nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall erhebliche Verletzungen herbeiführen zu können.16 Bereits die potentielle Gefährlichkeit eines Gegenstandes reicht aus, um ihn als „gefährlich“ einzustufen.17 Auf die Erheblichkeit der durch die Verwendung des Werkzeugs im konkreten Einzelfall tatsächlich eingetretenen Verletzungsfolgen kommt es somit nicht entscheidend an.18 Stattdessen sind die in praxi mitunter zu verzeichnenden beachtlichen Folgen, namentlich zu umfangreicher Hautentfernungen,19 hinreichender Beleg für die Eignung derartiger Werkzeuge, erhebliche Verletzungen zuzufügen; der Einsatz von Schneidewerkzeugen ist geeignet, das Erscheinungsbild des Körpers so einschneidend zu beeinträchtigen, dass der Verletzte schwer getroffen wird und beträchtlich darunter zu leiden hat.20 Darum ist grundsätzlich einhellig an13 Überblick bei Dunsmuir, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 1 ff. (S. 4 ff.); Goldman, QuesACHTUNGREtioning Circumcision (1998), S. 25 f. 14 Dazu insbes. Becker, Langenbecks Archives of Surgery Vol. 342/1 (1976), S. 621 f. 15 Zum jüdischen Ritus: Glass, BJU 83 (1999), S. 17 ff. (S. 18 ff.); zum muslimischen Brauch: Rizvi et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 13 ff. (S. 13 f.). 16 BGHSt 3, 105 (109); 30, 375 (377); vgl. ferner BGH, NStZ 2007, 95 (95); BGH, NStZ 2002, 594 (595); BGH, NStZ 2002, 30 (30) = StV 2002, 21 (21); Fischer, StGB (2008), § 224 Rdnr. 9. Da von einer erheblich verletzungsträchtigen Verwendung eines beliebigen Gegenstandes eo ipso auf dessen objektive Beschaffenheit, erheblich verletzen zu können, geschlossen werden kann, wird das Merkmal der „objektiven Beschaffenheit“ mitunter als redundant und überflüssig abgelehnt: Etwa Hilgendorf, ZStW 112 (2000), S. 811 ff. (S. 811). 17 StRspr.: BGH, NStZ 2002, 594 (594); Kühl, StGB (2007), § 224 Rdnr. 5 m.w.N. 18 BGH, StV 2002, 30 (30); vgl. BGH, StV 2002, 21 (22); Fischer, StGB (2008), § 224 Rdnr. 9 19 Vgl. LG Frankenthal, MedR 2005, 243. In diesem Fall wurde neben der Vorhaut auch ein Teil der Penisschafthaut entfernt, woraufhin die fehlende Haut plastisch durch Entnahme von Skrotalhaut (lat.: skrotum = Hodensack) ersetzt werden musste. 20 Vgl. Miebach/Hardtung, MünchKomm-StGB III (2003), § 224 Rdnr. 7; Küper, BT (2008), S. 455; Rengier, BT II (2007), § 14 Rdnrn. 11 ff. Geringere Anforderungen hinsichtlich der „Erheblichkeit“ möglicher Verletzungsfolgen stellt die Rspr. Nach ihr ist anstelle des aus der systematischen Stellung des § 224 StGB entlehnten Verletzungsmaßes, das in seiner Intensität zwischen § 223 StGB und § 226 StGB anzusiedeln wäre, allein die Möglichkeit ausreichend,
B. Gefährliche Körperverletzung § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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erkannt, Messer, die spezifisch als schneidende Instrumente eingesetzt werden, als gefährliche Werkzeuge i.S.d. § 224 StGB einzustufen.21 Jedoch entschied der BGH in einem der Beschneidung strukturell gleichgelagerten Fall22, dass medizinische Werkzeuge per se „ungefährlich“ i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB seien; selbst in den Fällen, in denen sie außerhalb von Heilungszwecken eingesetzt werden. Nur wenn der fragliche Gegenstand spezifisch als Angriffs- oder Verteidigungsmittel verwendet werde, sei er „gefährlich“ im Sinne der Vorschrift.23 Solange ein medizinischer Gegenstand bestimmungsgemäß eingesetzt wird, etwa zu einer Operation, könne schlechterdings nicht von einem „gefährlichen“ Werkzeug gesprochen werden.24 Konsequent fortgeführt dürfte nach dieser Ansicht der Einsatz von Schneidewerkzeugen zur medizinisch nicht indizierten Beschneidung – gerade weil die Werkzeuge hier bestimmungsgemäß zu einer Operation eingesetzt werden – sodann nicht den Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB erfüllen. In einer anderen Entscheidung25 qualifizierte der BGH allerdings bzgl. der Frage nach dem Angriffs- oder Verteidigungscharakter der Tathandlung, trotz festgestellter Intention des den Eingriff Vornehmenden – anstelle von Angriff oder Verteidigung gerade eine Operation vorzunehmen zu wollen – das zur Tat verwendete medizinische Werkzeug als „gefährlich“ allein mit der Begründung, der Täter sei kein geprüfter und approbierte Heilkundiger gewesen. Nicht mehr die (abstrakte) Gebrauchsbestimmung des Gegenstandes, medizinischen Zwecken zu dienen, sondern die Eignung des den fraglichen Gegenstand Verwendenden, einen Heileingriff überhaupt befähigt vornehmen zu können, sollte jetzt das maßgebliche Kriterium für die Charakterisierung des Werkzeugs abgeben. Nach dieser Lesart begeht der staatlich ungeprüfte Ritualbeschneider eine gefährliche Körperverletzung gem. § 224 StGB, während der medizinisch approbierte Arzt mit demselben Schneidewerkzeugs keinen „gefährlichen Gegenstand“ i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB verwendet. Wird der argumentative Bruch innerhalb der Begründungsstruktur der beiden BGH-Entscheidungen vernachlässigt, ist anzumerken, dass es nicht überzeugt, die „Gefährlichkeit“ eines Tatwerkzeugs davon abhängig zu machen, ob der mit ihm ver-
durch den Einsatz des fraglichen Werkzeugs Verletzungen herbeizuführen, die mehr als „leicht“ sind, um die „Gefährlichkeit“ hinreichend zu begründen: BGH, StV 2002, 21 (22). 21 BGH, StV 2002, 21 (22); Schönke/Schröder/Stree, StGB (2006), § 224 Rdnr. 9. 22 BGH, NJW 1978, 1206: Nicht medizinisch indizierte Entfernung von Zähnen durch Zahnarzt unter bestimmungsgemäßer Zuhilfenahme einer zahnärztlichen Zange. 23 StRspr.: BGH, NJW 1978, 1206 (1206) sowie BGH, NStZ 2007, 95 (95); BGH, NStZ 1987, 174 (174). Zust. Rengier, BT II (2007), § 14 Rdnr. 13. 24 „Ärztliche Gerätschaften – wie Spritzen, Skalpelle, Zangen usw. – erfüllen nämlich durch ihre reguläre, ihrer Bestimmung entsprechende Anwendung keines der qualifizierten Tatbestandsmerkmale dieser Bestimmung [scil. § 223a a.F. StGB]“ (StA Mainz, NJW 1987, 2946 [2946]). Vgl. BGH, NStZ 2007, 95 (95). 25 BGH, NStZ 1987, 174.
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Teil 2: Tatbestandsmäßigkeit der Beschneidung
übte Eingriff von einer kundigen oder unkundigen Person durchgeführt wird26. Zum einen käme es zu wenig sinnvollen und sachgerechten Ergebnissen, entschiede sich die „Gefährlichkeit“ eines Gegenstandes nach Maßgabe der individuellen Befähigung seines Verwenders. Müsste in diesem Fall der Einsatz eines Messers zum ACHTUNGREZwecke der Körperverletzung, sofern von einem geübten und routinierten Anwender ausgeführt, doch anders beurteilt werden, als der eines ungeübten Anwenders.27 Zum anderen impliziert die systematische Stellung des „gefährlichen Werkzeugs“ als Oberbegriff zur gleichfalls angeführten „Waffe“28, so wie bei letztgenannter die „Gefährlichkeit“ des Werkzeugs allein aus objektiven Umständen29 zu gewinnen. Aber freilich nicht dergestalt, wie der BGH wiederum in der erstgenannten Entscheidung judizierte, indem er von der objektiven Bestimmung sowie einem dementsprechenden (lege artis) Einsatz auf den Angriffs- bzw. Verteidigungscharakter der Tathandlung und somit auf die „Gefährlichkeit“ des Werkzeugs schließen will. Für die „Gefährlichkeit“ muss vielmehr die konkrete Art der Verwendung des Werkzeugs im Einzelfall ausschlaggebend sein30 – unabhängig, ob diese Verwendung bestimmungsgemäß ist oder nicht. Weder die Zuhilfenahme eines Werkzeugs durch einen Ungeübten noch der Einsatz eines Werkzeugs in bestimmungsfremder Art und Weise, sondern schlicht die Tatsache, dass die Körperverletzung überhaupt unter Verwendung eines Gegenstandes, welcher aufgrund seiner konkreten Verwendung (hier: als Schneideinstrument) weitaus massivere Eingriffe ermöglicht und größere Folgerisiken zeitigen kann als die bloße körperliche Attacke, begründet die Strafverschärfung des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB.31 Jede andere Ansicht würde schlicht verkennen, dass es mit ein Anliegen der Einführung des Werkzeugbegriffs war, just Messer als „gefährliche Werkzeuge“ qualifizierend zur einfachen Körperverletzung fortan erfassen zu können.32 Insofern kann für den substanzverletzenden Einsatz medizinischer Schneideutensilien nichts anderes gelten, wie für den Einsatz eines Messers als schneidendes Werkzeug generell: Unabhängig von Intention oder Profession des Beschneiders wird durch den beschneidungsbedingten Einsatz von Schneide26
Fischer, StGB (2008), § 224 Rdnr. 9a; Hilgendorf, ZStW 112 (2000), S. 811 ff. (S. 818); Kargl, NStZ 2007, S. 489 ff. (Fußn. 17); Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 682); Wolski, GA 133 (1987), S. 527 ff. (S. 534). 27 Diese Differenz scheint der BGH indes aufmachen zu wollen, wenn er die Unbeherrschbarkeit der Situation betont: Bspw. BGH, StV 2002, 21 (22) und StV 2002, 20 (20) = NStZ 2002, 30 (30). 28 Statt aller: Fischer, StGB (2008), § 224 Rdnr. 7; Geppert, JURA 1999, S. 599 ff. (S. 600). 29 Bei den Waffen wird daher vom „technischen Waffenbegriff“ gesprochen: Kühl, StGB (2007), § 224 Rdnr. 2. 30 Vgl. schon BGHSt 3, 105 (109) zum § 223a a.F. StGB; BGH, StV 2002, 482 (1. LS u. 482); Baier, JA 2003, S. 363 ff. (S. 363); Graul, Jura 2000, S. 204 ff. (S. 205); instruktive Herleitung bei Miebach/Hardtung, MünchKomm-StGB III (2003), § 224 Rdnrn. 13 ff.; Hilgendorf, ZStW 112 (2000), S. 811 ff. (S. 818), der die Ausbildung des Verwenders allerdings zusätzlich als Indiz für die „Gefährlichkeit“ gelten lassen will. 31 Zutreffend Miebach/Hardtung, MünchKomm-StGB III (2003), § 224 Rdnr. 19. 32 Hilgendorf, ZStW 112 (2000), S. 811 ff. (S. 813 f.) m.w.N. zu den Gesetzgebungsmaterialien.
B. Gefährliche Körperverletzung § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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werkzeugen immer auch der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB verwirklicht.33 Tatbestandlich ist die rituelle Knabenbeschneidung eine gefährliche Körperverletzung i.S. der §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB und somit ein antragslos, von Amts wegen zwingend zu verfolgendes Delikt, § 230 Abs. 1 StGB.
33 Schlicht feststellend ebenso Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 318); Kern/Köhler, Ärzteblatt Sachsen 2006, S. 104 f. (S. 105); Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 682).
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Teil 3
Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung A. Vorüberlegungen zur Möglichkeit der Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung Die Vornahme der Beschneidung minderjähriger Knaben wird durch ein entsprechendes Verlangen der Eltern veranlasst und vom Beschneider aufgrund jener, im elterlichen Ersuchen zum Ausdruck kommenden Zustimmung vollzogen. Nun erfordert der Tatbestand der (einfachen sowie gefährlichen) Körperverletzung zwar weder ausdrücklich noch strukturell ein Handeln gegen den Willen des Betroffenen, so dass etwaige Zustimmungserklärungen nicht in der Lage wären, die Tatbestandsmäßigkeit solcher Eingriffe auszuschließen.1 Jedoch impliziert § 228 StGB die Möglichkeit, die im Wege der Einwilligung vorgenommene Körperverletzung zumindest für einen gerechtfertigten und aus diesem Grunde straflosen Eingriff anzusehen. Seinen Ursprung hat diese rechtfertigend wirkende Einwilligung im Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen: Wo der Betroffene mit dem Eingriff in seine Rechtsgüter einverstanden ist, geschieht ihm kein Unrecht – nach römisch-rechtlicher Diktion, „volenti non fit iniuria“ (Dig. 47. 10. 1. 5). Der im Sinne des Einwilligungsgrundsatzes „Betroffene“ einer Knabenbeschneidung ist nicht der den Eingriff veranlassende gesetzliche Vertreter selbst, sondern der jeweils Zirkumzedierte qua seiner Eigenschaft als Träger des verletzten Rechtsguts. Prinzipiell wäre demnach der Zirkumzedierte der Zustimmungszuständige. Da der minderjährige ,Beschneidungskandidat indes infolge seiner Kindlichkeit die Tragweite und Folgewirkung eines derartigen Eingriffs weder einzusehen, geschweige denn zutreffend zu beurteilen vermag, tritt der gesetzliche Vertreter an dessen Stelle. Die Erteilung der Einwilligung in Rechtsgutseingriffe zu Lasten minderjähriger Kinder ist ein Aspekt des elterlichen Sorgerechts (§§ 1626, 1629 BGB) und fällt demnach grundsätzlich in die elterliche Entscheidungszuständigkeit.2 Die in der elterlichen 1
Ebert, AT (2001), S. 87; Roxin, AT I (2006), § 13 Rdnrn. 2 f. BGHSt 12, 379 (383); Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 382 m.w.N.; Schönke/Schröder/ Lencker, StGB (2006), Vorbem §§ 32 ff. Rdnr. 41. Sollte der Minderjährige hingegen über die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügen, was im Islam angesichts des je nach Traditionszusammenhang vorgerückten Beschneidungsalters u. U. vorkommen kann, dann würde das elterliche Bestimmungsrecht durch die Einwilligung des Minderjährigen verdrängt werden (AG Schlüchtern, NJW 1998, 832 [832 f.]; Kern, FamRZ 1981, S. 738 ff. [S. 739]; Lesch, NJW 1989, S. 2309 ff. [S. 2310]) – die Wirksamkeit der Einwilligung bei unter 18jährigen generell von der Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters abhängig zu machen, ist dog2
A. Möglichkeit der Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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Veranlassung liegende Zustimmungserklärung könnte die beschneidungsbedingte gefährliche Körperverletzung darum u. U. rechtfertigen. In diesem Fall ist die Zirkumzision letztendlich ein strafloser Eingriff in die Körperintegrität des Beschnittenen. Im vorliegenden Abschnitt ist darum der Frage der Wirksamkeit der elterlichen Einwilligung in die Vornahme der rituellen Vorhautentfernung nachzugehen. Ausgangspunkt soll hierbei der Umstand sein, dass in Rechtsgutsverletzungen nicht unumgrenzt eingewilligt werden kann, sondern bestimmte Begrenzungen zu beachten sind. Schon bei der Einwilligung in die Verletzung der eigenen Körpersphäre ist die Sittenwidrigkeitsbegrenzung nach § 228 StGB zu beachten. Wobei im Rahmen der reifen Einwilligung in die Beschneidung der eigenen Person § 228 StGB keine durchgreifenden Wirksamkeitsbedenken auslöst. Von einem für die Sittenwidrigkeit erforderlichen Verstoß gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“3 kann hier nicht die Rede sein; umso weniger, als die gesellschaftlich durchaus nachvollziehbare persönliche Entscheidung für eine Zirkumzision auf die grundgesetzlich verbürgte Religionsausübungsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG rekurriert.4 Der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters in den Rechtsgutseingriff zu Lasten seines minderjährigen Kindes ist neben dem (nicht einschlägigen) § 228 StGB allerdings eine weitere Schranke gezogen. Wie die Ausübung der elterlichen Sorge im Allgemeinen, so muss auch die Einwilligung in Rechtsgutseingriffe im Besonderen stets am Wohl des Minderjährigen ausgerichtet werden, § 1627 S. 1 BGB. Wobei jenes „Wohl“ vorliegend v. a. durch den Aspekt des Rechts auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG konkretisiert wird. So hob das LG Frankenthal in seinem Urteil zur Wirksamkeit der elterlichen Einwilligung in eine medizinisch nicht indizierte Knabenbeschneidung im Jahr 2004 expressis verbis hervor: „Nach dem Personensorgerecht haben die Eltern nicht die Befugnis, unvernünftige Entschlüsse zum Nachteil ihrer Kinder zu treffen“5. Vielmehr habe die Ausübung elterlicher Sorge dem Kindeswohl zu dienen. Ob die Vornahme einer rituellen Beschneidung ein dem Kindeswohl per se widersprechender, „unvernünftiger“ Entschluss ist, ließ matisch nicht begründbar (zu Recht: Lesch, a.a.O.; s. auch Jakobs, AT [1991), 7. Abschn. Rdnr. 114 mit Fußn. 176 sowie Roxin, AT I [2006], § 13 Rdnr. 92); die insofern vertretenen Ansichten [Wiederaufleben elterlichen Entscheidungsrechts bei offensichtlichen Fehlentscheidungen Minderjähriger aus „völlig sachfremden Erwägungen“] seitens Lenckner, ZStW 72 (1960), S. 446 ff. (S. 463) bzw. BGHZ 29, 33 (37) mit Zust. Lüderitz/Dethloff, Familienrecht (2007), § 13 Rdnr. 61 [Eigenständige Einwilligung nur, sofern Eltern nicht erreichbar] sind spätestens mit Einführung des § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB überholt (s. Kern, NJW 1994, S. 753 ff. [S. 755]). 3 BGHSt 4, 88 (91); 49, 34 (41); s. ferner BGHSt 49, 166 [stärkere Betonung einer rechtlich orientierten Sittlichkeitsgrenze] sowie BGHSt 4, 24 (32) [keine Sittenwidrigkeit der Bestimmungsmensur] – letztere Entscheidung ist nach Fischer, StGB (2008), § 228 Rdnr. 10 „mit BGH [scil BGHSt] 4, 88 kaum vereinbar“. 4 Ebenso: Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 123); Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 318); Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 683). 5 LG Frankenthal, MedR 2005, 243 (244).
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Teil 3: Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung
das Landgericht aber ungeklärt. Tragend für die Ablehnung einer rechtfertigend wirkenden Einwilligung der Eltern in jenem Fall war allein, dass das LG Frankenthal einen „von einem Nichtmediziner unter unsterilen Bedingungen durchgeführten körperlichen Eingriff“6 zu konstatieren hatte. Ein medizinisch nicht lege artis durchgeführter Eingriff in die körperliche Unversehrtheit stehe im Widerspruch zum Kindeswohl. In einem vergleichbaren Verfahren ließ das OLG Frankfurt a.M. in einem Beschluss aus dem Jahr 2007 ausdrücklich offen, „ob generell und bis zu welchem Alter die Einwilligung zu einer Beschneidung durch muslimische Eltern oder durch einen muslimischen Vater allein als vom Erziehungs- und Sorgerecht umfasst angesehen werden kann“7. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Begrenzung des Erziehungsrechts durch das Kindeswohl blieb in beiden Entscheidungen ausgespart. Bevor die Frage beantwortet werden kann, ob die Zirkumzision ein von der elterlichen Einwilligungsbefugnis umfasster, weil dem Kindeswohl nicht widersprechender, und darum im Ergebnis gerechtfertigter Rechtsgutseingriff ist, muss im Folgenden zunächst untersucht werden, wie ein begrenzend wirkendes „Kindeswohl“ angesichts eines grundrechtlich gewährleisteten Autonomiebereichs elterlicher Erziehung rechtssystematisch überhaupt zu denken ist. Anhand dieses Wirkverhältnisses werden sodann in einem zweiten Teilschritt die im Beschneidungsakt miteinander kollidierenden Grundrechte in den Blick genommen, die da wären: Die freie Ausübung des religiösen Bekenntnisses seitens der Eltern mit Bezug auf ihre Kinder (Art. 4 Abs. 1 u. 2; Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) sowie das grundrechtlich garantierte Recht der Minderjährigen auf Wahrung ihrer körperlichen Integrität (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG).8
B. Kindeswohl – Die Grenze der elterlichen Einwilligung Überschreiten die gesetzlichen Vertreter mit der Erteilung ihrer Zustimmung in etwaige Rechtsgutseingriffe zu Lasten ihrer Kinder die Befugnisse ihrer elterlichen Sorge, so ist ihre Zustimmung ohne weiteres unwirksam.9 Ob die Einwilligung in die Beschneidung solch einen unzulässigen Akt elterlicher Sorge darstellt, ist anhand des „Kindeswohls“ zu bestimmen, welches gem. § 1627 S. 1 BGB die elterliche Sorgebefugnis zwingend limitiert. 6
LG Frankenthal, MedR 2005, 243 (244). OLG Frankfurt a.M., NJW 2007, 3580 (3581) – vorliegend veranlasste der nicht sorgeberechtigte Vater ohne Zustimmung der Mutter die Beschneidung. 8 Seit BVerfGE 7, 198 (205 ff.) [sog. Lüth-Entscheidung] ist die Drittwirkung der grds. staatsadressierten Grundrechte auch zwischen privaten Akteuren anerkannt, wodurch deren Einbezug in den vorliegenden Zusammenhang erforderlich wird; die Grundrechte etablieren eine „objektive Wertordnung“ (a.a.O., 205); ausführlich zum Wandel des Grundrechtsverständnisses: Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik (1990), S. 22 ff. m.w.N. 9 Schönke/Schröder/Lencker, StGB (2006), Vorbem §§ 32 ff. Rdnr. 41; Lenckner, ZStW 72 (1960), S. 446 ff. (S. 461). 7
B. Kindeswohl – Die Grenze der elterlichen Einwilligung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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Nun sind jedoch drei verschieden weit gezogene Grenzen der elterlichen Zustimmungsbefugnis denkbar, je nachdem, wie das „Kindeswohl“ gelesen wird.10 Zum einen wäre es möglich, das „Kindeswohl“ als das Wohl mit der Betonung auf Kind (Kindeswohl) zu interpretieren und zu schlussfolgern, dass die Eltern bei der Erklärung der Einwilligung ausnahmslos auf die spezifische Interessenlage ihres Kindes festgelegt sind; unabhängig der elterlichen Vorstellungen wäre dann zu bestimmen, was im Interesse des Kindes und damit kindeswohlkonform ist. Möglich wäre allerdings auch die Lesart als Kindeswohl, verstanden als Verpflichtung zur spezifischen Wahrung eines kindlichen Wohlbefindens durch die Eltern, über welches die gesetzlichen Vertreter sodann nach ihrem elternspezifischen Blickwinkel zu bestimmen haben, so dass sie festlegen könnten, was zum Wohl und ihrem Kinde interessengerecht ist. Zuletzt, zwischen beiden Lesarten vermittelnd, kann das „Kindeswohl“ daneben derart interpretiert werden, dass mit § 1627 S. 1 BGB eine Leitmaxime aufgestellt wird, wonach die Eltern ihre grundsätzlich autonom-eigenen Erziehungs- und Pflegevorstellungen (zweite Lesart) an spezifischen, ihrer elterlichen EinschätzungsACHTUNGREprärogative entzogenen Kindesinteressen (erste Lesart) auszurichten bzw. in Ausgleich zu bringen haben. Bereits bei der Bestimmung des „Kindeswohls“ wären die elterlichen Erziehungsvorstellungen abwägend zu berücksichtigen. In Bezug auf die Wirksamkeit der Einwilligung in die Beschneidung folgen hieraus drei unterschiedliche Ergebnisse. Prima facie legt § 1626 Abs. 2 BGB nahe, der ersten Lesart den Vorzug zu geben und bei der Bestimmung dessen, was Inhalt des „Kindeswohls“ ist, ausschließlich die Interessen des Kindes ausschlaggebend sein zu lassen sowie die Eigeninteressen der Eltern vollständig in den Hintergrund zu stellen:11 Der rechtlichen Ausgangslage nach betrifft die Einwilligung höchstpersönliche Rechtsgüter und ist aus diesem Grunde eine grundsätzlich stellvertretungsfeindliche Willenserklärung. D.h., prinzipiell muss der Betroffene in persona dem fraglichen Eingriff zustimmen (Selbstbestimmungsprinzip). Eine Substitution durch die Zustimmung eines Dritten „Fremdbestimmung“ ist nur in Ausnahmefällen, wie etwa im Fall der Minderjährigkeit zulässig. Diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis folgend sollte die Fremdeinwilligung am Willen des persönlich nicht wirksam einwilligungsfähigen Minderjährigen ausgerichtet werden. Umso mehr, wie § 1626 Abs. 2 BGB mit Blick auf Art. 2 GG den Eltern mit der Befugnis zur Fremdeinwilligung keineswegs den Einsatz unmittelbaren Zwangs zugesteht, sollte der Minderjährige sich einem ärztlichen Eingriff widersetzen, dem die Eltern zugestimmt haben.12 Ist die Fremdeinwilligung damit nicht gegen 10
Dazu insofern instruktiv: Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 128 ff.). Mnookin, FamRZ 1975, S. 1 ff. (S. 2); vgl. Schwab, Familienrecht (2007), Rdnr. 544. Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht (1994), S. 884 betonen, „daß angesichts des schmalen Dispositionsbereichs, den die höchstpersönliche Formierung eines Rechtsguts beläßt, so früh wie möglich Selbstbestimmung und nicht Fremdbestimmung gelten muss“; HohmannDennhardt, FPR 2008, S. 476 f. (S. 477). 12 Amelung/Eymann, JuS 2001, S. 937 ff. (S. 943); zum Regel-Ausnahme-Verhältnis Kern, NJW 1994, S. 753 ff. (S. 753) mit Verweis auf BGHZ 29, 33 (36). 11
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Teil 3: Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung
den Willen des Minderjährigen durchsetzbar, so muss dem Willen des Minderjährigen elternunabhängig notwendig ein gewisses Eigengewicht zukommen. Wird zusätzlich der Umstand berücksichtigt, dass in Fällen, in denen ein grundsätzlich einsichts- und urteilsfähiger Minderjähriger seine Entscheidungsbefugnis aktual nicht ausüben kann, nicht etwa die Interessenlage der gesetzlichen Vertreter, sondern gleichwohl der (mutmaßliche) Wille sowie das vermutete Interesse des Minderjährigen für maßgeblich betrachtet wird,13 sprechen gewichtige Gründe dafür, bei der inhaltlichen Präzisierung des Kindeswohlerfordernisses im Allgemeinen ebenfalls allein auf die Interessensphäre des Minderjährigen abzustellen. Bei allen Schwierigkeiten, die Interessenlage eines nur wenige Tage alten Minderjährigen im konkreten Einzelfall zu bestimmen, könnte dabei von der Regel ausgegangen werden, dass Eingriffe in Rechtsgüter, sprich in rechtlich prinzipiell geschützte Interessen, nur dann dem Wohl des betroffenen Minderjährigen entsprechen, wenn für ebensolche Interessenseingriffe eine Notwendigkeit besteht. In Bezug auf die Körperintegrität gälte insofern, dass ausschließlich medizinisch indizierte Körpereingriffe im Interesse des Kindes lägen. Die Substitution kindlicher Selbstbestimmung durch die elterliche Entscheidungsbefugnis – also durch einen Akt der Fremdbestimmung – würde nach dieser Lesart erst mit der indikationsinhärenten Notwendigkeit und Unaufschiebbarkeit des Eingriffs legitimiert werden.14 Ein Eingriff in die Körpersphäre entspräche somit dann nicht dem Kindeswohl, wenn er mangels ärztlich zwingenden Grundes umstandslos aufgeschoben werden könnte. Medizinisch nicht notwendige Eingriffe wie die Zirkumzision liegen bei einem allein auf die (objektiven) Interessen des Minderjährigen abstellenden Kindeswohlverständnis mithin nicht im Rahmen der Einwilligungsbefugnis des gesetzlichen Vertreters. Eine dem ungeachtet erteilte Einwilligung wäre darum unwirksam und die rituelle Beschneidung bliebe rechtswidrig. Für die zweite der o.g. Lesarten des „Kindeswohls“ spricht Art. 6 Abs. 2 GG, welcher den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gerade als ureigenes natürliches (Eltern-)Recht verbrieft. Ihrer Entscheidung ist überlassen, was sie für richtig und ihrem Kind förderlich halten. Frei von staatlicher Bevormundung entscheiden die Eltern anhand ihrer persönlichen Vorstellungen, wie sie ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen.15 Es läge nahe, zu diesem Autonomiebereich auch die inhaltliche Bestimmung des Kindeswohls zählen zu lassen. Die spezifische Interessenlage der Eltern zum bestimmenden Orientierungspunkt für die Ermittlung des Kindeswohls zu nehmen, kann zudem auf den Charakter der elterlichen Zustimmung rekurrieren, als Ersatz für die nicht zu erlangende Einwilligung des minderjährigen Kindes zu dienen. Hieraus ist folgender Argumentationsgang zu entwickeln: Grund13
Statt aller Roxin, AT I (2006), § 13 Rdnr. 92 m.w.N. Ausführlich: Kern, NJW 1994, S. 753 ff. (S. 753, 758 f.) – samt dem in der Sache treffenden Hinweis, die „gesetzlich erlaubte Fremdbestimmung ist also kein Herrschaftsrecht, sondern ein Sorgerecht […] Der Gesetzgeber hat nicht ohne Grund die ,elterliche Gewalt durch die ,elterliche Sorge […] ersetzt“ (a.a.O., S. 759); Kern, FamRZ 1981, S. 738 ff. (S. 739 f.). 15 BVerfGE 24, 119 (143 f.); 59, 360 (376); 107, 104 (117); Hohmann-Dennhardt, FPR 2008, S. 476 f. (S. 477). 14
B. Kindeswohl – Die Grenze der elterlichen Einwilligung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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lage der rechtfertigenden Einwilligung ist das Selbstbestimmungsrecht des zur Einwilligung Berufenen; seine Interessen und nicht ein objektiv zu ermittelndes „vernünftiges/wohlverstandenes“ Interesse geben grundsätzlich den Ausschlag über die Zulässigkeit resp. Unzulässigkeit des Eingriffs. Als Instrument der Selbstbestimmung unterliegt die Einwilligung keiner objektiven Rationalitätskontrolle, so dass es für deren Wirksamkeit niemals auf eine objektiv nachvollziehbare Vernünftigkeit ankommen kann.16 Folgerichtig sollten in den Fällen, in denen der Minderjährige konstitutionell nicht in der Lage ist, sein Selbstbestimmungsrecht im Wege der Einwilligung auszuüben, und seine gesetzlichen Vertreter zum Ersatz der Einwilligungserklärung berufen sind, die elterlichen Vorstellungen dafür maßgeblich sein, was im Willen bzw. zum Wohl ihres minderjährigen Kindes ist – und nicht objektiv zu bestimmende wohlverstandene Kindesinteressen. Kann doch von einem Ersatz für die nicht zu erlangende Einwilligung des Minderjährigen durch die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters nur dort die Rede sein, wo die spezifische Interessenslage des Ersatzzuständigen maßgeblich wird. Anstelle einer objektiv zu ergründenden Interessenlage des einwilligungsunfähigen Minderjährigen die Präferenzen seines gesetzlichen Vertreters ausschlaggebend sein zu lassen, könnte überdies auf § 1631c S. 1 BGB gestützt werden. Wird der elterlichen Autonomie dort die Sterilisation ihres Kindes ausdrücklich entzogen, so liegt mittels eines argumentums e contrario die Schlussfolgerung nahe, in allen anderen Fällen durchaus die elterlichen Präferenzen zum Maßstab der Kindeswohlbestimmung zu nehmen. Halten die Eltern nun die Beschneidung für einen sinnvollen Beitrag zur Pflege und Erziehung ihres männlichen Nachwuchses, mithin zur Förderung des Kindeswohls, wäre die Vornahme des Eingriffs unter Zugrundelegung dieser Lesart stringenterweise von der elterlichen Einwilligungsbefugnis umfasst. Gegen beide Interpretationsmöglichkeiten sind Bedenken anzumelden. Die letztgenannte Lesart verkennt, dass Art. 6 Abs. 2 GG die Gewährleistung des elterlichen Erziehungsrechts vor staatlichen Eingriffen mit der von diesem Recht sachlogisch differenten Verpflichtung verbindet, „das Wohl des Kindes zur obersten Richtschnur der Erziehung zu machen“17, d. h. das Kindeswohl zur Grenze und nicht zum Gegenstand der elterlichen Erziehungsautonomie erklärt. Das „Kindeswohl“ nunmehr vice versa der ersten Lesart folgend ausschließlich anhand einer objektiv zu ermittelnden Interessenlage des Minderjährigen zu bestimmen und alle medizinisch nicht indizierten Körpereingriffe als dem Kindeswohl eo ipso zuwider von der Einwilligungsbefugnis der Eltern auszuschließen, überzeugt jedoch ebenso wenig. Nicht nur der dem Minderjährigen unmittelbar zu Gute kommende notwendige Heileingriff be16 Amelung, JR 1999, S. 45 ff. (S. 46); Amelung/Eymann, JuS 2001, S. 937 ff. (S. 942); vgl. Ebert, AT (2001), S. 88; Jakobs, AT (1991), 14. Abschn. Rdnr. 10; Kühl, AT (2005), § 9 Rdnr. 33. Wenn Stratenwerth/Kuhlen, AT (2004), § 9 Rdnr. 19 hingegen „triftige Gründe“ für den Verzicht auf Rechtsgüterschutz „in wesentlicher Hinsicht“ fordern, so verweisen sie auf das Problemfeld, inwiefern dem Willen des Einwilligenden rechtliche Beachtlichkeit zuerkannt werden kann (s. bspw. §§ 216 Abs. 1, 228 StGB). 17 BVerfGE 56, 363 (381 f.); BVerfG, NJW 2003, 2004 (2005).
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gründete keinen Widerspruch zum Kindeswohl. Mit dem Kindeswohl vereinbar kann vielmehr auch die ärztlich für den Minderjährigen nicht indizierte, jedoch in Erfüllung einer sittlichen oder sozialen Pflicht erfolgende Preisgabe kindlicher Rechtsgüter sein, wie etwa in Form einer Bluttransfusion für einen Verunglückten;18 obgleich solch ein Eingriff in Bezug auf den körperlichen Zustand des Kindes nicht indiziert ist, würde es kaum überzeugen, in einem derartigen Eingriff eine kindeswohlabträgliche und damit strafbare Rechtsgutsverletzung zu erblicken. Eine angemessene Bestimmung des im Rahmen der elterlichen Einwilligung zu beachtenden „Kindeswohls“ wird darum den Aspekten beider Lesarten Rechnung tragen müssen. Zwar handeln die Eltern nicht alleinig für das einwilligungsunmündige Kind insofern sie schlicht einen objektiv zu ermittelnden Willen des Minderjährigen zu artikulieren hätten, sondern entscheiden in der Tat selbst darüber, was für ihr Kind interessengerecht ist. Jedoch wird mit dem Gesichtspunkt des Kindeswohls – in Konkretisierung des staatlichen Wächtervorbehalts gem. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG – der Ausübung dieses elterlichen Autonomiebereichs zugleich eine Schranke gezogen. Die Elterninteressen sind mit dem Kindeswohl nicht identisch, aber gleichwohl leitend auf die Interessen des Minderjährigen bezogen. Konkretisiert wird dies bspw. durch § 1612 BGB, wonach der Minderjährige sich grundsätzlich in die Familie einzufügen hat, und zwar unabhängig seiner eigenen Interessenlage. Diesbezüglich hebt Olzen hervor: „Insoweit steht den Eltern ein erheblicher Gestaltungsspielraum hinsichtlich ihrer [scil. der Minderjährigen] Lebensverhältnisse zu“19. D.h., die Eltern sind sehr wohl befugt und berufen, zu bestimmen, worin das Wohl ihres Kindes liegt und welche Maßnahmen mit dem Kindeswohl verträglich sind. Die Aufgabe des Kindeswohls in dieser vermittelnden Lesart ist folglich die eines Leitprinzips. Genauer, der durchaus vorhandene Autonomiebereich elterlicher Erziehungsvorstellungen ist an dem Zielpunkt zu orientieren, das minderjährige Kind zu einer selbständigen und verantwortungsbewussten Person heranwachsen zu lassen (Prinzip der Selbstentfaltung).20 An dieser Maxime ist das elterliche Erziehungsrecht und mit ihm die elterliche Einwilligungsbefugnis zu orientieren. Die Eltern bestimmen die Kindesinteressen ebenso, wie sie bei der Verwirklichung ihrer Erziehungsvorstellungen den (vermuteten) Interessen des Kindes angemessen Berücksichtigung zu schenken haben.21 Dies meint Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, wonach das Kindeswohl nicht Legitimation, sondern Limitation elterlicher Erziehungsvorstellungen ist.
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Lenckner, ZStW 72 (1960), S. 446 ff. (S. 460 f.); s. Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 693). 19 Rebmann/Säcker/Rixecker/Olzen, MünchKomm-BGB VIII (2008), § 1666 Rdnr. 45; s. BVerfGE 60, 79 (94). 20 Kern, NJW 1994, S. 753 ff. (S. 759); Rebmann/Säcker/Rixecker/Olzen, MünchKommBGB VIII (2008), § 1666 Rdnr. 45; Sachs/Schmitt-Kammler, GG (2007), Art. 6 Rdnr. 56; Schwab, Familienrecht (2007), Rdnr. 544; Walter/Wilms, NStZ 2004, S. 600 ff. (S. 602). 21 Schwab, Familienrecht (2007), Rdnr. 544; s. ferner Gernhuber, FamRZ 1973, S. 229 ff. (S. 232 u. 233).
B. Kindeswohl – Die Grenze der elterlichen Einwilligung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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Wie wirkt der Begrenzungsmechanismus eines „Kindeswohls“, das durchaus der elterlichen Bestimmungsmacht offen steht? Wenig erhellend wäre, die elterliche Bestimmungsmacht an ein opak empirieorientiertes Prinzip kindlicher Selbstgestaltungsfreiheit zurückzukoppeln. Mit seiner Offenheit gegenüber wandelbaren gesellschaftlichen Anschauungen sowie Maßstäben begegnet der generalklauselartige Begriff des „Kindeswohls“ der Gefahr erheblicher Konkretisierungsschwierigkeiten. Umfangreich fällt bspw. die Erörterung Putzkes aus, inwiefern der mit der rituellen Knabenbeschneidung einhergehende Vorteil das mit diesem Eingriff einhergehende Risiko überwiegt – kurzum, wie es um die Kindeswohlverträglichkeit des Eingriffs steht.22 Den Grenzbereich des Kindeswohls, welcher dem elterlichen Autonomiebereich entzogen ist, anhand der konkreten Umstände des empirischen Einzelfalls zu bestimmen, führt zu wenig vorhersehbaren und damit kaum determinierbaren Abwägungsentscheidungen. Pointiert fragt Mnookin: „Welche Werte soll ein Richter verwenden, um zu bestimmen, was am meisten dem Wohle des Kindes dient?“23 Der Einigkeit, diesbezüglich keine schichtenspezifischen Wertvorstellungen Raum greifen zu lassen, da diese in weiten Bevölkerungsteilen womöglich schon überholt sein könnten,24 steht die hohe Ideologisierungsgefahr des „Kindeswohls“ komplementär gegenüber25 ; mit entsprechenden Folgen für den Umfang des elterlichen Erziehungsrechts. Abgemildert sowie u. U. vollständig vermieden werden kann jene Gefahr, wenn der Ermittlung eines positiven Kindeswohl-Standards im Sinne eines „in der sozialen Wirklichkeit akzeptierten Normalstandards korrekten sozialen Verhaltens, also eine empirische Realität“26, ein Blick auf die betroffenen rechtlichen Interessen vorausgeschickt wird. Bei der Untersuchung, ob eine bestimmte Erziehungshandlung der Eltern mit dem Kindeswohl vereinbar ist, sind diejenigen gesetzlichen Ge- und Verbote, d. h. diejenigen rechtlichen Belange, die durch die fragliche elterliche Handlung (hier: die Beschneidung) betroffen sind, einander gegenüberzustellen und unter-
22 Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 687– 697); Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff. (S. 784 f.). Putzke, MedR 2008, S. 268 ff. verdichtet die Frage insgesamt auf den Kern: „Es geht letztlich darum abzuwägen, was für und was gegen die Gestattung der Zirkumzision spricht. In die eine Waagschale ist der Nutzen der Zirkumzision zu werfen, in die andere der Schaden, den sie anrichtet“ (a.a.O., S. 268). 23 Mnookin, FamRZ 1975, S. 1 ff. (S. 3); auf die Konkretisierungsschwierigkeiten der Kindeswohlklausel weisen ferner hin: Diederichsen, FamRZ 1978, S. 461 ff. (S. 467); Palandt/ Diederichsen, BGB (2009), § 1666 Rdnr. 9; Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 686 f.); Bamberger/Roth/Veit, BGB III (2008), § 1666 Rdnr. 3.1. 24 Bamberger/Roth/Veit, BGB III (2008), § 1666 Rdnr. 3.1; ebenso Gernhuber, FamRZ 1973, S. 229 ff. (S. 232); Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 702). 25 Auf diese Gefahr verweist Palandt/Diederichsen, BGB (2009), § 1666 Rdnr. 9. 26 Gernhuber, FamRZ 1973, S. 229 ff. (S. 232) samt der hier aufgegriffenen instruktiven Differenzierung zur Bestimmung des Kindeswohls; zwischen empirischen und rechtlichen Gesichtspunkten zu unterscheiden vernachlässigen Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 133 ff.) und Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 686 f.); s. insofern auch die Krit. zu Fateh-Moghadam bei Herzberg, ZIS 2010, S. 471 ff.
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Teil 3: Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung
einander abzuwägen.27 Verstieße eine elterliche Handlung bspw. gegen das Rechtsprinzip der menschlichen Würde, könnten die empirischen Auswirkungen der Handlung den hierin begründeten Widerspruch zum Kindeswohl nicht mehr nivellieren.28 Die elterliche Erziehungsautonomie endet, wenn die durch die fragliche Maßnahme betroffenen rechtlichen Interessen des Kindes das Erziehungsrecht prävalieren. Aus diesem Grunde sind im Nachfolgenden mit den im Erziehungsverhältnis beteiligten „Interessen“ zunächst ausschließlich die durch die Beschneidung betroffenen rechtlichen Interessen in den Blick zu nehmen. Sollten die rechtlichen Elterninteressen die rechtlichen Kindesinteressen nicht überwiegen, so haben die Interessen des gesetzlichen Vertreters hinter denen des Minderjährigen zurückzutreten.29 Denn in diesen Fällen steht die Leitmaxime des Kindeswohls den elterlichen Erziehungsvorstellungen sowie der Wirksamkeit einer elterlichen Einwilligung entgegen, da es das Kindeswohl ist, an dem die elterlichen Erziehungsvorstellungen begrenzend zu orientieren sind, Art. 6 Abs. 2 GG i.V.m. §§ 1626 Abs. 1, 1627 S. 1 BGB. Erst wenn hingegen ein non-liquet Ergebnis der Abwägung wäre, müssten auch die empirischen Auswirkungen und Aspekte des Eingriffs in die Abwägung einbezogen werden. Für die Frage nach der Wirksamkeit der elterlichen Einwilligung in die Knabenbeschneidung unter dem Stichwort des „Kindeswohls“ kommt es entgegen der Ansicht Fateh-Moghadams und Schwarz nicht darauf an, inwiefern das Verhalten der Eltern zugleich einen Missbrauch elterlicher Sorge darstellt.30 Zwar mag dies eine notwendige Bedingung für die Einleitung zivilgerichtlicher Maßnahmen gem. § 1666 BGB sein,31 jedoch ist für die strafrechtliche Perspektive schon der reine Verstoß gegen das Kindeswohl hinreichend, um der elterlichen Einwilligung die Wirksamkeit abzusprechen. Die Motive, aus denen heraus die Eltern den Eingriff vorgenommen haben, spielen für die inhaltliche Bestimmung des Kindeswohls mithin keine Rolle.32
27 Gernhuber, FamRZ 1973, S. 229 ff. (S. 232); von Staudinger/Loester, BGB IV (2007), § 1666 Rdnr. 3 m.w.N.; s. Wüstenberg, FamRZ 2007, S 692 ff. (S. 694). 28 BGH, NJW 2005, 672 (672); Palandt/Diederichsen, BGB (2009), § 1666 Rdnr. 18. 29 BVerfGE 56, 363 (383); 68, 176 (188); 72, 122 (137); 99, 145 (156); BVerfG, NJW 1999, 2173 (2174); von Mangoldt/Klein/Starck/Robbers, GG I (2005), Art. 6 Rdnr. 150; Sachs/ Schmitt-Kammler, GG (2007), Art. 6 Rdnr. 61. 30 Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 133, 138) – krit. dazu: Herzberg, ZIS 2010, S. 471 ff.; Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. (S. 1128). 31 BayObLG, FamRZ 1981, 814 (816); Jauernig/Berger/Berger, BGB (2009), Anmerkungen zu den §§ 1666 – 1667 Rdnr. 6; Palandt/Diedrichsen, BGB (2009), § 1666 Rdnr. 13; Wüstenberg, FamRZ 2007, S. 692 ff. (S. 695). 32 Vgl. neben den Nachw. der vorangegangenen Fußn. Bamberger/Roth/Veit, BGB III (2008), § 1666 Rdnr. 2. Nicht zwischen Kindeswohlverträglichkeit und Pflichtwidrigkeit elterlichen Verhaltens unterscheidet hingegen Westermann/Erman/Aderhold/Michalski, BGB II (2008), § 1666 Rdnr. 8.
C. Elterliches Erziehungsinteresse und Interessensphäre des Kindes 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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C. Elterliches Erziehungsinteresse und Interessensphäre des Kindes Wird die Beschneidung im Gegensatz zum oben angeführten Fall des LG FranACHTUNGREkenACHTUNGREthal unter hygienisch akzeptablen Bedingungen vollzogen, erscheint der Ausschluss der medizinisch nicht indizierten rituellen Beschneidung aus dem Bereich des elterlichen Erziehungsrechts und damit aus dem der rechtfertigenden Einwilligung nicht ohne weiteres rechtlich begründbar. Einem lege artis durchgeführten (wenngleich auch nicht notwendigen) Körpereingriff kann ein Widerspruch zum Kindeswohl nicht ohne weiteres attestiert werden. Vielmehr erfordern solche Fälle eine Abwägung des in Art. 2 Abs. 1 GG sowie in §§ 223, 224 StGB konkretisierten Kindeswohlinteresses in Form der körperlichen Unversehrtheit mit dem – in der Veranlassung eines dem Stand der ärztlichen Kunst entsprechenden Körpereingriffs zum Ausdruck kommenden – rechtlich an sich ebenso anerkannten Rechts der Eltern auf Kindererziehung, Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Bevor in diese Abwägung eingestiegen werden kann, sind allerdings die Konturen der beteiligten Interessenssphären näher zu bestimmen. Sowohl auf Seite der Eltern wie auf der des Minderjährigen sind weitere Grundrechte zu beachten. I. Die durch die Beschneidung betroffenen Rechtsinteressen 1. Das elterliche Recht auf religiöse Kindererziehung Auf Seiten der gesetzlichen Vertreter ist das Erziehungsrecht um die Religionsbzw. Religionsausübungsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG zu ergänzen. Wobei die beiden Absätze des Art. 4 GG einen einheitlichen Schutzbereich konstituieren, der sowohl die ,innere Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben (sog. forum internum) als auch die ,äußere Freiheit der Manifestation etwaiger Glaubensinhalte (forum externum) umfasst; insbesondere geschützt ist „das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugungen gemäß zu handeln“33. Hierbei hängt die Klassifikation einer Handlung als „religiös“ weniger von konfessionellen Dogmenvorgaben einer Glaubensgemeinschaft als vielmehr von dem Selbstverständnis des Handelnden ab, der die fragliche Handlung für sich als religiös motiviert und innerlich verpflichtend empfinden muss.34 Darum ist vollkommen irrelevant, ob die Knabenbeschnei33
BVerfGE 32, 98 (106) – Hervorhebung durch den Autor: T.E.; stRspr.: BVerfGE 24, 236 (245); 33, 23 (28); 41, 29 (49); 93, 1 (15); 108, 282 (297); Pieroth/Schlink, Grundrechte (2008), Rdnr. 512. 34 BVerfGE 33, 23 (28 f.); Janz/Rademacher, NVwZ 1999, S. 706 ff. (S. 710); Mayer, NVwZ 1997, S. 561 ff. (S. 562) – der Forderung, bei dem fraglichen Verhalten müsse es sich „nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild“ auch tatsächlich um eine Religion handeln (BVerfGE 83, 431 [354]), wird mit einer plausiblen Behauptung des Betroffenen ACHTUNGREgenügt: Sachs/Kokett, GG (2007), Art. 4 Rdnr. 17; Dreier/Morlok, GG I (2004), Art. 4 Rdnrn. 67 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte (2008), Rdnr. 512.
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Teil 3: Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung
dung im jeweiligen Religionsgebäude zu einem imperativen Glaubenssatz zählt oder etwa möglicherweise durch eine neutrale Handlungsalternative substituierbar ist. Sofern sie zum subjektiv für verbindlich wahrgenommenen transzendenten Wissensrepertoire35 eines individuellen Grundrechtsträgers zählt, partizipiert die Beschneidung ipso iure an der grundrechtlichen Religionsausübungsfreiheit. Dass die religiös motivierte Zirkumzision in ihrer Ausführung anstelle des Gläubigen einen Dritten – den Minderjährigen – betrifft, ändert an der Zuordnung der Beschneidung in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG zu Gunsten des die Zustimmung zur Zirkumzision erteilenden Gläubigen nichts. Das BVerfG betont, im „Verein mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht garantiert, umfaßt Art. 4 Abs. 1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht“36. Eltern, die die Beschneidung ihrer männlichen Nachkommen innerlich für eine religiös verbindliche Handlung erfahren und in Verfolg dieser Überzeugung in die Beschneidung ihres Sohnes einwilligen, betätigen aus grundrechtlicher Sicht sowohl ihr Sorgerecht aus Art. 6 GG als auch ihr Recht auf Religionsausübungsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG. Wie schon die Religionsausübungsfreiheit beinhaltet das elterliche Recht auf religiöse Kindererziehung neben der abstrakten Vermittlung religiöser Lehren grundsätzlich auch die lebensgestaltende Ausführung religiöser Vorstellungen mit Bezug auf die eigenen Kinder. Die Knabenbeschneidung ist somit ein spezifisch von Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG umfasster Akt der religiösen KindererACHTUNGREziehung. 2. Recht auf körperliche Unversehrtheit/Selbstbestimmung des Minderjährigen Auf Seiten des Minderjährigen tritt zu dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG) ebenfalls eine weitere Grundrechtsposition, die es im Abwägungsvorgang zu berücksichtigen gilt. Deutlich wird dies anhand der vorgenannten grundrechtlichen Sicht auf die Elterninteressen. Zwar ist die Beschneidung des männlichen Nachwuchses vom elterlichen Recht auf religiöse Kindererziehung umfasst, gleichwohl gilt zu beachten, dass mit diesem Eingriff weit über die bloß geistige Vermittlung religiöser Lehren an einen Minderjährigen hinausgegangen wird. Gerade das für die Beschneidung im minderjährigen Alter mitunter vorgebrachte Argument, der Körpereingriff müsse zeitnah 35
Der Transzendenz- bzw. Jenseitsbezug unterscheidet die Religions- von der Weltanschauungsfreiheit: Sachs/Kokett, GG (2007), Art. 4 Rdnr. 19; Sodan, GG (2009), Art. 4 Rdnr. 2. Einer „begriffsscharfen“ Definition der „Religion“ steht die staatliche Neutralitätspflicht entgegen: Dreier/Morlok, GG I (2004), Art. 4 Rdnr. 55. 36 BVerfGE 93, 1 (17); s. ferner BVerfGE 41, 29 (44, 47 f.); Dreier/Morlok, GG I (2004), Art. 4 Rdnr. 72. Um der wachsenden Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Minderjährigen angemessen Geltung zu verschaffen, wurde das „Gesetz über die religiöse Kindererziehung“ vom 15. 07. 1921 (RGBl., S. 939) im Rahmen der Rechtsbereinigung 1963 als (fort-)geltendes Bundesrecht festgestellt (BGBl. III, 404-9).
C. Elterliches Erziehungsinteresse und Interessensphäre des Kindes 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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nach der Geburt durchgeführt werden, da im vorgerückten Alter die Gefahr bestehe, dass Männer dem Eingriff fliehen würden,37 offenbart ein wesentliches grundrechtsrelevantes Spezifikum der Knabenbeschneidung. Durch die rituell motivierte Entfernung des Präputiums soll den religiösen Vorstellungen der Eltern unabhängig vom Willen ihres Kindes Geltung verschafft, sowie – umgekehrt – dem Minderjährigen die Möglichkeit genommen werden, sich in dieser Beziehung nach seinen eigenen Vorstellungen (später) selbst zu entfalten; dem Minderjährigen soll insofern kein autonomer Bereich privater Lebensgestaltung verbleiben, innerhalb dessen er seine Individualität frei entwickeln und wahren kann. Der Schutz eines solchen Bereichs zählt nun aber zum Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Minderjährigen, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG38 – nicht betroffen hingegen ist Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG in Form der negativen Religionsausübungsfreiheit des Minderjährigen, dem aufgrund seines Alters insofern die nötige Grundrechtsmündigkeit noch fehlt (vgl. § 5 Gesetz über die religiöse Kindererziehung).39 Tangiert wird das Recht auf Selbstbestimmung sowohl durch die Etablierung eines für den Betroffenen selbst nicht mehr abänderbaren Zustandes, in Form der dauerhaft entfernten Vorhaut,40 als auch, was weit schwerer wiegt, dadurch, dass die Eltern mit der Beschneidung ihre persönlichen religiösen Überzeugungen zu Lasten der Unversehrtheit ihres Kindes realisieren, d. h. ihr Kind gleichsam zum Objekt der Verwirklichung ihrer Glaubensvorstellungen machen. Da die Verwirklichung der elterlichen Glaubensvorstellungen jedoch zugleich substantiell von der Motivation begleitet wird, dem Kind als Person eine religiöse Prägung bzw. Festschreibung beizugeben, wird der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Minderjährigen nicht fundamental in Frage gestellt, und dessen Subjektqualität darum keinesfalls prinzipiell negiert. Die Menschenwürde des Minderjährigen (Art. 1 Abs. 1 GG) bleibt somit unversehrt.41 Dem dennoch vorhandenen Bezug
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Statt aller: Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 24. StRspr.: BVerfGE 27, 1 (6); 35, 202 (220); 54, 148 (153 ff.); 65, 1 (42 f.); 72, 155 (170); 79, 256 (269); Degenhart, JuS 1992, S. 361 ff.; von Mangoldt/Klein/Starck/Starck, GG I (2005), Art. 2 Rdnr. 14. 39 Die religiöse Dispositionsbefugnis liegt bei der hier relevanten Gruppe der unter 14-jährigen von vornherein bei deren gesetzlichen Vertreter: s. statt aller Pieroth/Schlink, Grundrechte (2008), Rdnrn. 123 ff. (spez. Rdnr. 127). Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 67 f. sieht hingegen die Religionsfreiheit der Minderjährigen beeinträchtigt. 40 Der zugefügte Verlust an Körpersubstanz in concreto ist auch durch etwaige Rekonstruktionsmöglichkeiten seitens der plastischen Chirurgie (s. hierzu insofern: LG Frankenthal, MedR 2008, 243) nicht revidierbar. 41 Erst die Degradierung des Menschen zum bloßen Objekt begründet einen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG: BVerfGE 30, 1 (25 f.); 87, 209 (289); 96, 375 (399); 107, 275 (285 f.); 109, 133 (150); Jarass/Pieroth/Jarass, GG (2007), Art. 1 Rdnr. 11; von Mangoldt/Klein/Starck/ Starck, GG I (2005), Art. 1 Rdnr. 17. Zu Recht betont Sachs/Höfling, GG (2007), Art. 1 Rdnr. 17, dass „allein der Kernbereich menschlicher Existenz von Art. 1 I [GG] vor schweren Beeinträchtigungen geschützt wird“ – Hervorhebung im Orig. 38
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auf Art. 1 Abs. 1 GG42 sowie der irreversiblen Beeinträchtigung eines Elements der Selbstbestimmung wird durch die Einschlägigkeit des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Minderjährigen aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG43 Rechnung getragen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Folgendes: Die Zirkumzision berührt das Recht des Minderjährigen auf Selbstbestimmung, d. h. einen wesentlichen Aspekt des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, nicht etwa darum, weil die Eltern überhaupt anstelle des (noch) unmündigen Kindes über einen Eingriff entscheiden und dem Minderjährigen durch diese Schaffung ,vollendeter Tatsachen eine eigenständige Entscheidung abnähmen. Denn wäre dem so, tangierte letztendlich jeder Akt elterlicher Sorge schon durch den unumkehrbaren Zeitablauf das Selbstbestimmungsrecht des minderjährigen Kindes und erzwänge damit stets einen grundrechtlichen Abwägungsvorgang; eine mit dem Konzept der sich erst iterativ ausbildenden Fähigkeit Minderjähriger, Grundrechte eigenständig auszuüben,44 wenig plausible Konsequenz. Spezifisch betroffen ist das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen vielmehr darum, weil die Entscheidung der Eltern vom Zeitpunkt her nicht notwendig ist.45 Mangels medizinischer Indikation kann der Eingriff ebenso gut aufgeschoben und in das Ermessen des Kindes gestellt werden, sobald es die dafür erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit erlangt hat. Nichts anderes gilt mit Blick auf die Beschneidungsvorgaben der jeweiligen Glaubensgemeinschaften. Wenngleich der Eingriff im Judentum innerhalb der ersten acht Tage nach der Geburt vorgenommen werden sollte (s. 1. Mose 17, 12), wohingegen der Islam keinen festen Termin kennt,46 gilt für beide Gemeinschaften, dass der Eingriff nicht nur aufgeschoben werden kann,47 sondern die Zugehörigkeit zur entsprechenden Religionsgemeinschaft bereits durch die Geburt seitens einer jüdischen bzw. muslimischen Mutter vermittelt wird.48 Der Vornahmezeitpunkt des Eingriffs ist folglich nicht zwingend für die Eingliederung des Minderjährigen in die jüdische/muslimische Glaubensgemeinschaft. Die Erklärung der Zustimmung zur Zufügung eines 42
Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. sieht durch die Beschneidung Art. 1 GG entsprechend „tangiert“ (a.a.O., S. 319), d. h. nicht „verletzt“. A.A. [Beeinträchtigung der Menschenwürde] Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 91 f. 43 Hierbei handelt es sich um ein aus Art. 1 Abs. 1 GG sowie der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) konstituiertes eigenständiges Grundrecht: BVerfGE 79, 256 (268); 99, 185 (193); 101, 361 (380); Sachs/Murswiek, GG (2007), Art. 2 Rdnrn. 62 f.; von Mangoldt/Klein/Starck/Starck, GG I (2005), Art. 2 Rdnr. 15. 44 Vgl. BVerfGE 59, 360 (388); Dreier/Dreier, GG III (2008), Vorb. Rdnrn. 112 ff.; von Mangoldt/Klein/Starck/Starck, GG I (2005), Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 210. A.A. [eine Grundrechtsmündigkeit ablehnend] Jarass/Pieroth/Jarass, GG (2007), Art. 19 Rdnr. 13. 45 Vgl. in der Sache Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 127) bzw. Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 73 f. 46 Dazu: Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 7; Rizvi et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 13 ff. (S. 14). 47 Bspw. bei Krankheit oder körperlicher Schwäche: Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 706 m.w.N.); vgl. Spiegel, Was ist koscher? (2007), S. 39. 48 Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 41 – zum Judentum, S. 73 – zum Islam.
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körperlich sichtbaren Zeichens der Glaubenszugehörigkeit könnte mit anderen Worten ohne weiteres dem Minderjährigen vorbehalten werden. Da dem Minderjährigen eben diese Option ohne zwingenden Grund genommen wird, betrifft die Knabenbeschneidung neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausformung des Rechts auf Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Aus alledem ergibt sich die Notwendigkeit, das Recht auf religiöse Kindererziehung aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG auf Seiten der Eltern mit dem Grundrecht des zirkumzedierten Minderjährigen auf körperliche Integrität (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 1 GG) sowie auf Wahrung seiner Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG miteinander abzuwägen. II. Abwägung der betroffenen Rechtsinteressen In seiner Rechtsprechung hat das BVerfG dem Grundrecht der Religionsfreiheit einen umfassenden Anwendungs- und Geltungsbereich zuerkannt.49 Neben dem oben angesprochenen Umstand, anstelle verbindlicher Vorgaben etwaiger Religionsgemeinschaften grundsätzlich das subjektive Selbstverständnis des Handelnden als hinreichenden Nachweis der Religionsgeleitetheit einer Verhaltensweise gelten und somit am Grundrechtsschutz aus Art. 4 GG teilnehmen zu lassen, ist insbesondere an das sog. Schächturteil zu erinnern, in welchem das BVerfG die religiös ACHTUNGREmotivierte Tötung warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung als einen Akt der freien Religionsausübung über das grundgesetzlich gespeiste (Art. 20a GG)50 und im ACHTUNGRETierSchG konkretisierte Tierschutzgebot prävalieren ließ.51 Dem Gericht zufolge sei eine für das Schächten warmblütiger Tiere erforderliche Ausnahmegenehmigung gem. § 4a TierSchG auch dann zu erteilen, wenn nur eine partielle Ausrichtung innerhalb einer Glaubensgemeinschaft den Verzehr von Fleisch nicht geschächteter Tiere zwingend untersage. Entsprechend reiche es hin, „dass derjenige, der die Ausnahmegenehmigung nach § 4a Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 TierSchG zur Versorgung der Mitglieder einer Gemeinschaft benötigt, substantiiert und nachvollziehbar darlegt, dass nach deren gemeinsamer Glaubensüberzeugung [scil. derjenigen der Teilgemeinschaft] der Verzehr des Fleisches von Tieren zwingend eine betäubungslose Schlachtung
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Pieroth/Schlink, Grundrechte (2008), Rdnr. 512 sprechen in diesem Zusammenhang von einer „in jeder Hinsicht extensiven Interpretation“; s. Jarass/Pieroth/Jarass, GG (2007), Art. 4 Rdnr. 7. 50 Der Tierschutz hat Verfassungsrang: BVerwGE 112, 227 (232); von Mangoldt/Klein/ Starck/Epiney, GG II (2005), Art. 20a Rdnr. 19; Epping/Hillgruber/Germann, BeckOK-GG (2008), Art. 4 Rdnr. 52. Wenngleich das GG den Tierschutz als solchen nicht inhaltlich gewährleistet: Erbs/Kohlhaas/Ambs/Metzger, Strafrechtliche Nebengesetze IV (2008), T 95 (Tierschutzgesetz), Vorbemerkung zu § 1 Rdnr. 6 – umstr. (s. dazu Kästner, JZ 2002, S. 491 ff. [S. 493 m.w.N.]). 51 BVerfGE 104, 337.
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A oraussetzt“52. Der rechtlich gewährleistete Tierschutz hat also hinter einer umfasCHTUNGREv senden Religionsausübungsfreiheit zurückzustehen. Nun siedeln rituelle Schächtungen von Tieren und religiös motivierte Körperverletzungen von Menschen allerdings nicht nur auf kaum miteinander verwandten ACHTUNGREEbenen, auch kennt das TierSchG in Anbetracht der vorgesehenen Ausnahmegenehmigung gem. § 4a TierSchG von vornherein keinen vollumfänglichen Schutz im Gegensatz zur prinzipiell umfassenden grundrechtlichen Gewährleistung der körperlichen Integrität.53 Eine Direktive für das Maß an rechtlicher Beachtlichkeit der Religionsfreiheit im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der Knabenbeschneidung kann der genannten Rechtsprechung daher kaum entnommen werden. Stichhaltigere Indizien für die angemessene Gewichtung des elterlichen ReligionsACHTUNGREausübungsrechts im Verhältnis zu den durch die Beschneidung tangierten Kindesrechten können demgegenüber aus den in Rechtsprechung und Lehre viel diskutierten Sachverhalten gewonnen werden, in denen medizinisch notwendige Bluttransfusionen entgegen der religiös motivierten Einwilligungsverweigerung des Patienten bzw. dessen gesetzlichen Vertreters vorgenommen wurden (sog. Zeugen-Jehovas-Fälle). Gleichsam unter umgekehrten Vorzeichen zielten dort zwingende Glaubensgründe auf eine medizinisch nicht anempfohlene Verhaltensweise, die in der Ablehnung – und nicht etwa in der Vornahme – eines operativen Eingriffs bestand. Im Falle der verweigerten Bluttransfusion wird bereits im Ausgang angezweifelt, ob der Gläubige für seine eigene Person eine medizinisch notwendige Transfusion rechtlich wirksam ablehnen kann. Während das BVerfG in einer den Zeugen-Jehovas-Fällen vergleichbaren Konstellation im Jahr 1971 noch sehr weitgehend entschied, dass einem Ehemann keine unterlassene Hilfeleistung gem. § 330c a.F. resp. § 323c n.F. StGB vorzuwerfen sei, wenn er es aufgrund der von ihm mit seiner Frau geteilten Glaubensüberzeugung mit tödlichen Folgen unterlässt, seine schwerkranke Frau in ein Krankenhaus einzuliefern,54 stellte es 2002 die Verfassungsmäßigkeit einer amtsgerichtlichen Anordnung fest, die darauf zielte, einer Patientin, die aus Glaubensgründen einer Bluttransfusion widersprochen hatte, einen Betreuer zur Seite zu stellen, damit dieser an ihrer statt in den abgelehnten Heileingriff einwilli52 BVerfGE 104, 337 (354 f.). Ebenso BVerwGE 112, 227 (236). Anders noch BVerwGE 99, 1 (9), indem es auf die gesamte Glaubensgemeinschaft abstellte, die kein solches Verbot statuierte. Krit. angesichts des Wortlauts des § 4a TierSchG bei Kästner, JZ 2002, S. 491 ff. (S. 495). 53 Zudem unterliegt der Tierschutz ohnehin bereits weitgehenden Durchbrechungen wie etwa durch das Jagdrecht: So Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 318); die Beschränkung des Tierschutzes insbes. durch die Glaubensfreiheit betont Jarass/Pieroth/Jarass, GG (2007), Art. 20a Rdnr. 16. 54 BVerfGE 32, 98 (107 ff.); inhaltsgleich entschied das OLG Hamm, NJW 1968, 212 in einem vergleichbaren Fall, bei dem der Vater eines Kindes den infolge einer, durch Auflösung der roten Blutkörperchen entstandenen, schweren Gelbsucht erforderlichen Blutaustausch verweigerte (a.a.O., 213); vgl. LG Mannheim, NJW 1990, 2212 (2212); zust. Fischer, StGB (2008), § 323c Rdnr. 7.
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ge.55 Anders als im ersten Fall sollte nunmehr die religiös motivierte persönliche Verweigerung lebensrettender Maßnahmen keine rechtliche Beachtsamkeit erlangen. Zur Begründung werden zwei Argumentationslinien vertreten. In tatsächlicher Hinsicht wird angezweifelt, ob der in der Regel weit vor dem medizinischen Ernstfall erklärte Verzicht eine aktuell zu bewältigende (Lebens-)Gefahrsituation tatsächlich umfasst; es seien durchaus Zweifel angebracht, „ob die [Patientin] auch in Kenntnis der bei ihr inzwischen eingetretenen Lebensgefahr weiterhin ihre Ablehnung zu derartigen lebenserhaltenden Maßnahmen aufrechterhält“56. Und in rechtlicher Hinsicht, was für den vorliegenden Problemzusammenhang wegweisend ist, wird auf die Schranken verwiesen, denen die Religionsausübungsfreiheit unterliegt. So sollen neben dem Lebensrecht des Patienten57 u. a. der Schutz der Familie gem. Art. 6 Abs. 1 GG sowie die Wahrung des Kindeswohls (Art. 6 Abs. 2 GG – die Schutzpflicht des Staates gebiete, das Leben der Eltern im Interesse des Kindes zu schützen) als verfassungsimmanente Schranken das Recht des Patienten auf Religionsausübung gem. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG überwiegen.58 Einige Stellungnahmen gehen gar soweit, das Grundrecht des gläubigen Patienten gänzlich den Rechts- und Berufspflichten des Arztes unterzuordnen: Das ärztliche Berufsethos sei dem Bemühen um Heilung und Behandlung von Kranken verpflichtet und dürfe nicht bar jeden ärztlichen Gewissens der Verfügungsgewalt des Patienten preisgegeben werden.59 Das in der Menschenwürde des Arztes wurzelnde Gewissen verbiete dem Arzt, ein rettbares Leben erlöschen zu lassen.60 Patienten, die Bluttransfusionen aus religiösen Gründen ableh55 BVerfG, NJW 2002, 206; zust.: Ohler/Weiß, NJW 2002, S. 194 ff. (S. 195); abl.: Hessler, MedR 2003, S. 13 ff. (S. 15 – „eine konkrete Prüfung der Sachlage durch das Vormundschaftsgericht [hätte] ergeben, dass für ,Zweifel kein Raum bestand“). 56 BVerfGE, NJW 2002, 206 (207). Ferner: OLG München, NJW-RR 2002, 811 (812 f.); Ulsenheimer, FS Eser (2005), S. 1125 ff. (S. 1230); vgl. Bender, MedR 1999, S. 260 ff. (S. 262). Zu einer unbeachtlichen „protestatio facto contraria“ erklärt Spickhoff, NJW 2003, S. 1701 ff. (S. 1709) die ablehnende Patientenentscheidung, da kein Arzt vorbehaltlos versprechen könne, ohne Frischblut auszukommen, was der Patient auch wisse; entscheide er sich gleichwohl zur Durchführung einer Operation, inkludiere dieses Einverständnis denklogisch die Transfusion ggf. erforderlichen Frischblutes. 57 Es ist fragwürdig, ob Lebensschutz entgegen dem Selbstbestimmungsrecht des Rechtsgutsträgers möglich ist: Zust. Pieroth/Schlink, Grundrechte (2008), Rdnr. 392; abl. von Mangoldt/Klein/Starck/Starck, GG I (2005), Art. 2 Rdnr. 192; Schutz zumindest über Art. 2 Abs. 1 GG Jarass/Pieroth/Jarass, GG (2007), Art. 2 Rdnr. 100; Dreier/Schulze-Fielitz, GG I (2004), Art. 2 II Rdnr. 32 m.w.N. 58 BVerfG, NJW 2002, 206 (207); zust.: Ohler/Weiß, NJW 2002, S. 194 ff. (S. 195); abl.: Hessler, MedR 2003, S. 13 ff. (S. 17 – „Ehegatten oder auch Kinder können aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG unmittelbar keine widerstreitenden Rechte oder Pflichten herleiten“). BGH, JZ 2003, 732 (734) will die Ablehnung der Weiterbehandlung mit tödlichen Folgen rechtlich nur anerkennen, wenn ein ohnehin irreversibel tödlicher Verlauf angenommen werden kann. 59 OLG München, NJW-RR 2002, 811 (812); abl.: Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 223 Rdnr. 38, da die Berufspflichten des Arztes gerade unter Berücksichtigung des Patientenwillens zu bestimmen seien. 60 So Ulsenheimer, FS Eser (2005), S. 1225 ff. (S. 1242); diff.: Bender, MedR 1999, S. 260 ff. (S. 263): Sofern es dem Arzt möglich gewesen ist, den Eingriff abzulehnen, dürfe er
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nen, könnten bzw. müssten sich entsprechend an Ärzte wenden, die vorbehaltlos dem Glaubensimperativ ihrer Patienten folgen.61 Die geltendgemachten Bedenken an der Wirksamkeit des Verzichts auf medizinisch notwendige Behandlungen zu Lasten der eigenen Person, verstärken sich zu der weitgehenden Einigkeit, den entsprechenden Verzicht „stellvertretend“ zu Lasten Dritter niemals von der Religionsausübungsfreiheit des grundsätzlich Vertretungsbefugten umfasst anzusehen. In einer Sentenz zusammengefasst: Die Verweigerung der elterlichen Zustimmung zu einem für die Erhaltung des Lebens oder der körperlichen Integrität ihres Kindes indizierten ärztlichen Eingriffs ist niemals Bestandteil des elterlichen Sorgerechts – und zwar auch dann nicht, wenn die Weigerung aus religiösen Gründen erfolgt. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG findet seine verfassungsimmanente Grenze an den Grundrechten des Kindes auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG.62 Der Schutz elterlicher Religionsausübung endet unmissverständlich dort, wo ein Handeln bzw. Unterlassen ohne zwingenden Grund zu einer unmittelbaren Läsion der Integritätsinteressen des Kindes führt.63 Verbieten den Eltern ihre Glaubensüberzeugungen gleichwohl die Zustimmung zur Vornahme rechtsguterhaltender Eingriffe, so ist ihnen zumutbar, die Entscheidungsverantwortung anderen Personen zu überlassen, um so den eigenen inneren Konflikt zu vermeiden, anstatt diesen zu Lasten ihres Kindes aufzulösen.64 Der Grundsatz der praktischen Konkordanz fordert, bei einer Grundrechtskollision nicht bloß eine der widerstreitenden Rechtspositionen zu bevorzugen und maximal zu behaupten, sondern alle Positionen einem möglichst schonenden Ausgleich zuzuführen.65 Ist den gläubigen Eltern also die Delegation ihrer Verantwortung auf einen Dritten, wie etwa dem behandelnden Arzt, möglich, können sie die Erteilung der Einwilligung in medizinisch
bei Übernahme der Operation selbst dann keine Bluttransfusion applizieren, wenn diese entgegen seiner präoperativen Auffassung intraoperativ nun doch notwendig werde. 61 OLG München, NJW-RR 2002, 811 (812); vgl. Spickhoff, NJW 2003, S. 1701 ff. (S. 1709). 62 OLG Hamm, NJW 1968, 213 (214); OLG Celle, NJW 1995, 792 (793); dezidiert: Bender, MedR 1999, S. 260 ff. (S. 265); Bender, MedR 2000, S. 422 f. (S. 423); Sachs/Kokott, GG (2007), Art. 4 Rdnr. 66; Rebmann/Säcker/Rixecker/Olzen, MünchKomm-BGB VIII (2008), § 1666 Rdnr. 77; s. auch den diff. Hinweis von Hessler/Glockentin, MedR 2000, S. 419 ff., eine „Gefährdung des Kindeswohls ist aber durch eine verweigerte Zustimmung zu einer Bluttransfusion nicht automatisch gegeben, wenn den Eltern bewußt die Möglichkeit genommen wird, eine Behandlungsalternative zu Bluttransfusionen vorzuschlagen“ (a.a.O., S. 419). 63 Neben den Nachweisen in vorgenannter Fußn.: Ebert, JuS 1976, S. 319 ff. (S. 320); Oelkers/Kraeft, FuR 1997, S. 161 ff. (S. 164). 64 BVerwG, NVwZ 1998, 853 (857): „Ein Gewissenskonflikt ist dann unvermeidbar, wenn der Betroffene zuvor vergeblich alles konkret Mögliche und Zumutbare getan hat, um diesen zu vermeiden“ (bestätigt durch BVerfG, NVwZ 2000, 909; krit. Caspar, NVwZ 1998, S. 814 ff. [S. 816]); Pieroth/Schlink, Grundrechte (2008), Rdnr. 531. 65 Grdl. BVerfGE 93, 1 (21) in der sog. Kruzifix-Entscheidung; vgl. BVerfGE 28, 243 (260 f.); 41, 29 (50); 52, 223 (247, 251); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts (1995), Rdnr. 72.
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notwendige Eingriffe nicht unter Berufung auf Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG zu Lasten ihres Kindes verweigern. Ist im Falle der beabsichtigten Verweigerung notwendiger ärztlicher Eingriffe den Kindeseltern zuzumuten, ihre Zustimmungsverantwortung an einen nicht betroffenen Dritten zu delegieren, anstatt ihre religiösen Vorstellungen zu Lasten ihres Kindes zu verwirklichen, so gilt bei der anvisierten Erteilung der Einwilligung in einen medizinisch nicht sinnvollen Körpereingriff, dass ein solches Verhalten ebenso wenig vom Grundrecht auf Religionsausübungsfreiheit umfasst sein kann.66 Die Initiierung ärztlich nicht sinnvoller Maßnahmen, sei es durch Verweigerung oder Erteilung entsprechender Zustimmungen, ist nicht vom Recht auf religiöse Kindererziehung umfasst. In Abweichung zu den Vertretern einer rein objektiven Bestimmung des Inhalts des „Kindeswohls“ gelangt die hier vertretene Ansicht des Kindeswohls als Leitmaxime elterlicher Erziehungsautonomie, wenn es die medizinische Sinnhaftigkeit eines Verhaltens zu bestimmen gilt, allerdings zu einer wesentlichen Nuancierung zwischen der verweigerten Zustimmung auf der einen sowie deren Erteilung auf der anderen Seite. In den Fällen der Zustimmungsverweigerung sind medizinische Vernünftigkeit und ärztliche Indikation eines Körpereingriffs noch gleichbedeutende Synonyme. D.h., aus medizinischer Sicht unvernünftig ist allein die Verweigerung einer ärztlich indizierten Behandlung. Umgekehrt gilt diese Gleichsetzung jedoch nicht. In Fällen der Zustimmungserteilung muss der Eingriff nicht erst ärztlich unumgänglich sein, damit dessen Vornahme medizinisch sinnvoll ist, und Eltern in diesen wirksam für ihr minderjähriges Kind einwilligen können. Namentlich die bereits angesprochene elterliche Fremdeinwilligung in die Blutspende seitens ihres Kindes zählt zu den aus medizinischer Sicht zwar nicht notwendigen, aber durchaus sinnvollen Körpereingriffen. Die Erteilung der Einwilligung in, mit Bezug auf das Integritätsinteresse des Kindes, ärztlich nicht notwendige Maßnahmen ist also nicht per se medizinisch unvernünftig. Mit anderen Worten: Das „Kindeswohl“ steht der Erklärung der elterlichen Einwilligung nicht schon darum entgegen, weil der fragliche Körpereingriff medizinisch nicht indiziert wäre. Welche Kriterien indes im konkreten Einzelfall zuverlässig für die medizinische Vernünftigkeit eines nicht zwingend erforderlichen Körpereingriffs und damit für die Kindeswohlkonformität sprechen, mag mitunter schwierig zu bestimmen sein. Wie verhält es sich z. B. mit der operativen Korrektur physisch nicht nachteiliger Eigenschaften (bspw. dem Anlegen sog. Segelohren)? Weniger Schwierigkeiten bereitet da schon die negative Feststellung, wann einer Maßnahme die medizinische Sinnhaftigkeit fehlt. Eingriffe, die weder dem körperlichen Zustand des Betroffenen selbst noch 66 A.A. Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. (S. 1128), der jedoch das betroffene Kindesgrundrecht auf körperliche Integrität dadurch vernachlässigt, indem er maßgeblich betont, den Eltern sei mit dem Eingriff schließlich um die Begründung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion gelegen. Joecks, StGB (2009), § 224 Rdnr. 22a argumentiert, wegen der Vergleichbarkeit von Taufe und Beschneidung bzgl. ihres religiösen Bedeutungsgehaltes, „spricht viel dafür, das elterliche Sorgerecht im Lichte des Art. 4 GG auszulegen“.
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Teil 3: Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung
dem eines Dritten67 zugutekommen, sind medizinisch a limine ohne Sinn. Denn der Sinn ärztlicher Eingriffe in die Körperintegrität gründet primär auf der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit;68 Maßnahmen, die keine gesundheitlichen Verbesserungen unmittel- oder mittelbar bewirken, sind (zumindest) aus medizinischer Sicht nicht angebracht. Maßnahmen, die keine gesundheitsfördernde Wirkung für den Betroffenen oder wenigstens einen Dritten erbringen, sind medizinisch unvernünftig. Sie stünden darum zugleich im Widerspruch zum Kindeswohl, so dass die Erteilung der Einwilligung zu derartigen Köpereingriffen a priori aus dem Kompetenzbereich der elterlichen Bestimmungsbefugnisse auszuscheiden hat. Für die rituelle Knabenbeschneidung folgt hieraus: Da mit dem Beschneidungseingriff keine Verbesserung des aktualen gesundheitlichen Zustandes verbunden ist, sondern allenfalls Vorteile ungewiss präventiver oder hygienischer Art,69 fehlt dem Eingriff ein spezifisch medizinischer Sinnbezug. Der Eingriff basiert nicht auf medizinischer Vernunft. Fehlt der Knabenbeschneidung aber der medizinische Sinn, so sind die Eltern nicht berechtigt, in dessen Vornahme zu Lasten ihres Kindes einzuwilligen. Die Leitmaxime des Kindeswohls, unter der das elterliche Recht auf religiöse Kindererziehung gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG steht, verwehrt den Eltern, ihre persönlichen Glaubensvorstellungen in Form der medizinisch nicht sinnvollen Genitalbeschneidung gegen ihr minderjähriges Kind zu verwirklichen.70 Die Eltern sind demgemäß nicht berechtigt, in die rituelle Beschneidung ihres minderjährigen Kindes einzuwilligen. Kein anderer Befund ergibt sich unter besonderer Berücksichtigung des vorwiegend regulativen Gewichts des Kindeswohls für ein Elternrecht, welches nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das Erziehungsverhältnis grundsätzlich zu einem geschlosse-
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Die Zuerkennung medizinischer Sinnhaftigkeit auch bei einem Drittbezug wird anschaulich anhand der Gesetzesberatungen zum „Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens“ (BGBl. I 1998, S. 1752), in welchen erörtert wurde, ob nicht auch gar Jugendliche selbst wirksam über eine Transfusion zugunsten Dritter sollen entscheiden dürfen: Deutsch, NJW 1998, S. 3377 ff. (S. 3380). 68 Vgl. die „Genfer Deklaration des Weltärztebundes“ vom September 1948 in der Revidierung von 2006 als moderne Form des Eides des Hippokrates: „Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein“. 69 Vgl. neben den oben in der Einleitung angeführten ausführlichen Nachweisen insofern Stehr/Putzke/Dietz, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A 1778 ff. (S. A 1779 f.); vgl. auch Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 334). Gleichwohl bemüht Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 135 ff.) für die Wirksamkeit der elterlichen Einwilligung jene „[k]urativ- und präventivmedizinische[n] Vorteile sowie sonstige Vorteile und Risiken“ (a.a.O., S. 135) – abl.: Herzberg, ZIS 2010, S. 471 ff. (S. 473). 70 A.A. Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. (S. 1126), nach dessen Meinung ist es dem „Staat prinzipiell verwehrt, den Glauben und das glaubensgeleitete Verhalten einer Religionsgemeinschaft inhaltlich zu bewerten, soweit nicht – was in concreto mit Blick auf die religiöse Beschneidung zu verneinen ist – die Rechtsordnung fundamental in Frage gestellt wird“ (a.a.O., S. 1129) – s. dazu abl. Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 333, passim).
C. Elterliches Erziehungsinteresse und Interessensphäre des Kindes 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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nen, gegen den Staat abgeschirmten Autonomie- und Lebensbereich71 erklärt. Denn als Eingriff in die körperliche Integrität des Kindes ist die Knabenbeschneidung nicht nur vom Religionsausübungsgrundrecht der Eltern ausgeschlossen, sondern impliziert, wie oben bereits ausgeführt, zugleich einen starken Bezug auf die Menschenwürde des Minderjährigen (Art. 1 Abs. 1 GG), indem sie immer auch notwendig das Selbstbestimmungsrecht des Minderjährigen i.S.d. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG tangiert. Gerade dieser mit dem Selbstbestimmungsrecht betroffene Menschenwürdeaspekt aktualisiert nun seinerseits das Wächteramt, welches den Staat „ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet“72, sowie die in S. 2 des Art. 6 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich gezogene Grenze der elterlichen Erziehungsautonomie73. Auch aufgrund seines Menschenwürdebezugs ist der Beschneidungseingriff daher kein tauglicher Gegenstand der Erziehungsfreiheit und somit nicht vom elterlichen Einwilligungsrecht gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG umfasst.74 Bestätigung findet dieser Befund in der grundsätzlichen Anerkennung eines Vetorechts minderjähriger Patienten gegenüber elterlichen Einwilligungen in nur relativ indizierte medizinische Eingriffe (bspw. riskante orthopädische Korrekturen mit ungewissen Erfolgsaussichten).75 Obgleich die Zustimmungsbefugnis zu ärztlichen Eingriffen bis zu dem Zeitpunkt in die Entscheidungszuständigkeit des gesetzlichen Vertreters fällt, in welchem der Minderjährige noch nicht vollständig über die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügt, wird Minderjährigen bereits dann „ein Vetorecht gegen die Fremdbestimmung durch die gesetzlichen Vertreter zuzubilligen sein, wenn sie über eine ausreichende Urteilsfähigkeit verfügen“76, so der BGH. In diesem Sinne verpflichtet § 1626 Abs. 2 S. 2 BGB die Eltern, ihr Kind so früh und so weit wie möglich an allen auf seine Person bezogenen Entscheidungen zu beteiligen, um dem wachsenden Selbstbestimmungsrecht des Kindes Rechnung zu tragen.77 Hieraus folgt, dass Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG den Eltern verwehrt, der beständig wachsenden Einsichts- und Urteilsfähigkeit ihres Kindes gleichsam durch die Schaf71 BVerwGE 91, 130 (134); vgl. BVerfGE 6, 55 (71); 30, 59 (67); 80 (81) (92); Scholz/Uhle, NJW 2001, S. 393 ff. (S. 396). 72 BVerfGE 88, 203 (251); s. ferner BVerfGE 1, 97 (104); 48, 121 (133); 107, 275 (284); Jarass/Pieroth/Jarass, GG (2007), Art. 1 Rdnr. 14. Auf diesen Aspekt verweist auch Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 319). 73 BVerfGE 24, 119 (144); 99, 145 (156). 74 A.A. unter ausschließlicher Berücksichtigung wenig überzeugender präventivmedizinischer Aspekte (s. dazu oben in der Einleitung) Fateh-Moghadam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 135 ff.). 75 BGH, NJW 2007, 217 (218); umfassend: Amelung, Vetorechte (1995), S. 20 ff. (insbes. S. 24 f. u. 27 ff.). 76 BGH, NJW 2007, 217 (218) – Hervorhebung durch den Autor: T.E. 77 Rebmann/Säcker/Rixecker/Huber, MünchKomm-BGB VIII (2008), § 1626 Rdnr. 63 m.w.N.; s. zur Verfassungsmäßigkeit angesichts der elterlichen Erziehungspriorität a.a.O., Rdnr. 63 m.w.N. und Verweis auf BVerfGE 24, 119 (144); BGH, NJW 1974, 1947 (1949); s. Kölch/Fegert, FPR 2007, S. 76 ff. (S. 76).
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Teil 3: Rechtfertigung kraft elterlicher Einwilligung
fung ,vollendeter Tatsachen solcher Art vorauszugreifen, über deren Vollendung ohne Nachteile auch erst entschieden werden könnte, wenn das betroffene Kind selbst die nötige Einsichts- und Urteilsfähigkeit erlangt hat. Ist die fragliche Maßnahme umstandslos aufschiebbar, sollte sie dem Verantwortungsbereich des sich entwickelnden Kindes vorbehalten bleiben. Insofern ist das Argument von Schwarz, die Beschneidung u. a. darum vom elterlichen Erziehungsrecht umfasst anzusehen, weil die Eltern durch den Eingriff „die Voraussetzungen für eine dauerhafte Mitgliedschaft [in einer bestimmten Religionsgemeinschaft] schaffen“78, beredtes Zeugnis für die Gefahr der Vereitelung des Selbstbestimmungsrechts des Minderjährigen, indem der Ausübung des beständig wachsenden freien Willens ohne zwingenden Grund vorgegriffen und ein gegenwärtig noch Einwilligungsunfähiger zum Gegenstand eines fremden Zwecks wird.79 Dies widerspricht der Leitmaxime der Erziehung, Kinder zu mündigen und selbstentscheidungsfähigen Persönlichkeiten heranzubilden,80 da die obligate Förderung von Entscheidungsfähigkeit nicht vereinbar ist mit der unnötigen Minderung von Entscheidungsoptionen. Und da die Knabenbeschneidung nun weder im Judentum noch im Islam zu einem konstitutiven Akt für die Glaubenszugehörigkeit zählt, und überdies nicht einmal zwingend unmittelbar nach der Geburt vorgenommen werden muss,81 kann sie ohne weiteres aufgeschoben werden. Sie gleichwohl zu vollziehen, ist ein vermeidbarer Vor- bzw. Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Kindes. Auch deshalb scheidet die Beschneidung aus dem Bereich elterlicher Erziehungsautonomie aus.82
D. Ergebnis Die Abwägung der durch die Beschneidung betroffenen Rechte führt zum Überwiegen der Kindesrechte über das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung. Zum einen legitimiert Art. 6 Abs. 2 GG die Eltern nicht zur Einwilligung in Maßnahmen, die bedenkenlos aufgeschoben und daher der fortlaufend anwachsenden Selbstbestimmungsfähigkeit des minderjährigen Kindes vorbehalten bleiben könnten. Der durch das Grundrecht des Kindes auf Selbstbestimmung betroffene Men78 Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. (S. 1128) – Hervorhebung durch den Autor: T.E. (Zum Ausdruck gebracht werden soll damit wohl, dass die Eltern das Kind nicht „schädigen“ wollen, denn die Beschneidung ist kein glaubenszugehörigkeitskonstitutiver Akt – s. statt aller JeACHTUNGRErouACHTUNGREschek, NStZ 2008, S. 313 ff. [S. 314]). 79 Amelung, Vetorechte (1995), S. 22; Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 319); vgl. Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 336 u. 339). 80 Vgl. BVerfGE 24, 119 (144); 79, 51 (63 f.); Dreier/Gröschner, GG I (2004), Art. 6 Rdnrn. 78 u. 80. 81 Neben den o.g. Nachweisen zum Judentum: Glass, BJU 83 (1999), S. 17 ff. (S. 17 f.); zum Islam: Rizvi et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 13 ff. (S. 13 u. 14); s. insges. Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 708). 82 Wie dieser Befund mit den Wertungen einer Sozialadäquanzlehre in Einklang zu bringen ist, wird an späterer Stelle zu erörtern sein: Teil 4 A. III. 2. „Die strafrechtliche SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre im Gefüge der Gesamtrechtsordnung“.
D. Ergebnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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schenwürdebezug aktualisiert den staatlichen Wächtervorbehalt gem. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, durch welchen die elterliche Erziehungsautonomie begrenzt ist. Zum anderen berechtigt das Grundrecht auf Religionsausübungsfreiheit, welches das elterliche Erziehungsrecht hin zum Grundrecht auf religiöse Kindererziehung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG) verstärkt, nicht zur Einwilligung in die Vornahme von Maßnahmen, die medizinisch nicht sinnvoll – also nicht unmittelbar oder mittelbar gesundheitsförderlich (ggf. auch zu Gunsten eines Dritten wie bspw. bei Bluttransfusionen) – sind. So wie es den Eltern aufgrund ihrer Kindeswohlverpflichtung verwehrt ist, notwendige Behandlungsmaßnahmen zu Lasten ihrer Kinder aus Glaubensgründen zu verweigern, so umfasst ihr Grundrecht auf religiöse Kindererziehung ebenso wenig die Erteilung der Einwilligung in ärztlich nicht sinnhafte Körpereingriffe. Dieser, durch die Abwägung der betroffenen Rechte begründete Widerspruch der elterlichen Einwilligung in Bezug auf das Wohl des Kindes, macht die Abwägung der empirischen Folgen des Eingriffs entbehrlich. Ohnedies steht ernsthaft zu bezweifeln, inwiefern die tatsächlichen Abwägungsgesichtspunkte geeignet wären, angesichts erheblicher Komplikationsrisiken83 im Verhältnis zu den mit der Knabenbeschneidung einhergehenden geringen Vorteilen präventiver bzw. hygienischer Art, den rechtlichen Widerspruch der Beschneidung zum Kindeswohl überhaupt aufzuheben. Ist die Zirkumzision somit nicht von der Einwilligungsbefugnis des gesetzlichen Vertreters umfasst, kann einer etwaig erteilten Einwilligung keine rechtfertigende Wirkung zukommen. Ist die Zirkumzision aber durch keine wirksame elterliche Einwilligung gerechtfertigt, verbleibt es bei der durch die Tatbestandserfüllung indizierten Rechtswidrigkeit der Beschneidung. In Parenthese sei zuletzt zweierlei angemerkt: Die mit dem hier vertretenen Kindeswohlverständnis erfolgte Abwägung der durch die Knabenbeschneidung betroffenen Grundrechte macht die Frage nach der Rechtfertigung des Eingriffs durch die etwaige Anwendung elterlicher Grundrechte mit unmittelbarer Wirkung im ACHTUNGREStrafrecht überflüssig. Zweitens wäre es redundant, nunmehr den Fokus im Rahmen der Abwägungsentscheidung vom Kindeswohl auf ein ,Elternwohl richten zu wollen, wie es Herzberg tut,84 denn auch hier gilt unverändert, dass körperlicher Eingriffe nicht durch das elterliche Recht auf religiöse Kindererziehung rechtfertigbar sind – wie Herzberg in seinem Aufsatz selbst feststellt. Mithin verbleibt zu klären, inwiefern es sich bei der Zirkumzision um ein Verhalten handelt, das aufgrund seiner sozialen Adäquanz dem Strafbarkeitsverdikt zu entziehen ist.
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Infektionen, Transplantationserfordernisse (vgl. LG Frankenthal, MedR 2005, 243), Amputationen, Harnverhaltung, Sepsis etc.: Übersicht bei Goodmann, BJU 83 (1999], Suppl. 1, S. 22 ff. (S. 23]. 84 Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 336 ff.).
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Teil 4
Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung? A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz Die Unsicherheit in der Behandlung der Sozialadäquanz […] ist ein Seismograph, der die verborgenen Unruheherde in unserer Dogmatik anzeigt.1
Die Entwicklung der Lehre von der Sozialadäquanz als eigenständige strafrechtsdogmatische Figur wird einhellig Welzel zugeschrieben.2 In seinen „Studien zum System des Strafrecht“ (1939) apostrophierte Welzel, angesichts des fragmentarischen Charakters des Strafrechts, eine der bloßen Beschauung gewidmete Museumswelt „wollte das Recht ernsthaft alle Rechtsgutverletzungen als objektives Unrecht verbieten“3 ; „Museumswelt“ darum, weil durch eine derartige Sicht die Notwendigkeit jedweden sozial-tätigen Lebens verleugnet werde, Rechtsgüter einsetzen und unter Umständen auch verbrauchen zu müssen. Eine auf die Interaktion ihrer Mitglieder angelegte Gesellschaft habe zwangsläufig gewisse, aus dem sozialen Verkehr ACHTUNGREresultierende Beeinträchtigungen, Gefährdungen bzw. Verletzungen von Rechtsgütern – gleichsam als Interaktionskosten – hinzunehmen. Schon aus Gründen der Logik sei es unmöglich, zwei (oder mehr) jeweils vollumfänglich rechtlich abgesicherte Interessenssphären ohne deren gegenseitige Begrenzung zu denken. 1
Lange, ZStW 85 (1973), S. 86 ff. (S. 89 f.). Exempl. Dölling, ZStW 96 (1984), S. 36 ff. (S. 54); Eser, FS Roxin (2001), S. 199 ff. (S. 203); Greiser, NJW 1969, S. 1155 f. (S. 1156); Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 78); Meli, GA 142 (1995), S. 179 ff. (S. 181); Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 13; Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnr. 33 mit dem Hinweis auf Vorbereitungen durch andere Autoren (§ 7 Rdnr. 18). Krit. Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1777). Zu möglichen Vorläufern der Welzelschen Lehre s. bei Schaffstein, ZStW 72 (1960), S. 369 ff. (S. 369 mit Fußn. 2). Loos, JZ 2004, S. 1115 ff. (S. 1117) hält fest, dass Welzel die Sozialadäquanzlehre parallel zu Hellmuth Mayer entwickelt hat. Vgl. auch von Hippel, Strafrecht II (1930), S. 192, der darauf verweist, dass die Rechtsordnung darüber entscheide, was sozial bzw. antisozial sei, und eben dies im Wege der Rechtsauslegung aus Wesen und Zweck der Rechtsordnung zu gewinnen sei. In diesem Zusammenhang erklärt er bspw. das jüdische Schächten für einen sonstigen Fall rechtmäßigen Verhaltens, weil es in Deutschland stillschweigend geduldet werde (a.a.O., S. 269). 3 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 516) [Hervorhebung durch den Autor: T.E.] – ebd. auch zum nachfolgenden Argument. 2
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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Alle strafrechtlichen Vorschriften sind darum von vornherein auf die Auswahl und das Verbot solcher Verhaltensweisen beschränkt, die für ein geordnetes Zusammenleben unverträglich sind, so dass all diejenigen – selbst invasiven – Betätigungen aus dem Unrechtsbegriff auszuscheiden sind, die sich nicht als sozial bedeutsames Phänomen erweisen, weil sie „sich funktionell innerhalb der geschichtlich gewordenen Ordnung des Gemeinschaftslebens eines Volkes bewegen“4. Die (formelle) Tatbestandsmäßigkeit solcher Verhaltensweisen stünde dem nicht entgegen. Derartige Betätigungen bezeichnet Welzel als sozialadäquat. Als Definition der Sozialadäquanz führt er an: „Sozialadäquat sind alle Betätigungen, die sich innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens bewegen.“5
Gehört die rituelle Knabenbeschneidung womöglich zu eben diesen Betätigungen der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen? Aufmerksamkeit erregt insofern der Umstand, dass gerade bzgl. der Beschneidung immer ohne nähere Begründung entweder für deren Sozialadäquanz6 oder gegen deren Sozialadäquanz7 ACHTUNGREoptiert wird. Und von dieser Uneinigkeit zwischen den Vertretern einer Einstufung in die Sozialadäquanz abgesehen, ist unter den generellen Befürwortern einer SozialACHTUNGREadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre bereits allgemein umstritten, ob es sich bei der Welzelschen Rechtsfigur um einen (gewohnheitsrechtlichen) Rechtfertigungsgrund oder um ein Kriterium des Tatbestandsausschlusses handelt. Mit der Frage nach der sozialen Adäquanz der Zirkumzision scheint damit – um im Bilde des Eingangszitats dieses Abschnitts zu bleiben – ein doppelter Unruheherd ausgemacht, wobei die Vermutung nahe liegt, die Ursache bzgl. der divergierenden Zuordnungsentscheidungen in der Verwirrung um die Sozialadäquanzlehre auszumachen, d. h. die Unsicherheit hinsichtlich der rechtlichen Zuordnung der Beschneidung in der dogmatischen Undurchsichtigkeit der Sozialadäquanz selbst zu suchen. Wird doch die Inkonsistenz hinsichtlich des deliktssystematischen Standorts und damit die Uneinheitlichkeit bzgl. der Rechtsnatur der Sozialadäquanzlehre nicht zuletzt auch von deren geistigem Vater genährt, wenn Welzel in Abweichung seiner ursprüngli4
Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 516). Welzel, Strafrecht (1947), S. 35; ferner, mit marginalen Abweichungen: Welzel, Strafrecht (1949), S. 36; Welzel, Strafrecht (1954), S. 62; Welzel, Strafrecht (1960), S. 55 f. In den „Studien zum System des Strafrechts“ hieß es: „Sozialadäquate Handlungen sind alle Betätigungen, in denen sich das Gemeinschaftsleben nach seiner geschichtlich bedingten Ordnung jeweilig vollzieht“ (Welzel, ZStW 58 [1939], S. 491 ff. [S. 517]). 6 Für eine rechtfertigende Sozialadäquanz: Gropp, AT (2005), § 6 Rdnr. 231; für Tatbestandsausschluss: Fischer, StGB (2008), § 223 Rdnr. 6b unter Berufung auf die „wohl h.M.“. Allg. für Sozialadäquanz: Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen (2001), S. 194. 7 Wohl dem begrenzten redaktionellen Raum des Mediums geschuldet sind auf die Feststellung, dass Zirkumzision keinesfalls sozialadäquat sein könne, beschränkt: Fateh-MoghaACHTUNGREdam, RW 2010, S. 115 ff. (S. 122); Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 317); Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 680); Putzke, NJW 2008, S. 1568 ff. (S. 1569); Putzke, MedR 2008, S. 268 ff. (S. 269); Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 113. 5
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
chen Konzeption als Tatbestandsausschluss8 seine Lehre zwischenzeitlich deliktssystematisch hin zu den Rechtfertigungsgründen verschiebt. Unterstützt werden die Ungereimtheiten zusätzlich durch die dogmatische Begründung, die Welzel für den, zunächst allein aus allgemeinen Denkgesetzen abgeleiteten Mangel an Unrechtscharakter infolge der Sozialadäquanz einer zugefügten Rechtsgutseinbuße in seinem Kurzlehrbuch zum Allgemeinen Teil des deutschen Strafrechts im Jahr 1940 nachfolgen ließ. Argumentativer Ausgangspunkt dort ist, dass die Ermittlung des in den Straftatbeständen bloß typisierend umschriebenen Unrechts niemals ohne Bezugnahme auf die sittlichen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens erfolgen könne, und dass das Unrechtszeichen dementsprechend auch nur solchen Handlungen zukommen könne, die aus eben jenen sittlichen Ordnungen herausfielen.9 Die Tatbestände sowie die in ihnen verwendeten Begriffe „sind nicht in einem äußerlich-kausalen Sinne zu verstehen. Ihr Sinngehalt ergibt sich vielmehr erst aus ihrer Funktion im sozialen Ganzen, auf deren Ordnungen sie sich beziehen, indem sie aus ihnen herausfallen“10, so Welzel. Seine Argumentation rückt die Rechtsfigur der Sozialadäquanz an dieser Stelle in eine frappierende Nähe zu den methodischen Mitteln der Tatbestandsauslegung und gefährdet damit den eigenständigen Bedeutungsgehalt der Lehre in grundsätzlicher Art und Weise. Wird der Blick nunmehr auf die von Welzel ins Feld geführten Beispielsfälle sozialer Adäquanz gerichtet, so gerät gar das grundsätzliche Bedürfnis nach einer solchen Rechtsfigur in Zweifel. Der größte Teil der von Welzel zur Sozialadäquanz ins Feld geführten Fälle könnte durchaus über andere, anerkannte Rechtsfiguren gelöst werden.11 So ließe sich bspw. der Fall des Neffen, der den Erbonkel zu Bahnfahrten überredet, damit dieser bei einem Eisenbahnunglück ums Leben komme, bei tatsächlichem Eintritt des tödlichen Unglücks nach heutigem dogmatischen Stand nicht erst über ,Sozialadäquanzüberlegungen,12 sondern schon unproblematisch über die Figur der objektiven Zurechnung lösen – der Erfolg wäre dem Neffen mangels „Beherrschbarkeit“ des (tödlichen) Geschehensablaufs nicht zuzurechnen.13 Freilich ist hierzu zweierlei anzumerken. Zum einen konnte Welzel die Lösung über die „objektive Zurechnung“ zwangsläufig noch nicht wählen; sie ist Produkt eines dogmatischen Wandels, der sich erst nach Welzel (in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) in Ableh8 Welzel, AT (1940), S. 33: „völlige Tatbestandslosigkeit der Handlung wegen ihrer sozialen Adäquanz“. 9 Welzel, AT (1940), S. 33. 10 Welzel, AT (1940), S. 34 f. 11 Hierauf weisen zu Recht hin: Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960), S. 289; Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnrn. 38 ff.; Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 310 ff.). 12 So aber Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 517); Welzel, Strafrecht (1947), S. 35 f.; Welzel, Strafrecht (1949), S. 36 f. sowie Welzel, Strafrecht (1969), S. 56. 13 Vgl. Ebert, AT (2001), S. 48 f.; Kühl, AT (2005), § 4 Rdnrn. 76 ff. m.w.N.; argumentieren ließe sich auch, der Neffe habe hier kein unerlaubtes Risiko geschaffen: vgl. unten unter dem Titel „,Sozialadäquanz oder ,sozialadäquates Risiko?“ in diesem Teil.
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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nung einer am naturalistischen Kausaldenken orientierten Zurechnungslehre vollzogen hat. Zum anderen sind Beispielsfälle ohnedies tendenziell gehaltlos, da sie über die exemplarische Bedeutung hinaus keine Schlussfolgerung auf die grundsätzliche Relevanz des (eben bloß) partiell, weil beispielhaft beleuchteten Gegenstandes zulassen.14 Nichtsdestoweniger sind die Beispielsfälle umgekehrt beredtes Zeugnis augenscheinlich bestehender Schwierigkeit einer inhaltlichen Definition der SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre. Für die vorliegende Untersuchung folgt hieraus, einer substantiierten Stellungnahme zur Frage der sozialen Adäquanz der Zirkumzision zunächst Erörterungen über den Standort der Welzelschen Lehre innerhalb des Verbrechensaufbaus resp. dessen Rechtsnatur (unter I.) sowie sodann die an die Lehre zu stellenden inhaltlichen Anforderungen (unter II.) voranzuschicken. Erst dann wird in einem dritten Schritt substantiiert Antwort auf die Ausgangsfrage gegeben werden können, ob die rituelle Zirkumzision ein sozialadäquates Verhalten ist, das dem Körperverletzungsverdikt berechtigt entzogen werden kann. I. Zuordnung innerhalb des Deliktsaufbaus In allen elf Auflagen seines Lehrbuchs zum „Deutschen Strafrecht“ findet die ,Kernformel der Sozialadäquanz Erwähnung. Wie bereits angeklungen, hat Welzel deren deliktssystematische Zuordnung jedoch zwischenzeitlich, d. h. von der 4. Auflage (1954) bis zur 8. Auflage (1963), verlagert. Während er noch in den ersten Auflagen argumentiert, sozialadäquate Handlungen „unterfallen niemals Deliktstatbeständen, auch wenn man sie dem Wortlaut nach einem Tatbestand subsumieren könnte“15, loziert er die Sozialadäquanz ab der 4. Auflage – als einen in der sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens wurzelnden (gewohnheitsrechtlichen) Rechtfertigungsgrund – auf der Rechtswidrigkeitsebene,16 um schlussendlich wieder zur ursprünglichen Verortung auf Tatbestandebene17 zurückzukehren. Abgesehen von den irrtumsdogmatischen Schwierigkeiten, die eine Verortung der Sozialadäquanzlehre auf Tatbestandsebene nach sich zieht,18 dürfte dieser temporäre 14 Zum ersteren Gesichtspunkt s. Roxin, AT I (2006), § 11 Rdnr. 46; bzgl. des zweiten Arguments Meli, GA 142 (1995), S. 179 ff. (S. 181) mit seinem Hinweis auf die Genese, d. h. darauf, dass Welzel nicht von einem bestimmten zu lösenden Problem auf die soziale Adäquanz gekommen ist, sondern seine Lehre umgekehrt zuerst als Kategorie eingefordert hat. 15 Welzel, Strafrecht (1947), S. 35; Welzel, Strafrecht (1949), S. 36; vgl. bereits Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 517 ff.) bzw. Welzel, AT (1940), S. 33, 35. 16 Welzel, Strafrecht (1954), S. 62 und immer noch Welzel, Strafrecht (1960), S. 76. 17 So bspw. in der 11. Aufl.: Welzel, Strafrecht (1969), S. 57 oder bereits Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 25. 18 Würde die Sozialadäquanz zu den unrechtsbestimmenden Merkmalen gezählt werden, entstehen entweder Irrtumskonstellationen, die mit der Welzelschen Schuldtheorie nicht befriedigend in Einklang zu bringen sind (dazu Roxin, Offene Tatbestände [1959], S. 121 ff.) oder aber neue Probleme für den Tatbestandsbegriff (Lange, JZ 1953, S. 9 ff. [S. 13 f.]).
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Wandel der deliktssystematischen Zuordnung vor allem der Welzelschen Lehre von den geschlossenen und offenen Tatbeständen geschuldet sein.19 Welzel differenziert zwischen Tatbeständen, in denen die Verbotsmaterie allseitig und erschöpfend durch Merkmale umschrieben ist (den „geschlossenen Tatbeständen“), und den sog. offenen Tatbeständen, in denen das verbotene Verhalten nicht merkmalsmäßig erschöpfend gekennzeichnet ist und denen dadurch für das Rechtswidrigkeitsurteil auch keine indizierende Kraft zukommt.20 Klassisches Beispiel eines derart offenen Tatbestandes sei § 240 StGB, wonach die Rechtswidrigkeit noch nicht durch die Verwirklichung der tatbestandlichen Merkmale indiziert, sondern positiv durch den Richter festzustellen ist, mittels Anschauung von Drohungsmittel, -zweck sowie Zweck-Mittel-Relation.21 Eine rechtswidrige Drohung und mit ihr eine tatbestandsmäßige Nötigung kann darum erst dann angenommen werden, wenn der Richter die soziale Verwerflichkeit einer der drei genannten Aspekte ermittelt hat;22 ohne diese richterliche Feststellung liegt demgegenüber noch keine tatbestandsmäßige Nötigung vor, obgleich alle im Tatbestand bezeichneten Merkmale verwirklicht sind. Mit anderen Worten, dem Richter ist u. U. aufgegeben, unter Rückgriff auf gesetzgeberische Leitbilder, die etwa in den Merkmalen der „Verwerflichkeit“ usf. allenfalls Anklang gefunden haben, sowie unter Berücksichtigung sozialer Faktoren, eine Ergänzung (insofern eben „offener“) Tatbestände vornehmen.23 Diesen Gedanken führt Welzel nunmehr konsequent fort, indem er unter Heranziehung seiner Sozialadäquanzlehre auch den eigentlich „geschlossenen“ Tatbeständen deren Indizwirkung abspricht.24 Die Einführung einer Lehre der sozialen Adäquanz führt demnach zu folgendem Befund: Hat der Richter mit der Frage nach der Sozialadäquanz trotz festgestellter Tatbestandsmäßigkeit zusätzlich zu prüfen, ob die (tatbestandsmäßige) Handlung zugleich den geschichtlich gewordenen Ordnungen des sozialen Lebens widerspricht, so ist damit im Ergebnis nichts anderes eingefordert, als jeder Fallbewertung ein über die Subsumtion gesetzlicher Tatbestandsmerkmale hinausgehendes, selbstständiges richterliches Werturteil beizugeben mit dem Effekt, nach Welzelscher Terminologie 19 Vgl. Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 14 ff. Ferner Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 255). 20 Welzel, Das Neue Bild des Strafrechtssystems (1952), S. 18 f.; Welzel, Strafrecht (1954), S. 60 f. 21 Dieser Feststellung bedarf es als solcher auch nach heutigem dogmatischen Stand: Kühl, StGB (2007), § 240 Rdnrn. 17 ff. 22 Welzel, Strafrecht (1954), S. 61; Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 16. 23 „[M]uss die Rechtswidrigkeit durch ein selbständiges richterliches Werturteil festgelegt werden“: Welzel, Strafrecht (1960), S. 75 – Hervorhebung im Orig. gesperrt gedr. Vgl. auch Roxin, Offene Tatbestände (1959), S. 3 f. 24 Welzel, Das Neue Bild des Strafrechtssystems (1952), S. 18 ff.; Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 25 f. Zu den daraus folgenden, von Welzel nicht expressis verbis eingeräumten Konsequenzen vgl. Lange, JZ 1953, S. 9 ff. (S. 13); Roxin, Offene Tatbestände (1959), S. 8 f., der die Annahme „offener Tatbestände“ angesichts der Irrtumsvorschriften sowie der systematischen Funktion des Tatbestandes letztlich verwirft (a.a.O., S. 132 f. u. 169); krit. auch Schaffstein, ZStW 72 (1960), S. 269 ff. (S. 380 ff.).
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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letztlich alle Tatbestände als „offen“ begreifen zu müssen. Für die Frage des deliktssystematischen Standorts der Sozialadäquanzlehre bedeutet dies, dass entsprechend der gesetzgeberischen Zuweisung positivierter richterlicher Wertungsfragen, wie etwa der der „Verwerflichkeit“ im Rahmen des „offenen“ Nötigungstatbestandes, hin zur Rechtswidrigkeitsstufe, die Sozialadäquanz stringenterweise ebenfalls erst der Rechtswidrigkeitsebene zuzuordnen ist. Die bei „offenen Tatbeständen“ erforderlichen ergänzenden Feststellungen sind immer erst im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung zu treffen, wodurch sie sich wesentlich vom Charakter tatbestandsergänzender Korrektive unterscheiden. Von diesem Gedankengang dürfte Welzel während der temporären Verlagerung seiner Lehre stillschweigend ausgegangen sein, als er schlicht von einem „in der sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens wurzelnde[n] (gewohnheitsrechtliche[n]) Rechtfertigungsgrund“25 der Sozialadäquanz sprach. Zur Verortung auf Tatbestandsebene wieder zurückgekehrt ist Welzel nach eigenem Bekunden26 infolge einiger klarstellender Beiträge seines Schülers Hirsch, der den Grund der Verschiebung von Konstellationen sozialer Adäquanz, ganz oder zum Teil in den Bereich der Rechtfertigung, maßgeblich durch die Schwierigkeiten bei der Interpretation des § 240 StGB verursacht sah; lege doch „die Ansicht, dass der zweite Absatz der Nötigungsbestimmung ein die Tatbestandsmäßigkeit nicht berührendes reines Rechtswidrigkeitsmoment sei, den Schluss nahe, in der sozialen Adäquanz allgemein erst eine Frage der Rechtswidrigkeit zu sehen“27. Erst mit der Rückkehr zur Tatbestandsverortung räumt auch Welzel ein, die soziale Adäquanz gerade „mit Rücksicht auf den tatbestandlich verunglückten § 240 [StGB]“28 als Rechtfertigungsgrund aufgefasst zu haben. So wie er fortan die Verwerflichkeitsklausel als ein den Tatbestand ergänzendes Korrektiv versteht, ordnet Welzel die Sozialadäquanz nun ebenfalls der Tatbestandsebene zu. Den immer wieder vorgebrachten und bis heute fortbestehenden Zweifeln hinsichtlich der deliktssystematischen Zuordnung einer Lehre von der Sozialadäquanz steht allerdings die allgemeine Anerkennung ihres Anliegens gegenüber: Die Bestrafung bestimmter, alle Elemente gesetzlicher Unrechtsumschreibung erfüllender Verhaltensweisen kann im Einzelfall als bloßer Formalismus, als (materiell) nicht sachgerecht, ungerecht bzw. als der sozialen Wirklichkeit zuwider erscheinen.29 Mit Hilfe 25
Welzel, Strafrecht (1954), S. 62. Etwa Welzel, Strafrecht (1969), S. 57. 27 Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 75 ff. (S. 85); vgl. ferner Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 258 ff.); Schaffstein, ZStW 72 (1960), S. 367 ff. (S. 376 f.). Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass die „Verwerflichkeit“ gem. § 240 Abs. 2 StGB als korrigierende Einschränkung des Tatbestandes des § 240 Abs. 2 StGB zu lesen ist: Ebert/Kühl, JURA 1981, S. 225 ff. (S. 226); Fischer, StGB (2008), § 240 Rdnr. 38 f. m.w.N. 28 Welzel, Strafrecht (1954), S. 57. 29 Exempl.: Peters, FS Welzel (1974), S. 415 ff. (S. 425). Vgl. BayObLG, NJW 1962, 1878 (1879); OLG München, NStZ 1985, 549 (550); Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 79); Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 119. 26
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der Sozialadäquanzlehre sollen gesellschaftsstrukturelle Tatsachen Einzug in die strafrechtliche Dogmatik halten.30 Anschaulich zum Ausdruck gekommen ist das Spannungsverhältnis zwischen dieser Anerkennung in der Sache und den Zweifeln bzgl. der deliktssystematischen Zuordnung einer Sozialadäquanzlehre in einer Entscheidung des BGH zur Frage, ob der Druck von Parteiprogrammen einer für verfassungswidrig erklärten und aufgelösten Partei (hier: KPD) eine strafbare Handlung gem. § 86 Abs. 1 StGB oder eine adäquate Tätigkeit staatsbürgerlicher Aufklärung darstellt. Sybillinisch urteilte der BGH, dass „übliche, von der Allgemeinheit gebilligte und daher in strafrechtlicher Hinsicht im sozialen Leben gänzlich unverdächtige, weil im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit liegende Handlungen nicht tatbestandsmäßig oder zumindest nicht rechtswidrig sein“31. Ohne deren deliktssystematische Zuordnung zu klären, argumentierte der BGH für eine Lösung, welche die soziale Wirklichkeit als einen im strafrechtlichen Wertungsvorgang zu berücksichtigenden Umstand anerkennt. Dem Anliegen Welzels kann also eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden. Bevor auf die inhaltlichen Voraussetzungen einer solchen Lehre eingegangen wird, ist nachfolgend daher die Einordnung der Sozialadäquanzlehre innerhalb des Verbrechensaufbaus zu untersuchen – insbesondere mit der Absicht, die Substitutionsmöglichkeiten durch andere Rechtsfiguren resp. die Eigenständigkeit der Lehre zu erforschen. 1. Sozialadäquanz auf Schuldebene Mit der „Schuld“ wird die individuelle Verantwortung des Täters für sein Verhalten in den Blick genommen; das tatbestandsmäßige und rechtswidrige Unrecht der Tat wird um das individualisierte Unwerturteil über den Täter32 ergänzt. Das Unwerturteil der Schuld gründet mit den Worten des BGH in dem Vorwurf, dass der Täter sich nicht rechtmäßig verhalten, sondern für das Unrecht entschieden habe, obwohl er sich rechtmäßig verhalten und somit für das Recht hätte entscheiden können.33 Im Falle sozialadäquaten Verhaltens entscheidet sich der Täter jedoch gerade nicht für das Unrecht, sondern für eine der sittlichen Ordnung des tätigen Gemeinschaftslebens konforme Verhaltensweise. Wenn ein sozialadäquates Verhalten jedoch schon kein Unrecht ist, bräuchten Aspekte des individuellen Schuldvorwurfs – d. h. in concreto eine Sozialadäquanzlehre, die als Schuldausschließungsgrund wirkte – nicht mehr diskutiert werden. Ist die Zuordnung der Welzelschen Lehre in den Schuldbereich daher überhaupt begründbar?
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Vgl. Dölling, ZStW 96 (1984), S. 36 ff. (S. 56); Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 93; Lange, ZStW 73 (1961), S. 87 ff. (S. 89). 31 BGHSt 23, 226 (228) – Hervorhebung durch den Autor: T.E. 32 Ebert, AT (2001), S. 92; Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 ff. (S. 747 ff.); Kühl, AT (2005), § 12 Rdnr. 2; Roxin, AT I (2006), § 19 Rdnr. 1. 33 BGHSt 2, 194 (200).
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a) Roeders Argumentation: Sozialadäquanz im Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts Tatsächlich ordnen einige Autoren, wenngleich im speziellen Erörterungszusammenhang der Fahrlässigkeitsdelikte,34 Fälle der „verkehrsmäßigen Gefahr“ bzw. des „erlaubten“, „maßvollen“ oder – synonym – „sozialadäquaten Risikos“35 der Schuldebene zu, womit die Annahme nahe liegt, dass für die Sozialadäquanz, zu deren ACHTUNGRESonderfall Welzel eben jene Risikoformen erklärt hat,36 demgemäß keine andere Zuordnungsentscheidung gelten kann. Eine ausführliche Begründung zur Verortung der Sozialadäquanz auf Schuldebene hat Roeder vorgelegt – wiederum unter Hinweis auf die dogmatisch umstrittene Struktur des Fahrlässigkeitsunrechts.37 D.h., seine Ausführungen konzentrieren sich zunächst allein darauf, wo innerhalb der Fahrlässigkeitsdelikte die SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre zu verorten ist. Gleichwohl beansprucht er für seine Zuordnungsentscheidung deliktstypologisch übergreifende Gültigkeit, indem er den Anwendungsbereich der Sozialadäquanzlehre von vornherein auf die Fahrlässigkeitsdelikte eingeschränkt und die Vorsatzdelikte somit aus deren Anwendungsbereich ausgeschlossen sehen will. Roeders Ansicht zufolge ist die auch nur billigende Inkaufnahme rechtswidriger Erfolge (scil. die vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung) per se sozial inadäquat – wer bereit sei, das Risiko eines missbilligten Erfolges auf sich zu nehmen, bekunde damit eine Gleichgültigkeit, die jede Privilegierung ausschließe.38 Bei Vorsatztaten könne es mithin keine Sozialadäquanz geben. Bevor allerdings auf die Frage eingegangen wird, ob es bei Vorsatzdelikten in der Tat keine Sozialadäquanz geben kann, ist im Folgenden zunächst die Roedersche Ver34 Dies ist wohl der historische Genese der Sozialadäquanz im Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit geschuldet: Vgl. hierzu etwa RGSt 30, 25 (27); 57, 172 (173) als „Vorläufer“ in der Entwicklung der Sozialadäquanzlehre der Idee nach (ohne es freilich schon auf den Begriff gebracht zu haben) mit dem Argument, nicht jede gefährliche Handlung begründe strafrechtliche Fahrlässigkeitsverantwortlichkeit, da dies mit den bestehenden Lebensverhältnissen unvereinbar wäre. Vgl. weiterhin Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit (1910), S. 80 f. mit dem Hinweis, weil der Mensch ständig von zahlreichen Möglichkeiten umgeben sei, fremde Rechtsgüter zu verletzen, wäre deren Antizipation psychologisch unmöglich. 35 In der Reihenfolge der Aufzählung: Kienapfel, Das erlaubte Risiko (1966), S. 21; ACHTUNGRERoeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 92 f.; Binding, Die Normen und ihre Übertretung (1919), S. 432; von Hippel, Strafrecht II (1930), S. 361 ff. Die Zuordnung in den Schuldbereich betont auch Lange, JZ 1953, S. 9 ff. (S. 15), jedoch mit der daraus abgeleiteten Forderung einer „Revision“ der Tatbestandslehre. 36 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 518); vgl. Welzel, Strafrecht (1947), S. 83 f. oder Welzel, Strafrecht (1969), S. 132. 37 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 65. 38 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 40: „Strafbefreiung wegen Einhaltung des sozialadäquaten Risikos kommt daher von vornherein nur in Betracht, wenn sich der Täter der Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges überhaupt nicht bewußt ist (unbewußte Fahrlässigkeit) oder doch auf sein Ausbleiben vertraut (bewußte Fahrlässigkeit)“.
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
ortung der Sozialadäquanzlehre innerhalb des Deliktsaufbaus der Fahrlässigkeitstaten zu erörtern. (1) Der Ansatz Roeders Die Schuldzuordnung der Sozialadäquanzlehre ist vor dem Hintergrund der Auffassung Roeders von der Struktur des Fahrlässigkeitsunrechts zu lesen. Im Ausgang begreift Roeder, in Übereinstimmung mit der (weitgehend unstreitigen) gegenwärtigen Lehre, das Fahrlässigkeitsunrecht als aus einem doppelten Fahrlässigkeitsvorwurf zusammengesetzt. Korrespondierend den beiden Teilmomenten des Fahrlässigkeitsvorwurfs,39 dem abstrakt-situativen Vorwurf objektiv sorgfaltspflichtwidriger Tatbestandsverwirklichung40 und dem, meist der Schuldebene zugeordneten individuellen Vorwurf subjektiver Sorgfaltspflichtwidrigkeit41, formuliert Roeder, dass der subjektive Fahrlässigkeitsvorwurf durch das Vermeiden-Können, der objektive hingegen das Vermeiden-Sollen des Sorgfaltspflichtverstoßes gekennzeichnet ist.42 Im Rahmen dieses objektiven Vorwurfs – sprich der Frage nach dem Vermeiden-Sollen – gehe es noch nicht um die Fähigkeiten des individuellen Täters, sondern stattdessen um die Fähigkeiten eines repräsentativen Durchschnittsmenschen innerhalb des täterschaftlichen Gesellschafts- und Verkehrskreises.43 In dem derart konturierten objektiven Fahrlässigkeitsvorwurf, welcher im Übrigen auch
39 Die beiden Aspekte der objektiven und subjektiven Voraussehbarkeit des Erfolges (s. BGHSt 12, 75 [77 ff.]; BGH, NJW 2001, 1075 [1077]; OLG Nürnberg, NStZ-RR 2006, 248 [248]; Fischer, StGB [2008], § 15 Rdnrn. 14, 17) sollen für die vorliegende Erörterung indes unberücksichtigt bleiben. 40 Vgl. BGHSt 49, 1 (5); Rspr.-Übersicht zur Fahrlässigkeit bei Duttge, NStZ 2006, S. 266 ff. Ferner: Fischer, StGB (2008), § 15 Rdnr. 12a; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 563; Roxin, AT I (2006), § 42 Rdnrn. 8 ff.; von Hippel, Strafrecht II (1930), S. 361 f. 41 Vgl. BGHSt 31, 96 (101); Ebert, AT (2001), S. 170 f.; Schönke/Schröder/Cramer/ Sternberg-Lieben, StGB (2006), § 15 Rdnrn. 118 f. Für einen einstufigen Fahrlässigkeitsbegriff optiert hingegen Kindhäuser, AT (2006), § 33 Rdnrn. 76 ff. 42 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 53. 43 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 54 f., wobei die Konsequenz, der Einsatz überdurchschnittlicher Fähigkeiten könne nicht abverlangt werden, mit der Begründung, „mehr als vom repräsentativen Durchschnitt darf das Recht als das Existenzminimum ethischer Normen“ (a.a.O., S. 54) nicht verlangen, kaum überzeugt. Richtet sich der objektive Maßstab nach den Anforderungen, die an einen einsichtigen und besonnenen Menschen in der konkreten Lage des Täters zu stellen sind (s. BGHSt 5, 271 ff.), so verkleinert sich im Falle überdurchschnittlicher Fähigkeiten dogmatisch schlicht der Verkehrskreis, aus welchem der objektive Sorgfaltsmaßstab zu gewinnen ist: Vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1991, 1123 ff. (1124 f.); Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB (2006), § 15 Rdnr. 133; Kindhäuser, GA 141 (1994), S. 197 ff. (S. 212); Kühl, AT (2005), § 17 Rdnr. 31 f.; Roxin, AT I (2006), § 24 Rdnrn. 60 ff. Etwaigen Besonderheiten individueller Art kann im Schuldbereich im Rahmen individueller Fahrlässigkeit angemessen Rechnung getragen werden: Maurach/ Gössel/Zipf, AT II (1989), § 43 Rdnrn. 29 ff.
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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dem derzeit vorherrschenden dogmatischen Stand entspricht,44 verortet Roeder ACHTUNGREnunmehr die Konstellationen sozialer Adäquanz. Einem Täter, der nicht mehr als ACHTUNGRElediglich das sozial adäquate Risiko an den Tag lege, könne objektiv kein SorgfaltsACHTUNGREpflichtverstoß (also kein objektiver Fahrlässigkeitsvorwurf) gemacht werden.45 ACHTUNGREVerletzungshandlungen innerhalb dieser Risikogrenzen könne die Rechtsordnung sinnvoller Weise nicht nur nicht dem individuellen Täter, sondern niemandem, und d. h. ACHTUNGREbereits abstrakt-objektiv nicht vorwerfen.46 Kurzum, gegen den riskant, jedoch sozialadäquat Handelnden sei kein objektiver Fahrlässigkeitsvorwurf zu ACHTUNGREerheben. Über das Merkmal der objektiven Sorgfaltspflichtwidrigkeit ermöglicht die Fahrlässigkeitsdogmatik, das „erlaubte Risiko“ als entlastendes Kriterium innerhalb des rechtlichen Fahrlässigkeitsvorwurfs heranzuziehen.47 Ob es hierbei berechtigt ist, „erlaubtes Risiko“ und „Sozialadäquanz“ ohne weiteres gleichzusetzen, wird an späterer Stelle näher beleuchtet werden müssen. Denn wäre die Lehre Welzels fürwahr identisch mit dem „erlaubten Risiko“, würde nicht nur fraglich, weshalb neben dem weithin anerkannten Gesichtspunkt des „erlaubten Risikos“ nun noch eine weitere Rechtsfigur in Form der Sozialadäquanz erforderlich sein sollte. Darüber hinaus würde gelten: Sollten beide Gesichtspunkte in Wirklichkeit bloß unterschiedliche Bezeichnungen für ein und denselben Sachverhalt sein, wäre die Sozialadäqanzlehre schlichtes Bestimmungskriterium für den rechtlichen Sorgfaltspflichtenmaßstab, wäre also ein (formales) Argument gegen einen möglichen Fahrlässigkeitsvorwurf bestimmter Rechtsgutsverletzungen, und gerade keine eigenständige Lehre mehr, welche einem formalen Tatbestandsverdikt entgegengesetzt werden müsste, wie indessen von der Konzeption Welzels vorgesehen. Vorrangig zu prüfen ist allerdings – die Berechtigung der vorgenannten Gleichsetzung zunächst unterstellt –, wie es zur Zuordnung der Sozialadäquanz in den Schuldbereich kommen kann, wenn Roeder den Gedanken der sozialen Adäquanz im objektiven Fahrlässigkeitsvorwurf, d. h. einem nach derzeitigem dogmatischen Stand dem Tatbestand zugehörigem Element, verortet. Erklären lässt sich diese Zuordnungsentscheidung damit, dass Roeder offensichtlich noch der seinerzeit vorherrschenden Auffassung zu folgen scheint,48 das objektive Fahrlässigkeitsmoment zusammen mit dem subjektiven Fahrlässigkeitsvorwurf innerhalb der Schuld und nicht getrennt vom subjektiven Fahrlässigkeitsvorwurf innerhalb des Tatbestandes zu lozieren, wie 44 BGH, NStZ 2005, 446 f. (447) u. NStZ 2003, 657 f. (658) u. NJW 2000, 2754 ff. (2758); Kühl, AT (2005), § 17 Rdnrn. 25 f. m.w.N. 45 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 93 f. Vgl. etwa Boldt, ZStW 68 (1956), S. 335 ff. (S. 345); ausdrücklich Maurach/Gössel/Zipf, AT II (1989), § 43 Rdnr. 39. 46 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 66 f. u. 74. 47 Das „erlaubte Risiko“ begrenzt den Sorgfaltspflichtenmaßstab: Ebert, AT (2001), S. 166; Kühl, AT (2005), § 7 Rdnr. 16 m.w.N.; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB (2006), § 15 Rdnr. 127; Stratenwerth/Kuhlen, AT (2004), § 15 Rdnr. 20. 48 Bspw. Binding, Die Normen und ihre Übertretung (1919), S. 350; Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit (1910), S. 207 ff.; von Hippel, Strafrecht II (1930), S. 364.
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von der inzwischen vorherrschenden Anschauung vertreten.49 Die Fahrlässigkeit wird auf diese Weise insgesamt als ein Moment der Schuld betrachtet. Für den Standort der Sozialadäquanz ist prima facie also nichts anderes als das Standortproblem der objektiven Fahrlässigkeit bestimmend. Dennoch ist im Folgenden zu zeigen, dass der Ansatz Roeders einem, über diese dogmatische Einzelfrage hinausgehenden, grundlegenden Vorverständnisfehler geschuldet ist, den aufzuklären zum besseren Verständnis der Sozialadäquanzlehre geboten ist. Zu diesem Zweck ist die Argumentation Roeders kurz zu rekonstruieren. In seinen Darlegungen geht Roeder von folgendem Zusammenhang aus: Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung fußt auf der Maxime, dass ein mit einem rechtswidrigen Erfolg verbundenes Verhalten niemals durch den Einwand zu erschüttern sei, dass es bei eintätigem Zusammentreffen mehrerer Tatbestände unter einem von diesen gelegentlich seiner Rechtswidrigkeit ermangeln könnte. Eben diese Maxime zwinge nun dazu, bei verwirklichtem (tatbestandlichem) Erfolgsunrecht, trotz eventuell verkehrsrichtigem Verhalten, den einheitlichen Unrechtstatbestand vollumfänglich zu bejahen.50 Ein erfolgsverursachendes, d. h. rechtsgutverletzendes Verhalten sei notwendig allgemein rechtswidrig. Darum sei die einmal festgestellte Verletzung des tatbestandlich geschützten Rechtsgutes51 nicht mehr durch den Einwand der Sozialadäquanz des ihn verwirlichenden Verhaltens zu erschüttern. Mittels eines argumentum e contrario hält Roeder fest: So wie es „bei Erfolgsdelikten keinen tatbestandsmäßigen Erfolg (i. e. S. eines Außenerfolges) ohne tatbestandsmäßige Handlung gibt, so umgekehrt auch keine (ausgereift) tatbestandsmäßige Handlung ohne tatbestandsmäßigen Erfolg“52. Den dabei angedeuteten Implikationszusammenhang zwischen Erfolgs- und Handlungsunrecht spezifiziert Roeder nunmehr weiter, indem er das charakteristische Unrechtsmoment der Fahrlässigkeitstat nicht zuerst in dem tatbestandsmäßigen Verletzungserfolg, sondern in der hierzu kausalen (fahrlässigen) Handlung erblickt.53 Parallel zu dem o.g. Umkehrschluss stellt er sodann fest: Wie der Erfolgsunwert als solcher durch das Hinzutreten des Handlungsunwertes nicht gesteigert werden könne, könne der Unwert eines tatbestandlichen Erfolges auf keinen Fall durch das Ausbleiben des Handlungsunrechts wegen Sozialadäquanz gemindert wer49
Exempl. Ebert, AT (2001), S. 165 u. 170 f. Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 89 ff. 51 Wenngleich Roeder terminologisch unzureichend zwischen dem „tatbestandlichen Erfolg“ und dem „Erfolgsunwert“ eines Tatbestandes differenziert, d. h. zu verkennen scheint, dass es auch bei Tätigkeitsdelikten einen Erfolgsunwert (scil. die Rechtsgutsverletzung) sowie einen Handlungsunwert (scil. der auf das Verhalten des Täters spezifizierte Vorwurf) gibt. Dazu nur: Kühl, AT (2005), § 5 Rdnr. 4; Stratenwerth/Kuhlen, AT (2004), § 8 Rdnr. 60 – Da zu vermuten ist, dass Roeder mit dem Begriff „tatbestandlicher Erfolgseintritt“ die Tätigkeitsdelikte nicht von seiner Argumentation ausschließen wollte, ist dieser Begriff im Folgenden synonym zu „Verletzung des tatbestandlich geschützten Rechtsgutes“ zu lesen. 52 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 69 – Hervorhebung durch den Autor: T.E. 53 Soweit ebenso Welzel, Strafrecht (1969), S. 129. Vgl. auch Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie (1954), S. 31 f. 50
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den.54 In einer Sentenz zusammengefasst: Es gebe keine suspendierte Rechtswidrigkeit insofern, als dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit neben dem Eintritt des tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Erfolgsunwertes noch eines weiteren ungewissen Ereignisses bedürfen würde. Daher sind Roeder zufolge sorgfaltspflichtgemäße, aber eben rechtsgutsverletzende Handlungen aufgrund des mit ihnen verbundenen Eintritts des tatbestandlichen Erfolgsunrechts bereits ex ante rechtswidrig;55 der Eintritt eines tatbestandlichen Erfolges schließe es denklogisch aus, letzteren trotz erwiesener Normwidrigkeit zugleich als mit der Rechtsordnung in Einklang stehend zu betrachten.56 Dies sei der Grund dafür, alle Spezifika des Fahrlässigkeitsvorwurfs samt der Sozialadäquanzlehre in der somit ,verbleibenden Schuld zu verorten. Erst dort fielen die „Würfel der strafrechtlichen Dogmatik“57, erst dort, an der Nahtstelle von individueller Voraussehbarkeit und Nichtvoraussehbarkeit des unrechtsindizierenden Tatbestandserfolges, sei eine Einbeziehung von Momenten des Handlungsunrechts und somit von Sozialadäquanzerwägungen möglich.58 Obwohl Roeder durchaus erkennt, mit seiner Argumentation ebenfalls der logischen Schwierigkeit zu unterliegen, bei konsequenter Lesart (nun allerdings auf Schuldebene) einen für rechtswidrig befundenen Erfolg ggf. mit der sozialen Adäquanz des ihn verursachenden Verhaltens in Einklang bringen zu müssen,59 verweist er zur Unterstützung seiner Lesart darauf, dass mit einer Zuordnung der Welzelschen Rechtsfigur bereits zum Unrechtstatbestand andernfalls die inakzeptable Konsequenz heraufbeschworen werde, die Herbeiführung eines rechtswidrigen Erfolges auf sozialadäquatem Wege für rechtmäßig (und nicht bloß für schuldlos) befinden zu müssen und dadurch dem durch das sozialadäquate Verhalten Betroffenen ein Recht zur Notwehr abzusprechen (sog. Notwehrprobe). Notwehr sei nun einmal nur gegen einen rechtswidrigen Angriff zulässig60. Zugleich würde der Verletzte durch die Egalisierung von sozial- bzw. verkehrsrichtigem auf der einen und rechtmäßigem Verhalten auf der anderen Seite aus Sicht zivilrechtlicher Haftung schwer benachteiligt,61 da zugleich ein Verlust an zivilrechtlichen Ansprüchen zu verzeichnen 54
Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 70. Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 88 f. spricht von der „ontologischen Erkenntnis, daß jedes riskante Verhalten, das einen rechtswidrigen Erfolg herbeiführt, schon ex ante rechtswidrig ist“ (a.a.O., S. 94). 56 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 70 ff. u. 79, 88 f. 57 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 69. 58 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 92. 59 Vgl. die Replik: Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 85 ff.: „[E]in großer Teil der Theorie beharrlich daran festhält, daß [… hierin …] eine unüberwindbare logische Schwierigkeit“ (a.a.O., S. 85) liege. 60 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 77 ff. Inakzeptabel sei dies deshalb, weil „[…] die Rechtswidrigkeit niemals davon abhängen kann, welches Risiko der Handelnde in einer bestimmten Situation eingehen darf, sondern nur immer davon, wie die Sachlage objektiv gestaltet ist“ (a.a.O., S. 75). 61 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 82 samt krit. Hinweis, BGHZ 24, 21 = NJW 1957, 785 vernachlässige, unter Rückgriff auf eine petitio principii, das 55
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sei. Hingegen komme bei einer Zuordnung der Sozialadäquanz in den Schuldbereich mit dem daraus resultierenden (tatbestandlich indizierten) Rechtswidrigkeitsurteil nicht notwendig eine diffamierende Missbilligung zu Lasten des Handelnden zum Ausdruck. Schließlich sei erst bei Bejahung der Schuldfrage die Zulässigkeit eines sozialethischen Vorwurfs zu untersuchen, so dass der Täter durch den von Roeder vorgeschlagenen Lösungsansatz weder materiell noch prozessual schlechter gestellt werden würde.62 (2) Kritik Wie soziale Adäquanz und rechtliche Wertungen miteinander in Einklang zu bringen sind bzw. in Bezug auf ein und dasselbe Geschehen zusammen gedacht werden können, ist in der Tat ein Lackmustest für die Konzeption Welzels. Denn bei einer Sozialadäquanz als normativer Kategorie ist immer nach der Vereinbarkeit mit dem Metaprinzip der Einheit der Rechtsordnung zu fragen; schließlich hat die rechtliche Subsumtion des streitgegenständlichen Verhaltens dessen Normwidrigkeit schon erwiesen. Da allerdings selbst Roeder hierfür keine Lösung anbietet, ist dieses Feld erst an späterer Stelle zu bearbeiten. Vorrangig ist das der Zuordnungsentscheidung zugrunde liegende (Vor-)Verständnis Roeders weiterzuverfolgen, welches ihn zur Verortung des objektiven Fahrlässigkeitsmoments samt der Sozialadäquanzlehre in den Schuldbereich zwingt. Tragend für die Zuweisung der Sozialadäquanzlehre in den Schuldbereich scheint nach erster Durchsicht der Argumentation Roeders dessen Auffassung, der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges reiche für die Bejahung des Gesamtunrechtstatbestandes bereits aus, so dass es auf die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit der Handlung nicht mehr entscheidend ankommen könne. Mit dieser gesamtunrechtsindizierenden Wirkkraft des Erfolgsunrechts verabschiedet Roeder das Moment des Handlungsunrechts prima facie unweigerlich in die Marginalität. Dem Handlungsunrecht scheint keine unrechtsbegründende Kraft mehr zuzukommen. (a) Sozialadäquanz im Rahmen des Erfolgs- und Handlungsunrechts bei Fahrlässigkeitsdelikten Nun ist aber das Erfordernis eines komplementär neben das rechtsgutbezogene ACHTUNGREErfolgsunrecht tretenden Handlungsunrechts einhellig notwendig, da erst hierdurch das täterbezogene personelle Unrechtsmoment angemessen Berücksichtigung fin-
Verhältnis zwischen Erfolgs- und Handlungsunrecht zu klären (a.a.O., S. 83). In vorgenannter Entscheidung anerkannte der BGH sozialadäquates Verhalten als Rechtfertigungsgrund im Zivilrecht: Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1778); a.A. Baumann, MDR 1957, S. 646 ff. (S. 646). 62 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 75 f. sowie S. 80: „Das Unwerturteil über die Tat ist von dem Unwerturteil über den Täter scharf zu trennen“ (a.a.O., S. 77).
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det.63 Es ist eine dogmatisch epochemachende Erkenntnis, dass sich das Unrecht nicht allein aus der bloßen Verletzung eines tatbestandlich geschützten Rechtsgutes konstituiert, sondern eine (delikts-)spezifische Art und Weise der Verletzungshandlung zu dem Verletzungserfolg hinzutreten muss, bevor die Rechtsordnung jenen Erfolg berechtigtermaßen aus einer Vielzahl von Rechtsguteinbußen heraus als gesellschaftsschädlich und damit strafwürdige Straftat deklarieren kann; voneinander zu unterscheiden sind zwei konstitutive, eigenständige Unrechtsmomente. Das rechtsgutACHTUNGREorienACHTUNGREtierte Erfolgs- und das verhaltensbezogene Handlungsunrecht.64 Für das Fahrlässigkeitsdelikt gilt insofern nichts anderes; hier ist ebenso zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert zu unterscheiden.65 Mit der Anerkennung verhaltensgebundener Unrechtsbestandteile in Form des Handlungsunwerts wird für die Begründung eines missbilligenden Unwerturteils sowohl das Vorliegen des Taterfolgs als auch die gesonderte Feststellung des an die Person des Täters anknüpfenden Handlungsunwerts erforderlich. D.h., just die Umkehrung des zutreffenden Satzes, etwaig vorliegendes Handlungsunrecht vermöge ein einmal vorliegendes Erfolgsunrecht nicht zu steigern, verfängt entgegen der Roederschen Ansicht nicht: Selbstredend führt der Mangel an Handlungsunwert nicht zu einer Minderung des hierzu disparaten Erfolgsunrechts als solchem. Die Frage ist allerdings stattdessen, ob bei solch einer Konstellation noch der Gesamtunrechtstatbestand erfüllt wäre. Paradoxerweise geht selbst Roeder von der Notwendigkeit aus, die Einstufung verletzender Verhaltensweisen als „deliktisch“ immer auch in Abhängigkeit sehen zu müssen von der Art der Beziehung des Handelnden zu seinem Tun bzw. den Folgen desselben.66 Kurzum, wenn Roeder u. a. ausführt, dass der Fahrlässigkeitstrafbarkeit stets ein emotionales (voluntatives) Moment – die Beziehung zum Willen des Täters –, eigen sei,67 fordert er verbrechenssystematisch ebenfalls nichts anderes als ein verhaltenbezogenes Unrechtsmoment. Insofern ist es auf den ersten Blick widersprüchlich, wenn er den tatbestandlichen Erfolg zur Indizierung des Gesamtunrechtstatbestandes hinreichen lässt, zugleich aber die Annahme zur „Irrlehre“68 herabsetzt, in dem Erfolgsunwerturteil sei schon ein Handlungsunwerturteil enthalten.
63 Ebert/Kühl, JURA 1981, S. 225 ff. (S. 231 ff.); Gallas, FS Bockelmann (1979), S. 155 ff. (S. 155) mit dem Hinweis auf den im Einzelnen umstrittenen Inhalt des personalen Handlungsunwertes (a.a.O., S. 156 ff.); Kindhäuser, AT (2006), § 6 Rdnr. 6. 64 Grundlegend Hegler, ZStW 36 (1915), S. 19 ff. (S. 24 f.) sowie ders., a.a.O., S. 184 ff. (S. 197); Kühl, AT (2005), § 3 Rdnrn. 3 ff.; Roxin, AT I (2006), § 7 Rdnr. 16. 65 Vgl. pars pro toto Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB (2006), § 15 Rdnr. 120. 66 Andernfalls würde schon die Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern verwirklichtes Erfolgsunrecht durch das Hinzutreten oder Ausbleiben eines Handlungsunwertes verändert wird (Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos [1969], S. 70) keinerlei Sinn machen. 67 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 50. 68 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 76.
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Auf einen zweiten Blick wird klar, dass die Zuordnung sozialadäquaten Verhaltens in den Schuldbereich entgegen dem durch die Argumentation Roeders genährten Eindruck nicht unmittelbar von der Differenzierung zwischen Erfolgs- und Handlungsunrecht herrührt. Zwar ist es grundsätzlich folgerichtig, wenn Roeder mit seiner Argumentation zum Verhältnis von Erfolgs- und Handlungsunwert den Bereich des Handlungsunwertes der Schuld sowie den des Erfolgsunwerts dem Tatbestand zuordnet,69 nur liegt dem ein fehlverstandener Handlungsbegriff zugrunde. Roeders Zuordnungsentscheidung ist einem unausgesprochen gebliebenen spezifischen Vorverständnis vom strafrechtlichen (Gesamt-)Unrecht geschuldet. Die Ausdifferenzierung sowie deliktssystematische Verortung von Erfolgs- und Handlungsunwert ist schlicht Folge der von Roeder subkutan eingebrachten Grundauffassung bzgl. des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs – eine Auffassung, die maßgeblich auf den Zuschnitt der Sozialadäquanzlehre zurückwirkt. Besondere Beachtung verdient darum der Umstand, dass Roeder vollkommen zwanglos davon spricht, ein objektiver, formeller Tatbestandserfolg könne unter keinerlei Gesichtspunkten in Einklang mit der Rechtsordnung gebracht werden, Roeder also von vornherein nicht bereit ist, der Sozialadäquanzlehre im Rahmen des Erfolgsunwertes irgendeinen Raum einzuräumen. Er geht hierüber noch entscheidend ACHTUNGREhinaus: Zu keinem Zeitpunkt zweifelt Roeder daran, im Falle der Verletzung eines Rechtsgutes immer und unumkehrbar von „Unrecht“ zu sprechen. Allein der objektive Außenwelterfolg in Form der Läsion eines Rechtsgutes ist für ihn bereits hinreichende Bedingung für das Vorliegen des Unrechtstatbestandes und somit hinreichende Bedingung für die Bejahung des Gesamtunrechtstatbestands. Neben der vordergründigen Vernachlässigung einer Differenzierung zwischen Erfolgs- und Handlungsunrecht kann solch eine Position nur einer rein kausalistisch ausgerichteten ACHTUNGREUnrechtslehre geschuldet sein. (b) Sozialadäquanz und finaler Unrechtsbegriff Und in der Tat – wenngleich auch nicht im direkten Zusammenhang mit der Zuordnungsbegründung sozialadäquaten Verhaltens – erfolgt eine dezidierte Auseinandersetzung mit der finalen Handlungslehre Welzels hin zu dem Ergebnis, diese könne erst auf der Schuldebene eine Rolle spielen.70 So betont Roeder, dass besonders im Zusammenhang mit den Fahrlässigkeitsdelikten die Schwierigkeiten einer finalen Handlungslehre zu Tage träten. Schließlich zeichne letztere, im Gegensatz zu den Vorsatzdelikten, die nicht gewollte Verwirklichung des Tatbestandes aus; der Fahrlässigkeitstäter nehme den tatbestandsmäßigen Erfolg weder als Ziel noch als Mittel 69 Die derzeit vorherrschende Lehre teilt den Fahrlässigkeitsvorwurf hingegen in einen objektiven, dem Tatbestand zuzuordnenden, und einen subjektiven, der Schuld zuzuordnenden Teil: Ebert, AT (2001), S. 164; Roxin, AT I (2006), § 24 Rdnrn. 3 – 13; Wessels/Beulke, AT (2007), Rdnr. 658. A.A. [Einstelliger Fahrlässigkeitsbegriff] bspw. Duttge, NStZ 2005, S. 243 ff. m.w.N.; s. zu den prominentesten Vertretern und deren Argumenten Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten (2001), S. 42 ff. 70 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 55 ff.
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oder Nebenfolge seiner Handlung in seinen „Verwirklichungswillen“ auf; die fahrlässige Herbeiführung eines Erfolges als ungewollte Nebenwirkung der vom Täter zur Verwirklichung anderer Zwecke eingesetzten Kausalfaktoren könne kaum als ACHTUNGRE„finale“ Erfolgsherbeiführung bezeichnet werden.71 Ergo müsse das Unrecht des Fahrlässigkeitstatbestands in der (bloß) ursächlichen Herbeiführung eines tatbestandlichen Erfolges bestehen. Der Erfolg müsse zu keinem Zeitpunkt in den Verwirklichungswillen des Fahrlässigkeitstäters aufgenommen worden sein (und könne dies begrifflich auch gar nicht). Ohne es ausdrücklich kenntlich zu machen, vertritt Roeder damit sowohl einen einteiligen Fahrlässigkeitsbegriff, bei welchem für die Tatbestandsmäßigkeit einer Verhaltensweise die reine, und somit durch beliebige Körperbewegungen verursachte Erfolgsherbeiführung ausreicht72 und der eigentliche Fahrlässigkeitsvorwurf zu einer besonderen Schuldform wird,73 als auch die resümierende Konsequenz, dass „[d]as [scil. bloße] Vorliegen einer Rechtsgutverletzung oder -gefährdung [es ist …], was nicht nur die Tatbestände der vorsätzlichen, sondern auch der fahrlässigen Erfolgsdelikte zu ,geschlossenen, die Rechtwidrigkeit indizierenden Tatbeständen macht“74. Indiziert auf diese Weise bereits der verursachte Erfolg das tatbestandliche Unrecht, verbleibt als sedes materiae der Sozialadäquanzlehre allein noch die Schuldebene. Folglich steht und fällt Roeders Zuordnungsentscheidung mit der Stichhaltigkeit seiner kausalistischen Apologie bzw. der Zurückweisung einer finalistischen Unrechtslehre. Für die Berechtigung, die Sozialadäquanzlehre samt des Moments des Handlungsunrechts der Schuld zuzuweisen, muss also zunächst einmal die Kritik ACHTUNGRERoeders an der Finalitätsfigur Welzels notwendig durchgreifender Natur sein. Die Schwierigkeiten, eine finale Handlungslehre mit dem Wesen der Fahrlässigkeit zu harmonisieren, haben Welzel durchaus zu einigen missverständlichen Modifikationen75 seiner Lehre veranlasst. Schon in der 1. Auflage seines Strafrechtslehrbuchs ist zu lesen, das Moment der Finalität, welches bei den vorsätzlichen Handlungen als wirkliche Zwecktätigkeit real-gestaltender Faktor sei (sog. aktuelle Finalität), sei bei den fahrlässigen Handlungen als mögliche Zwecktätigkeit nur Bezugsmoment
71 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 51 f. Vgl. Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951), S. 41 ff. Auf diese Schwierigkeit weist auch Boldt, ZStW 68 (1956), S. 335 ff. (S. 338 f.) hin. 72 So u. a. Merkel, Juristische Encyclopädie (1885), § 232; Mezger, Deutsches Strafrecht (1941), S. 47; Radbruch, Der Handlungsbegriff (1903), S. 101 ff., der indes bereits dafür plädiert, neben dem Kausal- auch einen Schuldzusammenhang in den Handlungsbegriff mit einzubeziehen (a.a.O., S. 108 f.). 73 Expressis verbis bspw. Binding, Die Normen und ihre Übertretung (1919), S. 453; Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit (1910), S. 207. Widersprüchlich: Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951), S. 41 [bloße Schuldform] und a.a.O., S. 64 [auch Tatbestandselement] sowie Niese, JZ 1956, S. 457 ff. (S. 465) [Element der Rechtswidrigkeit]. 74 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 69. 75 Hierauf weist zu Recht hin Boldt, ZStW 68 (1956), S. 335 ff. (S. 338).
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(sog. potentielle Finalität).76 Vollkommen zu Recht wurde postwendend kritisiert, dass mögliche Finalität nachgerade keine Finalität sei: „In der Aussage, jemand hätte einen Erfolg durch Zwecktätigkeit vermeiden können, liegt die Feststellung, daß er tatsächlich weder auf die Herbeiführung noch die Vermeidung dieses Erfolges hin zwecktätig, final gehandelt hat“77. Dies ist aber weder Roeders Argument gegen eine außerhalb der Schuld siedelnde finale Handlungslehre, noch markiert die kritisierte Passage der 1. Auflage des Strafrechtslehrbuchs den Endpunkt innerhalb der Entwicklung der Welzelschen Lehre. So stellte Welzel in der 4. Auflage seines Lehrbuchs klar, dass „Zwecktätigkeit“ nicht nur den Handlungszweck, sondern auch die erforderlichen Mittel und die mit dem Einsatz dieser Mittel verbundenen Nebenfolgen umfasst.78 „Finalität“ bedeute bei den Fahrlässigkeitsdelikten darum richtigerweise, dass der Täter im Rahmen dieser grundsätzlichen Finalität zwar die spezifisch „zur Vermeidung der Rechtsgüterverletzung erforderliche finale Steuerung nicht erbracht“79, gleichwohl aber final gehandelt hat, da er mit seinem Verhalten schließlich auf eine Folgenbewirkung gezielt hat. Lässt sich hiergegen wiederum ins Feld führen, die zweckmäßige Umfassung selbst etwaiger Nebenfolgen sei eine bloße Fiktion bzw., dass mit dem Kriterium der Nichterbringung finaler Steuerung das Fahrlässigkeitsdelikt zu nah an das strukturell gänzlich anders geartete Unterlassensdelikt rücke,80 so verschafft ein Blick auf die konkretisierenden Äußerungen Welzels in den Folgeauflagen seines Lehrbuchs Klarheit. Die Tatbestände der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte erfassen nicht verschieden geartete Handlungen, sondern notwendig immer die eine, finale (gesteuerte) Handlung, aber in jeweils verschiedener ACHTUNGREHinsicht: „Während die Tatbestände der vorsätzlichen Delikte […] die finale Handlung insoweit erfassen, als ihr Handlungswille auf die Verwirklichung sozial unerwünschter Erfolge (Ziele) gerichtet ist, beschäftigen sich die Tatbestände der fahrACHTUNGRElässigen Delikte (weniger mit den Zielen, als vielmehr) mit der Art der Ausführung der finalen Handlung“81 mit Blick auf deren verletzende Folgen. D. h., die FahrlässigACHTUNGREkeitsACHTUNGREdeACHTUNGRElikte knüpfen ebenfalls an ein gewolltes und damit finales menschliches Ver-
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Welzel, Strafrecht (1947), S. 22; s. auch Welzel, Strafrecht (1949), S. 23. Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951), S. 53 – Hervorhebung im. Orig. 78 Welzel, Strafrecht (1954), S. 29. 79 Welzel, Strafrecht (1954), S. 34 – Hervorhebung durch den Autor: T.E. 80 I.d.T. geht bspw. Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951), S. 62 soweit, die Fahrlässigkeitsdelikte als unechte Unterlassensdelikte zu charakterisieren und damit den grundlegenden Unterschied zwischen Nichtanwendung gebotener Sorgfalt und Nichtvornahme einer Handlung zu vernachlässigen: Pars pro toto Kühl, AT (2005), § 18 Rdnrn. 23 f.; vgl. auch BGH, NStZ 2003, 657 oder – klassisch – RGSt 63, 211 [Ziegenhaar]. Nach a.A. ist „Handlung“ i.S.d. Strafrechts per se ein Unterlassen (s. namentlich Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht [1972], S. 177: „Die Handlung des Strafrechts ist das vermeidbare Nichtvermeiden in Garantenstellung“ oder Behrendt, Die Unterlassung im Strafrecht [1979]). 81 Welzel, Strafrecht (1969), S. 129 f.; s. bereits Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 31. Vgl. ferner Maurach/Gössel/Zipf, AT II (1989), § 42 Rdnrn. 18 ff. 77
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A alten an.82 Das Fahrlässigkeitsunrecht ist mit einer finalen Handlungslehre vereinCHTUNGREh ACHTUNGREbar. Trotz seiner Ablehnung einer subjektiv gefärbten Unrechtslehre in Form der finalen Handlungslehre, stimmt Roeder mit Welzel in der Interpretation des Finalitätsmomentes bei Fahrlässigkeitstaten ausdrücklich überein. Nur fügt er dem eine beachtliche Einschränkung hinzu, wenn er die Handlung des Fahrlässigkeitstäters zwar als final anerkennt, „insofern sie auf ,etwas gerichtet ist (sonst läge ja überhaupt keine Handlung vor)“83, sogleich jedoch anmerkt, dass „sich diese Finalität eben nicht auf das strafrechtlich allein Relevante, auf den dem Täter angelasteten, aber von ihm gerade nicht erstrebten tatbestandsmäßigen Erfolg, sondern [sich auf] einen außertatbestandlichen Erfolg [erstreckt]“84. Dies ist ebenso richtig wie Ausdruck eines folgenreichen Missverständnisses. Richtig hieran ist – was, wie gezeigt, freilich Welzel selbst schon gesehen hat –, dass mit dem Kriterium der Finalität bzw. Zwecktätigkeit nicht die strafrechtlichen Wirkungen, sondern lediglich die generellen Wirkungen eines Verhaltens in den Handlungsbegriff mit einbezogen werden können. Als Oberbegriff aller Erscheinungsformen strafrechtlichen Verhaltens hat der Handlungsbegriff an sich zunächst neutral zu sein; erst nach und nach wird er über die verschiedenen Verbrechensmerkmale mit Wertprädikaten aufgeladen; mit der „Finalität“ einer Handlung kann darum nicht gemeint sein, dass eine derart definierte „Handlung“ auf einen strafrechtlichen Erfolg hin ausgerichtet sein müsse, sondern vielmehr, dass der Akteur sein Verhalten auf überhaupt irgendeinen Zielpunkt hin final ausgerichtet haben muss.85 Finalität meint mit anderen Worten den Umstand, dass der Mensch die möglichen Folgen seines kausalen Eingreifens gedanklich vorwegnimmt, antizipiert und sein Eingreifen in die Welt entsprechend steuern, lenken kann.86 Eine derart verstandene finale Hand82 Boldt, ZStW 68 (1956), S. 335 ff. (S. 338); insofern ist Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951), S. 58 f. zuzustimmen. 83 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 61 – Hervorhebung im Orig. 84 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 61 f. – Hervorhebung im Orig. 85 Auf diese vorrechtlich, primär ontologisch orientierte Dimension des Handlungsbegriffs verweist Welzel selbst ausdrücklich (Welzel, Die finale Handlungslehre [1949], S. 7; Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems [1961], IX-XII). Dies verkennt Roeder, wenn er ausführt: „Ein Wille, der nur das abstrakt Allgemeine will, will nichts, und ist deswegen kein Wille“ (Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos [1969], S. 57 – Hervorhebung im Orig.). – Der „finale“ Wille ist nicht auf ein allgemeines, sondern stets auf ein konkretes Ziel gerichtet, das aber eben gerade nicht identisch mit dem tatbestandlichen Erfolg sein muss (dann läge Absicht vor!). Vgl. zur Vereinbarkeit von Finalität und Fahrlässigkeit ferner Hirsch, ZStW 93 (1981), S. 831 ff. (S. 857 ff.). 86 Welzel, Die finale Handlungslehre (1949), S. 7 mit dem Bsp., die eine tödliche Injektion unwissend setzende Krankenschwester handele ebenfalls final, weil sie mit der Verabreichung zwar nicht den Tod des Patienten, aber doch eine heilende Wirkung und damit eine Folge vorwegnimmt (a.a.O., S. 9). Dessen scheint sich auch Roeder grds. bewusst zu sein, wenn er die
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lungslehre lässt sich sodann problemlos auch bei den Fahrlässigkeitsdelikten aufrechterhalten in Form des Vorwurfs an den Handelnden, er habe bei der Verfolgung bestimmter Wirkungen (hier liegt das Moment der Finalität) einige andere (verletzende) Wirkungen seines Verhaltens sorgfaltspflichtwidrig nicht bedacht. Mithin besteht von der Welzelschen Konstruktion aus keine Veranlassung, zu einer kausalitisch orientierten Unrechtslehre zurückzukehren. Das Missverständnis Roeders, das seiner Ablehnung der finalen Handlungslehre zugrunde liegt, besteht also darin, aus den Finalitätsgedanken Welzels – menschliches Verhalten müsse auf irgendeinen Zielpunkt hin ausgerichtet sein, um „Handlung“ im strafrechtlichen Sinne zu sein – gleichsam den überschießenden Schluss zu ziehen, „Finalität im rechtlichen, insbesondere strafrechtlichen Bereich [bedeute] nichts anderes als Tatbestandsvorsatz“87. Ob ein Verhalten einen strafrechtlich relevanten Unwert aufweise, bemesse sich daran, ob der Täter sein Verhalten auf einen strafrechtswidrigen Zielpunkt hin ausrichte. Anstatt also wie Welzel dem Begriff der Finalität einen wertneutralen Zuschnitt zu geben und damit zuallererst einen ontologischen Handlungsbegriff zu entwickeln, lädt Roeder diesen fälschlicherweise mit dem rechtlichen Gesichtspunkt der individuellen (Straf-)Tateinstellung des Täters auf, und denkt „Handlung“ mithin bereits als rechtliche Wertungskategorie. Der dem zugrunde liegende gedankliche Fehler findet sich bei einem anderen Autor auf den Punkt gebracht: Dass das Recht den menschlichen Willen als Ursache tatbestandlicher Erfolge von allen anderen möglichen Ursachen unterscheidet, dürfe „nicht, wie bei ACHTUNGREWelzel (Der Allg. Teil 1940 S. 23 – 24) zu dem verfehlten Schluß führen, die Handlung könne nur solche ,Wirkungen haben, die zugleich ,Inhalt des Wollens sind. Mit solcher Verengung des Begriffs begibt man sich der Erkenntnis vieler Erscheinungen des wirklichen Rechtslebens […]. Daher muß der allgemeine Handlungsbegriff auch die ungewollten ,Wirkungen des Handelns in sich schließen und die Erforschung des ,Inhalts des Wollens der Schuldlehre vorbehalten [bleiben]“88. Auch hier wird vernachlässigt, dass der Wille im Sinne der Finalität nicht gleichbedeutend ist mit der Frage, wie der Täter zu den tatbestandlichen Wirkungen seines Tuns steht, d. h. ob er vorsätzlich oder fahrlässig handelt. Mit der Gleichsetzung von Vorsatz und Finalität wird Roeder nicht nur der Welzelschen Konzeption einer finalen Handlungslehre nicht gerecht, sondern darüber hinaus führt die sich hierdurch zwingend ergebende Aufladung des Handlungsbegriffs um wertende Momente, insbesondere um subjektive Einstellungen zu rechtsFinalität fahrlässigen Verhaltens aus „einem rein ontologischen Gesichtspunkt“ (Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos [1969], S. 61) heraus anerkennt. 87 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 58 – Hervorhebung im Orig. Eine ausdrückliche Gleichsetzung von Vorsatz und Finalität findet sich auch bei Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951), S. 53. Allgemeiner Hinweis auf dieses Problem bei Boldt, ZStW 68 (1956), S. 335 ff. (S. 338). Welzel unterstützt mit der Verwendung des Begriffs „Vorsatz“ diese Lesweise, wenn er formuliert: „Vorsatz ist das schlechterdings unentbehrliche Element der Finalität“ (Welzel, Die finale Handlungslehre [1949], S. 8). 88 Mezger, Deutsches Strafrecht (1941), S. 47.
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spezifischen Verhaltensfolgen, zum Verlust der logischen Klassifikationsfunktion der Handlung als Grundelement des Strafrechts; durch Verwischung der einzelnen Verbrechenskategorien wird der Verbindungscharakter des Handlungsbegriffs in Frage gestellt.89 Wie weit Roeder den Handlungsbegriff bereits mit unrechtsspezifischen Täterwertungen aufgeladen hat, ist seinem Argument gegen die Verortung der Sozialadäquanzlehre auf Rechtswidrigkeitsebene zu entnehmen. Kann die Rechtfertigung umrisshaft als „Eliminierung“ sowohl des objektiven als auch des subjektiven tatbestandlichen Unrechts verstanden werden,90 so müsse Roeder zufolge selbst bei soACHTUNGREzialadäquatem Verhalten eine Rechtfertigung ausscheiden, da subjektive Tendenzen des Täters den für eine kausale Unrechtsbetrachtung entscheidenden dogmatischen Rang des in der Rechtsgutverletzung liegenden Erfolgsunrechts nicht zu verdrängen vermögen.91 Verständlich wird dies nur, wenn für die Unrechtsbetrachtung selbst die Frage, ob der Täter sein Tun überhaupt final ausgerichtet hat, für die Bejahung des Unrechtstatbestandes ohne Bedeutung ist. (3) Zwischenergebnis Roeder entwirft einen – unzulässigerweise92 – rechtlich aufgeladenen (und nicht „rein“ ontologischen) Handlungsbegriff. Da sich ein solcher bei bloß fahrlässigem Verhalten allerdings nicht stringent vertreten lässt, ist er gezwungen, zu einer rein kausalistischen Unrechtslehre überzugehen und die nähere Natur eines Verhaltens als „Handlung“ in die Schuld zu verweisen.93 Im Rückschluss auf den Tatbestand ergibt sich dann der oben bereits festgestellt Befund zur Roederschen Argumentation: Die Verletzung eines Rechtsgutes ist sodann immer gleichbedeutend mit dem Vorliegen tatbestandlichen Erfolgsunrechts; 89 Vgl. Kühl, AT (2005), § 2 Rdnr. 1: „Die ,Würfel der strafrechtlichen Dogmatik fallen nicht in der Handlungslehre, sondern erst auf der Bewertungsstufe des Unrechts“. Zu den Funktionen des Handlungsbegriffs Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 218 f.; Roxin, AT I (2006), § 8 Rdnrn. 1 ff. 90 Hierzu nur BGHSt 35, 270 (275); 5, 245 (247); 3, 194 (198); Hirsch, FG BGH IV (2006), S. 199 ff. (S. 233 ff.); Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 328 f.; Kühl, StGB (2007), Vor § 32 Rdnr. 6; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB (2006), Vorbem §§ 32 ff. Rdnr 13 m.w.N. Dezidiert: Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement (2002), S. 29 ff., 314 ff. 91 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 69. 92 Vgl. neben den Nachweisen im Rahmen der oben vorgebrachten Argumente Boldt, ZStW 68 (1956), S. 335 ff. (S. 338 ff., 348 f.), der die Unzulässigkeit der Vermischung juristischer und ontologischer Strukturen menschlichen Verhaltens anmahnt. Den ontologischen Status der „Handlung“ betont fernerhin Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling (1957), S. 124. 93 Neben dem Handlungswillen ordnet Roeder sodann auch den Vorsatz als Willensinhalt konsequent der Schuldebene zu (Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos [1969], S. 59 ff.). Ebenso Mezger, Deutsches Strafrecht (1941), S. 98. – Eine Sichtweise, die seit Einführung des § 17 StGB (mit dem 2. StrRG v. 20. 05. 1970, BGBl. I, 505) durch die gesetzliche Trennung von Schuld und Vorsatz nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
die kausale Herbeiführung einer Rechtsgutsverletzung ist hinreichende Bedingung für die Bejahung des Unrechtstatbestandes. Und da das Erfolgsunrecht die Rechtswidrigkeit der fraglichen Handlung indiziere, müssen die Fragen der Einhaltung der im Verkehr erforderlichen objektiven Sorgfalt bzw. des sozialadäquaten Risikos notwendig der allein noch verbleibenden Schuldebene zugeordnet werden. Die Fehlinterpretation der Welzelschen Finalitätslehre führt Roeder zu einem kausalistischen Unrechtsverständnis. Hierin liegt der unmittelbare Grund dafür, weshalb er alle straftatkonstituierenden Momente außer dem Tatbestandserfolg der Schuldebene zugewiesen sehen will. Überzeugt die Ablehnung des Finalitätsgedankens nicht, so entfällt gleichzeitig das tragende Grundargument Roeders für eine Verortung der Sozialadäquanzlehre auf Schuldebene. (4) Sozialadäquanz im Fahrlässigkeitsdelikt bei nicht-kausalistischem Unrechtsbegriff Die Fehlinterpretation bei der inhaltlichen Bestimmung des handlungstheoretischen Finalitätsmoments ist der eigentliche Grund, weshalb Roeder beinahe zwangsläufig den Anschluss an die Entwicklung der dogmatischen Strukturen des Fahrlässigkeitsdelikts verpasst und den Fahrlässigkeitsvorwurf weiterhin in der Schuld ACHTUNGREverortet hat.94 Teilt seine Zuordnungsentscheidung, die Sozialadäquanz im Schuldbereich anzusiedeln, unumgänglich dieses Missverständnis, so ist damit indessen noch kein positiver Nachweis geführt, dass die Sozialadäquanzlehre als Teil des objektiven Fahrlässigkeitsvorwurfs außerhalb der Schuld anzusiedeln ist – dieser ausstehende positive Nachweis sei an dieser Stelle in einem kurzen Exkurs von der Untersuchung der Roederschen Argumentation geführt. Dass es kein Widerspruch ist, auch im Falle der Fahrlässigkeit ein „final“ ausgerichtetes Verhalten als Grundelement strafrechtlicher Verantwortung einzufordern, wurde in Auseinandersetzung mit dem Roederschen Unrechtsverständnis bereits dargelegt. Zu belegen bleibt damit allein, dass der Erfolgsunwert, unabhängig von der Qualität des ihn erfolgsverursachenden Verhaltens, nicht hinreicht, den spezifischen strafrechtlichen Unwert der Fahrlässigkeit zu begründen. Für die Frage, weshalb nicht jedes beliebige, einen tatbestandlichen Erfolg kausal bedingendes Verhalten für die Begründung des Fahrlässigkeitsunrechts ausreicht, sind die „Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit“ (1930) von Engisch grundlegend. Im Rahmen seiner Überlegungen hat Engisch herausgearbeitet, dass das Fahrlässigkeitsunrecht neben der tatbestandlichen Rechtsgutverletzung und dem der Schuld zuzuordnenden individuellen Vorwurf individuell-vorwerfbarer Unwissenheit bzgl. der Erfolgsgeeignetheit des Kausalgeschehens noch eines weiteren, 94 Mit der personalen Unrechtslehre des Finalismus ist zugleich der Umbau der Fahrlässigkeitssystematik verbunden: Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten (2001), S. 65; Roxin, AT I (2006), § 24 Rdnr. 4.
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dritten Moments im Sinne eines Mangels an äußerer Sorgfalt bedarf. Zur Illustration gab er folgendes Beispiel:95 Im Falle des Nichtzurückrufens eines auf die Straße laufenden Kindes, könne die sich dort ereignende Verletzung als Sorgfaltspflichtwidrigkeit bei entsprechender Erkennbarkeit zwar auch einem beliebigen Dritten angelastet werden, dennoch sei aber vernünftigerweise nur der Mutter ein Einschreiten in den Geschehensablauf abzufordern.96 Fernab der Frage, ob die in Blick genommene Person zugleich die Garantenpflicht trifft, d. h. den Erfolgseintritt zu verhindern hat (vgl. § 13 StGB), verdeutlicht der Fall, dass ohne jenes dritte Moment fahrlässigen Verhaltens prinzipiell jede Art von Verhalten zunächst möglicher Gegenstand eines Fahrlässigkeitsvorwurfs wäre, sofern es nur zur Vermeidung einer zu vermeidenden Tatbestandsverwirklichung geeignet wäre. Der Bereich strafrechtlicher Sozialkontrolle würde damit unnötigerweise auf das Gebiet solcher Mittel ausgedehnt werden müssen, die gerade nicht mehr mit Gewissheit den als Zweck in Frage kommenden Erfolg verwirklichen.97 Daher muss Engisch zufolge an Stelle eines abstrakt-generellen Maßstabs, eine erfolgsgeeignete, beliebige Handlung überhaupt vorgenommen zu haben, eingefordert werden, dass der Täter mit seinem Verhalten eine konkret ihm obliegende äußere Sorgfaltspflicht verletzt habe. Das Wesen der Fahrlässigkeit kann Engisch zufolge als ein Gebot zum Unterlassen gefährlicher Handlungen begriffen werden, wobei allein an diejenige Gefährlichkeit eines Verhaltens anzuknüpfen sei, die für einen einsichtigen Mensch vom Standpunkt des Täters aus anhand des gesamten Erfahrungswissens erkennbar gewesen wäre.98 Genügt das Verhalten einer Person diesem Maß, so scheidet eine Bestrafung bereits mangels objektiver Sorgfaltspflichtwidrigkeit aus. Der Gesichtspunkt objektiv fahrlässigen Verhaltens erweist sich demzufolge als konstitutiver Unrechtsbestandteil und wird damit nicht erst im Rahmen der Schuld, sondern bereits auf vorhergehenden Deliktsstufen virulent.99 95
Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit (1930), S. 277 f. Vgl. auch Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 564 f.; Kaufmann, FS Welzel (1974), S. 403 ff. (S. 406); Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 9 f. Zur Bedeutung Engischs für den Wandel des Fahrlässigkeitsverständnisses: Roxin, AT I (2006), § 24 Rdnr. 4. 97 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit (1930), S. 281. So auch BGHSt 49, 1 (5) u. 166 (174); OLG Köln, NStZ-RR 2002, 304 (304). Vgl. Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten (2001), S. 202 ff.; Kühl, AT (2005), § 17 Rdnrn. 19 ff. 98 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit (1930), S. 284, 74 ff.; ferner Welzel, Strafrecht (1969), S. 131 f. 99 Während bspw. noch Baumann, MDR 1957, S. 646 ff. (S. 648); Niese, JZ 1956, S. 457 ff. (S. 465) die Vermeidbarkeit eines Erfolgs noch der Rechtswidrigkeit zuordneten (s. auch inzwischen Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau [2002], S. 66 ff.), plädierte bereits Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit (1930), S. 344 ff. für eine Verortung als Tatbestandsmerkmal. So auch heute: (Statt aller) von Heintschel-Heinegg/Duttge, MünchKommStGB I (2003), § 15 Rdnrn. 88 ff. Zum Teil wird sogar dafür plädiert, selbst den individuellen Fahrlässigkeitsvorwurf aus der Schuld in den Tatbestand zu verlagern: Vgl. Kindhäuser, AT (2006), § 33 Rdnrn. 77 ff. m.w.N.; Kindhäuser, GA 141 (1994), S. 197 ff. (S. 204 ff.); Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling (1957), S. 149; Struensee, GA 134 (1987), S. 97 ff. (S. 99). 96
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Komplettiert auf diese Weise erst das objektiv sorgfaltspflichtwidrige Verhalten des Täters den spezifischen (Handlungs-)Unwert der Fahrlässigkeitstat100 und wird mit der Einhaltung des sozialadäquaten Verhaltens der Vorwurf objektiver Sorgfaltspflichtwidrigkeit gerade widerlegt,101 so verbleibt für die Roedersche Argumentation einer Verortung der Sozialadäquanzlehre auf Schuldebene kein Raum mehr – im Gegenteil. Als sedes materiae der Sozialadäquanzlehre kommt dann allein nur noch der Gesamtunrechtstatbestand102 in Betracht. Insofern argumentiert Roeder zudem zirkulär, wenn er in der kausalen Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes das Vorliegen eines die Rechtswidrigkeit indizierenden Unrechts sieht, sodann aber auf Schuldebene (weiterhin noch) klären will, inwiefern die Handlung überhaupt objektiv sorgfaltspflichtwidrig (bzw. Ausdruck eines sozialadäquaten Verhaltens) gewesen ist. Eine von der Rechtsordnung (bzw. Sozialordnung) zugelassene Betätigung kann – auch im Falle der Verletzung eines Rechtsguts – schon begrifflich nicht mit dem Verdikt der Erfüllung eines Unrechtstatbestands belegt werden.
b) Schuld und Sozialadäquanz Verfängt die Schuldzuordnung des sozialadäquaten Risikos, wie Roeder die Sozialadäquanz benennt, angesichts der gewandelten Unrechtslehre im Allgemeinen und der nach gegenwärtigem Stand vorherrschenden Fahrlässigkeitsdogmatik im Besonderen bereits aus deliktssystematischen Gründen nicht (mehr), so überzeugt sie auch der Sache nach nicht. Mit der Schuld wird dem Täter ein von der Rechtsordnung als Straftat bewertetes Verhalten persönlich, individuell vorgeworfen.103 Strafrechtliche Verantwortlichkeit in Form der Schuld setzt also zuallererst das Vorliegen einer Straftat voraus, für welche der Täter sodann verantwortlich erklärt werden kann.104 Das Vorliegen einer Straftat ist es jedoch, was bei Einhaltung des sozialadäquaten Risikos nach der Welzelschen Konzeption in Frage gestellt wird. Ein Verhalten, das sich in den geschichtlich gewordenen Bahnen des tätigen Gemeinschaftslebens bewegt, nach Welzelscher Diktion mithin sozialadäquat ist, kann begriffslogisch nicht nur dem konkreten Täter nicht, sondern richtigerweise überhaupt niemandem vorgeworfen werden. Nicht nur 100 Neben den obigen Nachweisen: Fischer, StGB (2008), § 15 Rdnr. 16; Maurach/Gössel/ Zipf, AT II (1989), § 43 Rdnr. 39; Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling (1957), S. 105. 101 Welzel, Strafrecht (1969), S. 132; Welzel, Das Neue Bild des Strafrechtssystems (1952), S. 20, 57 f. Auch Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951), S. 61; selbst Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 65 f. 102 Vgl. dazu in diesem Teil sogleich unten unter „2. Unrechtstatbestand“. 103 BVerfGE 20, 323 (331); BGHSt 2, 194 (200); Ebert, AT (2001), S. 92; Roxin, AT I (2006), § 19 Rdnr. 1. 104 Bereits von Hippel, Strafrecht II (1930), S. 270; vgl. von Liszt, Deutsches Strafrecht (1897), S. 154.
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individuell, sondern vielmehr generell fehlt es hier am Unrechtswert – sozialadäquates Verhalten ist niemals Unrecht. Auf die individuelle (Schuld-)Vorwerfbarkeit kommt es somit von vornherein nicht mehr an.105 Bevor nunmehr eine exakte Verortung der Sozialadäquanzlehre innerhalb des ACHTUNGREUnrechtstatbestandes angegangen werden kann, ist auf ein weiteres aufeinander aufbauendes Missverständnispaar Roeders hinzuweisen, welches zu einer inhaltlichen Verengung der Sozialadäquanzfigur führt. Abzuhandeln sind nunmehr die beiden oben zurückgestellten Fragen. c) „Sozialadäquanz“ oder „sozialadäquates Risiko“? In Übernahme der Terminologie Roeders wurden bisher „sozialadäquates Risiko“ und „Sozialadäquanz“ synonym verwendet. Wie jedoch angedeutet, stellt die mit einer solchen Terminologie implizierte Möglichkeit der Gleichsetzung von „erlaubtem Risiko“ und „sozialer Adäquanz“ die eigenständige Bedeutung letzterer in ACHTUNGREFrage – es wäre schwerlich begründbar, weshalb neben der etablierten Rechtsfigur des „erlaubten Risikos“ mit der Sozialadäquanz eine neue, aber inhaltsgleiche Kategorie eröffnet werden sollte. Nach der Konzeption Welzels soll die Sozialadäquanz eines Verhaltens auch im Rahmen des Fahrlässigkeitsunrechts ein rechtsbegrenzendes Prinzip sein – den strafrechtlichen Wertungen werden die geschichtlich gewordenen Ordnungen des Gemeinschaftslebens entgegengehalten. Keinesfalls sollte es sich bei der Lehre um einen bloßen Gesichtspunkt zur Bestimmung des objektiven Sorgfaltsmaßstabes wie etwa dem des „erlaubten Risikos“ handeln. Ursprung der problematischen Gleichsetzung beider Begriffe ist eine an die Anmerkung Welzels – das „erlaubte Risiko“ sei ein Sonderfall der „sozialen AdäACHTUNGREquanz“106 – anknüpfende überschießende Interpretation Roeders, welche zur Zusammen- und damit fälschlicherweise Gleichsetzung von „erlaubtem Risiko“ zum einen und „sozialer Adäquanz“ zum anderen hin zur Figur des „sozialadäquaten Risikos“107 führt. Zwar liegt diese Synthese prima facie nicht zuletzt deshalb geradezu nahe, weil die von Welzel explizit als Beispiel angegebenen Situationen sozial adäACHTUNGREquaACHTUNGREten Ver-
105 Zu Recht: Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1780) oder Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. (S. 640 f.). Ferner Dunz, NJW 1960, S. 507 ff. (S. 509); Lange, JZ 1953, S. 9 ff. (S. 13); Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling (1957), S. 148. 106 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 518); Welzel, Strafrecht (1947), S. 83 f.; Welzel, Das Neue Bild des Strafrechtssystems (1952), S. 29; Welzel, Strafrecht (1969), S. 132. 107 Diese Gleichsetzung findet sich auch bei Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1779); Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 680) sowie en passant bei Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 264); ferner Maurach/Gössel/Zipf, AT II (1989), § 43 Rdnr. 39 m.w.N. i.V.m. § 44 Rdnr. 11.
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haltens (z. B. der Betrieb einer Eisenbahn mit Verletzungsfolgen108) in der Tat oftmals durch den Umstand bloß potentiell gefährdenden, d. h. riskanten, aber eben noch nicht notwendig verletzenden Verhaltens gekennzeichnet sind. Nur darf hierüber nicht vernachlässigt werden, dass Welzel zum einen seine Beispielsfälle, über die verschiedenen Entwicklungsstadien seines Strafrechtssystems hinweg, der Lösung mitunter divergierender strafrechtsdogmatischer Figuren anheim gestellt hat109 – etwa angeführte Beispiele die Synthese aus erlaubtem Risiko und sozialer Adäquanz daher nur ACHTUNGREbedingt zu tragen vermögen. Zum anderen ist anzumerken, dass selbst Welzel einen kategorialen Unterschied beider Figuren beanspruchte. So erhob er die Besonderheit seines „Erbonkel-Falls“110 an anderer Stelle ausdrücklich zum differenzierenden Moment zwischen „erlaubtem Risiko“ und „sozialer Adäquanz“. Welzel führte aus, das erlaubte Risiko unterscheidet „sich von sonstigen sozialadäquaten Handlungen […] durch den Grad der Rechtsgutsgefährdung“111. Weil erlaubt riskante Verhaltensweisen lediglich potentiell, sozial adäquate Verhaltensweisen demgegenüber aktual und unmittelbar rechtsgutverletzend sind,112 erweise sich das erlaubte Risiko aus Perspektive des Rechtsgüterschutzes als ein ,Weniger (und damit als distinkt!) im Vergleich zur invasiven Sozialadäquanz, zugleich aber auch als ein verwandter Fall – nicht jedoch Unterfall i. e. S. – letzterer, da es, wie auch das sozial adäquate Verhalten, nichtsdestoweniger erst im Falle einer (dennoch) eingetretenen Rechtsgutseinbuße strafrechtliche Bedeutung gewinnt. Ist es zu einer Rechtsgutsverletzung ACHTUNGREgekommen, kann folglich entweder nach der sozialen Adäquanz des verursachenden Verhaltens oder, wenn das streitgegenständliche Verhalten bloß riskant, aber nicht unmittelbar rechtsgutsverletzend gewesen ist, nach der Erlaubtheit des in dem Verhalten an den Tag gelegten Risikos gefragt werden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Figuren und damit deren jeweilige ACHTUNGREEigenständigkeit wird desgleichen anhand ihrer begrifflichen Form offenbar. Die ACHTUNGREAdäquanz ist sozialer Art, während das Risiko erlaubt ist. Um an das Welzelsche ACHTUNGREBeispiel anzuschließen, der Betrieb von Eisenbahnen ist durch Stellungnahme des Gesetzgebers rechtlich erlaubt (vgl. inzwischen AEG113), während es in den Fällen 108 Welzel, Strafrecht (1947), S. 35 oder der Fall des Neffen, der „den Erbonkel zur eifrigen Benutzung der Verkehrsmittel ermuntert in der (begründeten) Erwartung, er möge bei einem Unglück vorzeitig ums Leben kommen“ (Welzel, Strafrecht [1969], S. 56). 109 Etwa der vorgenannte „Erbonkel-Fall“ (s. Fußn. zuvor): Zunächst Lösung anhand der sozialen Adäquanz (Welzel, Strafrecht [1947], S. 35); sodann lediglich Verneinung der Vorsatzes (Welzel, Strafrecht [1969], S. 66); s. allg. hierzu Meli, GA 142 (1995), S. 179 ff. (S. 179). Insges. weichen die Bspe. sozialadäquaten Verhaltens erheblich voneinander ab: vgl. Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (304). 110 Vgl. Fußn. 108. 111 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 518). 112 Exempl. Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1777). 113 Allgemeines Eisenbahngesetz in der Ursprungsfassung vom 29. März 1951 (BGBl. I, S. 225), neu verabschiedet als Art. 5 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I, S. 2378), zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 26. Februar 2008 (BGBl. I, S. 215). Die Aufstellung von Verkehrsregeln lässt auf die grds. Erlaubnis der sie
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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sozial adäquater Verletzungshandlungen an solch einem gesetzgeberischen Plazet fehlt.114 Darum werden invasive, sozialadäquate Verhaltensweisen von der Rechtsordnung (zunächst) als unrechtmäßig erachtet, und zur Leitidee der Welzelschen Lehre wird es, solche rechtlich an sich unerlaubten Verhaltensweisen unter Rückgriff auf die geschichtlich gewordenen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens diesem Verdikt gleichwohl zu entziehen. Die Sozialadäquanzlehre ist demgemäß ein die positive Rechtsordnung ergänzendes Prinzip.115 Im Unterschied dazu ist die Figur des „erlaubten Risikos“ ein der Rechtsordnung inhärentes ,Eigenprodukt mit der Konsequenz, dass bspw. das sich innerhalb der geltenden (Rechts-)Regeln bewegende Angebot von Schienenverkehr bzw. die Verleitung zur Teilnahme hieran, dem Unrechtstatbestand niemals unterfällt, selbst wenn doch einmal eine Rechtsgutsverletzung eintreten sollte.116 Die Sozialadäquanzlehre ist mithin nicht identisch mit dem zur Bestimmung des objektiven Sorgfaltspflichtenmaßstabes heranzuziehenden „erlaubten Risiko“, so dass ihr im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte ein eigenständiger Anwendungsbereich nicht von vornherein abgesprochen werden kann. d) Vorsätzliche Rechtsverletzung als sozialadäquates Verhalten Mit der Verschmelzung von erlaubtem Risikos und sozialer Adäquanz hin zum „sozialadäquaten Risiko“ verfehlt Roeder zum einen die zwischen beiden Kategorien bestehende inhaltliche Differenz und wird zum anderen zu der – abschließend zu erörternden – Schlussfolgerung verleitet, die Figur der Sozialadäquanz könne bei Vorsatzdelikten sodann überhaupt keine Anwendung finden, denn „[w]er den Eintritt eines rechtswidrigen Erfolges auch nur billigend in Kauf nimmt, ist ein sozialinACHTUNGREadäquates Risiko eingegangen, das am allerwenigsten auf dem Gebiete des Strafrechts pardoniert zu werden verdient. Strafbefreiung wegen Einhaltung des sozialadäquaten Risikos kommt daher von vornherein nur in Betracht, wenn sich der Täter der Hergeregelten Verhaltensweisen schließen: vgl. Kindhäuser, GA 141 (1994), S. 197 ff. (S. 217); Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1778). 114 Hierauf weisen auch Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit (1930), S. 286 f.; Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit (1910), S. 194; Kubink, JA 2003, S. 257 ff. (S. 259); Maurach/Gössel/Zipf, AT II (1989), § 43 Rdnrn. 39, 43 ff. sowie Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1777) hin. 115 Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. (S. 637). Vgl. Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 96 f.); Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 101, 105 f.; Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 251, 255 ff.); Kubink, JA 2003, S. 257 ff. (S. 259). 116 Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 310 f.). Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 99) will daher den Begriff des „erlaubten“ durch den des „unverbotenen“ Risikos ersetzen. Nach gegenwärtigem dogmatischen Stand wird das erlaubte Risiko überwiegend der Kategorie der objektiven Zurechnung zugeschlagen (Ebert, AT [2001], S. 167 u. 52; Kindhäuser, AT [2006], § 33 Rdnr. 33; Kühl, AT [2005], § 17 Rdnr. 55; vgl. schon Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit [1930], S. 286 ff.). A.A. [Rechtfertigende Wirkung] Gropp, AT (2005), § 6 Rdnrn. 198 ff.
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beiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges überhaupt nicht bewußt ist (unbewusste Fahrlässigkeit) oder doch auf sein Ausbleiben vertraut (bewusste Fahrlässigkeit)“117. Folgerichtig ist dies derweil lediglich dann, wenn das „sozial adäquate“ Verhalten in der Formel des „sozialadäquaten Risikos“ fürwahr mit einem bloß „(sozialadäquat) riskantem Verhalten“ gleichgesetzt werden könnte, der sozial adäquat Handelnde mit anderen Worten allenfalls um die Gefährlichkeit seines Verhalten wissen dürfte, während er auf die tatsächliche Verletzung eines Rechtsgutes abzuzielen nicht berechtigt wäre. Dies widerspräche jedoch dem Anspruch der Welzelschen Konstruktion. Bestreben seiner Figur der Sozialadäquanz, auf die Roeder direkten Bezug nimmt, ist es, jede Verhaltensweise dem Unrechtsverdikt zu entziehen, sofern sie den historisch gewachsenen Ordnungen des Gemeinschaftslebens entspricht – und zwar unabhängig davon, ob sie nun bloß fahrlässig-riskant oder vorsätzlich-verletzend ausgeführt wurde. Gemäß der Welzelschen Leitidee bestehen keinerlei Bedenken, den Anwendungsbereich seiner Lehre ebenfalls auf Vorsatztaten zu erstrecken.118 Es wäre geradezu zirkulär, die Einschlägigkeit des an den faktischen Gemeinschaftsordnungen orientierten, kurzum überpositiven Prinzips der Sozialadadäquanz mit dem Argument scheitern zu lassen, ein Täter habe mit seinem an diesen überpositiven Regeln zu messenden Verhalten vorsätzlich die unrechtsbegründenden Voraussetzungen des positiven Rechts erfüllt119. Ob eine Verhaltensweise mit den geschichtlich gewordenen Ordnungen des Gemeinschaftslebens in Einklang steht, ist nicht anhand des Umstandes entscheidbar, ob selbige nun aus Warte des Rechts als vorsätzlich oder als fahrlässig zu bewerten ist. Insofern ist es von Roeder auch terminologisch widersprüchlich, anstatt von „erlaubtem Risiko“ von „sozialadäquatem Risiko“ zu sprechen, dem „Risiko“ auf diese Weise ein Beiwort anzufügen, welches den Rekurs auf ein außerpositives Kennzeichen (zumindest) suggeriert, sodann jedoch ein Verhalten allein schon deshalb für den Ausdruck eines „sozialinadäquaten Risikos“ zu betrachten, nur weil es auf die Verletzung eines rechtlich geschützten Interesses (in Form des betroffenen Rechtsguts) abzielt. Eine andere, später zu behandelnde Frage ist die nach den inhaltlichen Anforderungen an die Einschlägigkeit der Sozialadäquanzlehre. Erfordern deren inhaltliche Voraussetzungen möglicherweise bestimmte subjektive Momente bzgl. der Intention des, mit Blick auf die tatsächlichen Umstände des Geschehens vorsätzlich Handelnden? So kann zumindest nicht a priori ausgeschlossen werden, dass die SozialadäACHTUNGREquanz einer vorsätzlichen Rechtsgutsverletzung im konkreten Einzelfall gerade aufgrund der besonderen Motivlage des (Vorsatz-)Täters verneint werden muss. 117 Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 40 – Hervorhebung im Orig. So auch Dölling, ZStW 96 (1984), S. 36 ff. (S. 61); Kindhäuser, GA 141 (1994), S. 197 ff. (S. 198). 118 Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 97 f.); Kienapfel, Das erlaubte Risiko (1966), S. 12 f. Vgl. BGHSt 32, 226 (228). Auch wenn die Fahrlässigkeitsdelikte den Hauptanwendungsfall der Sozialadäquanzlehre bilden mögen: Kubink, JA 2003, S. 257 ff. (S. 259); Schaffstein, ZStW 72 (1960), S. 369 ff. (S. 372 f.). 119 Vgl. Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. (S. 635 f.).
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Der kategorische Ausschluss der Anwendbarkeit der Sozialadäquanzlehre auf Vorsatzdelikte ist zuletzt außerdem von einer dogmatisch-logischen Unstimmigkeit durchsetzt: Im Unterschied zum Fahrlässigkeitstäter, dem Roeder zufolge ein Berufen auf das sozialadäquate Risiko im Rahmen des (rechtlichen!) Sorgfaltspflichtenmaßstabes gewährt werden soll, kennt der Vorsatztäter zwar die tatsächlichen Umstände seines Tuns (vgl. § 16 StGB). Jedoch stellt sich die Frage nach der Einsicht in die Rechtswidrigkeit des Erfolges und d. h. letztlich das Thema der Unrechtseinsicht bei beiden Begehungsformen (innerhalb der Schuld) gleichermaßen.120 Warum nunmehr dem, die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens erkennenden Vorsatztäter der Erfolg nicht pardoniert, dem die Rechtswidrigkeit dagegen ebenso erkennenden (bewusste Fahrlässigkeit) bzw. vorwerfbar nicht erkennenden (unbewusste Fahrlässigkeit) Fahrlässigkeitstäter der Erfolg nachgesehen werden soll, ist nicht nachvollziehbar. Sichtbar wird stattdessen wiederum, dass Roeder mit seiner Figur des „sozialadäquaten Risikos“ unter Berufung auf die Welzelsche Lehre – doch gleichwohl im Widerspruch dazu –, allein riskantes und nicht auch sozialadäquat verletzendes Verhalten erfassen will. Die Figur des „erlaubten Risikos“ exklusiv den Fahrlässigkeitstaten zuzuordnen ist schlüssig, für die Verortung und den ,Zuschnitt der „Sozialadäquanzlehre“ unterdessen belanglos. e) Ergebnis Für den Fortgang der vorliegenden Untersuchung heißt dies, ein „sozial adäquates“ Verhalten verfügt im Verhältnis zum „erlaubten Risiko“ über einen distinkten Charakter. Die Welzelsche Figur kommt daher auch bei Vorsatztaten prinzipiell zum Einsatz. Bzgl. der Verortung innerhalb des Aufbaus des Fahrlässigkeitsdelikts sprechen sowohl die Auseinandersetzung mit der Roederschen Argumentation als auch die Untersuchung der Struktur des Fahrlässigkeitsdelikts deutlich gegen die Schuldebene als sedes materiae der Sozialadäquanzlehre. Auch der Blick auf den Inhalt des Schuldvorwurfs im Allgemeinen führt hinsichtlich der Vorsatzdelikte zu demselben Ergebnis. Die Sozialadäquanzlehre ist nicht der Schuldebene zuzuordnen. Die Auseinandersetzung mit der Roederschen Argumentation hat erwiesen, dass eine nach allgemeiner sozialer Adäquanz forschende Lehre der individuellen Deliktsstufe der Schuld nicht ohne dogmatische Verwerfungen zugeordnet werden kann. Sie hingegen dem damit verbleibenden, generellen Unrechtstatbestand zuzuweisen, ist schlüssig und seit Abkehr von einer naturalistischen, kausalen Unrechtslehre grundsätzlich auch dogmatisch-inhaltlich begründbar.
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Dem Fahrlässigkeitstäter muss die Sorgfaltspflichtwidrigkeit seines Tuns bekannt sein bzw. hätte bekannt sein müssen: Ebert, AT (2001), S. 170; Gropp, AT (2005), § 12 Rdnrn. 110 ff.; Roxin, AT I (2006), § 24 Rdnrn. 111 f. Zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsschuld differenzierend: Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. 120/121.
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2. Unrechtstatbestand Der normative Erkenntniswandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wonach dem „Unrecht“ nicht nur bestimmte subjektive Elemente (namentlich der Vorsatz) eigen sind, sondern sich auch ganz allgemein keinesfalls als schlichte Außenseite des Verbrechens darstellt, dessen Feststellung allein einer wertfreien, deskriptiven Betrachtung überlassen werden könnte,121 eben diese Einsicht ,öffnete den Unrechtstatbestand für wertende Komponenten, wie die Sozialadäquanz eine ist. Unklarheit besteht dementgegen über die dogmatische Struktur dieses Unrechtstatbestandes – ob dieser sich als ein Gesamtunrechtstatbestand122 darstellt oder ob er nochmals in die Momente der Tatbestandsmäßigkeit sowie der Rechtswidrigkeit zu unterteilen ist, so dass am Ende zusammen mit der Schuld ein dreigliedriger Deliktsaufbau entsteht. Ohne die logische Stringenz und die durchaus vorhandenen teleologischen Vorzüge des zweistufigen123 oder aber die Vorzüge des dreigliedrigen Verbrechensaufbaus124 hier ausbreiten zu wollen, soll in Übereinstimmung mit Rechtsprechung und weiten Teilen der Literatur hier dem dreigliedrigen Deliktsaufbau gefolgt werden. Der Begriff „Unrechtstatbestand“ wird in der vorliegenden Arbeit also lediglich als Oberbegriff für die beiden generellen Deliktsstufen des Tatbestands und der Rechtswidrigkeit125 im Verhältnis zur individuellen Deliktsstufe der Schuld gebraucht werden. 121
Ebert/Kühl, JURA 1981, S. 225 ff. (S. 228 f.); Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 204 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. 22; Roxin, AT I (2006), § 7 Rdnrn. 15 ff. 122 In der neueren Lit.: Rinck, Der zweistufige Deliktsaufbau (2002), S. 71 ff., 307 ff., 463 ff.; Schmid, Das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit (2002), S. 84 ff. Vgl. auch Schaffstein, ZStW 72 (1960), S. 369 ff. (S. 386 ff.). 123 Vgl. Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnrn. 16 ff. m.w.N. Grundlage des zweigliedrigen Verbrechensaufbaus ist der Gedanke, dass der Tatbestand mehr als bloße ratio cognoscendi (Erkenntnisgrund), nämlich ratio essendi (Seinsgrund) der Rechtswidrigkeit, und die Tatbestandsverwirklichung somit Seinsgrund für die Bedeutsamkeit der Rechtsgutverletzung sei (vgl. Kienapfel, Körperliche Züchtigung [1961], S. 13 ff.; Nowakowski, ZStW 63 [1951], S. 287 ff. [S. 327]). 124 Dieser Unterscheidung folgt augenscheinlich auch der Gesetzgeber: Vgl. § 32 Abs. 1 StGB, wonach die Begehung einer Tat (scil. die Verwirklichung eines Straftatbestandes) durch Notwehr dem Rechtswidrigkeitsverdikt entzogen wird, ein bereits als tatbestandsmäßig ACHTUNGREerwiesenes Verhalten mithin gerechtfertigt sein kann. Zur geschichtlichen Entwicklung des auf v. Liszt und Beling zurückgehenden dreistufigen Deliktsaufbaus s. bei Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling (1957), S. 7 ff. 125 In der Rspr. hat diese Unterscheidung spätestens seit der ersten Entscheidung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch herausragende Bedeutung gewonnen. Die Abtreibung dem Strafbarkeitsverdikt unter bestimmten Voraussetzungen zu entziehen, „kann der Gesetzgeber nur erreichen, indem er diese Schwangerschaftsabbrüche aus dem Tatbestand des § 218 StGB ausnimmt; sie können nicht für gerechtfertigt (nicht rechtswidrig) erklärt werden“ (BVerfGE 88, 203 ff. [273]). Überwiegende Meinung in der Lit.: Ebert, AT (2001), S. 36 f.; Gropp, AT (2005), § 3 Rdnrn. 57 ff.; Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerk-
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Zu untersuchen ist damit die Frage, ob die Sozialadäquanzlehre der Ebene der Rechtswidrigkeit oder dem Tatbestand zuzuordnen ist.126
a) Rechtswidrigkeit (1) Die Zuordnungsentscheidung Welzels für einen Rechtfertigungsgrund Ab der 4. Auflage seines Strafrechtslehrbuchs vollzieht Welzel in seiner Lehre von den „offenen“ und „geschlossenen“ Tatbeständen eine für die Zuordnung der Sozialadäquanz entscheidende Wende. Die Klassifikation eines „offenen“ Tatbestands wird nunmehr allein von der Formulierung des Gesetzeswortlauts abhängig gemacht. Nur dort, wo der Gesetzgeber in einer Strafbestimmung positiv die Feststellung der Rechtswidrigkeit vorsieht, kann von einem Tatbestand gesprochen werden, der die Verbotsmaterie nicht allseitig und erschöpfend durch sachlich-gegenständliche Merkmale umschreibt, und der darum „offen“ ist.127 Die Frage nach der sozialen Adäquanz (resp. Inadäquanz) eines an sich tatbestandlichen Verhaltens ist demgegenüber übergesetzlicher Natur, und nachgerade keine solch positive Regel. Ergo werden Tatbestände nicht bloß durch Vorliegen eines Falles sozialer Adäquanz zu „offenen“, sondern bleiben „geschlossene“ Tatbestände. Und da nur bei den „offenen“ Tatbeständen eine ,Schließung mittels wertender Feststellung der Rechtswidrigkeitsebene zugeordnet ist (vgl. § 240 Abs. 2 StGB), spräche im Umkehrschluss einiges dafür, die überpositive Sozialadäquanzlehre, welche die „Geschlossenheit“ positiver Tatbestände folgerichtig nicht in Frage stellen kann, gerade dem Tatbestand zuzuordnen. Nun hat Welzel allerdings eine weitere entscheidende Akzentverschiebung vorgenommen. Seiner (geänderten) Auffassung zufolge soll selbst die Verwirklichung der „geschlossenen“ Tatbestände mitnichten per se unrechtsindizierend wirken. Vielmalen (1960), S. 217, 347 f.; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 248 ff.; Kühl, AT (2005), § 1 Rdnrn. 22 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 ff. Rdnrn. 15 ff.; Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnrn. 22 ff.; Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 15 ff. Vgl. ferner Kadecka, ZStW 59 (1940), S. 1 ff. (S. 5); Kindhäuser, AT (2006), § 6 Rdnrn. 8 ff. Zur a.A. s. die Fußn. oben. 126 Wird ein zweistufiger Deliktsaufbau vertreten, stellt sich diese Einordnungsfrage nicht. Die Sozialadäquanz wäre insofern schlicht negatives Tatbestandsmerkmal (Schmid, Das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit [2002], S. 105). Dementsprechend plädiert etwa Schaffstein, ZStW 72 (1960) S. 369 ff. (S. 385 ff. u. 393 ff.) für „eine Korrektur des Tatbestandsbegriffs [als] den einzigen Weg, der zu einer widerspruchsfreien Standortbestimmung der Sozialadäquanz führen kann“ (a.a.O., S. 386). Ferner Lange, JZ 1953, S. 9 ff. (S. 13 ff.), der vor dem Hintergrund, dass mit dem die Rechtfertigungsfrage nicht einbeziehenden Tatbestandsbegriff bereits die erste materielle strafrechtliche Erheblichkeit einer Handlung festgestellt sei, ebenfalls für eine soziale Adäquanz als negatives Tatbestandsmerkmal plädiert. Speziell auf diesen Zusammenhang weist auch Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. (S. 644 f. m. Fußn. 20) hin. 127 Welzel, Strafrecht (1954), S. 61. Wenig später betrachtete Welzel auch die „offenen Tatbestände“ als unrechtsindizierend und unterschied hiervon solche „offenen Tatbestände“, „bei denen ein sachliches Leitbild für die Tatbestandsergänzung fehlt, wie vor allem bei der Nötigung des § 240 [StGB]“ (Welzel, Strafrecht [1960], S. 74 f.; Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems [1961], S. 24 f.).
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mehr verblieben eine Vielzahl tatbestandsmäßiger Verhaltensweisen, „bei denen die Frage nach einem besonderen rechtlichen Erlaubnissatz nicht auftaucht, weil die Art unserer geschichtlich gewordenen Sozialordnung sie gestattet […]. Die soziale ACHTUNGREAdäquanz ist hier der in der sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens wurzelnde (gewohnheitsrechtliche) Rechtfertigungsgrund tatbestandsmäßigen Verhaltens“128. Der nunmehr verfolgte Grundgedanke ist, dass – anders als bei der einzelfallabhängigen Rechtfertigung eines Verhaltens durch einen besonderen, geschriebenen Erlaubnissatz – bei der sozialen Adäquanz das Verdikt der Unrechtsverwirklichung grundsätzlich und von vornherein ,neutralisiert wird. Sozial adäquates Verhalten ist nicht nur im Einzelfall, sondern niemals Unrecht. Aber anstatt seiner Lehre daher dem Tatbestand oder wenigstens dem ,Zwischen von Tatbestand und (reiner) Rechtfertigung zuzuordnen, erklärt Welzel die Sozialadäquanz zu einem (gewohnheitsrechtlichen) „Rechtfertigungsgrund“, wobei sich der der Rechtfertigung wesensmäßige Einzelfallbezug seiner Argumentation zufolge bei Vorliegen sozialer Adäquanz doch eigentlich überhaupt nicht mehr stellen soll. Hinzu tritt, dass Welzel in der 11. Auflage seines Lehrbuches seine Argumentation als, durch „den tatbestandlich verunglückten § 240 [StGB]“129 motivierten Fehlschluss revidiert hat. Quelle der deliktssystematischen Fehlzuordnung sei die unzureichende Trennung der sozialen Adäquanz von den Rechtfertigungsgründen sowie die mitunter den echten Rechtfertigungsgründen zuzuschlagenden Beispielsfälle sozialer Adäquanz gewesen. Zu nennen ist hier v. a. das Beispiel des Zugführers, der durch Halten an nur bestimmten Stationen seinen Passagieren die Möglichkeit jederzeitigen Aussteigens nimmt und nach Welzel daher eine Freiheitsberaubung begeht (s. § 239 Abs. 1 StGB).130 Um der sozialen Adäquanz die Affinität zu den Rechtfertigungsgründen zu nehmen, grenzt Welzel erstere schlussendlich von den Rechtfertigungsgründen ab, indem er betont, dass Rechtfertigungsgründe „zwar ebenfalls eine Handlungs-,Freiheit geben, aber eine solche besonderer Art, nämlich eine spezielle Erlaubnis, die die Vornahme tatbestandsmäßiger, also sozialinadäquater Handlungen gestattet“131. Mit dem erneuten Wandel des Welzelschen Theoriegebäudes sowie den oben aufgeworfenen inhaltlichen Unklarheiten hinsichtlich der Zuordnung auf Rechtfertigungsebene ist allerdings keinesfalls zwingend eine Absage an die Anerkennung 128
Welzel, Strafrecht (1954), S. 62. Ebenso Welzel, Strafrecht (1960), S. 76 sowie Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 25. 129 Welzel, Strafrecht (1969), S. 57. Vgl. ebd. auch bzgl. der beiden nachfolgenden Begründungsmomente. 130 Welzel, Strafrecht (1947), S. 36; Welzel, Strafrecht (1949), S. 37; Welzel, Strafrecht (1954), S. 62; Welzel, Strafrecht (1960), S. 76. Vgl. auch Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1778), der diese Lsg. konsentiert. Indes ist der ,Zugführer-Fall über ein tatbestandsausschließendes Einverständnis zu lösen – die Fahrgäste besteigen das Transportmittel im Wissen, es nicht an jedem beliebigen Ort verlassen zu können (vgl. Fischer, StGB [2008], § 239 Rdnr. 12 m.w.N.; s. dazu näher sogleich unter „(2) Zur Standortbestimmung durch Klug“). 131 Welzel, Strafrecht (1969), S. 57 – Hervorhebungen im Orig. gesperrt gedr.
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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einer rechtfertigenden Sozialadäquanz verbunden. Umso weniger, als andere Autoren ebenfalls für eine solche Zuordnung plädieren. Zu verweisen ist etwa auf Nipperdey, der im Anschluss an das Zugführerbeispiel Welzels ausführt, dass das Geschehen selbstverständlich bzw. völlig harmlos sei – sich mithin im Rahmen des sozialethisch Erlaubten bewege –, und daher trotz Tatbestandsmäßigkeit nicht mit dem Unwerturteil der Rechtswidrigkeit belegt werden könne.132 Gleichermaßen betont Mezger, dass zwar jede Straftat tatbestandliches Unrecht sei, bloße Tatbestandserfüllung hingegen nur dort Unrecht, wo der Täter das vom Gesetz vorausgesetzte typische Verhalten an den Tag gelegt hat: Hingegen „wäre [es] ein schlimmes Missverständnis, wenn man den Schluss ziehen wollte, dass jede Tatbestandserfüllung Unrecht wäre“133. Des Weiteren argumentiert Gropp, gerade die Verwirklichung des tatbestandlichen Unrechts verweise die Thematik der sozialen Adäquanz notwendig in den Bereich der Rechtfertigung.134 (2) Zur Standortbestimmung durch Klug Eine inhaltlich reichhaltigere Standortbestimmung innerhalb der Rechtswidrigkeit hat Klug vorgelegt, für den die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten strafbar ist, in gleicher Weise nicht nur anhand der im Gesetz formulierten Rechtssätze, ACHTUNGREsondern außerdem ggf. mittels übergesetzlicher Grundsätze zu entscheiden ist.135 Überpositive Direktiven seien notwendig – und „[d]ies könnte nur verneinen, wer entweder glaubte, der Gesetzgeber könne fehlerfrei arbeiten, oder meinen würde, [… auftauchende] Schwierigkeiten ließen sich sämtlich im Rahmen der Rechtswidrigkeitslehre lösen“136. Anstatt die Figur der Sozialadäquanz aus diesem Grunde aber vollständig der Tatbestandsebene zuzuschlagen, optiert Klug für deren Aufspaltung. Zu unterscheiden sei zwischen erlaubtem und gebotenem Verhalten: „Zwar ist im üblichen Sprachgebrauch alles, was geboten ist, zugleich erlaubt. Die Umkehrung aber 132
Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1778). Mezger, Deutsches Strafrecht (1941), S. 68. Zu beachten ist, dass die im Anschluss hieran bemühte „Tätertypenlehre“ als Ausfluss des Versuchs, in den 1930er Jahren ein präventives Täterstrafrecht nach v. Liszts Vorstellungen zu kreieren, nicht nur von den Nationalsozialisten etwa in den „Verordnungen gegen Volksschädlinge“ vom 5. 9. 1939 missbraucht wurde (s. hierzu Frommel, JZ 1980, S. 559 ff. [S. 560 ff.]), sondern ohnedies als eine über die Einzeltatschuld hinausgehende Betrachtungsweise rechtsstaatlich schwerlich haltbar ist (Roxin, AT I [2006], § 6 Rdnrn. 6 ff.); so lehnte selbst das Reichsgericht bzgl. § 211 StGB die „Tätertypenlehre“ in einem Urteil vom 27. November 1942 noch ab (RGSt 76, 297 [LS u. 299]). 134 Gropp, AT (2005), § 6 Rdnr. 230 m.w.N. 135 Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 249). 136 Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 256). Insofern auch Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960) mit seinem Hinweis: „Die (materielle) Beurteilung einer Straftat kann nicht davon abhängen, ob der Norminhalt vom Gesetzgeber in der Strafbestimmung auch wirklich sprachlich exakt zum Ausdruck gebracht worden ist. Sie darf das umso weniger, als es dem Gesetzgeber häufig unmöglich ist, die Verbote so zu formulieren[,] daß ihr Wortlaut sozialadäquates Verhalten niemals mit umfasst“ (Klug, FS Eb. Schmidt [1961], S. 249 ff. [S. 287]). 133
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gilt nicht, denn nicht alles, was erlaubt ist, ist zugleich geboten“137. Folglich sei zwischen „sozialadäquatem“, sprich sozialethisch erlaubtem und sozialethisch gebotenem, dem sog. „sozialkongruenten“ Verhalten zu unterscheiden. Maßgebliches Kriterium für sozialkongruente Verhaltensweisen sei das der Geringfügigkeit; minimale Rechtsgutsläsionen verwirklichten zwar formal den zugehörigen Tatbestand, ließen aufgrund ihrer Marginalität jedoch keine sozialethische Bewertung zu. Als sozialethisch irrelevant vermögen sie den Tatbestand einer Strafnorm materiell nicht mehr zu erfüllen.138 Jedoch müsse die Anerkennung eines an sich tatbestandsmäßigen Verhaltens, welches als sozialkongruent aus dem Tatbestandsbereich ausgeschieden wird, die Ausnahme bleiben. „Im Zweifel wird nur rechtfertigende Sozialadäquanz vorliegen. Dies hänge damit zusammen, daß die Tatbestände der gesetzliche Niederschlag sozialethischer Prinzipien sind, so daß zunächst immer eine Vermutung gegen Sozialkongruenz spricht, wenn ein Verhalten sich als tatbestandsmäßig erweist“139. Während darum gänzlich geringfügige Rechtsgutsverletzungen aufgrund ihrer sozialen Irrelevanz als sozialkongruent bereits aus dem Tatbestand auszuscheiden seien, handele es sich bei den Freiheitsberaubungen im Welzelschen Beispiel des öffentlichen Personenverkehrs aufgrund ihrer Üblichkeit „jeweils um ein Erlaubtsein eines sozial nicht irrelevanten Verhaltens“140. In Betracht komme dort bloß die Anwendung einer Sozialadäquanz, die als ein allgemeines Rechtfertigungsprinzip aufzufassen sei.141 Nun erweist sich gerade dieses Beispiel, wie bereits dargelegt, nach Welzels eigenem Bekunden als schlechter Prüfstein für die Standortbestimmung der SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre. Ist der fragliche Freiheitsentzug durch das Halten des Zugfahrers an nur bestimmten Stationen richtigerweise doch bereits über ein tatbestandsausschließendes Einverständnis zu lösen – der Fahrgast betritt das Transportmittel mit dem von vornherein vorhandenen Bewusstsein sowie Einvernehmen, dieses nur an den vorgesehenen Haltestellen verlassen zu können und zwischen den Haltestellen entsprechend im Fahrzeug verbleiben zu müssen.142 Der Anwendungsbereich der Lehre von der Sozialadäquanz beginnt folglich überhaupt erst dort, wo der Benutzer 137
Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 259). Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 260 f.). 139 Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 261). Auf die unrechtsindizierende Wirkung der Tatbestandserfüllung, weil „in den Straftatbeständen das Erfahrungswissen um die Sozialschädlichkeit bestimmter Verhaltensweisen niedergelegt ist“ weist auch Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. (S. 648) hin. 140 Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 263 f.). 141 Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 262). 142 Ausdrücklich: Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960), S. 283. Vgl. bereits RGSt 25, 148; Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 239 Rdnr. 8; Fischer, StGB (2008), § 239 Rdnr. 12; Kühl, StGB (2007), § 239 Rdnr. 5. Hingegen nehmen Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 373 lediglich eine (rechtfertigende) Einwilligungskonstruktion an; so anscheinend auch Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. (S. 650 f.), der die Einwilligungskonstruktion indes im Erg. „einer Verkennung der sozialen Lebensbedingungen“ (a.a.O., S. 650) anheim stellt. 138
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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nicht mehr damit einverstanden ist, dass er am Aussteigen gehindert wird. Zu denken wäre hier an diejenigen Fälle, in denen der Betroffene aus Versehen die falsche ,Linie bzw. den falschen Zug besteigt und erst an einer in größerer Entfernung liegenden fahrplanmäßigen HalteACHTUNGREstation wieder herausgelassen wird.143 Aber auch hier könnte wiederum argumentiert werden, die Beeinträchtigung des Rechtsguts der Bewegungsfreiheit werde durch das höherwertige Interesse aller anderen Beförderungsteilnehmer sowie des Beförderungsanbieters an einem reibungsfreien und planmäßigen Ablauf des Verkehrsbetriebes (erst, aber immerhin) gerechtfertigt.144 Und zwar, wie nicht selten vorgebracht, nicht anhand der Figur der Sozialadäquanz im Sinne Klugs – diese sei dann überflüssig –, sondern durch die im Rahmen des § 34 StGB ausdrücklich anerkannte rechtfertigende Interessenabwägung.145 Ohne hier näher darauf einzugehen, ob die genannten Interessen der Passagiere sowie des Beförderungsanbieters überhaupt notstandsfähig sein können (was bezweifelt werden kann), warnt Hirsch prinzipiell zu Recht vor der Gefahr einer ,dogmatischen Verflachung infolge undifferenzierten Rekurses auf das Schlagwort „Sozialadäquanz“ anstatt den streitgegenständlichen Sachverhalt zunächst einmal systematisch zu analysieren.146 Denn es ist in diesem Zusammenhang besonders auffällig, dass Klug für seinen gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgrund der „Sozialadäquanz“ kein legitimierendes einheitliches Kriterium zu benennen vermag, welches die Abgrenzung zu anderen Rechtfertigungsgründen leisten sollte.147 Ganz im Gegenteil, die von Klug an anderer Stelle vorgenommene Kategorisierung elterlicher Züchtigungen als (tatbestandsausschließendes) sozialkongruentes Verhalten148 – mithin sozialethisch völlig marginal und irrelevant – müsste angesichts des Grades an Rechtsgutseinwirkung für die Fälle 143 Vgl. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960), S. 283; Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 116) – das Einverständnis in die Beförderung kann jederzeit widerrufen werden: s. bereits RGSt 25, 147 (148); BGH, NStZ 2005, 507. 144 So Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 117). 145 Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 308); vgl. Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB (2006), § 34 Rdnr. 9 mit dem Hinweis, notstandsfähig sei „jedes rechtlich geschützte Interesse, gleichgültig, von welchem Teil der Rechtsordnung es diesen Schutz erfährt“, d. h. selbst das Beförderungsinteresse der übrigen Passagiere; BayObLG, NJW 1953, 1602 (1603) sah bspw. den Schutz von Arbeitsplätzen als notwehrfähiges Rechtsgut. 146 Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960), S. 284; Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 134 f.). 147 Hierauf weist ebenfalls hin: Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960), S. 284. Doch auch die eher überzeugende Ansicht, dass dem irrtümlich Zugestiegenen das sofortige Verlassen des Verkehrsmittels nicht allein mit Verweis auf die ansonsten betroffenen Reibungslosigkeit des Verkehrs als eine notstandsfähige Rechtsgutsgefahr für die übrigen Passagiere verweigert werden kann, d. h. die Versagung einer Rechtfertigung gem. § 34 StGB zwingt nicht notwendig, diese Fälle dem Unrechtsverdikt (erst) über eine rechtfertigend wirkende Sozialadäquanz zu entziehen. Das einzige Beispiel, welches Klug für sein Konzept sozialadäquaten Verhaltens vorbringt, ist das des erlaubten Risikos (Klug, FS Eb. Schmidt [1961), S. 249 ff. [S. 264]). – Diese Zuordnung vermag allerdings nicht zu überzeugen (s. oben). 148 Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 262). Vgl. Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 101 ff.
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beförderungsbedingter Freiheitsberaubungen in konsequenter Fortführung allemal die tatbestandsausschließende Wirkung der Sozialadäquanz implizieren.149 Überzeugt die Klugsche Differenzierung, insbesondere was seine Beispielskonstellationen anbetriff, neben einer tatbestandsausschließenden Sozialkongruenz noch eine rechtfertigend wirkende Sozialadäquanz anzunehmen somit nicht, ist damit freilich noch kein grundsätzliches Argument gegen die Anerkennung einer rechtfertigend wirkenden (gewohnheitsrechtlichen) Sozialadäquanzlehre gewonnen. (3) Sozialadäquanz als gewohnheitsrechtlicher Rechtfertigungsgrund Das in Art. 103 Abs. 2 GG sowie in § 1 StGB zum Ausdruck kommende Gesetzlichkeitsprinzip schließt das Verbot strafbegründenden bzw. strafschärfenden Gewohnheitsrechts in sich ein.150 Nicht eingeschlossen und verboten ist allerdings die Geltung strafausschließenden bzw. strafmildernden Gewohnheitsrechts zugunsten des Täters.151 Insbesondere die Zulässigkeit der Schaffung neuer Rechtfertigungsgründe durch Gewohnheitsrecht ist allgemein anerkannt.152 Umfangreiche rechtliche Diskussionen hat in diesem Zusammenhang der durchaus weit verbreitete Volksbrauch des sog. Maibaumstehlens ausgelöst – eine mannigfaltig nuancierte Gepflogenheit, nach welcher zwischen Walpurgisnacht und dem 1. Mai ein fremder Maibaum, sei er noch verwurzelt oder bereits gefällt, unter Einhaltung bestimmter lokal divergierender Regeln, entwendet und dem Eigentümer in der Regel in Gegenleistung einiger Naturalien (Essen und Getränke) wieder ausgehändigt wird.153 149
Vgl. Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 308 f.). BVerfGE 92, 1 (12 f.); 73, 206 (235); 71, 108 (115); 45, 363 (371). 151 Roxin, AT I (2006), § 5 Rdnr. 50. Speziell zu der Frage der „gewohnheitsrechtlichen Verfestigung der Rechtsprechung“ Gropp, AT (2005), § 3 Rdnrn. 14 f. m.w.N. 152 Bspw. der rechtfertigende Notstand bis zu seiner gesetzlichen Kodifikation in § 34 StGB (durch das 2. StrRG vom 04. 07. 1969, BGBl. I, S. 707). BGHSt 27, 260 (262); Ebert, AT (2001), S. 8; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 112. Vgl. allg. BGHSt 49, 189 (193 f.); 11, 241 (245 f.); Fischer, StGB (2008), § 1 Rdnr. 9 m.w.N. 153 Zwar wird der entwendete Gegenstand, wie von Anfang an beabsichtigt, dem ursprünglichen Gewahrsamsinhaber wieder zurückgegeben, jedoch nur nach Erhalt einer Gegenleistung; die „Rückveräußerung“ an den Eigentümer ist technisch nur unter – kurzfristiger – Anmaßung einer eigentümergleichen Herrschaft möglich, so dass die Entwender des Baumes mit Zueignungsabsicht handeln und somit letztlich den § 242 Abs. 1 StGB verwirklichen: Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 242 Rdnr. 50; Kühl, StGB (2007), § 242 Rdnr. 26; Rudolphi, GA 112 (1965), S. 34 ff. (S. 43); Welzel, Strafrecht (1969), S. 343; s. bereits RGSt 40, 10 (12 f.); 57, 199 (199 f.) [jeweils bzgl. Rückveräußerung an den unwissenden Eigentümer]. A.A. [keine Zueignung, weil weder Sachwert noch Gebrauchsmöglichkeit entzogen wird] Seelmann, JuS 1985, S. 288 ff. (S. 290); Stoffers, JURA 1995, S. 113 ff. (S. 115 ff.). Dogmatisch konstruktiv könnte die Strafbarkeit der ,Diebe über die Konstruktion(!) eines die „Wegnahme“ ausschließenden Einverständnisses (statt aller Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 242 Rdnr. 36) ausgeschieden werden: Wer dem Brauch des Maibaumaufstellens folgt, ist zugleich mit dessen brauchtumsbedingter ,Entführung einverstanden – freilich bliebe dies immer eine individuelle Tatfrage(!). 150
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Während einige Autoren sich darauf beschränken, dieses Brauchtum gleichsam als Prototyp gewohnheitsrechtlicher Rechtfertigungsgründe anzuführen,154 spezifizieren andere Stimmen die Situation ausdrücklich als Ausdruck einer rechtfertigend wirkenden Sozialadäquanz.155 Brauchtümer seien von der Rechtsordnung anzuerkennen, da andernfalls „bei strikter Durchsetzung der Strafrechtsordnung der als nützlich und förderungswürdig erkannte gesellschaftliche Teilbereich faktisch zum Erliegen kommen [würde]“156. Auch die Rechtsprechung optiert verschiedentlich, leider ohne nähere Ausführungen, für eine Sozialadäquanz verstanden als gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgrund.157 Die Opponenten der Zuordnungsentscheidung zugunsten der Rechtfertigungsgründe führen hiergegen ganz grundsätzlich sowie prinzipiell zutreffend an, auf diese Weise werde der Betroffene zur Duldung einer für tatbestandsmäßig befundenen (aber eben brauchtumsmotivierten) Verletzung seiner strafrechtlich verbürgten Interessen verpflichtet: Die Abwehr eines sozialadäquaten, gerechtfertigten Verhaltens wäre als seinerseits „rechtswidrig“ unzulässig (sog. Notwehrprobe158), so dass dem sozialadäquat Handelnden geradezu ein Recht auf Verletzung oder Gefährdung fremder Rechtsgüter eingeräumt würde.159
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Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 112; Roxin, AT I (2006), § 5 Rdnr. 50. Franzmann, JZ 1956, S. 241 ff. (S. 243); Niese, JZ 1956, S. 457 ff. (S. 465); Piegler, JZ 1955, S. 721 ff. (S. 724, passim). Für eine ,simultane Lösung über Einwilligung und Sozialadäquanz: Dickert, JuS 1994, S. 631 ff. (S. 635 ff.). A.A. in Form eines Schuldausschlusses gem. § 17 StGB wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums „kraft verblendenden Brauchtums“: Lucien, MDR 1992, S. 630 (S. 630). 156 Dickert, JuS 1994, S. 631 ff. (S. 636). Scheyhing, JZ 1959, S. 239 ff. reklamiert diesbezüglich gar einen „kraft der ,Autonomie des Einzelnen anzuerkennen[den]“ rechtsfreien Raum (a.a.O., S. 241). 157 BAG, NJW 1955, 1373 (1374) [Streikrecht und § 823 Abs. 1 BGB]; OLG Celle, NStZ 1993, 291 (292) [Angeln als „fortgesetzte Tierquälerei“] mit abl. Bspr. Dietlein, NStZ 1994, S. 21 ff. (S. 22); OLG München, NJW 1966, 2406 (2406) [Skiunfall]. Zu beachten ist, dass BGHZ 24, 21 verkehrsrichtiges Verhalten zwar als Rechtfertigungsgrund anerkennt (a.a.O., S. 24 ff.), indes ausdrücklich offenlässt, ob es sich hierbei „um einen Sonderfall der Anwendung des Rechtsgedankens der sogenannten sozialen Adäquanz handelt“ (a.a.O., S. 26) – in der Bespr. insofern divergierend: Baumann, MDR 1957, S. 646 ff. u. Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff.; gänzlich abl. Dunz, NJW 1960, S. 507 ff.; zum kategorialem Unterschied zwischen Sozialadäquanz und erlaubten Risiko s. oben Teil 4, A. I. 1. lit. c). Auch BGHSt 23, 226 stellt es ausdrücklich dahin, ob sozial adäquate Handlungen „nicht tatbestandsmäßig oder zumindest nicht rechtswidrig“ ( a.a.O., S. 228) sind. 158 Gem. § 32 Abs. 2 StGB erfordert der Rechtfertigungsgrund der Notwehr einen „rechtswidrigen“, d. h. einen seinerseits nicht gerechtfertigten Angriff – Keine Notwehr gegen Notwehr (Klassisch: RGSt 54, 196 [198 f.]; 66, 288 [289]); s. ferner Kühl, StGB (2007), § 32 Rdnr. 5. 159 So Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 67 – 77. Auch Lucien, MDR 1992, S. 630 (S. 630); Weimar, JuS 1962, S. 133 ff. (S. 136); Wimmer, ZStW 75 (1963), S. 420 ff. (S. 421). 155
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Um jenes „unbillige Ergebnis“ zu vermeiden, schlagen die Befürworter der Rechtfertigungszuordnung darum vor, etwaige Gegenmaßnahmen brauchtumsbetroffener Rechtsgutsträger gleichermaßen als sozialadäquat anzusehen und sie auf diese Weise im Ergebnis doch zuzulassen.160 Das mag fraglos ,gerecht sein; nur ist damit anstatt einer Lösung dogmatisch unglücklich wieder die konfligierende Ausgangssituation erreicht – ein non-liquet zweier gleichermaßen zulässiger Verhaltensweisen. Diesen gerechtigkeitsmotivierten ,Lapsus scheint Zipf sublim entgehen zu wollen, wenn er alternativ vorschlägt, die Handlung des durch Sozialadäquanz gerechtfertigt Handelnden zusätzlich über die Notstandsgrundsätze gegen die Gegenwehr des Rechtsgutsverteidigers abwägen zu wollen.161 Freilich erkauft Zipf damit seinerseits zwangsläufig den Widerspruch, ein durch Sozialadäquanz bereits gerechtfertigtes Verhalten bei rechtsgutsorientierter Abwägung mit dem Abwehrverhalten des Betroffenen gegebenenfalls seiner Rechtfertigung wieder benehmen zu müssen. Keine Lösung des Notwehrproblems ist der im Rahmen der Notwehrprobe in der Regel vorgeschlagene dogmatische Rückschritt, solche Fälle – dem oben vorgebrachten Ansatz Roeders folgend – über die Schuldebene zu lösen,162 d. h. die SozialadäACHTUNGREquanzlehre erst ebendort anzusiedeln, so dass der sozialadäquat Handelnde bloß entschuldigt sowie dem vom sozialadäquaten Verhalten Betroffenen die Abwehr eines (sodann nicht gerechtfertigten, sondern erst entschuldigten) Brauchtumsverhaltens ermöglicht werden würde, und im Ergebnis damit beiden Interessen rechtliche Anerkennung zuteilkommen zu lassen. Nun ist allerdings nicht nur die systematisch stringente Auflösung des ,Unbilligkeitsproblems dogmatisch unklar, sondern auch und (denklogisch) zuallererst dessen Konstituierung. Weshalb sollte der Ausschluss der Rechtmäßigkeit etwaiger Abwehrmaßnahmen gegen ein durch Sozialadäquanz seinerseits bereits gerechtfertigtes Verhalten ,unbillig sein? Ist doch der Rechtfertigung im Rahmen widerstreitender Verhaltensweisen, das hieße hier, der sozialadäquaten Handlung auf der einen und dem dadurch beeinträchtigtem Interesse auf der anderen Seite, die Prävalenz einer dieser beiden Verhalten notwendig inhärent.163 Es entspricht dem Funktionsmechanismus der Rechtfertigungsgründe, dem Betroffenen die Duldung eines gerechtfer160
Franzmann, JZ 1956, S. 241 ff. (S. 243); wohl auch BAG, NJW 1955, 1373 (1374) u. Scheyhing, JZ 1959, S. 239 ff. (S. 241). 161 Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. (S. 642 ff.). Über die Grundsätze des unrechtsbefreienden übergesetzlichen Notstandes vorgehen will hingegen Weimar, JuS 1962, S. 133 ff. (S. 136). 162 Hassemer, FS Lenckner (1998), S. 97 ff. (S. 115); Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB (2006), § 34 Rdnr. 41b. Weiterhin Meyer, GA 151 (2004), S. 356 ff. (S. 361 ff.); Wessels/ Beulke, AT (2007), Rdnr. 433 a.E. Zu den differenzierenden Ansichten s. bei Kelker, Der Nötigungsnotstand (1993), S. 28 ff., 103 ff. oder Kühl, StGB (2007), § 34 Rdnr. 2. 163 Unabhängig davon, ob die Rechtfertigung aus einer monistischen Theorie (i.S. eines umfassenden Leitgedankens der „Wertabwägung“: Noll, ZStW 77 (1965), S. 1 ff. [S. 16]) oder aus einer pluralistischen Sicht (d. h. dem Prinzip des überwiegenden oder mangelnden Interesses: Bspw. Mezger, Deutsches Strafrecht [1941], S. 71) heraus erklärt wird: Überblick bei Roxin, AT I (2006), § 14 Rdnrn. 38 ff.
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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tigten Verhaltens abzuverlangen. Nur einem der beiden betroffenen Interessen kann das Plazet der Rechtsordnung erteilt werden mit zwangsläufig negativen Folgen für das jeweils andere Interesse. Das Argument der Notwehrprobe – mit der Anerkennung eines Rechtfertigungsgrundes würde dem Handlungsbetroffenen letztlich die Duldung einer auf ein verwerfliches Ziel hin angelegten Handlung abverlangt164 – erweist sich als redundant; denn die Verwerflichkeit des mit der beeinträchtigenden Handlung verfolgten Ziels wird durch dessen Sozialadäquanz gerade verneint. Zu beantworten wäre folglich nicht die von den Kritikern aufgeworfene Billigkeitsfrage, sondern die Frage nach dem Grund, weshalb eine sozialadäquate Verhaltensweise verwerflich sein sollte, bzw. warum nun gerade der sozialadäquat Handelnde nicht die Solidarität der Gemeinschaft beanspruchen könnte, der Betroffenen dementsprechend sozialadäquate Verletzungen nicht ohne Gegenwehr hinzunehmen haben sollte?165 Allemal beachtenswert ist, dass die „Notwehrprobe“ von den Befürwortern eines (gewohnheitsrechtlichen) Rechtfertigungsgrundes überhaupt als begründeter und darum widerlegungsbedürftiger Einwand anerkannt wird. Zugleich fällt die Beschränkung der Zuordnungsbegründung auf die schlichte Wiederholung des Problemthemas der Sozialadäquanz auf: Die Bestrafung bestimmter Verhaltensweisen kann in einen gravierenden Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit treten, so dass bspw. die Verurteilung des „Maibaumdiebes“ als lebensfremder Formalismus erscheinen würde.166 Weshalb die Sozialadäquanz ausgerechnet rechtfertigend wirken soll, bleibt hierbei allerdings inhaltlich unbeantwortet. Auch werden von den Befürwortern keine materiellen Kriterien für die Abgrenzung der „Sozialadäquanz“ von anderen Rechtfertigungsgründen angegeben.167 Die Zuordnung zu den Rechtfertigungsgründen ist mithin von erheblichen Ungenauigkeiten und Unsicherheit durchsetzt. Diese argumentativ unterdeterminierte Zuordnungsentscheidung ist es eigentlich, die einen Widerspruch evoziert, dessen dogmatisches Unbehangen im ,Unbilligkeitseinwand der Notwehrprobe unvollkommen bzw. latent seinen Ausdruck findet. Nicht die rechtliche resp. rechtfertigende Anerkennung traditionellen Brauchtums an sich, sondern der Umstand, dass ein Verhalten wegen sozialer Adäquanz gerechtfertigt sein könnte und damit zuvor notwendig als tatbestandsmäßig erwiesen worden ist, verursacht dogmatische Bedenken. Eine Zuordnung in den Bereich der Rechtfer164 Locus classicus der „Notwehrprobe“ ist der Nötigungsnotstand: s. Kühl, AT (2005), § 8 Rdnrn. 127 f.; Wessels/Beulke, AT (2007), Rdnr. 443 a.E. 165 Vgl. Krey, JURA 1979, S. 316 ff. (S. 321 m. Fußn. 21), der im Ergebnis daher einen rechtfertigend wirkenden Nötigungsnotstand anerkennt. s. Kindhäuser, AT (2006), § 17 Rdnr. 36; Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 309). 166 Vgl. Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 252. Lebensvorgänge, die sachlich überhaupt kein Unrecht sind, dem formalen Tatbestandsverdikt zu entziehen, ist das Vorhaben als solches: Welzel, Strafrecht (1947), S. 37. 167 Hierauf aufmerksam macht Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960), S. 284.
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tigung würde die wesentliche Funktion des Tatbestandsbegriffs schlichtweg verkennen: Die „Feststellung der Tatbestandmäßigkeit einer Handlung ist nicht wertneutral; vielmehr selegiert sie aus der Fülle der menschlichen Handlungsvollzüge diejenigen, die strafrechtlich relevant sind […]. Die Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit enthält die Feststellung der strafrechtlichen Wertdifferenz einer Handlung“168. Die erste Funktion des Tatbestandes besteht darin, diejenigen Handlungen zu umschreiben, die aus den Ordnungen des sozialen Lebens in unerträglicher Weise herausfallen.169 Es ist nicht zu erklären, wie aus einem tatbestandsmäßigen, und d. h. sozialschädlichem Verhalten, auf Rechtswidrigkeitsebene nunmehr ein gerechtfertigtes, sich ACHTUNGREinnerhalb der geschichtlichen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens bewegendes (scil. sozialadäquates) Verhalten werden können sollte.170 Dogmatisches Unbehagen bereitet die Zuordnungsentscheidung der Sozialadäquanzlehre zur Rechtfertigungsebene also nicht darum, weil dadurch etwaige Gegenmaßnahmen des Betroffenen als „rechtswidrig“ deklassiert werden müssten, sondern weil durch sie ein und dieselbe Verhaltensweise sowohl als (tatbestandlich) sozialschädlich als auch für sozialadäquat (mit rechtfertigender Wirkung) befunden werden müsste. Der Wirkcharakter der durch den Tatbestand indizierten Rechtswidrigkeit, ein grundsätzlich verbotenes Verhalten ausnahmsweise zu rechtfertigen (vgl. § 32 Abs. 1 StGB), wodurch dieses nota bene ungemindert tatbestandliches – nunmehr aber nicht mehr rechtswidriges – Unrecht bleibt(!), führte zu dem Widerspruch, die mit dem Tatbestand ausgesprochene Sozialschädlichkeit auf der Ebene der Rechtswidrigkeit unter Berufung auf die soziale Adäquanz des fraglichen Verhaltens zu revidieren. Neben diesem unauflösbaren Spannungsverhältnis zum Tatbestandsbegriff wird durch die Rechtfertigungszuordnung der Sozialadäquanz zugleich der strukturelle Unterschied beider Deliktsebenen ignoriert. So wird mit der Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens dessen strafrechtserheblicher Unwert grundsätzlich belegt, während mit der Rechtfertigung situativ danach gefragt wird, ob es hierfür nicht ausnahmsweise eine rechtliche Gestattung gibt.171 Es gilt, dass die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens indiziert.172 Die Prüfung einer rechtfertigenden Sozialadäquanz ist mithin erst möglich, wenn zuvor die Tatbestandsmäßigkeit fest168
Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 18, 20. So das Welzelsche Tatbestandsverständnis (Welzel, Strafrecht [1954], S. 60 u. Welzel, Strafrecht [1960], S. 74): Fukuda, JZ 1958, S. 143 ff. (S. 144). In der neueren Lit. bspw. Fischer, StGB (2008), Vor § 13 Rdnrn. 12 – 14; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 236 ff.; Kühl, AT (2005), § 3 Rdnrn. 1 – 6; Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnrn. 13 – 26. 170 Treffend: Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 79 ff. (S. 80); vgl. Weimar, JuS 1962, S. 133 ff. (S. 136). 171 Ebert, AT (2001), S. 64; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 322 f. (S. 324); Kindhäuser, AT (2006), § 15 Rdnr. 1. 172 Ausdrücklich: Welzel, Strafrecht (1960), S. 50 sowie Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 20. In der neueren Lit. bspw. Fischer, StGB (2008), Vor § 13 Rdnr. 46; Kühl, StGB (2007), Vor § 32 Rdnr. 2. Wird scharf zwischen dem Unwerturteil der Tatbestandsmäßigkeit und dem Unrechtswert fehlender Rechtfertigung differenziert, ließe sich diese „Indizierung“ freilich hinterfragen: Gropp, AT (2005), § 6 Rdnrn. 10 ff. (dort insbes. Fußn. 19). 169
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gestellt worden ist. Ist mit der Tatbestandsmäßigkeit aber die grundsätzliche Unzulässigkeit entsprechenden Verhaltens impliziert, so verbleibt der Sozialadäquanz nur noch die Möglichkeit ausnahmsweiser Erlaubnis eben auf der Rechtfertigungsebene! Dies bedeutet jedoch nichts anderes, als die (rechtfertigende) Sozialadäquanz zu einem Einzelfallkriterium zu erklären. Der Welzelschen Konzeption zufolge geht es bei der Sozialadäquanz jedoch nicht um die Berücksichtigung raumzeitlicher Besonderheiten eines konkreten Vorgangs, sondern um die Etablierung eines allgemeinen, von individuellen Besonderheiten absehenden Kriteriums. Es besteht ein struktureller Unterschied, ob ein Verhalten nur ausnahmsweise, im Einzelfall rechtlich ACHTUNGREgestattet ist, oder ob es aufgrund der geschichtlich gewordenen sozialethischen Auffassungen von vornherein vollkommen unauffällig ist.173 Nicht die Besonderheit der Verletzungssituation, sondern die geschichtlich gewachsenen Ordnungen nehmen einem sozialadäquaten Verhalten den Unrechtscharakter; sozialadäquates Verhalten ist einzelfallunabhängig kein Unrecht. Dass die Einordnung der Sozialadäquanz in den Bereich der Rechtfertigung unüberbrückbare Spannungen zur Deliktssystematik auszulösen vermag, scheint auch Welzel erkannt zu haben. Besonders deutlich wird dies an einer Anmerkung, die zeitlich kurz vor der temporären Verschiebung der Sozialadäquanzlehre vom ursprünglichen deliktssystematischen Standort innerhalb des Tatbestandes hin auf die Ebene der Rechtfertigung174 fällt. So schrieb Welzel in der 2. Auflage seiner Abhandlung über „Das neue Bild des Strafrechtssystems“ noch ausdrücklich: „Handlungen, die sich völlig innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens bewegen, sind rechtmäßig, weil bei ihnen die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit nicht indiziert“175 Freilich wird die paradoxe Andeutung, die Tatbestände würden unter Rückgriff auf die Sozialadäquanz ausschließlich ihre unrechtsindizierende Wirkung verlieren, bereits in der nächsten Auflage desselben Werkes sowie in den Folgeaussagen seines Strafrechtslehrbuchs durch Ausschweigen aufgegeben. Stattdessen wird der Sozialadäquanz eine rechtfertigende Wirkung zugesprochen; zugleich aber expressiv verbis eine strukturelle Differenz zu den übrigen Rechtfertigungsgründen in Anspruch genommen: Schließlich gebe es eine Fülle rechtmäßiger Verhaltensweisen, „bei denen die Frage nach einem besonderen Erlaubnissatz nicht auftaucht, weil die Art unserer geschichtlich gewor-
173 Gallas, ZStW 67 (1955), S. 1 ff. (S. 21 f.); Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 84); Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnr. 36; Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. mit dem treffenden Hinweis, „die Rechtfertigungsgründe charakterisierende Situation ist: sie ,beruhen nicht auf generellen Ausnahmen von der Norm, sondern erfordern im Einzelfall vorzunehmende Wertabwägungen“ (a.a.O., S. 645). 174 Diesen Wandel der 4. bis 8. Aufl. seines Lehrbuchs eingestehend: Welzel, Strafrecht (1969), S. 57. 175 Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 20 – Hervorhebung durch den Autor: T.E. Wimmer, ZStW 75 (1963), S. 420 ff. optiert gar für „einen eigenen Rechtsraum zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, in dem sich Nichtrechtmäßigkeit und Nichtrechtswidrigkeit decken“ (a.a.O., S. 440).
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denen Sozialordnung sie gestattet“176. Die Schwierigkeit, die durch Zuordnung der sozialen Adäquanz weg vom Tatbestand entsteht, liegt darin, dass auf der einen Seite der Zuschnitt der Sozialadäquanz eine Zuordnung zu den übrigen, einzellfallorientierten Rechtfertigungsgründen sowie den dogmatischen Rückschritt auf die individuelle Schuldebene konzeptionell ausschließt, ein sozialadäquates Verhalten, weil es sich schließlich innerhalb der Grenzen der sozialethischen Ordnungen bewegt, jedoch gleichwohl dem durch den Tatbestand indizierten Unrechtsverdikt entzogen werden soll. Dieses Vorhaben gleicht der Quadratur des Kreises. Der Kennzeichnung eines „tatbestandsmäßigen“ Verhaltens entspricht per definitionem der Charakterisierung desselben als Überschreitung gesellschaftlich gezogener, allgemeiner Handlungsgrenzen.177 Der dem Tatbestand nachgelagerte Gegenstandsbereich möglicher Rechtfertigung bezieht sich folglich immer schon auf ein bereits für sozial inadäquat befundenes Verhalten. Dieses mag dann zwar aufgrund der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls mittels eines besonderen Rechtfertigungsgrundes dem allgemeinen Unrechtsverdikt entzogen werden. Inkonsequent und nicht vereinbar mit dem Tatbestandsbegriff wäre es jedoch, dem Verhalten nunmehr dennoch „soziale Adäquanz“ zu attestieren und auf diesem Wege auf Rechtfertigungsebene nicht bloß das durch den Tatbestand indizierte Unrecht, sondern den Tatbestand selbst ,widerlegen zu wollen.178 (4) Ergebnis Festzuhalten ist daher, dass die Figur der Sozialadäquanz nicht der Rechtfertigungsebene zugeordnet werden kann. Nicht etwa weil es „unbillig“ wäre, auf diese Weise dem durch eine sozialadäquate Handlung Betroffenen ein Notwehrrecht absprechen zu müssen (sog. Notwehrprobe), sondern weil es schlicht dogmatisch widersprüchlich wäre, ein für tatbestandsmäßig, sprich sozialschädlich, befundenes 176 Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 25 – Hervorhebung im Orig. gesperrt gedr.; Welzel, Strafrecht (1954), S. 62 ebenso Welzel, Strafrecht (1960), S. 76. 177 Dies gesteht Welzel mit der Rückverlagerung der Sozialadäquanzlehre in den Tatbestand selbst ein: „[U]nterscheidet sich die soziale Adäquanz von den Rechtfertigungsgründen […] dadurch, dass diese zwar ebenfalls eine Handlungs-,Freiheit geben, aber eine solche besonderer Art, nämlich eine Erlaubnis, die die Vornahme tatbestandsmäßiger, als sozialinadäquater, Handlungen gestattet“ (Welzel, Strafrecht [1969], S. 57 – Hervorhebungen im Orig. gesperrt gedr.). Auch vor der Zuordnung in den Bereich der Rechtfertigung betonte er, „um die Rechtswidrigkeit handelt es sich nicht, da diese erst in Frage steht, wenn die soziale Adäquanz überschritten ist“ (Welzel, ZStW 58 [1939], S. 491 ff. [S. 517]). 178 Wimmer, ZStW 75 (1963), S. 420 ff. (S. 436). Schönke/Schröder/Lenckner, StGB (2006), Vorbem §§ 32 Rdnr. 107a betont zutreffend, dass für die Anerkennung der sozialen Adäquanz auf der Rechtfertigungsebene daher kein Raum mehr verbleibe. So auch noch Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 517). An anderer Stelle ist zu lesen, „Durch das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes wird nicht der Tatbestand eines Deliktes (seine ,Handlungsmerkmale i. e. S.), sondern allein die Rechtswidrigkeit ausgeschlossen“ (Welzel, MDR 1952, S. 584 ff. [S. 585]).
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Verhalten auf Rechtfertigungsebene unversehens als sozialadäquat für gerechtfertigt zu erklären. b) Tatbestand (1) Sozialadäquanz als Tatbestandsmerkmal Verbleibt als Sitz der Sozialadäquanzlehre somit nur noch die Tatbestandsebene, so hat dies keinesfalls zwingend zur Folge, dass es sich bei der Welzelschen Figur nachgerade um ein (ungeschriebenes) Merkmal des Tatbestandes handelt.179 Andernfalls müsste das Vorhaben des nachfolgenden Abschnitts, den Inhalt des SozialadäACHTUNGREquanzkriteriums zuallererst klar und deutlich zu fassen, wohl zum beredtesten Zeugnis möglicher Bedenken aus Warte des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB)180 erklärt werden. Über den grundlegenden rechtsstaatlichen Einwand hinaus würde die Klassifikation als Tatbestandsmerkmal zudem die Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbestandsverwirklichung an das Wissen und Wollen des Täters bzgl. des Verstoßes gegen jene soziale Adäquanz knüpfen (vgl. §§ 15, 16 StGB). Erhebliche dogmatische Schwierigkeiten im Bereich der Irrtumslehre wären die Folge. Wie wäre etwa die irrige Vorstellung des Täters zu bewerten, sich mit seinem Verhalten noch innerhalb der geschichtlich gewordenen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens zu bewegen? Unterläge er wegen Verkennung der sozialen Wirklichkeit einem vorsatzausschließenden Tatumstands- oder vielmehr einem (bei Unvermeidbarkeit) schuldausschließenden Verbotsirrtum aufgrund bloßen Verkennens einer rechtlich relevanten Wertung in Form jener Sozialadäquanz?181 Dass Welzel wohl auch aufgrund dieser Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Tatumstands- und Verbotsirrtum dazu motiviert wurde, die Sozialadäquanzlehre vom ursprünglichen deliktssystematischen Standort 179
Für ein Tatbestandsmerkmal anscheinend: Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff., welche für das Merkmal der körperlichen Misshandlung gem. § 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB ausdrücklich einfordern, die fragliche Verhaltensweise müsse „unangemessen und übel sein, sprich sozialwidrig“ (a.a.O., S. 784); s. ferner Putzke, MedR 2008, S. 268 ff. (S. 268); Stehr/Putzke/Dietz, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A 1778 ff. (S. A 1778). 180 Solche hegen bspw. Baumann/Weber/Mitsch, AT (2003), § 16 Rdnr. 35 oder Hirsch, FS Universität Köln (1988), S. 399 ff. (S. 426 f.). Bedenken scheint auch Welzel, Strafrecht (1960), S. 51 getragen zu haben, insofern er bzgl. des offenen Tatbestandes des § 240 StGB eben solche ausdrücklich anmeldet. Freilich ließe sich der Einwand mangelnder Bestimmtheit mit dem Argument widerlegen, der Bestimmtheitsgrundsatz erfasse nur strafbegründende Merkmale (vgl. nur BVerfGE 105, 135 [153 ff.]; Ebert, AT (2001), S. 7 ff.), wohingegen die Frage der Sozialadäquanz ein Merkmal ist, das den Täter vor Strafe bewahren soll. Zudem ist ungeklärt, inwiefern Art. 103 Abs. 2 GG überhaupt außerhalb von Rechtsfolgenregelungen, wie sie insbes. im Besonderen Teil des StGB niedergelegt sind, Geltung beansprucht: Zust. BGHSt 42, 235 (241); krit. Jakobs, AT (1991), 4. Abschn. Rdnrn. 43 f.; s. Roxin, AT I (2006), § 5 Rdnrn. 40 ff. 181 So Lang-Hinrichsen, JR 1952, S. 302 ff. (S. 304); vgl. auch ders., a.a.O., S. 184 ff. (S. 189). Der umgekehrte Irrtum, d. h. die fehlerhafte Annahme der sozialen Inadäquanz müsste sodann einen untauglichen Versuch begründen (s. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen [1960], S. 285).
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innerhalb des Tatbestandes zwischenzeitlich hin auf die Ebene der Rechtfertigung zu verlagern,182 ist ein starker Beleg dafür, dass er ursprünglich selbst von einem Tatbestandsmerkmal der Sozialadäquanz ausgegangen ist. Seinem Grunde nach ist das Anliegen Welzels jedoch zu keinem Zeitpunkt auf die Etablierung eines neuen, ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals angelegt gewesen. Anlass der Überlegungen war der Umstand, dass der „Tatbestand Vertypung strafrechtlichen Unrechts ist“183, und dass das mit Verwirklichung des vertypten Tatbestands vorliegende Unrecht somit lediglich formaler Natur ist. Die Aufgabe der Sozialadäquanz ist daher, dass „sie aus dem formalen Wortlaut der Tatbestände diejenigen Lebensvorgänge herausschneidet, die sachlich überhaupt nicht unter sie gehören“184. Etabliert wird demnach ein methodisches Instrument, welchem die Korrektur des Tatbestands anheim gestellt ist. Auf § 16 StGB gewendet ist die Sozialadäquanz kein Konstituens der Tat, mithin kein Tat-Umstand, sondern eine abstrakte, negative Bestimmungsgröße dafür, ob eine Verhaltensweise überhaupt rechtlich relevant ist. Verdeutlichen lässt sich dieser kategoriale Unterschied anhand der Fragerichtung des Sozialadäquanzkriteriums. In Frage steht nicht, ob eine Verhaltensweise einen Unrechtstatbestand verwirklicht, sondern ob eine, erwiesenermaßen (formal) tatbestandsmäßige Handlungssituation unter Umständen im Widerspruch zum tatbestandlich eingeforderten Handlungstypus steht. Mit anderen Worten, ein Verhalten darf nicht nur formell, sondern muss auch materiell tatbestandsmäßig sein; fehlt es am tatbestandlichen Unrechtstypus, so ist der Tatbestand (materiell) nicht erfüllt.185 Aus struktureller Sicht wird also nicht die Besonderheit der Tat im Sinne eines individuellen tatsächlichen Lebensvorgangs beleuchtet, sondern in den Blick genommen wird die rechtliche Wertung eines Verhaltens als solche – losgelöst vom konkreten Akt bzw. Akteur. Konstitutiv für die Sozialadäquanz sind schließlich die tat- und täterunabhängigen geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens. Kurzum, bei der Sozialadäquanz handelt es sich nicht um eine tatoder täter-, sondern um eine tatbestandsadressierte Lehre. Genauso wenig wie es sich bei der Sozialadäquanz also um eine Beschreibung unrechtskonstituierender, tatsächlicher Umstände täterschaftlichen Verhaltens handelt, genauso wenig darf die Welzelsche Figur nunmehr gleichsam im Gegenschluss simplifizierend als tatbestandliches Wertungskriterium missverstanden und der Schluss gezogen werden, dass diesbezügliche Fehlvorstellungen des Täters sodann wenigstens auf Schuldebene im Rahmen des § 17 StGB Bedeutung erlangen könnten. Zwar erfasst § 17 StGB mit seiner Regelung fehlenden Unrechtsbewusstseins nachgerade die Situation, dass dem Täter der Widerspruch seines Verhaltens zur rechtlichen Sollensordnung unbekannt bleibt, er die rechtlich relevanten und d. h. u. a. die tatbe-
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Andeutend: Welzel, MDR 1952, S. 584 ff. (S. 590). Welzel, AT (1940), S. 35; Welzel, Strafrecht (1947), S. 37. Welzel, Strafrecht (1947), S. 37. Prägnant: Gallas, ZStW 67 (1955), S. 1 ff. (S. 21).
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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standsspezifischen Wertungen nicht in sein Bewusstsein aufgenommen hat,186 jedoch sind auch hier lediglich die unrechtskonstituierenden Wertungen gemeint. Verfügt der Täter also über die Einsicht, dass sein Verhalten das vom Tatbestand beschriebene Unrecht erfüllt, verfügt er eo ipso auch über die erforderliche Unrechtseinsicht und unterliegt damit keinem Verbotsirrtum.187 Folglich sind etwaige Fehlvorstellungen bzgl. der wertenden Sozialadäquanz im Rahmen des § 17 StGB belanglos, weil jene Rechtsfigur keine (positive) Umschreibung tatbestandlichen Unrechts, sondern ein Kriterium für den Ausschluss eines längst für tatbestandlich befundenen Verhaltens aus dem Unrechtstatbestand an die Hand geben will – sozusagen ein negatives Prüfelement darstellt. Die Sozialadäquanz ist demnach kein Tatbestandsmerkmal, sondern ein Instrument zur negativen Korrektur des Tatbestandes, zwecks Ausscheidung bestimmter Verletzungshandlungen aus selbigen. (2) Teleologische Auslegung bzw. Reduktion statt Sozialadäquanz? Der Gefahr, mit der sozialen Adäquanz dogmatisch folgenschwer ein neues Tatbestandsmerkmal zu kreieren, indem diese zu einem tatbestandskonstituierenden positiven Merkmal überhöht wird, steht als komplementäres Extrem die Aberkennung jeglicher selbständiger Bedeutung einer als Tatbestandskorrektiv verstandenen Sozialadäquanzlehre gegenüber. Genährt werden könnte dieses andere Extrem insbesondere durch die schlussendliche Feststellung Welzels in der 11. Auflage seines Strafrechtslehrbuchs, „[d]ie soziale Adäquanz [sei] ein allgemeines Auslegungsprinzip“188, womit er die zwischenzeitliche Feststellung, dass die soziale Adäquanz auch ein Auslegungskriterium einzelner Tatbestandsmerkmale sein könne,189 verallgemeinert und zum allein maßgeblichen Charakteristikum apostrophiert. Gerade hieran knüpfen einige Autoren unmittelbar mit dem Argument an, als allgemeines Auslegungsprinzip sei die Sozialadäquanz letztlich ein bloßer Auslegungsgesichtspunkt; von einer selbständigen, über die gebräuchlichen Mittel juristischer Auslegung hinausgehenden Lehre könne kaum die Rede sein.190 Statt ein inhaltlich eigenständiges Prinzip zur Verfügung zu stellen, verstelle die Vagheit und Weite 186 Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB (2006), § 17 Rdnrn. 3 ff. m.w.N. Sog. „direkter“ oder „abstrakter“ Verbotsirrtum (Roxin, AT I [2006], §31 Rdnr. 21). 187 BGHSt 15, 376 (382 f.); OLG Karlsruhe, NJW 2003, 1061; OLG Stuttgart, NStZ 1993, 344; Kühl, StGB (2007), § 17 Rdnr. 2. Beide OLG-Urteile betonen ausdrücklich, dass sich der Täter lediglich des „straftatbestandlich vertypten Unrechts bewusst sein muss“ (OLG Karlsruhe, a.a.O., 1062 unter Bezug auf OLG Stuttgart, a.a.O., 345). 188 Welzel, Strafrecht (1969), S. 58 – Hervorhebung im Orig. gesperrt gedr. 189 Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 27. 190 So allg. bspw. Dölling, ZStW 96 (1984), S. 36 ff. (S. 57); Ebert/Kühl, JURA 1981, S. 225 ff. (S. 227); Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960), S. 285 ff. (insbes. S. 289); Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. (S. 127) spricht von „einschränkender Auslegung. Vgl. auch Kienapfel, Das erlaubte Risiko (1966), S. 29; Mezger, NJW 1953, S. 1 ff. (S. 6); ebenso bereits von Hippel, Strafrecht II (1930), S. 192.
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des Wortes „Sozialadäquanz“ den Blick darauf, dass es sich bei ihren Erkenntnissen im Ergebnis nur um eine Sammelbezeichnung der durch eine Standardanwendung juristischer Interpretationsmethoden ohnedies erreichbaren Auslegungsbefunde handele. Ihr komme daher keine selbständige heuristische Bedeutung zu.191 Nun würde allerdings die Charakterisierung der Sozialadäquanz als ein Grundsatz der Tatbestandsauslegung unvermittelt wieder zurück in den Bereich der Irrtumsdogmatik führen. Fehlvorstellungen bzgl. des, sodann auch anhand sozialer Adäquanz zu bestimmenden, allgemeinen Anwendungsbereichs eines Tatbestandes, müssten einen Verbotsirrtum begründen, weil der Täter bei einem Irrtum über die soziale Adäquanz seines Verhaltens sogleich den Umfang eines gesetzlichen Merkmals falsch einschätzte (sog. Subsumtionsirrtum).192 Indes stellt sich die nachgezeichnete Irrtumsproblematik gar nicht. Die Gleichsetzung von Sozialadäquanz und Auslegung ist inkorrekt. Alle Auslegung endet am Wortlaut der auszulegenden Vorschrift.193 Daran, dass sozialadäquates Verhalten den Wortlaut eines Tatbestandes (formell) unterfällt, bestehen jedoch überhaupt keine Zweifel. Besonders illustrativ wird jene Grenze der Auslegungstechnik im Verhältnis zur Sozialadäquanz anhand des (alten) Fallbeispiels für die Sozialadäquanz in Gestalt der Neujahrsgabe an den verbeamteten Briefträger.194 Die Verwirklichung des Wortlauts des Vorteilsgewährungstatbestandes (§ 333 Abs. 1 StGB) durch Gewährung eines Geschenkes ist unzweifelhaft. Mit den Mitteln der Auslegung ist die Hingabe solcher Neujahrsgeschenke dem Straftatbestand nicht zu entziehen. Hingegen ist der Sozialadäquanzlehre Welzels nicht um die Auslegung, sondern um die Restriktion des klaren und eindeutigen Wortlauts formell verwirklichter Strafvorschriften gelegen. Darum schien das Beispiel so geeignet. Zwar mögen die Grenzen zwischen restriktiver Gesetzesauslegung und einschränkender Gesetzesberichtigung nicht immer eindeutig ausfallen,195 nichtsdestoweniger darf die enge Verwandtschaft dieser beiden methodischen Mittel nicht darüber hinwegtäuschen, dass, anders als bei der Auslegung, bei der Tatbestandsrestriktion 191
Explizit: Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 313): „Eine […] selbständige Bedeutung hat der Begriff [scil. der Sozialadäquanz] jedenfalls nicht“. Ferner Hirsch, FS Universität Köln (1988), S. 399 ff. (S. 421); Schünemann, GA 132 (1985), S. 341 ff. (S. 346). 192 Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (1960), S. 286. Allg.: BGHSt 7, 261 (265); BGH, NJW 2006, 522 (529); Fischer, StGB (2008), § 16 Rdnr. 13. 193 BVerfGE 87, 209 (224) m.w.N.; 71, 108 (115); Engisch, Einführung in das juristische Denken (2005), S. 130 ff; Larenz, Methodenlehre (1991), S. 322; Larenz/Canaris, Methodenlehre (1995), S. 166; Zippelius, Methodenlehre (2005), S. 47. Mit krit. Hinweis, dass zumindest die Umgangssprache keine Grenze für die Auslegung der juristischen Fachsprache sein kann Wank, Auslegung (2005), S. 63. 194 Schaffstein, ZStW 72 (1960), S. 369 ff. (S. 375). Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 312 mit Fußn. 47) betont selbst, dass es „nicht ganz korrekt“ sei, von „Auslegung“ zu sprechen. 195 Larenz, Methodenlehre (1991), S. 322 f. Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken (2005), S. 133 ff.
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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nicht nur das Verständnis der fraglichen Bestimmung als solche sowie deren systematische Stellung innerhalb des Normgefüges, sondern weitergehend der Zusammenhang der Vorschrift zum Gesamtsystem jurisprudenziell relevanter Wertungen erforscht wird.196 Angesichts dessen müsste der Vorwurf mangelnden heuristischen ACHTUNGREErkenntniswertes der Sozialadäquanzlehre richtigerweise schon auf einen zu unterstellendem Mangel an artbildender Unterscheidung einer solchen Lehre zu dem der Tatbestandsrestriktion, nicht hingegen zu dem der Tatbestandsauslegung lauten. Die Ablehnung einer selbständigen Sozialadäquanzlehre scheint also zumindest mit Blick auf den Funktionsmechanismus der teleologischen Reduktion begründbar.197 Um die Standardbeispiele für Fälle der sozialen Adäquanz bereits über eine teleologische Reduktion des formal einschlägigen Tatbestandes auflösen zu können, ist zu belegen, dass bzw. inwiefern die in den „Telos“ der teleologischen Reduktion einzubeziehenden Maßstäbe dem Topos der „geschichtlich gewordenen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens“ entsprechen. Hingegen wenig hilfreich sowie kaum durchschlagend wäre, die Selbständigkeit der Sozialadäquanz allein damit erweisen zu wollen, dass „mit ,teleologischer Reduktion lediglich ein methodisches Gerät in die Hand gegeben wird, ohne daß die maßgeblichen Einsatz- und Beurteilungskriterien mitgeliefert würden“198, wohingegen die Sozialadäquanzlehre immerhin schon begrifflich die wesentlichen materiellen Beurteilungskriterien enthielte. Denn nichtsdestoweniger bleibt es dabei, dass sowohl die Sozialadäquanzlehre als auch das Instrument der teleologischen Reduktion beide auf das identische Ziel hin ausgerichtet sind – den eindeutigen Wortlaut einer zu weit gefassten Rechtsvorschrift auf einen ,angemessenen Anwendungsbereich zu begrenzen.199 Daher kommt es statt auf den Grad derzeitiger inhaltlicher Konkretion der beiden Figuren darauf an, ob die Kriterien der mittels Telos zu gewinnenden Maßstäbe mit den Gesichtspunkten der Sozialadäquanzlehre kongruent oder aber inkongruent sind. Denn nur im letzteren Fall käme der Sozialadäquanzlehre ein eigenständiger Anwendungsbereich zu. Wären die Maßstäbe beider Figuren identisch, wäre es überflüssig, neben dem anerkannten me-
196 Vgl. Pawlowski, Methodenlehre (1999), Rdnrn. 493 ff. Heck schlug vor, dort von Auslegung zu sprechen, wo ein Fehler des gesetzlichen Ausdrucks vorliegt; von Gesetzesberichtigung hingegen bei Fehlern des Denkens seitens des Gesetzgebers (s. Aoi, FS Arthur Kaufmann [1993], S. 23 ff. [S. 31 m.w.N.]); vgl. Wank, Auslegung (2005), S. 66. 197 Unklar OLG München, NStZ 1985, 549 (540): „Restriktionswirkung beim Tatbestand“. Expressis verbis: Barton, StV 1993, S. 154 ff. (S. 159); Ebert, AT (2001), S. 35; Jescheck/ Weigend, AT (1996), S. 252; Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 98; Kühl, StGB (2007), Vor § 32 Rdnr. 29; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 Rdnr. 70; Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 313); s. Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnr. 41 mit der konzilianten Anmerkung, ob es eine noch eine Auslegung oder bereits eine teleologische Reduktion sei, könne „von Tatbestand zu Tatbestand verschieden sein“. 198 Dieses versucht Eser, FS Roxin (2001), S. 199 ff. (S. 210 f.) – Hervorhebung durch den Autor: T.E. Vgl. ebd. auch zum nachfolgenden Argument. 199 Zur Charakteristik der teleologischen Reduktion: Larenz, Methodenlehre (1991), S. 391 f.; Wank, Auslegung (2005), S. 126.
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thodischen Instrument der teleologischen Reduktion zusätzlich den Bedarf an einer Sozialadäquanzlehre zu reklamieren. Die teleologische Reduktion wird allgemein als ein methodisches Mittel zur Ausfüllung sog. verdeckter Lücken begriffen.200 Leitmotiv hier, im Gegensatz zu den Fällen restriktiver Auslegung, ist nicht die Bewältigung einer grundsätzlich folgerichtigen Denkweise des Gesetzgebers, welche lediglich einen fehlerhaften gesetzlichen Ausdruck gefunden hat (sog. Fehler des Ausdrucks), sondern umgekehrt die Bewältigung einer Lücke im Gesetz in dem Sinne, dass der Gesetzgeber sich zwar durchaus richtig ausgedrückt hat, dabei jedoch einem Denkfehler unterlegen ist (Fehler des Denkens selbst).201 Mit diesem „Denkfehler“ ist freilich weniger ein Vorwurf, als vielmehr der Umstand ausgedrückt, dass der Gesetzgeber mit seiner Regelungstechnik notwendig außerstande ist, abstrakt-generelle Rechtsvorschriften strafbaren Verhaltens und hierzu zugleich für alle atypisch gearteten Sonderfälle geltende entsprechende Ausnahmevorschriften zu schaffen.202 Die „verdeckte Lücke“ besteht darum darin, dass eine (zu stark verallgemeinernde) Norm entgegen ihrem Wortlaut einer Einschränkung bedarf, die das (insofern lückenhafte) Gesetz derweil nicht enthält.203 Mit der teleologischen Reduktion wird jenes ,Schweigen des Gesetzes beantwortet bzw. ausgefüllt. Die teleologische Reduktion als methodisches Instrument zur lückenfüllenden Gesetzesergänzung ist gleichsam das Pendant zur Analogie.204 Auf eine Sentenz gebracht ist die teleologische Reduktion als eine negative Analogie zu begreifen – negativ, weil nicht (positiv) die Anwendung einer Vorschrift auf einen nicht normierten Sachverhalt in Frage steht, sondern (eben negativ) deren Anwendung auf einen an sich erfassten Sachverhalt ausgeschlossen werden soll. Schlüssigerweise gelten für die teleologische Reduktion sodann die gleichen Anforderungen, wie sie für die Analogie bestehen, nur mit der Besonderheit der umgekehrten Vorzeichen. 200 Engisch, Einführung in das juristische Denken (2005), S. 234; Larenz/Canaris, Methodenlehre (1995), S. 210 ff. Maßgeblich geprägt hat den Begriff der „Lückenausfüllung“ durch teleologische Reduktion Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 88 f. 201 Vgl. bei Aoi, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 23 ff. (S. 31). Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre (1991), S. 475. 202 Heck differenziert insofern zwei Reaktionsformen: Eine Ignorierungstheorie, d. h. solche Situationen bleiben unbeachtet, und eine Abweichungstheorie, sprich, einem gesetzgeberischen Zugeständnis der Rechtsfortbildung durch den Rechtsanwender (Heck, in: Eser u. a., Studien und Texte [1968], S. 108 f.). Vgl. ferner Aoi, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 23 ff. (S. 36); Esser, Grundsatz und Norm (1990), S. 8 f., 107 ff., 293 ff. 203 Larenz, Methodenlehre (1991), S. 391; Larenz/Canaris, Methodenlehre (1995), S. 210; s. Zippelius, Methodenlehre (2005), S. 69. Dieser „verdeckten Lücke“ entspricht das Instrument der „teleologischen Reduktion“ (Engisch, Einführung in das juristische Denken [2005], S. 184 [in Fußn. 20]; vgl. auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz [1983], S. 136 f.). Von einer „offenen Lücke“ ist hingegen dort zu sprechen, wo der Gesetzeswortlaut zu eng ist (Canaris, a.a.O., S. 136). 204 Vgl. Pawlowski, Methodenlehre (1999), Rdnrn. 475, 492; Zippelius, Methodenlehre (2005), S. 68 ff. behandelt daher Analogie und teleologischen Reduktion beide unter der Überschrift „Die Ausfüllung von Gesetzeslücken“.
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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Voraussetzung einer teleologischen Reduktion ist demnach neben einer Lücke im Gesetz im Sinne einer fehlenden Ausnahmevorschrift die Planwidrigkeit dieser Lücke sowie die teleologische Vergleichbarkeit im ,negativen Sinne, d. h. die aktual zu bewertende Situation darf nicht vergleichbar mit der Wertentscheidung sein, wie sie in der formal verwirklichten Strafvorschrift ihren Niederschlag gefunden hat; sie darf mit anderen Worten nicht mit denjenigen Situationen vergleichbar sein, denen der Gesetzgeber mit der Strafvorschrift zu begegnen beabsichtigt.205 Der Unterschied dieser Betrachtungsweise zur Sozialadäquanzlehre besteht nunmehr nicht so sehr darin, dass die Feststellung einer teleologischen „Lücke“ im Gesetz denknotwendig zuallererst einen Blick auf das Gleichmaß der Gesamtrechtsordnung voraussetzt, sprich der Rechtsordnung ein Mangel an Geschlossenheit nur mit Blick auf sie selbst und nicht aufgrund außerrechtlicher Kategorien attestiert werden kann.206 Denn die Figur der Sozialadäquanz kommt ebenfalls erst dort zum Einsatz, wo zuvor der Mangel an einer rechtlichen Ausnahmevorschrift bzgl. des streitgegenständlichen tatbestandlichen Verhaltens erwiesen ist. Denn erst dann kann nach der Vereinbarkeit eines (formell tatbestandsmäßigen) Verhaltens mit den geschichtlich gewordenen Ordnungen des Gemeinschaftslebens gefragt werden. Teleologische Reduktion und Sozialadäquanzlehre sind v. a. darum verschieden voneinander, weil auch die beiden anderen Elemente der teleologischen Reduktion durch eine rechtsordnungsinterne Betrachtungsweise gekennzeichnet sind. Mit der Planwidrigkeit einer fehlenden Ausnahmevorschrift ist zu erforschen, ob Rechtsfolgen für bestimmte Fälle vom Gesetzgeber unbewusst und unbeabsichtigt nicht angeordnet worden sind – eine teleologische Reduktion im Falle eines bewussten und beabsichtigen gesetzgeberischen Verzichts auf eine Ausnahmevorschrift ginge contra legem vor.207 Im Rahmen der Planwidrigkeit sind dementsprechend die legislatorischen Erwägungsgründe zu Rate zu ziehen: Hat der historische Gesetzgeber über eine Ausnahmevorschrift beraten, deren Implementierung indes ausdrücklich abgelehnt, so ist die Konstruktion einer Ausnahme über das Mittel der teleologischen Reduktion eo ipso ausgeschlossen. Nicht so hingegen für die soziale Adäquanz, die der Normgeber zwar gesetzlich anerkennen, jedoch nicht rechtlich als solche ausschließen kann; die gesetzgeberische Entscheidung gegen eine rechtliche Ausnahme von einem Strafverbot trifft aus kategorialen Gründen keinerlei Aussage über die Zulässigkeit einer Ausnahme aufgrund sozialer Adäquanz.208
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Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 16, 148 ff. (insbes. S. 151). Vgl. auch Aoi, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 23 ff. (S. 38 f.); Pawlowski, Methodenlehre (1999), Rdnrn. 461 ff.; Wank, Auslegung (2005), S. 126. 206 Bydlinski, Juristische Methodenlehre (1991), S. 485; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 39; Larenz, Methodenlehre (1991), S. 392. 207 Bydlinski, Juristische Methodenlehre (1991), S. 475, 585; Engisch, Einführung in das juristische Denken (2005), S. 184. 208 Vgl. Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 251 f.; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. 70; Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnr. 36.
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Die strukturelle Differenz zwischen sozialer Adäquanz und teleologischer Reduktion wird anhand der Begrenzung letzterer auf den „Telos“ besonders prägnant; erst mit dem Nachweis (negativer) teleologischer Vergleichbarkeit ist die teleologische Reduktion einer Strafvorschrift zulässig. Diese dritte und letzte Voraussetzung der teleologischen Reduktion speist sich maßgeblich unter Rückgriff auf den Gleichheitssatz. Zu ermitteln ist, ob in dem streitgegenständlichen Verhalten – entgegen dem Wortlaut der formal verwirklichten Vorschrift – eine Situation vorliegt, die der der Norm zugrunde liegenden Wertentscheidung nicht vergleichbar, also ungleich ist.209 Mit der Orientierung der teleologischen Reduktion an diesem Gebot, Ungleiches ungleich zu behandeln, ist wiederum notwendig ein norminterner Maßstab verbunden, da es des Rekurses auf den verfassungsrechtlich verbürgten Allgemeinen Gleichheitsgrundsatz bedarf, um festzustellen, ob die in einer Strafbestimmung gesetzlich kodifizierten Sachverhalte von einer aktuell zu bewältigenden Situation wesentlich verschieden und die Anwendung einer solchen Bestimmung damit im Einzelfall teleologisch ausgeschlossen ist. Wiederum im Gegensatz dazu die Sozialadäquanzlehre, die extrapositiv, unabhängig vom Recht auf einer Vergleichung mit den geschichtlich gewordenen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens beruht – ein auf diese Weise erwiesenermaßen sozialadäquates Verhalten ist ohne weiteren Rückgriff auf rechtsinterne Prinzipien dem Unrechtsverdikt zu entziehen. Freilich operiert die extrapositive Vergleichung der Sozialadäquanzlehre nicht vollkommen losgelöst von bestehenden positiv-rechtlichen Regelungen. Als Korrekturinstrument strafrechtlicher Tatbestände ist sie immer notwendig auf das Recht bezogen.210 Komplementär hierzu wird mit dem Hilfsmittel der teleologischen Reduktion die Lückenhaftigkeit des positiven Rechts anerkannt und damit zwangsläufig auch auf nicht rechtlich positivierte Umstände zurückgegriffen. Infolgedessen sind teleologische Reduktion und Sozialadäquanz keineswegs im dem Sinne konträr zueinander abgegrenzt, als erstere ein rein immanentes und nachfolgende ein rein extrapositives Rechtsprinzip sei; vielmehr unterscheiden sich die beiden nach dem Ausgangspunkt ihres Gedankengangs sowie dem Vorrang der in die Prüfung ihrer jeweiligen Voraussetzungen einzustellenden Belange.211 Zunächst noch unentschieden bleiben kann an dieser Stelle damit der allgemeine methodologische Aspekt, ob soziale Bewertungen bei der juristischen Tatbestandsinterpretation sowie -restriktion ausgeblendet bleiben müssen oder aber das Recht 209 So Larenz, Methodenlehre (1991), S. 392, der die Berechtigung zur teleologischen Reduktion auf das Gebot der Gerechtigkeit, Ungleiches ungleich zu behandeln, zurückführt. Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 56 f.; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 151 f.; Zippelius, Methodenlehre (2005), S. 64 ff. 210 Inwiefern die Sozialadäquanz einen Moment „allgemeiner Rechtsüberzeugung“ (sog. opinio iuris) erfordert und wie sie hernach zu einem gewohnheitsrechtlichen Prinzip zu setzen ist, wird an späterer Stelle im Rahmen der inhaltlichen Anforderungen an die SozialadäACHTUNGREquanzlehre erörtert werden. 211 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre (1991), S. 488 ff.; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983), S. 56 f., 172 f.; vgl. Peters, FS Welzel (1974), S. 415 ff. (S. 425 ff.).
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einer Autopoiesis ermangelt und dessen Auslegung dementsprechend auf extrapositive Wertungskriterien angewiesen ist.212 Die bedeutungsgenerierende Differenz der Sozialadäquanz hin zur teleologischen Reduktion ist schon im Vorfeld dieses ACHTUNGREGesichtspunktes durch die Ausrichtung und das Primat gesellschaftlicher (AdäACHTUNGREquanz-)Urteile sichergestellt. Sollten teleologische Reduktion und Sozialadäquanz in Beziehung zueinander gesetzt werden, so könnte letztere gleichsam als extrapositive, soziologische Reduktion bezeichnet werden. Im Verhältnis zur normimmanenten Betrachtungsweise der teleologischen Reduktion verfügt die Sozialadäquanzlehre damit über einen eigenständigen Anwendungsbereich; trotz gewisser Gemeinsamkeiten mit der teleologischen Reduktion ist die Sozialadäquanzlehre durch erstere nicht substituierbar. (3) Aufgehen der Sozialadäquanz in einem sozialen Handlungsbegriff? Zentral für das strafrechtsdogmatische Verständnis Welzels ist dessen strikte Ablehnung einer kausal verstandenen Deliktslehre. Angesichts seiner Funktion als Mittel sozialer Kontrolle sei das Recht auf die Errichtung eines Systems orientiert, welches mit der Regulierung sozialer, nicht aber natürlicher (i.S. naturgesetzlicher) Beziehungen befasst ist. Das Strafrecht leiste keine naturwissenschaftliche Würdigung äußerlich abstrakter Lebensachverhalte, sondern die juristische Bewertung von Rechtsgutseinbußen hinsichtlich deren innerlich-konkreter Dimension sowie sozialer Auswirkungen. Der dogmatisch-systematischen Realisierung dieses Anspruchs dienen nun in komplementärer Weise sowohl die Sozialadäquanzlehre als auch die finale Handlungslehre: Während die Handlungslehre das subjektive Moment als Leitprinzip des Strafrechtssystems betont, also auf Intentionalität menschlichen Verhaltens im Einzelnen zurückgreift, ist die Sozialadäquanzlehre vorwiegend auf die sozialen Beziehungen im sozial Ganzen konzentriert.213 Wird nun zu dem Bestreben Welzels, die Wirklichkeit menschlicher Interaktion gegen eine äußerlich-kausalistische Deliktslehre stark zu machen, synoptisch die von Eb. Schmidt vorgeschlagene Fortentwicklung des Handlungsbegriffs hin zu einer „sozialen Handlungslehre“ aufgegriffen, so scheint sich nunmehr die Möglichkeit zu eröffnen, die Sozialadäquanzlehre gänzlich in einem derart ,sozial zugeschnittenen Handlungsbegriff aufgehen zu lassen und sie dadurch (im Hegelschen Sinne) aufzuheben.214 Eb. Schmidt zufolge ist das Ereignis der „Handlung“ aus straf212
Für eine derartige Einbeziehung: Eser, FS Roxin (2001), S. 199 ff. (S. 210); Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 313). Vgl. ferner Aoi, FS Arthur Kaufmann (1993), S. 23 ff. (S. 44), der bzgl. der teleologisch Reduktion gar von einer Rechtsfindungsmethode spricht, welche vom Gesetzgeber stillschweigend delegiert worden sei. 213 Rexes, GA 105 (1993), S. 108 ff. (S. 114 ff.) – Die soziale Adäquanz ist daher gleichsam ein zweiter Stützpfeiler der Welzelschen Handlungslehre (a.a.O., S. 115); zust. Meli, GA 142 (1995), S. 179 ff. (S. 180). 214 Dies scheinen auch Dunz, NJW 1960, S. 507 ff. (S. 510); Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 87; Kienapfel, Das erlaubte Risiko (1966), S. 22 f.; Wimmer, ZStW 75 (1963), S. 420 ff. (S. 430) im Sinn zu haben.
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rechtlicher Sicht nicht als „physiologisches Phänomen unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, sondern als soziales Phänomen in seiner ,Wirkrichtung auf die soziale Wirklichkeit hin [von Interesse]“215, weshalb stringenterweise stets nach der sozialen Sinndeutung eines Verhaltens, d. h. nach dessen spezifischer Bedeutung für die jeweils berührte Lebenssphäre eines bzw. mehrerer Mitmenschen, gefragt werden müsse.216 Im paradigmatischen Bereich ärztlicher Heileingriffe sei daher festzuhalten, dass die mit einer Wundsetzung verbundene, lege artis durchgeführte Heilbehandlung „ihrem sozialen Sinn nach keine (durch Einwilligung gerechtfertigte) tatbestandsmäßige Handlung“217 i.S.d. § 223 Abs. 1 StGB sei, sondern ihrem sozialen Sinn nach bliebe, was sie ihrem Wesen nach sei: Heilbehandlung, nicht (strafbewehrte) Verletzungshandlung. Gleichermaßen erklärte Kienapfel in den 1960er Jahren Fälle maßvoller körperlicher Züchtigungen von Kindern zu einem „sozialen Handlungstypus, dessen intensiver Sinnbezug zu den im Gemeinschaftsbewusstsein maßgeblichen werthaften Zweck- und Üblichkeitsvorstellungen in dem Urteil der SoACHTUNGREzialadäquanz dieser Verhaltensform zum Ausdruck gelangt“218. Aus Warte eines ACHTUNGREsolchen, an sozialen Sinndeutungen orientierten Handlungsbegriffs wäre ein sozialadäquates Verhalten, weil nach den Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens sozial vollkommen unauffällig, bereits keine „Handlung“ im strafrechtsrelevanten Sinne. An die Stelle einer Tatbestandsrestriktion durch eine eigenständige Figur der Sozialadäquanz träte ein Tatbestandsausschluss solchen Verhaltens mangels (sozialer) Handlungsqualität. Ist es demnach möglich, die Welzelsche Rechtsfigur in einem (erweiterten) sozialen Handlungsbegriff aufzuheben? Die Vorteile eines sozialen Handlungsbegriffs liegen auf der Hand: Bspw. könnte die in der Strafrechtswissenschaft und -rechtsprechung seit langem umstrittene dogmatische Einordnung ärztlicher Heilbehandlungen sachgerecht aufgelöst werden; jeder rechtlichen Bewertung der sozialen Wirklichkeit wäre stets die vernünftige soziale Sinnerfassung des zu bewertenden Verhaltens voranzuschicken. Der Heileingriff wäre nach allgemeiner Anschauung nicht Verletzung, sondern Heilung und somit in sozialer Dimension unerheblich – kurzum, keine strafrechtsrelevante „Handlung“.219 Zugleich wäre mit einem sozialen Handlungsbegriff der Einwand gegen eine mögliche Zuschreibung sozialer Adäquanz an die Zirkumzision widerlegt, dass es widersprüchlich sei, „einerseits von gesellschaftlicher Billigung der Zirkumzision zu sprechen, andererseits aber den ärztlichen Heileingriff von der Sozialadäquanz aus215
Zitat bei Roxin, AT I (2006), § 8 Rdnr. 27. Eb. Schmidt, Gutachten zum 44. DJT (1962), S. 148 ff.; Eb. Schmidt, FS Engisch (1969), S. 339 ff. (S. 340 f.); Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 223: „Handlung ist danach sozialerhebliches menschliches Verhalten“. 217 Eb. Schmidt, FS Engisch (1969), S. 339 ff. (S. 345) – Zum im Text nachfolgenden Argument: ebd., S. 346. 218 Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 119. Dennoch hält er an früherer Stelle als Zwischenergebnis fest, dass körperliche Züchtigungen auf jeden Fall eine Rechtsgutverletzung darstellten (a.a.O., S. 81). 219 Vgl. Ebert, AT (2001), S. 25; Eb. Schmidt, FS Engisch (1969), S. 339 ff. (S. 351). 216
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zuklammern“220. Beide Verhaltensweisen ließen sich via sozialem Handlungsbegriff dem Tatbestandsverdikt entziehen. Überdies wäre mit der Einbeziehung sozialer Wertungen in den Handlungsbegriff eine tragfähige Erklärung für den Umstand geliefert, dass die Strafverfolgungsbehörden oftmals aufgrund gesellschaftlicher Anschauungen untätig bleiben; noch lange vor dem Einsatz der für das strafrechtliche Denken typischen Denkprozesse scheint der soziale Bedeutungsgehalt eines Verhaltens den Ausschlag für das Einschreiten resp. Untätigbleiben der Behörden zu geben.221 Ein derart zugeschnittener Handlungsbegriff trägt jedoch erhebliche Nachteile in sich. Zum einen würde die Abgrenzung zwischen „Handlung“ und „Nicht-Handlung“ verschwimmen: Bis auf reine Gedanken (das sog. forum internum) könnte wohl das gesamte forum externum, kurzum jedwedes „Tun“, dem aufgrund seines Eingriffs in das äußere Umweltgeschehen bei entsprechend extensivem Begriffsverständnis immer auch soziale Bedeutsamkeit zugestanden werden könnte, als Handlung charakterisiert werden.222 Die Funktion praktischer Abgrenzung des Handlungsbegriffs wäre in Frage gestellt. Gleichermaßen erkaufte ein mit sozialen Wertungen aufgeladener Handlungsbegriff eine abgrenzungsproblematische Vermischung von Handlungs- und Unrechtslehre, da der Rückgriff auf die soziale Bedeutung eines Verhaltens nur schwer vom Rückgriff auf rechtliche Wertungen getrennt werden kann; der Handlungsbegriff liefe Gefahr, mit dem Tatbestand verschmolzen zu werden.223 Zum anderen impliziert die soziale Handlungslehre das begriffslogische Paradoxon, mittels der Reflexion über die soziale Bedeutung der Folgen von „Etwas“ (scil. der vermuteten „Handlung“) die Einordnung eben dieses „Etwas“ als Handlung oder NichtHandlung vornehmen zu wollen; über die Merkmale des definiens soll auf das definiendum geschlossen werden! Zusammenfassend: Die soziale Relevanz ist eine Eigenschaft, die ein schon für „Handlung“ befundenes Phänomen aufweisen kann oder nicht – fehlt sie, so fehlt der „Handlung“ die soziale Bedeutung, nicht aber die „Handlung“ selbst.224 Ein sozial aufgeladener Handlungsbegriff wäre also nur noch bedingt in der Lage, seiner Funktion als Grundelement aller Erscheinungsformen strafbaren Verhaltens gerecht zu werden sowie als Verbindungselement zwischen den verschiedenen Stufen juristischer Wertung zu dienen. Der Mangel an inhaltlicher Trennschärfe sowie der 220 Putzke, MedR 2008, S. 268 ff. (S. 269); s. Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 680). 221 Peters, FS Welzel (1974), S. 415 ff. (S. 425). Eb. Schmidt, FS Engisch (1969), S. 339 ff. weist zudem auf die Möglichkeit hin, mit der sozialen Sinnerfassung das konkurrenzdogmatische Phänomen der Fortsetzungstat juristisch meistern zu können (a.a.O., S. 349). 222 Hirsch, ZStW 93 (1981), S. 831 ff. (S. 852); Roxin, AT I (2006), § 8 Rdnrn. 29 f. Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, AT (2003), § 15 Rdnrn. 87 ff. 223 Hiervor warnen Ebert, AT (2001), S. 25 f.; Roxin, AT I (2006), § 8 Rdnrn. 30 u. 31; Schünemann, GA 132 (1985), S. 341 ff. (S. 346). 224 Zu Recht: Jäger, Repetitorium AT (2006), § 1 Rdnr. 22; Roxin, AT I (2006), § 8 Rdnr. 32.
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der sozialen Handlungslehre inhärente begriffslogische Widerspruch in der Klassifikation einer „Handlung“ spricht gegen die Anerkennung einer solchen Lehre. Solange es darum an einem kohärenten Strafrechtsmodell sozialer Handlungen fehlt, ist eine Aufhebung der Sozialadäquanz in einem sozialen Handlungsbegriff konsequenterweise nicht möglich und weiterhin von der Selbständigkeit der Sozialadäquanzlehre auszugehen. Ohnedies ließe sich die Bewältigung sozialadäquater Rechtsgutsverletzungen über eine Negation der Handlungsqualität derselben nur schwerlich mit dem Anspruch Welzels vereinbaren, Verhaltensweisen, die unstreitig tatbestandsmäßig sind, über die auf sie bezogenen sozialen Ordnungsvorstellungen dem Unrechtsverdikt zu entziehen. So steht außer Frage, dass der Zugführer im obigen Fall dem irrtümlich zugestiegenen Fahrgast dessen Freiheit oder etwa der „Dieb“ im o.g. Beispiel einem Anderen dessen Maibaum jeweils durch eine Handlung im strafrechtlichen Sinne entzieht – der Erstere in Form des Unterlassens, der Andere in Form des Tuns. Nicht die Handlungsqualität steht in den Konstellationen der Welzelschen Figur in Frage, sondern die Angemessenheit der an sie anknüpfenden strafrechtlichen Beurteilung. Eine Auflösung der genannten Sachverhalte über die Verneinung der Handlungsqualität widerspräche den gesellschaftlichen Auffassungen ebenso sehr wie die Bestrafung aus den dem Wortlaut nach verwirklichten Tatbeständen. 3. Gesamtergebnis zur Verortung im Deliktsaufbau Aus deliktssystematischer Sicht ist dem Anliegen der Welzelschen SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre allein auf Tatbestandsebene gerecht zu werden. Den sozial-spezifischen Eigenarten eines Lebenssachverhaltes dadurch rechtliche Berücksichtigung zukommen zu lassen, indem der Charakterisierung eines Geschehens als strafrechtliches Unrecht die durch die geschichtlich gewordenen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens geprägte soziale Eigenart eben dieses Geschehens entgegengesetzt und das Unrechtsverdikt dadurch gleichsam widerlegt wird, ist weder über Entschuldigungs- oder Rechtsfertigungsgründe noch über die Auslegung oder teleologische Reduktion des gesetzlichen Tatbestandes oder dem Neuzuschnitt eines (sodann sozialen) Handlungsbegriffs möglich. Den historisch gewachsenen sozial-spezifischen Eigenarten eines Lebenssachverhaltes rechtliche Berücksichtigung zu verschaffen, konnte bis zu dieser Stelle durch keine der etablierten Rechtskonstruktionen erreicht werden. Innerhalb der dogmatischen Struktur des Strafrechts ist die Sozialadäquanz darum eine dem Tatbestand zuzuordnende, eigenständige Rechtsfigur – ohne aber zugleich ein Merkmal des Tatbestandes zu sein oder etwa den Wirklichkeitshorizont tatbestandlich fixierter Rechtsgüter dem Wesen nach zu verschieben.225 Vielmehr ist mit
225 Vgl. insofern Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 85. Fehl gehen daher die Überlegungen von Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 676 ff.), der die Sozialadäquanz
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ihr ein der Gesamtrechtsordnung inhärentes Prinzip zur Reduktion rechtlich verwirklichter Tatbestände aufgrund der Eigenart spezifischer Fallkonstellationen benannt,226 welches mit der rechtlichen Berücksichtigung sozial-gesellschaftlicher Maßstäbe zugleich auf die Grenzen des Gesetzespositivismus verweist.227 Begriffsparallel zur teleologischen Reduktion könnte die Sozialadäquanzlehre schlagwortartig als Instrument zur ,historisch-soziologischen Reduktion strafrechtlicher Tatbestände bezeichnet werden. Aber nochmals: Da sie maßgeblich auf die sozialen Ordnungen gerichtet ist, fügt sie sich nicht in das klassische Instrumentarium rechtlicher Auslegungsmethodik. II. Inhaltliche Anforderungen an eine Sozialadäquanzlehre Im vorangegangenen Abschnitt wurden, von der Welzelschen Konzeption und Formel der Sozialadäquanz ausgehend, der deliktssystematische Standort sowie die formelle Selbständigkeit der Sozialadäquanzlehre untersucht. Über die inhaltlichen Anforderungen dieser Lehre ist bisher indessen wenig mehr deutlich geworden, als sich aus der Welzelschen Sentenz – eines sich innerhalb der geschichtlich gewordenen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens bewegenden Verhaltens – ohnedies allgemein erschließen lässt: Die Voraussetzungen der Sozialadäquanz sind außerrechtlicher bzw. überpositiver Natur. Maßgeblicher Bezugspunkt sind die geschichtlich gewordenen, nicht hingegen die rechtlich verfestigten Ordnungen der Rechtsgemeinschaft. Dementsprechend ist der Inhalt der Sozialadäquanz weniger rechtlicher als empirischer Natur;228 die soziale Eigenart der Wirklichkeit ist es, deren Berücksichtung bei der Anwendung von Strafvorschriften eingefordert wird.
über die „Erheblichkeit“ des Eingriffs innerhalb des Tatbestandsmerkmals des Misshandlungsbegriffs i.S.d. § 223 StGB erörtert. 226 Neben den o.g. Fußnotennachweisen s. insbes. BGHSt 19, 152 (154) mit dem Urteil, dass der Gastwirt, der seine betrunkenen Gäste nicht davon abhält, ein Kfz alkoholisiert und damit in gefährdender Art und Weise im Straßenverkehr zu führen, für etwaige Unfallfolgen strafrechtlich nicht einzustehen habe; das Ausschenken von Alkohol in Gastwirtschaften sei ein von der Allgemeinheit gebilligtes und damit ein sozial übliches, anerkanntes Verhalten und biete daher keine Grundlage für einen strafrechtlichen Vorwurf. OLG München, NStZ 1985, 549 (550). Vgl. auch BayObLG, NJW 1962, 1878 mit abl. Bespr. Greiser, NJW 1969, S. 1155 ff. (S. 1156); ferner Dölling, ZStW 96 (1984), S. 36 ff. (S. 55 ff.); Schaffstein, ZStW 72 (1960), S. 369 ff. (S. 376); Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff. (S. 646). 227 Esser, Grundsatz und Norm (1990), S. 59 ff. weist zu Recht darauf hin, dass die Übersetzungsarbeit des Ethischen „die historische oder etatistische Vorstellung von dem vorgeblich autonomen Charakter der positiven Regeln und Rechtsfiguren gegenüber allem ,Metajuristischen [widerlegt]“ (a.a.O., S. 60). Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken (2005), S. 136 f. oder Larenz, Methodenlehre (1991), S. 417 ff. 228 Prägnant von einer „empirisch verstandenen Sozialadäquanz“ spricht Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 317). S. Eser, FS Roxin (2001), S. 199 ff. (S. 212); Fischer, StGB (2008), Vor § 32 Rdnr. 12; Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff. (S. 1778). Insofern missverständlich: Ebert, AT (2001), S. 35: Es gehe darum, „die sprachliche Form (Tatbestand) mit ihrem Sinn
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Nun ist von der empirischen Natur des Inhalts streng die Funktion der Sozialadäquanzlehre zu unterscheiden. Insbesondere deshalb, weil gegenüber ersterer die Natur der Funktion durchaus normativer Art ist, insofern die Lehre die Reduktion gesetzlicher Tatbestände bezweckt sowie ein allgemeines Prinzip der Gesamtrechtsordnung aufstellt.229 Wird jene kategoriale Differenz übergangen und die Natur der Funktion mit der des Inhalts unzulässigerweise gleichgesetzt, ergäbe sich für die inhaltliche Entwicklung der Lehre ein falscher, nämlich normativer Ausgangspunkt. Die Folge solch einer unzulässigen Gleichsetzung von Natur des Inhalts und Natur der Funktion veranschaulicht sich exemplarisch an einem Urteil des BGH aus dem Jahr 1970, in welchem das Gericht zur Frage der Sozialadäquanz ausführte, „bei der Beantwortung der Frage, was im Rahmen der ,normalen Handlungsfreiheit liegt und damit als ,sozialadäquat anzusehen ist, [sind] die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und die durch sie für die Handlungsfreiheit auf politischem Gebiet gesetzten Grenzen zu berücksichtigen“230. Erkennbar widerspricht eine solche Forderung dem vorliegend bis zu dieser Stelle Dargelegten. Die Sozialadäquanzlehre nimmt allein außerrechtliche Kriterien in Bezug, so dass die verfassungsmäßige (Rechts-)Ordnung für den Inhalt jener Lehre keine Erkenntnisquelle sein kann. Eine andere, an späterer Stelle zu klärende Frage ist, wie sich die Sozialadäquanzlehre in das Wertungssystem der Rechtsordnung einfügt. Welche Momente der Empirie den Inhalt der Sozialadäquanzlehre en detail ausmachen, ist trotz aller Stellungnahmen zur Verortung und Bedeutung der Lehre weder von Welzel selbst noch von anderen Autoren oder der Rechtsprechung dargelegt worden. Mehr als die einigermaßen nebulösen „geschichtlich gewordenen Ordnungen“ werden nie als Maßstab angeführt. Ebenso ungeklärt ist die materielle Berechtigung der Welzelschen Lehre, d. h. inwiefern bestimmte Ausschnitte sozialer Wirklichkeit überhaupt bestimmenden Einfluss auf rechtliche Sollenssätze entfalten können. Zudem kennzeichnet die Sozialadäquanzlehre in ihrem Anliegen, den geschichtlich gewordenen Ordnungen des Gemeinschaftslebens rechtliche Geltung zuzuerkennen, eine auffällige Nähe zur Figur des Gewohnheitsrechts, welche ihrerseits länger
(Unrechtstypus) zur Deckung zu bringen“ – Es geht aber nachgerade nicht allein um die Ermittlung des rechtlichen „Unrechtstypus“; dies wäre eine Auslegungsfrage. 229 Zur Natur als allg. Rechtsprinzip: Welzel, Strafrecht (1969), S. 58; s. bereits Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1961), S. 26; Welzel, Strafrecht (1960), S. 76. Zur Berücksichtigung des Prinzips der Einheit der Rechtsordnung: Dölling, ZStW 96 (1984), S. 36 ff. (S. 57); vgl. Eb. Schmidt, FS Engisch (1969), S. 339 ff. (S. 351); wohl auch OLG München, NStZ 1985, 549, wenn es allein „in strafrechtlicher Hinsicht im sozialen Leben gänzlich unverdächtige“ (a.a.O., 550 – Hervorhebung durch den Autor: T.E.) Handlungen einbeziehen will. 230 BGHSt 23, 226 (228) – Hervorhebung durch den Autor: T.E. (Angesichts allein dieser Entscheidung durchaus fragwürdig ist die Anm., die Sozialadäquanz sei „von der strafrechtlichen Rechtsprechung niemals allgemein anerkannt worden“: Hirsch, FS Universität Köln [1988], S. 399 ff. [S. 421]).
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andauernden tatsächlichen Übungen zwischenmenschlichen Zusammenlebens samt entsprechender Richtigkeitsüberzeugung231 Rechtsgeltung verschaffen soll. Ist die Welzelsche Lehre allerdings mehr und anderes als eine bloße Umschreibung gewohnheitsrechtlicher Gedanken, so muss, noch bevor auf die grundsätzliche Berechtigung sowie die inhaltlichen Kriterien der Sozialadäquanzlehre eingegangen werden kann, eine Abgrenzung der Sozialadäquanzlehre vom Gewohnheitsrecht vorgenommen werden. Dazu gilt nachzuweisen, dass das Anliegen der Sozialadäquanzlehre mit einem gewohnheitsrechtlichen Anforderungsprofil nicht zu verwirklichen ist; zu benennen sind mithin in einem ersten Schritt diejenigen differentiae specificae, welche gewohnheitsrechtliche Sachverhalte von den sozialadäquaten unterscheiden (unter 1.). Mit dem Nachweis einer von der Figur des Gewohnheitsrechts emanzipierten Sozialadäquanzlehre wäre gleichsam die Gegenfrage erreicht, warum bzw. inwiefern bestimmte Erscheinungsformen sozialer Wirklichkeit überhaupt rechtliche Beachtung finden sollten, wo doch der bloßen Faktizität gesellschaftlicher Wirklichkeit statt rechtlicher Geltungskraft in aller Regel die rechtliche Sanktion zukommt – erfüllt ein Verhalten denWortlaut einer Strafvorschrift, so wird es grundsätzlich mit der Sanktion zu belegen sein (unter 2.). Sind diese Vorfragen geklärt, sind schlussendlich die näheren inhaltlichen Kriterien der Sozialadäquanz zu erarbeiten (unter 3.). 1. Sozialadäquanz und Gewohnheitsrecht Außerhalb eines streng rechtswissenschaftlichen Positivismus232 besteht weitgehend Einigkeit darüber, die Rechtsanwendung nicht als einen hermeneutischen Vorgang zu begreifen, der ausschließlich innerhalb der Bahnen des staatlich gesetzten Rechts verläuft. Der Ulpianischen Charakterisierung des Rechts folgend – ius est ars boni et aequi (Dig. 1. 1. 1. pr.) –, die Kunst des Guten und Gerechten zu sein, muss das Fällen gerechter Entscheidungen den schlichten Syllogismus mittels Subsumtion eines Lebenssachverhaltes unter eine für hermetisch geschlossen aufgefasste Vorschrift stets in gewisser Weise überschreiten. Kurzum, die Anwendung des Rechts kann ohne die Berücksichtigung der Vielschichtigkeit des sozialen Lebens resp. ohne Rückkoppelung an gewisse Anschauungen der gesellschaftlichen Gemeinschaft kaum vonstatten gehen.233 Eng verbunden mit dieser Auffassung ist die auf der Ablehnung der Allmacht des Gesetzgebers aufbauende geradewegs klassische Bestimmung des Gewohnheitsrechts, als ein Recht, das ein Volk „ohne jede Schriftform 231
Larenz, Methodenlehre (1991), S. 356; Zippelius, Methodenlehre (2005), S. 9 f. Der richtigerweise nicht einmal im 19. Jahrhundert die Auffassung vertrat, der Rechtsanwender sei schlicht ein ,Subsumtionsautomat positiven Rechts: Seelmann, Rechtsphilosophie (2003), § 13 Rdnr. 22 m.w.N. 233 Bringewat, ZStW 84 (1972), S. 585 ff. (S. 598, 605); Müller, Normstruktur und Normativität (1966), S. 147 ff. – mit seiner Unterscheidung zwischen Normtext und Norm; Zippelius, Methodenlehre (2005), S. 8 ff. 232
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durch entsprechendes Verhalten gebilligt hat [und das] wie ein Gesetz befolgt wird“234. Der Figur des Gewohnheitsrechts ist also kurzum daran gelegen, bestimmte soziale Sachverhaltskonstellationen als entscheidungsrelevante Rechtsquelle neben dem positiven Gesetzesrecht anzuerkennen.235 Auch die Sozialadäquanzlehre will bestimmten, geschichtlich geronnenen Ordnungsvorstellungen der Rechtgemeinschaft rechtliche Bedeutung zuerkennen. Indem das Gewohnheitsrecht die soziale Wirklichkeit jedoch dadurch in die rechtliche Bewertung einer Verhaltensweise einbezieht, dass es dem Verhalten den Status einer Rechtserkenntnisquelle zuweist, ist die gewohnheitsrechtliche Figur vom Anliegen der Sozialadäquanzlehre schon strukturell verschieden. Denn mit der gewohnheitsrechtlichen Anerkennung erlangt ein tatsächliches Geschehen normative Geltungskraft, d. h., wird auf exakt diejenige Bewertungsebene ,gehoben, gegen deren internes Unwerturteil die Sozialadäquanzlehre – gleichsam von außen – gerichtet ist. Wäre ein „sozialadäquates Verhalten“ dem Tatbestand einer Strafvorschrift nämlich zugleich aus gewohnheitsrechtlichen Gründen zu entziehen, so wäre der Tatbestand schon aus normativ verbindlichen, sprich formellen Gründen nicht verwirklicht. Das Anliegen der Sozialadäquanzlehre, „an sich“, d.i. formell, tatbestandsmäßiges Verhalten (erst) aus materiellen Gründen dem Unrechtsurteil zu entziehen, würde auf diese Weise überflüssig. Eine gewohnheitsrechtlich interpretierte Sozialadäquanzlehre käme also niemals in die Verlegenheit, ein Verhalten dem formellen Unrechtsverdikt aus materiellen Gründen entziehen zu müssen, weil sie als ungeschriebener Teil des Rechts vielmehr schon eben jenes formelle Urteil neutralisieren würde.236 Soll allerdings der Konzeption Welzels gefolgt werden, die formellen Ergebnisse strafrechtlicher Wertungen (materialiter) unter Rückgriff auf Aspekte sozialer Adäquanz in Frage zu stellen, kann dem nicht mit einer gewohnheitsrechtlichen Figur Rechnung getragen werden. Schließlich gilt es, den außerhalb des Rechts siedelnden, historisch gewachsenen sozialen Vorstellungen, denen gerade kein formellnormativer Verbindlichkeitsanspruch eigen ist, zur Geltung zu verhelfen. Selbstredend erlaubt dieser strukturelle Unterschied zwischen Gewohnheitsrecht und Sozialadäquanz keine Schlussfolgerung dahingehend, ob die Welzelsche Lehre auch inhaltlich von der gewohnheitsrechtlichen Anerkennung bestimmter Lebens234 So die Übersetzung der Julianischen Digestenstelle (Dig. 1. 3. 32): „sine ullo scripto populus probavit […] consuetudo pro lege custoditur“ (Meder, Ius non scriptum [2008], S. 108). 235 Enneccerus/Nipperdey, BGB AT (1952), S. 157 samt Verweis auf S. 125 – trotz ihres Erörterungszusammenhangs des Allgemeinen Teils des BGB muss diese Begründung nichtsdestoweniger auch für das Strafrecht Geltung beanspruchen, soll ein einheitlicher Begriff des Gewohnheitsrechts unterstellt werden (Bringewat, ZStW 84 [1972], S. 585 ff. [S. 596 in Fußn. 57]); vgl. ferner Larenz, NJW 1951, S. 497 ff. (S. 497); Pawlowski, Methodenlehre (1999), Rdnr. 3b. Zur Frage, ob beide Rechtsquellen sodann allein durch deren äußere Form voneinander abzugrenzen sind: Meder, Ius non scriptum (2008), S. 109 – 137. 236 Vgl. Enneccerus/Nipperdey, BGB AT (1952), S. 167; Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 104; Larenz, NJW 1951, S. 497 ff. (S. 498).
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sachverhalte verschieden ist. Just der Bezug der Sozialadäquanzlehre auf das geschichtlich Gewordene lässt die Frage aufkommen, ob die Voraussetzungen sozialer Adäquanz letztlich nicht identisch sind mit denen einer gewohnheitsrechtlichen Übung, die Merkmale letzterer nicht vielleicht erst den Nachweis sozialer Adäquanz zu führen in der Lage wären. Nur wenn hinreichende differentiae specificae zwischen den beiden Figuren feststellbar sind, wird berechtigtermaßen von einer eigenständigen Rechtsfigur der Sozialadäquanz gesprochen werden können. Indessen gilt es, die inhaltlichen Anforderungen an eine Sozialadäquanzlehre zuallererst zu entwickeln, so dass an dieser Stelle der Nachweis hinreichender Verschiedenheit der Lehre von gewohnheitsrechtlichen Rechtssätzen vorab zunächst nur so geführt werden kann, dass die Übertragbarkeit der (gesicherten) Anforderungen an eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung bestimmter Verhaltensweisen auf die ACHTUNGREWelzelsche Lehre ausgeschlossen werden muss. Nachzuweisen ist mithin, dass ein gewohnheitsrechtlicher Rechtssatz von Voraussetzungen abhängt, von denen die Sozialadäquanzlehre schon konzeptionell nicht abhängen kann. Der inhaltlichen Definition folgend, „Gewohnheitsrecht ist das ungesetzte, durch einen allgemeinen, normalerweise durch Übung, manifestierten Rechtsgeltungswillen der Gemeinschaft erzeugte Recht“237, ist im nachfolgenden auf zwei Momente einzugehen: Den länger andauernden Brauch (lat.: consuetudo) auf der einen sowie die allgemeine Überzeugung, dass dieser Übung auch Rechtsverbindlichkeit eigne (lat. opinio iuris bzw. opinio necessitatis),238 auf der anderen Seite.
a) Consuetudo Zunächst zum ersten Voraussetzungselement des Gewohnheitsrechts und damit zur Frage, ob von „Sozialadäquanz“ ebenfalls nur dort gesprochen werden kann, wo sich ein länger andauernder Brauch (lat.: consuetudo), also eine zeitlich ausgedehnte allgemeine Übung verzeichnen lässt. Für die Etablierung eines gewohnheitsrechtlichen Grundsatzes reicht allein die zeitliche Länge der brauchtumsbedingten Ausübung eines Verhaltens nicht hin. Erforderlich und entscheidend ist neben der Dauer v. a. die soziale Extension dieser Übung, die stets eine gesamtgesellschaftlich, gesellschaftsweit Wirkende zu sein hat.239 Zu beachten gilt, dass „Brauchtum“ bzw. „Sitte“ im Erörterungszusammenhang des Gewohnheitsrechts notwendig solche gewachsenen Traditionen bezeichnet, deren Bezugspunkt jeweils die Gesamtheit der Bürger eines Gemeinwesens ist; nur eine gesamtgesellschaftliche Übung wird einen gegenüber dem positiven Recht der Gemeinschaft äquivalenten (Rechts-)Status beanspruchen können. Wo lediglich eine 237
Enneccerus/Nipperdey, BGB AT (1952), S. 156 – Hervorhebung im Orig. Ferner Bringewat, ZStW 84 (1972), S. 585 ff. (S. 595); Larenz/Canaris, Methodenlehre (1995), S. 176. 238 Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 103. Auch Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 112; Meder, Ius non scriptum (2008), S. 108 m.w.N. 239 Esser, Grundsatz und Norm (1990), S. 138; Larenz, NJW 1951, S. 497 ff. (S. 497).
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gesellschaftliche Teilgruppe länger andauernd ein spezifisches Verhalten ausübt, wird Gewohnheitsrecht nicht begründet werden können.240 Trotz einer etwaigen ,Verfestigung werden partikulare Sitten niemals diejenige Geltungskraft beanspruchen können, wie sie den – von der zuständigen Instanz einer Gemeinschaft – gesetzten Rechtssätzen eigen ist. Übungen gesellschaftlicher Teilbereiche sind mithin keine taugliche Grundlage zur Begründung eines gewohnheitsrechtlichen Rechtssatzes, der sodann Regeln des gesetzten Rechts zu nivellieren in der Lage wäre. Anders hingegen die Konzeption der Sozialadäquanzlehre. Ihr ist an der rechtlichen Berücksichtigung der Übung gesellschaftlicher Teilbereiche241 gelegen, oder mit den Worten Welzels, um die tatbestandliche Ausklammerung von Verhaltensweisen, die sich innerhalb der „Ordnungen des Soziallebens“242 bewegen. Der abstraktgenerelle Maßstab des Rechts soll hier durchbrochen werden, um auch die im Verhältnis zu den abstrakt-generellen Gesetzesvorschriften atypischen Verschiedenheiten eines Einzelgeschehens einem sinnentsprechend differenzierten Urteil zuzuführen, mithin die Vielgestaltigkeit der sozialen Wirklichkeit im Richterspruch abbilden zu können.243 Würden hingegen die Übungen der gesamten Rechtsgemeinschaft für die Bestimmung der individuellen sozialen Handlungsfreiheit244 maßgeblich sein, so wäre es begriffich unstimmig, auf die Ordnungen anstatt allein auf die Ordnung des tätigen Gemeinschaftslebens zurückzugreifen. Zwar mögen die Bereiche und Gegenstände, auf welche die Regeln der gewohnheitsrechtlichen Ordnung(!) bezogen sind, ebenfalls vielgestaltig und inhaltlich verschieden sein, nichtsdestoweniger konstituieren diese ein organisches Gesamterscheinungsbild in Form der konkreten Ordnung der ganzen Rechtsgemeinschaft. Würde an die Sozialadäquanzlehre also der Maßstab des Gewohnheitsrechts angelegt und ersterer eine allgemeine Übung abverlangt, würde das Anliegen der Welzelschen Lehre, gegenüber der Unrechtstypisierung abstrakter Rechtsregeln die Vielfältigkeit sozialer Wirklichkeit in Stellung zu bringen, aufgegeben werden müssen. Natürlich kann die soziale Adäquanz von einer gesamtgesellschaftlichen Übung getragen sein, nur ist dies im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht für deren Vorliegen niemals konstitutiv. D.h., partikulare Brauchtümer begründen kein Gewohnheitsrecht, 240 Pars pro toto: Enneccerus/Nipperdey, BGB AT (1952), S. 161. Wird hingegen von „partikularem Gewohnheitsrecht“ (Dickert, JuS 1994, S. 631 ff. [S. 634]) gesprochen, begründet dies postwendend den Zweifel, ob ein solches „überhaupt im Stande ist, sich gegenüber grundlegenden strafrechtlichen […] Normen des Staates durchzusetzen“, so Scheyhing, JZ 1959, S. 239 ff. (S. 240). 241 Dickert, JuS 1994, S. 631 ff. (S. 636); Hassemer, wistra 1995, S. 81 ff. (S. 81); vgl. Piegler, JZ 1955, S. 239 ff. (S. 240). 242 Welzel, Strafrecht (1969), S. 55 – Hervorhebung durch den Autor: T.E.; im Plural auch Welzel, Das Neue Bild des Strafrechtssystems (1952), S. 22 oder Welzel, Strafrecht (1947), S. 35. 243 Dölling, ZStW 96 (1984), S. 23 ff. (S. 56); Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 100. 244 Innerhalb derer bewegt sich Welzel zufolge alles sozialadäquate Verhalten (Welzel, Strafrecht [1969], S. 56 f.).
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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sondern allenfalls (sozialadäquate) Verkehrssitten.245 Sozialadäquanz und Gewohnheitsrecht sind nicht notwendig identisch. Hieran vermöchte selbst eine fortgesetzte gerichtliche Anerkennung partikularer Sitten unter dem Begriff „Sozialadäquanzlehre“ nichts zu ändern. Und zwar nicht nur, weil sich in concreto bzgl. der SozialadäACHTUNGREquanz als Rechtsfigur ein eindeutiger, geschweige denn positiver Gerichtsgebrauch ohnedies nicht verzeichnen ließe. Vielmehr wäre auch eine positive Judikatur etwaiger Sitten gesellschaftlicher Teilbereiche als bloßes Juristenrecht a limine nicht im Stande, die Rechtsüberzeugungen der Gemeinschaft zu bestimmen. Gewohnheitsrecht könnte über die Rechtsprechung allenfalls nur dort festgestellt werden, wo etwaige Sitten der sozialen Wirklichkeit sich bereits zu einer entsprechenden allgemeinen Praxis ausgewachsen haben.246 Aus sich heraus ist die Rechtsprechung mithin nicht im Stande, die Geltung eines Gewohnheitsrechtssatzes gleichsam zu etablieren. Darum begründete selbst die fortlaufende gerichtliche Anerkennung der Sozialadäquanzlehre keinen ,Gewohnheitsrechtssatz der Sozialadäquanz. b) Opinio iuris Ist mit der Extension gesellschaftlicher Übung als Differenzierungskriterium des Gewohnheitsrechts gegenüber der Sozialadäquanzlehre die inhaltliche Eigenständigkeit dieser beiden Rechtsfiguren voneinander bereits hinreichend erwiesen, so fördert auch das zweite Voraussetzungselement des Gewohnheitsrechts, der die allgemeine – und nicht nur partikulare – Übung tragende Rechtsgeltungswille (opinio iuris), einen weiteren Gattungsunterschied zu Tage. Zu vergegenwärtigen gilt, dass ein gewohnheitsrechtlicher Rechtssatz nur durch derartige gesellschaftliche Übungen begründet werden kann, welche zugleich mit der Überzeugung bzw. dem spezifischen Willen einhergehen, mit dem fraglichen Verhalten eine bindende (Richtigkeits-)Regel zu verwirklichen und nicht bloß aus Gewohnheit heraus zu handeln. Erst durch die allgemeine Anerkennung der Rechtsqualität einer Übung wird aus bloßer Gewohnheit Gewohnheitsrecht.247
245
Enneccerus/Nipperdey, BGB AT (1952), S. 167; Larenz, NJW 1951, S. 497 ff. (S. 498). Vgl. BVerfGE 18, 224 (240 f.); Enneccerus/Nipperdey, BGB AT (1952), S. 168; Larenz, Methodenlehre (1991), S. 433; Larenz/Canaris, Methodenlehre (1995), S. 258 f.; s. Rümelin, Die bindende Kraft des Gewohnheitsrechts (1929), S. 15 ff. Ausführlich zur Rechtsnatur des Richterrechts als wesensverschieden vom Gewohnheitsrecht: Bringewat, ZStW 84 (1972), S. 585 ff. Diff.: Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 1 Rdnrn. 10 ff. 247 Sog. opinio necessitas bzw. iuris necessitas: (Enneccerus/Nipperdey, BGB AT [1952], S. 160; Kienapfel, Körperliche Züchtigung [1961], S. 103 f.; vgl. Meder, Ius non scriptum [2008], S. 108; Rümelin, Die bindende Kraft des Gewohnheitsrechts [1929), S. 36 ff.). Diff.: Soml, Juristische Grundlehre (1917): Wo nur eine Übung vorliegt, spricht er von primärem, tritt eine opinio necessitatis hinzu, von sekundärem Gewohnheitsrecht (a.a.O., S. 353 ff. [insbes. S. 362]). Diff. auch Loening, Über Wurzel und Wesen des Rechts (1907), S. 19, dem zufolge gerade nicht die Intention der Handelnden erforderlich sei, eine rechtliche Norm aufzustellen, gleichwohl aber eine Überzeugung, rechtmäßig zu handeln (vgl. auch a.a.O., S. 25). 246
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
Die Einstufung eines Verhaltens als sozialadäquat ist demgegenüber nicht an eine positive Stellungnahme (ggf. eines sozialen Teilbereichs) gebunden. Welzel selbst betont, ein sozialadäquates Verhalten habe keineswegs notwendig ein sozialvorbildliches Verhalten zu sein,248 müsse darum nicht zwangsläufig mit einer anerkennenden Anschauung in dem Sinne einhergehen, dass das streitgegenständliche Verhalten für rechtens befunden werden müsste. Stattdessen wird die soziale Adäquanz in aller Regel das Fällen eines ,Richtigkeitsurteils über die fragliche Verhaltensweise überflüssig machen; denn erst dort, wo der Bereich des Sozialüblichen bereits verlassen und ein Verhalten als Bruch sozialer Adäquanz zu charakterisieren ist, wird typischerweise ein Bedarf an Richtigkeitsüberlegungen anzumelden sein.249 Mit anderen ACHTUNGREWorten, dort wo eine Übung von einer Rechtsüberzeugung begleitet wird, mithin von Gewohnheitsrecht die Rede sein kann, hat das entsprechende Verhalten zuvor notwendig genügend Anlass zu gesellschaftlicher Befassung bzw. Auseinandersetzung gegeben, und somit den Bereich des sozial adäquaten eo ipso verlassen. Von einer (Rechts-)Richtigkeitsüberzeugung kann die Sozialadäquanzlehre konzeptionell mithin nicht abhängen. Auf das zweite Voraussetzungselement des Gewohnheitsrechts gewendet, ist festzuhalten, dass ein sozial adäquates Verhalten aufgrund seiner sozialen Angemessenheit dem Bereich eines Rechtsgeltungswillens (opinio iuris) weit vorgelagert und somit auch aus diesem Grunde nicht der Figur des Gewohnheitsrechts zugeschlagen werden kann. c) Ergebnis Gegenüber dem Gewohnheitsrecht gewinnt die Sozialadäquanzlehre ihre inhaltliche Selbstständigkeit dadurch, dass sie praktisch selten auf einer Übung gesamtgesellschaftlichen Umfangs beruhen sowie ihrem theoretischen Anspruch nach niemals zwingend einen Willen rechtlicher Richtigkeit voraussetzen wird. 2. Beachtliche Sozialadäquanz – Unbeachtliche Faktizität Wenn sozialadäquates Verhalten allerdings weder eine von allen Gesellschaftsmitgliedern getragene Übung noch notwendig eine Richtigkeitsüberzeugung erfordert, gleichwohl aber beansprucht, als faktische Erscheinungsform einer sozial-spezifischen Wirklichkeit das Unwerturteil (formell) verwirklichter Straftatbestände zu derogieren, so stellt sich nunmehr die eingangs erwähnte Gegenfrage: Weshalb sollte ein bestimmt geartetes tatsächliches Geschehen, welches die Voraussetzungen einer Strafvorschrift an sich verwirklicht, anstatt mit der entsprechenden Rechtsfolge 248
Welzel, Strafrecht (1969), S. 56; vgl. bereits Welzel, Strafrecht (1947), S. 36, wonach auch Drohungen (mit verkehrsmäßigen Übeln) sozialadäquat sein können – freilich würde dieses Bsp. heute gem. § 240 Abs. 2 oder § 253 Abs. 2 StGB gelöst werden: Bei Bedrohung mit einem solchen Übel wird dem Opfer das Standhalten in besonnener Selbstbehauptung abverlangt (Fischer, StGB [2008], § 240 Rdnr. 32a m.w.N.). 249 Prägnant Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 104.
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belegt und als Normbruch abgeurteilt zu werden, auf jene Strafvorschrift beschränkende Wirkung entfalten, d. h. die Rechtsfolge ausgesetzt und der Normbruch verneint werden? a) Die Differenz von tatsächlichem Sein und normativem Sollen Anzusetzen für diese Frage ist an die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführte Auseinandersetzung Kelsens mit der Bestimmung des Gegenstandsbereichs einer Rechtssoziologie durch Ehrlich, namentlich der Frage nach dem, was „Recht“ ist. Der Behauptung Ehrlichs, das Recht sei mit der sozialen Wirklichkeit immer identisch, die innere faktische Ordnung der Gemeinschaft somit die ursprüngliche und auch die grundlegende Form des Rechts,250 setzt Kelsen die Betrachtungsweise des Rechts als gesetzte Norm entgegen. Recht ist seiner Auffassung nach nicht die Wiedergabe einer Seinsregel faktisch-menschlichen Verhaltens, sondern eine bestimmte Form des Sollens. Sein und Sollen sind zwei Kategorien, deren Verschiedenheit Kelsen zufolge notwendig dazu führt, in Bezug auf das Recht gerade unterscheiden zu müssen: „Dasjenige, was die Menschen in irgend einer Beziehung regelmäßig tun, und dasjenige, was sie von Rechts wegen tun sollen“251. Soziale Wirklichkeit und ACHTUNGREnormativer Anspruch können auseinanderfallen, eben weil das Recht als Verhaltensordnung nur vorschreibt, wie die soziale Wirklichkeit in bestimmten Bereichen abzulaufen hat, ohne aber den tatsächlichen Zustand (das Sein) der Außenwelt zu beschreiben.252 Entgegen der Auffassung Ehrlichs sind Recht und Wirklichkeit also mitnichten stets identisch: Vom Sollen, d. h. dem normativen Anspruch des Rechts, zu trennen ist das tatsächliche Geschehen, verstanden als die Normalität bzw. im Fall der Normwidrigkeit der Abnormalität der Wirklichkeit.253 Ist tatsächliches – und somit auch sozialadäquates – Verhalten auf diese Weise keineswegs eo ipso gesetzeskonformes, normgemäßes Verhalten, wäre es umgekehrt ein kategorialer Fehlschluss, von der sozialen Adäquanz (scil. der Normalität) im Wege der Logik auf die Berechtigung, jener Normalität normative Beachtlichkeit zukommen zu lassen, schließen zu wollen.
250 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1989), S. 43 ff. Ebenfalls gegen eine Seins-Sollens-Differenz: Jonas, Das Prinzip Verantwortung (2003), S. 234 ff., passim. 251 Kelsen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 839 ff. (S. 841) – Hervorhebungen im Orig. gesperrt gedr. 252 Kelsen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 839 ff. (S. 872 f., 876); Hoerster/Kelsen, Texte zur Rechtsphilosophie (2002), S. 20 ff. Vgl. bereits Soml, Juristische Grundlehre (1917), S. 184 f.; ferner Müller, Normstruktur und Normativität (1966), S. 97 ff.; Seelmann, Rechtsphilosophie (2003), § 2 Rdnrn. 31 ff.; Zippelius, Rechtsphilosophie (2007), S. 6 ff. Auf das umstr. Wesen dieses „Sollens“ kommt es im vorliegenden Zusammenhang indes nicht an (s. dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken [2005], S. 18 ff.; Hoerster, Was ist Recht? [2006], S. 36 ff.). 253 Vgl. Soml, Juristische Grundlehre (1917), S. 56 sowie S. 179.
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
Bei genauerer Betrachtung avanciert die Möglichkeit des Auseinandertretens von Sein und Sollen gar zum essentiellen Sinnkriterium des staatlich gesetzten Rechts.254 Denn wäre zu erwarten, dass alle Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft die normativen Vorgaben ohnedies einhielten, d. h. Sein und Sollen sich stets deckungsgleich zueinander verhielten, so würde die Errichtung einer dennoch präskriptiven Sollensordnung bedeutungslos werden; nur dort, wo Alternativhandlungen faktisch „im Sein“ für möglich erachtet werden, gewinnt deren sollensmäßiger Ausschluss überhaupt Bedeutung.255 Dass ein Verhalten trotz seiner, in tatsächlicher Hinsicht zu verzeichnenden Üblichkeit eine Sollensvorschrift (formell) zu verwirklichen vermag, ist also alles andere als ungewöhnlich; schon gar nicht zwingt die Üblichkeit eines Seins zur Anpassung einer an sich einschlägigen Sollensvorschrift. Das Recht wird vielmehr tendenziell der von ihm abweichenden Wirklichkeit standzuhalten haben, indem die in den strafrechtlich bewehrten Sollensvorschriften angeordneten Rechtsfolgen verhangen werden. Nun verläuft die Grenze zwischen normativem Sollen und tatsächlichem Sein nicht derart kategorial, wie es den ersten Anschein hat.256 Selbst nach dem Luhmannschen Ansatz, wonach das Recht, sprich der Gesamtbereich des Normativen, ein auf sich selbst bezogenes und in sich abgeschlossenes sog. selbstreferenzielles autopoietisches System sei, ist das rechtliche Sollen gegenüber außer-rechtlichen Einflüssen keinesfalls hermetisch verschlossen.257 Die Erzeugung neuen, aber auch die Anwen254 In diesem Sinne Jakobs, HRRS 5 (2004), S. 88 ff. (S. 91): „Verbrechen werden […] erst im geordneten Gemeinwesen, im Staat, möglich, wie das Negative stets nur vor der Folie des Positiven bestimmt werden kann und vice versa“. 255 Kant spricht gar von einer Vermutung für den Bruch (provisorischer) Rechte, d. h. für die Schlechtigkeit: „Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi“ (Kant, MdS [1983], § 42 [S. 425]) – Byrd/Hruschka, ARSP 94 [2008], S. 70 ff. (S. 74 ff.). Vgl. weiterhin Byrd/Hruschka, JZ 2007, S. 957 ff. (S. 958 f.); Hart, Recht und Moral (1971), S. 93 ff.; Kelsen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 839 ff. (S. 873); Stemmer, Normativität (2008), S. 15; Tugendhat, Aufsätze (2001), S. 163 f. 256 Selbst Positivismus und Naturrecht sind von ihrer inhaltlichen Dimension keinesfalls kontradiktorisch: Vgl. Riezler, in: Maihofer, Naturrecht oder Rechtspositivismus (1966), S. 239 ff. (S. 242 ff.); Seelmann, Rechtsphilosophie (2003), § 2 Rdnrn. 15 ff.; Utz, in: Maihofer, Naturrecht oder Rechtspositivismus (1966), S. 219 ff. (S. 222 ff.). – Im Gegensatz zu ihrem geltungstheoretischen Anliegen: Ebbinghaus, in: Maihofer, Naturrecht oder Rechtspositivismus (1966), S. 281 ff. (S. 285 ff.); Kelsen, Reine Rechtslehre (1994), S. 64. 257 Luhmann, Soziale Systeme (1987), S. 60 ff. und S. 509 ff. – Etwa wenn die Rede ist von der Lernbereitschaft des Normsystems dergestalt, dass „sich zum Beispiel an Fallerfahrungen orientierente Moralkasuistik oder eine juristische Dogmatik bilden [kann]“ (a.a.O., S. 443): s. dazu Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 37 f.; an anderer Stelle wird trotz der Fähigkeit des Rechtsystems zur Evolution dessen eigenständige Autopoiesis verteidigt (Luhmann, Das Recht der Gesellschaft [1993], S. 243). Vgl. fernerhin Schütz, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), S. 53 ff. (S. 68 ff.); Zippelius, Das Wesen des Rechts (1997), S. 31 f.; Zippelius, Rechtsphilosophie (2007), S. 36 ff. mit dem Hinweis, dass das Recht notwendig tatsachengebunden bleiben muss, also bspw. keine von Naturgegebenheiten abweichenden Anforderungen statuieren könne.
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dung bestehenden Rechts vollzieht sich niemals vor einem vollkommen positivierten Hintergrund. Noch lange vor den Extrema einer Freirechtsschule bzw. Interessenjurisprudenz ist anzuerkennen, dass keine richterliche Entscheidung rein syllogistisch aus einer schlichten „Anwendung“ einer Sollensvorschrift (des Gesetzes) gewonnen werden kann.258 Und zwar deshalb, weil die Anwendung einer gesetzlichen Vorschrift auf einen konkreten Fall niemals wird auskommen können ohne die Vergegenwärtigung des Sinnbezugs der Vorschrift auf die soziale Wirklichkeit resp. eines aus der praktischen Erfahrung gespeisten normorientierten Wirklichkeitswissens.259 Erst mit diesem Bezug auf die Wirklichkeit wird der Sinn einer Norm verständlich sowie deren Einschlägigkeit entscheidbar. Welzel liegt demnach prinzipiell richtig, den Sinngehalt strafrechtlicher Tatbestände unter Rückbezug auf das sozial Ganze bestimmen zu wollen und die in den Normen strafrechtlich vertypten Lebensvorgänge in den Blick zu nehmen.260 Unterdessen geht das Anliegen Welzel weit über den Umstand hinaus, bei der Schaffung, Interpretation oder richterlichen Anwendung eines normativen Sollenssatzes das der Norm zugrunde liegende faktische Sein in Form sozialer Gegebenheiten in gewissem Umfang Berücksichtigung finden zu lassen. Wie bereits untersucht, fordert die Sozialadäquanzlehre weder eine Methode der rechtlichen Tatbestandsauslegung noch eine gewohnheitsrechtliche Berücksichtigung sozialer Fakten. Stattdessen wird ,offen dafür geworben, – wohl nur formell – verwirklichte Sollenssätze in Fällen der sozialen Adäquanz zu überwinden: „Alles soziale Leben besteht ja im Einsatz und Verbrauch von ,Rechtsgütern [, so dass der] Rechtsgüterschutz nur unter Hinzunahme einer bestimmt gearteten Beeinträchtigung rechtlich denkbar [ist]“261, so Welzel. Nicht der Inhalt eines Sollenssatzes oder etwa der ontologische Status des Normativen jeweils in Bezug auf ein tatsächliches Sein stehen in Frage; zu klären sind auch nicht mögliche Wechselbeziehungen zwischen Sollen und Sein. Die Überlegung ist vielmehr, inwiefern es unter Umständen berechtigt wäre, einem Sein normative Kraft zuzugestehen. Perspektivisch ist die Sozialadäquanzlehre nicht vom Recht auf die Wirklichkeit, sondern vice versa von der Eigenart sozialer Wirklichkeit auf deren rechtliche Implementierung gerichtet. Nicht der anwendungsbedingte
258 Jellinek spricht zu Recht vom „falschen Dogma von der Geschlossenheit des Rechtssystems“ (Jellinek, Staatslehre [1960], S. 353 – s. aber relativierend S. 356 f. samt Fußn. 2). Hofmann, Legitimität gegen Legalität (1992), S. 32 f.; Müller, Normstruktur und Normativität (1966), S. 147 f.; Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 157 ff. 259 Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz (1982), S. 104 ff. (insbes. S. 121); Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten (1972), S. 10 ff.; Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 166 ff. 260 Ausdr.: Welzel, Strafrecht (1947), S. 36 f.; Welzel, Strafrecht (1949), S. 37 f.; Welzel, Strafrecht (1969), S. 55. 261 Welzel, ZStW 58 (1939) S. 491 ff. (S. 515 f.) – Hervorhebung durch den Autor: T.E. Krauß, ZStW 76 (1964), S. 19 ff. geht soweit, das Wesen der Sozialadäquanz darin zu sehen, dass diese „die Rechtsgüter in bestimmten Umfang ,freigibt, ohne in jedem einzelnen Fall Rechenschaft über ihre Verletzung zu fordern“ (a.a.O., S. 48).
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
Rückgriff des Rechts auf das Faktische, sondern umgekehrt, die normative Kraft faktischer Sachverhalte ist die Grundlage der Welzelschen Lehre. Im Folgenden gilt es daher zu klären, welche Beschaffenheit ein Sein im Sinne einer eingeübten gesellschaftlichen Wirklichkeit aufzuweisen hat, damit es nicht Sanktionsgegenstand rechtlichen Sollens, mit anderen Worten als Normbruch erachtet wird, sondern als ein vom Recht zu respektierendes tatsächliches, sozialadäquates Verhalten einzustufen ist. Die Pointe dieses Anliegens besteht nun darin, dass dem sozialadäquaten Verhalten auf der einen Seite keine (gewohnheits-)rechtliche Geltung zukommen kann (s. oben), es auf der anderen Seite jedoch zugleich mehr als nur eine rein faktische ,Geltung beansprucht, da aus letzterer rechtslogisch schließlich keine normative Wirkung geschlussfolgert werden kann.262 Als Abgrenzungsfrage formuliert muss nunmehr die Differenz zwischen einem rechtlich beachtlichen, weil sozialadäquaten Verhalten und einem rechtlich unbeachtlichen, weil bloß faktischen Verhalten, benannt werden. b) Zur Möglichkeit der normativen Kraft des Faktischen – Die Berechtigung der Welzelschen Lehre In Fortführung der Vorüberlegungen muss nunmehr an dieser Stelle der prinzipiellen Möglichkeit einer „normativen Kraft des Faktischen“ (um einen Ausdruck Jellineks aufzugreifen263) nachgegangen werden, bevor schlussendlich die inhaltlichen Merkmale eines normativ wirksamen – weil sozialadäquaten – Verhaltens entwickelt werden können: Sind also soziale Gegebenheiten vorstellbar, denen eine über die bloße Faktizität hinausreichende, in die Bereiche des Sinn- und Werthaften hineinragende Bedeutung zukommt,264 so dass die Möglichkeit eines bestimmenden Einflusses auf das Strafrecht grundsätzlich angenommen werden kann? Im Ausgang können aus den Kontroversen zwischen den Vertretern einer Naturrechtslehre und deren Opponenten des Rechtspositivismus zwei unmittelbar einsichtige Leitgedanken herangezogen werden. Zum einen, was Welzel selbst betont, dass die vielgestaltige Form der Wirklichkeit als solche natürlich noch keine entelechiale Form im Sinne einer normativ bedeutsamen Seinsgestaltung abzugeben in der Lage ist, mag sie schließlich ebenso sehr wertgleichgültig wie wertwidrig zu sein.265 Wie oben angemerkt, kann nicht jedem tatsächlichen Geschehen normative Kraft zukom-
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Neben den o.g. Nachweisen Bringewat, ZStW 84 (1972), S. 585 ff. (S. 606). Jellinek, Staatslehre (1960), S. 339. Dieser Frage widmet sich auch Habermas, Faktizität und Geltung (1992) mit seiner kommunikationstheoretischen Rekonstruktion des Rechts (a.a.O., S. 109 ff.). 264 So fragen bspw. Larenz/Canaris, Methodenlehre (1995), S. 237. 265 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (1990), S. 61. Müller, Normstruktur und Normativität (1966), S. 100. Vgl. ferner Ebbinghaus, in: Maihofer, Naturrecht oder Rechtspositivismus (1966), S. 281 ff. (S. 292 ff.); Wolf, in: Maihofer, Naturrecht oder Rechtspositivismus (1966), S. 52 ff. (S. 63 ff.). 263
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men.266 Auf der anderen Seite ist auf den Leitgedanken Kelsens zu verweisen, wonach – in Umkehrung dessen – das Faktische (im Rechtsstaat) zwar in aller Regel erst durch staatliche Gesetzgebung normative Kraft erlangt, jedoch entgegen einer streng rechtspositivistischen Sicht, keinesfalls jeder beliebige Inhalt zum Recht erhoben werden kann. Entgegen Kelsens Ansicht ist es keineswegs so, dass es „kein menschliches Verhalten [gibt], das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, zum Inhalt einer Rechtsnorm zu werden“267. Eine derartige Sicht vernachlässigt die Grenzen, die einer ,Produktion normativer Sollenssätze durchaus gesetzt sind, wie z. B. norminterne sachlogische Strukturen, die natürliche Möglichkeitsausstattung des Menschen oder etwa die Meinungs- und Gesetzgebungsmehrheiten.268 Nicht „Alles“ kann Gegenstand normativer Sollenssätze sein. Neben den Zielsetzungen des Rechts, etwa dem strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, wird der Beliebigkeit des Rechtsinhalts eine Grenze insbesondere durch den Rechtsstoff gesetzt; dieser Stoff, d.i. das soziale Leben, auf den das Recht hin seine Anordnungen trifft, gibt notwendigerweise eine Struktur vor. Radbruch nennt dieses Verhältnis einprägsam die „Stoffbestimmtheit“ der Rechtsidee im Doppelsinne dieser Bezeichnung, „durch den Stoff bestimmt, weil für den Stoff bestimmt“269. Die Stoffbestimmtheit des Rechtsinhalts findet im Strafrecht Ausdruck in dessen fragmentarischen Charakter, d. h. namentlich in der Begrenzung des strafrechtlichen Anwendungsbereichs auf die Bekämpfung sozialschädlichen Verhaltens;270 ausschließlich solch ein Verhalten ist tauglicher „Stoff“ eines Straftatbestandes. Der Qualifizierung als „Normbruch“ hat insofern notwendig die Feststellung der sozialen Schädlichkeit des betreffenden Verhaltens vorauszugehen; es gilt, den Nachweis der In-Adäquanz eines Verhaltens zu führen, welches „hinter“ dem (erst zu schaffenden) Normbruch steht.271 Dieser 266
Aus normgenetischer Sicht sind tatsächliche Verhaltensweisen wertungsmäßig zunächst immer vollkommen indifferent: Amelung, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann, Recht und Moral (1991), S. 269 ff. (S. 270 ff.); Coing, in: Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts (1965), S. 33 ff. (S. 38); Zelinka, Normativität der Natur (1994), S. 177 ff. 267 Kelsen, Reine Rechtslehre (1994), S. 119 f.; Soml, Juristische Grundlehre (1917), S. 308 f. m.w.N. 268 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie (1950), S. 119 f.; Welzel, in: Maihofer, Naturrecht oder Rechtspositivismus (1966), S. 322 ff. (S. 333 ff.). Vgl. von Hippel, Studium Generale 12 (1959), S. 69 ff. (S. 74). Zur Auseinandersetzung von Normativismus und Ontologismus: Puig, FS Schünemann (2005), S. 77 ff. (S. 82 ff.). Gleichwohl ist die Entwicklungsgeschichte der Rechtsidee gleichsam eine Emanzipationsgeschichte gegenüber extranormativen Einflüssen: Dazu Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 62 ff. 269 Radbruch, ARSP 17 (1923/24), S. 343 ff. (S. 343). Ebenso Coing, in: Kaufmann, Die ontologische Begründung des Rechts (1965), S. 33 ff. (S. 45 ff.); Gephart, in: Bryde/Hoffmann-Riem, Rechtsproduktion und Rechtsbewusstsein (1988), S. 177 ff. (S. 184 ff.). 270 Vgl. Ebert, AT (2001), S. 1. Ferner, mit Überblick zu alternativen Ansätzen: Roxin, AT I (2006), § 2 Rdnrn. 7 ff. sowie Rdnrn. 97 ff. Vgl. auch Amelung, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann, Recht und Moral (1991), S. 269 ff. (S. 269) – samt der von der Sozialschädlichkeitskonzeption abweichenden Lehre vom Rechtsgüterschutz. 271 Vgl. Amelung, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann, Recht und Moral (1991), S. 269 ff. (S. 275); Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 511 mit Fußn. 30).
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
Nachweis der sozialen Schädlichkeit ist für die Schaffung strafrechtlicher Vorschriften präskriptiv-bindend, so dass der Versuch des Gesetzgebers, sich dieser im sozialen Leben siedelnden Wertung zu entziehen bzw. sich ignorierend über diese hinwegzusetzen, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt wäre.272 Die ultima ratio des Strafrechts273 ist unhintergehbar an ein Verhalten gebunden, dessen Sozialschädlichkeit Ergebnis einer prä- und somit extranormativen Bewertung ist. Der Versuch, die den Strafrechtsnormen zugrunde liegende Sozialschädlichkeit normativ zu begründen, sprich allein am Normbruch festmachen zu wollen, gliche einem circulus vitiosus. Nun mag jener Befund, einen neuen Rechtssatz nur unter maßgeblichem Rückgriff auf außerrechtliche Gesichtspunkte zuallererst formen zu können, noch nahe liegen. Weniger trivial hingegen ist, diesen „Rückgriff“ – wie angedeutet – im Rahmen der Gesetzesanwendung weiterhin zu gewärtigen. Eben dies fordert der Erste Zivilsenat des BGH in seinem Gutachten aus dem Jahre 1953 ausdrücklich ein, wenn er anmerkt, dass bei der Anwendung des Rechts die den Rechtsätzen voraus liegenden Grundentscheidungen stets notwendig mit zu berücksichtigen seien.274 Außerrechtliche Maßstäbe und somit außerhalb des rechtlichen Sollens verortete Seinstatbestände müssen grundsätzlich Einfluss auf die Anwendung des Rechts und folglich auch des Strafrechts gewinnen.275 Notwendig wird die Berücksichtigung außerrechtlicher Seinstatbestände bei der Anwendung des Rechts vor allem aufgrund der Regelungstechnik des Gesetzgebers. Anders als im Geltungsbereich des sog. common law – der Rechtsprechung anhand richterlicher Urteile der Vergangenheit (Präzedenzfälle) – ist das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland durch abstrakt-generell gefasste ACHTUNGREGesetze geprägt. Diese Regelungstechnik ermöglicht dem Gesetzgeber, Straftatbestände zu schaffen, ohne auf eine erschöpfend beispielhafte Kasuistik zurückgreifen zu müssen. Stattdessen werden für alle wesensmäßig gleichgelagert strafwürdigen Verhaltensweisen merkmalsmäßige Oberbegriffe (genera proxima) zur abstrakten Benennung des eigentümlich Strafwürdigen geschaffen – die „Merkmale“ des Tatbestandes. Für die Rechtsanwendung eröffnet dies die Möglichkeit der Fortentwicklung
272 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie (1950), S. 122 ff. bzw. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie (1993), S. 187 ff.; Friedmann, ARSP 41 (1954/55), S. 348 ff. (S. 358); vgl. auch Roxin, JuS 1964, S. 373 ff. (S. 380). 273 Seine verfassungsrechtliche Verortung hat der ultima-ratio-Grundsatz des Strafrechts im Verhältnismäßigkeitsprinzip (BVerfGE 39, 1 [47]; s. auch BVerfGE 27, 211 [218 ff.]; 50, 166 [174]), welches seinerseits aus dem Rechtsstaatsprinzip gespeist wird: BVerfGE 35, 382 (400 f.); 38, 52 (58). 274 I. Zivilsenat des BGH, BGHZ 11, Anhang S. 35 ff. (S. 40 ff. u. 52 f.); zust.: Friedmann, ARSP 41 (1954/55), S. 348 ff. (S. 351 f.). Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken (2005), S. 254 f.; Pawlowski, Methodenlehre (1999), Rdnr. 863. 275 Exempl.: BGHSt 6, 46 (52 f.) – zum alten Kuppeleitatbestand. s. auch BVerfGE 6, 389 (434 f.) mit dem treffenden Hinweis, dass die Feststellung relevanter Seinstatbestände (dort: das Sittengesetz) Schwierigkeiten bereitet; dazu auch Evers, JZ 1961, S. 241 ff. (S. 247).
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und Anpassung des Rechts an zum Zeitpunkt der Gesetzgebung noch nicht vergegenwärtigte Konfliktlagen.276 Der Nachweis der inhaltlichen Berechtigung der Welzelschen Sozialadäquanzlehre findet hieran seine Anknüpfung. Das Anliegen der Lehre, über die Berücksichtigung außerrechtlicher Ereignisse im Rahmen der (interpretatorischen) Rechtsanwendung hinausgehend, von der Anwendung des Rechts bei sozialadäquaten Verhaltensweisen abzusehen, knüpft zwar ebenfalls an der Eigenart tatsächlicher Sachverhaltskonstellationen an, jedoch mit umgekehrter Perspektive: Die Frage ist nicht, welches Sein einer Rechtsvorschrift normativ zugrunde liegt, sondern welchem Sein normative Kraft in Bezug auf eine Rechtsvorschrift zukommt. Dargelegt wurde bisher, dass die strafrechtliche Bewertung von Verhaltensweisen kein hermetischer Vorgang ist, der allein im Begriffsbereich rechtlicher Provenienz verbleiben kann. Es verbleibt darum der Nachweis, dass der rechtlichen Auslegung formeller Tatbestände, sprich dem Entscheid über deren Anwendung auf einen konkreten Lebenssachverhalt, eine latente Prüfung vorauszugehen hat, welche anhand der Eigenart des konkreten Sachverhalts überhaupt erst Auskunft über die Möglichkeit gibt, eine spezifische Strafnorm in Ansatz zu bringen. Zu belegen ist, dass vom Wesen eines streitgegenständlichen Sachverhaltes zunächst auf dessen normative Beachtlichkeit geschlossen werden muss, wenn dessen strafrechtliche Beurteilung untersucht werden soll. Erst dies würde eröffnen, Verhaltensweisen unter Berücksichtigung sozialer Adäquanzüberlegungen ggf. der Anwendung strafrechtlicher Tatbestände fernab von deren Auslegung zu entziehen. Auf einen Nenner gebracht, muss die juristische Bewertung eines Verhaltens von einer Untersuchung abhängig sein, die anhand der sozialen Eigenart des streitgegenständlichen Verhaltens zunächst dessen normative Kraft erforscht. Ausgangspunkt hierfür ist abermals die anwendungsspezifische Eigenart der abstrakt-generellen Regelungstechnik des Gesetzes. Mit der Ersetzung einer kasuistischen durch eine abstrakt-begriffliche Unrechtsumschreibung wird es zugleich unmöglich, die Einschlägigkeit einer Strafnorm für einen Lebenssachverhalt formalACHTUNGRElogisch mittels Deduktion zu erschließen. Seinen Grund hat dies in der kategorialen Differenz, die zwischen tatsächlichen Verhaltensweisen und begrifflichen Tatbestandsmerkmalen besteht; von einer Tatsache als solcher kann niemals auf die Einschlägigkeit eines Begriffs geschlossen werden.277 Der logische Schluss der Deduktion ist nur innerhalb von Begriffsverhältnissen möglich. Weil formal-deduktiv aber allein von Begriffen auf Begriffe gefolgert werden kann, kann auch die Entscheidung, ob ein tatsächlicher Lebenssachverhalt unter die Begriffsmerkmale einer bestimmten Strafnorm fällt, nicht begriffsanalytisch gewonnen werden, kann die Einschlägigkeit 276 Larenz, Methodenlehre (1991), S. 155. Vgl. Forsthoff, in: Maihofer, Naturrecht oder Rechtspositivismus (1966), 73 ff. (S. 73); Friedmann, ARSP 41 (1954/55), S. 348 ff. (S. 358); Rüthers, Zeitgeist und Recht (1997), S. 10 u. 20 ff. 277 Engisch, Einführung in das juristische Denken (2005), S. 63 f.; Hassemer, Tatbestand und Typus (1967), S. 39 f.; Zippelius, Methodenlehre (2005), S. 97 f.
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
eines (Straf-)Tatbestandes nicht festgestellt werden, wenn der Begriffsbereich der Norm nicht verlassen wird. Freilich wird verschiedentlich versucht, die formale Deduktion als Herzstück der juristischen Subsumtionstechnik gleichwohl zu bewahren, indem entweder die Tatbestände nicht mehr bloß als analytische Gebilde, ausgestattet mit formal-abstrakten Begriffen, sondern stattdessen mit entscheidendem Wirklichkeitseinschlag ausgegeben werden, oder aber indem interpretierend behauptet wird, im Rahmen der Subsumtion werde nicht der tatsächliche Lebenssachverhalt als solcher subsumiert – dies sei in der Tat unmöglich –, einer Norm untergeordnet würden vielmehr Aussagen über einen Sachverhalt als einen geschehenen.278 Beide Betrachtungsweisen überzeugen allerdings nicht. So änderte die jeweilige Anreicherung abstrakt-genereller Begriffe mit einem „Wirklichkeitseinschlag“, unabhängig von der Frage der inhaltlichen Konsistenz einer solchen Konzeption, nichts an dem begrifflichen Charakter strafrechtlicher Tatbestände; es müsste weiterhin, immer noch ACHTUNGREkategorial fehlerhaft, von begrifflichen Merkmalen – nunmehr mit „Wirklichkeitseinschlag“ – auf tatsächliche Sachverhalte geschlussfolgert werden, wenn die Einschlägigkeit einer Norm formal-deduktiv ermittelt werden sollte. Und auch der komplementäre Lösungsvorschlag, Lebenssachverhalte als mit Worten beschreibbare tatsächliche Ereignisse ihrerseits auf begriffliche Ebene zu ,heben, überzeugt nicht. Zum einen würde das logische Problem hier nur gleichsam um eine Stelle verschoben; offen bliebe nunmehr, inwiefern eine begriffliche Aussage über einen Sachverhalt, welche in der Tat begrifflichen Tatbestandsmerkmalen formal-logisch subsumiert werden könnte, eine dem Sachverhalt angemessene Beschreibung darstellt. Denn der Begriffsbereich des Rechts wird erst dort zum Einsatz kommen können, wo eine begrifflich überzeugende Beschreibung des zu bewertenden Geschehens gefunden worden ist. Ohne Blick auf den Sachverhalt wird die Angemessenheit seiner Beschreibung jedoch kaum zu entscheiden sein. So kann zwar bspw. deduktiv erschlossen werden, dass eine üble und unangemessene Behandlung mit nicht unerheblicher Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens unter den Begriff der körperlichen Misshandlung gem. § 223 Abs. 1 StGB zu subsumieren ist, eben weil eine solche Behandlung die konstitutiven Umstände des Tatbestandsbegriffs ausmacht, jedoch ist damit keineswegs entschieden, welche tatsächlichen Geschehnisse als „üble und unangemessene Behandlung mit nicht unerheblicher Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens“ zutreffend beschrieben wären: Ein leichter Schlag vor die Brust wäre hiermit sicher nicht angemessen beschrieben; anders kann es sich hingegen schon bei einer intensiven Ohrfeige verhalten.279 Hängt vom tatsächlichen Lebenssachverhalt aber die ihm angemessene begriffliche Beschreibung wesentlich ab, so präformiert er zwangsläufig auch die auf jene begriffliche Beschreibung angewiesene Gesetzesanwendung. 278 Ersteres: Hassemer, Tatbestand und Typus (1967), S. 44 f. Letzteres: Larenz, Methodenlehre (1991), S. 273; wortgleich Larenz/Canaris, Methodenlehre (1995), S. 94. 279 Zum Ersten: BGH, StV 2001, 680 (680). Zum Letzten: BGH, NJW 1990, 3156 (3157). Zur ungemein differenzierten Fallfülle s. die Nachweise bei Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 223 Rdnrn. 3 ff.
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Hierin liegt zugleich der für den Perspektivenwechsel der Sozialadäquanzlehre charakteristische Unterschied zum o.g. Umstand, Gesetzesbegriffe vor deren Anwendung im Rahmen der gängigen Auslegungsmittel mit Blick auf die Wirklichkeit, auf welche sie bezogen sind (sog. Stoffbestimmtheit), zu interpretieren. Denn auch wenn der Inhalt gesetzlicher Begriffe mittels Auslegung klar und deutlich bestimmt worden ist, stellt sich gleichwohl die Frage, inwiefern die zu subsumierende Sachverhaltsumschreibung eine angemessene (begriffliche) Erfassung der Wirklichkeit darstellt; und die Antwort eben hierauf wird nicht fernab der gesellschaftlichen Wertungen und Selbstverständnisse verlaufen können. Die präformative Kraft tatsächlichen Seins auf die Anwendbarkeit rechtlicher Sollenssätze erweist sich nicht erst mit dem strukturallinguistischen Verhältnis von Bezeichnung und Bezeichnetem. Denn selbst wenn eine angemessene Aussage über einen Sachverhalt „als einen geschehenen“ getroffen wäre, leistete dies noch keine Begründung dafür, inwiefern im Einzelfall die konkrete begriffliche Sachverhaltsbeschreibung einem abstrakten-generellen Gesetzesbegriff subsumiert, d. h. notwendig einem bestimmten gesetzlichen Begriffsmerkmal untergeordnet werden sollte. Wie bereits erwähnt, ist das Verhältnis zwischen Fall und Norm keine bloß logische Operation.280 Treffend wies Kant in seinen Ausführungen zur Disposition der Urteilskraft auf die Schwierigkeit des reflektierenden Urteils hin, bei dem ein Besonderes (hier: die Verletzungshandlung) gegeben, das zu ihm passende Allgemeine (hier: die entsprechende Strafvorschrift) aber erst noch gefunden werden muss.281 Die singulären Erscheinungen der Wirklichkeit können von den generellen Normen des Rechts allein nicht erreicht werden. Die sachgerechte Anwendung von Normen mit ihrem generellen Geltungsanspruch auf den empirischen Einzelfall bedarf vielmehr des Urteilsvermögens einer in der Regulierung von konkreten Sachverhalten erfahrenen personalen Instanz. So ist es nicht ein Akt der logisch geleiteten bestimmenden, sondern ein solcher der logisch nicht begründungsfähigen, bloß reflektierenden Urteilskraft, der die Auffindung der passenden Strafvorschrift auf den Weg bringt.282 Fernab der Einzelheiten dieser dritten der Kantschen Kritiken gilt vereinfachend: Die Anwendung abstrakt-genereller Begriffe im Rahmen der rechtlichen Beurteilung konkreter Einzelsituationen nimmt notwendig auf situative Faktoren und damit auf ein (tatsächliches) Sein Rückgriff. Methodologisch geschieht dies in Form eines – zumindest unbewuss280 Prägnant: Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre (1982), S. 15 ff. u. 24 ff. (insbes. S. 17). 281 Auf diesen Zusammenhang verweist auch Agamben, Ausnahmezustand (2004), S. 49 f. 282 Anschaulich zur Differenz dieser beiden Formen der Urteilskraft schreibt Kant, Anthropologie (1983), § 41: „So wie das Vermögen, zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere auszufinden, Urteilskraft, so ist dasjenige: zum Besonderen das Allgemeine auszufinden, der Witz“ (Hervorhebungen im Orig. gesperrt gedr.). Vgl. dazu ausführlich: Wieland, Urteil und Gefühl (2001), S. 142 ff. (insbes. S. 168 ff.) sowie aus juristischer Sicht: Gröschner, in: Lerch, Die Sprache des Rechts II (2005), S. 203 ff. Aus diesem Grunde stellt zugleich Kant fest, „Das Recht ist von so besonderer Natur, das es leichter ist, in jedem gegebenen Falle, da das factum wohl eruiert ist, ohne Gesetzesformel zu entscheiden, was Recht ist, als nach irgendeiner Formel.“ (Zitat bei Wieland, Urteil und Gefühl [2001], S. 169).
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ten – Fallvergleichs im Sinne eines Vergleichs des streitgegenständlichen Sachverhalts mit denjenigen Fällen, deren Zugehörigkeit zu dem fraglichen gesetzlichen Begriff bereits präjudiziert ist.283 Nur wenn sich hier eine Übereinstimmung ergibt, ist die Einschlägigkeit einer Strafvorschrift zuverlässig erschlossen. Hierin zeigt sich ebenfalls die bereits angesprochene „Stoffbestimmtheit“ des Rechts. Der (formal-ACHTUNGRElogische) Begriffsbereich des rechtlichen Sollens muss verlassen werden, wenn es zu entscheiden gilt, ob eine Rechtsvorschrift auf ein tatsächliches Sein anzuwenden ist. Von diesem Zusammenhang ausgehend, wird deutlich, wie einem tatsächlichen Sein gar eine derogierende Kraft zuzugestehen ist. Denn soll das Recht in der Lage sein, zur Lösung selbst solcher Konfliktfälle beizutragen, die von der Gesetzgebung nicht vergegenwärtigt wurden, so kann der zur Rechtsanwendung notwendige Fallvergleich zwangsläufig nicht auf die gesetzgeberisch reflektierten Konfliktkonstellationen beschränkt bleiben. Es reicht nicht hin, lediglich den begrifflichen Bereich rechtlichen Sollens zu verlassen, indem die der Norm zugrunde gelegten tatsächlichen Sachverhaltskonstellationen zur Lösung aktualer Verhaltensweisen herangezogen werden. Vielmehr müssen die Reflexionen des historischen Gesetzgebers überschritten werden, auch und insbesondere wenn das Strafrecht trotz der Dynamik und Vielgestaltigkeit interaktionsbedingter Rechtsgutskollisionen bzw. Interessenverletzungen moderner Gesellschaften seine Anwendbarkeit beibehalten soll. Der geschichtlichen Zunahme an logischer Sublimierung, deduktiver Strenge sowie der zunehmend rationaleren Technik des Rechtsgangs hin zum modernen Recht steht insofern eine gewisse ,Aufweichung des Rechtsformalismus nicht nur gegenüber, sondern ist jener Entwicklung inhärent.284 Die Anerkennung bestimmenden Einflusses tatsächlicher Sachverhalte auf den Inhalt des formellen Sollens wird von Larenz anschaulich als Technik bezeichnet, die zwar „extra legem“, außerhalb des gesetzlichen Wortlauts, gleichwohl aber „intra ius“, d. h. innerhalb des Rahmens der fraglichen Vorschrift siedelt.285 Der einer jeden Rechtsanwendung zumindest gedanklich vorausgehende Fallvergleich ist instruktiver Beleg für die Anerkennungswürdigkeit eines bestimmenden Einflusses tatsächlichen Seins auf das formelle Sollen gesetzlicher Tatbestände.286 Für die inhaltliche Berechtigung speziell einer Sozialadäquanzlehre ist damit klar, dass in diesem Rahmen auch möglich ist, an die Stelle des ,klassisch anwendungs283
Engisch, Einführung in das juristische Denken (2005), S. 64; Hassemer, in: Kaufmann/ Hassemer, Rechtsphilosophie (1989), S. 212 ff. (S. 224); vgl. Hassemer, Tatbestand und Typus (1967), S. 96 ff., 104 ff.; Loening, Über Wurzel und Wesen des Rechts (1907), S. 21 ff. 284 Weber, Grundriss der verstehenden Soziologie (1985), S. 504 f. mit dem Bsp. der „freien Beweiswürdigung“ oder dem Prinzip der „materiellen Wahrheitsermittlung“ im Gegensatz zur „ursprünglich magisch bedingten formalen Bindung der Beweismittel“ (a.a.O., S. 505) – zur geschichtlichen Entwicklung von einem formalen hin zu einem materialen Beweisrecht: Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte (2007), Rdnrn. 22 ff., 69 ff., 105, 175 ff., 243 ff. 285 Larenz, Methodenlehre (1991), S. 414. 286 Hassemer, Tatbestand und Typus (1967), S. 112 f.; Müller, Normstruktur und Normativität (1966), S. 98.
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orientierten Vergleichs einer aktuell zu entscheidenden Situation mit denjenigen ACHTUNGREFällen, die entweder vom Gesetzgeber oder aber eben von der Rechtsprechung im Laufe der Zeit einer bestimmten Strafnorm für zugehörig erklärt worden sind, einen ACHTUNGRE(Vor-)Vergleich zu setzen, welcher die fragliche Situation zunächst mit den Anforderungen der Sozialordnungen abgleicht. Gestützt wird dieser Befund durch einen Blick auf die Natur der Normativität positiven Rechts. Hinter dem artifiziellen Charakter eines solchen Rechts – im Gegensatz etwa zu naturrechtlichen Ansätzen – steht immer die gewachsene Faktizität eingewöhnter und tradierter Lebensweisen, d. h. die gefestigten Zielvorstellungen der Individuen und der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen.287 Das positive Recht ist sozusagen die gesetzliche Verfestigung bestimmter sozialer Gegebenheiten.288 Von dieser Warte aus ist es alles andere als per se fern liegend, soziale Tatsachen, fernab deren normativer Kodifikation, nun ihrerseits auch von außen ins Rechtssystem eingreifen und das normative Selbstverständnis partiell dementieren lassen zu können.289 Die genetische Entstehung staatlichen Rechts aus sozialen Grundüberzeugungen heraus eröffnet die Möglichkeit, spezifische gesellschaftliche Momente als Ausdruck (prä-normativer) sozialer Überzeugungen im Recht Berücksichtigung finden zu lassen, obgleich sie gerade (noch) nicht zu Recht erstarkt sind. Wie ist dies mit der Autonomie des Rechts vereinbar? Muss das positive Recht nicht von vornherein, qua definitione, allen vor- resp. nichtpositiven ,Richtigkeitskriterien entzogen sein?290 Andererseits ist aber zugleich dem Befund der oben erörterten modernen Entscheidungstheorie Rechnung zu tragen. Just weil Rechtsfolgen niemals mittels einer formal-logischen Subsumtion unmittelbar aus Gesetzestatbeständen abgeleitet werden können, ist die Rechtsanwendung ebenso als ein wertender Vorgang zu begreifen wie außerrechtliche sozialen Umstände normative Kraft zuerkannt werden muss, d. h. kollektive Vorstellungen und soziale Überzeugungen sind durchaus von rechtliche Bedeutsamkeit!291 Dem Autonomieprinzip zuwider liefe ein solcher Befund ohnehin erst dann, wenn die Standards außerrechtlicher Momente, denen Einfluss auf das positive Recht zuzubilligen ist, gänzlich aus den normativen Anforderungen und Argumentationsmustern des Rechts heraustreten würden; woran 287
Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 47; Zelinka, Normativität der Natur (1994),
S 220. 288
Dazu Miller, New York University School of Law 1999, S. 1 ff. (S. 7 ff. samt weiteren Nachweisen in Fußn. 4). 289 Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 52; s. auch – mit dessen Warnung vor übermäßigen Verrechtlichungstendenzen als Gefahr für die gewachsenen Sozialstrukturen – Teubner, ARSP 68 (1982), S. 13 ff. (S. 49). 290 Zur Autonomiethese: Seelmann, Rechtsphilosophie (2003), § 13 sowie § 5; vgl. Pawlowski, Methodenlehre (1999), Rdnrn. 865 ff.; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 219 u. 538; Zippelius, Methodenlehre (2005), S. 31 ff. 291 Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 163 ff. Entscheidende Beiträge zu dieser Sichtweise kommen auch der Interessenjurisprudenz, der Freirechtsschule sowie der Topik zu (vgl. ebd., S. 165 m.w.N.).
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
der Sozialadäquanzlehre richtigerweise jedoch nicht gelegen ist: Berücksichtigung fordern berechtigtermaßen nur solche sozialen Gegebenheiten ein, die in der Ordnung und Kultur einer Gemeinschaft eine den historischen und sozialen Umständen nach gewachsene Verkörperung gefunden haben, so dass sie in einer pluralistischen Gesellschaft mit Akzeptanz rechnen können.292 Nicht jedem sozialen Faktum soll rechtserhebliche Bedeutung zukommen. Welchen Anforderungen es in concreto zu genügen hat, braucht an dieser Stelle freilich noch nicht geklärt zu werden. Es reicht hin, mit der Spezifik der Gesetzesanwendung und der dieser vorausgehenden juristischen Gedankenoperationen zunächst die Möglichkeit einer Einbeziehung außerrechtlicher Sachverhalte in die rechtliche Beurteilung von Verhaltensweisen erwiesen zu haben. Auf die Systemtheorie Luhmanns gewendet, kann gar von der Notwendigkeit gesprochen werden, außerrechtlichen Sachverhalten bestimmenden Einfluss auf das, sodann eben nur prinzipiell selbstreferenzielle Rechtssystem einzuräumen. Denn würde das Recht in der Tat ein in sich hermetisch geschlossenes autonomes System darstellen, müsste der komplexe Geltungsmodus des Rechts eo ipso vernachlässigt, die Verwirklichung des ihm inhärenten sozialintegrativen Sinns glattweg geleugnet werden:293 Aus dem soziologischen Betrachtungswinkel dient das Recht der Verhaltenssteuerung und -orientierung. Recht ist nach Luhmannscher Auffassung schlagwortartig ein Mittel kontrafaktischer Erwartungsstabilisierung.294 Erst durch die ACHTUNGREAbsicherung sozialer Verhaltenserwartungen mittels normativ-verbindlicher Festsetzungen, die für den Fall der Erwartungsenttäuschung mit der Verhängung einer Sanktion – der Strafe im Strafrecht, dem Schadensersatz im Zivilrecht usw. – jene Verhaltenserwartungen entgegen ihrer Enttäuschung in die Zukunft hinein bekräftigen, erst dieser Mechanismus ermöglicht die konfliktfreie Koordination sozialer Interaktion innerhalb einer Gemeinschaft. Diese Funktion der Verhaltenssteuerung kann das Recht allerdings nur dann verwirklichen, wenn es die sozialintegrative Kraft des „,übereinstimmenden und vereinigten Willens aller freien und gleichen Staatsbürger [berücksichtigt]“295, das Recht in systemtheoretischer Hinsicht den kommunikativen Anschluss an die verschiedenen, werthomogenen gesellschaftlichen Lebenswelten sicherstellt. Einfluss auf die reale Außenwelt gewinnt das Recht dann, wenn dessen Normativvorgaben, die Institutionen und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Wirklichkeit in gewissem Umfange anerkennt, und zwar in dem Maße, wie sie Ausdruck der Überzeugung homogener, in sich „gleicher“ Gemeinschaften der (Rechts-) 292 Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft (1991), S. 136 ff. (insbes. S. 150); Zippelius, Rechtsphilosophie (2007), S. 30 f. – Notwendig sein wird ein gewisses Maß an Verallgemeinerungsfähigkeit entsprechender sozialer Gegebenheiten: Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 83 f. 293 Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 70. 294 Bspw. Luhmann, Soziale Welt 20 (1969), S. 28 ff. (S. 35); ausführlich: Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (1993), S. 131 ff. (insbes. S. 134); Luhmann, Soziale Systeme (1987), S. 396 ff. Vgl. Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 116. 295 So in diesem Zusammenhang die diskurstheoretische Diktion von Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 50 – Hervorhebung durch den Autor: T.E.
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Gesellschaft sind. Rechtliche Vorgaben, die mit den gegebenen historischen und sozialen Umständen inkompatibel sind, sichern soziale Verhaltenserwartungen nicht ab, sondern befinden sich im Widerspruch zu diesen.296 Um verhaltenssteuernde Effekte erzielen zu können, erfordert der Geltungsmodus des Rechts ein Zwischenspiel rechtlichen Sollens mit dem tatsächlichen Sein sozialer Wirklichkeit in Form der Kompatibilität des (v. a. richterlich gesprochenen) Rechts mit extra-normativen Wirklichkeitskonstruktionen.297 Aus systemtheoretischer Sicht bleiben damit ebenfalls keine Zweifel an der grundsätzlichen Berücksichtigungsfähigkeit außerrechtlicher Sachverhalte im Recht. Die eingangs gestellte Frage ist damit wie folgt zu beantworten: Soziale Gegebenheiten gewinnen nicht bloß bei der Schaffung neuen, sondern auch bei der Anwendung bestehenden Rechts bestimmenden Einfluss. Zum einen erfordert die Anwendung eines Rechtssatzes, den zu bewertenden Lebenssachverhalt begrifflich zu umschreiben, um auf die Zugehörigkeit desselben zu den Begriffsmerkmalen eines Tatbestandes und damit auf die Einschlägigkeit einer Strafvorschrift logisch schließen zu können. Ob eine solche subsumierbare Umschreibung dem tatsächlichen Sachverhalt indessen angemessen ist, vermag nur anhand der sozialen Eigenart jenes Sachverhalts bestimmt zu werden. Zum anderen erfordert die Subsumtion einer konkreten begrifflichen Sachverhaltsumschreibung unter einen abstrakt-generellen Gesetzesbegriff eine Wertung, welche ebenfalls wiederum nur mit Blick auf die kollektiven Vorstellungen und Überzeugungen einer (Sprach-)Gemeinschaft gelingen kann. Die strafrechtliche Bewertung einer Verhaltensweise verbleibt damit nicht ausschließlich innerhalb des formellen Begriffsbereichs des Rechts; sie ist vielmehr von dem zu bewertenden Sachverhalt und den hierauf bezogenen sozialen Anschauungen abhängig. Mit der Notwendigkeit, das Sein sozialer Wirklichkeit bei der Anwendung normativer Sollenssätze Berücksichtigung finden zu lassen, ist sodann zugleich die Möglichkeit verbunden, bestimmte Erscheinungsformen sozialer Gegebenheiten aufgrund ihrer (außerrechtlichen) Eigenart – trotz Affinität zu den abstrakt-generellen Begriffsmerkmalen – der jeweiligen Strafvorschrift gleichwohl zu entziehen. Auf diese Weise vermögen soziale Gegebenheiten, wie bspw. der Gedanke der Sozialadäquanz, auf strafrechtliche Tatbestände prinzipiell derogierende Kraft zu erlangen.
3. Merkmale sozialadäquater Verhaltensweisen Für die nun anstehende Untersuchung der inhaltlichen Merkmale sozialadäquaten Verhaltens kann resümierend von folgendem Befund ausgegangen werden: Mit der Formulierung, „Rechtsgüterschutz [ist] nur unter Hinzunahme einer bestimmt gear296
Zu Recht: Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft (1991), S. 55. Von „Kontextsteuerung“ in diesem Zusammenhang spricht Seelmann, Rechtsphilosophie (2003), § 5 Rdnr. 6. Ferner Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 82, 86 ff. (insbes. S. 89). 297 Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 73; Teubner, in: Grimm, Wachsende Staatsaufgaben (1990), S. 115 ff. (S. 124 ff.); Teubner, Recht als autopoietisches System (1989), S. 109; Teubner, ARSP 68 (1982), S. 13 ff. (S. 21).
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teten Beeinträchtigung rechtlich denkbar“298 – und sozialadäquates Verhalten zähle nicht zu dieser Form der Beeinträchtigung –, sieht Welzel in zweierlei Hinsicht die Möglichkeit, von der Anwendung eines abstrakt-begrifflichen Tatbestandes auf ein konkret-tatsächliches Sein (bestimmter Art) abzusehen. Zum einen ist die Perspektive seiner Lehre außerrechtlicher Art, so dass sie nicht aus Warte des Rechts die Anwendungsbedingungen eines Tatbestandes untersucht, sondern umgekehrt die soziale Eigenheit eines tatsächlichen Geschehens zum Ausgang ihres Anliegens macht. Damit impliziert die Sozialadäquanzlehre zum anderen eine weit umfangreichere rechtliche Berücksichtigung der sozialen Wirklichkeit als sich über den methodisch bedingten Rückgriff der Rechtsanwendung auf tatsächliche Sachverhalte bewerkstelligen ließe: Bezugs- und Zielpunkt der Sozialadäquanzlehre ist nicht der spezielle Unrechtstyp eines einzelnen Tatbestandes.299 Mit der Feststellung der sozialen Adäquanz eines Verhaltens wird jedwede begriffliche Beschreibung ausgeschlossen, durch welche das fragliche Verhalten unter (irgendeine) Strafvorschrift subsumiert werden könnte. Über die Eigenart sozialer Erscheinungsformen wird die Einschlägigkeit eines jeden Tatbestandes auf das fragliche Verhalten ausgeschlossen. Aufgrund dieser perspektivischen Ausrichtung der Sozialadäquanzlehre ist es ausgeschlossen, deren inhaltliche Kriterien aus den Spezifika einzelner Tatbestände oder auch nur überhaupt aus dem Bereich des Rechts zu entwickeln. Zugleich ist zu beachten, dass mit dem obigen Nachweis der Notwendigkeit, im Rahmen der Gesetzesanwendung tatsächliches Sein in gewissem Maße Berücksichtigung finden zu lassen, bisher nur die (abstrakte) Möglichkeit einer normativ wirksamen Faktizität belegt worden ist. Ob allerdings die aus den Charakteristika sozialer Gegebenheiten zu entwickelnden Kriterien einer Sozialadäquanzlehre ihrerseits zugleich hinreichend sind, derogierende Kraft auf strafrechtliche Tatbestände zu entfalten, ist damit noch nicht begründet. Die nunmehr folgende inhaltliche Entwicklung der Welzelschen Lehre wird daher durch entsprechende ,Richtigkeitserwägungen begleitet werden müssen. Mit der Figur der Sozialadäquanz werden tatsächliche Umstände in die rechtliche Bewertung einbezogen. Letztlich wird darum stets die Empirie über das Vorliegen oder Fehlen des streitgegenständlichen Normmerkmals infolge sozialer Adäquanz entscheiden. Dennoch können theoretische Grundbedingungen benannt werden, die zwangsläufig erfüllt sein müssen, um ein Verhalten als sozialadäquat einstufen zu können. Welche Kriterien hinreichen, damit einem tatsächlichen Verhalten rechtliche Beachtsamkeit zukommt, hat Welzel nicht positiv dargelegt; seine diesbezüglichen Beispielsfälle bieten wenig Anhalt, da diese im Laufe der Entwicklung der SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre mehrfach wechselten, und ohnedies (inzwischen) zu einem großen Teil
298 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 491 ff. (S. 516); s. ferner Welzel, Strafrecht (1947), S. 35; Welzel, Strafrecht (1969), S. 55. 299 Insofern fehlgehend: Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnr. 42.
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deutlich anderen Kategorien strafrechtlicher Dogmatik zuzuordnen sind.300 Auch die Rechtsprechung hat, dort wo sie mit dem Topos der Sozialadäquanz operiert,301 keine über die allgemeine Formel hinausgehenden Kriterien inhaltlicher Art benannt. Für den Verlauf der vorliegenden Untersuchung ist damit die gängige SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGREformel zum Ausgang zu wählen und von dort auf deren konstitutive Momente zu schließen. Um hierbei möglichst alle Facetten berücksichtigen zu können, muss die Formel der Literatur, namentlich die von Welzel ins Feld geführte mit der in der Rechtsprechung anerkannten Formel in Synopsis gebracht werden. Demnach sind sozialadäquat „übliche, von der Allgemeinheit gebilligte und in strafrechtlicher Hinsicht im sozialen Leben gänzlich unverdächtige, weil im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit liegende Handlungen“302.
Hinzuzusetzen ist der Kernpunkt des Welzelschen Begriffsverständnisses, demzufolge diese Üblichkeit nachgerade aus den „geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens“303 folgen muss. Im Folgenden ist damit auf drei Leitgesichtspunkte einzugehen, die erfüllt sein müssen, um ein streitgegenständliches Verhalten für sozialadäquat einstufen zu können: Die soziale Unverdächtigkeit [unter a)], die allgemeine Billigung [unter b)] sowie zuletzt [unter c)] die geschichtliche Üblichkeit der fraglichen Verhaltensweise.304 Anschließend 300 Vgl. neben den o.g. Nachweisen im Rahmen der deliktssystematischen Zuordnung insbes. Meli, GA 142 (1995), S. 179 ff. (S. 181); Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnr. 39. Auch die Beispielsfälle der neueren Lit. vermögen kaum zu überzeugen, wenn sozialadäquates Verhalten etwa darin gesehen wird, „wenn jemand mit einem grippalen Infekt eine vollbesetzte Straßenbahn besteigt und die Umherstehenden infiziert, die anschließend eine Woche leidend das Bett hüten müssen“ (Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff. [S. 784]) – richtigerweise ist hier, wenn nicht bereits mangels Beherrschbarkeit des erfolgsverursachenden Geschehens in Form aerogener Übertragung, die Zurechnung des Körperverletzungserfolgs aufgrund erlaubten Risikos ausgeschlossen (Zur Abgrenzung Sozialadäquanz und erlaubtem Risiko s. oben.). 301 Nicht richtig ist hingegen, dass die Lehre von der Sozialadäquanz „von der strafrichterlichen Rspr. niemals allgemein anerkannt worden ist“ (Hirsch, FS Universität Köln [1988], S. 399 ff. [S. 421]). Vgl. nur OLG München, NStZ 1985, 549 – „Die Lehre von der Sozialadäquanz […] ist zwischenzeitlich auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen anerkannt (BGHSt 19, 152 [154]; 23, 226 [228])“ (a.a.O., S. 550). 302 BGHSt 23, 226 (228); ebenso OLG München, NStZ 1985, 549 (550). Vgl. Ebert, AT (2001), S. 34. 303 Welzel, Strafrecht (1947), S. 35; vgl. Welzel, Strafrecht (1969), S. 55. Ebenso Deutsch/ Ahrens, Deliktsrecht (2002), Rdnr. 104; Fischer, StGB (2008), Vor § 32 Rdnr. 12; Hassemer, wistra 1995, S. 41 ff. (S. 46); Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 251. Ähnlich OLG Hamm, NJW-RR 2002, 90 (91): „Handlungen, die sich völlig innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftswesens bewegen und von ihr gestattet werden“. 304 Trotz im Einzelnen unterschiedlicher Formulierung, lassen sich diese drei Momente (teils implizit) bei allen geleisteten Definitionen wiederfinden. s. neben den Nachweisen in der vorangegangenen Fußn. bspw. OLG München, NJW 1966, 2406 (2407): „[S]ozialadäquat [sind] alle die Handlungen, die sich innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozial-
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ist auf den Charakter der Sozialadäquanzformel einzugehen, d. h. ob diese normativer oder empirischer Art ist. Eine Andeutung hierzu trägt die genannte Sozialadäquanzformel mit dem Moment des „Rahmens der sozialen Handlungsfreiheit“ in sich. a) Soziale Unverdächtigkeit Sozialadäquate Verhaltensweisen müssen also zuallererst sozial unverdächtig, d. h. nach gesellschaftlichem Maßstab unauffällig sein. Diese „Unverdächtigkeit“ kann – einen eigenständigen Anwendungsbereich des zweiten Voraussetzungselements sozialadäquaten Verhaltens (scil. dem der allgemeinen Billigung) vorausgesetzt – allerdings noch nicht von einer spezifisch gearteten gesellschaftlichen Bejahung der streitgegenständlichen Verhaltensweise abhängen. Denn forderte die „Unverdächtigkeit“ eines Verhaltens von der Sozialgemeinschaft eine positive Stellungnahme ab, so wäre die Notwendigkeit, diesem Nachweis das Voraussetzungselement einer allgemeinen Billigung nachfolgen zu lassen, redundant. Mit dem Merkmal der „Unverdächtigkeit“ kann für ein sozialadäquates Verhalten daher noch kein wertendes Moment eingefordert sein. Im Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch wird hier vielmehr zunächst ein deskriptives Kriterium aufgestellt, welches nach der Eignung der fraglichen Verhaltensweise forscht, gesellschaftliches Aufsehen zu erregen. Eine „sozial verdächtige“ Verhaltensweise evoziert gesellschaftliche Erregung. Demgegenüber sind Handlungen, die in Bezug auf die Sozialgemeinschaft in tatsächlicher Hinsicht kein Aufsehen erregen „sozial unverdächtig“ – darauf, dass sie im Unterschied dazu durch ihre formelle Tatbestandsmäßigkeit (scil. als Normbruch) rechtliches ,Aufsehen erregen, wird später noch zurückzukommen sein. „Soziale Unverdächtigkeit“ steht demnach als Synonym für eine Verhaltensweise, die in gesellschaftlicher Hinsicht keine Aufregung, d. h. keine (gesteigerte) soziale Irritation auslöst. (1) Sozialadäquanz und Geringfügigkeitsprinzip Eine erste nahe liegende Überlegung zur Konkretisierung des Kriteriums der sozialen Unverdächtigkeit ist, an die Harmlosigkeit des entsprechenden Verhaltens anzuknüpfen.305 Marginale Verletzungshandlungen werden kaum gesellschaftliches ethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens bewegen und von ihr offensichtlich gestattet werden“ – Problematisch ist diese Fassung, weil sie suggeriert, dass mit „Gestattung“ eine Erlaubnis im streng wörtlichen Sinne gemeint sein könnte, was indessen aus Abgrenzungsgründen nicht der Fall sein kann, wie im Rahmen der systematischen Verortung ausführlich dargelegt. Vgl. auch die Definition: „Handlungen, die sich völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewordenen sozialen Ordnung des Lebens bewegen“ (Schönke/Schröder/LenckACHTUNGREner/Eisele, StGB [2006], Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. 69); vgl. insofern auch Kühl, StGB (2007), Vor § 32 Rdnr. 29. 305 Geringfügige Beeinträchtigungen zu anerkannten Formen sozialadäquaten Verhaltens erheben ausdrücklich OLG Hamm, NJW-RR 2002, 90 (91); Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht (2002), Rdnr. 104. Umgekehrt erklärt Putzke, NJW 2008, S. 568 ff. (S. 1569): Mit einem Substanzverlust wird „die körperliche Integrität nicht nur unerheblich verletzt […]. Zugleich ist
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Aufsehen erregen. Und in der Tat ist der oft angeführte Beispielsfall, die Zuwendung kleinerer Neujahrsgeschenke an den (vormals verbeamteten) Postboten dem Tatbestand des § 331 StGB aufgrund sozialer Adäquanz zu entziehen,306 u. a. durch die Geringfügigkeit des in ihm liegenden Eingriffs in das tatbestandlich geschützte Rechtsgut (hier: Funktionsfähigkeit des Staatsapparates307) gekennzeichnet. Ebenso ist der Fall beförderungsbedingter Freiheitsberaubungen mittels öffentlicher Verkehrsmittel, in welchen selbst irrtümlich falsch zugestiegenen Personen das Aussteigen nur an den vorgesehenen Haltestellen ermöglicht wird,308 prima facie durch die Geringfügigkeit der dort erfolgten Freiheitseinschränkung geprägt. Der Gedanke der sozialen Unverdächtigkeit ist oftmals eng mit dem der rechtlichen Harmlosigkeit verbunden.309 Würde jedoch das Merkmal der sozialen Unverdächtigkeit stets und immer die Geringfügigkeit der Rechtsgutsverletzung vorausACHTUNGREsetzen, so wäre es angemessener, derartige Fälle sogleich über das Geringfügigkeitsprinzip zu lösen, anstatt mit einer gesonderten Sozialadäquanzlehre eine weitere ACHTUNGREStrafrechtskategorie einzuführen.310 Nun ist allerdings das Geringfügigkeitsprinzip selbst bzw. dessen Wirkmechanismus keineswegs im dem Sinne allgemein anerkannt, als dass unbedeutende Rechtsgutverletzungen dem Anwendungsbereich strafrechtlicher Vorschriften eo ipso niemals unterfielen.311 Einiges spricht dafür, Verhaltensweisen, mögen sie auch hinter damit gesagt, dass das Verhalten nicht sozialadäquat ist“ – Hervorhebung durch den Autor: T.E.; ähnlich argumentiert Rohe, JZ 2007, S. 801 ff. (S. 805). 306 Welzel, Strafrecht (1969), S. 56. Vgl. Klug, FS Eb. Schmidt (1961), S. 249 ff. (S. 263); Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 312). 307 Die Frage nach dem Rechtsgut des § 331 StGB ist umstr.: Nachweise bei Schönke/ Schröder/Heine, StGB (2006), § 331 Rdnrn. 2 ff. 308 Klassisches Beispiel nach Welzel (Welzel, Strafrecht [1947], S. 36; Welzel, Strafrecht [1949], S. 37; Welzel, Strafrecht [1954], S. 62; Welzel, Strafrecht [1960], S. 76). Ebenso Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht (2002), Rdnr. 104. – Den Fall über § 34 StGB zu lösen, indem das Interesse der Passagiere sowie des Beförderungsanbieters als notstandsfähige Rechtsgüter gegen das Freiheitsrecht des irrtümlich Zugestiegenen abgewogen wird, überzeugt nicht. § 34 StGB schützt Rechtsgüter; das Interesse, ein bestimmtes Ziel mit bestimmten Mitteln reibungslos zu erreichen ist jedoch ein bloßes, nicht hingegen ein rechtliche kodifiziertes Interesse (scil. „Rechtsgut“): Dazu Köhler, AT (1997), S. 24 f.; Kühl, StGB (2007), § 34 Rdnr. 4; insbes. auch zum Streit um den Rechtsgutsbegriff Roxin, AT I (2006), § 2 Rdnrn. 2 ff. 309 Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 108; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. 70a. Vgl. OLG Hamm, NJW 1980, 2537: „Ob der zur Begründung [scil. des Geringfügigkeitsprinzips] meist angeführte […] Gedanke der Sozialadäquanz Tatbestandskorrekturen dieser Art trägt, kann dahinstehen“ (a.a.O. – Hervorhebung im Orig.); s. ferner Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht (1968), S. 140 ff. 310 Roxin, AT I (2006), § 10 Rdnr. 40 sowie Roxin, FS Klug I (1983), S. 303 ff. (S. 312 f.) erklärt in diesem Bereich die Sozialadäquanzlehre daher für unnötig; s. Peters, FS Welzel (1974), S. 415 ff. (S. 235 ff.). Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht (2002), Rdnr. 104 wollen hingegen die Geringfügigkeit („minima non curat praetor“: a.a.O.) als eine anerkannte Form der Sozialadäquanz verstanden wissen – mit Bezug hierauf ebenso OLG Hamm, NJW-RR 2002, 90 (91). 311 Vielmehr wird dies nur dort der Fall sein, wo entsprechende gesetzliche Merkmale (wie bspw. das der „Geringwertigkeit“ bei § 248a StGB) vorhanden sind; andernfalls kommen
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dem von einer Norm des positiven Rechts verkörperten – typischerweise erheblichen und gemeinhin strafwürdigen – Unrecht zurückbleiben, sehr wohl unter den Tatbestand der verwirklichten Verbotsnorm mit der Option zu subsumieren, sie auf der Rechtsfolgenseite aufgrund ihrer Marginalität gleichwohl mit keiner Kriminalstrafe zu belegen (vgl. § 153 Abs. 1 StPO).312 Bei einer solchen Lesart unterschiede sich das Geringfügigkeitsprinzip schon anwendungstechnisch grundlegend von der Sozialadäquanzlehre, welche bestimmte Verhaltensweisen schon dem Tatbestand der Verbotsnormen nicht unterfallen lassen will. Doch würde das Anliegen der Sozialadäquanzlehre auch in dem Falle, dass dem Geringfügigkeitsprinzip eine tatbestandsausschließende Wirkung zugebilligt werden würde, nicht von letzterem substituiert werden können: Das Geringfügigkeitsprinzip wird aus dem Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit gespeist313 und findet seinen Bezugspunkt immer im beeinträchtigten Rechtsgut. Mit der Feststellung der Geringfügigkeit einer Verletzungshandlung wird die rechtliche Unbeachtlichkeit der Verhaltensweise erklärt, weil der strafrechtliche Bereich der ultima ratio noch nicht erreicht ist. Mit der sozialen Adäquanz wird demgegenüber die soziale Unbeachtlichkeit eines Verhaltens für den Tatbestandsausschluss in Anspruch genommen, weil die gesellschaftliche Aufmerksamkeitsschwelle noch nicht erreicht ist. Kurzum, wiederum stehen formelle Gründe dem Unternehmen entgegen, die Sozialadäquanzlehre bzw. deren erstes Kriterium der sozialen Unverdächtigkeit durch das Geringfügigkeitsprinzip zu ersetzen. Zwischen beiden Instituten besteht eine Perspektivendifferenz.314 Nicht geklärt ist damit, ob für die Charakterisierung „sozial unverdächtig“ letztlich (materialiter) trotzdem nicht vielleicht nur rechtlich geringfügige Verhaltensweisen in Betracht kommen können. Schließlich setzt der systematische Zuschnitt der Sozialadäquanzlehre immerhin die Verletzung tatbestandlich geschützter Rechtsgüter an sich, d. h. formal-begrifflich, voraus315 mit der Folge, dass zumindest die rechtsverfahrensrechtliche Vorschriften (z. B. Opportunitätsregeln, §§ 153, 153a StPO) zur Lösung in Betracht – Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. 70a m.w.N.; s. weiterhin Krümpelmann, Die Bagatelldelikte (1966), S. 240 f. [Forderung nach Schaffung einer allg. Bagatellvorschrift]; Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip (1984), S. 319 ff. [Forderung nach Neugestaltung gesetzlicher Bagatellisierungsregeln]. A.A. Ostendorf, GA 129 (1982), S. 333 ff. [Geringfügigkeitsprinzip als allg. Auslegungskriterium]. 312 Bspw. Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip (1984), S. 308 ff. Vgl. Ebert, AT (2001), S. 4, der in diesem Zusammenhang von „Verletzungen“ spricht, die nach Art der Begehung und Ausmaß ihres Schadens nicht zu „ahnden“ seien. 313 Statt aller: Ebert, AT (2001), S. 3. 314 Keine Differenzierung hingegen ist, den Bezugspunkt der Sozialadäquanz im Handlungsunrecht (scil. der Angriffsintensität) und den der Geringfügigkeit im Erfolgsunrecht (d. h. der Verletzungsintensität) zu erblicken (so Ostendorf, GA 129 [1982], S. 333 ff. [S. 344] – Allgemein für eine Differenzierung ebenfalls Eser, FS Roxin [2001], S. 199 ff. [S. 202].): Richtigerweise Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. 70a. 315 Vgl. Schaffstein, ZStW 72 (1960) S. 369 ff. (S. 385); Wimmer, ZStW 75 (1963), S. 420 ff. (S. 439). Welzel, Strafrecht (1969), S. 56 betont entsprechend, dass sozialadäquates Verhalten keinesfalls sozial wertvoll sein muss.
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gutverletzende Wirkung als solche die soziale Unverdächtigkeit einer Verhaltensweise nicht von vornherein in Frage wird stellen können. Und kann auf diese Weise von der Angewiesenheit des Sozialadäquanzurteils auf die Verletzung eines Rechtsguts gesprochen werden, so ist es nachvollziehbar, bei der Bestimmung der sozialen Unverdächtigkeit die Tragweite jener notwendigen Verletzung zumindest Berücksichtigung finden zu lassen.316 Je geringfügiger eine Rechtsverletzung ausfällt, umso unverdächtiger wird sie auch in sozialer Hinsicht sein. Denn dass die Feststellung der Schwere oder Marginalität einer Rechtsgutsverletzung (sachlogisch) von der Funktion und Bedeutung des jeweiligen Rechtsguts abhängt, sich also nur mit Blick auf das rechtlich geschützte Interesse bestimmen lässt, und der Fokus der Sozialadäquanzlehre demgegenüber auf die Sozialsphäre gerichtet ist, ist freilich kein zwingendes Hindernis für eine mögliche Koinzidenz sozialer Unauffälligkeit mit der Geringfügigkeit der Rechtsgutseinbuße. Maßgeblich für die (materielle) Selbständigkeit der Sozialadäquanzlehre ist allein, dass die Tragweite der Rechtsgutverletzung keine Bedingung für das Vorliegen sozialadäquaten Verhaltens sein kann. Wodurch, wenn nicht durch die Geringfügigkeit der durch das fragliche Verhalten zugefügten Rechtsgutseinbuße, sollte die soziale Unverdächtigkeit jedoch inhaltlich bestimmt werden? (2) Soziale Unauffälligkeit Die soziale Unverdächtigkeit eines Verhaltens ist seinem Wortsinn nach gleichbedeutend mit dessen Eignung, kein bzw. kein spürbares gesellschaftliches Aufsehen zu erregen. „Unauffällig“ werden dabei alle solche Verhaltensweisen sein, die allenfalls wenig gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich vereinen werden können. Ohne Blick auf den konkreten Einzelfall kann dies für alle solche Verhaltensweisen reklamiert werden, deren Vornahme von den übrigen Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft erwartet worden ist resp. erwartbar gewesen wäre. Denn kaum überraschen sowie ein größeres Maß an sozialer Aufmerksamkeit hervorrufen wird die Ausführung eines bereits erwarteten oder wenigsten erwartbaren Verhaltens. Bevor näher auf diese Erwartbarkeit eingegangen wird, soll zunächst der oben angedeuteten Ambiguität nachgegangen werden, welche das Merkmal der „sozialen Unverdächtigkeit“ insofern in sich trägt, als mit diesem ein geringes Maß an gesellschaftlicher Aufmerksamkeit gerade für ein solches Verhalten eingefordert wird, das sich formell als Rechtsgutsverletzung erwiesen hat. Denn gestellt wird die Frage nach der sozialen Adäquanz und mit ihr die nach der „Unverdächtigkeit“ einer Verhaltensweise erst bei einem mit Bezug auf einen anderen Akteur tatsächlich ausgeübten und invasiven Verhalten; ein Verhalten, welches also weder reiner Willensentschluss geblieben ist, der das forum internum nicht einmal verlassen hätte,317 noch eine Handlung, die über die Akteurssphäre nicht hinausgelangt, d. h. sich nicht auf eine andere Person ausgewirkt hätte. Exakt jene soziale Sinnhaftigkeit in Form invasiver Einwir316
Dies fordert Dölling, ZStW 96 (1984) S. 36 ff. (S. 58 mit Fußn. 100). Auch strafrechtlich bleiben solche Verhaltensweisen unbeachtlich: „cogitationis poenam nemo patitur“ (Dig. 48. 19. 18); Ebert, AT (2001), S. 22. 317
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
kung auf ein anderes Gesellschaftsmitglied löst freilich denknotwendig gesellschaftliche Aufmerksamkeit aus. Die Schwierigkeit besteht darum darin, einem rechtsgutsverletzenden Verhalten soziale Unverdächtigkeit bzw. Unauffälligkeit attestieren zu müssen. Rechtliche und soziale Auffälligkeit sind schwer voneinander zu trennen. Gerade weil das Recht die Verkörperung sozialer Vorstellungen ist,318 begegnet jedem (formell) tatbestandsmäßigen Verhalten qua seiner Qualität als Rechtsbruch gesellschaftliche Aufmerksamkeit im Sinne der Belastung des allgemeinen Normgeltungsvertrauens.319 In Abgrenzung zu der sozialen Auffälligkeit kann diese Form der Auffälligkeit jedoch als sekundär bezeichnet werden: Nicht das Verhalten als solches, ACHTUNGREsondern erst die hieran anknüpfende rechtliche Wertung ist es, welche soziale Aufmerksamkeit auslöst. Die gesellschaftliche Auffälligkeit wird durch die Einschlägigkeit einer Rechtsnorm und deren Wertungsurteil zuallererst evoziert. Aufmerksamkeit rechtlicher Art wird über die Normwidrigkeit gleichsam vermittelt und ist insofern von nachgelagerter Art. Das Sozialadäquanzkriterium der sozialen Unauffälligkeit setzt demgegenüber die originäre, vom Recht losgelöste Unauffälligkeit einer Handlung voraus. Die Frage ist hier, ob die streitgegenständliche Handlung selbst im Falle fehlender rechtlicher Normierung Anlass zu gesellschaftlichem Aufsehen gibt – die Handlung als solche sozial auffällig ist.320 Eben diese Frage kann anhand der Erwartbarkeit des fraglichen Verhaltens aus dem bereits genannten Grund zuverlässig beantwortet werden. Sozial unauffällig, weil erwartbar, sind – unabhängig von ihrem verletzenden Charakter – alle Verhaltensweisen, die in ihrem Erscheinungsbild durch eine festgefügte und einheitliche Struktur gekennzeichnet sind. Typische Erscheinungsformen sozial sinnhaften Verhaltens sind erwartbar und somit tendenziell unverdächtig.321 Für die „soziale Unverdächtigkeit/Unauffälligkeit“ kommt es also entscheidend auf die Feststellung an, ob die durchaus wahrnehmbare und sekundär auffällige, weil rechtlich bewehrte, Rechtsgutsverletzung eine typische Erscheinungsform sozial sinnhaften Verhaltens ist. 318 Vgl. Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 202; Schmidt, in: Lampe, Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein (1997), S. 429 ff. (S. 429 mit Fußn. 1). 319 Durkheim zufolge wirken Verbrechen insofern stabilisierend, als die auf sie bezogenen Strafen die Normen in Erinnerung rufen und das Vertrauen der Gesellschaft in deren Geltung stärken; als leidenschaftliche Reaktion auf die Verletzung bestimmter Zustände des Kollektivbewusstseins ist die Strafe Ausdruck der sog. mechanischen Solidarität: Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung (1992), S. 118 ff. (insbes. S. 135, 160); s. dazu auch Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 21 – verwiesen ist damit auf den positiven Aspekt der Generalprävention durch Strafe: Ebert, AT (2001), S. 234 f.; Roxin, AT I (2006), § 3 Rdnrn. 26 ff. 320 Hassemer, wistra 1995, S. 41 ff. (S. 42) betont darum: „Stehen sie [scil. gesellschaftlich nicht weiter erklärungsbedürftige ,neutrale Handlungen] einmal in einem kriminellen Kontext, so kann ihre ursprüngliche Neutralität nur – mühsam – dadurch wiederhergestellt werden, daß man sie aus diesem Kontext löst und ihren ursprünglichen Handlungssinn wieder sichtbar macht“. 321 Ebenso: Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 106.
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Sozial unauffällig, weil typisch und damit erwartbar ist eine Verhaltensweise freilich nicht schon dadurch, weil die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts rein ACHTUNGREfaktisch gehäuft auftritt und insofern „bekannt“ ist. Für die Erwartbarkeit rechtsgutverletzenden Verhaltens ist vielmehr eine in sich abgeschlossene und als solche vorhersehbare Verhaltensstruktur erforderlich. Nur Verhaltensweisen, die einer einheitlichen Merkmalstypik zugeordnet werden können, können spezifisch ,erwartet werden. Handlungen, die nicht durch ein solches Muster geprägt sind, werden durch ihre Besonderheiten, ihre Einmaligkeit und ihren exemptionellen Charakter demgegenüber beinahe notwendig gesellschaftliche Aufmerksamkeit evozieren. Anders als dies bei Verhaltensweisen der Fall ist, die einem einprägsamen abgeschlossenen Handlungsmuster zugeordnet werden können. Zu jenen aufmerksamkeitsarmen typisierten Handlungsformen kann u. a. das bereits angesprochene Herkommen des sog. Maibaumstehlens gerechnet werden.322 Die Entwendung eines Maibaums ist formell eine Diebstahlshandlung.323 Aber im Gegensatz zu den bekannten Diebstahlshandlungen, wie sie sich beinahe ubiquitär und alltäglich in modernen Selbstbedienungsläden ereignen, kann diese (traditionelle) Diebstahlshandlung einem fest umrissenen Handlungsmodus zugeordnet werden: Tatzeit, Tatobjekt, Täter und Opfer haben regionale Typizität; im Gegensatz zum Ladendiebstahl überrascht die konkrete Entwendung eines Maibaums in der Nacht vor dem 1. Mai in bestimmten Regionen nicht – sie ist erwartbar und sozial nicht weiter auffällig. Maßgeblich für die Erwartbarkeit eines Verhaltens ist demnach, dass dessen wesentliche Züge noch vor der Ausführung voraussehbar sind.324 Vorhersehbar sind solche Verhaltensweisen, die in quantitativer Hinsicht mehr als nur ein sinnisoliertes Einzelereignis sind, sowie in qualitativer Hinsicht von einem in 322 Ausdrücklich: Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht (2002), Rdnr. 142; vgl. bzgl. Volksbräuche Dickert, JuS 1994, S. 631 ff. (S. 634 ff.); Scheyhing, JZ 1959, S. 239 ff. m.w.N. 323 Zwar wird der entwendete Gegenstand, wie von Anfang an beabsichtigt, dem ursprünglichen Gewahrsamsinhaber wieder zurückgegeben, jedoch nur nach Erhalt einer Gegenleistung; die „Rückveräußerung“ an den Eigentümer ist technisch nur unter – kurzfristiger – Anmaßung einer eigentümergleichen Herrschaft möglich, so dass die Entwender des Baumes mit Zueignungsabsicht handeln und damit den § 242 Abs. 1 StGB verwirklichen: Schönke/ Schröder/Eser, StGB (2006), § 242 Rdnr. 50; Kühl, StGB (2007), § 242 Rdnr. 26; Rudolphi, GA 112 (1965) S. 34 ff. (S. 43); Welzel, Strafrecht (1969), S. 343; s. bereits RGSt 40, 10 (12 f.); 57, 199 (199 f.) [jeweils bzgl. Rückveräußerung an den unwissenden Eigentümer]. A.A. [keine Zueignung, weil weder Sachwert noch Gebrauchsmöglichkeit entzogen wird]: Seelmann, JuS 1985, S. 288 ff. (S. 290); Stoffers, JURA 1995, S. 113 ff. (S. 115 ff.). Dogmatisch konstruktiv könnte die Strafbarkeit der ,Diebe über die Konstruktion(!) eines die „Wegnahme“ ausschließenden Einverständnisses (s. statt aller Schönke/Schröder/Eser, StGB [2006], § 242 Rdnr. 36) ausgeschieden werden: Wer dem Brauch des Maibaumaufstellens folgt, ist zugleich mit dessen brauchtumsbedingter ,Entführung einverstanden – freilich bliebe dies immer eine individuelle Tatfrage(!). 324 Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass mit der Erörterung des Vorsatzes bzgl. des Kausalverlaufs bei den Erfolgsdelikten in der Tat von einem „Adäquanzurteil“ gesprochen wird, wenn die Kenntnis der wesentlichen Züge des Kausalgeschehens eingefordert wird: Seit RGSt 70, 257 (258) stRspr.: BGHSt 7, 325 (329); 38, 32 (34); BGH, NStZ 2001, 29 (31); Ebert, AT (2001), S. 150; Kühl, StGB (2007), § 15 Rdnr. 10; vgl. Roxin, AT I (2006), § 12 Rdnr. 156.
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
sich werthomogenen, nicht ganz unbedeutenden Teil der Gesellschaft ausgeübt zu werden pflegen325 – wenngleich sie umgekehrt nicht zwangsläufig eine gesamtgesellschaftliche Dimension aufweisen müssen.326 Die einzelne Verhaltensweise muss mit anderen Worten einer sich äußerlich, hinsichtlich des Geschehens, sowie innerlich, bzgl. der Motivationslage, herauskristallisierten Handlungsform einer abgeschlossenen Gruppe entsprechen. Um gesellschaftlich erwartet werden zu können und damit nicht weiter auffällig zu sein, muss das streitgegenständliche Verhalten eine stets wiederkehrende Eigenart aufweisen, die nicht durch die reine Tatsache der Rechtsgutverletzung (dem Normbruch) erschöpft wird, sondern Tatobjekt, Tatort, Täter, Opfer, Motivationslage usw. umspannt. Erst mit einer derartigen Konturierung hin zu einem Verhaltensmuster werden die ihm zurechenbaren Einzelhandlungen erwartbar, und darum sozial nicht weiter auffällig sein. Die Frage nach der sozialen Unauffälligkeit ist mithin notwendig von der Etablierung eines festgefügten und fest etablierten Handlungstypus abhängig, dem das streitgegenständliche Verhalten zugeordnet werden kann. Bei der Frage nach einem etwaigen Typikcharakter eines gehäuft vorkommenden (Verletzungs-)Verhaltens ist die Massivität bzw. Marginalität der Rechtsverletzung sodann keine notwendige Bedingung. Neben den oben angeführten formalen Gründen lässt sich dies an dem Beispiel des irrtümlich zugestiegenen Bahnfahrers veranschaulichen. Widerruft der Fahrgast eines Fernverkehrszugs sein Einverständnis in den beförderungsbedingten Ausschluss seiner persönlichen Fortbewegungsfreiheit, und hält der Zugführer gleichwohl erst am nächsten, viele Kilometer entfernten Bahnhof, um den Gast aussteigen zu lassen, wird trotz Wegfall des tatbestandsausschließenden Einverständnisses327 das Verhalten des Zugführers nach allgemeiner Anschauung nicht als Freiheitsberaubung (im Sinne des § 239 Abs. 1 StGB) angesehen werden. Seinen Grund hat dies in folgendem Umstand: Zwar wird der Fahrgast hier über einen größeren Zeitraum, sprich keinesfalls nur kurzfristig oder geringfügig, seiner Fortbewegungsfreiheit beraubt, jedoch ist das Verhalten des Zugführers schlicht erwartbar und darum sozial unauffällig – ein Zugführer wird seine Fahrgäste im Regelfall nur an den im Streckenplan vorgesehenen Haltestellen aussteigen lassen, so dass zwischen diesen Punkten niemand den Zug wird verlassen können. Das formell tatbestandsmäßige Verhalten des Zugführers entspricht einem in sich abgeschlossenen Handlungsmuster. Täter, Tatort, Opfer sowie Tatmotivation und Tatgeschehen sind ohne weiteres vorhersehbar, so dass die tatbestandliche Freiheitsberaubung kaum größeres gesellschaftliches Aufsehen erregen wird.
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Dickert, JuS 1994, S. 631 ff. (S. 632); Scheyhing, JZ 1959, S. 239 ff. (S. 240). Im Rahmen sozialer Geltungsansprüche kann dies auch kaum gefordert werden: Vgl. neben den obigen Fußnotennachweisen v. a. Zippelius, Rechtsphilosophie (2007), S. 21 f. 327 BGH, NStZ 2005, 507 (508); Kühl, StGB (2007), § 239 Rdnr. 5; s. insbes. Schönke/ Schröder/Eser, StGB (2006), § 239 Rdnr. 6, der für eine Freiheitsberaubung plädiert, wenn „der Zugführer entgegen dem berechtigten Verlangen eines Reisenden die Tür des Abteils nicht öffnet“. 326
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Die Nähe zwischen gesellschaftlicher Unverdächtigkeit und rechtlicher Beachtlichkeit eines Verhaltens zeigt sich besonders exemplarisch auch an der Otoplastik – dem ästhetisch motivierten Anlegen abstehender Ohren mittels eines operativen Eingriffs. Ohne medizinische Notwendigkeit wird bei Kleinkindern (noch vor deren Einschulung) der Ohrknorpel an der Vorderseite geschwächt oder durch Nähte bzw. Einschnitte neugeformt, indem hinter dem Ohr in der sog. Anthelixfalte, der an den Ohrmuschelrand angrenzenden Falte, ein chirurgischer Schnitt gesetzt wird. Mangels medizinischer Indikation ist der Eingriff durch den Arzt aus rechtlicher Sicht als tatbestandliche Körperverletzung einzustufen,328 die allerdings durch die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter (erst) gerechtfertigt sein könnte. Für die Wirksamkeit einer solchen Einwilligung ließe sich argumentieren, dass die Eltern ihrem Kind durch den Eingriff Spott und Häme ersparen wollen und aus diesem Grunde im Interesse des Kindeswohls handeln.329 Ohne an dieser Stelle entscheiden zu müssen, ob eine derartige Eingriffsmotivation wie mitunter vorgebracht den Eingriff tatsächlich im Kindeswohlinteresse zu rechtfertigen vermag, ist festzuhalten, dass die rechtliche Auflösung dieser Fälle einhellig erst auf Ebene der Rechtswidrigkeit bei vorhergehender Annahme der Tatbestandsmäßigkeit dazu führt, die Otoplastik zu einem in rechtlicher Hinsicht auffälligen Verhalten zu erklären. Für die vorliegende Untersuchung entscheidend ist nun, dass der Eingriff in sozialer Hinsicht jedoch allenfalls wenig Aufmerksamkeit zu erregen in der Lage ist. Im Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Zulässigkeit operativer Schönheitskorrekturen stehen vielmehr Korrekturen zur Anpassung an vorherrschende geschlechtsbezogene Schönheitsideale, namentlich Brustvergrößerungen oder Fettabsaugungen. Auslöser der ACHTUNGREsozialen Aufmerksamkeit in diesem Bereich ist der Umstand, dass solcherlei Operationen aufgrund des dynamischen Wandels geschlechtsbezogener Schönheitsideale nicht der Charakter eines erwartbaren Handlungsmusters zukommt. Ob Eltern die Vornahme derartiger Schönheitsoperationen anstreben, ist nicht im gleichen Maße erwartbar wie in Fällen der Otoplastik, da die Einstellungen der Eltern und der 328 Weil die Ausführung mittels eines Skalpells erfolgt, ist zugleich der Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB verwirklicht: Vgl. hierzu die obigen Ausführungen zum Einsatz medizinischer Schneideinstrumente im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit der medizinisch nicht indizierten Zirkumzision. 329 So Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 334); vgl. LG Hagen (Westfalen), Urt. v. 19. 12. 2002 (Az.: 4 O 358/02, JURIS), das nur den misslungenen Korrekturversuch als schadensersatzauslösendes Ereignis ansieht; Marburger, SGb 1995, S. 432 ff. stuft Ohrenkorrekturen als Krankenbehandlung im Sinne der Krankenversicherung ein (a.a.O., S. 434). A.A. Sacher, Die Sozialversicherung 1970, S. 124, der mögliche neurotische Folgewirkungen abstehender Ohren bestreitet: „Eine Neurose entwickelt sich nämlich nicht deshalb, weil ein Kind abstehende Ohren hat, sondern neurotische Kinder führen zur Begründung ihrer neurotischen Fehlhaltung neben anderen ihre abstehenden Ohren und die daraus sich ergebenden Hänseleien als den Grund ihrer auch sonst vorhandenen Fehlhaltungen an“ (a.a.O.). Freilich gerät die Zulässigkeit kosmetischer Korrekturen an Minderjährigen zusehends unter Kritik: s. bspw. den hiergegen gerichteten Antrag „Missbräuche im Bereich der Schönheitsoperationen gezielt verhindern […]“ seitens Mitgliedern des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. 16/6779); s. auch F.A.Z. Nr. 96 aus 2008, S. 9 [„Gefährliche Schönheit“] oder Zylka-Menhorn, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A 1546 zum rechtlichen Graubereich des Piercing.
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
Ärzte in diesen Fällen wegen des Wandels geschlechtsbezogener Schönheitsideale nicht ohne weiteres prognostizierbar sind. Im Gegensatz dazu die Otoplastik. Hier ist erwartbar, dass Eltern die nur schwerlich zu verbergende körperliche Auffälligkeit der „Segelohren“ behoben sehen wünschen, damit ihrem Kind eine möglichst reibungslose Integration in das soziale Umfeld sowie eine harmonische und von Exklusionserfahrungen befreite Kindheit möglich wird, und Ärzten diesem Verlangen auch nachkommen werden.330 Kurzum, das auf Wunsch der Eltern erfolgende ACHTUNGREAnlegen abstehender Ohren bei Kindern im Vorschulalter durch Ärzte entspricht einem erwartbaren, weil typisierten Handlungsmuster und ist darum sozial unverdächtig. An dieser Stelle festzuhalten ist somit folgendes: Mit dem Kriterium der sozialen Unverdächtigkeit als erstes Moment sozialer Adäquanz wird rein deskriptiv untersucht, ob die streitgegenständliche Verhaltensweise Erscheinungsbild eines klar fassbaren Handlungstypus ist, das Verhalten also aufgrund seiner spezifischen Merkmalscharakteristik einem strukturell einheitlichen Geschehen entspricht, welches aus diesem Grunde erwartbar/voraussehbar ist. b) Billigung durch die Allgemeinheit Das Merkmal der sozialen Unauffälligkeit grenzt den Anwendungsbereich der Sozialadäquanzlehre noch nicht hinreichend ein, da es sich bei diesem Merkmal um ein weithin offenes Kriterium handelt. Ob eine streitgegenständliche Verhaltensweise, die kein sinnisoliertes, dem Bereich des Atypischen zuzurechnendes Ausnahmegeschehen ist, tatsächlich zugleich einem festumrissenen sozialen Handlungstypus zugeordnet werden kann, hängt letztlich vom Zuschnitt des konkreten Handlungstypus ab. Je nach der Anforderungsdichte an die Wesentlichkeit der vorherzusehenden Grundzüge des fraglichen Verhaltens ist für oder gegen dessen Erwartbarkeit zu argumentieren. Tendenziell liegt darum die Vermutung nahe, dass die meisten Verhaltensweisen, sofern sie nicht-exemtioneller Art sind, zugleich (irgend-)einem in Grenzen voraussehbaren Handlungsmuster entsprechen werden.331 Dies leitet zum zweiten Kriterium der Sozialadäquanzlehre über: Von denjenigen Handlungen, die unter Zuordnung zu einem eng oder weit geschnittenen sozialen Handlungstypus in de330 Diese Differenzierung macht sich die Bayerische Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie zu eigen, wenn sie gegen den Bedarf einer gesetzlichen Regelung zu Schönheitsoperationen bei Minderjährigen argumentiert, da „jeder verantwortungsvolle Operateur einen Eingriff bei Personen, die noch nicht ausgewachsen sind, ablehnt“, zugleich jedoch Ohrkorrekturen nicht von dieser Ablehnung umfasst sehen will (Pressemitteilung: www.Ärzteblatt.de vom 02. 05. 2008). 331 Es ließe sich etwa argumentieren, angesichts kriminalempirischer Befunde sei der Diebstahl kleinerer Objekte aus Selbstbedienungsläden seitens Jugendlicher (im Alter zwischen 14 und 20 Jahren) eine typische, weil übiquitäre und „normale Begleiterscheinung des Sozialisationsprozesses“ (Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht [2006], Rdnr. 13); vgl. Meier/ Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht (2007), § 3 Rdnrn. 3 ff.; Walter, Jugendkriminalität (2005), Rdnrn. 186, 246 – Der Diebstahl bildet den Großteil jugendlicher Gesamtdelinquenz: s. Göppinger/Bock, Kriminologie (2008), § 21 Rdnr. 41; PKS 2007, S. 88 ff.
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skriptiver Hinsicht für sozial unauffällig eingestuft werden können, ist eine weitere einschränkende Auswahl in (jetzt:) wertender Hinsicht erforderlich. Für den Nachweis der Sozialadäquanz muss zu der sozialen Unverdächtigkeit die Billigung des fraglichen Verhaltens durch die Allgemeinheit hinzutreten. Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass es keinen Widerspruch begründet, die Sozialadäquanz von der sozialen Unverdächtigkeit/Unauffälligkeit eines Verhaltens sowie von dessen allgemeiner Billigung, also von einer deutlichen Stellungnahme abhängig zu machen. Die Kennzeichnung als sozial unverdächtig stellt die gesellschaftliche Wahrnehmbarkeit und mit ihr den Anknüpfungspunkt der „allgemeinen Billigung“ eines Verhaltens keinesfalls in Abrede. Schließlich wird nach der sozialen ACHTUNGREAdäquanz einer formell tatbestandsmäßigen Verletzungshandlung gefragt, also einer Handlung, die bereits in den Fokus rechtlicher und zugleich gesellschaftlicher Aufmerksamkeit getreten ist. Wie oben gezeigt, impliziert diese Wahrnehmbarkeit allerdings keineswegs zwangsläufig die „soziale Auffälligkeit“ des Verhaltens, d. h. dessen Eignung neben gesellschaftlicher Aufmerksamkeit zugleich gesellschaftliches Aufsehen zu evozieren. Der Bezugspunkt der „sozialen Unverdächtigkeit“ ist nicht der, gesellschaftliche Aufmerksamkeit verursachende Rechtsbruch als solcher – gerade deshalb spielt auch die rechtliche Geringfügigkeit grundsätzlich keine Rolle. Für die Unauffälligkeit in sozialer Hinsicht kommt es darauf an, ob das streitgegenständliche Verhalten geeignet ist, über den Rechtsbruch hinaus Aufmerksamkeit auszulösen oder als typische Erscheinungsform sozial sinnhaften Verhaltens keinen weiteren sozialen Verdacht erregt, mithin sozial unverdächtig ist; obgleich das fragliche Verhalten selbstredend deutlich wahrnehmbar ist, schon allein weil es sich bei ihm um ein außenwirksames Ereignis handelt. An diese Unauffälligkeit bei gegebener Wahrnehmbarkeit schließt das zweite Sozialadäquanzkriterium der „allgemeinen Billigung“ an, indem es das einem (wahrnehmbaren) Handlungstypus zurechenbare Verhalten auf dessen Werthaftigkeit hin untersucht. Erst dieser Untersuchungsschritt unterscheidet die soziale Adäquanz maßgeblich von der bloßen Faktizität eines gehäuft vorkommenden typischen Verhaltens. Mit dem Kriterium der „allgemeinen Billigung“ wird gleichsam eine kulturellsoziologische Begründung für die rechtliche Anerkennung faktischer Verhaltenstypen eingefordert.332 (1) Bezugspunkt der allgemeinen Billigung Die allgemeine Billigung kann nicht die individuelle Verletzung eines rechtlich geschützten Interesses, d. h. die einzelne tatbestandliche Rechtsgutsverletzung zum Gegenstand haben. Zwar begründet es keinen Widerspruch, ein und dieselbe ACHTUNGREHandlung sowohl mit der im verwirklichten Tatbestand kodifizierten Missbilli-
332 Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 106 u. 108; Peters, FS Welzel (1974), S. 415 ff. (S. 428).
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A ung333 als auch mit der im Sozialadäquanzurteil zum Ausdruck kommenden soziaCHTUNGREg len Billigung zu belegen, mithin das bloß formelle Unrechtsverdikt unter Rückgriff auf Gesichtspunkte der sozialen Wirklichkeit materialiter zu revidieren. Jedoch ist in Zusammenschau der inhaltlichen Anforderungen der Sozialadäquanzlehre zu bedenken, dass der Orientierungspunkt der allgemeinen Billigung auf denjenigen Verhaltensweisen liegen muss, die im sozialen Leben gänzlich unverdächtig sind.334 Anknüpfen können wird eine Billigung seitens der Allgemeinheit allerdings allein an signifikanten Handlungen, die aus der Vielzahl gesellschaftlicher Interaktionen deutlich wahrnehmbar herausragen, und auf diese Weise zuallererst tauglicher Gegenstand einer Stellungnahme durch die Allgemeinheit werden. Eine einzelne Handlung als solche wird indes die zur allgemeinen Billigung notwendige gesamtgesellschaftliche Wahrnehmbarkeit nur erlangen können, wenn sie Ausnahmecharakter hat. Eben solche Einzelhandlungen sind aber sozial nicht mehr erwartbar, was sie wiederum sozial verdächtig machen würde. Das enge Näheverhältnis zwischen der Billigung und der Unverdächtigkeit als den beiden ersten Elementen sozialadäquaten Verhaltens konkretisiert die Sozialadäquanzformel dementsprechend dahingehend, dass anstelle der einzelnen Verletzungshandlung als solcher deren (über sie hinausweisende) spezifische Merkmalsstruktur von der Allgemeinheit gebilligt werden muss. Statt der einzelnen Handlung muss letztlich der Handlungstypus, dem das zu beurteilende Verhalten zugeordnet werden kann, von der Allgemeinheit gebilligt werden. Die „Allgemeinheit“ der Billigung vereint zwei Momente miteinander: Zum einen ist sie Billigung durch eine Allgemeinheit, d. h. durch einen umfassenden Gesellschaftsteil,335 zum anderen ist sie aber ebenso eine Billigung allgemeiner Art. Anschaulich wird dies angesichts der Anmerkung Welzels, dass sozialadäquates Verhalten „keineswegs notwendig ein sozialvorbildliches Verhalten, sondern ein Verhalten im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit“336 zu sein habe. Der „Rahmen“ der Handlungsfreiheit unterstreicht, dass mit dem Sozialadäquanzurteil nicht eine einzelne Handlung „gutgeheißen“, sondern ein umfänglicher Bereich anerkannt – gleichsam zubilligt – wird, innerhalb dessen die Bewertung von Handlungen allein sozialen Vorstellungen folgt. Anstelle der streitgegenständlichen Handlung als Ausdruck der Inanspruchnahme dieses Freiheitsraumes, muss dieser Raum an sich (mindestens) von einem Gesellschaftsteil gebilligt werden. Mit dem Zugeständnis eines solchen Freiheitsraumes sind dessen Ausdrucksformen sodann eo ipso (allgemein) gebilligt. Für die Frage der sozialen Adäquanz einer konkreten Verletzungshandlung reicht es allerdings hin, anstelle des Gesamtraumes sozialer Handlungsfreiheit in all seinen Fa333 Strafrechtskonzeptionell sind allein sozialschädliche Verhaltensweisen in tatbestandlichen Verbotsnormen niedergelegt: Ebert, AT (2001), S. 1; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 50 ff.; Kühl, AT (2005), § 3 Rdnrn. 3 ff. 334 So die hier zugrunde gelegte Arbeitsdefinition – s. oben in den einführenden Worten zu Punkt 3. „Merkmale sozialadäquater Verhaltensweisen“ in Teil 4, A. II. dieser Arbeit. 335 Nicht aber durch die Gesamtgesellschaft (s. oben unter der Überschrift „Consuetudo“). 336 Welzel, Strafrecht (1969), S. 56; auf den Aspekt der sozialen Handlungsfreiheit weist ebenfalls BGHSt 23, 226 (228) hin; ebenso OLG München, NStZ 1985, 549 (550).
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cetten sowie seiner Tiefe, allein die sozialen Anschauungen hinsichtlich derjenigen Merkmale zu untersuchen, aus denen sich das in Ausübung jener Handlungsfreiheit in concreto konstituierte Handlungsmuster zusammensetzt. Ein weiteres Indiz für den Bezugspunkt der allgemeinen Billigung liefert die Struktur der (inhaltlich unglücklichen) Beispiele sozialadäquaten Verhaltens. So ist für Welzel etwa „die Teilnahme an modernen Straßen-, Schienen- oder Flugverkehr eine sozialadäquate Betätigung, so daß z. B. der Neffe keine tatbestandsmäßige Tötungshandlung begeht, wenn er den Erbonkel zur eifrigen Benutzung der Verkehrsmittel ermuntert in der (begründeten) Erwartung, er möge bei einem Unglück vorzeitig ums Leben kommen“337. Allgemein gebilligt und letztlich sozialadäquat soll die Handlung des Neffen darum sein, weil der sie umfassende Tätigkeitsbereich an sich von der Gesamtgesellschaft gebilligt wird, während die konkrete Handlung des Neffen als solche der Gesamtgesellschaft verborgen bleiben dürfte. Bevor auf die allgemeine Billigung vertiefend eingegangen wird, ist zu deren Gegenstand, dem Begriff des Handlungsmusters, zuletzt eine klarstellende Anmerkung erforderlich. In der soziologischen Theorie stehen die Merkmale eines „Verhaltensmusters“ – ein gleichartiges Verhalten, das innerhalb einer näher definierten Menge von Menschen in gewissen typischen Situationen zu beobachten ist und bestimmten Regeln unterliegt, welche dem Handelnden vorgeben, was er tun oder lassen soll, sowie beim Zuschauer die Erwartung eines bestimmten Verhaltens des Handelnden hervorruft338 – in großer Nähe zur sog. sozialen Norm. Für das Wesen der „sozialen Norm“ impliziert hierbei das Moment der „Vorgabe, was der Handelnde tun oder lassen soll“, dass bei Abweichungen von einem derartigen Verhaltensmuster Sanktionen zu erwarten sind: Soziale Normen dienen der Verhaltensorientierung, indem sie die individuelle Voraussicht von Handlungen mittels sozialen Drucks absichern; dem Abweichenden wird durch seine Umgebung die Bereitschaft demonstriert, sein unerwartet deviantes Verhalten nicht hinzunehmen.339 Für ein sozialadäquates Verhalten kann dies hingegen nicht in Anspruch genommen werden. Mit der Zugehörigkeit sozialadäquaten Verhaltens zu einem Handlungsmuster ist keinesfalls die sanktionierbare Notwendigkeit solchen Verhaltens gemeint. D.h., niemand muss deshalb mit Nachteilen rechnen, weil er sich etwa der Gepflogenheit weigert, einen Maibaum zu stehlen. „Soziale Norm“ und „Handlungsmuster“ bezeichnen insofern zwei differente Formen von „Verhaltensmustern“: Die sanktionsbegleiteten Verhaltensforderungen
337 Welzel, Strafrecht (1969), S. 56. Die gleiche Struktur bei Welzel, Strafrecht (1947), S. 35: „So ist etwa der Betrieb einer Eisenbahn eine sozialadäquate Tätigkeit, obwohl er trotz Beachtung aller Sicherheitsvorkehrungen notwendig mit Verletzungen rechnen muß“. 338 Exempl.: Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft (1980), S. 24 ff.; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 200. 339 Geiger, Vorstudien (1964), S. 78 ff.; Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 201; vgl. Popitz, Soziale Normen (2006), S. 81 ff.; Schmidt, in: Lampe, Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein (1997), S. 429 ff. (S. 435 ff.).
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sowie die bloßen Verhaltensgleichförmigkeiten.340 Allein auf letztere Form ist der Begriff des „Handlungsmusters“ im Rahmen der Sozialadäquanzprüfung bezogen. Allgemein gebilligt werden muss also die der streitgegenständlichen Einzelhandlung zugehörige Verhaltensgleichförmigkeit. Überdies wäre es redundant, die allgemeine Billigung eines Verhaltens zu untersuchen, das ohnehin bereits einer sozialen Norm entspräche. Wird fortfolgend vereinfachend von „Handlungsmuster“ gesprochen, ist dies somit im Sinne von „Verhaltensgleichförmigkeit“ zu verstehen. (2) Allgemeine Billigung Wenn auch der Inhalt dessen, was allgemein gebilligt und somit möglicherweise341 für sozialadäquat befunden wird, keine statischen Sachverhalte, sondern eine qua natura einem permanenten Anschauungswandel unterworfene Lebensmaterie betrifft, so können gleichwohl Grundbedingungen benannt werden, denen Verhaltensgleichförmigkeiten notwendig genügen müssen, um von der Gesamtgesellschaft gebilligt zu werden.342 Inwiefern die im nachfolgenden zu entwickelnden Kriterien auch hinreichen, ein Verhalten in tatsächlicher Hinsicht zu billigen, scheint hingegen eine theoretisch nicht entscheidbare Frage der Empirie, die für das Recht keine letztentscheidende Bedeutung erlangen kann – hierauf wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist nunmehr zu klären, wie ein Handlungsmuster beschaffen sein muss, damit es prinzipiell geeignet ist, allgemein gebilligt zu werden. Ausgangspunkt ist wiederum der paradoxale Anspruch der Sozialadäquanzlehre, ein tatbestandliches und angesichts der Funktion strafrechtlicher Verbotsnormen – kodifizierter Ausdruck der Missbilligung bestimmter Verhaltensformen zu sein343 – damit formell missbilligtes Verhalten aus materiellen Gesichtspunkten, d.i. durch die soziale Adäquanz der fraglichen Verhaltensweise, als Gegenstand allgemeiner Billigung auszugeben.344 Bloß formeller Natur ist die in den Strafvorschriften kodifizierte Missbilligung deshalb, weil sie allein an das äußere Erscheinungsbild eines Verhaltens sowie den hierauf bezogenen Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsvorwurf anknüpft. Die inneren, über das unmittelbare Tatgeschehen hinausgehenden Umstände und Beweggründe entsprechender Verhaltensweisen bleiben demgegenüber ausgeblendet. Sie sind von der tatbestandlichen Missbilligung gerade nicht umfasst und somit der allgemeinen Billigung zugänglich. Für die zur allgemeinen Billigung not340 Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 200 f. Insofern zu weit geht Popitz, Soziale Normen (2006), S. 76 ff., wenn er die Orientierung an Verhaltensregelmäßigkeiten von deren Normierung eingeschlossen sehen will (a.a.O., S. 85). 341 Sofern auch das dritte Voraussetzungselement sozialadäquaten Verhaltens – die geschichtliche Üblichkeit – (s. oben) verwirklicht ist. 342 Zu weit schlussfolgert Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), dem zufolge der Inhalt sozialadäquaten Verhaltens nicht einheitlich bestimmbar ist (a.a.O., S. 90). 343 Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 50 ff.; Roxin, AT I (2006), § 2. 344 Darum betont Welzel, Strafrecht (1947): „Darin besteht die methodische Funktion der sozialen Adäquanz, daß sie aus dem formalen Wortlaut der Tatbestände diejenigen Lebensvorgänge herausschneidet, die sachlich überhaupt nicht unter sie gehören“ (a.a.O., S. 37).
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wendigen Grundbedingungen von Verhaltensgleichförmigkeiten folgt hieraus, dass Verhaltensweisen, deren intentionale Momente ausschließlich die Verletzung tatbestandlich geschützter Rechtsgüter umfassen, einer gesamtgesellschaftlichen Billigung aus ACHTUNGRElogischen Gründen unzugänglich sind. Es wäre schlicht widersprüchlich, solche ACHTUNGREVerhaltensgleichförmigkeiten auf der einen Seite als vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung zu bewerten und mit der im entsprechenden Tatbestand niedergelegten Missbilligung zu belegen – wie etwa den vorsätzlichen Diebstahl gem. § 242 Abs. 1 StGB –, sie auf der anderen Seite zugleich dennoch allgemein zu billigen. Positiv gewendet werden also nur solche tatbestandlichen Verhaltensweisen allgemeiner Billigung begegnen können, die durch eine über den Rechtsbruch hinausgehende Umstands- und Motivationslage gekennzeichnet sind.345 Denn Ansatzpunkt der allgemeinen Billigung ist hier sodann nicht das formell längst missbilligte, äußere Erscheinungsbild eines Verhaltensmusters, sondern v. a. der mit diesem Muster verfolgte, rechtsformal irrelevante inhaltliche Wert – die dem Handlungsmuster zugrunde liegende Intention.346 Die erste notwendige Grundbedingung einer allgemeinen Billigung ist demnach, dass mit der Verhaltensgleichförmigkeit die Verfolgung einer spezifischen Wertvorstellung verbunden ist, die nicht deckungsgleich mit der strafrechtlich missbilligten Verletzung eines Rechtsgutes ist. Hierbei ist zu präzisieren: Wie schon der Umstand, dass nicht einzelne Verhaltensweisen an sich Gegenstand der allgemeinen Billigung sind, sondern die sie jeweils umfassenden Verhaltensmuster, so sind stringenterweise nicht diejenigen Wertvorstellungen unmittelbar entscheidend, die mit der einzelnen Handlung verfolgt werden. Stattdessen kommt es darauf an, dass die Intention des konkreten Täters auf die Verwirklichung gerade derjenigen Werte gerichtet ist, die der zugehörige gesellschaftliche Teilbereich mit dem Verhaltensmuster verbindet. Für die soziale AdäACHTUNGREquanz eines Verhaltens müssen mit anderen Worten die einem Handlungsmuster inhärenten Wertvorstellungen einer sozialen Gruppe gebilligt werden. Wovon also hängt die Billigung der Wertvorstellungen eines sozialen Teils durch den (zumindest) überwiegenden Teil des sozial Ganzen (scil. der Allgemeinheit) ab? Um gegenüber dem formellen Unrechtsvorwurf vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Rechtsgutsverletzung derogierende Wirkung entfalten zu können, muss die verfolgte Wertvorstellung zunächst ein dominantes Handlungsmotiv sein, d. h. die Verhaltensgleichförmigkeit wesentlich prägen.347 345
Vgl. Berz, GA 1969, S. 145 ff. (S. 147); Roxin, JuS 1964, S. 373 ff. (S. 379). Dies ist auch der Grund, weshalb einige Autoren – zu weitgehend (s. oben) – die Anwendung der Sozialadäquanzlehre auf die Vorsatzdelikte generell ausschließen wollen: Etwa Dölling, ZStW 96 (1984), S. 36 ff. (S. 61); Kindhäuser, GA 141 (1994), S. 197 ff. (S. 198); Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (1969), S. 40. 346 Mit der Sozialadäquanz sollen maßgeblich die sozialen Überzeugungen gegenüber der formalrechtlichen Betrachtung in Ansatz gebracht werden (deutlich: Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre [1970], S. 267 ff.), so dass für die Frage nach der Billigung eines Verhaltensmusters entscheidend auf die mit diesem verfolgte Intention abgestellt werden muss. 347 Hassemer, wistra 1995, S. 41 ff. (S. 42) spricht von einem „,normalen Handlungssinn“.
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Nicht jede Vorstellung einer sozialen Gruppe, mit dem Handlungsmuster einen über die Rechtsverletzung hinausgehenden Wert zu verfolgen, wird von der Rechtsgemeinschaft gebilligt werden. Besonders deutlich geworden ist dies im Rahmen der Rechtsprechung zu den sog. Ehrenmorden: Der Tötung eines Angehörigen der eigenen oder einer fremden Familie zum Zwecke der Wiederherstellung der für gekränkt empfundenen Familienehre. Obgleich der Begriff „Ehrenmord“ auf eine musterprägende Typizität verweist – tödliche Reaktion auf ein ehrverletzendes Verhalten, welches in aller Regel in der Aufnahme und Unterhaltung einer außerehelichen geschlechtlichen Beziehung348 gesehen wird – und eben dieses Verhaltensmuster eine über die unmittelbare Rechtsgutsverletzung „Leben“ hinausgehende Motivation in Form der intendierten Ehrrestitution aufweist, wurde in den Ehrenmord-Fällen die Sozialadäquanz niemals auch nur in Erwägung gezogen. Zu entscheiden hatten die Gerichte stattdessen, ob die fremden soziokulturellen (Ehr-)Vorstellungen349 von der Rechtgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland zu billigen sind, oder ob solche Vorstellungen als schlechthin verwerflich, d. h. als niedrige Beweggründe und die Tötungen daher als Mord gem. § 211 Abs. 2 StGB zu bewerten sind.350 Während der BGH zunächst dafür optierte, „die besonderen Anschauungen und Wertvorstellungen, denen die Täter wegen ihrer Bindung an eine fremde Kultur verhaftet sind, nicht außer Betracht [zu lassen]“351, judiziert er seit 1994: „Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen […] und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt“352.
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Unter dem Terminus „Ehrenmord“ firmieren auch Morde infolge beleidigender Äußerungen (s. BGH, NStZ 2006, 284 [griechisches Schimpfwort „Malaka“]) oder ähnlich als beleidigend empfundener Verhaltensweisen (bspw. BGH, NJW 2004, 1466 [Ehefrau, die den Weisungen des Mannes nicht ,gehorcht]). 349 Zwar gilt z. B. seit dem 01. 06. 2005 die Tötung aus Gründen der „Sitte“ in der Türkei als Mord gem. § 82 lit. k TStGB (Text bei Göztepe, EuGRZ 35 [2008], S. 16 ff. [S. 20 in Fußn. 29]) – zuvor wendete die Rspr. auf solche Fälle die Milderungsvorschrift § 51 TStGB an (ebd., S. 19) – jedoch wird der soziale Wertcharakter solchen Verhaltens durch dessen strafrechtliches Verdikt nicht notwendig in Frage gestellt: Vgl. BGH, NJW 2004, 1466 (1467) [es wird auf die in der Heimat „gelebten Anschauungen“ abgestellt]; BGH, JZ 1980, 238 = NJW 1980, 537 [es wird auf den „sozialen Zwang zur Tötung“ abgestellt]; a.A. wohl BGH, NStZ-RR 2004, 361 (362) mit seiner Rüge: „Im Übrigen ist weder festgestellt, dass eine entsprechende Tat nach pakistanischem Recht gerechtfertigt wäre noch milder beurteilt würde“. 350 Niedrig sind Beweggründe, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verwerflich sind (stRspr.): BGH, NStZ 2004, 34 (34); vgl. auch BGHSt 3, 132 (133); 50, 1 (8); Kühl, StGB (2007), § 211 Rdnr. 5 m.w.N. 351 BGH, JZ 1980, 238 = NJW 1980, 537 m.w.N.; zust. Köhler, JZ 1980, S. 238 ff. 352 BGH, NJW 1995, 602 (602); BGH, NStZ 2002, 369 (370); BGH, NJW 2004, 1466 (1467); BGH, NStZ 2006, 284 (285). s. auch BGHSt 4, 1 (5): „Naturgemäß darf der Täter nicht solche Wertvorstellungen von Recht und Unrecht zugrunde legen, die einem fremden Kulturkreis angehören […], sondern nur diejenigen, die seine Rechtgemeinschaft anerkennt, d. h. die ACHTUNGREGemeinschaft, in der er lebt“. Vgl. zust. Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 211
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Fremde kulturelle Vorstellungen finden in der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland nach der zutreffenden Ansicht des BGH jedoch nicht erst dann und deshalb keine Billigung, weil diejenige soziale Gruppe, welche für diese Vorstellungen eintritt, die Werte der bundesdeutschen Gemeinschaft ablehnt; sondern verweigert wird die Billigung solcher Vorstellungen aufgrund einer petitio principii. Der Maßstab des deutschen Strafrechts ist ausschließlich an den in der Bundesrepublik Deutschland anerkannten Wertvorstellungen orientiert. Eine Billigung durch die Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland wird den Anschauungen einer Volksgruppe demnach immer dann verweigert bleiben müssen, wenn zwischen den Anschauungen ersterer und dem Wertekanon der die fragliche Handlung ausübenden Gemeinschaft keine innere Verbindung oder gar eine Rivalität besteht.353 Über die Verwerflichkeit eines Beweggrundes entscheidet auf diese Weise der Blick auf die innere Verbindung der handlungsinhärenten Wertvorstellung mit den in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschenden Wertanschauungen.354 Folglich werden stringenterweise auch im Rahmen der Sozialadäquanz nur solche Vorstellungen sozialer Gruppen einer allgemeinen Billigung begegnen können, die einen spezifischen Bezug zu den Überzeugungen der hiesigen Rechtsgemeinschaft aufweisen. Mit dem Terminus der „fremden kulturellen Vorstellungen“ ist der Maßstab benannt, anhand dessen über die allgemeine Billigung des dem fraglichen Verhalten zugehörigen Handlungstypus zu entscheiden ist. Die mit dem Handlungsmuster verfolgten Wertvorstellungen müssen mit den kulturellen Überzeugungen hiesiger Provenienz kompatibel, und d. h., sie müssen letztlich selbst Bestandteil und Ausdruck der in der Bundesrepublik Deutschland vorfindbaren kulturellen Überzeugungen sein. Mit „Kultur“ ist an dieser Stelle die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Gesellschaft einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung im Sinne von Wissen, internalisierten Werten sowie Sinndeutungen bezeichnet. „Kultur“ ist die Gesamtheit des materiellen und ideellen sozialen Erbes, bestehend aus dem Wissen, den Werten, den Glaubensvorstellungen sowie den Lebensformen einer Bevölkerung in einem geschichtlich und regional abgrenzbaren Raum.355 Hierbei impliziert die Rdnr. 18 m.w.N.; Fabricius, StV 1996, S. 209 ff. (S. 210); Hilgendorf, JZ 2009, S. 139 ff. (S. 141); Saliger, StV 2003, S. 22 ff. [samt Übersicht zur Entwicklung der Rspr.]. 353 BGH, NJW 2004, 1466 (1467) stellt auf die Verbindung der Anschauungen der Gruppe mit den Werten der bundesdeutschen Gemeinschaft ab; Fabricius, StV 1996, S. 209 ff. (S. 210); Momsen, NStZ 2003, S. 237 ff. (S. 238). 354 Zusätzlich wird auf die Fähigkeit der Täters abgestellt, die Umstände, welche die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, subjektiv nachzuvollziehen: BGH, NStZ 2006, 284 (285); BGH, NStZ-RR 2004, 361 (362); BGH, NJW 1995, 602 (603); Momsen, NStZ 2003, S. 237 ff. (S. 238). 355 So der Autor (T.E.) als Synthesevorschlag aus der Schnittmenge diverser Definitionsvorschläge für diesen Begriff: Gebhardt, in: Fröhlich, Kultur – Ein interdisziplinäres Kolloquium (2000), S. 179 ff. (S. 182 ff.); Hilgendorf, JZ 2009, S. 139 ff. (S. 140); Hillmann, Wörterbuch der Soziologie (2007), S. 471 f. (S. 472); Schäfers/Scherr/Klein, Jugendsoziologie (2005), S. 198 ff. (S. 198); Naucke, Der Kulturbegriff in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2000), S. 5 f. [insbes. bzgl. Kulturbegriff in der Rspr. des BVerfG]; Bernsdorf/ Mühlmann, Wörterbuch der Soziologie (1969), S. 598 ff. (S. 598); Reinhold/Lamnek/Recker,
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kulturkonstituierende „Gesamtheit der Geistesverfassung“ freilich keinesfalls notwendig eine in sich geschlossene Ganzheit. Vielmehr schließt die Kultur auch bzw. nachgerade begrenzte Geltungsbereiche in sich, so dass im Wege der Differenzierung von Kulturbereichen durchaus funktionsspezifische gesellschaftliche Subsysteme wie z. B. die Wirtschaft, die Politik, die Sitte usw. ausgebildet werden können.356 Zur Kultur zählen überdies nicht nur die Lebensformen und Geistesverfassungen, die auf alle Gesellschaftsmitglieder in gleichem Maße Einfluss hätten, sondern ebenso die tradierten Vorstellungen gesellschaftlicher Teilbereiche (sog. kultureller Pluralismus). Paradigma für die Art und Weise des Zusammenspiels von kulturellem Sub- und Gesamtsystem sind die angesprochenen Beispielsfälle anerkannt sozialadäquaten Verhaltens, wie etwa der Maibaumdiebstahl oder die beförderungsbedingten Freiheitsberaubungen: Die „Entführung“ eines Maibaums ist ein Volksbrauch, der aufgrund seiner bloß lokalen Verbreitung zwar nicht von allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen ausgeübt wird, als Brauch jedoch gleichwohl Ausdruck internalisierter Wertvorstellungen nicht nur der ausübenden sozialen Gruppe, sondern integraler Bestandteil der historisch gewachsenen und geformten sozialen Lebensformen der in sich differenzierten Gesamtgesellschaft ist. Solche Verhaltensweisen werden oftmals mit dem positiv konnotierten Begriff des Lokalkolorits belegt. Strukturell Vergleichbares gilt für die tatbestandliche Freiheitsberaubung, bei der dem irrtümlich Zugestiegenen das Verlassen des Fernzuges entgegen seinem Willen erst am nächsten fahrplanmäßigen Halt und nicht sofort ermöglicht wird; wenn auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht dem Erfahrungsraum aller Mitglieder der Gesamtgesellschaft entspricht, so gehört es gleichwohl zum integralen Bestandteil der Sinndeutung der modernen Gesamtgesellschaft, Fortbewegung unabhängig von den Wünschen Einzelner prioritär auf Schnelligkeit und Reibungslosigkeit hin organisiert zu sehen; die im Beförderungswesen herrschenden Überzeugungen sind zugleich Bestandteil der gesamtgesellschaftlich vorherrschenden Geistesverfassung. Die einzelne (formale) Freiheitsberaubung ist sozialadäquat, weil sie in Verfolgung eines gesellschaftlich akzeptierten Wertes erfolgt. Nunmehr wird auch deutlich, was Welzel meint, wenn er just solche Verhaltensweisen für sozialadäquat erklärt, „die sich innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens bewegen“357. In jenen Ordnungen spiegeln sich die kulturellen Überzeugungen bzw. das gesellschaftliche Selbstverständnis wider. Verhaltensweisen, die nach kulturellen Überzeugungen eine Selbstverständlichkeit sind, Soziologielexikon (1992), S. 340 f. Einen Überblick über die Geschichte des Begriffspaars Recht und Kultur gibt Hofmann, JZ 2009, S. 1 ff. 356 Sog. kultureller Pluralismus: Hillmann, Wörterbuch der Soziologie (2007), S. 471 f. (S. 471); Schäfers/Scherr/Klein, Jugendsoziologie (2005), S. 198 ff. (S. 198); Bernsdorf/ Mühlmann, Wörterbuch der Soziologie (1969), S. 598 ff. (S. 599 f.). 357 Welzel, Strafrecht (1947), S. 35; Welzel, Strafrecht (1949), S. 36; ferner mit marginalen Abweichungen: Welzel, Strafrecht (1954), S. 62; Welzel, Strafrecht (1960), S. 76; Welzel, Strafrecht (1969), S. 55 f.
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werden von strafrechtlichen Vorschriften, unabhängig von derem Wortlaut, eo ipso nicht erfasst. Dieses der Sozialadäquanz inhärente Moment der Zwangsläufigkeit wird anhand ausbildungsbedingter militärischer Sonderübungen wiederum beispielhaft manifest: Wird ein Soldat von seinem Batteriechef wegen disziplinwidrigem Verhalten einer Sonderübung unterzogen und löst die Übung bei ihm eine mehrstündige Abgeschlagenheit aus, liegt hierin gleichwohl keine Behandlung, die gem. § 30 Abs. 1 WStG bzw. § 223 Abs. 1 StGB zu bestrafen wäre. Denn, so der BGH, „mutet ein Vorgesetzter im Rahmen seiner allgemeinen Befugnisse und zu Zwecken der Ausbildung, die […] auch die Erziehung zu diszipliniertem Verhalten umfaßt, einem Soldaten besondere Anstrengungen zu und verstößt er dabei nicht offensichtlich gegen gesetzliche Bestimmungen und rechtmäßige Dienstvorschriften und Befehle, so fehlt es an einer Misshandlung“358, obgleich das körperliche Wohlbefinden des Soldaten mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wurde.359 Wiederum gründet die Argumentation hier (sublim) darauf, dass die allgemeinen und nicht etwa die rechtlichen ACHTUNGREBefugnisse, kurzum die Sinndeutung von den Notwendigkeiten militärischer Ausbildung, zugleich Bestandteil der historisch gewordenen kulturkonstituierenden Überzeugungen der Gesamtgesellschaft sind – das Verhalten des Batteriechefs also letztlich sozialadäquat ist. Das Sozialadäquanzkriterium der allgemeinen Billigung knüpft maßgeblich an die Eigenschaft des Strafrechts an, als kulturelles Subsystem selbst Ausdruck der kollektiven Geistesverfassung der Kulturgemeinschaft zu sein360. Der strafrechtliche Rechtsgüterschutz muss stets vor dem Hintergrund dieser den Strafvorschriften zugrunde liegenden Sinndeutungen gelesen werden. Obwohl der Soldat im obigen Beispiel mit der Sonderübung einer Behandlung unterzogen wurde, die ihn dem Wortlaut des Rechts zufolge in einen von den normalen körperlichen Funktionen nachteilig ab358 BGHSt 14, 269 (271) = NJW 1960, 1477 (1478) m.w.N. – Hervorhebung durch den Autor: T.E. Die abl. Ansicht von Rittau, NJW 1960, S. 1480 [„es kann ernstlich nicht bestritten werden, dass durch ein auf Befehl ausgeführtes ,Gleitenlassen auf einem vom Pfützen bedeckten Erdboden die Würde des Menschen und seine körperliche Unversehrtheit angetastet werden“] legt offen, dass hier ein tatbestandsmäßiges Verhalten letztlich aus Gründen sozialer Adäquanz dem Tatbestand entzogen wird. – Die Auflösung dieses Falls über die Figur des erlaubten Risikos (Hardtung, JuS 2008, S. 864 ff. [S. 866]) überzeugt nicht; die verordnete Übung darf nach Ansicht der BGH nicht „offensichtlich gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen“ (BGH, a.a.O.), gründet aber gerade auf einer allgemeinen Befugnis, statt auf einer solchen rechtlicher Art (ebd.). 359 Insofern unzutreffend: Hardtung, JuS 2008, S. 864 ff. (S. 866). Im sog. Fall Coesfeld (dort wurden die Grenzen zulässiger Ausbildungsmaßnahmen überschritten) verortete der BGH die Frage nach der Sozialwidrigkeit(!) der Behandlung hingegen im Merkmal der Erheblichkeit der körperlichen Beeinträchtigung: BGH, NJW 2009, 1360 (1363 f.) – sozialadäquates Verhalten muss indes nicht notwendig ein geringfügiges Verhalten sein (s. oben unter dem Punkt „Sozialadäquanz und Geringfügigkeitsprinzip“). 360 Gephart, in: Bryde/Hoffmann-Riem, Rechtsproduktion und Rechtsbewusstsein (1988), S. 177 ff. (S. 198 f.); Schmidt, in: Lampe, Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein (1997), S. 429 ff. (S. 433 ff.); Zippelius, Rechtsphilosophie (2007), S. 51 f.; s. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 62 ff. mit seinem Hinweis, eine überstiegene Objektivierung des Rechts beraube es seines sozialintegrativen Sinnes (a.a.O., S. 70).
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
weichenden Zustand versetzt (scil. Misshandlung i.S.d. § 223 Abs. 1 StGB bzw. § 30 Abs. 1 WStG), widerspräche es dem historisch gewachsenen Selbstverständnis der Rechtsgemeinschaft, hier eine Körperverletzung anzunehmen. Gleiches gilt für die beförderungsbedingte Freiheitsberaubung, den Maibaumdiebstahl oder die medizinisch nicht indizierte Otoplastik – das Verdikt der Tatbestandsmäßigkeit widerspräche in all diesen Fällen dem „allgemeinen Rechtsbewusstsein“. Eben diesem Rechtsbewusstsein, d. h. der auf das Recht bezogenen Sinndeutung der Kultur-Gemeinschaft, kommt eine der Anwendung des Rechts vorausgehende Schlüsselposition zu, wie besonders deutlich an den sog. Sitzblockadeentscheidungen zu § 240 StGB361 oder etwa an dem Wandel in der verfassungsgerichtlichen Grundrechtsauffassung in den 1970er Jahren362 abgelesen werden kann.363 Den dort jeweils vollzogenen Richtungsänderungen ging stets ein Wandel in der gesellschaftlichen Geistesverfassung voraus. Die Bedeutung gesamtgesellschaftlicher Überzeugungen für die Anwendbarkeit strafrechtlicher Vorschriften lässt auch das BVerfG in einer seiner frühen Entscheidungen grundsätzlich anklingen.364 Ferner trug das BVerfG in seinen Entscheidungen zur Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs365 dem allgemeinen Rechtsbewusstsein, Schwangerschaftsabbrüche zuzulassen, letztlich ebenfalls Rechnung; wenngleich das Gericht dort bemüht war, mit dem Versagen einer Rechtfertigungslösung just ein allgemeines Rechtsbewusstsein gegen den Schwangerschaftsabbruch zu schaffen.366
361 BGHSt 23, 46 [„Laepple-Entscheidung“] und BVerfGE 73, 206; BGHSt 35, 270 [Nahund Fernziele bei § 240 Abs. 2 StGB] und BVerfGE 92, 1; BGHSt 41, 182 [„Zweite-ReiheEntscheidung“] und BVerfGE 104, 92. 362 Scil. der Wandel der Verfassungsinterpretation hin zum planenden und versorgenden Sozialstaat, wie er sich in der Entwicklung eines verfassungsrechtlich geschützten Zulassungsanspruchs zum Universitätsstudium in der sog. Numerus-clausus-Entscheidung des BVerfG niedergeschlagen hat (BVerfGE, 33, 303 [332 ff.]) – dazu: Wege, Positives Recht und sozialer Wandel (1977), S. 184 ff. 363 Treffend: Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 175 ff. Vgl. auch Larenz, Methodenlehre (1991), S. 433; Loening, Über Wurzel und Wesen des Rechts (1907), S. 25 ff. 364 Wenn es auch nach der damaligen gesamtgesellschaftlichen Geistesverfassung (in Form des sog. Sittengesetzes) im Ergebnis an der Strafbarkeit der streitgegenständlichen männlichen Homosexualität gem. § 175 a.F. StGB festhielt (BVerfGE 6, 389 [435 ff.]). 365 BVerfGE 39, 1 erklärte § 218a StGB in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts (BGBl. I, S. 1297) vom 19. 06. 1974 für nichtig, wonach binnen der ersten 12 Schwangerschaftswochen eine Abtreibung von einem Arzt straflos vorgenommen werden konnte (sog. Fristenlösung). Die um Indikationen ergänzte Fristenlösung mit Beratungspflicht, durch das „Gesetz zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs“ vom 27. 07. 1992 (BGBl. I, S. 1398), erklärte BVerfGE 88, 203 erneut für teilweise verfassungswidrig. 366 Gante, § 218 in der Diskussion (1991), S. 123 ff., 202 ff.; Heitzmann, Schwangerschaftsabbruch und Rechtsverständnis (2002), S. 14 f. – dass hinter dem Schwangerschaftsabbruch kein Unrechtsbewusstsein steht, betont selbst BVerfGE 88, 203 (263).
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Das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland ist als Manifestation der Überzeugungen der hiesigen Kulturgemeinschaft zu lesen. Aus diesem Grunde würde es ein unauflösbares Spannungsverhältnis begründen, Verhaltensweisen, in denen das kulturelle Selbstverständnis der Gemeinschaft ebenso zum Ausdruck kommt, mit einer strafrechtlichen Sanktion nur deshalb zu belegen, weil das Verhalten sich unter den abstrakt-generellen Wortlaut einer Strafvorschrift subsumieren ließe. Derartige Verhaltensweisen stattdessen den jeweiligen Strafvorschriften, unabhängig von Wortlaut oder Telos, von vornherein nicht unterfallen zu lassen, ist ein Gebot der logischen ACHTUNGREFolgerichtigkeit. Der Ausschluss kulturell anerkannten Verhaltens aus dem abstrakt-generellen Wortlaut strafrechtlicher Vorschriften erfolgt weder über das Mittel der Auslegung noch über das der Analogie oder der teleologischen Reduktion.367 Den abstrakt-generellen Gesetzesbegriffen liegt die Geistesverfassung der Kulturgemeinschaft voraus. Kulturell selbstverständliche Handlungsmuster sind von den sprachlichen Zeichen der Gesetzesnormen materialiter nicht umfasst, obgleich sie in formeller Hinsicht dem möglichen Bedeutungsgehalt eines Straftatmerkmals zugeordnet werden könnten. In den Worten der Sprachphilosophie ist sozialadäquates Verhalten mithin von der Extension, dem Umfang, nicht jedoch von der Intension, dem Sinn eines sprachlichen Zeichens, umfasst368 – freilich mit der Besonderheit, dass der Sinn (Telos) eines Ausdrucks hier kein bewusst beigegebener, sondern ein kulturell sublim vorausgesetzter ist. Für das zweite Sozialadäquanzkriterium, der allgemeinen Billigung, folgt hieraus, dass mit dem (den streitgegenständlichen Verhalten zugehörigen) Verhaltenstypus eine Wertüberzeugung verfolgt werden muss, die in der Geistesverfassung der Gesamtgesellschaft verwurzelt, d. h. als kulturell selbstverständlich akzeptiert ist.
367 Oben unter Teil 4, A. I. 2. „Teleologische Auslegung bzw. Reduktion statt SozialadäACHTUNGREquanz“. 368 Zu diesem Unterschied klassisch: Frege, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 100 (1892), S. 25 ff. (S. 27 ff.) mit seinem Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“, wonach Sinn dasjenige ist, was „von jedem erfaßt wird, der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt“ (a.a.O., S. 27) und Bedeutung eines Begriffs „der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen“ (a.a.O., S. 30); eine umfassende Auseinandersetzung v. a. bzgl. einer symbolischen Kalkülsprache hat Carnap vorgelegt (dazu Kubczak, Das Verhältnis von Intension und Extension [1975], S. 16 ff.; von Kutschera, Sprachphilosophie [1975], S. 66 ff.). Vgl. zu Ursprung und Entwicklung dieses Unterschieds Hamacher-Hermes, Inhaltsoder Umfangslogik (1994), S. 21 ff. – treffend charakterisieren als Aufgabe der Sozialadäquanz Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, StGB (2006), Vorbem §§ 13 ff. Rdnr. 70: „Verhaltensweisen ausscheiden zu können, die zwar vom Wortlaut eines Tatbestandes umfasst sind, von diesem jedoch sinnvollerweise nicht gemeint sein können“; Wolski, GA 133 (1987), S. 527 ff. (S. 533 f.) weist ausdrücklich auf die Differenz von Bedeutungsinhalt und -umfang hin.
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c) Geschichtliche Üblichkeit Mit dem o.g. Begriff der Kultur wurde bereits angedeutet, über die SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre nicht jeder gesellschaftskulturellen Mode im Strafrecht Geltung zu verschaffen. Ein folgenreicher Verzicht auf die Garantien der Rechtssicherheit sowie auf die Ordnung der Rechtsgemeinschaft (sog. Rechtseinheit) wäre die Folge, würde ein Geschehen anhand ihn kennzeichnender Einzelumstände anstatt anhand einzelfallunabhängiger Wertungsgesichtspunkte gemessen werden.369 Obgleich die Eigenheiten des Einzelfalls bei dessen rechtlicher Bewertung niemals außer Acht gelassen werden dürfen, sind und bleiben die entscheidungsrelevanten Kriterien stets solche, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit beanspruchen können müssen. Dieser Funktionsmodus soll auch dem Anliegen der Sozialadäquanzlehre gemäß geachtet werden. Welzel ist nicht daran gelegen, das Recht den dynamischen Kräften unbeständiger sozialer Anschauungen auszusetzen. Berücksichtigung im Recht sollen allein die „geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens“370 finden; „Sozialadäquanz“ kann nur denjenigen tatbestandlichen Verhaltensweisen attestiert werden, die eine historisch verfestigte Üblichkeit aufweisen. Das Merkmal der Üblichkeit steht zu den beiden bereits abgehandelten Erfordernissen der Welzelschen Rechtsfigur in einem überaus engen Näheverhältnis. Bereits die Etablierung eines erwartbaren Handlungsmusters, dem das fragliche Verhalten für dessen Unauffälligkeit zurechenbar sein muss, erfordert eine gewisse zeitliche Kontinuität der musterkonstituierenden Verhaltensweisen. Gleiches gilt für das Sozialadäquanzmerkmal der allgemeinen Billigung: Mit dem Erfordernis der Verfolgung einer Wertvorstellung, die Bestandteil der hiesigen gesamtgesellschaftlichen Geistesverfassung ist, werden Überzeugungen der Kulturgemeinschaft vorausgesetzt, die durch kurzfristige Gesellschaftstrends kaum begründet werden können. Temporäre Strömungen und schlichte Moden sind somit aus dem Anwendungsbereich der Sozialadäquanz ausgeschieden, ohne dass es noch eines Rekurses auf ein weiteres Merkmal der geschichtlichen Üblichkeit bedürfte. Die eigenständige Bedeutung dieses dritten Sozialadäquanzmerkmals kann darum allein darin bestehen, dem Anwendungsbereich der Sozialadäquanzlehre darüber hinausgehend selbst solche Verhaltensweisen zu entziehen, in denen sich kulturell durchaus verfestigte Muster und anerkannte Überzeugungen manifestieren, denen jedoch gleichwohl ein spezifisches Maß an Beständigkeit und Stabilität fehlt. Allein den geschichtlich gewordenen, tief in der Gesellschaft verankerten Vorstellungen soll mit der Lehre entgegen dem Wortlaut des Rechts zur Geltung verholfen werden. Erst durch dieses Merkmal 369 Hierauf weisen zu Recht z. B. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 42 f.; Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 100 hin. 370 Welzel, Strafrecht (1947), S. 35 – Hervorhebung durch den Autor: T.E.; vgl. Welzel, Strafrecht (1969), S. 55. Ebenso: Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht (2002), Rdnr. 104; Fischer, StGB (2008), Vor § 32 Rdnr. 12; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 251. Ähnlich OLG Hamm, NJW-RR 2002, 90 (91): „Handlungen, die sich völlig innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftswesens bewegen und von ihr gestattet werden“; vgl. auch Kühl, StGB (2007), Vor § 32 Rdnr. 29.
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der geschichtlichen Üblichkeit wird mithin die Vereinbarkeit der Welzelschen Lehre mit den Forderungen der Rechtssicherheit und -einheit sichergestellt. Veranschaulichen lässt sich die Funktion des Merkmals der Üblichkeit an den Körpermodifikationen in Form auffälliger Tattoos und Piercings, die ohne weiteres als typische Erscheinungsformen der modernen Jugendkultur371 zu einem erwartbaren Handlungsmuster gezählt werden können. Durch das Stechen eines Tattoos oder Piercings wird die körperliche Unversehrtheit gem. § 223 StGB verletzt. Und zumindest in denjenigen Fällen, in denen der Jugendliche mangels Reife nicht über die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügt, die Bedeutung und Tragweite dieser Verletzung der Körperintegrität zu erfassen, also selbst (noch) außerstande ist, wirksam in den Eingriff einzuwilligen,372 käme auch eine Rechtfertigung dieses Eingriffs über eine Einwilligung seitens der Erziehungsberechtigten nicht in Betracht. Der Eingriff steht aufgrund des Fehlens einer medizinischen Indikation oder wenigstens einer ärztlichen Sinnhaftigkeit im Widerspruch zum Wohl des Jugendlichen, vgl. §§ 1626, 1631 BGB. Abgewendet werden könnte der Vorwurf einer tatbestandlichen Körperverletzung damit allenfalls durch die Einordnung des Tätowierens bzw. Piercens als sozialadäquates Verhalten. Da diese Körpermodifikationen aufgrund ihres musterprägenden Vorkommens ein erwartbares Handlungsmuster konstituieren, erregen sie sozial kein weiteres Aufsehen. Ferner ist mit diesen Körpereingriffen ebenfalls eine über die unmittelbare Körperverletzung hinausgehende Wertvorstellung verbunden, die allgemeiner Billigung begegnet. Zweck dieser Modifikationen ist, den Körper mit einer Zeichenhaftigkeit zu versehen, die dem jugendbedingten373 Mitteilungsund Inszenierungsbedürfnis Ausdruck verleiht. Handlungsleitend ist nicht die Verletzung des Körpers, sondern die Schaffung eines neuen Körperbildes, mit welchem entweder eine deutliche und identitätsstiftende Grenze zwischen dem Ich und der Welt gezogen und/oder ein Symbol für die Zugehörigkeit zu einer (Jugend-)Gruppe samt ihren Beziehungen, Wahrnehmungen und Aktivitäten geschaffen werden soll.374 Jugendliche Selbstinszenierung und Selbsterprobung ist ein in diesem Rahmen von der 371 So expressis verbis Breyvogel, Eine Einführung in Jugendkulturen (2005), S. 165 ff. oder etwa Hafeneger, Jugendkulturelle Modernisierung (2003), S. 29 ff. 372 BGHSt 12, 379 (382 f.); Ebert, AT (2001), S. 87; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB (2006), Vorbem §§ 32 ff. Rdnr. 40 verneint die Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger selbst bei Heilbehandlungen grundsätzlich. In der Gesetzgebung wurde zudem beraten, ärztliche Heilbehandlungen infolge von Piercing und Tätowierung als Ausschlussgrund für Krankenkassenleistungen festzulegen (S. BT-Drucks. 16/7439, S. 31) – s. inzwischen § 294a Abs. 2 i.V.m. § 52 Abs. 2 SGB V i. d. F. 25. 05. 2008 (BGBl. I, S. 874). 373 Der Begriff der Jugend bezeichnet die Entwicklungsphase zwischen der Geschlechtsreife und dem Eintritt in das Erwachsenenalter, d. h. die etwa 13- bis 25-Jährigen: Hillmann, Wörterbuch der Soziologie (2007), S. 405; Luig/Seebode, Ethnologie der Jugend (2003), S. 10; Schäfers/Scherr, Jugendsoziologie (2005), S. 17 ff.; Wurzbacher, in: Reimann/Reimann, Die Jugend (1987), S. 28 ff. (S. 28 f.). In den modernen Gesellschaften hat die Anerkennung der Besonderheiten dieses Zeitraums die Bedeutung von Initiationsriten hinfällig gemacht: Schäfers/Schäfers, Grundbegriffe der Soziologie (2003), S. 160 ff. (S. 161). 374 Vgl. dazu insgesamt Breyvogel, Eine Einführung in Jugendkulturen (2005), S. 165 ff. oder Hafeneger, Jugendkulturelle Modernisierung (2003), S. 29 ff.
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Rechtsgemeinschaft akzeptiertes, wenn nicht gar gewolltes Verhalten.375 Dennoch stellen solche Modifikationen trotz ihrer Musterhaftigkeit und trotz des Umstandes, dass sie aufgrund ihrer kulturellen Verankerung durchaus mit einer allgemeinen Billigung rechnen können (die beiden ersten Kriterien der Welzelschen Lehre sind also einschlägig), kein sozialadäquates Verhalten dar. Denn jene Verankerung der allgemein gebilligten (jugend-)kulturellen Vorstellungen in der Geistesverfassung der Gesamtgesellschaft ist hier nicht hinreichend gefestigt, um die Prävalenz der mit dem Eingriff verbundenen sozialen Anschauungen gegenüber dem Wortlaut des § 223 StGB begründen zu können. Jugendkulturelle Lebensstile sind durch eine schnelle Wandelbarkeit und eine hohe Variabilität gekennzeichnet.376 Schon der Blick auf den Wandel jugendkultureller Überzeugungen seit den 1980er Jahren, weg von in sich geschlossenen gesellschaftlichen Gegenentwürfen bzgl. der jeweils vorherrschenden Ordnung der Öffentlichkeit hin zu einer zunehmend polymorphen Freizeitorientierung,377 offenbart den Mangel an Festigkeit. Die angesprochenen Körpermodifikationen selbst sind erst seit den frühen 1990er Jahren eine verbreitete Ausdrucksform der jugendkulturellen Eigenwelt378. Von einer geschichtlich verfestigten Üblichkeit solcher Verhaltensweisen kann folglich kaum die Rede sein. Die richterliche Gesetzesbindung gem. Art. 20 Abs. 1 sowie Art. 97 Abs. 1 GG verbietet den Gerichten, das Recht – selbst zu Gunsten des Angeklagten – durch Urteile den sich beständig wandelnden sozialen Anschauungen gleichsam anzupassen.379 Rechtssicherheit und Verlässlichkeit des Rechts verbieten, gesetzliche Vorschriften fortzubilden, indem an die Stelle der rechtsmethodisch zu ermittelnden gesetzlich verfestigten Werte die Anschauungen des jeweils herrschenden Zeitgeistes gesetzt werden.380 Die (kritische) Kenntnisnahme sozialer Strömungen, Meinungen sowie Stellungnahmen seitens einer um die gesellschaftliche Wirklichkeit wissenden Rechtsprechung nivelliert keinesfalls die sachliche Unabhängigkeit der Richter ge-
375 Zur Bedeutung des wachsenden Selbstbestimmungsrechts Jugendlicher gegenüber elterlichen Erziehungshandlungen vgl. oben Teil 3, C. II. „Abwägung der betroffenen Rechtsinteressen“. 376 Hafeneger, Jugendkulturelle Modernisierung (2003), S. 20 f.; Hillmann, Wörterbuch der Soziologie (2007), S. 406. 377 Pfaff, Jugendkultur und Politisierung (2006), S. 39. Einen dezidierten Überblick über den geschichtlichen Wandel der Jugendkulturen von den Bünden der Wandervögel bis zur Acid House- und Techno-Kultur liefert Breyvogel, Eine Einführung in Jugendkulturen (2005), S. 9 ff. 378 Vgl. hinsichtlich des Tattoos insbes. Atkinson, Tattooed (2003), S. 3 ff.; Pitts, In the Flesh (2003) spricht gar von einer seit den 1990er Jahren feststellbaren „tattoo renaissance“ (a.a.O., S. 3). 379 BVerfGE 69, 315 (371 f.) m.w.N.; Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 163; vgl. Rüthers, Rechtstheorie (2007), Rdnr. 991. Eine Anpassung zum Nachteil des Angeklagten wird zudem von Art. 103 Abs. 2 GG ausgeschlossen. 380 Vgl. BVerfGE 34, 269 (280); 75, 223 (243 f.); Badura, Staatsrecht (2003), Abschn. D Rdnrn. 60 f.; von Mangoldt/Klein/Classen, GG III (2005), Art. 97 Rdnr. 14.
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genüber Versuchen gesellschaftlicher Einflussnahme.381 Obgleich die Lehre Welzels vom klassischen Repertoire juristischer Auslegungsmethodik verschieden ist, gilt auch für sie, diesem Umstand im Anforderungsprofil des Sozialadäquanzmerkmals der Üblichkeit angemessen Berücksichtigung finden zu lassen. Bereits im Rahmen der Erörterung des Merkmals „sozial unauffällig“ hat sich ACHTUNGREherausgestellt, dass es Welzel keinesfalls darum geht, beliebige gesellschaftliche Anschauungen in das Strafrecht einzubeziehen, als vielmehr den, allen Gesetzesbegriffen inhärenten Selbstverständlichkeiten zur Geltung zu verhelfen: „Der Unrechtscharakter der Tatbestände ist […] stets nur durch Bezugnahme auf die sittlichen Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens zu verstehen“382. Das Merkmal der Üblichkeit ergänzt das der allgemeinen Billigung. Bei der Anwendung des Rechts ist das den Gesetzesbegriffen voraus bzw. zugrunde liegende Selbstverständnis der Kulturgemeinschaft zu berücksichtigen – und zwar unabhängig davon, ob es in Wortlaut oder Telos des Gesetzes Niederschlag gefunden hat. Von kulturellem Selbstverständnis kann indes erst dort die Rede sein, wo die sozialen Anschauungen dem Kernbereich der Geistesverfassung einer Gemeinschaft zurechenbar sind. Denn nur was sich als integraler Bestandteil der tradierten Überzeugungen der Kulturgemeinschaft erweist, wird den Gesetzgeber zu keiner expliziten Klarstellung (im Sinne begrifflicher Tatbestandsausnahmen o. ä.) veranlassen. Kulturell selbstverständliche Verhaltensweisen sind von den verwendeten Gesetzesbegriffen ohne zusätzliche Klarstellung, also von vornherein, nicht umfasst; Selbstverständliches bedarf keiner Erwähnung. Eben dieses Selbstverständnis fordert die „Üblichkeit“ für die soziale Adäquanz eines Verhaltens nun ein. Erst wenn in der streitgegenständlichen Verhaltensweise eine dem Zentralbestand kultureller Überzeugungen zurechenbare Wertvorstellung zum Ausdruck kommt, ist ein Abweichen vom (formell) einschlägigen Wortlaut eines Straftatbestandes gerechtfertigt. Das Verhaltensmuster, dem das fragliche Verhalten angehört, muss den geschichtlich verfestigten Ordnungen des tätigen Gemeinschaftslebens entsprechen. Die „geschichtliche Üblichkeit“ anerkennt ausschließlich diejenigen Verhaltensweisen für sozialadäquat, die dem historisch gewordenen Tiefenbewusstsein der Rechtsgemeinschaft angehören. Das oben genannte Beispiel der beförderungsbedingten Freiheitsberaubung irrtümlich zugestiegener Fahrgäste erfüllt diese Zugehörigkeitsbedingung. Die Schnelligkeit und Reibungslosigkeit öffentlicher Beförderung, um deren Willen die Freiheitsberaubung vorgenommen wird, sind prägender 381
Papier, NJW 2001, S. 1089 ff. (S. 1091); Jarass/Pieroth, GG (2007), Art. 97 Rdnr. 9; Dreier/Schulze-Fielitz, GG III (2008), Art. 97 Rdnr. 45; Sendler, NJW 2001, S. 1909 ff. (S. 1910 f.). 382 Welzel, Strafrecht (1947), S. 35; Welzel, Strafrecht (1949), S. 36. Anschaulich formuliert Welzel in der 11. Aufl. seines Lehrbuchs: „In den Tatbeständen offenbart sich die soziale und zugleich die geschichtliche Natur des Strafrechts“ (Welzel, Strafrecht [1969], S. 55 – Hervorhebungen im Orig. gesperrt gedr.). Ein Anspruch, der mit den klassischen Methodeninstrumenten nicht eingelöst werden kann: s. oben „Teleologische Auslegung bzw. Reduktion statt Sozialadäquanz?“.
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Bestandteil der auf Mobilität angelegten gewachsenen Gesellschaft der Moderne. Eine Gesellschaft, die um der individuellen Freiheit willen, irrtümlich zugestiegenen Fahrgästen zugesteht, das Verkehrsmittel an jedem beliebigen Ort wieder zu verlassen, würde ihr Mobilitätsstreben gefährden. Mit anderen Worten, die allgemeine Billigung solcher „Freiheitsberaubungen“ gehört nicht zu den bloßen, sondern zu den wesentlichen kulturellen Überzeugungen. Die geschichtliche Üblichkeit verlangt mithin, dass in dem zu untersuchenden Verhalten eine dem Kerngehalt der kulturellen Geistesverfassung zugehörige Vorstellung zum Ausdruck gelangt. Geschichtlich üblich sind allein solche Verhaltensweisen, die integraler Bestandteil des hiesigen Gemeinschaftslebens sind.
III. Sozialadäquanz als Rechtsfigur Nachdem die inhaltlichen Anforderungen der Sozialadäquanzlehre nunmehr herausgearbeitet sind, ist auf das in der eingangs zugrunde gelegten Sozialadäquanzformel genannte Merkmal zurückzukommen, wonach ein sozial adäquates Verhalten immer auch ein solches zu sein habe, das sich im „Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit“ bewege.383 Verwiesen wird damit auf die Frage, ob es sich bei der Welzelschen Lehre um eine empirische, weil auf die soziale Wirklichkeit ausgerichtete Kategorie handelt oder doch eher um einen normativen Begriff, der seine Grenze entsprechend in einem rechtlich zu ermittelnden Konzept der sozialen Handlungsfreiheit (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG) findet. Zwar ist sowohl die Frage nach der sozialen Unauffälligkeit eines streitgegenständlichen Verhaltens, d. h. der Einfügung desselben in ein erwartungsfähiges Handlungsmuster, als auch der Nachweis seiner geschichtlichen Üblichkeit fraglos nur empirisch mit Blick auf eine konstituierende Merkmalstypik bzw. auf das tatsächliche historische Herkommen zu bestimmen. Nicht ohne weiteres ersichtlich ist jedoch, ob das verbleibende Voraussetzungselement sozialadäquaten Verhaltens, das Merkmal der „allgemeinen Billigung“, ebenfalls rein empirisch oder doch vielmehr normativ resp. wenigstens unter Berücksichtigung rechtlicher Wertungsentscheidungen zu bestimmen ist. Nachfolgend ist daher zunächst auf den Charakter der Sozialadäquanzlehre einzugehen. Sodann ist nach dem Verhältnis der Lehre im Gefüge der Gesamtrechtsordnung (Stichwort: Einheit der Rechtsordnung) zu fragen. 1. Soziale Adäquanz – Eine normative oder empirische Kategorie? A limine ausgeschlossen ist, den genannten Vorbehalt des „Rahmens der sozialen Handlungsfreiheit“ rein rechtlich auszudefinieren und die Sozialadäquanzlehre auf diese Weise rein normativ zu interpretieren. Gliche es doch einem circulus vitiosus, mit der Sozialadäquanzlehre im Rahmen des strafrechtlichen Bewertungsvorgangs zunächst Berücksichtigung für die auf das streitgegenständliche Verhalten bezogenen 383
So BGHSt 23, 226 (228).
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außerrechtlichen Anschauungen einzufordern, sogleich jedoch jene zu berücksichtigenden Anschauungen den Maßstäben des positiven Rechts unterordnen zu wollen. Eine strikte Rückkoppelung der Sozialadäquanzlehre im Sinne einer rechtlichen Richtigkeitskontrolle darüber, welche spezifisch außerrechtlichen Umstände in der strafrechtlichen Wertung Berücksichtigung erlangen können sollen, hieße, letztlich allein ins Recht übersetzbare Umstände Berücksichtigung finden zu lassen. Mit einem solchen Anforderungsprofil könnten wahrhaft außerrechtliche Umstände keine rechtliche Beachtung mehr finden, wodurch das Anliegen der Sozialadäquanzlehre selbstwidersprüchlich werden würde. Dass es der Rechtsprechung mit dem verwendeten Begriff der sozialen Handlungsfreiheit, innerhalb derer sich sozialadäquates Verhalten zu bewegen habe, gerade nicht auf eine rein normativ verstandene Eingrenzung ankommt, darauf verweist das Prädikat „sozial“, mit dem jene Eingrenzung näher gekennzeichnet wird. Denn offensichtlich wird hier die allgemeine Handlungsfreiheit, die konsequenterweise die verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 2 Abs. 1 GG384 in Bezug nehmen würde, nicht in Anspruch genommen. Wäre dies gewollt, hätten die Strafgerichte wohl ausdrücklich von „allgemeiner Handlungsfreiheit“ als Grenze sozialadäquaten Verhaltens gesprochen. Ginge es der Rechtsprechung nun aber tatsächlich darum, über die Sozialadäquanzlehre ausschließlich solche Verhaltensweisen im strafrechtlichen Wertungsprozess Berücksichtigung finden zu lassen, die Ausdruck der „allgemeinen Handlungsfreiheit“ sind, so bedürfte es hierfür keiner gesonderten Sozialadäquanzlehre. Die mit der allgemeinen Handlungsfreiheit einhergehenden verfassungsrechtlichen Wertungen können im Strafrecht vielmehr schon Wege der (verfassungskonformen) Auslegung der Strafvorschriften bzw. u. U. als besondere Formen der Rechtfertigung oder Entschuldigung Berücksichtigung finden.385 Überlegungen zur Sozialadäquanz wären sodann überflüssig. Ist die Sozialadäquanzlehre darum im Umkehrschluss eine rein empirische Kategorie? Diese Frage zu stellen, heißt, sie zu verneinen. Einem Rechtsinstitut der Sozialadäquanz kann es schon sachlogisch nicht darum gehen, ein Verhalten in Entgegnung des an ihm anknüpfenden normativen Verdikts für sozialadäquat zu erklären, indem auf eine schlicht tatsächliche – etwa mittels Bevölkerungsbefragung zu ermittelnden – Billigung abgestellt wird. Die rechtliche Beurteilung eines Verhaltens von einer empirisch zu ermittelnden Anschauung der Rechtsgemeinschaft abhängig zu machen, hieße, die Einschlägigkeit eines rechtlichen Sollenssatzes anhand tatsächli-
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BVerfGE 80, 137 [Reiten im Walde]; s. auch Duttge, NJW 1997, S. 3353 ff. (insbes. S. 3354). 385 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205 ff.) [Lüth]; exempl. BVerfG, NJW 1987, 43 (49) [Verwerflichkeit i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB] oder Küper, NStZ 2008, S. 597 ff. [§ 142 StGB – „entschuldigt vom Unfallort entfernt“]. Übersicht zur Diskussion, inwiefern Grundrechte tatbestandsmäßiges Verhalten rechtfertigen können bei Kühl, StGB (2007), Vor § 32 Rdnr. 28 m.w.N. Zur entschuldigenden Wirkung von Grundrechten: Roxin, AT I (2006), § 22 Rdnrn. 100 ff.; Übersicht zur Frage der Straftat aufgrund einer Gewissensentscheidung bei Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 505 f.
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
cher Seinverhältnisse entscheiden zu wollen386, d. h. die Idee des Rechts (scil. von der kontrafaktischen Verhaltenssteuerung) in ihrem Kern zu desavourieren. Darüber, ob ein Verhalten den Tatbestand eines Rechtssatzes verwirklicht oder nicht, haben nicht die Wertvorstellungen der Gesellschaft zu befinden. Gem. Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut, und diese sind allein dem Gesetz verpflichtet, Art. 97 Abs. 1 GG. Wie angesichts eines solchen Ausgangsbefundes der Charakter und mit ihm die Merkmale einer Sozialadäquanzlehre zu fassen sind, der es in ihrer Eigenschaft als rechtsdogmatischer Figur scheinbar paradoxal gerade auf die Berücksichtigung bestimmter gesellschaftlicher Auffassungen ankommt, kann mit Blick auf die insofern strukturell vergleichbare und anerkannte Formel der „Sittenwidrigkeit“ i.S.d. § 228 StGB aufgelöst werden. Maßstab für die „Sittenwidrikeit“ gem. § 228 StGB, wie im Übrigen auch für die „guten Sitten“ im Rahmen des § 138 BGB, ist nach gefestigter Ansicht das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“387. Zwar urteilte der BGH im Jahr 2003, dass die Ermittlung jenes Anstandsgefühls „weniger ein Akt normativ-wertender Gesetzesauslegung als vielmehr ein solcher empirischer Feststellung bestehender Moralüberzeugungen [sei]“388. Und auch das BVerfG scheint dieser auf den ersten Blick empiriebezogenen Sicht zu folgen, wenn nach seinem Urteil für den Inhalt jenes Anstandsgefühls „in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden [müsse], die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistigkulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat“389. Jedoch schränkt das BVerfG sein Votum mit dem Nachsatz „in seiner Verfassung fixiert“ entscheidend ein und gelangt wieder zum o.g. Problemkreis, mit einer derartigen rechtlichen Rückkoppelung die mit dem Terminus „gute Sitten“ intendierte Einholung außerrechtlicher Umstände zu gefährden.390 Der Hintergrund dieser Einschränkung weist jedoch in die richtige Richtung. Mit ihr wird die weithin geteilte Auffassung in Bezug genommen, dass die Feststellung des Anstandsgefühls aller gerecht und billig Denkenden just nicht von demoskopischen Umfragen abhän-
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Zur Seins-Sollensdifferenz s. oben unter der Überschrift „Die Differenz von tatsächlichem Sein und normativem Sollen“. 387 So zum § 228 StGB: BGHSt 4, 24 (32); 88 (91); BGH, NJW 2004, 1054 (1055 f.); Miebach/Hardtung, MünchKomm-StGB III (2003), § 228 Rdnrn. 31 f. mit Nachw. zum RegE.; Schönke/Schröder/Stree, StGB (2006), § 228 Rdnr. 6. Zum § 138 BGB: RGZ 48, 114 (124); BGHZ 10, 228 (232); 69, 295 (297); BGH, NJW 1994, 187 (188) m.w.N.; Rolfs et al./Joussen, Beck-OKArbeitsrecht (2008), § 611 Rdnr. 122. 388 BGHSt 49, 34 (41) – s. hierzu die krit. Anm. Kühl, FS für Schroeder (2006), S. 521 ff. (S. 532 f.); vgl. BGHSt 4, 24 (32) [Bestimmungsmensur], der explizit auch das Ansehen der Mensurbefürworter erörtert. Wohl übereinstimmend mit BGHSt 49, 34: Roth-Stielow, JR 1965, S. 210 ff. (S. 211). 389 BVerfGE 7, 198 (206); zust. Säcker/Rixecker/Armbrüster, MünchKomm-BGB I/1 (2006), § 138 Rdnr. 15. 390 Kühl, FS für Schroeder (2006), S. 521 ff. (S. 530) betont darum, dass bei § 228 StGB eben die „guten Sitten“ und nicht der Gesetzgeber entscheiden soll.
A. Die Rechtsfigur der Sozialadäquanz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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gig gemacht werden kann.391 So stellt der BGH im vorgenannten Urteil wenige Zeilen später ausdrücklich fest, dass für die Sittenwidrigkeit allein die „allgemein gültigen moralischen Maßstäbe[n], die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt werden können“392, entscheidungserheblich sein müssen. Mit anderen Worten, nicht was tatsächlich gebilligt wird, sondern was ,richtigerweise gebilligt werden sollte, kennzeichnet die „guten Sitten“. Empirische Studien in diesem Bereich vermögen darum nicht weiterzuhelfen. Zu befragen wären nämlich ausschließlich diejenigen Personen, die zu den „billig und gerecht Denkenden“ gezählt werden können, also mitnichten eine empirisch-deskriptive Gruppe.393 Ob einer Verhaltensweise das Plazet „aller billig und gerecht Denkenden“ zukommt, ist nicht von der Erhebung empirisch sozialpsychologischer Daten abhängig.394 Maßgeblich ist nicht, ob die Gemeinschaft ein Verhalten tatsächlich billigt, sondern ob das fragliche Verhalten den Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben kann.395 Um eine Wendung Essers396 zu gebrauchen: Kann das streitgegenständliche Verhalten auf einer bei vernünftigten Leuten konsensfähigen Ebene mit Einsichtsfähigkeit rechnen? Verhaltensweisen, die mit der Zustimmung eines einsichtigen und vernünftigen Durchschnittsmenschen der Idee nach werden rechnen können, entsprechen – empirieunabhängig(!) – dem Anstandsgefühl „aller billig und gerecht Denkenden“.397 Das Anstandsgefühl „aller billig und gerecht Denkenden“ ist also eine normativ zu ermittelnde Kategorie. Nichts anderes kann für die Sozialadäquanzlehre mit ihrem strukturell gleichlaufenden Anspruch gelten, sowohl ein rechtliches Institut und damit ein Teil der Rechtsordnung zu sein, wie auch zugleich außerrechtlichen Aspekten zur rechtlichen ACHTUNGREGeltung zu verhelfen. Auch hier ist allein normativ, der Idee nach zu fragen, ob die streitgegenständliche Verhaltensweise allgemein gebilligt ist. Fern jeder empirischen Erhebung gilt es, die Billigung mit Bezug auf den einsichtigen und vernünftigen Durchschnittsmenschen nachzuweisen. 391
Ausdrücklich: BVerwG, NJW 1996, 1423 (1424). BGHSt 49, 34 (41) – Hervorhebung durch den Autor: T.E. Zust.: Rengier, BT II (2007), § 20 Rdnr. 2a; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT I (2008), Rdnr. 318. Für eine ethisierende statt moralisierende Sichtweise hingegen Roxin, AT I (2006), § 13 Rdnrn. 38 ff., der für die Sittenwidrigkeit auf den Grundgedanken des § 216 StGB zurückgreifen will; so wohl auch BGHSt 49, 166 (171 u. 173) mit dem Abstellen auf die rechtsgutsorientierte Lebensgefährlichkeit. 393 Zu Recht: Kühl, FS für Schroeder (2006), S. 521 ff. (S. 533). 394 Neben den Nachweise der vorherigen Fußn.: Fischer, StGB (2008), § 228 Rdnr. 11; vgl. Palandt/Ellenberger, BGB (2009), § 138 Rdnr. 2; Erman/Westermann/Palm, Erman-BGB I (2008), § 138 Rdnr. 32. 395 Haberstumpf, Die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden (1976), S. 93 f. u. 127; Erman/Westermann/Palm, Erman-BGB I (2008), § 138 Rdnr. 32. 396 Esser, Vorverständnis (1972), S. 25. 397 Von ähnlicher Struktur ist die Idee der staatsphilosophischen Kontraktualisten im Bezug auf einen „ursprünglichen Staatsvertrag“ oder die Kantsche Idee eines „vereinigten Willens Aller“ als Leitmaxime des republikanischen Gesetzgebers; stets gemeint ist eine Idee der Vernunft, nicht eine tatsächliche, empirisch überprüfbare Übereinstimmung der fraglichen Gemeinschaftsglieder: Dazu bspw. Kulenkampff, JRE 16 (2008), S. 165 ff. (S. 175 ff.); PinACHTUNGREzani, JRE 16 (2008), S. 203 ff. (S. 209). 392
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Wie ist allerdings die allgemeine Billigung konkret zu ermitteln, wenn weder auf empirische Befragungen noch auf normativ verfestigte Wertungen zurückgegriffen werden soll? Wo sind die „einsichtigen und vernünftigen Durchschnittsmenschen“ zu finden? Unstreitig dürfen die urteilenden Richter nicht einfach ihre eigenen, persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen bzw. Billigkeits- oder Moralanschauungen mit denjenigen „aller gerecht und billig Denkenden“ gleichsetzen.398 Im Rahmen des § 228 StGB gilt stattdessen, dass nur bei eindeutigen, unzweifelbaren und elementaren moralischen Negativurteilen ein Widerspruch zum Anstandsgefühl aller „gerecht und billig Denkenden“ festgestellt werden darf.399 Nur in Fällen, in denen die Missbilligung seitens allgemein gültiger Maßstäbe sicher erwiesen werden kann, kann der Einwilligung in ein rechtsgutverletzendes Verhalten berechtigtermaßen das Sittenwidrigkeitsurteil des § 228 StGB ausgestellt werden.400 Zwar erfordert auch dies eine selbständige richterliche Überzeugungsbildung,401 indes hat diese sich auf die Feststellung zu beschränken, welches moralische Urteil der steitgegenständlichen Einwilligung vernünftigerweise auszustellen ist: Denn bestehen Zweifel an der Sittenwidrigkeit einer Einwilligung, so sind nicht die tatsächlich vorfindbaren moralischen Anschauungen miteinander abzuwägen, sondern vielmehr ist die Sittenwidrigkeit sodann schlicht zu verneinen.402 Ausgangspunkt des § 228 StGB ist, die in ACHTUNGREseiner sprachlichen Fassung zum Ausdruck kommende normative Setzung, die Einwilligung zunächst für wirksam anzusehen und nur bei einem unbezweifelbaren, eindeutigen Verstoß gegen tatsächlich vorherrschende Moralvorstellungen ein entsprechendes Sittenwidrigkeitsverdikt auszusprechen.403 Für die Sozialadäquanzlehre ist hieraus folgendes abzuleiten: Die „allgemeine Billigung“ eines Verhaltens ist ebenfalls nur bei einer deutlich negativen sozialen Stellungnahme zu verneinen, wenngleich die Begründung hierfür eine andere Nuancierung erfährt. Anders als bei § 228 StGB, welcher einer grundsätzlich rechtfertigend wirkenden Einwilligung bei Sittenwidrigkeit die rechtliche Beachtsamkeit ab398 Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 1 Rdnr. 22; Lenckner, JuS 1968, S. 304 ff. (S. 309); Roth-Stielow, JR 1965, S. 210 ff. (S. 211); Roxin, JuS 1964, S. 373 ff. (S. 379). 399 Insofern zutreffend: BGHSt 4, 24 (32); Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 1 Rdnr. 22; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 130; Lenckner, JuS 1968, S. 304 ff. (S. 309). 400 Vgl. weiterhin BGHSt 49, 34 (41). 401 Klarstellend: Lenckner, JuS 1968, S. 304 ff. (S. 310); Schmidhäuser, FS Henkel (1974), S. 229 ff. (S. 233 ff.). 402 Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 1 Rdnr. 22; Lenckner, JuS 1968, S 304 ff. (S. 308). 403 Damit wird zugleich die mitunter angezweifelte Verfassungsmäßigkeit unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit gem. Art. 103 Abs. 2 GG (Zweifel insofern: Köhler, AT [1997], S. 247; Woesner, NJW 1963, S. 273 ff. [S. 275]) sichergestellt – die Konkretisierungsbedürftigkeit einer gesetzlichen Bestimmung auf den Einzelfall, ist mit Art. 103 Abs. 2 GG durchaus vereinbar: BVerfGE 96, 68 (97 f.); umfassend: Birkenstock, Die Bestimmtheit von Straftatbeständen (2004), passim, insbes. S. 145; vgl. ferner Roxin, JuS 1964, S. 373 ff. (S. 379 ff., insbes. S. 381). Auf den Gedanken der Objektivierbarkeit stellt auch Berz, GA 1969, S. 145 ff. (S. 145 u. 151 f.) ab.
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spricht, soll über die Sozialadäquanzlehre umgekehrt ein grundsätzlich strafbares, weil dem Wortlaut nach tatbestandsmäßiges Verhalten, dem Strafbarkeitsverdikt ausnahmsweise entzogen werden. D.h. mit anderen Worten, im Rahmen des § 228 StGB ist der Sittenverstoß eine beweisbedürftige Ausnahme, deren Einschlägigkeit immer dann verneint werden muss, wenn sich diesbezüglich kein deutlicher empirischer Befund belegen lässt; bei der Sozialadäquanzlehre ist hingegen die soziale Adäquanz die Ausnahme vom grundsätzlichen Unrechtsurteil, wodurch es nahe liegt, schon bei empirisch genährten Zweifeln an der „allgemeinen Billigung“ die Einschlägigkeit sozialer Adäquanz zu verneinen und das Unwerturteil aufrechtzuerhalten. Dass nun bei Ausbleiben einer deutlichen gesellschaftlichen Befürwortung eines historisch gewachsenen Verhaltensmusters die allgemeine Billigung desselben dennoch anzunehmen ist, folgt aus der Eigenart der Welzelschen Lehre. Die Funktion dieser Lehre ist, Verhaltensweisen, die keinerlei sozialen Verdacht erregen, aus dem Anwendungsbereich strafrechtlicher Vorschriften auszuscheiden. Keinen sozialen Verdacht werden allerdings allein Verhaltensmuster auslösen, in denen sich ein gesellschaftlich gewachsenes Selbstverständnis Bahn bricht. Und da Selbstverständliches keiner Begründung oder Auseinandersetzung bedarf, wird es zu solcherlei Verhaltensmuster konzeptionell keine deutliche soziale Stellungnahme geben können. Wie schon im Rahmen des § 228 StGB wird aus diesem Grunde auch bei der Sozialadäquanz eine allgemeine Billigung solange anzunehmen sein, wie das fragliche Verhaltensmuster keiner deutlich feststellbaren gesellschaftlichen Auseinandersetzung begegnet und dieser Mangel zugleich nicht auf störende Ursachen (bspw. Tabuisierungen) zurückzuführen ist. Ein Verhalten, welches in sozialer Hinsicht unverdächtig ist, weil es sich einem erwartbaren Handlungsmuster zuordnen lässt, ist mithin dann für allgemein gebilligt anzusehen, wenn diesbezüglich keine deutliche empirische Ablehnung bzw. kein entsprechendes Diskurshindernis verzeichnet werden kann. Jener Bereich, in dem der Einzelne sich frei von gesellschaftlicher Missbilligung verhalten kann, wird mit dem in die Adäquanzformel eingebrachten Aspekt der „sozialen Handlungsfreiheit“ bezeichnet: Wo keine gesellschaftlich ablehnende Kontroverse stattfindet, ist ein Feld sozialer Handlungsfreiheit eröffnet. Dieser Aspekt unterstreicht nochmals, dass es bei der allgemeinen Handlungsfreiheit nicht um eine ACHTUNGREpositive Stellungnahme als vielmehr um die Einräumung eines Handlungsraumes seitens der Rechtsgemeinschaft geht, in welchem soziale Vorstellungen gesellschaftlicher Teilgruppen fern formeller Straftatbestände verwirklicht werden können. Die Sozialadäquanzlehre ist folglich eine gemischt empirisch-normative Kategorie. In empirischer Hinsicht ist die Zugehörigkeit des streitgegenständlichen Verhaltens zu einem festgefügten und darum voraussehbaren Handlungsmuster sowie die historische Verfestigung desselben zu untersuchen, während die allgemeine Billigung – § 228 StGB vergleichbar – vorausgesetzt wird, solange keine empirisch eindeutige Ablehnung feststellbar ist. Ob der Einzelne das streitgegenständliche Verhalten in persona für unauffällig hält bzw. billigt, ist darum für die Entscheidung um die Sozialadäquanz eines Verhaltens irrelevant.
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Mit dem Rückbezug der Sozialadäquanzlehre auf die Emipire wird es möglich, dass ein und dasselbe Verhalten im Laufe des zeitlichen Wandels das Prädikat „sozialadäquat“ selbstredend auch wieder verlieren kann. So etwa, wenn einer Verhaltensweise das sie umgebende Handlungsmuster verlorengeht, d. h. empirisch keine fest gefügte einheitliche Ausübungsform oder -motivation mehr feststellbar ist, die das fragliche Verhalten allgemein vorhersehbar machen könnte. Eingebüßt werden wird die soziale Adäquanz ferner dann, wenn eine Verschiebung in den Wertvorstellungen der Bundesrepublik Deutschland dazu führte, dass die mit dem Handlungsmuster unverändert verbundenen Anschauungen nicht mehr mit jenen gewandelten Vorstellungen kompatibel sind, so dass nunmehr eine deutliche empirische Ablehnung des streitgegenständlichen Verhaltens zu verzeichnen wäre.404 2. Die strafrechtliche Sozialadäquanzlehre im Gefüge der Gesamtrechtsordnung Zuletzt ist auf das Verhältnis der Sozialadäquanzlehre in Bezug auf die Wertungen in anderen Bereichen der Rechtsordnung einzugehen. Aus den obigen Ausführungen folgt zunächst, dass die Lehre innerhalb des Strafrechts eine subsidiäre Rechtsfigur ist. Erst und nur wenn das streitgegenständliche Verhalten nach Anwendung aller klassischen strafrechtsmethodischen Instrumente dem Tatbestandsverdikt formaliter subsumiert werden müsste, ist zu untersuchen, inwiefern es diesem Unwerturteil nicht ausnahmsweise aufgrund seiner sozialen Eigenart entzogen werden könnte. Ein sozialadäquates Verhalten ist im Ergebnis darum ein strafrechtlich unauffälliges Verhalten. Die Frage ist nun, welche Folgen ein aus strafrechtlicher Sicht sozialadäquates Verhalten für die zivilrechtliche bzw. öffentlichrechtliche, namentlich verfassungsrechtliche Bewertung dieses Verhaltens hat (Einheit der Rechtsordnung). D.h., sind mit der Einstufung eines Verhaltens als sozialadäquat womöglich zugleich etwaige zivilrechtliche Zwangsmaßnahmen zu revidieren oder der Schutzbereich derjenigen Grundrechte zu reformulieren, die durch jenes Verhalten betroffen sind? Der Anspruch der Sozialadäquanzlehre zielt darauf, Betätigungen, denen es an sozialer Bedeutsamkeit fehlt, dem formell an sich einschlägigen Bereich strafbaren Unrechts zu entziehen. Gesellschaftlich selbstverständliche Verhaltensweisen sollen dem strafrechtlichen Unrecht nicht unterfallen. Seine Anknüpfung findet dieser Anspruch im fragmentarischen Charakter des Strafrechts. Das Strafrecht ist ,ultima ratio und hat erst zur Anwendung zu gelangen, wenn kein anderes Mittel zur Verfü-
404 Die Anwendung rechtlicher Institute abhängig zu machen von den vorherrschenden, und folglich im historischen Fortschreiten wandelbaren, Wertvorstellungen der Gesellschaft, ist anstatt einer unzulässigen Empirieöffnung eine notwendige Bedingung einer im Vollzug befindlichen Rechtsordnung: vgl. BVerfGE 80, 81 (92) bzw. 31, 58 (82 f.); 53, 224 (225), wonach das der Verfassung zugrunde liegende (und wandelbare) Eheverständnis Maßstab der Auslegung und Fortentwicklung des Art. 6 GG zu sein hat.
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gung steht, den Schutz von Rechtsgütern sicherzustellen.405 Nur erheblich sozialschädliche Verletzungshandlungen406 sollen mit strafrechtlichen Sanktionen belegt werden. Sozialadäquate Verhaltensweisen sind dementsprechend definitionsgemäß dem Fokus strafrechtlicher Aufmerksamkeit entzogen. Aus dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts folgt damit allerdings zugleich, dass Verhaltensweisen, die strafrechtlich nicht relevant sind, durchaus im Widerspruch zu Normen des Zivil- bzw. Öffentlichen Rechts stehen können.407 Zu vergegenwärtigen gilt, dass die Lehre Welzels allein auf das Strafrecht, der schärfsten Waffe des Staates,408 bezogen und darum darauf begrenzt ist, formell tatbestandsmäßige Verhaltensweisen dem strafrechtlichen Unwerturteil zu entziehen. Wertungszusammenhänge auf Ebene des Zivilrechts bzw. Öffentlichen Rechts sind von den Ergebnissen der Sozialadäquanzlehre darum weder beeinflusst noch vorweggenommen.409 Namentlich unbeeinflusst bleiben die zivil- oder verfassungsrechtlichen Wertungen, die über bestimmte Normstrukturen Eingang ins Strafrecht finden, wie bspw. über das „Kindeswohl“ als Begrenzung der elterlichen Einwilligungsbefugnis in die Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter. Deren Wertungen werden durch die soziale Adäquanz des streitgegenständlichen Verhaltens nicht etwa revidiert. Stattdessen wird mit dem Prädikat „sozialadäquat“ dem Verhalten a limine die Eignung abgesprochen, überhaupt tauglicher Anknüpfungspunkt eines strafrechtlichen Prüfungsvorgangs zu sein. Sozialadäquates Verhalten ist von vornherein kein straftatbestandliches Unrecht, ohne dass es noch der Prüfung spezifischer Normmerkmale bedürfte. Sind jene Merkmale, die u. U. Einfallstor zivil- oder verfassungsrechtlicher Wertungen sein können, folglich im Ergebnis gar nicht einschlägig, so können die Wertungen der Sozialadäquanzlehre schon strukturlogisch nicht auf die zivil- bzw. öffentlichrechtlichen Wertungen zurückwirken, welche über jenen von vornherein nicht einschlägigen Merkmalen in die Prüfung zu implementieren wären. Kein anderer Befund folgt für die rechtssystematische Vereinbarkeit der Sozialadäquanzlehre. Der Staat ist mit Blick auf die verfassungsrechtlich gewährleisteten 405 BVerfGE 39, 1 (47); Ebert, AT (2001), S. 4; Jescheck/Weigend, AT (1996), S. 52 f.; Kaufmann, FS Henkel (1974), S. 89 ff. (S. 92 ff.). Seine Quelle findet das Subsidiaritätsprinzip im verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip – die schwerste Sanktionsmöglichkeit ist den schweren Rechtsgüterverletzungen vorbehalten (statt aller: Roxin, AT I [2006], § 2 Rdnr. 98). 406 Darum ist für Roxin, AT I (2006), § 7 Rdnr. 66 „Unrecht“ ein nicht mehr hinnehmbares sozialschädliches Verhalten. 407 Ebert, AT (2001), S. 4 formuliert dies auf eine Sentenz gebracht: „Nicht jedes Unrecht ist strafbares Unrecht“ – Hervorhebung durch den Autor: T.E. 408 Diese Formulierung bei BVerfGE 39, 1 (45). 409 Wenngleich die Vermutung nahe liegt, ein sozialadäquates Verhalten auch in diesen Rechtsgebiete im Ergebnis nicht als tauglichen Anknüpfungspunkt für negative, belastende Rechtsfolgen anzusehen, so wäre doch der Bereich des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes mit der hieran anschließenden Frage deutlich überschritten, ob es zur Erreichung eines solchen Ergebnisses in jenen Rechtsgebieten der hier entworfenen Lehre bedarf oder das soziale Selbstverständnis dort u. U. auf andere Weise angemessen Berücksichtigung zu erlangen vermag.
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Grundrechte im Wege des sog. Untermaßverbotes verpflichtet, seine Bürger auch gegen Verletzungen grundrechtlicher Positionen seitens privater Dritter zu schützen. In den Worten des BVerfG in dessen zweiter Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch heißt es: „Der Staat muß zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, daß ein […] angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird (Untermaßverbot)“410. Rechtssystematisch ist daher nach der Vereinbarkeit zu fragen, ein Verhalten für sozialadäquat und damit für straflos zu erklären, das bei Abwägung der hierdurch betroffenen Grundrechte aus verfassungsrechtlicher Sicht eigentlich unzulässig – weil grundrechtsverletzend – wäre. Kann ein solches, die Schutzpflicht des Staates aktivierendes, Verhalten gleichwohl systemkonform unter Anwendung der Sozialadäquanzlehre dem Strafverdikt entzogen werden? Wird einmal vernachlässigt, dass jenes Untermaßverbot lediglich einen Mindeststandard einfordert, dessen Verwirklichung den Gesetzgeber nicht zwingend auf das Mittel des Strafrechts verpflichtet,411 sowie der Umstand beiseitegelassen, dass der Gesetzgeber dieser Schutzpflicht mit der Schaffung der §§ 223 ff. StGB grundsätzlich Genüge getan hat,412 so scheint es gleichwohl paradoxal, ein Verhalten aus grundrechtlicher Sicht für nicht legitimierbar zu erklären, es zugleich aber dennoch den dafür formell geschaffenen Strafvorschriften zu entziehen. Wiederum ist es der fragmentarische Charakter des Strafrechts, der auch dieses Paradox aufzulösen in der Lage ist. Nicht jede grundrechtlich bedenkliche Verhaltensweise kann den Normen eines Strafrechts unterfallen, das als ultima ratio konzipiert ist. Wäre verfassungsrechtlich Unzulässiges per se strafrechtlich verboten, ermangelte das Strafrecht jeglichen eigenständigen Charakters. Da das StGB eine eigenständige Materie ist, werden dessen normative Wertungen seitens des Verfassungsrechts nicht determiniert.413 Wie auch im Verhältnis zum Zivilrecht gilt, dass das Strafrecht ein unabhängiges Wertungsgefüge ist; Wertungszusammenhänge des Zivil- oder Öffentlichen Rechts haben für das Strafrecht keine Präjudizwirkung.414 Diese Unabhängigkeit des Strafrechts von originär verfassungsrechtlichen/zivilrechtlichen Wertungsergebnissen ist bipolar, gilt also auch in umgekehrter Richtung. Die soziale Adäquanz eines Verhaltens hat ebenso wenig (zumindest) un410
BVerfGE 88, 203 (6. LS); s. ferner BVerfGE 39, 1 (42 ff.); 96, 409 (412); Maunz/Dürig/ Herzog, GG (2009), Art. 20 Rdnrn. 126 ff. Überblick über den Diskussionsstand bei Klein, JuS 2006, S. 960 ff. 411 BVerfGE 39, 1 (45 f.); 88, 203 (254). 412 Vgl. Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 50 ff. – wenngleich umständlich (s. dazu Putzke, ZIS 2009, S. 177 ff. [S. 182 f.]). 413 Anschaulich betont Herzberg, dass nach einer verfassungsrechtlichen Legitimation sinnvollerweise nur dort gefragt werden kann, wo ein Verhalten (strafrechtlich) ihrer bedürftig ist: Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 332); zust. Putzke, ZIS 2009, S. 177 ff. (S. 183). 414 Darum können zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit unabhängig nebeneinander bestehen und u. U. kumulativ eingreifen (Uhlenbruck/Laufs/Ulsenheimer, Handbuch Arztrecht [2002], § 112 Rdnr. 8). Entsprechend sind bspw. der strafrechtliche und zivilrechtliche Sachenbegriff nicht notwendig identisch (BayObLG, NJW 1992, 2306 [2307]). Die These der strikten Trennung von Strafrecht und Zivilrecht wird freilich mitunter angezweifelt – s. ausführlich Kasper, Wiedergutmachung und Mediation (2004), S. 29 ff.
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mittelbare Auswirkung auf die entsprechenden verfassungs- bzw. zivilrechtlichen Wertungen. Kurzum, die strafrechtliche Bewertung eines Verhaltens als sozialadäquat lässt keine direkten Rückschlüsse auf dessen zivil- oder öffentlichrechtliche Behandlung zu; zugleich legt die zivil- oder öffentlichrechtliche Bewertung eines Verhaltens das strafrechtliche Urteil nicht fest. Rechtssystematisch folgerichtig ist dies aufgrund des eigenständigen Anwendungsbereichs des strafrechtlichen Wertungssystems. Strafrechtlich sozialadäquates Verhalten muss ebensowenig zivil- oder verfassungsrechtlich zulässig sein, wie zivil- oder verfassungsrechtlich unzulässiges Verhalten strafrechtlich relevant sein muss.
IV. Zusammenfassendes Ergebnis Die strafrechtliche Bewertung von Verhaltensweisen darf nicht allein als ein begriffsanalytischer Deduktionsschluss – von den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen auf das streitgegenständliche Verhalten – verstanden werden. Immer gilt es, neben dem abstrakt möglichen Bedeutungsumfang, auch den konkreten Bedeutungsinhalt, den Sinn, verwendeter Tatbestandsbegriffe zu ermitteln. Besondere Bedeutung erlangt hierbei das den Gesetzesbegriffen zugrunde sowie voraus liegende kulturelle Selbstverständnis der Rechtsgemeinschaft: Ein unter den (formellen) Begriffsumfang eines Tatbestandsmerkmals subsumierbares Verhalten unterfällt dem strafrechtlichen Unwerturteil gleichwohl dann nicht, wenn dessen Subsumtion im Widerspruch zu dem Begriffsinn stünde, wie er dem sprachlichen Zeichen von der (materiellen) Geistesverfassung der Gemeinschaft stillschweigend beigegeben ist. Verhaltensweisen, die den Anschauungen bzw. Wertvorstellungen der Sozialgemeinschaft entsprechen, gehören nicht zu dem tatbestandlich kodifizierten (Straf-)Unrecht. Welzel bezeichnet solcherlei Verhalten als sozialadäquat. Der Befund der sozialen Adäquanz eines Verhaltens setzt drei Momente voraus: Zunächst muss das fragliche Verhalten in deskriptiver Hinsicht sozial unauffällig sein. Damit es kein größeres gesellschaftliches Aufsehen erregen kann, muss es allgemein erwartbar, also einem voraussehbaren festumrissenen Handlungsmuster zuordenbar sein. Zweitens muss ebendieses Handlungsmuster allgemein gebilligt werden. Hierzu ist erforderlich, dass sowohl mit den Verhaltensweisen, die das Muster abstrakt konstituieren, als auch mit der entsprechenden Einzelhandlung des konkreten Täters jeweils eine Wertvorstellung handlungsleitend ist, die mit den Überzeugungen der Kulturgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland der Idee nach ACHTUNGREharmoniert. Gegenüber den gesetzlich verfestigten Überzeugungen des Strafrechts prävalieren (drittens) allerdings nur diejenigen sozialen Anschauungen, die geschichtlich verfestigt sind, d. h. zum Kernbestand hiesiger kultureller Überzeugungen zählen. Auf eine Sentenz gebracht, sind Verhaltensweisen dann sozialadäquat, wenn sie Ausdruck eines tief in den geschichtlich verfestigten Überzeugungen der Kulturge-
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meinschaft wurzelnden Handlungsmusters sind – kulturell Selbstverständliches ist nicht strafbar. Das Anliegen der Welzelschen Lehre, das kulturelle Selbstverständnis gegenüber dem Wortlaut gesetzlicher Tatbestände Berücksichtigung finden zu lassen, ist mit keinem der hergebrachten Mittel methodischer Rechtsanwendung (Auslegung, Analogie, teleologische Reduktion) zu verwirklichen. Dogmatisch-strukturell unterfallen Verhaltensweisen, welche den Anforderungen der Sozialadäquanzlehre genügen, schon nicht dem tatbestandlichen Unrechtsvorwurf, eben weil die in den Straftatbeständen verwendeten Begriffe vor dem Hintergrund des ihnen zugrunde bzw. voraus liegenden kulturellen Selbstverständnisses gelesen werden müssen. Die Einstufung eines Verhaltens als sozialadäquat gilt ausschließlich für das Strafrecht und lässt keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die zivil- oder öffentlichrechtliche Zulässigkeit des fraglichen Verhaltens zu – so wie auch die zivil- oder öffentlichrechtlichen Wertungen die strafrechtliche Bewertung nicht präjudizieren.
B. Rituelle Beschneidung als sozialadäquates Verhalten Die eingangs angestellte Untersuchung zur Tatbestandsmäßigkeit sowie zur möglichen Rechtfertigung hat erwiesen, dass die Beschneidung als eine mittels eines gefährlichen Werkzeugs begangene gefährliche Körperverletzung zu qualifizieren ist, die nicht durch die elterliche Einwilligung (vgl. §§ 1626, 1631 BGB) unter Berufung auf das Grundrecht auf religiöse Kindererziehung (Art. 4 Abs. 1 u. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) gerechtfertigt werden kann. Die rituelle Beschneidung steht im Widerspruch zum Kindeswohl, weil durch sie das Recht des Minderjährigen auf Wahrung seiner Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ohne zureichenden Grund beeinträchtigt wird. Mit der oben entwickelten Sozialadäquanzlehre verbleibt somit die Frage, ob sich in dem Akt der Beschneidung womöglich ein soziales Selbstverständnis Bahn bricht, welches von den Begrifflichkeiten der strafrechtlichen Vorschriften stillschweigend ausgenommen ist. Ist die Zirkumzision also ein sozialadäquates Verhalten?
I. Soziale Unverdächtigkeit Hierzu ist zunächst erforderlich, dass die religiös motivierte Beschneidung minderjähriger Kinder eine sozial unverdächtige Handlung ist, d. h. einem sozial erwartbaren Handlungsmuster zugeordnet werden kann. Kein Beleg, sondern allenfalls empirisches Indiz für das Vorliegen jener Unverdächtigkeit ist, dass zur Beschneidung als solcher seitens der Rechtsprechung noch keinerlei Urteil ergangen ist, und dass auch die Literatur bisher kaum Anlass zu einer Auseinandersetzung mit diesem Thema gesehen hat. Denn zum einen kann von diesem geringen Maß an rechtlicher Befassung nicht ohne weiteres auf die sozia-
B. Rituelle Beschneidung als sozialadäquates Verhalten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
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le Irritierungsintensität dieses Themas geschlossen werden. So ist – wie erwähnt – bspw. der (gelungene) ärztliche Heileingriff in der Rechtswissenschaft zwar durchaus Gegenstand umfangreicher Auseinandersetzungen,415 jedoch wird er in sozialer Hinsicht kaum problematisiert. Der Grad an rechtlicher Auffälligkeit lässt insofern allenfalls bedingt auf die Verdächtigkeit des fraglichen Verhaltens in sozialer Hinsicht schließen. Zudem liegt es auf der anderen Seite nahe, die derzeit mangelnde rechtliche Auseinandersetzung mit der rituellen Beschneidung auf dessen Tabubehaftetheit zurückzuführen, dergestalt dass eine negative Bewertung der Beschneidung „schnell als verbrämte Kritik an den Mitmenschen missverstanden wird, von denen eine derart motivierte Beschneidung regelmäßig praktiziert wird“416. Notwendige und zugleich hinreichende Bedingung für die soziale Unverdächtigkeit ist vielmehr allein die oben ausgearbeitete Frage, ob die Beschneidung – von ihrem (formell) rechtsgutsverletzenden Charakter abgesehen – Ausdruck eines einheitlichen, fest gefügten Typus sozialsinnhaften Verhaltens ist. Die soziale Sinnhaftigkeit des Eingriffs liegt bei beiden Beschneidungsriten in der Vermittlung (religiöser) Identität sowie der Festigung von Gruppenzugehörigkeit. Mit der Zirkumzision ist ein über den unmittelbaren Rechtsgutseingriff hinausgehender sozialer Sinnbezug verbunden, wie in der Einleitung dieser Arbeit dargelegt worden ist. Die Frage ist darum allein, ob mit diesem Ritus zugleich ein erwartbarer Handlungstypus vorliegt. Bezüglich des jüdischen Ritus kann ohne weiteres von einem vorhersehbaren, fest gefügten Handlungsmuster gesprochen werden. Im Judentum zählt die Beschneidung zu einer im großen und ganzen verfestigten, gleichförmigen Verhaltensform. Nach den mosaisch überlieferten Regeln gilt: „Jedes Knäblein, wenns acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen“ (1. Mose 17, 12). Sofern keine klinische Zirkumzision gewählt wird, beauftragen die Eltern einen rituellen Knabenbeschneider (den sog. Mohel), welcher den Eingriff im engsten Familienkreis gewöhnlich innerhalb ein bis zwei Minuten vornimmt; traditionellerweise folgt auf den Eingriff die Namensgebung.417 Der Eingriff selbst bildet die erste, elementare Station im 415
Der stRspr. zufolge ist auch der medizinisch indizierte und lege artis durchgeführte Heileingriff stets tatbestandlich eine Körperverletzung (z. B. BGHSt 11, 111 [112]; 43, 306 [308]; BGH, NStZ 1996, 34 [34]), während nach überwiegender Ansicht in der Lit. in der vorteilhaften Beeinträchtigung der Körpersubstanz ein tatbestandsloses Verhalten gesehen wird (Schönke/Schröder/Eser, StGB [2006], § 223 Rdnr. 30; Kühl, StGB [2007], § 223 Rdnr. 8 m.w.N.) – Nachweise zu den zahlreichen Abhandlungen zur rechtlichen Problematik der ärztlichen Heilbehandlung: Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 223 Rdnr. 7; ausführlich jüngst: Kröger, Die Rechtfertigung des ärztlichen Heileingriffs (2004), S. 33 ff. 416 Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 680). Vgl. auch Goldman, Questioning CirACHTUNGREcumACHTUNGREcision (1998), S. 92 f.; Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 2; vgl. JeACHTUNGRErouACHTUNGREschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 317 mit Fußn. 50) mit seinem Hinweis, zwischen tatsächlicher und einer Art normativer Sozialadäquanz differenzieren zu müssen. 417 Ausführlich: Glass, BJU 83 (1999), S. 17 ff. (S. 18 f.), Spiegel, Was ist koscher? (2007), S. 39 ff. oder Vries, Jüdische Riten und Symbole (1990), S. 183 ff.; von einem verfestigten Ritual spricht auch Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 314).
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jüdischen Lebenskreis. Der biblisch fixierte Zeitpunkt sowie die überlieferten Modalitäten seiner Ausführung machen aus dem Beschneidungseingriff ein festgefügtes voraussehbares Handlungsmuster. Gerade weil die elterliche Veranlassung bzw. Vornahme der Beschneidung zu Lasten minderjähriger Knaben in den deutschen jüdischen Gemeinden alles andere als ein Ausnahmegeschehen darstellt, ist der jüdische Ritus in deskriptiver Hinsicht ungeeignet, gesellschaftliches Aufsehen zu erregen. Die Beschneidung im Judentum ist mithin zunächst einmal ein erwartbarer und somit sozial unverdächtiger Eingriff. Einen global fixen Zeitpunkt für die Beschneidung gibt es im Islam nicht. In der Regel wird die Zirkumzision im Zeitraum zwischen dem siebenten Lebenstag bis hinein zum 14. Lebensjahr vorgenommen, „was auf ihre Herkunft von einem Initiationsund Mannbarkeitsritual verweist“418. Zugleich bestehen bezüglich der konkreten Ausführungsmodalitäten zum Teil erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen islamischen Religionsschulen. Gleichwohl ist die Veranlassung bzw. Vornahme einer Beschneidung islamischer Prägung nicht erst bei Kenntnis der Anhängerschaft muslimischer Eltern zu einer der binnenreligiösen Schulmeinungen vorhersehbar. Maßgeblich für die soziale Erwartbarkeit des Eingriffs ist hier ebenfalls, dass die Beschneidung trotz des durchaus beachtlichen Diversifikationsgrades zwischen den verschiedenen islamischen Schulen an sich übereinstimmend als unauslöschliches Zeichen der Verbindung aller Muslime untereinander verstanden wird.419 Vorgenommen wird die Zirkumzision in der Bundesrepublik Deutschland von einem rituellen Beschneider (dem Sünnetci) wiederum in festlicher Umgebung der Angehörigen oder aber – gerade bei reformorientierten Muslime – von einem Arzt bzw. medizinischem Personal in entsprechenden Einrichtungen.420 Mangels Bestrebungen der ACHTUNGREZirkumzedierten, die Beschneidung (plastisch) rückgängig zu machen, wird keine radikale Entfernung der Vorhaut, sondern überwiegend eine partielle Vorhautentfernung, die jüdische Berit Milah vorgenommen.421 Trotz der glaubensinternen Besonderheiten und Modifizierungen ist die Vornahme des Eingriffs innerhalb des jeweils überlieferten Ritus durch einen festgefügten Traditionszusammenhang gekennzeichnet. Insbesondere die islamweite Einigkeit über die Bedeutsamkeit der rituellen
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Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 314); ebenso bzgl. des Beschneidungsalters Rizvi et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 13 ff. (S. 14). 419 Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 72 f. 420 Für Deutschland keine Rolle spielt, dass die Beschneidung in ländlichen muslimischen Regionen traditionell auch etwa von Dorfbarbieren vorgenommen wird (s. den kurzen Überblick über mögliche Beschneider bei Rizvi et al., BJU 83 [1999], Suppl. 1, S. 13 ff. [S. 14]). 421 Rizvi et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 13 ff. (S. 14). Vgl. Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 69 ff. insbes. mit dem Hinweis: „In der islamischenWelt herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß ein unbeschnittener Mann ein Bürger zweiter Klasse ist“ (a.a.O., S. 70) – im islamischen Sprachgebrauch wird die Beschneidung „khitan“ genannt (Kern/Köhler, Ärzteblatt Sachsen 2006, S. 104 f. [S. 104].).
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Beschneidung als solcher422 macht die Vornahme des muslimischen Ritus allgemein erwartbar. Die Veranlassung/Ausführung einer Beschneidung zu Lasten islamischer Kinder erregt somit ebenfalls kaum soziale Aufmerksamkeit. Sie ist darum als ein unauffälliges, wenig Verdacht erregendes Handlungsmuster zu charakterisieren. Bei Kenntnis der Zugehörigkeit der Eltern zum jüdischen resp. muslimischen Glauben ist der Beschneidungseingriff folglich keine ungewöhnliche Maßnahme, sondern allgemein erwartbar: Dass jüdische oder muslimische Eltern ihren männlichen Nachwuchs beschneiden lassen, ruft kein gesellschaftliches Aufsehen hervor. Beschneidung in diesem Kontext ist eine sozial unverdächtige Verhaltensweise. ACHTUNGREEtwaig zu verzeichnende empirische Meinungsäußerungen bzw. -kampagnen von Beschneidungsopponenten vermögen an diesem Befund nichts zu ändern. Mit dem Merkmal der „Unauffälligkeit“ fordert die Sozialadäquanzlehre zunächst ein deskriptives Moment ein, welches allein auf die Zugehörigkeit des fraglichen Verhaltens zu einem voraussehbaren Handlungstypus abstellt. Wie sich die Gemeinschaft zu solch einem Verhalten positioniert, d. h. ob sie es ablehnt oder anerkennt, spielt hier noch keine Rolle. „Auffällig“ wird die Beschneidung mithin erst, wenn sie ihres festgefügten, erwartbaren Handlungsmusters verlustig geht. Denn nur wenn die soziale Gruppe der Ausübenden an dem Verhaltensmuster als Ausdruck ihres Selbstverständnisses tatsächlich festhält, kann ein festgefügtes Handlungsmuster verzeichnet werden. Insofern sind die mitunter vorgebrachten Hinweise durchaus berechtigt, wonach es im muslimischen Bereich keine religiös verbindlichen Altersvorgaben für die Vornahme der Beschneidung gebe, mithin eine Erwachsenenbeschneidung ohne weiteres korankonform wäre, und auch die jüdischen Glaubensangehörigen nicht aus ihrer Religion herausfielen, wenn sie nicht als Säuglinge beschnitten werden sollten.423 Denn in der Tat werden von Eltern jüdischen Glaubens inzwischen alternative Rituale etabliert, welche die Beschneidung der Vorhaut durch die Beschneidung symbolischer Gegenstände substituieren sollen.424 Wird der Ritus durch solcherlei Neuerungen und Abweichungen zusehends diversifiziert, so kann dies zu Lasten der Einheitlichkeit des Handlungsmusters und damit zu Lasten der Erwartbarkeit gehen. Solange es an einer umfassenden Ausweitung möglicher Beschneidungsalternativen jedoch noch fehlt, wie es mit der derzeit weiterhin vorherrschenden körperlichen Zirkumzision im Judentum und im Islam der Fall ist, muss jener Eingriff als festumrissene Handlungsform charakterisiert werden. Darum ist die rituell motivierte Zirkumzision in deskriptiver Hinsicht ungeeignet, gesellschaft422 Bspw. tritt die shafiitische Schule, wie oben erwähnt, für eine Beschneidungspflicht ein, während die Ibaditen lediglich die Heirat mit einem unbeschnittenen Moslem für nichtig erachten (Gollaher, Das verletzte Geschlecht [2002], S. 69). 423 Goodmann, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 22 ff. (S. 24); Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 319) – einige Rabbis lassen selbst unbeschnittene Knaben zur Bar Mitzwa zu: Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 65 f. 424 Etwa die engl. bris shalom unter Berufung auf 3. Mose 19, 28 (Goldman, Questioning Circumcision [1998], Appendnix G samt Beispiel [a.a.O., S. 97 ff.] oder Goodmann, BJU 83 [1999], Suppl. 1, S. 22 ff. [S. 26]).
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liche Empörung auszulösen. Ob dies u. U. auf störende Ursachen zurückzuführen ist (z. B. Unwissenheit, Tabuisierung), ist im Rahmen der beiden nachfolgenden Merkmale zu untersuchen. Daran, dass die Knabenbeschneidung aufgrund seiner Verankerung im Kernbestand des Islams und Judentums ein erwartbares und zunächst sozial unauffälliges Verhaltensmuster ist, änderte dies freilich nichts.
II. Allgemeine Billigung Eine andere, nunmehr zu untersuchende Frage sozialadäquaten Verhaltens ist, ob bzw. inwiefern die rituelle Knabenbeschneidung zugleich ein in wertender Hinsicht sozial gebilligtes Verhalten ist. Maßgeblicher Gegenstand der allgemeinen Billigung ist hierbei (wie oben ausgeführt) anstelle des einzelnen Beschneidungsakts in conACHTUNGREcreto das ihn umfassende Verhaltensmuster. Da nun die Billigung eines Verhaltensmusters in sozialer Hinsicht, trotz der mit seiner Tatbestandsmäßigkeit ausgedrückten rechtlichen Missbilligung, dadurch möglich bleibt, dass anstelle des formell-äußeren Verletzungsgeschehens die mit dem Handlungsmuster materialiter verbundenen Wertvorstellungen in Bezug genommen werden, ist der Gegenstand der allgemeinen Billigung weitergehend dahin zu präzisieren, dass die dem beschneidungstypischen Verhaltensmuster innewohnende handlungsleitende Wertvorstellung allgemein gebilligt werden muss. Nachzuweisen ist mit anderen Worten, ob die dem Handlungsmuster „Beschneidung“ inhärenten Wertvorstellungen eine Entsprechung im kulturellen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland vorweisen können. Von vornherein keine Antwort auf die aufgeworfene Frage nach der allgemeinen Billigung der Beschneidungsmotivation sind zum einen die ablehnende Warnung „die Errungenschaften von Wissenschaft und Aufklärung [dürften] nicht der Angst vor radikalen Ideologen geopfert werden“425, wie zum anderem die bejahende Mahnung, dass „bei Illegalisierung der Beschneidung aus religiösen Gründen, vermehrt Beschneidungen außerhalb des Krankenhauses unter nicht hygienischen Standards zu befürchten [seien], die dem Wohl des Kindes nun sicherlich am wenigsten dienen“426. Solcherlei Stellungnahmen greifen nicht durch. Nicht nur, weil die Überzeugungskraft eines rechtlichen Urteils zuallererst anhand des dogmatischen Weges zu messen wäre, auf welchem es gefunden wird, und weniger anhand der Akzeptabilität seiner Folgen.427 Vielmehr stellten sich jene Akzeptabilitätsüberlegungen a limine nicht, wenn über die Sozialadäquanzlehre den beschneidungsinhärenten Wertvorstellungen auf dogmatischem Wege eine hinreichende innere Verbindung zum sozialen 425
Diez, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A 2327. Harrer-Haag, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A 2328 f. (S. A 2330); ebenso: Demuth/Ehret, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A 2330 und Kretzschmar, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. 2328. 427 Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 319) verweist darum auf eine Art von „Beschneidungstourismus“, „wie es weiland beim ,Abtreibungstourismus unter dem Regime des alten § 218 StGB der Fall war“, der bei Bestrafung ritueller Beschneidungen ggf. in Kauf genommen werden müsste. 426
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Selbstverständnis der hiesigen Kulturgemeinschaft attestiert werden könnte. Sofern das mit der Beschneidung handlungsleitende Motiv mit denjenigen gesellschaftlichen Anschauungen in Einklang stünde, die den Begriffen des Strafgesetzbuches voraus liegen, schiede die Tatbestandsmäßigkeit der Beschneidung bereits materialiter, rechtskonstruktiv aus. Mit der rituellen Zirkumzision wird dominierend die Intention verfolgt, Gruppenidentität zu stiften und zu stärken. Dem Gruppenselbstverständnis durch körperbezogene Handlungen einprägsam Ausdruck zu verleihen, scheint nicht von vornherein im Widerspruch zu den Anschauungen der Sozialgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland zu stehen. So deutet das OVG Lüneburg unausgesprochen eine entsprechende Kompatibilität an, wenn es argumentiert, dass die Beschneidung „im muslimischen Kulturkreis eine der Taufe im christlichen Kulturkreis vergleichbare religiöse und gesellschaftliche Bedeutung [habe]“428 und die Kosten für eine ärztlich vorgenommene Beschneidung darum vom Sozialhilfeträger als einmalige Leistung aus ACHTUNGREbesonderem Anlass zu übernehmen seien.429 Mit der Stiftung bzw. Stärkung von Gruppenidentität durch Handlungen mit Physisbezug wird also eine gesellschaftlich durchaus anerkannte Intention verfolgt. Trotz im Einzelfall entgegenstehenden Vorbringens bestehen wenig Zweifel daran, dass es den Eltern handlungsleitend gerade auf die Verfolgung jenes sozialen Sinnbezugs der Beschneidung und eben nicht auf den (möglichen) medizinischen Nutzen ankommt. Dies erweist sich u. a. anhand des Umstandes, dass der Beschneidungstrend ungeachtet der fortlaufenden Widerlegung angeblich medizinischen Nutzens ungebrochen fortbesteht.430 Die Vermutung der allgemeinen Billigung des Beschneidungseingriffs erhärtet sich anhand des Umstands, dass trotz ausführlicher gesetzgeberischer Diskussionen um die ausdrückliche Strafbarstellung der Frauenbeschneidung die rituelle Knaben-
428 OVG Lüneburg, NJW 2003, 3290. Ebenso: Niedersächsisches OVG Urt. v. 22. 09. 1993 (Az.: 4 L 5670/92, JURIS), wonach für eine private Feier aus Anlass der Taufe oder Beschneidung ein Beihilfeanspruch gegen den Sozialhilfeträger besteht; Ermes, Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A 2327 f. (S. A 2328): „Die Beschneidung ist integraler Bestandteil des jüdischen Religionsgesetzes, ebenso wie die Taufe in der christlichen Religion“. Auch Joecks, StGB (2009), § 224 Rdnr. 22a verweist darauf, dass „Taufe und Beschneidung von ihrer religiösen Bedeutung her vergleichbar sind“ und will letztere darum von der elterlichen Bestimmungsbefugnis umfasst ansehen. Joecks, StGB (2009), § 223 Rdnr. 22a verweist ebenfalls auf die religiöse Gleichwertigkeit zwischen Taufe und Beschneidung. Vgl. ferner Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 66: „Die Vorherrschaft des Christentums im Europa sorgte für eine Einbindung der Beschneidung in eine gemeinsame Geschichte der westlichen Kultur“. 429 Kosten ritueller Beschneidung werden i. d. R. als Leistung der gesetzlichen Krankenkasse (s. § 23 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 SGB V) sowie des Sozialleistungsträgers (vgl. § 23 Abs. 1 S. 1 SGB II, § 38 Abs. II SGB XII) abgerechnet: Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 25 ff. 430 Vgl. dazu Waldeck, University of Cincinnati Law Review 455 (2003/2004), S. 455 ff. (S. 492 ff.).
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beschneidung seitens des Gesetzgebers bisher unerörtert geblieben ist,431 mithin wohl nicht für gesondert regelungsbedürftig erachtet wird. Fraglich ist allerdings, inwiefern angesichts einer kontinuierlich wachsenden Sensibilität gegenüber der Unversehrtheit gerade des kindlichen Körpers432 nicht auch mit Blick auf die Beschneidung von einem Anschauungswandel insofern gesprochen werden muss, dass zumindest körperinvasive Maßnahmen der Identitätsvermittlung inzwischen außerhalb eines allgemein gebilligten Verhaltenskreises liegen, insbesondere vor dem Hintergrund der psychotraumatischen Langzeitfolgen einer Beschneidung, die in ihrer rituellen Reinform ohne Narkose durchgeführt wird.433 Ein Indiz gegen die Billigung körperlicher Eingriffe in toto könnte die Ansicht der Rechtsprechung sein, der zufolge ganz allgemein jeder, selbst der medizinisch indizierte sowie lege artis durchgeführte, Heileingriff als tatbestandliche Körperverletzung zu bewerten ist, der erst durch die Einwilligung des Patienten ggf. gerechtfertigt werden kann.434 Hier gewinnt das argumentum a minore ad maius Putzkes seine Bedeutung: „[E]inerseits von gesellschaftlicher Billigung der Zirkumzision zu sprechen, andererseits aber den ärztlichen Heileingriff von der Sozialadäquanz auszuklammern und eine ,besondere Rechtfertigung zu fordern, ist inkonsequent und widersprüchlich“435. Stringent ist dieser Schluss jedoch nicht. Nicht nur, weil eine gewichtige Opposition in der Rechtswissenschaft zumindest den Heileingriff tatbestandlich ohnedies nicht als Körperverletzung zu betrachten bereit ist – die Behandlung eines Kranken zur Rehabilitierung seiner Gesundheit sei keine Körperinteressenverletzung436 –, so dass das minus des Putzkeschen argumentums fortfiele. Auch fehlt dem PutzACHTUNGREkeACHTUNGREschen Argument die inhaltliche Überzeugungskraft: Schließlich wird der ärztliche Heileingriff über die Rechtfertigungskonstruktion letztendlich gleichwohl für straflos befunden, wodurch den Wertvorstellungen der Sozialgemeinschaft im Ergebnis entsprochen sein dürfte. Wollte Putzke für die Beschneidung nunmehr ein gleichlaufendes Ergebnis, welches wohlgemerkt dogmatisch-konstruktiv einzig mittels der Sozialadäquanzlehre zu erreichen wäre (s. oben), gerade verneinen, hilft ein logischer Schluss über die rechtliche Behandlung des Heileingriffs nicht weiter. Stattdessen müsste schon ein positiver Nachweis darüber geführt werden, ob die Strafbarkeit des Beschneidungseingriffs – im Gegensatz zum Heileingriff – gerade nicht im Wi431 Vgl. BT-Drucks. 16/12910, 16/9420, 16/1391 u. 16/1188, die allesamt zur Knabenbeschneidung schweigen. 432 Was Niederschlag insbes. im Verzicht auf das vormals rechtfertigend wirkende Züchtigungsrecht für Lehrer gefunden hat: s. BGH, NStZ 1993, 591; Ebert, AT (2001), S. 91; vgl. auch § 1631 Abs. 2 BGB. 433 Goldman, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 93 ff. 434 StRspr. seit RGSt 25, (375) 377 ff. RGSt 38, 34 (34 f.); BGHSt 11, 111 (112); 14, 269; 43, 306 (308); BGH, NJW 1960, 2253 f.; NStZ 1996, 34 (34); ebenso: Kröger, Die Rechtfertigung des ärztlichen Heileingriffs (2004), S. 98 ff. 435 Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 707); s. Putzke, MedR 2008, S. 268 ff. (S. 269); Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. A 1778 ff. (S. A 1778). 436 So Schönke/Schröder/Eser, StGB (2006), § 223 Rdnr. 30 sowie Kühl, StGB (2007), § 223 Rdnr. 8 jeweils m.w.N.; Meyer, GA 145 (1998), S. 415 ff. (S. 418 ff.).
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derspruch zu den gesellschaftlichen Wertvorstellungen steht. Zu verfangen vermag der logische Schluss Putzkes zudem darum nicht, weil er mit einem Kategorienfehler behaftet ist. Putzke versucht, von einem logischen Verhältnis auf einen empirisch durchsetzten Sachverhalt zu schließen; selbst wenn die Tatbestandsmäßigkeit der Heilbehandlung (Rechtsprechungsansicht) mit deren allgemeiner Missbilligung gleichgesetzt werden könnte, woran sachlich und formal erhebliche Zweifel anzumelden wären,437 ist noch keine Aussage darüber getroffen, inwiefern anders motivierte Übergriffe in die Körperintegrität in sozialer Hinsicht ebenfalls einer sozialen Missbilligung begegneten. Weil von der rechtlichen Befassung eines bestimmten Verhaltens nicht ohne weiteres auf das Maß oder die Art an gesellschaftlicher Billigung geschlossen werden kann, dem jenes Verhalten begegnet, kommt den Bestrebungen der Gesetzgebung, Kinder vor unnötigen medizinischen Körpereingriffen zu bewahren438 sowie den Äußerungen der Rechtswissenschaft, Kindern ein Wahlrecht zuzugestehen und die religiöse Beschneidung bis zum Vorliegen der Einsichtsfähigkeit des betroffenen Kindes zu verschieben,439 hinsichtlich der Frage nach der allgemeinen gesellschaftlichen Billigung der Knabenbeschneidung lediglich eine begrenzte Aussagekraft zu. Dass der Zirkumzision weder im Judentum noch im Islam eine zugehörigkeitskonstituierende Funktion zukommt bzw. dass durchaus Alternativen zur körperlichen Beschneidung zur Verfügung stehen und auch praktiziert werden, führt nicht dazu, eine soziale Anerkennung der Beschneidung von vornherein als „Mythos“ abzulehnen.440 Wie zur Frage der sozialen Unverdächtigkeit bereits ausgeführt gilt auch hier, solange die klassische Zirkumzision weder im Judentum noch im Islam aufgegeben, d. h. nicht mehr für ,richtig befunden wird, kann von einer Auflösung oder Preisgabe der klassischen Beschneidungskultur nicht die Rede sein. An dem traditionellen 437 Nach der hier erarbeiteten Konzeption sind rechtliche und soziale Billigung zwei diverse Sachverhalte: s. oben Teil 4, A. II. 3. a) (1) „Bezugspunkt der allgemeinen Billigung“. 438 Vgl. hierzu insbes. Art. 24 Abs. 3 UN-Kinderrechtskonvention (in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 05. 04. 1992, BGBl. II, S. 990): „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“ – hierunter ließe sich die Knabenbeschneidung subsumieren (Putzke, FS Herzberg [2008], S. 669 ff. [S. 704]; Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff. [S. 787]; vgl. von Bueren, The international law on the rights of the child [1998], S. 307, der seine Darstellung indes auf weibliche Genitalmodifikationen beschränkt); Nr. 5 S. 2 Charta für Kinder im Krankenhaus (sog. EACH-Charta; anlässlich der 1. Europäischen Konferenz „Kind im Krankenhaus“ im Mai 1988 in Leiden/ Niederlande verabschiedet): „Jedes Kind soll vor unnötigen medizinischen Behandlungen und Untersuchungen geschützt werden“. 439 Goldman, Questioning Circumcision (1998), Appendix G; Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 706); Putzke, MedR 2008, S. 268 ff. (S. 272); Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. 783 ff. (S. 787); van Howe et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 63 ff. (S. 68 u. 70). 440 So Goldman, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 93 ff.: „It appears that few involved in the decision to circumcise are aware that the pair is severe […] has long-term effect […] Furthermore, myths about social acceptance die hard“ (a.a.O., S. 97).
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
Ritus wird weit überwiegend weiterhin festgehalten. Gleichwohl muss bedacht werden, dass mit einem Wandel des gruppenspezifischen Selbstverständnisses die Basis der allgemeinen Billigung in Frage gestellt würde; eine gruppenumfassende Distanzierung vom klassischen Beschneidungsritus schlösse in jedem Fall a priori aus, den Eingriff weiterhin als sozialadäquat zu betrachten. Da eine Verhaltensweise, die nicht einmal von einem gesellschaftlichem Teil als integral begriffen wird, ihren Charakter als einen Handlungstypus verlieren würde und es darum obsolet werden würde, nach der Zubilligung eines entsprechenden Handlungsraumes durch das gesellschaftliche Ganze zu fragen. Muss die allgemeine Billigung der rituellen Knabenbeschneidung jedoch womöglich darum verneint werden, weil das Christentum auf das Beschneidungserfordernis verzichtet und die Zirkumzision damit bewusst ablehnt, so dass zu schlussfolgern wäre, von einem mehrheitsfähigen Ritus könne in der hiesigen christlich-abendländischen Tradition nicht die Rede sein?441 Die Frage zu stellen, heißt, sie zu verneinen. Der Umstand, dass ein Verhalten nicht vom der Gesamtheit aller Gesellschaftsmitglieder ausgeübt zu werden pflegt, stellt dessen allgemeine Billigung noch nicht in Abrede. Schließlich ist der Sozialadäquanzlehre schon konzeptionell an der rechtlichen Berücksichtigung von Eigenheiten sozialer Teilbereiche gelegen. Die Billigung eines Verhaltensmusters notwendig von dessen Übernahme durch die Gesamtgesellschaft abhängig zu machen, stünde dem Anliegen der Sozialadäquanzlehre also diametral entgegen. Die angesprochenen Beispielsfälle, wie etwa der des Maibaumdiebstahls, zeigen, dass für das Sozialadäquanzmerkmal der allgemeinen Billigung die gesellschaftliche Zubilligung eines Raumes ausreicht, innerhalb dessen eine soziale Gruppe berechtigt ist, mit der fraglichen Verhaltensweise ihrem Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen (sog. kultureller Pluralismus) – auch und v. a. gegenüber der Gesamtgesellschaft. Eine gesamtgesellschaftliche Übung ist demgegenüber nicht erforderlich. Nicht zuletzt, weil die Frage nach der sozialen Adäquanz eines Verhaltens dort kaum auftauchte, wo ohnedies alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft eben dieses ausübten. Maßgeblich und ausreichend für die vorliegende Frage ist somit der Nachweis, dass der Ritus von einer sozialen Gruppe mit einer, sich nicht auf die Tatbestandsmäßigkeit erschöpfenden Richtigkeitsüberzeugung ausgeübt wird, und der Ritus seitens der Gesamtgesellschaft nicht mit Missbilligung belegt ist. Allein der Verzicht auf das Beschneidungserfordernis im Christentum bezeugt nichts weiter als die Bedeutungslosigkeit dieses Ritus für die christliche Doktrin; die Knabenbeschneidung ist kein christlicher Glaubensbestandteil. Als solche abgelehnt ist sie damit allerdings nicht.442 Eine deutliche gesellschaftliche Missbilligung/Ablehnung der Knabenbeschneidung ist mithin nicht zu verzeichnen. Ebenso wenig festzustellen ist die klare soziale Billigung/Akzeptanz dieses Ritus. Stattdessen ist die rituelle Knabenbeschneidung bisher überhaupt kein Gegenstand einer merklichen gesellschaftlichen Auseinander441 442
Jerouschek, in: Haedrich, Muslime im säkularen Staat (2009), S. 113 ff. (S. 122). Vgl. Miller, New York University School of Law 1999, S. 1 ff. (S. 10).
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setzung gewesen. Abgesehen von den wenigen ausführlicheren, inhaltlich jedoch divergierenden Stellungnahmen seitens der Rechtslehre443 ist eine gesellschaftliche Befassung mit der Zirkumzision, etwa im Rahmen einer Wertediskussion, kaum zu verzeichnen.444 Darum die allgemeine Billigung der rituellen Knabenbeschneidung jedoch sogleich zu verneinen,445 ist mit Blick auf das Anforderungsprofil der Sozialadäquanzlehre zumindest vorschnell. Der Anmerkung Welzels folgend, ist sozialadäquates Verhalten nämlich „keineswegs notwendig ein sozialvorbildliches Verhalten, sondern ein Verhalten im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit“446. Gerade weil eine spürbare soziale Stellungnahme zur religiös motivierten Zirkumzision von Knaben – im Gegensatz zur Beschneidung von Frauen – fehlt, liegt die Annahme allgemeiner Akzeptanz nahe! Das Ausbleiben einer gesellschaftlichen Befassung ist Anzeichen für die Selbstverständlichkeit sowie für die Implementierung der mit der Zirkumzision verfolgten Intention in den Wertehorizont der hiesigen Kulturgemeinschaft. Denn erst der Widerspruch zu den herrschenden gesellschaftlichen Anschauungen evoziert eine allgemeine Auseinandersetzung mit dem fraglichen Handlungsmuster. Wo das Handlungsmuster hingegen Teil des anerkannten Wertekanons ist, wird es an einer positiven Befassung seitens der Gesellschaft fehlen. Wo eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit einem deutlich wahrnehmbaren Handlungsmuster fehlt, ist in der Terminologie der Sozialadäquanzlehre ein Feld der sozialen Handlungsfreiheit zu verzeichnen. Selbst in den USA fokussiert die Beschneidungsopposition bemerkenswerterweise weit überwiegend auf den dort üblichen ACHTUNGREsäkularen, postnatalen Routineeingriff,447 wohingegen die religiös motivierte Knabenbeschnei443 Gegen die „Rechtmäßigkeit“ der Beschneidung etwa Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. (S. 319); Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 707); Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 109 – 120 bzw. van Howe et al., BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 63 ff. speziell zu den USA, dem Vereinigten Königreich sowie der völkerrechtlichen Rechtslage. Für deren „Rechtmäßigkeit“: Gropp, AT (2005), Rdnr. 231; Rohe, JZ 2007, S. 801 ff. (S. 805); Schwarz, JZ 2008, S. 1125 ff. (S. 1128) oder mit Zweifeln Fischer, StGB (2008), § 223 Rdnr. 6b. 444 Das Eingangszitat der vorliegenden Arbeit von Freeman, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 74 f. (S. 77) zeigt allein die Heftigkeit einer Auseinandersetzung, die gerade nicht auf gesellschaftliche Wertüberlegungen fundierend zurückgreifen kann; an letzteren fehlt es, gerade weil die Zirkumzision keine gesellschaftliche Debatte auslöst. Vgl. Fischer, StGB (2008), § 223 Rdnr. 6b oder Gropp, AT (2005), § 6 Rdnr. 231, die zum Ausmaß an gesellschaftlicher Verankerung gänzlich schweigen, während Schneider, Die männliche Beschneidung (2008) soziale Anschauungen als „viel zu vage […], um davon eine Strafbarkeit abhängig zu machen“ (a.a.O., S. 114) bewusst aus der rechtlichen Bewertung der Beschneidung heraushalten will. 445 Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff. bemerkt apodiktisch: „Von empirisch verstandener Sozialadäquanz kann, in Deutschland jedenfalls, auch keine Rede sein“ (a.a.O., S. 317). Auch Fischer, StGB (2008), § 223 Rdnr. 6b hält die Sozialadäquanz der Beschneidung expressiv verbis für zweifelhaft. Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 338) lässt das „kulturelle Argument“ a limine nicht gelten. 446 Welzel, Strafrecht (1969), S. 56; vgl. bereits Welzel, Strafrecht (1947), S. 36; auf den Aspekt der sozialen Handlungsfreiheit weist ebenfalls BGHSt 23, 226 (228) hin; ebenso OLG München, NStZ 1985, 549 (550). 447 So bspw. die National Organization of Circumcision Information Resource Centers (kurz: NOCIRC), die auf ihren Internetauftritt schreibt: „Only the USA circumcises the ma-
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
dung wiederum kaum Gegenstand der Erörterung ist. Somit ist es – auch für die hiesige Kulturgemeinschaft – zudem sachlich nahe liegend, das Fehlen einer Auseinandersetzung mit der rituellen Beschneidung als Indiz dafür zu lesen, dass die beschneidungsinhärente Intention keine Herausforderung darstellt, sondern eher auf Akzeptanz zurückgreifen kann.448 Die These lautete darum, dass die Knabenbeschneidung – konträr zur Beschneidung von Mädchen – gerade deshalb nur kaum erörtert wird, weil sie für sozial selbstverständlich erachtet wird, d. h. allgemein gebilligt ist. Seine Bestätigung findet die Annahme, den Mangel an gesellschaftlicher Wertediskussion für die Billigung der jeweiligen Verhaltensweise zu reklamieren, auch in der Struktur der oben genannten Beispiele sozialadäquater Rechtsgutsverletzungen. Weder bzgl. den beförderungsbedingten Freiheitsberaubungen in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Nachteil irrtümlich Zugestiegener, noch in den Fällen des Maibaumdiebstahls oder der Otoplastik ist eine spürbare gesellschaftliche Auseinandersetzung im Sinne eines propositionalen Diskurses zu verzeichnen. Obgleich diese Verletzungshandlungen wahrgenommen werden, d. h. keinesfalls unbekannt sind, geben sie keinen spürbaren Anlass zu gesellschaftlicher Befassung. Dennoch kann bzgl. dieser Verhaltensweise von einer sozialen Billigung ausgegangen werden – die genannten Verhaltensmuster entsprechen dem Selbstverständnis der hiesigen Kulturgemeinschaft. So hat auch die Rechtswissenschaft ihren Fokus auf diese Fälle ausschließlich aufgrund der Schwierigkeit einer rechtsdogmatischen Begründung des von vornherein unstreitigen Ergebnisses gerichtet. Ausschließlich die Frage, wie diese Verletzungshandlungen dem Strafbarkeitsverdikt entzogen werden können, stand auf der Agenda der Erörterungen – nicht allerdings das Ob. Doch ist der Umstand der fehlenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung für sich nur dann hinreichend, den Beschneidungsritus für einen der Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Ritus zu erklären, wenn dieses Schweigen keine erzwungene Stille ist. Entsprechend führt der Beschneidungsopponent Putzke die mangelnde gesellschaftliche Auseinandersetzung auf die Angst zurück, mit der etwaigen Abgabe einer Stellungnahme zur religiösen Beschneidung ein tabubehaftetes Thema aufzugreifen und dadurch möglicherweise dem Missverständnis einer verbrämten Kritik an Mitmenschen zu verfallen.449 Mit anderen Worten, zwar sind die Grenzen elterlicher Bestimmungsmacht spätestens seit der regen Disjority of newborn boys without medical or religious reason“ (http://www.nocirc.org/ [abgerufen am 02. 12. 2009] – Hervorhebung durch den Autor: T.E.); allg. zum Verhältnis von Beschneidung und sozialer Norm in Amerika Waldeck, University of Cincinnati Law Review 455 (2003/ 2004), S. 455 ff. Wird die religiöse Beschneidung in den Blick genommen, erfolgt überwiegend eine kritische Auseinandersetzung mit der weiblichen Beschneidung (s. etwa Chessler, Buffalo Law Review 45 [1997], S. 555 ff. (S. 606) oder Spinner-Halev, Theoretical Inquiries in Law 9 [2008], S. 553 ff. [S. 571]: „Traditional male circumcision, with its fleeting pain, is not much of an issue, particularly now that we know it drastically reduces the risk of contracting AIDS.“). 448 Schneider, Die männliche Beschneidung (2008), S. 48 spricht unbelegt gar davon, „dass die [medizinisch nicht indizierte] Beschneidung an männlichen Kleinkindern in Deutschland weit verbreitet ist und allgemein akzeptiert wird“. Vgl. auch a.a.O., S. 121 ff. 449 Putzke, FS Herzberg (2008), S. 669 ff. (S. 680).
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kussion und schlussendlichen Einführung eines Rechts auf gewaltfreie Erziehung in Bezug auf den kindlichen Körper deutlich gezogen, dass in diesem Rahmen die Knabenbeschneidung jedoch augenscheinlich nicht Diskussionsgegenstand wurde, könnte ebenso gut der Tabuisierung dieser speziellen Eingriffsform geschuldet sein.450 Fernab der Frage, ob die Knabenbeschneidung tatsächlich mit einem Tabu belastet ist, welches die Befassung mit diesem Thema ausschließt, begegnet die Schlussfolgerung Putzkes zweierlei Einwänden. Zunächst ist zu erwägen, ob die etwaige Tabubehaftetheit des Beschneidungsthemas nicht vielleicht als evidenter Ausdruck für dessen soziale Billigung gewertet werden muss. Kern dieser Sichtweise wäre die Überlegung, dass auch Tabus notwendig auf einen gewachsenen Konsens gründen. Tabus sind stillschweigende Gebote, diejenigen Vorstellungen nicht in Frage zu stellen, die zumindest von einem erheblichen Teil der Sozialgemeinschaft einhellig geteilt werden.451 Die Tabuisierung ist ein Immunisierungsinstrument gegen die Infragestellung eines Verhaltens, das begriffslogisch nur dort erwachsen kann, wo das mit dem Tabu abgesicherte Verhalten zunächst einmal für richtig befunden worden ist. Das Tabu ist ein bipolarer Begriff. Die Tabuisierung verwiese folglich zu gleichen Teilen darauf, dass der mit ihm belegte Gegenstand öffentlicher Kritik ausgesetzt ist, die aufgrund des Tabus aus Angst nicht geäußert wird, wie auch auf den Umstand, dass eben dieser Gegenstand von einem spürbaren Bevölkerungsteil gebilligt und deshalb mit einem Tabu abgesichert wird – und von der Zulässigkeit, ein Verhalten mit dem Attribut sozialadäquat zu versehen, obgleich es partiell auf Ablehnung stößt, ist oben die Rede gewesen.452 Zum anderen ist entgegen Putzke anzuzweifeln, ob die angenommene Tabuisierung an sich überhaupt in der Lage wäre, ein sublim vorhandenes Bedürfnis an expressiv-ablehnender Erörterung des entsprechenden Themas auszuschließen. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um nicht minder tabubelastete Themen wie aktiver Sterbehilfe, staatlicher Folter zur Terrorbekämpfung oder etwa den Absprachen im Strafprozess, darf die Wirkkraft des Tabus auf die Befassung mit einem derart belasteten Gegenstand nicht überbewertet werden. Es ist anzuzweifeln, ob die Tabuisierung für sich allein hinreicht, einen Diskurs über ein Verhaltensmuster auszuschließen – insbesondere angesichts der grundrechtlich gewährleisteten (s. Art. 5 Abs. 1 u. 2 GG) und facettenreich ausgestalteten Medienlandschaft der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland. Baute die Beschneidung also nicht auf der Akzeptanz der überwiegenden Bevölkerung, müssten neben der Tabubelastung weitere Gründe benannt werden, durch welche die Bevölkerung von der Befassung mit der Zirkumzision abgehalten werden sollte. Festzuhalten ist: Sollte die Befassung mit 450 Auszuschließen ist hingegen, den Mangel an Erörterung auf fehlendes Wissen um die Folgen der Beschneidung bzw. deren Verharmlosung zurückzuführen, wenn zugleich mit § 1631 Abs. 2 BGB ein deutliches Bewusstsein von den Folgen weitaus weniger invasiver Züchtigungshandlungen manifestiert wurde. 451 Seibel, Zum Begriff des Tabus (1990), S. 1 ff.; s. Kraft, in: Radeck, Tabu (2006), S. 9 f. 452 Teil 4, A. II. 1. unter dem Titel „Consuetudo“ – Die Frage wäre dann, wie groß das Maß an Ablehnung werden darf bzw. wie umfassend die Billigung durch einen erheblichen Gesellschaftsteil zu sein hat, um ein Verhalten berechtigtermaßen als sozialadäquat einzustufen.
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
der Knabenbeschneidung mit einem Tabu belastet sein, so zwänge dies nicht zu dem Schluss, den Mangel an gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit der sozialen Missbilligung der Knabenbeschneidung gleichzusetzen. Ebenso nahe liegend wäre es, das Tabu als Indiz der sozialen Akzeptanz der Beschneidung zu lesen. Die Kernfrage lautet freilich, ob die rituelle Knabenbeschneidung tatsächlich ein mit einem Tabu belasteter Körpereingriff ist: Fehlen gesellschaftliche Stellungnahmen allein darum, weil mit der diskursiven Auseinandersetzung der Zirkumzision ein Tabubruch begangen werden würde? Ob ein Thema mit einem Tabu belegt ist oder nicht, ist eine schwer entscheidbare Wertungsfrage; nicht zuletzt, weil die Tabuförderer selten zu erkennen geben werden, dass sie das Thema nicht bloß vor unsachlichen, sondern vor jedweder Infragestellung schützen wollen. Dennoch sind Gründe benennbar, die gegen die Tabuisierung der Beschneidung sprechen. Zum einen ist in den jeweiligen Glaubensrichtungen selbst eine stete Auseinandersetzung um die Zirkumzision zu verzeichnen. Bspw. kam es 1873 im Frankfurt a.M. zur Gründung einer jüdischen Reformgesellschaft, die öffentlich in Distanz zu den überkommenen Ritualen ging; auch gelang eine 1990 unter jüdischen Bürgern (allerdings in Amerika) durchgeführte Studie zu dem Ergebnis, dass ein Trend hin zu einem reformorientierten Ansatz bestehe, der auf die Ausführung der traditionellen Riten verzichtet.453 Freilich darf nicht verhehlt werden, dass jene Distanzierungsversuche zum Teil auf beachtlichen religionsinternen Widerstand gestoßen sind, der eine öffentliche Diskussion dieses Themas zum Teil mit harschen Methoden zu verhindern suchte. V.a. im Islam sind insofern erhebliche Fundamentalisierungstendenzen erkennbar. So wurde gegen den reformorientierten libyschen Richter al-Mahdawi wegen der Veröffentlichung eines Buches, in welchem er die Zirkumzision in Frage stellte, 1992 seitens des Predigers der Moschee des Propheten in Medina eine Fatwa ausgesprochen.454 Von solch einer, über ein übliches Maß an Beharrung und Kritik hinausgehender Unantastbarkeit des Beschneidungsthemas kann auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht die Rede sein. Nicht nur weil dieses Thema augenscheinlich zwischenzeitlich Gegenstand (zumindest) juristischer Auseinandersetzung geworden ist, ohne vergleichbar kämpferische Proteste ausgelöst zu haben. Auch und vielmehr irritiert, weshalb einerseits mit dem Tragen eines Kopftuches ein wesentlicher Bestandteil des muslimischen Glaubens offen diskutiert werden kann,455 wenn zugleich der muslimische Ritus der Beschneidung mit einem Tabu belegt sein soll. Auffällig ist zudem, wenn sich Rechtswissenschaftler wie Rohe in monographischem Umfang den Alltagskonflikten zwischen Islam und deutscher Rechtsordnung (Moscheebau, islamisch geprägtes Familienrecht, Schäch453 Ersteres: Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 45 f.; zu letzterem: Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 2 ff. Allg. zur Etablierung alternativer Sichtweisen zur jüdischen Beschneidung: Goodmann, BJU 83 (1999), Suppl. 1, S. 22 ff. 454 Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 77 f.; s. ebd., S. 46 auch zur Reaktion innerhalb des Judentums. 455 Exempl.: BVerfG, NVwZ 2003, 1248 [„Kopftuch“-Urteil]; BAG, GewA 2003, 244; Bader, NJW 2007, S 2964 ff.; ders., NVwZ 2006, S. 1333 ff.; Zuck, NJW 1999, S. 2948 ff.
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ten usw.) widmen, zugleich jedoch die Knabenbeschneidung ohne umfangreiche Auseinandersetzung zu einem sozialadäquaten Verhalten erklären.456 Bleiben bestimmte Glaubenstraditionen unbeleuchtet, während gleichzeitig andere religiöse Riten eine ausführliche gesellschaftliche Auseinandersetzung erfahren, wird zweifelhaft, warum nun gerade ein religiöses Tabu und nicht die Akzeptanz jener unerörterten Traditionen die Ursache für das Ausbleiben einer kritischen Auseinandersetzung sein sollte. Zuletzt wäre es auch wenig tragfähig, von einer unterstellten Befürchtung, jedwede Kritik an dem Ritus der Beschneidung weise eo ipso einen spezifischen Bezug auch auf das Judentum und darum die Gefahr des Missverständnisses antisemitischer Äußerung auf,457 auf die allgemeine Angst zu extrapolieren, dass aus diesem Grunde selbst die kritische Auseinandersetzung mit dem muslimisch tradierten Ritus a priori ausgeschlossen wäre. Zum einen kommt die Knabenbeschneidung auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen statistisch gesehen weitaus häufiger im muslimischen als im jüdischen Traditionszusammenhang vor,458 so dass kritische Äußerungen vielmehr Gefahr laufen müssten, als muslimfeindlich denn als antisemitisch eingestuft zu werden. Zum anderen ist gegenwärtig ein durchaus offener, überwiegend vorurteilsfreier Diskurs zwischen Juden, Muslimen und der sog. Mehrheitsgesellschaft zu verzeichnen, wie bspw. die mit 300 Teilnehmern öffentlichkeitswirksame Tagung „Juden und Muslime in Deutschland – Gemeinsam fremd?“ 1999 in Hamburg ebenso belegt,459 wie die breite Auseinandersetzung mit dem Beschneidungsritus in den Ressorts großer Zeitungen.460 Die Annahme einer Scheu vor dem Beschneidungsthema, aus der Angst antisemitischer Gesinnung gezeiht zu werden, ist mithin wenig schlüssig. Dass eine Tabuisierung die diskursive Auseinandersetzung mit der Knabenbeschneidung verwehrt, ist mithin nicht anzunehmen.
456 Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen (2001), S. 193 f.; s. auch ders., JZ 2007, S. 801 ff. (S. 805). 457 Vgl. dazu Goldman, Questioning Circumcision (1998), S. 92 f. 458 Zu schließen ist dies aus dem Umstand, dass trotz statistischer Erhebungsschwierigkeiten insbes. bzgl. der Anzahl der Muslime in der BRD (Lemmen, Muslime in Deutschland [2001], S. 36 f.) die Zahl der Menschen muslimischen Glaubens auf ca. 3 Millionen geschätzt wird (Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen [2001], S. 61; http://www.phoenix.de/ 47975.htm [abgerufen am 02. 12. 2009]), während die der Menschen mit jüdischem Glauben lediglich bei 100.000 bis 200.000 liegen dürfte (ersteres: http://www.zentralratdjuden.de/de/ article/764.html [abgerufen am 02. 12. 2009]; letzteres: http://www.phoenix.de/47975.htm [abgerufen am 02. 12. 2009]). 459 Vgl. dazu die entspr. Publikation: Hafez/Steinbach, Juden und Muslime in Deutschland (1999). Ähnlich die Tagung „Muslime im säkularen Rechtsstaat“ (Haedrich, Muslime im säkularen Staat [2009] – dort wurde gar über Beschneidung vorgetragen [a.a.O., S. 113 ff.]). 460 Bspw. F.A.Z. (Sonntagszeitung) Nr. 28 aus 2009, S. 23; F.A.Z. (Sonntagszeitung) Nr. 38 aus 2008, S. 5; F.A.Z. Nr. 166 aus 2008, S. 35; F.A.Z. Nr. 292 aus 2007, S. Z 1; F.A.Z. Nr. 197 aus 2006, S. 10; FR-online vom 07. 05. 2008 [„Religion, ganz vernünftig“]; WELT-online vom 09. 08. 2007 [„Kruzifixe ins Klassenzimmer – Kopftücher raus“].
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
Im Ergebnis ist an dieser Stelle darum festzuhalten, dass das Ausbleiben einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung Ausdruck der allgemeinen Billigung der traditionellen Knabenbeschneidung ist. Anhaltspunkte für eine Tabuisierung, wodurch die Entstehung einer kontroversen Diskussion a limine blockiert sein könnte, sind nicht ersichtlich. Ein spannungsreicher Wertewiderspruch, der die allgemeine Billigung der beschneidungsinhärenten Wertvorstellungen seitens der bundesdeutschen Wertordnung in Frage stellte, ist ebenso wenig zu verzeichnen wie eine Aufgabe des Beschneidungsmotivs durch die jüdische oder muslimische Glaubensgemeinschaft. Die mit der Knabenbeschneidung verfolgte Intention der körperbezogenen Identitätsvermittlung und -schaffung wird von den Glaubensgemeinschaften weiterhin verfolgt und wird vom bundesdeutschen Selbstverständnis stillschweigend anerkannt. Aus diesem Grunde ist die Zirkumzision ein allgemein gebilligter Körpereingriff.
III. Geschichtliche Üblichkeit Indes reicht allein das gehäufte und darum erwartbare Vorkommen der rituellen Beschneidung, welches zudem keine deutliche gesellschaftliche Opposition auslöst, zur Aufhebung des tatbestandlichen Unrechtsurteils noch nicht hin. Um das Strafrecht nicht der unbeständigen Dynamik sozialer Wertvorstellungen auszuliefern, ist weiterhin erforderlich, dass die mit der Zirkumzision verfolgten Wertvorstellungen zugleich dem historisch verfestigten Kerngehalt der kulturellen Geistesverfassung der Bundesrepublik Deutschland zurechenbar sind.461 Über das dritte Voraussetzungselement sozialadäquaten Verhaltens, jenem Nachweis der geschichtlichen Verfestigung des Beschneidungsritus, wird zugleich ausgeschlossen, vorschnell allein darum auf das Prädikat der Sozialadäquanz zu erkennen, nur weil die fragliche Verhaltensweise bisher noch keiner diskursiven Wertekontroverse begegnet ist und ebendiese Zurückhaltung für die allgemeine Billigung des Verhaltens in Anspruch genommen werden könnte. Vorschnell wäre dieser Schluss, weil das Ausbleiben einer Werteauseinandersetzung zwar notwendig ist, für sich jedoch noch nicht hinreicht, um ein Verhaltensmuster für allgemein anerkannt, d. h. als Ausdruck eines gebräuchlichen sozialen Selbstverständnisses und damit als sozialadäquat einstufen zu können. Ebenso gut könnte die fehlende gesellschaftliche Auseinandersetzung auf einen Mangel an sozialer Wahrnehmbarkeit rückführbar sein, ACHTUNGREnamentlich weil das Verhaltensmuster eine bloß vorübergehende, temporäre Erscheinungsform ist. Denn auch ein sozial nicht wahrgenommenes bzw. nicht wahrnehmbares Verhaltensmuster würde keinerlei gesellschaftliche Kontroverse evozieren. Aufgabe des einschränkenden Kriteriums der historisch gewachsenen Üblichkeit ist darum, sicherzustellen, dass im Ergebnis nur solchen Verhaltensweisen „soziale 461
Lenzen-Schulte, F.A.Z. Nr. 215 aus 2009, S. N 1 hingegen will eine traditionell-soziale Verankerung für die rechtliche Bewertung der Knabenbeschneidung a limine nicht gelten lassen. Ebenso argumentiert Herzberg, ZIS 2010, S. 471 ff. (S. 475): „Das Argument, ein bestimmtes Tun sei seit Jahrhunderten üblich und toleriert worden, kann ethische und rechtliche Fragen nicht entscheiden“.
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Adäquanz“ attestiert wird, die wegen der Dauer ihrer Ausübung zumindest hätten wahrgenommen und zum Gegenstand einer Wertekontroverse gemacht werden können, wenn sie denn in Widerspruch zu den sozialen Anschauungen stehen würden. Erst das Merkmal der geschichtlichen Üblichkeit vermeidet die unberechtigte Zuerkennung von Sozialadäquanz infolge einer letztlich fehlerhaften Gleichsetzung des Fehlens gesellschaftlicher Aufmerksamkeit mit der allgemeinen Billigung und schließt somit die mögliche Anerkennung kurzfristiger Trends als „sozialadäquate“ Verhaltensweisen aus. Das Merkmal der geschichtlichen Üblichkeit sichert somit die Vereinbarkeit der Welzelschen Lehre mit den Forderungen der Rechtssicherheit und -einheit. Aufgrund ihres alttestamentlichen Ursprungs verfügt die Knabenbeschneidung nach jüdischer Provenienz über jene historisch gewachsene Einbindung in die hiesige Geistesverfassung. Sie ist ein festgefügter und althergebrachter Bestandteil der für die Kulturtradition der Bundesrepublik Deutschland typischen Symbiose aus christlicher und jüdischer Glaubensausrichtung.462 Jüdische Glaubensinhalte und Riten zählen untrennbar zum Bestand des kulturellen Erbes des hiesigen Gemeinschaftslebens. Selbst stets wiederkehrende Wellen antijüdischer Aktionen sowie antisemitischer Agitation haben die Verankerung jüdischer Traditionen im Einzugsbereich der Werteordnung der heutigen Bundesrepublik Deutschland nicht auflösen können.463 Starke jüdische Gemeinden und Verbände haben den Beschneidungsritus über Jahrhunderte hinweg und mit ihm dessen kulturelle Verankerung bewahrt. Die religionsinterne Differenzierung zwischen Traditionalisten und reformorientierten Juden, welche ihren Ausdruck in der partiellen Anerkennung der bloß symbolisierenden Beschneidungsform (die sog. bris shalom) findet, sowie die Möglichkeit, die Beschneidung in Fällen von Lebensgefahr oder gegenwärtiger Krankheit des Kindes zu suspendieren,464 nivellieren jene geschichtliche Verfestigung der invasiven Knabenbeschneidung nicht. Die bestehenden Alternativrituale, Beschneidungsausnahmen sowie die Möglichkeit der Verschiebung des Eingriffs in das Erwachsenenalter verweisen zunächst einmal lediglich auf die Option, tradierte Riten ggf. durch Entübung auch aufzugeben. An dem aktualen Zustand der historisch überlieferten rituellen Zirkumzision und der Tatsache deren fortbestehender Ausübung ändert dies indessen nichts.465 Die Zirkumzision jüdischen Brauchs ist integraler Bestandteil der 462 Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 66; vgl. Glass, BJU 83 (1999), S. 17 ff. (S. 21); Jerouschek, NStZ 2008, S. 313 ff.: „Der Brauch der Beschneidung wird in der abendländischen Christenheit zwar nicht geübt, er ist aber aus der Bibel durchaus bekannt“ (a.a.O., S. 313). 463 Zum wechselreichen Verhältnis zwischen Judentum und Papsttum: Brechenmacher, Der Vatikan und die Juden (2005). 464 Zu diesen Möglichkeiten und deren Verankerung im jüdischen Beschneidungsrecht des Talmud (insbes. Rückgriff auf 3. Mose 19, 28) und des Shulkhan Arukh (scil. eine Gesetzessynopsis des Judentums): Goldman, Questioning Circumcision (1998), Appendix G; Glass, BJU 83 (1999), S. 17 ff. (S. 18); s. auch Spiegel, Was ist koscher? (2007), S. 39. 465 Dies scheinen Putzke/Stehr/Dietz, Monatsschrift Kinderheilkunde 2008, S. A 1778 ff. (S. A 1780) zu verkennen, wenn sie zur gegenwärtigen Lage und deren rechtlicher Beurteilung
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geschichtlich gewordenen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, sowohl was ihre dogmatische Herleitung aus den vom Christentum ebenfalls in Bezug genommenen mosaischen Überlieferungen angeht, als auch hinsichtlich ihrer tatsächlichen Ausübung. Der jüdische Ritus ist integraler Bestandteil des (bezeichnenderweise) christlich-jüdischen Herkommens des bundesdeutschen Gemeinschaftslebens. In Fortführung dieser Argumentation könnte nunmehr für den muslimischen ACHTUNGREEingriff geschlussfolgert werden, dass diesem Ritus die geschichtlich verfestigte Verbindung zu den Überzeugungen der Kulturgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland gerade fehle, und der Beschneidung muslimischen Herkommens darum im Ergebnis keine soziale Adäquanz zuerkannt werden könnte. Schließlich gründet der Eingriff jener Provenienz nicht in biblischen, sondern in muslimspezifischen Religionstexten (den sog. Hadith). Zudem kann die islamische Beschneidung auf keinen, in Bezug auf das Wertgefüge der Bundesrepublik Deutschland kulturprägenden Ausübungszeitraum zurückblicken. Von einer spürbaren Präsens islamischer Glaubensvorstellungen und -riten kann praktisch erst seit den (Arbeits-)Migrationsbewegungen der 1950er Jahre gesprochen werden.466 Hierin liegt zugleich der Grund, weshalb islamische – anders als jüdische – Traditionen nicht selten als Herausforderung für die europäische Weltanschauung resp. für das kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland begriffen werden467 sowie die Frage nach dem Verhältnis von Muslimen und Rechtsstaat Thema umfangreicher rechtswissenschaftlicher Abhandlungen ist.468 Von einer Verflechtung islamischer und christlicher Werte kann, im Gegensatz zum jüdisch-christlichen Kulturzusammenhang, nicht die Rede sein. Allerdings wäre eine Differenzierung dergestalt, dass die jüdische Knabenbeschneidung wegen der historisch gewachsenen Verbindung jüdischer und christlicher Kulturwerte für sozialadäquat befunden und die Beschneidung nach muslimischen Glaubensvorstellungen mangels eines vergleichbaren Wertekonnexes unter das Verdikt der §§ 223, 224 StGB subsumiert würde, nicht nur vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes in dessen spezieller Ausformung des Verbots religiöser Ungleichbehandlung (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG) problematisch, vielmehr und insbesondere widerspräche eine solche Differenzierung grundlegend der Konzeption der SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre. Aus dem Wesen und Anspruch der SozialadäACHTUNGREquanzACHTUNGRElehre folgt zwanglos, dass es bei der juristischen Bewertung der beiden Formen der Vorhautentfernung prospektiv ins Feld führen: „Denn je mehr Jungen nicht beschnitten werden, umso weniger wird dieser Zustand Anlass für Stigmatisierung sein“; vgl. ähnlich auch Putzke, MedR 2008, S. 268 ff. (S. 272) oder Waldeck, University of Cincinnati Law Review 455 (2003/2004), S. 455 ff. (S. 505). 466 Oebbecke, in: Bauer/Wilke, Muslime im Rechtsstaat (2005), S. 131 (S. 133); Rieger, in: Bauer/Wilke, Muslime im Rechtsstaat (2005), S. 109 ff. (S. 109). 467 So Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 66. 468 Etwa Bielefeldt, Muslime im säkularen Rechtsstaat (2003); Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen (2001) oder ders., JZ 2007, S. 801 ff. unter dem provozierenden Titel „Islamisierung des deutschen Rechts?“.
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ohne Differenzierung ausschließlich auf die Dauer der, mit Blick auf die hiesige ACHTUNGREKulturtradition zu ermittelnden Verbindung des inneren Movens eines einheitlichen Handlungstypus ankommen kann, welcher aus dem weitestgehend einheitlichen äußeren Erscheinungsbild jüdischer und muslimischer Beschneidung gebildet wird. Der Welzelschen Lehre zufolge soll im Rahmen der Rechtsanwendung dem Selbstverständnis der Kulturgemeinschaft in dem Sinne zur Geltung verholfen werden, dass kulturell verfestigte Muster bestimmten Verhaltens dem Anwendungsbereich des Strafrechts, unabhängig von Wortlaut oder Telos, a priori für entzogen erklärt werden. Mit anderen Worten, „Sozialadäquanz“ bezeichnet eine spezifische Form des SichVerhaltens, nicht aber die Dauer oder Art eines Wertgefüges, welches jene Verhaltensform umspannte. D.h., sie trifft keine Aussage über die Dauer des Konnexes zwischen den Wertanschauungen der Bundesrepublik Deutschland und der grundsätzlichen Wertewelt, wie sie in der Zirkumzision nur exemplarisch Ausdruck fände, sei sie nun jüdisch oder muslimisch. Bezugspunkt des Merkmals der geschichtlichen Üblichkeit ist allein das zu beurteilende Verhaltensmuster samt den ihn inhärenten spezifischen Wertvorstellungen. Zu untersuchen ist darum nicht, ob ein Gesamt von Wertvorstellungen, welche sich u. a. in der Zirkumzision niederschlägt, zum historisch verfestigten Bestandteil hiesiger Anschauungen zählt. Nachzuweisen ist stattdessen, ob die Beschneidung an sich, d. h. der Ritus mit dem Motiv körperbezogener Indentitätsstiftung, geschichtlich verfestigt mit den Wertvorstellungen der Bundesrepublik Deutschland verbunden ist. Kurzum, für die geschichtliche Üblichkeit der ACHTUNGREZirkumzision gilt es nicht, die abstrakt geschichtliche Üblichkeit jüdischer oder musACHTUNGREliACHTUNGREmischer Werte im Ganzen darzutun, sondern die religionsunabhängige Hergebrachtheit des spezifischen Verhaltensmusters „Zirkumzision“ nachzuweisen: Ist das Verhaltensmuster der Knabenbeschneidung mit der Intention körperbezogener Identitätsvermittlung ein geschichtlich übliches Verhalten – und zwar unabhängig davon, in welchen weiteren Wertezusammenhang sie konkret siedelt und wie dieser Wertekonnex sodann zur Kulturtradition der Bundesrepublik Deutschland stehen mag? Obgleich über den genauen Ausübungszeitraum der rituellen Knabenbeschneidung im Einzugsbereich der heutigen Bundesrepublik Deutschland keine gesicherten empirischen Daten vorliegen, bestehen keine Zweifel, dass dieser religiös motivierte Körpereingriff schon seit Jahrhunderten ausgeübt wird.469 Bevor im 20. Jahrhundert zusehends medizinische Indikationen für den Eingriff reklamiert wurden, war der Eingriff durch deutlich religiöse Motive bestimmt.470 Bereits der 1135 n. Chr. geborene Philosoph und Rechtsgelehrte Maimonides betonte die Widersinnigkeit solcher Reklamationen und legte fest, „niemand sollte sich selbst oder seinen Sohn aus einem anderen Grund beschneiden als dem reinen Glauben“471. Anhaltspunkte für die historische Ausbreitung der rituellen Beschneidung in der christlich dominierten Wer469 Apodiktisch: Herzberg, JZ 2009, S. 332 ff. (S. 338) – „So ist nun mal unsere Kultur von alters her, und Millionen Männer und Knaben sind beschnitten!“. 470 Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 7. 471 Zit. nach Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 36.
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tewelt liefern entsprechende Darstellungen, die in der christlichen Kunst bereits seit dem frühen Mittelalter auf Miniaturen, an Altären oder (Armen-)Bibeln nachweisbar sind. Und auch im Spätmittelalter zeigen zahlreiche Ikonographien in Deutschland das Beschneidungsmotiv, wie etwa die Werke vom Buxtehuder Altar des Meisters Bertram von Minden (1381).472 Dass die Darstellungen in den verschiedenen Epochen zugleich jeweils Spiegel der generellen Einstellung der christlichen Bevölkerung gegenüber den jüdischen Sitten und Gepflogenheiten sind,473 vermag kaum zu verwundern. Nicht selten wurde die Knabenbeschneidung zu einem Moment instrumentalisiert, um das Gesamtjudentum im Rahmen antijüdischer Ausschreitungen und Verfolgungen zu anathematisieren.474 Oftmals diente dieser Kernritus des Judentums als Werkzeug in den klerikalen Auseinandersetzungen der mittelalterlichen Attacken gegen die Juden. Fernab dieser kämpferischen Instrumentalisierungen ist jedoch festzustellen, dass die Knabenbeschneidung auch in jenen Epochen überhaupt ein im christlichen Einzugsgebiet tatsächlich ausgeübter Ritus war. Als Handlungstypus weist die Beschneidung, unabhängig konkreter Einbettungen in jüdische oder muslimische Glaubenszusammenhänge, damit ohne weiteres eine geschichtliche Dauer auf, die berechtigt, den Eingriff mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland für geschichtlich üblich zu deklarieren. Mithin erfüllt die Zirkumzision auch das dritte Voraussetzungselement sozialadäquaten Verhaltens. Die rituelle Knabenbeschneidung ist in der Bundesrepublik Deutschland eine geschichtlich übliche Betätigung.
IV. Exkurs: Rechtliche Gleichbehandlung der Beschneidung von Knaben und Mädchen Die Zirkumzision ist ein althergebrachtes Handlungsmuster und zählt darum zum beachtlichen Bestandteil des geschichtlich gewordenen, gleichsam geronnenen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland. Die historische Tiefe dieser Verankerung liefert zugleich einen Aspekt der wesentlichen Verschiedenheit, welcher die vordergründige Ungleichbehandlung hin zur allseits für strafbar befundenen weiblichen Beschneidung475 legitimiert. Trotz beachtlicher Gemeinsamkeiten (etwa der Bedeutung als Initiationsritus, Heiratsbedingung oder Traditionsverpflichtung)476 472 Umfassend: Pust et al., Der Urologe A 44 (2005), S. 277 ff.; s. ferner Pust et al., Urologe B 39 (1999), S. 335 ff. m.w.N. 473 Vgl. Pust et al., Der Urologe A 44 (2005), S. 277 ff. (S. 280). Zur Einbindung in die Ritualmord-Beschuldigungen spätmittelalterlicher Judenfeindschaft Jung, Christen und Juden (2008), S. 100 ff. 474 Vgl. dazu Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland (2002), S. 36. 475 Vgl. neben den o.g. Nachweisen in der Einleitung dieser Arbeit ausführlich Wüstenberg, FamRZ 2007, S. 692 ff. [insbes. S. 692]; Wüstenberg, Der Gynäkologe 10 (2006), S. 824 ff.; ferner Kentenich/Utz-Billing, Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), S. A 842 ff. [S. A 845]; vgl. die Anfragen in BT-Drucks. 16/1391, S. 3 und BT-Drucks. 14/6682, S. 10 f. sowie jüngst den Beschlussantrag BT-Drucks. 16/9420, S. 3 und BR-Drucks. 867/09 (dazu: Hagemeier/Bülte, JZ 2010, S. 406 ff.; Hahn, ZRP 2010, S. 37 ff.). 476 Vgl. Miller, New York University School of Law 1999, S. 1 ff. (S. 105 ff.).
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sind die Beschneidung von Knaben und Mädchen, abgesehen von der deutlichen Verschiedenheit im Maß an allgemeiner Billigung, auf welches diese beiden Formen der Beschneidung treffen, schon darum wesentlich verschieden, weil der Eingriff zu Lasten von Frauen in der Bundesrepublik Deutschland auf keinen geschichtlich verfestigten Ausübungszeitraum zurückblicken kann. Zudem und darüber hinaus intendiert die weibliche Genitalbeschneidung die Unterdrückung von Sexualität,477 verfolgt also ein ganz anderes Motiv als die rituelle Beschneidung von Knaben, der es hierauf nicht ankommt.478 Die wesentliche Verschiedenheit der weiblichen Form der Beschneidung hin zur Knabenbeschneidung verbietet darum, über Art. 3 GG die rechtliche Bewertung der einen Form des Eingriffs auf die jeweils andere zu übertragen. Der Unterschied an kulturgeschichtlichem Herkommen sowie an der mit den beiden Riten jeweils verfolgten Motive liefert mithin ein legitimes Differenzierungskriterium.479 Die hier sehr wohl zwischen religiös motivierten Handlungen vorgenommene Differenzierung ist darum keine Differenzierung am Maßstab der Religion, welche von Art. 3 Abs. 3 GG ausgeschlossen wäre. Anknüpfungspunkt für die unterschiedliche Behandlung ist die Verfestigung der kulturellen Beziehung der fraglichen Handlungsform mit den übrigen, anderen gewachsenen Traditionen sowie die dem Handlungstypus „Beschneidung“ inhärenten Handlungsmotive – nicht jedoch die jeweils hinter den beiden Beschneidungsvarianten stehende Religion als solche.480 Knabenbeschneidung und Beschneidung von Mädchen sind als wesentlich verschiedene Formen des Eingriffs in den Körper mithin legitimerweise in der rechtlichen Bewertung ungleich zu behandeln. Von der Straflosigkeit der Knabenbeschneidung kann also ebenso wenig auf die Straflosigkeit der Beschneidung von Mädchen geschlossen werden, wie umgekehrt. V. Ergebnis Sowohl die jüdische als auch die islamische Beschneidung zählen zu einem Handlungsmuster, dessen inhärente Wertvorstellungen (d.i. körperbezogene Stiftung und 477 Statt vieler: Miller, New York University School of Law 1999, S. 111 f. (insbes. S. 113); s. auch Bumke, NVwZ 2002, S. 423 ff. (S. 426); Gollaher, Das verletzte Geschlecht (2002), S. 246 oder Kentenich/Utz-Billing, Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), S. A 842 ff. (S. A 842). 478 Obgleich bspw. die Prävention vor Masturbation mitunter als medizinische Indikation vorgeschützt wird (s. dazu oben in der Einleitung) bzw. Maimonides noch auf eine mit dem Beschneidungsschmerz verbundene Reduzierung sexueller Lust abhob (Gollaher, Das verletzte Geschlecht [2002], S. 37). 479 Zur Berechtigung, die gewachsenen Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland zum Bewertungsmaßstab zu erheben, s. neben den an entspr. Stelle genannten Nachweisen insbes. Hilgendorf, JZ 2009, S. 139 ff. (S. 144). 480 Die Zulässigkeit an die religionsunspezifische Eigenart einer Glaubensgemeinschaft differenzierend anzuknüpfen ist anerkannt seit der Etablierung weiterer verfassungsrechtlich ungeschriebener Voraussetzungen für die Verleihung des öffentlichrechtlichen Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften (BVerfG, NJW 2001, 429 [430 f.]; OVG Berlin, NVwZ 2005, 1450 [1450]). Vgl. im Überblick Abel, NJW 1997, S. 2370 ff. (S. 2371 m.w.N.); diff.: Morlok/Heinig, NVwZ 1999, S. 697 ff. (S. 699 ff.); krit.: Wilms, NJW 2003, S. 1083 ff. (S. 1088 ff.).
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Teil 4: Soziale Adäquanz der rituellen Beschneidung?
Stärkung von Gruppenindentität) allgemein gebilligt sind. Zugleich zählen beide Bräuche zum geschichtlich verfestigten Bestandteil des kulturellen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland. Folglich sind die jüdische sowie die muslimische Zirkumzision als sozialadäquate Rechtsgutsverletzung dem Unwerturteil der Körperverletzungsvorschriften zu entziehen. Sie sind nicht straftatbestandsmäßig. Zwar sind sie aufgrund ihres körperinvasiven Charakters vom möglichen Wortlaut der Körperverletzungsvorschriften erfasst, jedoch nicht von deren tatsächlichen Wortsinn. Letzterer ist maßgeblich anhand der dem Recht voraus liegenden kulturell verfestigten Anschauungen zu bestimmen; und mit eben diesen Anschauungen steht die Knabenbeschneidung in Einklang. Sie ist tradierter Bestandteil des kulturellen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Prädikat „sozialadäquat“ versehen, ist die Zirkumzision kein strafbares Unrecht.
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Teil 5
Zusammenfassung A. Knabenbeschneidung im gegenwärtigen Rechtsstaat Die rituelle Beschneidung von minderjährigen Knaben erfüllt formell den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung, da durch ihn ein Substanzverlust (scil. körperliche Misshandlung i.S.d. § 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB) unter Zuhilfenahme eines schneidenden und somit gefährlichen Werkzeugs gem. § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB herbeigeführt wird. Zugleich belegen psychotraumatologische Untersuchungen, dass namentlich die ohne Betäubung ausgeführte traditionelle Beschneidung erhebliche psychische Folgen mit somatischem Einschlag auslösen kann; in diesem Fall wäre die Zirkumzision sodann zugleich als Gesundheitsschädigung im Sinne der zweiten Tatbestandsalternative des § 223 Abs. 1 StGB zu subsumieren. Veranlasst wird der Eingriff durch die Eltern des minderjährigen Kindes. Handlungsmotiv ist hierbei, dem Knaben durch die symbolhaltige Beibringung des glaubensgeleiteten körperlichen Einschnitts religiöse Identität zu stiften sowie dessen Zugehörigkeit zur entsprechenden Glaubensgemeinschaft zu dokumentieren. Obgleich sowohl im Judentum wie im Islam die Beschneidung gerade kein für die Glaubenszugehörigkeit konstitutiver Akt ist, ist das Verhalten der Eltern gleichwohl als religiös motiviert zu bewerten, da die Eltern die Veranlassung des Eingriffs für sich innerlich verpflichtend erfahren und es sich bei der Beschneidung nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild um ein, dem Bereich der Religion zurechenbares Verhalten handelt. Die von Beschneidungsbefürwortern oftmals hilfsweise zugleich angeführten medizinischen Vorteile einer Vorhautentfernung sind in aller Regel nicht stichhaltig. Eine Entschuldigung der Eltern bzw. des Beschneiders über § 17 StGB (Verbotsirrtum) oder eine Anwendung der umstrittenen Figur des Gewissenstäters kommt nicht in Betracht. Für einen entschuldigend wirkenden Verbotsirrtum müsste eine unvermeidbare Fehlvorstellung bezüglich der Verbotenheit körperlicher Eingriffe, zu denen die Zirkumzision zu zählen ist, vorliegen. Da durch die Knabenbeschneidung mit §§ 223, 224 StGB jedoch Rechtsgüter des Kernstrafrechts betroffen sind, kann dies kaum angenommen werden. Zudem würde die rechtliche Behandlung (erst) auf der Ebene der individuellen Schuld der durch kollektiv-tradierte Vorstellungen fundierten rituellen Beschneidung wenig gerecht. Der der Veranlassung der Beschneidung innewohnenden elterlichen Einwilligung kommt keine rechtfertigende Wirkung zu. Die Befugnis der Eltern, Entscheidungen
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Teil 5: Zusammenfassung
für ihr minderjähriges Kind zu treffen (§§ 1626, 1629 BGB), ist durch das Kindeswohl gem. § 1627 BGB begrenzt. Dem im Rahmen jenes „Kindeswohls“ mit dem Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung in Abwägung zu bringenden Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit sowie auf Selbstbestimmung gebührt der Vorrang mit der Folge, dass mit der Einwilligung in die Beschneidung ein Widerspruch zum Kindeswohl festzustellen ist. Hierdurch wird die elterliche Einwilligung in den Eingriff unwirksam. Gleichwohl ist die bisherige Praxis, weder den Beschneider noch die den Eingriff veranlassenden Eltern wegen gefährlicher Körperverletzung bzw. Anstiftung hierzu von Amts wegen anzuklagen (vgl. § 230 Abs. 1 StGB) und zu verurteilen, nicht zu beanstanden. Bei der Zirkumzision handelt es sich um ein sozialadäquates Verhaltensmuster. Der formell verwirklichte Tatbestand ist mit anderen Worten aus materiellen Gründen ausgeschlossen. Mit der Welzelschen Figur der Sozialadäquanz sind Verhaltensweisen bezeichnet, die sozial unauffällig, allgemein gebilligt sowie geschichtlich üblich sind. Ziel der Sozialadäquanzlehre ist es, Verhaltensweisen, die sich innerhalb des Rahmens der sozialen Handlungsfreiheit bewegen, dem formellen Strafbarkeitsverdikt zu entziehen. Dem ist konzeptionsbedingt innerhalb des Deliktsaufbaus auf Tatbestandsebene mit einer eigenständigen Rechtsfigur nachzukommen. Keine der gängigen dogmatischen Figuren (bspw. Handlungsbegriff, erlaubtes Risiko, Gewohnheitsrecht, Tatbestandsauslegung, Geringfügigkeitsprinzip) ist geeignet, dem Anliegen der Sozialadäquanzlehre gerecht zu werden. Seine inhaltliche Berechtigung erfährt die Lehre Welzels maßgeblich aufgrund des Umstandes, dass der Subsumtion eines konkreten Sachverhalts unter die abstrakt-generellen Gesetzesbegriffe denknotwendig die angemessene, und d. h. mit Blick auf die kollektiven Vorstellungen und Überzeugungen der hiesigen Sprachgemeinschaft zu bestimmende, begriffliche Umschreibung des zu bewertenden Geschehens vorangehen muss. Die rituelle Knabenbeschneidung ist solch ein sozial unauffälliges Handlungsmuster, dem zugleich geschichtliche Üblichkeit zukommt. Der, im Gegensatz zu der inzwischen angehobenen rechtlichen Befassung, festzustellende Mangel an gesellschaftlicher ACHTUNGREDiskussion ist als allgemeine Billigung der Zirkumzision zu interpretieren. Dies folgt sowohl aus dem Anliegen der Sozialadäquanzlehre, sozial selbstverständliche Verhaltensweise dem formellen Strafbarkeitsverdikt zu entziehen – exakt bei jenen Selbstverständlichkeiten wird es an einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung fehlen – wie auch aus dem Umstand, dass das Schweigen um die Zirkumzision auf keine repressiven Ursachen, wie etwa einer Tabuisierung, plausibel zurückgeführt werden kann. Die rituelle Knabenbeschneidung ist ein sozialadäquates Verhaltensmuster, das den Straftatbeständen materialiter nicht unterfällt. Obgleich die Beschneidung vom möglichen (formellen) Wortlaut der Körperverletzungsvorschriften umfasst ist, ist sie aufgrund des tatsächlichen (materiellen)Wortsinns nicht den §§ 223 ff. StGB subsumierbar und darum straflos.
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B. Ausblick Sollte die Zirkumzision ihre einheitliche Erscheinungsform durch eine zunehmende Diversifizierung in unterschiedlichste Beschneidungsvarianten (vgl. die bris shalom) und -ausnahmen verlieren und darum ihres erwartbaren Handlungsmusters verlustig gehen oder infolge der gewachsenen Sensibilität gegenüber der körperlichen Unversehrtheit die Billigung durch die Allgemeinheit im Wege einer offenen sozialen Auseinandersetzung einbüßen, würde der Eingriff zugleich seine soziale Adäquanz verlieren – wie weiland für das elterliche Züchtigungsrecht zu verzeichnen.1 Allerdings bedürfte die Feststellung des Verlusts an allgemeiner Billigung einer zweifelsfreien positiven Feststellung der gesellschaftlichen Missbilligung der Knabenbeschneidung.2
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Für dessen soziale Adäquanz ehemals Kienapfel, Körperliche Züchtigung (1961), S. 101 ff.; s. inzwischen § 1631 Abs. 2 BGB, dem nur an der Unzulässigkeit körperbezogener Züchtigungshandlungen gelegen ist (m.w.N. Schönke/Schröder/Eser, StGB [2006], § 223 Rdnrn. 18 ff.). Nach a.A. legitimierte sich das elterliche Züchtigungsrecht aus dem Erziehungsrecht: Vgl. Ebert, AT (2001), S. 90 f.; Kühl, AT (2005), § 9 Rdnrn. 58 f. Übersicht zum vormaligen und gegenwärtigen Meinungsstand m.w.N. bei Fischer, StGB (2008), § 223 Rdnrn. 17 ff. 2 Dazu oben Teil 4, A. III. 1. „Soziale Adäquanz – eine normative oder empirische Kategorie“.
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Stichwortverzeichnis allgemeine Billigung 142 f., 146, 162, 172 allgemeine Handlungsfreiheit 159 Allgemeines Persönlichkeitsrecht 47 Antisemitismus 181 ärztlicher Heileingriff 19 Auslegung 101 Autopoiesis 107, 120, 130 Bar Mitzwa 25 Berit Milah 23, 30, 170 Berit Periah 30 Beschneidung (männlich) 17, 22, 30, 39, 45, 59, 168 Beschneidung (weiblich) 17, 186 Brauchtum 115, 150 Bris 23 bris shalom 171, 183 Brit Milah 23 common law 124 consuetudo 115 Deduktion 125, 167 Ehrenmord 148 Einwilligung, rechtfertigende 18, 26, 36, 141, 162 elterliche Zustimmung 36 elterliches Erziehungsrecht 40 elterliches Züchtigungsrecht 108 Elternrecht auf religiöse Kindererziehung 45 Erfolgsunrecht 68, 70 erlaubtes Risiko 67, 81 Erziehungsrecht, elterliches 36, 40, 45 extra legem 128 Fahrlässigkeitsdelikt 65, 71 Fall Coesfeld 151 fragmentarischer Charakter 58
gefährliches Werkzeug 32 genera proxima 124 Genitalverstümmelung 17 Geringfügigkeitsprinzip 135 Gesamtunrechtstatbestand 68, 70, 86 geschichtliche Üblichkeit 155, 182 Gewissenstäter 29 Gewohnheitsrecht 113 Glaubensfreiheit 45 Handlungslehre (kausale, finale) 72 Handlungslehre (soziale) 107 Handlungsmuster 139, 143, 171 Handlungsunrecht 68, 70 Heileingriff, ärztlicher 19, 108 intra ius 128 Khitan 23, 30 Kindeswohl 18, 27, 37 f., 53, 141, 190 Knabenbeschneidung 17 Körperverletzung, einfache 30 Körperverletzung, gefährliche 27, 32 kultureller Pluralismus 150, 176 kulturelles Selbstverständnis 157 Maibaumdiebstahl 150, 152, 176 Medizinischer Heileingriff 19 Menschenwürde 47 normative Kraft des Faktischen 114, 122 Normativität 129, 158 Notwehrprobe 69, 93 objektive Sorgfaltspflichtwidrigkeit 80 objektive Zurechnung 60 offene/geschlossene Tatbestände 87 opinio iuris 117 Otoplastik 141, 152, 178
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Stichwortverzeichnis
Periah 30 Phimose 20 Piercen 155 Planwidrigkeit 105 Positivismus 113, 119, 122 praktische Konkordanz 52 prophetische Traditionen 25 Recht auf körperliche Unversehrtheit 46 rechtfertigende Einwilligung 36 Rechtseinheit 154, 164 reflektierende Urteilskraft 127 Schächturteil 49 Selbstbestimmungsprinzip 39, 48 Sitte 115, 117, 186 Sittenwidrigkeit (§ 228 StGB) 37, 160 Sitzblockadeentscheidungen 152 Sozialadäquanz 19, 27, 58, 61, 64, 86, 111, 132, 158, 168 Sozialadäquanzlehre 19 soziale Erwartbarkeit 138, 168 soziale Gruppe 147 soziale Handlungsfreiheit 144 soziale Norm 145 soziale Sinnhaftigkeit 137
soziale Unverdächtigkeit 134, 168 Subsumtion 126 Sunnah 25 Tabuisierung 178 Tatbestandsauslegung 101, 127 Tätowieren 155 teleologische Reduktion 103 teleologische Vergleichbarkeit 105 ultima ratio 124, 164 Untermaßverbot 166 Verbotsirrtum 28, 101 Vetorecht, kindliches 55 Vorhautverengung 20 Vorsatzdelikte 83 Werkzeug, gefährliches 32 Wertvorstellungen 149, 172 Zeitgeist 156 Zeugen-Jehovas-Fälle 50 Zirkumzision 17 Zustimmung, elterliche 22, 36