Souveränität und Subversion: Figurationen des Politisch-Imaginären 9783495808269, 9783495487549


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Inhalt
Vorwort
Rebekka A. Klein, Dominik Finkelde: Einleitung
1. Der politische Horizont der Souveränität
2. Die Fragestellung
3. Die Beiträge dieses Bandes
I Religion – Autorität – Gewalt
Philipp Stoellger: Souveränität nach der Souveränität.
1. Wozu nach Souveränität fragen?
2. Zur ›Vermessung‹ der Souveränität: Unterscheidungen
3. Theologie als Theorie der Souveränität
4. Souveränität ohne Souverän – oder ›Post-Souveränität‹&ga;?
5. Drei Versionen von Souveränität
6. Kompetitive als aporetische Souveränität: Papst und Kaiser
6.1 Der dritte Körper des Papstes (1077)
6.2 Barbarossas Souveränitätsaporie (1158)
7. Souverän ist, wer über die Eucharistie gebietet?
7.1 Marion: ›Allein der Bischof‹
7.2 Nancy: ›Souverän ist das Opfer?‹
7.3 Agamben: Souveränität als Operativität?
8. Postscriptum: Katargesis der Souveränität?
Friedrich Balke: Doppelkörper und Korridorbildung.
1. ›Body Politic‹ und ›Body Natural‹
2. Fahrradsturz und souveräne Erscheinung
3. Präsidiale Lähmung und das Drama der souveränen Wiedererrichtung
4. Korridorserie
5. Situation Room: Die Ausdehnung des Korridors in den Macht-Raum
Daniel Loick: Postsouveränes Recht
1. Jüdisches Recht als nicht-souveränes Recht
2. Jüdisches Recht ohne Gott?
II. Demokratie – Repräsentation – Subjekt
Juliane Rebentisch: Masse – Volk – Multitude.
I
II
III
IV
V
Burkhard Liebsch: Souverän und/oder unbedingt.
I
II
III
IV
Maud Meyzaud: Volkssouveränität und Verschwörungskunst.
1. Der Theaterschriftsteller als Verschwörer par excellence
2. Verstellung der Macht
3. Das Gesicht als Maske
Axel Rüdiger: Die Nacht der Volkssouveränität.
1. Das Ende der (Volks-)Souveränität?
2. ›Göttliche Gewalt‹ und das Ereignis der Volkssouveränität
3. Vom legalen ›Begehren‹ des Glücks zum revolutionären ›Trieb‹ der Würde
4. Der öffentliche Kredit und die Volkssouveränität
5. Revolutionäre Volkssouveränität: Der neue Herrensignifikant
III. Ordnung – Ausnahme – Außerordentliches
Dominik Finkelde: Politische Logik.
I
II
III
Andreas Hetzel: Das Durchbrechen des Zirkels der Angst.
1. Jenseits des politischen Messianismus: Michael Walzers säkulare Exodus-Exegese
2. Auszug aus den Fabriken: Paolo Virnos Aktualisierung der Exodus-Erzählung
3. Durch die Wüste: Derridas Dekonstruktion als Exodus-Politik
Clemens Pornschlegel: Die Grimasse der Macht.
I
II
III
Rebekka A. Klein: Subversion der Souveränität.
1. Auslöschen der Souveränität?
2. Subversion als Akt politischer Destruktion und Innovation
3. Subversion als ideologiekritische Arbeit am politischen Imaginären
4. Fazit
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Souveränität und Subversion: Figurationen des Politisch-Imaginären
 9783495808269, 9783495487549

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Rebekka A. Klein Dominik Finkelde (Hg.)

Souveränität und Subversion Figurationen des Politisch-Imaginären

ALBER PHILOSOPHIE

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Rebekka A. Klein / Dominik Finkelde (Hg.) Souveränität und Subversion

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Das historische Bild der Souveränität hat sich seit Thomas Hobbes’ Leviathan gewandelt, doch auch die heutigen Demokratien berufen sich auf imaginäre Subjekte souveräner Macht (Volk, Nation, Staat) und schreiben deren Existenz symbolisch in die soziale Wirklichkeit ein. Auch die vermeintliche Krise der Souveränität in einer globalisierten Welt hat der politischen Wirksamkeit dieser Figur des Politisch-Imaginären keinen Abbruch getan. So beanspruchen rechte und linke politische Protestbewegungen der Gegenwart, als souveräne Gemeinschaft der Ausgeschlossenen und Unterdrückten an die Stelle des souveränen Stimmvolkes treten zu können. Die Souveränität scheint unausweichlich. Subversiv gegen sie zu intervenieren, ist daher ein anspruchsvolles Unterfangen.

Die Herausgeber: PD Rebekka A. Klein ist Dilthey-Fellow am Institut für Systematische Theologie der Universität Halle-Wittenberg. PD Dominik Finkelde ist wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Philosophie in München.

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Rebekka A. Klein / Dominik Finkelde (Hg.)

Souveränität und Subversion Figurationen des Politisch-Imaginären

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Die Drucklegung erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagenstiftung Hannover.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48754-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80826-9

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Religion – Autorität – Gewalt

Philipp Stoellger. Souveränität nach der Souveränität. Zur Delegation und Zerstreuung von Souveränität – und ihrer Unausweichlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Friedrich Balke. Doppelkörper und Korridorbildung. Souveränität und Subversion in The West Wing . . . . . . .

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Daniel Loick. Postsouveränes Recht . . . . . . . . . . . . .

99

II. Demokratie – Repräsentation – Subjekt Juliane Rebentisch. Masse – Volk – Multitude. Überlegungen zur Quelle demokratischer Legitimität . . . . . . . . . . . 115 Burkhard Liebsch. Souverän und/oder unbedingt. Selbstsein im Horizont einer gastlichen, demokratischen Lebensform (nach Derrida) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Maud Meyzaud. Volkssouveränität und Verschwörungskunst. Zur diskursiven Ökonomie der Terreur nach Lefort

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Axel Rüdiger. Die Nacht der Volkssouveränität. Slavoj Žižek, Walter Benjamin und die Deutung der Französischen Revolution bei Georg Forster . . . . . . . . 183

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Inhalt

III. Ordnung – Ausnahme – Außerordentliches Dominik Finkelde. Politische Logik. Zum Subjekt als Grenze bei Wittgenstein und Badiou . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Andreas Hetzel. Das Durchbrechen des Zirkels der Angst. Für eine post-souveräne Exodus-Politik . . . . . . . . . . . 242 Clemens Pornschlegel. Die Grimasse der Macht. Zur Theatralität des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . 262 Rebekka A. Klein. Subversion der Souveränität. Ein unmögliches Unterfangen? . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . 297

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ALBER PHILOSOPHIE

Rebekka A. Klein / Dominik Finkelde (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495808269 .

Vorwort

Der vorliegende Band basiert auf den Beiträgen einer Tagung, die im März 2014 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg stattgefunden hat. Er soll die zahlreichen interdisziplinär geprägten Analysen zur Souveränität aus den vergangenen Jahren fortführen. Diese Analysen haben gezeigt, dass die Souveränität eine bis in die Gegenwart kulturell höchst wirkmächtige Figur politischer Imagination ist. Die gemeinsame Fragestellung der Beiträge dieses Bandes ist es zu untersuchen, wie die Souveränität sich angesichts der historischen und gegenwärtigen Versuche ihrer subversiven ›Entmächtigung‹, ›Zersetzung‹ und ›Durchbrechung‹ gewandelt hat. Unser Dank gilt dem Verlag Karl Alber und besonders Lukas Trabert für die kompetente Betreuung bei der Planung und Drucklegung des Bandes. Weiter danken wir den studentischen Hilfskräften in Halle/Saale, ohne deren tatkräftige Mithilfe die Herstellung des Manuskripts innerhalb dieser kurzen Zeit nicht realisierbar gewesen wäre: Katrin Mang hat mit großer Sorgfalt die formale Korrektur der Beiträge besorgt. Julia Schmid hat die Druckvorlage erstellt und die Druckfahnen korrigiert. Ulrich Mang und Vanessa Bührmann haben einzelne Beiträge Korrektur gelesen. Zu danken ist weiter der Volkswagenstiftung Hannover für die finanzielle Förderung der Tagung und dieser Veröffentlichung. Nicht zuletzt möchten wir uns bei den Autorinnen und Autoren des Bandes bedanken, deren Analysen geistesgeschichtlich und philosophiepolitisch zugleich die Aktualität der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Souveränität und Subversion offenlegen. Halle/München, 28. Januar 2015

Rebekka A. Klein Dominik Finkelde

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Einleitung Rebekka A. Klein, Dominik Finkelde

1.

Der politische Horizont der Souveränität

In neueren Theorien des Politischen, wie sie durch Jean-Luc Nancy, Claude Lefort, Jacques Laclau, Alain Badiou, Giorgio Agamben u. a. vertreten werden, werden metaphysische Figuren der Fundierung und Letztbegründung des Sozialen subversiv gewendet, ohne sie dabei gänzlich aufzuheben oder abzuschaffen. Zu diesen Figuren zählt auch die Souveränität – die Instanz einer transzendenten Fundierung politischer Herrschaft und ihrer Rechtsordnung. Sie gilt als Schlüsselfigur des neuzeitlichen politischen Denkens. Die klassischen Souveränitätslehren von Jean Bodin bis Thomas Hobbes stellen ihre legitimatorische Funktion für die Selbsterhaltung staatlicher Macht in den Vordergrund. Die politischen Theorien der Gegenwart, mit denen sich die Beiträge dieses Bandes auseinandersetzen, beleuchten dagegen ihre subversiv-anarchische Dimension. Sie begreifen die Souveränität nicht nur als Rechtsbegriff, sondern untersuchen sie als eine Figuration des Imaginären im gesellschaftlichen Raum. Als ein Produkt politischer Einbildungskraft ist die Souveränität seit der Illustration des Frontispizes von Hobbes’ Leviathan mit dem Bild des Körpers und der Verkörperung einer übermenschlichen Macht verbunden, die als Garant sozialen Friedens und politischer Freiheit gilt. Doch das historische Bild der Souveränität hat sich gewandelt, ohne dass die Macht der Souveränität verlorenging. Denn unabhängig vom Fortbestehen der historischen Akteure und Institutionen ist die Imagination der Souveränität auch in modernen demokratischen Gemeinwesen wirksam: So ersetzt die Demokratie Person und Körper des souveränen Monarchen durch ein Verfahren der symbolischen Repräsentation souveräner Macht, das sich statt auf metaphysische Instanzen einer jenseitigen Welt (Gott) auf imaginäre Instanzen der Einheit und Geschlossenheit der Gesellschaft (Volk, Nation, Staat) berufen kann. Souveränität und Subversion

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Genau dies ist zum Anlass von Krise und Kritik des Souveränitätsdenkens in der Gegenwart geworden: Die politischen Imaginationen von der Existenz eines politischen Subjekts der Vielheit, dem Volk, und seiner Einheit in Gestalt einer Nation, sind im Zuge der Globalisierung durch neue politische Imaginationen abgelöst worden. Politische Macht wird vermehrt in Staatenbünden und überstaatlichen Institutionen losgelöst von nationalen Souveränitätsstrukturen ausgeübt. Doch die Wirksamkeit der Souveränitätsimagination an sich ist demgegenüber ungebrochen. So berufen sich politische Protestbewegungen und Revolten gegen imperiale Mächte und gegen die Hegemonie einer globalisierten Weltordnung weltweit weiterhin auf die Souveränität als ein demokratisch-politisches Freiheitsrecht. Die Figur souveräner Macht geht hierbei von der Nation und vom Staat auf eine andere Singularität über: die revoltierende Gemeinschaft der Ausgeschlossenen, Unterdrückten und Staatenlosen, die sich in radikal-demokratischer Manier an die Stelle des souveränen Stimmvolkes zu setzen sucht.

2.

Die Fragestellung

Die Beiträge des vorliegenden Bandes fragen, wie auf die historischen und aktuellen Entwicklungen im Horizont der politischen Theorien der Gegenwart geantwortet werden kann. Sie kritisieren und dekonstruieren das Prinzip der Souveränität und decken Strategien auf, die Unbedingtheit und Unteilbarkeit souveräner Macht abzubauen, sie zu relativieren, zu zerstreuen oder auf andere Weise zu schwächen. Zugleich konzedieren sie, dass es voreilig wäre, sich der Souveränität einfach entgegenzustellen oder ihre Unausweichlichkeit zu leugnen. Anstatt lediglich gegen die Souveränität zu intervenieren, machen sie Vorschläge, wie eine post-souveräne Politik zu initiieren und eine andere, kommende Souveränität zu denken ist. Eine besondere Berücksichtigung erfährt dabei der politische Akt der Subversion, der auf die Zersetzung und Unterwanderung einer herrschenden Ordnung zielt. In Gestalt einer Revolte oder eines Protests, der vom Volk ausgeht, kann auch die demokratische Souveränitätsmacht subversiven Charakter tragen. Sie kann zum legitimierenden Prinzip einer für oder gegen die Ordnung gerichteten politischen Aktion werden. Damit ist jedoch die normative Frage, ob diese ›anarchische‹ Souveränitätsmacht im Rahmen einer post-souveränen Politik zu befürwor10

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Einleitung

ten oder zu kritisieren ist, noch nicht beantwortet. Sie stellt sich vielmehr mit neuer Dringlichkeit, wie die Beiträge in diesem Band verdeutlichen.

3.

Die Beiträge dieses Bandes

Die hier versammelten Texte sind in drei thematischen Blöcken angeordnet. Im ersten Teil zum Thema Religion – Autorität – Gewalt wird der Zusammenhang zwischen theologischen und politischen Souveränitätslehren untersucht. Die Beiträge decken auf, dass die Verquickung von theologischen und politischen Autoritätsfiguren auf paradoxe Weise zugleich Momente der Stabilisierung wie auch der Kritik von Herrschaft hervorbringen kann. Sie entwickeln zudem auf der Basis von genealogischen, medientheoretischen und religionsgeschichtlichen Überlegungen Möglichkeiten der Kritik einer ›Sakralisierung‹ von politischer Autorität. In seinem Beitrag analysiert Philipp Stoellger Formen einer ursprungs- oder strukturlogisch begründeten Souveränität ›von oben‹ und stellt sie einer anarchischen Souveränität ›von unten‹ gegenüber. Während die eine normativ stets für gut befunden wird, da sie die herrschende Ordnung in Geltung setzt, loziert sich die andere außerhalb oder als Überschreitung dieser Ordnung und gilt damit als illegitim. Von linken politischen Theorien wird diese Bewertung jedoch umgekehrt, indem die anarchische Souveränität ›von unten‹ per se für gut erklärt wird. Beide Einschätzungen stellen jedoch nach Stoellger einen methodischen Fehlschluss dar, da sie eine normative Wertung pauschal mit Souveränitätsformationen identifizieren. Genealogisch betrachtet erweist sich Souveränität zudem nie als gut begründet, sondern stets als verschoben, delegiert und disseminiert. Als Paradigma für diese These widmet sich Stoellger der christlichen Theologie, von der in der Regel erwartet wird, dass sie sich in apologetischer Absicht auf die Souveränität Gottes beruft. Gegenüber diesem Vorurteil kann jedoch gezeigt werden, dass der alttestamentliche Gott erst in der Geschichte seiner Deutungen zum Post-Souverän, zum Souverän über alle anderen Souveräne gemacht worden ist. Verantwortlich dafür ist nicht etwa, wie Assmann meint, der Monotheismus und sein Verhältnis zur Gewalt, sondern der Einfluss des theistischen Dispositivs, das Gott im Wettstreit mit anderen Souveränen der eskalierenden Logik des Einen, Größten, Mächtigsten unterstellt hat. Souveränität und Subversion

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Auch Friedrich Balke untersucht das Verhältnis von politischer und theologischer Souveränität – allerdings vor dem Hintergrund der Politischen Theologie Carl Schmitts und der Lehre vom doppelten Körper des Königs bei Ernst H. Kantorowicz. Balke dokumentiert die Wirkmächtigkeit politisch-theologischer Souveränitätslehren in der Gegenwart am Beispiel einer Fallstudie zur US-amerikanischen TVSerie The West Wing, welche die Arbeit des amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus porträtiert. In der Serie wird der von Kantorowicz herausgearbeitete sakrale Zusammenhang zwischen dem natürlichen und dem politischen Körper des Souveräns aufgenommen und dialektisch zugespitzt: Der in der TV-Serie dargestellte Präsident leidet unter Multipler Sklerose und besitzt damit einen unheilbar kranken ›ohnmächtigen‹ Körper, der jedoch ex negativo die souveräne Machtfülle des Präsidenten nur noch klarer zum Vorschein bringt. Zugleich gelingt es den Serienmachern, die souveräne Spitzenposition des Präsidenten zu relativieren, indem die präsidiale Macht in kleinteilige Darstellungen von Vorbereitungs- und Umsetzungsszenen politischer Entscheidungen aufgefächert wird. Souveräne Autorität erscheint als Produkt einer verteilten Handlungsmacht. Dies weist die Serie im schmittschen Sinne als ›Korridorserie‹ aus, die subversiv von der bürokratischen Abhängigkeit souveräner Entscheidungen zeugt, ohne deren ›sakrale‹ Autorität zu verleugnen. Der Beitrag von Daniel Loick geht von der jüdischen Theologie und Rechtstradition aus und präsentiert diese als Paradigma eines nicht-souveränen und damit gewaltfreien Rechts, auf das sich eine anarchisch motivierte Herrschafts- und Rechtskritik beziehen kann: Sowohl die Vorstellung messianischer Erlösung als auch die revolutionäre Utopie des Anarchismus zielen auf die Herstellung einer völlig anderen Welt, in der jegliche Form von Unterdrückung und Ausbeutung außer Kraft gesetzt ist. Verkannt worden sei dieser Zusammenhang durch das vom Christentum verbreitete Vorurteil, die jüdische Religion sei eine Gesetzesreligion, sowie durch die gegenteilige Annahme, die jüdisch-theologische anarchistische Gesetzeskritik messianischer Herkunft würde das Recht als solches abschaffen wollen. Aus diesem Zusammenhang heraus seien jüdische Gesetzestreue und jüdische Rechtskritik als Gegensätze konstruiert worden. Loick betont jedoch, dass sich anarchistische Kritik gar nicht gegen das Recht als solches richtet und das jüdische Recht kein bloßer Gesetzesglaube ist, sondern in sich selbst bereits eine Kritik des Rechts und der souveränen Staatsgewalt enthält. Als einziges Hindernis einer dis12

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Einleitung

kurstheoretischen oder postmodernen Aneignung der jüdischen Rechtstradition erweist sich stattdessen sein konstitutiver Gottesbezug, der in einer multikulturellen und multireligiösen Weltgesellschaft nicht vermittelbar ist. Loick betont daher, dass die Vorbildfunktion des jüdischen Rechts auf seine Form zu beschränken ist, d. h. auf seinen Pluralismus, seine interpretatorische Autonomie und seinen Verzicht auf (staatliche) Zwangsinstitutionen. Der zweite Themenblock widmet sich dem Zusammenhang von Demokratie – Repräsentation – Subjekt. Die einzelnen Beiträge beschäftigen sich mit der demokratischen Idee einer souveränen Herrschaft der Vielen. Ausgehend von historischen Analysen und aktuellen politischen Problemen diskutieren sie kritisch, was demokratische Souveränität ausmacht, und zeichnen nach, auf welche Weise sich die politische Imagination der Volkssouveränität in die soziale Wirklichkeit einschreibt. In ihrem Beitrag zum politischen Subjekt als Quelle demokratischer Legitimität unternimmt es Juliane Rebentisch, die demokratische Idee einer Herrschaft der Vielen gegen alte und neue Einwände zu verteidigen. Das seit Platon immer wieder vorgetragene Argument, die Demokratie gründe Herrschaft auf ein irrationales Fundament, nämlich auf die Uniformität und Dummheit der Masse, entkräftet sie zum Ersten durch eine Kritik der bei Platon vorausgesetzten metaphysischen Auffassung des Guten. Diese sei nachmetaphysisch nicht haltbar und durch eine Theorie zu ersetzen, die dem Umstand Rechnung trägt, dass das menschliche Urteil fallibel und geschichtlich veränderbar ist. Zum Zweiten widerlegt Rebentisch das Argument, die Öffentlichkeit werde in der Demokratie medial gleichgeschaltet. Für soziologisch plausibel hält sie stattdessen die Konzeption der ›Multitude‹ (Hardt/Negri), die Vielheit als eine vielgestaltige Menge auslegt, die niemals auf eine Einheit zu reduzieren ist. Diese Beschreibung deckt sich mit der Beobachtung Gabriel Tardes, dass der Einzelne in der Demokratie Mitglied verschiedener Subund Spezialöffentlichkeiten ist, die sich als ›demokratische‹ zudem permanent ihrer Infragestellung und Disartikulation aussetzen müssen. So kann beispielsweise in Demonstrationen die Grenze zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ und die soziale Wahrnehmung dessen, was als mehrheitsfähig oder überhaupt als öffentlich relevant gilt, verschoben werden. Gegen die von Hardt/Negri entworfene Utopie einer absoluten Demokratie, die eine Herrschaft der ›Multitude‹ realisieren soll, wendet Rebentisch ein, dass die sich aus einer Vielzahl von SinSouveränität und Subversion

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gularitäten zusammensetzende ›Multitude‹ nicht das Ergebnis, sondern vielmehr der Ausgangspunkt demokratischer Politik sein muss. Auch Burkhard Liebsch thematisiert den Wandel der demokratischen Souveränität im Horizont einer globalisierten Welt und die Konzeption einer ›Multitude‹. In ihr erscheine der demos nicht nur erweitert und zersplittert, sondern als eine de-limitierte, unabsehbare und unzählbare Menge. Die souveräne Position des sich auf ein abgrenzbares Stimmvolk berufenden Staates stehe daher zur Disposition. Dennoch sei der Begriff der (staatlichen) Souveränität im Zuge seiner Kritik nicht verabschiedet, sondern neu virulent geworden. Die Ursache hierfür sieht Liebsch in der von Jacques Derrida vorgenommenen Dekonstruktion der Souveränität. Derrida habe, anders als in der klassischen Staatslehre, Souveränität und Unbedingtheit voneinander getrennt und die Souveränität mit der Selbstheit der demokratischen Lebensform identifiziert und ihr den unbedingten Anspruch einer Alterität gegenübergestellt, der sie niemals voll gerecht werden könne. Auf diese Weise sei die Souveränität als Bedingung der Unmöglichkeit einer unbedingten Gastlichkeit der Demokratie offenbar geworden. Liebsch kritisiert nun, die Position Derridas sei aporetisch, denn sie insinuiere, dass es nur Souveränität prätendierendes Selbstsein auf der einen oder totale Auslieferung an eine überraschend widerfahrene Alterität auf der anderen Seite geben könne. Liebsch plädiert demgegenüber für einen dritten Weg – den Weg einer vom Selbstsein der Beteiligten zwar souverän getragenen, aber nicht identitär von ihnen vereinnahmten Gastlichkeit. Der Beitrag von Maud Meyzaud thematisiert ein weiteres aktuelles Problem der Demokratie: Die Angst vor einer im Geheimen wirksamen Verschwörung ihrer äußeren und inneren Feinde. Die seit 9/11 vorherrschende Rhetorik des Verdachts und die Praxis des preemptive arrest sieht Meyzaud schon in der jakobinischen Schreckensherrschaft der Französischen Revolution vorgebildet. Hier wurde am Leitmotiv der Verschwörung die Angst vor einer Spaltung des Volkssouveräns geschürt und politische Säuberungen im Innern des Volkskörpers gerechtfertigt. Meyzaud zeigt, dass der genuine Zusammenhang von Volkssouveränität und Verschwörung auf der revolutionären Idee beruht, dass die Macht durch keine einzelne Person oder Gruppe des Volkes in Besitz genommen werden darf. Bereits Claude Lefort hat dies als ›egalitaristische Fiktion‹ der jakobinischen Schreckensherrschaft offengelegt: Da die Macht allen gehört und keiner sich ihr bemächtigen darf, werden de facto alle Mitglieder des 14

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Einleitung

Volkes unter den Generalverdacht gestellt, sich des Orts der Macht bemächtigen zu wollen, während in Wahrheit der Wohlfahrtsausschuss selbst die Macht ausübt. Meyzaud nimmt diese Analyse auf und zeigt am Beispiel der Reden Saint-Justs und Robespierres, dass es vor allem die platonische Unterscheidung zwischen Wahrheit und Täuschung ist, welche die politischen Säuberungen anleitet. So wird nicht nur die künstlerische Mimesis als Instrument der Täuschung des Volkes angeprangert, sondern auch die Guillotine zum Werkzeug der Säuberung gemacht, weil sie auf die Eliminierung des physischen Organs der Maskierung und Täuschung anderer, auf die Zerstörung des Gesichts zielt. Das Thema der Anerkennung und Bestätigung der souveränen Macht des Volkes durch die Jakobiner nimmt Axel Rüdiger auf. Er beschäftigt sich vor dem Hintergrund des aktuellen Streits um die Aufhebung staatlicher Souveränität im Zuge der Globalisierung der Märkte mit dem jakobinischen Philosophen Georg Forster. Forster habe unter dem Stichwort von der ›Nacht der Volkssouveränität‹ erstmals konsequent auf das Problem hingewiesen, dass die neue revolutionäre Ordnung auf einer konstitutiven Grundlosigkeit der Macht beruht, die zugleich emanzipatorische politische Potenziale freisetzt. Damit erweist er sich als ein Denker, der in inhaltliche Nähe zu den politischen Theorien gerückt werden kann, die in der Gegenwart die Reduktion der Demokratie auf legalistische Verfahren kritisieren (Badiou, Žižek). Wie diese beharrt Forster auf der dynamischen Funktion der Volkssouveränität, die ihm als revolutionärer Antrieb der Politik gilt. Im Anschluss an die Theorie Sieyès’ vom Dritten Stand als einem formal für ›Nichts‹ geltenden politischen Subjekt, welches jedoch die geltende Ordnung als teilende Kraft unterbricht, setzt Forster sich kritisch mit dem souveränitätstheoretischen Mythos auseinander, dass die Staatsgewalt fest in der Hand einer positiven Person gegründet ist. Er zeigt, dass die Revolution die Geburt eines neuen politischen Subjekts in Gang setzt. Als Grund für dessen realpolitische Anerkennung durch die Jakobiner identifiziert er jedoch nicht die Übermacht, sondern das fiskalpolitische Versagen der monarchischen Souveränität bei der Sicherung des öffentlichen Kredits. Indem die jakobinische Revolutionsregierung das Volk zum Bürgen der Staatsschulden machte, konnte die öffentliche Ordnung wieder hergestellt werden. Nach Rüdiger besteht damit eine signifikante Parallele zwischen der realpolitischen Ausstreichung der Volkssouveränität im Kapitalismus der Gegenwart und ihrer symbolischen Souveränität und Subversion

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Instituierung 1789 zum Zwecke der Überwindung eben solcher kapitalistischer Spekulation. Im dritten Themenblock, Ordnung – Ausnahme – Außerordentliches, untersuchen die einzelnen Beiträge verschiedene Taktiken und Strategien der Subversion: der Aussetzung und des Ausstiegs aus der herrschenden Souveränitätspolitik. Subversion kann dabei als neue axiomatische Setzung des Subjekts, als Durchbrechen des Zirkels kollektiver Angst, aber auch als symbolische Neukodierung von Souveränitätsmacht verstanden werden. Dominik Finkelde thematisiert in seinem Beitrag die subversive Kehrseite der Souveränität als Ordnungsmacht. Im Anschluss an formallogische Überlegungen aus dem Bereich der Mathematik zeigt er, dass die Logik politischer Ordnungen systembedingt blind gegenüber ihren eigenen strukturellen Leerstellen ist. Diese Leerstellen können jedoch, wie Finkelde am Beispiel von Badiou und Wittgenstein zeigt, durch neue axiomatische Setzungen, die den herrschenden Rahmen durchbrechen, sichtbar gemacht und subversiv gegen die herrschende Doxa gewendet werden. Badiou identifiziert in seiner politischen Adaptierung der mathematischen Mengenlehre eine solche neue axiomatische Setzung beispielsweise mit dem Akt der Bezwingung der herrschenden Ordnung durch ein politisches Subjekt. Dieses etabliert sich auf der Grenze der herrschenden Ordnung und markiert zugleich deren verborgene Leerstelle. Auch Wittgenstein thematisiert einen subversiven Akt souveräner Aussetzung gegenüber der herrschenden Ordnung beziehungsweise gegenüber den herrschenden Sprachspielen. Er tut dies in seiner Rede von der Begriffsbildung, die sich vom Verständnis der Begriffsanwendung abgrenzt. Die Souveränitätsmacht regelhafter politischer Ordnungen erfährt hier eine im Subjekt verkörperte Einspruchsmacht, das als politisches sich durch Axioms- beziehungsweise Begriffsbildung zum Souverän über ein neues Allgemeines gegen die etablierten Begriffe und deren Denkformen macht. Andreas Hetzel beschäftigt sich in seinem Artikel mit den im Dezember 2010 begonnenen politischen Protestbewegungen im arabischen Kulturraum und mit der Gezi-Bewegung in der Türkei. Kennzeichen der Proteste sei eine neue Form von angstfreier politischer Subjektwerdung. Die Proteste erfolgten weniger im Namen westlich-repräsentativer Demokratievorstellungen und im Namen der Menschenrechte als vielmehr im Zeichen einer Politik des Exodus. Das biblische Motiv des Exodus deutet Hetzel im Anschluss an 16

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Einleitung

Michael Walzer und Paolo Virno als einen subversiven Stellungswechsel, in dem nicht durch direkte Konfrontation, sondern über eine laterale Strategie des exits, des Sich-Ablösens und Lossagens die herrschende Souveränitätsmacht durchbrochen wird. In diesem Sinn seien die Protestbewegungen, aber auch die Bewegungen von MigrantInnen und modernen Nomaden, die versuchen, Europa oder die USA zu erreichen, Ausdruck einer ›präsentischen‹ Demokratie. In ihnen gewinne eine andere Souveränität Gestalt, die mit Bataille als ein Leben beschrieben werden kann, das nicht länger dem Primat der Selbsterhaltung und der Angst unterstellt ist, sondern sich selbst aufs Spiel setzt, um mit der Ordnung des Herrschens und Beherrschtwerdens zu brechen. Die Protestbewegungen der Gegenwart realisieren daher post-souveräne Politiken, die alle Versuche einer fundationalistischen politischen Theologie subversiv dekonstruieren. Die Wirkungsweise des Mechanismus der Furcht, der politische Subjekte von einer subversiven Intervention gegen den Souverän und die geltende politische Ordnung abhalten kann, untersucht auch Clemens Pornschlegel. Er beschäftigt sich mit der tragischen Geschichte des gescheiterten deutschen Widerstands vom 20. Juli 1944 und stellt die Frage, was die deutschen Generäle in Frankreich davon abhielt, ihren Plan zum Sturz des Führers auch trotz des gescheiterten Attentats umzusetzen. Der mangelnde Wille der deutschen Generäle zum Sturz Hitlers beruht nach Pornschlegel auf dem Umstand, dass diese in typisch deutsch-preußischer Manier kein Bewusstsein und keine Kenntnis von der Theatralität souveräner Macht, von ihren Grimassen und Finten, kurz: von ihrem fiktiven und mythischen, keinem realen Ort zurechenbaren Charakter hatten. Die Generäle verfügten zwar über alle Gewaltmittel, um den Führer zu stürzen, jedoch nicht über Taktiken zur symbolischen Re-Inszenierung und Neubesetzung des Orts souveräner Macht, die sich gegen seinen realen Inhaber mobilisieren ließen. Dagegen habe die französische Résistance diese symbolischen Taktiken meisterhaft kultiviert, indem sie beispielsweise noch während des Krieges ein unbesiegtes Frankreich erfunden (so de Gaulle am 18. Juni 1940) und inmitten der Besatzungswirklichkeit symbolisch weiter habe existieren lassen. Nicht die physische Entmachtung, sondern die symbolische Umkodierung ist daher das geeignete Instrument einer Subversion der Souveränität. Im abschließenden Beitrag beschäftigt sich Rebekka Klein mit der unausweichlichen ›Wiederkehr‹ der Imagination einer souveräSouveränität und Subversion

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Rebekka A. Klein, Dominik Finkelde

nen Macht in der gegenwärtigen Politik. So kann in genealogischer Perspektive gezeigt werden, dass die Figuren der Souveränität sich wandeln, dass ›Ort‹ und ›Subjekt‹ der Macht verschoben und neu formiert werden können. Eine endgültige Abschaffung und Vernichtung der Souveränität scheint dagegen unmöglich zu sein. Offen bleibt hingegen der Weg einer subversiven Unterwanderung und Zersetzung der jeweils geltenden Souveränitätsmacht. Als Kandidaten für eine solche untersucht Klein die von Claude Lefort, Slavoj Žižek und dem Theologen Karl Barth entwickelten Ansätze zu einer Ideologiekritik der Souveränität. Dabei erweist sich, dass alle drei die ideologiekritische Intervention als eine von Geltung einer anderen Souveränität sich legitimierende politische Aktion konzipieren. Sie berufen sich zwar auf einen anderen Ort und ein anderes Subjekt der Souveränität, setzen jedoch die Struktur eines singulären Grundes oder eines Subjekts der Universalität gesellschaftlicher Ordnung nicht außer Kraft. Im Sinne einer finalen Überwindung bleibt die Subversion der Souveränität damit ein unmögliches Unterfangen. Im Sinne einer post-souveränen Umbesetzung und Ablösung ihrer imaginären Subjekte und Orte kann sie jedoch gelingen.

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Souveränität nach der Souveränität. Zur Delegation und Zerstreuung von Souveränität – und ihrer Unausweichlichkeit Philipp Stoellger

1.

Wozu nach Souveränität fragen? 1

Fragt man nach ›Souveränität‹, stockt man schon. Denn in ausdifferenzierten Zeiten davon zu handeln, provoziert die Frage: Warum? Als Ausflug in den ›Jurassic Park‹ der politischen Theorie und Theologie, als Erinnerungsarbeit an der Wiederkehr des Verdrängten oder als ideologische ›Freak-show‹ ? Aus apologetischem, sei es staats- oder kirchentragendem Interesse? Oder aus kritischem, möglicherweise polemischem Interesse, um auch die letzten ›paläopolitischen‹ Intuitionen noch auszutreiben aus dem sozialen Bewusstsein? Schräge Gründe für die Rückfrage gäbe es genug, aber gute? Die Frage bezieht ihre Dringlichkeit jenseits historischer Rückfragen aus den eher anarchischen als ›souveränen‹ Variationen des Problems in gegenwärtigen Konflikten. Denn es gibt erstaunlich viele, durchaus aktuelle Versionen des Topos der Souveränität: religiöse (Gott, Geist, Institution, Papst), philosophische (wie die Theorie des Absoluten und der absoluten Subjektivität), politische (nicht nur ›Parlamente‹, sondern auch in der medialen Fabrikation souveränen Personals), militärische (›souveräner‹ Zugang zu allen Daten), juristische (letzte oder höchste Gerichte), metajuristische oder ethische (Menschenwürde, Autonomie der Person), ästhetische (das autonome Werk oder der souveräne Künstler), mediale (Massenmedien wie Social Media), wissenschaftliche (im Namen der Wahrheit oder der akademischen Freiheit) oder auch ökonomische, kraft der nicht intelligiblen potentia absoluta ›der Märkte‹ (als neunominalistische Willkürmacht?). Der Souveränitätsschwund als Abbau von Absolutismen im Laufe der Moderne wie der analoge Schwund nationaler Souveränitäten, sei es aus multi- beziehungsweise transnationalen Assozia1

Für einschlägige Hinweise und Hilfe danke ich Rasmus Nagel und Lennart Dienst.

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tionen oder aus internen Differenzen (Ökonomie vs. Politik z. B.), führt mitnichten zum Verschwinden von ›Souveränität‹ als Topos, Figur des Imaginären oder Norm. Fakten und Normen (wie Erwartungen oder Hoffnungen) sind und bleiben zweierlei. So bleibt die Souveränität der Person in ihrer Autonomie und Würde unantastbar, auch wenn sie faktisch immer wieder angetastet wird. Warum das so ›bleibt‹, ist allerdings keineswegs klar, nur weil es ›gesetzt‹ ist. Genesis und Geltung dieser Voraussetzungen sind mit einer Geschichte von Humanismus und Aufklärung oder jüdisch-christlicher Anthropologie mitnichten geklärt. ›Figuren der Souveränität‹ wären ein Kapitel der medialen Anthropologie und ihrer Figurenlehre, 2 wie auch in der politischen oder religiösen Ikonik. Statt eine Teleologie des Verschwindens von Souveränität zu stipulieren, ist supplementär eher eine Pluralisierung und ›Demokratisierung‹ von Souveränität wahrzunehmen: Jeder ist souverän, wenn auch nicht Souverän. Aber entsteht sie erst aufgrund von (reziproker?) Anerkennung? Oder ist ihr Ungrund diachron entzogen – was ihn ebenso fraglos wie fraglich werden ließe? Die Geltungsgründe der Faktizität sind Gegenstand durchaus kontroverser Diskurse. Während ›faktisch‹ Souveränität in Pluralisierung wie Zerstreuung begriffen ist, delegiert und disseminiert, ›gibt es‹ Revitalisierungen und Reformatierungen dieses Topos im Modus der Ausdifferenzierung, Pluralisierung und auch der Simulation. Nur ist weder die Dissemination noch die Simulation von Souveränität unwirklich oder unwirksam. Souveränität als Wiedergänger in Verschiebung und Pluralisierung könnte man für eine Auflösung halten, wenn nicht Lösung, Erlösung von diesem hochgetriebenen Topos. Eines Gottes Eskalationen, 3 wie Blumenberg einmal titelte, mögen mit Anselms Argument dahin führen, dass Größeres als Gott nicht gedacht werden kann – bis dahin, dass er in seiner infiniten Größe nicht mehr gedacht werden kann. Seine Souveränität würde opak und undenkbar, letztlich verborgen und unzugänglich. Aber die pluralisierende Umbesetzung im Zeichen der Selbstbehauptung, -erhaltung, -beharrung und -steigerung führt in die Eskalationen der Subjektivität, bis zur Theorie des absoluten Subjekts, dem (für andere) schlechthin unzugängVgl. Philipp Stoellger, Figuration und Funktion ›un/heiligen Personals‹. Zur Figurenlehre medialer Anthropologie, in: Mediale Anthropologie, hg. v. Ch. Voss/L. Engell, Paderborn 2015 (im Erscheinen). 3 Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 1988, 81. 2

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lichen ›ego‹. Wenn diese Egologie einmal eskaliert, ist Souveränität so plural geworden, dass sie zugleich limitiert und konfliktiv wird. Und wenn im Subjekt fraglich wird, wer da ›das Sagen hat‹, wenn sich hier verschiedene Kandidaten melden (ob mit Freud oder Lacan), wird es nur noch fraglicher, wer der Souverän sein mag und wer es gewesen sein wird. Alles voll von Göttern, meinte Thales. Alles voll von kleinen Souveränen, gilt anscheinend mittlerweile. Als gäbe es ›Funktionsstellen‹ in Kulturen oder in Kommunikationssystemen, die erhalten bleiben, auch wenn ihre historischen ›Besetzungen‹ vorübergegangen sind, hält sich der Topos der ›Souveränität‹ hartnäckig, auch wenn man sich ratlos fragen mag: Wer, was, wann und wo? Wer war der Souverän? Die Frage klingt zunächst nostalgisch, wird aber normativ, wenn es um Menschenrechte und -würde geht. Dann zeigt sie ihren nicht mehr metaphysischen, sondern metapositiven Charakter. Mag alles Recht wie alle Religion ›positiv‹ sein, θέσει, nicht φύσει gemacht, nicht gottgegeben – wird doch der Ungrund der Souveränität dieser Disposition entzogen. Nur ist selbst das noch eine sublimierte Positivität. Empirisch oder deskriptiv wird die Frage nach Souveränität vergeblich bleiben. Und dennoch wird an ›empirische Größen‹ die Erwartung herangetragen, doch nun endlich einmal ›souverän‹ zu agieren, ›als Souverän‹, als ob man souverän wäre, wenigstens gewesen war. So klagt Roger Willemsen in Das Hohe Haus: »Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser.« 4 So erscheint ihm das ›Hohe Haus‹ (in rhetorischer Frage) als »Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee« 5 . Das könnte man für gängigen Politikverdruss halten, der nur zu verständlich ist, wenn man Zeuge der Reduktion des Politischen auf Politik wird. Nur ist das Folge einer Übererwartung: als wäre ein Parlament die Inkarnation des Politischen, statt der Politik. Aber Willemsen deutet das Problem mit einem feinen Beigeschmack klüger, als es der Ton des Verdrusses vermuten lässt. Es scheint, als sei das Handeln der Regierungsparteien zu ›Administration‹ und ›Assistenz‹ geworden. Statt ordentliche Oikonomia zu trei4 5

Roger Willemsen, Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlament, Frankfurt a. M. 2014, 16. Ebd., 277.

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ben, scheint ›das Hohe Haus‹ zum Chor der jubilierenden und administrierenden Engel geworden zu sein? Was wäre, wenn ein Regent, der schlicht ein ›Arbeitsamt‹ hat, wie ein Herrscher operiert (oder inoperiert), indem er sich akklamieren, jubilieren und administrieren lässt? Simulation von Souveränität mit einer politischen inoperativeness, in der der Regent sich für einen Herrscher hält. Wie meinte Lacan? Ein Bettler, der sich für einen König hält, mag verrückt sein; aber längst nicht so verrückt wie ein König, der sich für einen König hält. 6 Was wäre dann ein Regent, der sich für den Herrscher hält, oder sich zumindest so verhält? Komparative und Kompetitionen der Verrücktheit sind anscheinend ein tragikomisches Medium, in dem sich Politik und das Politische kreuzen. Nur zur Gegenprobe: Was wäre ein Professor, der sich tatsächlich für einen Professor hält? Oder was wäre ein Christ, der sich absolut gewiss auch dafür hält? Ein Messias, der glaubt, er sei der Messias? Oder ein Gott, der glaubt, er sei Gott?

2.

Zur ›Vermessung‹ der Souveränität: Unterscheidungen

Als Souverän gilt in der Regel, wer legitimer Weise herrscht. Den Grund der Souveränität bildet daher dessen Legitimationsinstanz: Gott oder Volk etwa. Im Grimm heißt es entsprechend zum Souverän: »unumschränkter herrscher, selbstherrscher […] souverain bezeichnet in neuerer zeit den landesherrn, regierenden fürsten, insofern er persönlich keinem fremden willen unterworfen und unverantwortlich ist, aber ohne den begriff der unbeschränkten, absoluten herrschergewalt, geht also sowol auf den constitutionellen wie auf den absoluten monarchen.« 7 Genauer: »Wenn ein Mann, der sich für einen König hält, verrückt ist, ist es ein König, der sich für einen König hält, nicht weniger.«, Jacques Lacan, Schriften, in: Das Werk von Jacques Lacan, Bd. III, hg. v. J.-A. Miller/N. Haas, übers. v. N. Haas, Weinheim 3 1994, 147; vgl. Christoph Braun, Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin 2 2008, 208; Slavoj Žižek, Lacan in Hollywood, übers. v. E. M. Vogt, Wien 2000, 53. 7 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Art. Souverän, Deutsches Wörterbuch X, Leipzig 1905 (Nachdruck München 1984), 1821 f. Nicht ohne Witz ist dabei für spätere Leser die Bestimmung des Souveräns als ›unverantwortlich‹. Was einst hieß, niemandem Rechenschaft schuldig, klingt heute kritischer als einst. Mag sich der Souverän vor niemandem verantworten müssen, ist er versehentlich doppelt unverantwortlich. Zwar muss sich mittlerweile jeder noch so kleine Regent verantworten ›vor den Wählern‹ – tut es aber nicht und muss es auch nicht mehr, wenn Verantwortung hin- und 6

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In der mythischen Ursprungslogik ›unumschränkter Herrscher‹ war anscheinend alles klar und der Fraglichkeit entzogen. ›Es gibt‹ Souveränität, die in einem Metasouverän gründet (ist der dann supra ordinem beziehungsweise extra ordinem?). Klar ist allerdings auch, dass man in dieser Logik auf Ab- oder Ungründe stößt, an denen sich der Spaten keineswegs umbiegt, sondern abgleitet in die Tiefe oder Leere. Realien sind hier nicht belastbar: als wäre ›ein Volk‹ (was immer das sei) ›souverän‹. Davon auszugehen, ist stets kontrafaktisch oder contra experientiam. Um dennoch davon zu sprechen, werden entsprechende Mythen oder Narrationen bemüht. Die Kulturen – und manchmal Barbareien – des politischen Imaginären sind ja gründlich erforscht in den letzten Jahrzehnten, prominent in Konstanz wie von Philipp Manow, nicht zuletzt aber auch von Hans Blumenberg, vor allem in seinem dritten Mythosbuch: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos 8 . Das Deutungsmuster der figura ist aus der theologischen Typologie bekannt: Verheißung wie Erwartung und Erfüllung. Ex post wird das Faktum als Ziel einer Vorgeschichte ausgegeben, die auf das ›Jetzt‹ und ›Hier‹ zuläuft. Blumenberg versteht weniger apologetisch als vielmehr kritisch Präfiguration als ein mythisches (teils magisches) Verfahren der Erzeugung von Legitimität 9 – »auf daß erfüllt werde, was geschrieben steht«, 10 wie er biblisch formuliert. Genauer ausgeführt heißt das: wegdifferenziert wurde. ›Politische Verantwortung‹ ist ein Nostalgicum geworden, wenn die Eigendynamik der Administration zur Delegation und Dissemination von Verantwortung führt. Mag ein Präsident lächerlich wirken, wenn er nichts weiß von den Aktivitäten seiner ›Dienste‹, ist er durch solche Ahnungslosigkeit doch anscheinend nicht mehr verantwortlich zu machen: unverantwortlich eben. Souveränität aus Versehen wäre das zu nennen, statt aus Vorsehung; auch wenn letzteres die mythische Rhetorik politischer Kommunikation noch bestimmen mag. Von der Erzeugung solch einer Fraglosigkeit zehren auch noch demokratische Herrscher, um vergessen zu machen, dass sie nur Regenten sind. 8 Vgl. Hans Blumenberg, Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, hg. v. A. Nicholls/F. Heidenreich, Berlin 2014; Ders., Eichmann – der ›negative Held‹ des Staates Israel, Neue Zürcher Zeitung 1. 3. 2014, http://www.nzz.ch/aktuell/feuille ton/literatur-und-kunst/eichmann-der-negative-held-des-staates-israel-1.18253335 (zuletzt geprüft am 16. 9. 2014; Ph. S.). 9 Vgl. Blumenberg, Präfiguration, 10 (wie Anm. 8). 10 Ebd., 11. Vgl. Lk 22,35–38: »Und er sprach zu ihnen: Als ich euch ausgesandt habe ohne Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr da je Mangel gehabt? Sie sprachen: Niemals. Da sprach er zu ihnen: Aber nun, wer einen Geldbeutel hat, der nehme ihn, desgleichen auch die Tasche, und wer’s nicht hat, verkaufe seinen Mantel Souveränität und Subversion

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»[D]ie Gegebenheit wird potentiell zur Präfiguration durch eben die Eigenschaft, die dem Mythos zugeschrieben werden muß, nämlich durch Bedeutsamkeit. Vor allem darin, daß Präfiguration ein singuläres Instrument der Rechtfertigung in schwach begründeten Handlungssituationen ist, kommt es auf die Prägnanz der Bezugsfigur an; zugleich wird es im Maße ihrer Prägnanz schwierig, die Bezugsfigur in sachlich nicht abgestützten Entscheidungssituationen ungenutzt liegenzulassen, schon deshalb nicht, weil sie potentiell immer auch anderen zur Verfügung steht. Präfiguration ist also die Figur einer sprachindifferenten Rhetorik. Sie beruhigt über Motivation, schirmt gegen Unterstellungen ab, indem sie als gar nicht mehr dispositionsfähig hinstellt, was zu entscheiden war. Sie schirmt den fremden Blick bei der Suche auf immer weitere ›Hintergründe‹ der Motivation ab. Die historische oder sich historisch dünkende oder historisch ambitionierte Handlung rückt in die Zone der Fraglosigkeit: wer sie in Frage stellt, mißachtet, worauf sie sich beruft.« 11

Durch die rhetorische Erzeugung von Fraglosigkeit rückt die Präfiguration Blumenberg zufolge in das Sprachregister des Mythos. Aber das allein macht noch keine Bedeutsamkeit. Die hängt letztlich an einem ›Glauben‹ (der nicht zur Disposition von Wissen oder Wollen steht). Deswegen ist Souveränität religiös wie politisch ein ›Glaubensgegenstand‹ (ebenso wie ›die Märkte‹). Souveränität ist nur, was sie gewesen sein wird, in einem belief system, das sie ermächtigt. Mit Blumenberg variiert: »Es gibt Verhaltensmuster, deren Realität auf dem Glauben beruht, daß es sie gibt; dazu gehört, daß Staaten Handlungssubjekte seien, die sich in ihrer Geschichte charakteristisch verhalten, in gleichen Situationen Bestimmtes nie, anderes immer getan hätten und tun würden.« 12 Der Glaube wird von ihm pragmatistisch als Handlungsstabilisierung begriffen, mit Wittgenstein hieße das ›Lebensform‹. Deutungsmuster und Verhaltensmuster sind so gesehen wechselseitige Stabilisierungsformen, die einander ebenso bedürfen, wie sie nicht ›an und für sich‹ bestehen können. Dann allerdings wird die Spur der Labilisierung in der vermeintlich immer noch größeren Stabilisierung sichtbar. Die mythisch konzipierte ursprungslogische Souveränität wird im Konstitutionalismus funktional und strukturlogisch ›verfasst‹, und kaufe ein Schwert. Denn ich sage euch: Es muss das an mir vollendet werden, was geschrieben steht: ›Er ist zu den Übeltätern gerechnet worden‹. Denn was von mir geschrieben ist, das wird vollendet. Sie sprachen aber: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter. Er aber sprach zu ihnen: Es ist genug.« 11 Blumenberg, Präfiguration, 14 f. (wie Anm. 8). 12 Ebd., 32 f.

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umbesetzt qua Legitimität durch Verfahren. Auch das wird noch von Blumenbergs rhetorischem Begriff des Politischen erfasst. Nur ist die prozedural (wie rhetorisch) erzeugte sc. eine Souveränität ohne Souverän: eine Prozedur, keine Person oder ein Kollektiv. Es ist entpersonalisierte Souveränität, eine Eigenschaft ohne Mann, deren Eskalationen als technische oder mediale autopoiesis auftreten können. Das Verfahren funktioniert indifferent gegenüber Einzelnen (›Singulärem‹). Dass darin ein Enttäuschungspotenzial gründet mit Empörungspotenzial, ist absehbar. Politik- und exemplarisch EU-Verdruss zeigen auch das Kränkungspotenzial solcher Strukturlogik. Ob ursprungs- oder strukturlogisch: Beide Formen der Souveränität sind ›in Ordnung‹. Beide fabrizieren eine mächtige, weil ermächtigte Souveränität, von der ›alle Macht ausgeht‹ (ob Gott, König oder Volk), von oben also. Das kann vergessen lassen, dass Souveränität auch ›von unten‹ auftreten kann als Widerstand, sei sie wider die Ordnung oder außer ihr oder in ihr sie überschreitend. Der ›anarchische‹ Akt des Widerstands wäre die Urimpression einer außerordentlichen Souveränität. Normative Besetzungen der Einen oder Anderen sollte man allerdings zurückhalten, als wäre die außerordentliche gleich wider die Ordnung und damit illegitim; oder als wäre sie wider eine abstrakte üble Ordnung und damit gut. Ob von oben oder unten; in oder außer der Ordnung: Die normative Differenz steht quer dazu. Damit entsteht ein Quadrupel der Souveränität. Es gibt allerdings eine deutliche Neigung sogenannter ›linker‹ politischer Theorien, die Souveränität von unten (des Einzelnen oder der Vielheit) a limine für ›gut‹ zu halten. Der Hintergrund ist dann ›in der Regel‹, dass die Souveränität von oben für ›hierarchisch und totalitär‹ gehalten wird. Oder, dass die von unten als »sukzessive entleerte Volkssouveränität« 13 zur abstrakten Verwaltungsmaschinerie ›verkommen‹ sei. Auch wenn das faktisch und aktuell plausibel sein mag – gegen eine Theokratie oder Eurobürokratie oder Mediendemokratie wie unter Berlusconi –, ist es ein methodischer Fehlschluss, normative Setzungen (pauschal) mit Souveränitätsformationen zu identifizieren. Folgt man diesem Fehlschluss, kann auch das souveräne Subjekt wieder ›gefeiert‹ werden, und sei es sublimiert und kompliziert wie in Žižeks Neumarxismus. Nur, warum sollte die Freiheit des Subjekts zum Widerstand Giorgio Agamben, Einleitende Bemerkungen zum Begriff der Demokratie, in: Demokratie? Eine Debatte, hg. v. ders. et al., Berlin 2012, 9–12, hier 11.

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gegen ›leere‹ oder ›üble‹ Ordnungen gleich wünschenswert sein? Kann doch in der anarchischen Souveränität (Einzelner oder vieler) das Übel auch verschärft oder reproduziert werden. Souveränität wie deren Kritik ist nur so sinnvoll, wie von ihr intelligenter Gebrauch gemacht wird, d. h. kritischer und vor allem selbstkritischer Gebrauch. Das ist einigermaßen unselbstverständlich. Denn in der Regel fungiert Souveränität als ein Ermächtigungstheorem. Dass es selbstkritisch gewendet wird, passiert auf politischer Ebene selten. Auf vernunftkritischer Ebene hingegen ist genau das die Pointe. Wie steht es dann mit der literarischen Souveränität beziehungsweise mit der Souveränität der Künste? Sie fremdkritisch zu wenden und als Autorisierung der ›Freiheit der Künste‹, ist die Regel, aber selbstkritisch? Religiöse Souveränität kann ebenso ambivalent gebraucht werden: als Selbstermächtigung, und sei es mit der Rhetorik von der ›Unverfügbarkeit des Lebens‹ – oder mit demselben Topos auch als Selbstkritik und Fremdermächtigung. Der Gebrauch macht den Sinn und den Unterschied. Dementsprechend kann auch von einer ›leeren Mitte‹ oder ›leeren Stühlen‹ der Macht sehr verschiedener Gebrauch gemacht werden.

3.

Theologie als Theorie der Souveränität

Theologie ist stets auch Theorie der Souveränität, vor allem am Ort der Gotteslehre bis in ihre Ableitungen der Kirchenlehre und Herrschafts- wie Regierungstheorie. Noch am Ort der Anthropologie ist sie (paradoxierende) Souveränitätstheorie, wie in Sünden- und Glaubenslehre oder noch in Subjektivitätstheorien und deren Kritik. Erwartet wird aber in der Regel, Theologie sei apologetische Theorie der Souveränität, so wie sie Apologetik Gottes (Theodizee), der Kirche, der Religion und des Glaubens sei. Ob dem so sein muss, ist strittig. Denn ohne Lizenz zur Distanz und Kritik wäre Theologie manches, aber sicher nicht ›akademisch frei‹. Ist nun die Theologie so frei, die protestantische im Besonderen, einen Begriff des ›Post-Souveränen‹ zu denken, Souveränität nach der Souveränität, eine kommende Souveränität, im Lichte derer alle Souveräne kritisierbar wären? Möglich wäre das, wenn sie aufgrund des Souveräns namens Gott eine umso kritischere Einstellung zu anderen Souveränen entwickelt. Nur wäre solche Souveränitätskritik von Gnaden einer immer noch größeren Souveränität gedacht. Daher 26

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wird die Disposition der Theologie mit einem Verdacht belegt: Nichts liege ferner, als die Theologie hier aufzurufen, werden die einen sagen. Sei doch Theologie, christliche zumal, prinzipiell und unentrinnbar auf den ›absoluten Souverän‹ verpflichtet, den sie apologetisch geltend zu machen habe, trotz allem. Ob mythisch, biblisch oder später metaphysisch; ob mit aufgeklärtem Theismus oder subjektivitätstheoretischer Begründung, immer bleibe doch die Verpflichtung auf den ›absoluten Grund‹, auch in der Schwundform eines ›Woher‹ meines Abhängigkeitsgefühls. Demgegenüber ergibt sich erst die Herausforderung für die Theologie und der mögliche Gewinn im Chiasmus von Theologie und politischer Theorie: ob und wie dem Dispositiv der Souveränität zu entkommen wäre? Nichts liegt näher, als gerade hier die Theologie aufzurufen, können die anderen sagen. Denn gerade der Theologie sei der Rekurs auf einen absoluten Souverän unmöglich. Wäre doch jede Indienstnahme Gottes zur Selbstermächtigung eben genau das: Selbstermächtigung, und das auch noch mit der Verfügung über den Unverfügbaren, die Benutzung Gottes zu diesem Zweck. Und ob jüdische Theologie der ›Zerstreuung‹ oder christliche des Gekreuzigten, beiden kann kein Metasouverän als absoluter und infallibler Grund zuhanden sein. Schon im Gottesbegriff lässt sich zweifeln, ob er denn ›der absolute Souverän‹ war, ist oder sein kann. Jahwe jedenfalls ist im Laufe seines Lebens (genauer: seiner Deutungen) zum Souverän ernannt worden, in frommer Kompetition gegen seine Konkurrenten. Später noch ist er in der Geschichte des Monotheismus zum Metasouverän über alle Souveräne geworden. Fasst man Monotheismus im Lichte seiner Genesis, ist Gott Souverän nach der Souveränität der Anderen, Früheren und Konkurrenten. Die Souveränität Gottes ist Post-Souveränität – verdankt den motivierenden anderen Souveränen (Pharao, Marduk und Co.), verdankt auch der Ernennung und Verehrung durch sein Volk, verdankt der noch viel späteren theologischen Zuspitzung bis zur potentia absoluta des Hochmittelalters (Scotus/ Ockham). Geerbt 14 wurde aber in dieser Kompetition – seit Ägypten – das ›Dispositiv‹ der Souveränität. Monolatrie wie Monotheismus übernehmen in der Kompetition um Souveränität das ›theistische Dispositiv‹ : der Eine, Höchste, Größte, Mächtigste etc. Das Politische Wenn man so sprechen könnte, ohne einen ›historischen Substantialismus‹ zu vertreten, wie etwa Carl Schmitt.

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als eskalierende Logik der Ermächtigung dominiert daher auch die Theologie Israels seit Gen 1. Das Problem dabei ist allerdings nicht der Monotheismus und die (Sprache der) Gewalt, wie Jan Assmann meinte, 15 sondern der Theismus. Das zeigt leicht die Gegenprobe: Polytheismen sind nicht weniger kompetitiv und gewaltanfällig, ob plural olympisch oder dual gnostisch. Die fröhliche Feier des Polytheismus ist mitnichten per se liberal und irenisch, sondern kann in Götterkämpfe verstricken, die mindestens so blutig sind wie ›geklärte Verhältnisse‹ im Monotheismus. Dass ›der Mythos‹ kraft seiner inklusiven Logik des ›sowohl als auch‹ besonders integrativ und kombinationskompetent sei, ist nicht ohne Mythophilie. Es ist ein Mythos vom Mythos. Vorzüglich an einem geklärten, zumal einem aufgeklärten Monotheismus wäre demgegenüber, dass er nicht mehr polemogen (olympisch) oder gnoseogen sein muss, um zu sein, was er sein kann: In der Figur des transzendenten Souveräns wird immanenten Größen Souveränität prinzipiell entzogen und Kompetitionen damit prinzipiell jeder Grund genommen. Ob man das als ›Ruhe und Ordnung nach dem Kampf‹ kritisiert oder als (naive?) Hoffnung auf einen ›himmlischen Frieden‹ – es bleibt der Kritik ausgesetzt. Aber solch ein Monotheismus kann ebenso Grund von neuen Kämpfen sein wie vom Jenseits der Kämpfe um Souveränität. Die Frage nach Theologie und Souveränität lässt sich leicht Pro und Contra beantworten, sic et non. Die klassische Gott/Welt-Differenz mag unter Verdacht stehen, transzendente ›Souveränisierung‹ von Herrschern oder Ordnungen zu leisten (in ideologischem Gebrauch). Aber sie kann auch anders gewendet werden: als Welt (wie Kirche) mit leerer Mitte, genauer noch: ohne Mitte, weil die Mitte außen ist, nicht zuhanden (unverfügbar?). Dann wäre vielleicht nicht vom ›abwesenden Grund‹ zu sprechen, sondern vom Entzug der Souveränität. Ob man den als Selbstentzug deutet (wie Gottes Abwendung gegenüber seinem murrenden Volk) oder als christologische Schubumkehr des nemo contra deum, nisi deus ipse oder als Zimzum Vgl. Jan Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 4 2007, 23: »Ich konstatiere lediglich, dass der Monotheismus eine Religion ist, in deren kanonischen Texten die Themen Gewalt, Hass und Sünde eine auffallend große Rolle spielen und eine andere, nämlich spezifisch religiöse Bedeutung annehmen als in den traditionellen, ›heidnischen‹ Religionen. Dort gibt es Gewalt im Zusammenhang mit dem politischen Prinzip der Herrschaft, aber nicht im Zusammenhang mit der Gottesfrage. Gewalt ist eine Frage der Macht, nicht der Wahrheit.«

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(wie bei Jonas und Moltmann, mit der frühneuzeitlichen jüdischen Mystik) oder als Selbstverausgabung Gottes bis zur Erschöpfung (wie Blumenberg in seiner Matthäuspassion) oder aber strikt kreuzestheologisch (mit Luther): Es ist als Paradoxierung der Souveränität darin konvergent, dass sie nicht als Legitimationsinstanz ›weltlicher Fürsten‹ dienen kann, auch nicht der weltlichen Kirchenfürsten. Der Rekurs auf Gott kann dann kein Ermächtigungstheorem mehr sein, sondern würde prophetisch wie eschatologisch und christologisch gerade eine Machtkritik freisetzen. Gott als Grund der Selbstkritik, schon deuteronomistisch gegen das Königtum. So lässt sich ›im Namen Gottes‹ jede immanente Souveränität kritisieren. Denn vor diesem Souverän hat sich noch jeder ›Fürst dieser Welt‹ zu fürchten und zu verantworten. Dann wäre der Monotheismus der Grund von Kritik und Delegitimation ›humaner‹ Souveränität. 16

4.

Souveränität ohne Souverän – oder ›Post-Souveränität‹ ?

Vorausgesetzt ist im Folgenden, dass Souveränität nicht terminologisch eng begriffen wird, als strikte Frage nach der Souveränität eines Staates beziehungsweise der Volkssouveränität. Dann würde die Frage Juristen, Rechtshistorikern und Rechtsphilosophen vorbehalten. Versteht man Souveränität nicht nur als Rechtstitel, sondern als ›soziale Wirklichkeit‹ einer ›Wirkmacht‹, 17 als Topos im Gebrauch, wie als Metapher in ihren Formvarianten, dann ›gibt es‹ Souveränität in Verschiebungen, Übertragungen und Differenzierungen: von Gott über König zum Volk (oder vorgängig vom Volk über den König zu Gott); analog von Gott über den Papst zu Kirchenvolk (oder umgekehrt), und protestantisch von Gott über Schrift beziehungsweise Wort zur communio sanctorum (und umgekehrt). Schon ›Gott‹ als Souverän aller Souveräne hat eine Vorgeschichte der Verschiebung und Übertragung, d. h. die Verschiebung ist ›ursprünglich‹ – der Ursprung verschoben, die anfängliche Nachträglichkeit uneinholbar. Dann aber ist die Souveränität Gottes nicht der Das gilt in beinahe mythisch erhöhter Dimension von Barmen. Aber: Der souveränitätskritische Rekurs auf den Gott als Grund der Kritik ist prekärerweise auch eine Selbstermächtigung, die der Kritik. Daher krankt Barmen möglicherweise an solch einer Gegenbesetzung, die für sich in Anspruch nimmt, was sie (zu Recht) anderen bestreitet. 17 Vgl. Eilert Herms, Art. Souveränität, RGG4 VII, Tübingen 2004, 1461 f. 16

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›archimedische Punkt‹ der Souveränitätstheorie. Daher ist in der jüdischen wie christlichen Tradition diese Verdichtung auch immer wieder von neuem verschoben worden. Deutlich in Jonas’ mystischer Liebe zum Zimzum mit Resonanz in der politischen Theologie Moltmanns, oder diskreter in Jesu anarchischer Deutung Gottes über Paulus’ subversive Deutung des Juden- wie Christentums über alle Reformationen und Revolutionen der Theologiegeschichte. Sofern Theologie imaginativ und investigativ zu werden wagt, wird sie außerordentlich und damit meist auch ordnungskritisch. Souveränität ist ursprünglich verschoben, delegiert wie disseminiert und daher stets different in der Wiederholung, rissig in der Kontinuität. Aber um zu ›fungieren‹ wird ihre Genesis um der Geltung willen abgeblendet und latent gehalten. Ihre ursprüngliche Labilität wird stabilisiert und vergessen gemacht. Und das nicht nur im Blick auf Gott, sondern auch andernorts: in der Souveränität des Subjekts, in der Geschichtsphilosophie mit ihrer Theorie des Absoluten. Selbst in einer Kreuzestheologie kann bei großer Ohnmacht eine immer noch größere Macht vorausgesetzt werden, mit der alle Labilität liminal stabilisiert wird. Das Dispositiv der theistischen Souveränität – scheint unentrinnbar. Was aber wäre dann eine Postsouveränität, wenn sie anders disponiert sein sollte? Sie könnte nicht nur die Umbesetzung der Position vornehmen, wie in der Aufklärung paradigmatisch vorgeführt: von der Transzendenz in die Immanenz oder von Gott zum Subjekt oder Volk. Sie könnte auch nicht nur eine Gegenbesetzung vornehmen, die (nicht substantiell) erben würde, wogegen sie sich wendet. Daran krankt vermutlich auch noch Blumenbergs Deutungsfigur der ›Legitimität der Neuzeit‹ als Selbstbehauptung gegen einen (fingierten) theologischen Absolutismus. Ist dann die ›Lösung‹ eine Unbesetzung – die Vakanz, die leere Mitte (mit C. Lefort)? Gemäß Derridas Figur des ›Weder – Noch‹ ? Blumenberg hatte diese Dynamik des kulturellen Imaginären im Anschluss an Cassirer mit einer Struktur funktionaler Positionen und Relationen beschrieben. Die monotheistisch hochgetriebene Position des Souveräns eines ›theologischen Absolutismus‹ war der Willkürgott des Nominalismus (potentia absoluta). Auch wenn das doxografisch nicht stimmt, 18 hat es die Funktion, eine Legitimität der Selbstbehauptung zu begründen. Die vermeintliche Urstiftung des 18

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Vgl. Jürgen Goldstein, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitli-

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›neuzeitlichen Subjekts‹ wird so durch einen terminus contra quem und a quo verständlich. Nur – der Preis der Plausibilität ist nicht gering. Selbstbehauptung als moderne Souveränität ›erbt‹ zwar keine ›historischen Substanzen‹ und ›Schulden‹ (gegen Schmitt), aber sie übernimmt eine Position und Funktion. Selbstbehauptung wird zur Umbesetzung der Position des Schöpfers und Erhalters. Der Souveränitätsdruck ist dann erheblich. Wie wäre dem zu entkommen? Angesichts der Konstanz der Struktur – trotz Un- oder Umbesetzung? Wenn nicht nur Um-, sondern Unbesetzung, müsste die Vakanz von Funktionsstellen möglich sein (oder aber – das ganze Funktionssystem mit seinen Stellen geöffnet, verschoben und gewandelt werden). Unbesetzung jedenfalls weckt ein Unbehagen, das Blumenberg als kulturellen horror vacui beschrieb. Blumenbergs Einwand lautete, solche Vakanzen seien anscheinend nicht erträglich oder durchzuhalten. Er sucht hartnäckig, dem »Sog einer Vakanz« 19 zu widerstehen, wesentlich dem Sog einer Selbstverewigung durch Egologie und Unsterblichkeit. »Der Mensch als Generationsnachfolger dieses Gottes fand sich zuverlässig genug, denn kein anderer war Adressat seines Handelns. Der Tod Gottes machte den Weg zum absoluten Selbstvertrauen des Menschen frei. Nur blieb der freigelegte Weg leer […] Die Vakanz blieb. Lag es etwa daran, dass Nietzsche die Folge der Eskalationen Gottes in Wirklichkeit nicht beendet hatte, die Konsequenz des Grundverlustes als Selbstaufgabe nicht erkannte? Die Passion nicht verstehen konnte?« 20

Vakanzen sind schwer erträglich – und ziehen dann Neubesetzungen oder Nachbesetzung auf sich. Und diese Ambivalenz wäre vermutlich auch die einer jeden kommenden Souveränität. Ihr ›Nachleben‹ lässt sie nicht ›tot‹, sondern kann einer Wiederbelebung oder Auferweckung oder Parusie schwer widerstehen. Souveränität würde zum Wiedergänger, wie befürchtet. Souveränität im Affekt wird zur Pathosformel mit unendlichem Nachleben, das nicht selten gespenstisch wirkt. Die Souveränität des genius malignus ist solch ein Nachleben – des vermeintlichen Nominalismusgottes. Die Willkürmächte wie Märkte scheinen dem verwandt zu sein. cher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg i. Br. 1998. 19 Hans Blumenberg, Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart 1997, 17; vgl. ders., Matthäuspassion, 307 (wie Anm. 3). 20 Blumenberg, Matthäuspassion, 306 (wie Anm. 3). Souveränität und Subversion

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5.

Drei Versionen von Souveränität

›Souveränität‹ ist eine Figur des Imaginären, die je nach Besetzung und Bestimmung ›ihre‹ symbolische Ordnung reguliert. Das Reale imaginärer Souveränität ist ihre mangelnde Koinzidenz mit dieser Ordnung, erst recht mit ihrem Personal. So zu formulieren, unterscheidet drei Versionen der Souveränität (ohne damit die Triade RSI nach Lacan/Žižek stricte dictu zu unterstellen): 1. Es gibt die sich selbst gern verkennende (oder ihre Labilität latent haltende) reale Souveränität: Als wäre ein Staat, ein Ich oder eine Gemeinschaft de facto je souverän (gewesen). Nochmals mit Lacan, »wenn ein Mann, der sich für einen König hält, verrückt ist, ist es ein König, der sich für einen König hält, nicht weniger« 21 . Ein Fürst wie ein Staat, der sich für tatsächlich souverän hält (oder für neutral) – verkennt die Verschiebung wie den Entzug. Würde er aber seine Souveränität erkennen, wäre sie der Einbruch des Unheimlichen. Mögen selbst ernannte ›Feinde‹ dazu beitragen, sich für souverän zu halten, wenn man sie beherrschte, wäre selbst dann noch erkennbar, dass Souveränität ›von Gnaden Anderer‹ erst wird, was sie gerne wäre. Wer hingegen eine ›Volksabstimmung‹ für die ipsissima vox des Souveräns hält, scheint mit tiefem Willen zum Glauben eine kontingente Realie für eine Manifestation des imaginären Souveräns zu halten: Als wäre ein brennender Dornbusch tatsächlich Gott. Ob es solch einen ›naiven‹ Glauben geben mag, ist eine andere Frage. 22 Aber es gibt zumindest die Verkündigung solch eines Glaubens. Reale Souveränität ›gibt es‹ daher nur in ihrer Abwesenheit, nämlich als Riss innerhalb der symbolischen Ordnung. 23 2. Die pragmatistische Wendung zeigt: ›So leben wir eben‹ kann die symbolische Souveränität für real halten. Aber das ist sie nicht, wenn Faktizität und Norm different bleiben. ›Verfassungen‹ ebenso Lacan, Schriften, 147 (wie Anm. 6). Robert Pfaller, Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008, nennt dieses Phänomen des delegierten Glaubens, bei dem der (große) Andere an meiner statt glaubt, damit ich nicht selbst glauben muss, ›Interpassivität‹. 23 »[Man sollte] allerdings darauf bestehen, dass das Lacan’sche Reale dem Symbolischen streng inhärent ist. Es ist nichts als die ihm innewohnende Begrenzung, die Unmöglichkeit des Symbolischen, voll und ganz ›es selbst zu werden‹.« (Slavoj Žižek, Klassenkampf oder Postmodernismus? Ja, bitte!, in: Kontingenz, Hegemonie, Universalität. Aktuelle Dialoge zur Linken, hg. v. J. Butler et al., übers. v. S. Seitz, Wien 2013, 113–172, hier 159). 21 22

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wie ›Bekenntnisgemeinschaften‹ oder Spielregeln eines Sports zeigen das. Es gibt Ordnungen und Regeln, nach denen gespielt wird – in Sport, Religion, Politik und auch Kunst. Auch hier gilt wieder, nicht das Personal ist souverän. Und auch die Struktur (das Regelsystem) ist souverän geworden, ohne es je ganz zu sein. Denn jede Ordnung hat Fugen, jede Geltung eine Genesis, jede Regel Grenzen und Ausnahmen. Entscheidend ist, dass solch eine souveräne Ordnung als solche angesehen und anerkannt wird, indem ihr gefolgt wird. In statu nascendi ist das ebenso deutlich wie in statu moriendi. Der Status der symbolischen Souveränität ist eigens ein Problem: Man kann sie nominalistisch als ›fiktiven Rechtsbegriff‹ fassen, als reinen Titel oder bloßen Namen. Nachdem Ecos William seinen Krimi gelöst hat, die Ekpyrosis der Bibliothek aber nicht verhindern konnte, meint er: »Ich bin wie ein Besessener hinter einem Anschein von Ordnung hergelaufen, während ich doch hätte wissen müssen, dass es in der Welt keine Ordnung gibt.« 24 Das bringt Adson auf den Punkt mit den Worten: »Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus« (›Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen‹). 25 Gegenüber solch einem Nominalismus regt sich Ungenügen, wenn man mehr will: ein reales Symbolisches. Dann wird beispielsweise bedauert und gesucht, worin die symbolische Identität ›Europas‹ besteht – und ihr Mythenmangel beklagt. Das sich darin meldende Begehren erzeugt seinen Mangel, von dem es sich nährt. 3. Was im ›Andenken‹ der Souveränität vor ihr war und nach ihr bleibt, »stiften die Dichter« 26 mit der Lizenz zum Imaginären. Souveränität als ›Objekt des Begehrens‹ ist ein Objekt des Besingens, Bedichtens, Bebilderns: mythisch oder durch ›historische‹ Sagen und Legenden, metaphysisch, religiös, literarisch oder vermeintlich ›rein rational‹. Souveränität bedeutet dann eine Vergangenheit, die nie Gegenwart war, oder eine Zukunft, die nie Gegenwart sein wird. Souveränität ›im Entzug‹ ist diachron, protologisch oder eschatologisch. 27 Umberto Eco, Der Name der Rose, übers. v. B. Kroeber, München 1982, 625. Zitat von Bernhard von Morlaix, vgl. www.hoye.de/name/abel.pdf (zuletzt geprüft am 16. 9. 2014; Ph. S.). Das Zitat heißt im Original: »Stat Roma pristina nomine, nomina nuda tenemus« (http://la.wikisource.org/wiki/De_contemptu_mundi/Liber_I [zuletzt geprüft am 16. 9. 2014; Ph. S.]). 26 Friedrich Hölderlin, Andenken, in: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, Bd. XI (1804/1805), hg. v. D. E. Sattle, München 2004, 121–123, hier 123: »Was bleibet aber, stiften die Dichter«. 27 Kann sie präsent werden im ›actus purus‹ oder ›quia voluit‹ des Subjekts (Žižek)? 24 25

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Souveränität ist eine Deutungsfigur, etwa eine Figur der Deutung ›Gottes‹ als Souverän. Denn Gott so zu deuten, ist eine politische Figur, in der sich Assmanns These gegen Schmitt bestätigt: Souveränität sei nicht erst eine neuzeitliche Säkularisierung eines theologischen Begriffs, sondern war zuvor eine Theologisierung eines politischen Begriffs. 28 Diese Deutungsfigur ist deutungsmächtig: Sie lässt und macht so sehen, denken und sprechen. So zu sprechen, zu singen und zu rechten lässt und macht uns glauben, wir ›seien‹ souverän: wir, das Volk, das Subjekt, die Gemeinschaft. Die Eigendynamik solcher Deutungsmuster als ›Deutungsmächte‹ zu begreifen, kann verständlich machen, warum sie ein Eigenleben führen, auch wenn es sie nicht mehr gibt oder nie gegeben hätte: Ob Gott oder Barbarossa, sie erscheinen so in Narration oder Bild und im kulturellen Gedächtnis. Das kann man mit einem (stipulierten) anthropologischen ›Begehren‹ versuchen, verständlich zu machen. Der Souverän (wie der absolute Vater) als Figur des Imaginären wäre dann Resultat einer anthropologischen oder psychologischen oder sozialen ›Konstante‹. Von solch einer Voraussetzung aber entlastet die ›Umformatierung‹ : Was auch immer diese Figuren hervortreibt, sie sind Figuren des sozialen oder kulturellen Imaginären und damit der Imaginationsökonomien einer Kultur. Die ›Figur des Imaginären‹ ist stets auch eine façon de parler, d. h. des Denkens, Wahrnehmens, Sprechens und Lebens. Sie zeigt sich in der ›kulturellen Semantik‹ (Assmann), in ›Wort und Sakrament‹ ebenso wie in Bild und Verkörperung. ›Es gibt‹ Szenen, Gesten, Sprachfiguren der Souveränität, Figuren in Wort, Bild und Verkörperung, die Souveränität in Anspruch nehmen, vor Augen führen, an sie glauben machen (wollen). Zum Beispiel: • ›Im Namen Gottes‹ zu sprechen, in Absolution, Exorzismus, Sakrament, Verkündigung qua Amt oder qua Charisma. ›So spricht der Herr‹, beginnt die Rede des Propheten und in dieser Tradition auch des Paulus. • ›Ich aber sage Euch‹, wurde Christus als Sprachfigur zugeschrieben. Klassisch als Geste ungeheurer Ermächtigung gelesen, kann man etwas subtiler darin auch eine Entmächtigungsgeste sehen:

Vgl. Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theorie in Altägypten, Israel und Europa, Darmstadt 2000, 29.

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eine riskante Exposition, die sich nicht auf Autoritäten und Autorisierungen zurückzieht, sondern selber zu sagen wagt. Analog beansprucht jedes Wort, das ›selbständig‹ auftritt und argumentiert, solch ein ›Ich aber …‹. Ohne Rekurs auf etablierte Autoritäten, Schrift, Mose etc. selber das Wort zu ergreifen, ist eine ähnlich bodenlose Souveränitätsgeste. 29 Allein das Sagen und das Gesagte seien entscheidend, nicht der Sprecher. Sekundär dient dann doch wieder der Sprecher als Autorisierung, sei er Christus oder Luther. Tertiär wird es zur Selbstautorisierung des Zitierenden, wenn das dem Ersten Zugeschriebene zitiert wird. Nochmals ähnlich ist die Geste ›Ich aber zeige euch‹ (oder werde es Euch zeigen). Zurückhaltender wäre ›Ich sehe das so‹, und zwar anders, als es bisher gesehen wurde. ›Ich war dabei‹ und kann sagen, wie es ›wirklich‹ war, autorisiert die Rede des Zeugen. Im Namen des Volkes wird Recht gesprochen und definitiv geurteilt. Im Namen der Öffentlichkeit beansprucht ›die Presse‹ zu sprechen. Denn ›die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf …‹. ›Im Namen der Vernunft‹ spricht die Philosophie und beansprucht damit unausweichliche Anerkennung. ›Hier stehe ich und kann nicht anders‹ sprach Luther und rekurrierte damit auf die Gewissen/sfreiheit. Ist der ›unmittelbare, schlechthin gewisse‹ Glaube ein erst ›modernes‹ Phänomen, im Unterschied zu traditionellen Distanzierungen? Pfaller 30 und Žižek 31 sind solchen Unmittelbarkeiten gegenüber skeptisch. Aber – ist Žižeks neumarxistisches Pathos nicht genau solch eine Confessio? »Ich behaupte, daß man nur mittels eines materialistischen Ansatzes Zugang zu diesem Kern [des Christentums; Ph. S.] hat und vice versa: Um ein wahrer dialektischer Materialist zu werden, muß man die christliche Erfahrung durchlaufen« 32 . Hier stehe ich – und keiner kann anders?

Ohne symbolisch legitimierte Stimme dennoch zu sprechen – könnte man als Szene der ›Machtergreifung‹ verstehen: das Wort zu ergreifen, ohne eine Stimme zu haben. 30 Vgl. Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt a. M. 2002. 31 Vgl. Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M. 2003, 8 ff. 32 Ebd., 8. 29

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›Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern …‹ konnte als geflügeltes Wort Konrad Adenauer zugeschrieben werden. Heißt das: Wirklich souverän ist, wer sich selbst zu widersprechen vermag? • Literatur mit ihrer Lizenz zum Unmöglichen, zum Inkompossiblen ›operiert‹ ganz klassisch mit einem imaginären Souverän: dem sogenannten ›allwissenden Erzähler‹ als Erbe von Gottes Eigenschaften. 33 • ›Es gibt‹ eine wissenschaftliche Version dessen: den Genealogen oder Historiker. Nicht dass der Genealoge (etwa in der ›affirmativen Genealogie‹) von Hans Joas’ Allwissenheit oder Allmacht prätendieren müsste. Aber es sind narrative emplotments, in denen der ›Autor‹, genauer der wissenschaftliche Erzähler, als Souverän operiert – und das zugleich bestreiten muss in der wissenschaftlichen ›Exposition‹. Nun kann im hiesigen Rahmen nicht dieses ganze, zudem leicht erweiterbare, Spektrum an Figuren der Souveränität bearbeitet werden. Die Arbeit an den Sprachfiguren kann in theologischer Frage nach einer ›Souveränität nach der ›Souveränität‹‹ die ›Ursprungsformel‹ nicht nicht behandeln: ›Im Namen Gottes‹ – widerstreiten die Souveränitäten namens Papst und Kaiser. Und wo zwei Souveräne im Spiel sind – ist sie ursprünglich aporetisch. •

6.

Kompetitive als aporetische Souveränität: Papst und Kaiser

Der christliche Monotheismus in Gestalt staatstragender Theologie betrieb vor allem seit dem Reichskatholizismus Konstantins Souveränitätsbegründung ›im Namen Gottes‹. Den Einen gilt das als ultimaDie Lizenz zum Unmöglichen bekommt eine politische wie ethische Doppeldeutbarkeit, wenn es ›unsäglich‹ wird. Vgl. Christopher Schmidt, Kontinuität der Skandalrede. Das wird man doch sagen dürfen, in: Süddeutsche Zeitung am 8. 3. 2014, http:// www.sueddeutsche.de/kultur/kontinuitaet-der-skandalrede-das-wird-man-dochsagen-duerfen-1.1907278 (zuletzt geprüft am 16. 9. 2014; Ph. S.): »Indem Sibylle Lewitscharoff das im Grundgesetz verankerte Vorrecht der Kunst zum Regelverstoß von dem Bereich der Poesie auf den der Ethik, von der rein expressiven Form der Rede auf die der behauptenden überträgt, stellt sie sich in eine Reihe deutscher Schriftsteller, die es in der Vergangenheit ebenfalls schon nicht verstanden haben, die richtigen Worte zu finden. Stattdessen wedelten sie mit dem Freibrief ihrer Unabhängigkeit herum, um sich gegen Kritik zu immunisieren, und spielten die verfolgte Unschuld.«

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tiver Ermächtigungsgrund, den Anderen als Grund der Gewalt und leere Übertreibung. Die beiden kompetitiven Figuren dafür sind Kaiser und Papst, denen hier exemplarisch nachgedacht wird: als ›Papst‹ die imaginäre Figur mit drei Körpern, und als Kaiser die Figur ›Barbarossa‹ als Erfinder absoluter Souveränität und der akademischen Freiheiten.

6.1 Der dritte Körper des Papstes (1077) Das Verkannte und Invisibilisierte der Zwei-Körper-Lehre ist der Abgrund des Souveräns namens ›Papst‹ : sein dritter Körper. 34 Mag der Künstler in der Renaissance zum alter Deus erhöht worden sein, war es der Papst schon längst: alter Christus, wenn nicht sogar Christus ipse. Deswegen konnte der Papst qua Amt als Der sichtbare Christus 35 gelten. Diese mit dem Königtum konkurrierende Erhöhung des Papstes seitens der Theologie provozierte angesichts ihrer Eskalationen im ›Cäsaropapismus‹ entsprechende Erniedrigungen. 36 Aber wenn Niedrigkeitsgesten und -thesen auf einen bereits derart Erhöhten treffen – bleibt das notorisch zweideutig oder christologisch womöglich eindeutig. Denn die Erniedrigung eines Erhöhten gerät umso mehr in Verdacht, doch eine sublimierte Hoheit zu meinen, die sich selbst und gerade in ihrer Niedrigkeit zeigt. 37 Der Papst verkörpert und ›repräsentiert‹ (im mittelalterlichen Sinn 38 ) zu Amts- und Lebzeiten nicht nur eine Institution, ein ›weltlich Ding‹, sondern eine symbolische Ordnung namens ›heilige Kirche‹. Als Haupt dieses Leibes ist er (seit dem 11. Jahrhundert) nicht mehr nur vicarius Petri, sondern vicarius Christi – mit allen ZweiVgl. Karl Pellens (Hg.), Die Texte des Normannischen Anonymus. Unter Konsultation der Teilausgaben von H. Böhmer, H. Scherrinsky und G. H. Williams neu aus der Handschrift 415 des Corpus Christi College Cambridge, Wiesbaden 1966; Ders., Das Kirchendenken des normannischen Anonymus, Wiesbaden 1973. 35 Wie Agostino Paravicini Bagliani, Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit, übers. v. A. Wildermann, München, 1997, 75 ff., das einschlägige Kapitel seiner Studie überschreibt. 36 Vgl. ebd. 37 Gemäß Phil 2, wie auch die Passion Jesu bei Joh. 38 Vgl. Carlo Ginzburg, Repräsentation – das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand, in: Freibeuter 53 (1992), 1–24; Bernhard Siegert, Vögel, Engel und Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien, in: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, hg. v. H. Wenzel, Berlin 1997, 45–62. 34

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deutigkeiten, die sich daraus ergeben. Gilt doch Christus als Haupt dieses Leibes – dessen sichtbares Haupt vor aller Augen der Papst wird. Horst Bredekamp hatte – mit Ernst Kantorowicz – die ikonischen Komplikationen der zwei Körper des Papstes bereits näher entfaltet, anlässlich des Todes von Johannes Paul II. 39 Insbesondere die mediale Inszenierung des leidenden und sterbenden Papstes fokussierte, wie dieser Körper zum Bild seiner selbst wurde (in Näherung an Blanchots harte These). »Der noch nicht Verstorbene wurde zur Statue seiner selbst, die am Leben bleibt, auch wenn er sterben sollte« 40 . Bredekamp sieht hier, vor allem im Stimmverlust des Papstes, den »Austritt des Individualkörpers aus dem Amtsleib«, der sich in der Bestattungsliturgie verdichtete, »weil der Papst auch nach dem Tod noch für Tage in der Zone der Lebenden verblieb« 41 . Der tote physische Körper wird zum ambivalenten Bild: einmal der verstorbenen natürlichen Person, aber zugleich des noch präsenten Amtskörpers. 42 Bredekamp nimmt hier nur zu plausibel die These der zwei Körper in Anspruch, die indes im Blick auf den Papst zu differenzieren ist. Kantorowicz hatte seine These von den zwei Körpern des Königs in einem Text entdeckt, der um 1100 entstanden ist und einem ›Anonymus von York‹ beziehungsweise ›Normannischen Anonymus‹ 43 zugeschrieben wird. Person und Amt oder (so die eigentliche Pointe:) die zwei Naturen (wie Christus) führten den Anonymus zur These der zwei Körper, dem physischen und dem symbolischen. 44 Entscheidend ist, dass für Könige, Bischöfe und den Papst hier nicht Gesetz und Verfassung bemüht werden (wie in der damals längst üblichen Unterscheidung von Amt und Person), sondern dass die Zweikörperlehre (so Kantorowicz) »in der Theologie gründet: Sie ist das SpiegelVgl. Horst Bredekamp, Vom Birett zum Camauro. Zum Zusammenspiel von Kleidung, Körper und Papstwürde, in: Ders., Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Aufsätze und Reden, hg. v. J. Probst, Berlin 2007, 42–62, hier 52. 40 Ebd., 56. 41 Ebd., 56 f. 42 Hier wäre phänomenologisch nur schwer von ›Leib‹ zu sprechen, weil er nicht mehr beseelt beziehungsweise belebt ist. 43 Vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, übers. v. W. Theimer, Stuttgart 1992, 62–80; vgl. im Anschluss daran die bildtheoretische Weiterführung durch Louis Marin, Das Porträt des Königs, übers. v. H. Jatho, Berlin 2005, wo der theologische Hintergrund des Anonymus von York völlig apräsent bleibt. 44 Vgl. Pellens, Texte des Normannischen Anonymus, 130 (wie Anm. 34). 39

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bild der Verdoppelung der Natur in Christus. Der König ist der vollkommene Darsteller Christi auf Erden« 45 . Von ›Verdoppelung‹ kann sc. keine Rede sein, sondern entscheidend ist die Frage der unitio und unio personalis (mit deren communicatio als Folge). Die Verortung der Theorie in der Christologie ist für den Anonymus entscheidend. Umso erstaunlicher ist, dass bei Kantorowicz die Theorie des Papstes keine Rolle spielt – die für den Normannischen Anonymus eine besondere Pointe hat. Denn die These der gemina persona des Königs entfaltet er auf dem Hintergrund seiner – meist übersehenen – Theorie von der trigemina persona, den drei ›Körpern‹ des Papstes. Daran sei erinnert, weil mit ihrer Hilfe merklich wird, dass in der indiskreten Verkörperung, die der Papst ist, par excellence im Tod der dritte Körper des Papstes invisibilisiert und daher auch in dem substitutiven Bildakt, der im toten Papst vor Augen tritt, übersehen wird. Über den Papst heißt es beim Anonymus von York: »Eine solche Person ist nicht einfach, sondern vielfältig, sie vereinigt in sich mehrere Personen. Der Papst vereinigt in sich die Person des obersten Bischofs, die des Menschen und die eines Mörders oder irgendeines anderen Sünders […]. Als oberster Bischof sündigt er nicht, sondern vergibt er die Sünden; als solcher wird er von allen verehrt, geehrt und von niemandem gerichtet. Als Mensch dagegen kann er keine Sünden vergeben, auch wenn er selbst nicht sündigt; man muß ihn zwar ehren, aber er kann auch wie jeder andere Mensch gerichtet werden. Als Sünder schließlich darf er weder verehrt noch geehrt werden, und er muß gerichtet werden wie jemand, der unter dem Menschen steht. Denn es ist nicht gerecht, daß wir gleichzeitig einem Apostel und einem Mörder oder Ehebrecher, dem allerheiligsten Bischofsamt und dem Verbrechen eines Mörders oder Ehebrechers Ehre und Verehrung erweisen.« 46

Das erscheint so undenkbar, dass es unsichtbar bleibt, ungelesen, unbedacht und anscheinend ›tabu‹ : Der Papst ist in persona auch ›Mörder oder irgendein Sünder‹. 47 Als solcher steht er unter dem Men-

Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 78 (wie Anm. 43). Übersetzung nach Bagliani, Der Leib des Papstes, 76 f. (wie Anm. 35). Im Original: Pellens, Texte des Normannischen Anonymus, 6 (wie Anm. 34). 47 Dass das auch für den König gelten müsste, ist so klar, wie es auffällt, dass der Anonymus darauf nicht zu sprechen kommt. Könnte es sein, dass der König nicht ›Mörder und Sünder‹ sein kann, da er nicht mordet, sondern legitimerweise tötet (was die Kirche bekanntlich nicht durfte)? Selbst wenn dem so sein sollte, würde der dritte Körper des Königs hier unthematisch gehalten, nicht ohne Grund vermutlich. 45 46

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schen und müsse so gerichtet werden. Was Luther später vom Christenmenschen sagen wird, er sei simul iustus et peccator, findet hier eine verwandte Bestimmung. Auch der Papst bleibt nicht von der anthropologischen wie hamartiologischen Differenz verschont: als Mensch sowohl Kreatur als auch gefallene Kreatur zu sein. Auch der Papst ist ›unter der Macht der Sünde‹ – was allerdings eine ungeheure Spannung, einen Machtkonflikt in dieser dreifachen Person impliziert. Die symbolische Übercodierung ›des Papstes‹ macht es so kompliziert. 1. Er verkörpert Christus in der Amtsperson des Hauptes der Kirche. Und so sündlos wie Christus als ›wahrer Gott‹ und die (römisch-katholische) Kirche ›sind‹, so undenkbar wird dadurch eine sündige Person des Papstes. 2. Er verkörpert naturaliter sc. auch einen Menschen als zweiten Körper, mit der Besonderheit allerdings, dass dieser Mensch tanquam homo reverendus est. Diese Verehrungswürdigkeit begründet die Art und Weise, in der mit dem toten Papst umgegangen wird. Er ist ›im Augenblick seines Todes‹ bereits Bild seiner selbst (wie jeder Mensch, Blanchot zufolge). Als solches ist er spätestens ab seinem Tod (potenziell) auf dem Weg, ein heiliger Körper zu werden, sofern sein Leben (wenn nicht sein Tod als Märtyrer) und sein postumes Wirken (Wunder) diesen Menschen zum exemplum wahren Lebens werden lassen. Der tote Papst ist der Körper eines (noch nicht ganz) Heiligen. Die Interferenzen oder Interaktionen dieser beiden Körper lassen es mehrdeutig werden, was man sieht, wenn man einen leidenden, sterbenden Papst sieht. Denn der weiß gewandete, sündlose Heilige Vater, der im Leiden vor Augen geführt wird – kann nur ein unschuldig Leidender sein, ein leidender Gerechter daher. Und unschuldiges Leiden ist heilswirksames Leiden. Das exemplum wird zum sacramentum: zum Zeichen, das bewirkt, was es bezeichnet. 3. Angesichts seiner Teilhabe an Christi göttlicher Natur und seiner ›verehrungswürdigen‹ menschlichen wird der dritte Körper (genauer: persona) invisibilisiert: dass er Sünder wie jeder Mensch ist und daher zu Recht des Todes, also ein um seiner eigenen Sünden willen Sterbender. Die Invisibilisierung dieser (protestantisch-)theologischen Selbstverständlichkeit ermöglicht erst, den Sterbenden und den Toten als heiligen Körper zu präparieren. Die Selbstinvisibilisierung des Mediums in seiner medialen Funktion findet hier eine Parallele: Die anthropologische Selbstverständlichkeit wird invisibili40

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siert, weil sie heilsmedial unmöglich, undenkbar und unerhört ist. Ein banaler Sünder ist der ›Kern‹ der russischen Medienpuppe. Denn wenn ein ›heiliger Vater‹ leidet (wie Johannes Paul II. Ostern 2005), dieses Leiden exponiert wird und er, der doch das Haupt der ›sündlosen Mutter Kirche‹ ist, schließlich stirbt – ist sein Tod dann der eines ›sündlos Leidenden‹, gar ›leidenden Gerechten‹, also eine Wiederholung des Todes Jesu? 48 Und ist dann die Schau solch eines Leidens und Sterbens heilsam, weil dieses Geschehen heilswirksam ist? Verkörpert ein sterbender Papst den Kreuzestod Jesu? Ist der Papst alter Christus – oder mehr noch in persona Christus praesens? Je eindeutiger das Repräsentationsmedium aufgeladen wird als ›Realpräsenzmedium‹, desto mehrdeutiger wird es – weil es supplementiert? Die Realpräsenz Gottes in Christus wurde trinitarisch ›aufgefangen‹ ; die Realpräsenz Christi in der Hostie ebenso. Aber die Realpräsenz Christi im Papst? »Wer mich sieht, sieht den Vater«, wird im Johannesevangelium Christus in den Mund gelegt (Joh 14,9). Diese der Repräsentation des römischen Kaisers im Bild als Bild ähnliche Logik (wie in der Logik von Port Royal: das Bild Cäsars ist Cäsar) 49 wurde im ›CäsaropapisVgl. Philipp Stoellger, Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer »categoria non grata«, Tübingen 2010, 186 ff. 49 Vgl. Marin, Das Porträt des Königs (wie Anm. 43); Athanasius Alexandrinus, Vier Reden gegen die Arianer, in: Des heiligen Athanasius ausgewählte Schriften. Aus dem Griechischen übersetzt, Bd. I, Kempten 1913, III,5 (248 f., hier mit den griechischen Bildbegriffen): »Das wird man aber am Beispiel vom Bilde [eikon] des Königs leichter faßlich und verständlich finden können. Das Bild [eikon] zeigt nämlich die Gestalt [eidos] und die Züge [morphe] des Königs, und im König zeigt sich die im Bilde [eikon] dargestellte Gestalt [eidos]. Denn die volle Ähnlichkeit [homoiotes] zeigt das Bild des Königs, so daß, wer das Bild betrachtet, in ihm den König sieht, und wer wieder den König sieht, erkennt, daß er der auf dem Bilde ist. Da aber völlige Ähnlichkeit vorliegt, so könnte das Bild auf das Verlangen hin, nach dem Bilde noch den König zu sehen, sagen: ›Ich und der König sind Eins; denn ich bin in ihm, und er ist in mir, und was du in mir siehst, das siehst du in ihm, und was du in ihm gesehen hast, das siehst du in mir‹. Wer also das Bild anbetet [proskynein], betet in ihm auch den König an; denn seine Züge [morphe] und seine Gestalt [eidos] sind das Bild [eikon]. Da also der Sohn das Bild des Vaters ist, so ist man zur Einsicht genötigt, daß die Gottheit und die Eigenheit des Vaters das Sein des Sohnes ist, und das bezeichnen die Worte: ›Der, da er in der Gestalt Gottes war‹ und ›der Vater in mir‹«. In lateinischer Übersetzung heißt es in der Migne Patrologia Graeca, Bd. XXVI, 331: »in imagine species quidem et forma imperatoris est, in imperatore autem eadem species est quae in imagine videtur. Perfecta enim similitudo est in imperatoris imagine, ita ut et is qui imaginem viderit, in ipsa imperatorem intueatur, et vicissim qui imperatorem viderit, agnoscat illum ipsum esse qui in imagine conspicitur. Es eo au48

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mus‹ des 11. Jahrhunderts von Gregor VII. aufgenommen und gesteigert. In dieser Tradition steht die Erfindung des ›päpstlichen Legaten‹ mit dem Anspruch: »daß man im Legaten das Gesicht des Papstes sehen und in seiner Stimme die lebende Stimme des Papstes hören solle: Ut propriam faciem nostram seu nostrae vivae vocis oracula […].« 50 Was als Extension des Amtskörpers gedacht war, als letztlich potenzielle Omnipräsenz des Herrschenden, der offenbar körperlich präsent sein musste, um herrschen zu können, hatte eine versehentliche Nebenwirkung: Die Extension der Präsenz wird zur Vervielfältigung bis zur Dissemination. Denn die mediale Supplementierung führt in eine unabsehbare Zerstreuung – wobei vermutlich Dissens darüber besteht, ob das ein Gewinn oder ein Verlust wäre. Die ›eigentlich‹ subversive Rückfrage wäre allerdings, ob in dieser Präsenzeskalation auch der ›undenkbare‹ dritte Körper des Papstes mitgesetzt ist als Pluralisierung des ›Mörders und Sünders‹ ? Dass Medienpraktiken – dem Begehren von Konsumenten oder hoheitlichen Produzenten entsprechend – Lichtgestalten, mit ihrem Willen zur Sichtbarkeit, erzeugen, ist der Normalfall. Insofern ist der symbolische Körper stets von einem imaginären ›Hof‹ umgeben, seiner ›Aura‹. Dieser Medienkörper ist seinerseits zwiefältig: Er kann licht und überhell sein, oder aber dunkler, schwärzer als schwarz. Die Beleuchtungstechniken machen die Unterschiede, oder mit Heider gesprochen: die Art der Wahrnehmung. Wenn die medialen Verbergungen, die Invisibilisierungstechniken reflektiert werden, werden das Latente und das Invisibilisierte wahrnehmbar und denkbar. Der Reiz dessen zeigt sich, wenn das ›Unheilige im Heiligen‹ damit überhaupt erst vorstellbar wird – um es als das unsichtbar Gemachte zu erkennen. Der dritte Körper ist das ›Abjekt‹, der Sünder im Heiligen. 51 Dass das auch für die Medienkörper politischen Personals relevant tem quod nulla discrepent dissimilitudine, si quis post imaginem, vellet imperatorem videre, recteilli imago diceret: Ego et imperator unum sumus; ego enim in illo sum, et ille in me: quodque in me vides, idem in illo aspicis, et quod in illo vidisti, idem in me cernis. Itaque qui imaginem adorat, in ea quoque imperatorem adorat: imago siquidem ejus species et forma est. Cum igitur Filius imago quoque sit Patris; intelligere necesse est divinitatem et proprietatem Patris, hoc ipsum esse quod est Filius. Hoc autem est quod his verbis significatur, qui in forma Dei existens; et, Pater in me«. 50 Siegert, Vögel, 52 (wie Anm. 38); mit Franz Wasner, Fifteenth Century Texts on the Ceremonial of the Papal ›Legatus a latere‹, in: Traditio. Studies in Ancient and Medieval History, Thought and Religion 14 (1958), 295–358, hier 300. 51 Oder anders: Der dritte Körper ist der notwendigerweise verdrängte ›reale‹ Körper des symbolischen Souveräns.

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wird, ist absehbar. Warum invisibilisieren entsprechende Theorien das Unheilige im Heiligen – den Attentäter im Boten, den Lügner im Hermes, den Dämon im Engel oder den Menschen im Gott? Eine vorläufige Vermutung dazu lässt sich christologisch formulieren: In der Geschichte der Christologie ist immer wieder eine Abdrift bemerkbar zum Doketismus (oder auch zum Monophysitismus). Der ›wahre Gott‹ dominiert die Christologie auf Kosten des ›wahren Menschen‹, obwohl es doch gegenläufig sein sollte (inkarnatorisch wie kreuzestheologisch). Schon im Johannesevangelium wird Christus zur Heilsmediengestalt eines beinahe schwebenden Gottessohnes, der seine Menschlichkeit gelegentlich fast vergessen lässt. 52 Das emplotment der Passionsgeschichte als ›Inthronisationsritual‹ und der Kreuzigung als Erhöhung streut Zweifel an der Erdenschwere und Sterblichkeit des Protagonisten. Dann ist es nur zu verständlich, dass in der johanneischen Gemeinde Konsequenzen daraus gezogen (oder überzogen) wurden: Wer leugnet, dass er »ins Fleisch gekommen ist«, ist ›draußen‹ und wird exkludiert als »Verführer und Antichrist« (1. Joh 4,2; 2. Joh 7). Diese frühe Geste der Häretisierung zeigt vor allem ein Problem: Dass die befremdliche Härte der ›Fleischwerdung‹ und damit des Todes (nicht ›nur‹ der Inkarnation) schon früh bestritten wurde. Dem auszuweichen, war das Nächstliegende. Auf dieser Befremdung zu insistieren, von ihr aus und auf sie zuzugehen dagegen, war so fragil, gefährdet und unselbstverständlich, dass zur Stabilisierung zu Exklusionsgesten Zuflucht genommen wurde. 53

6.2 Barbarossas Souveränitätsaporie (1158) 2008 hätte man den 850. Geburtstag der akademischen Freiheiten feiern können – symptomatisch, dass es vergessen wurde. Deren legendarische Überlieferung ihrer Erfindung und Stiftung bildet den Ursprung der staatlichen Universitäten und ist in einer mythischen Urszene überliefert, in der sich die Ursprungsaporie von Souveränität verdichtet. 1158 erließ Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem Reichstag Vgl. so bereits Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17. Vorträge, Tübingen 2 1967. 53 Dass damit ein neues Problem geschaffen wurde, ein Widerspruch zur Öffnung (des ›auserwählten Volkes‹) bis in die absurd universale Inklusion, sei nur notiert. 52

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(auf den Ronkalischen Feldern 54 ) das sogenannte Scholarenprivileg in seiner Authentica habita 55 . In einer Geste des Erbarmens und in der Vollmacht kaiserlicher Gnade wird den Scholaren aus Bologna das Privileg zugestanden, in Rechtsfragen direkt dem Kaiser unterstellt zu sein:

Ronkalische Felder, nach dem Ort Roncaglia, 8 km östlich von Piacenza, Ebene auf dem rechten Ufer des Po, Italien; Ort des Ronkalischen Reichstags 1158 (mit Beschlüssen zur Neuorganisation der Reichsherrschaft in Italien). 55 »Kaiser Friedrich. Nach eingehender Prüfung durch die Bischöfe, Äbte, Herzöge und alle Richter und Edlen Unseres kaiserlichen Hofes gewähren Wir allen Scholaren, die studienhalber in der Fremde weilen, und vor allem den Lehrern der göttlichen und kaiserlichen Gesetze aus Unserer Gnade die Vergünstigung, daß sie selbst wie auch ihre Boten an die Orte, wo das Studium der Wissenschaften betrieben wird, kommen und dort in Sicherheit wohnen sollen. Und zwar erachten Wir es für angemessen, daß Wir, da verdienstvollen Menschen Unser Lob und Schutz gebührt, alle diejenigen mit besonderer Fürsorge vor jeglichem Unrecht bewahren, durch deren Gelehrsamkeit die Welt erhellt und die Lebensführung der Untertanen auf den Gehorsam gegenüber Gott und Uns, seinen Dienern, ausgerichtet wird. Wer soll sich ihrer nicht erbarmen, die aus Liebe zur Wissenschaft heimatlos geworden sind: aus Reichen machen sie sich zu Armen, setzen ihr Leben allen Gefahren aus und erleiden, oft von den niedrigsten Menschen, – was schwer zu ertragen ist – grundlos körperliche Unbill! Durch dieses allgemeine und in Ewigkeit gültige Gesetz haben Wir daher festgesetzt, daß in Zukunft niemand so vermessen sein soll, den Scholaren ein Unrecht anzutun, und niemand ihnen wegen einer Schuld eines ihrer Landsleute, was bisweilen, wie Wir gehört haben, aus übler Gewohnheit geschehen ist, Schaden zufüge. Diejenigen, die diesem Gesetz zuwiderhandeln, und die derzeitigen Oberhäupter der Stadt, die solches Tun nicht ahnden, sollen wissen, daß von ihnen allen das Vierfache des Weggenommenen gefordert wird und sie, schon von Rechts wegen mit dem Makel der Infamie behaftet, für immer ihre Ehre verlieren sollen. Wenn aber jemand wegen irgendeiner Angelegenheit einen Rechtsstreit gegen die Scholaren führen will, soll er sie – bei freier Wahlmöglichkeit der Scholaren – vor ihrem Herrn oder Lehrer oder vor dem Bischof der Stadt verklagen, denen Wir die Gerichtsbarkeit in diesen Sachen verliehen haben. Wer sie aber vor einen anderen Richter zu ziehen sucht, dessen Sache soll, auch wenn sie noch so gerecht war, allein wegen dieses Unterfangens verloren sein. Dieses Gesetz aber haben Wir unter die kaiserlichen Konstitutionen mit dem Titel ›Ne filius pro patre etc.‹ (Cod. IV,13) einfügen lassen.« (Codex Giustiniano, Cod. IV,13 Bologna, Collegio di Spagna, 286, fol. 95r, http://faculty.cua.edu/pennington/Catania%20 Corso%20Dec%202004/Irnerio/Habita.htm [zuletzt geprüft am 16. 9. 2014; Ph. S.]). Vgl. Authentica Habita vom Ronkalischen Reichstag 1158, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Bd. II, bearb. v. K. Zeumer, Tübingen 2 1913, 17 f.; Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hg.), Art. Universitäten, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1971, 492 ff.; Liselotte Lutz (Hg.), Art. Universität, Lexikon des Mittelalters, München 1989, 1249 ff.; Hermann Lange, Die Glossatoren. Römisches Recht im Mittelalter, Bd. I, München 1997, 16 ff.35 ff. 54

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»Wer soll sich ihrer nicht erbarmen, die aus Liebe zur Wissenschaft heimatlos geworden sind: aus Reichen machen sie sich zu Armen, setzen ihr Leben allen Gefahren aus und erleiden, oft von den niedrigsten Menschen, – was schwer zu ertragen ist – grundlos körperliche Unbill!« 56

Der kaiserliche Schutz vor den Bürgern einerseits, andererseits indirekt vor dem kirchlichen Zugriff ermöglichte die Gründung eigener universitates, in denen sich Stadt und Kirche eigenständig und geschützt gegenübertreten konnten. Im Unterschied zu Kloster- und Domschulen standen sie nicht unter der direkten Aufsicht von Abt oder Bischof. Kraft seiner Souveränität wurde von Barbarossa einerseits den Juristen Bolognas die akademische Freiheit ›gegeben‹, um andererseits von den derart Freigestellten kraft ihrer Freiheit als absolute Rechtssetzungsmacht legitimiert zu werden. Dieser Hintersinn zielt auf die aporetisch ›unverfügbare‹ Urstiftung absoluter Souveränität hors de la loi. Die Digesten Justinians lehrten: »Quod principi placuit legis habet vigorem« (Dig. I,4,1, vgl. Inst. I,2,6). Dem entsprach der Grundsatz: »Princeps legibus solutus est« (Dig. I,3,31). 57 Das christlich geprägte Rechtsverständnis des Mittelalters reservierte jedoch den Inbegriff der Souveränität für Gott, der die Schöpfung nach seinem freien Willen geordnet hat. Fürsten hatten daher nicht das Recht, nach eigenem Gefallen Recht zu setzen – sie waren nicht im absoluten Sinne souverän. Nur ein Kaiser galt – kraft göttlicher Inspiration – als Inhaber der absoluten Deutungsmacht der Gesetze: »conditor quam interpretes legum« (Cod. I,14,12). 58 Wenn aber die Autorität des Kaisers von der Autorität der Gesetze (und ihrer göttlichen Urstiftung) abhängt, entsteht ein elementarer Machtkonflikt: letztlich der Konflikt göttlicher und kaiserlicher Souveränität. Souverän ist, wer so frei ist, über die Gesetze zu entscheiCodex Giustiniano, Cod. IV,13 (wie Anm. 55). Vgl. dazu auch Inst. II,17,8: »secundum haec divi quoque Severus et Antoninus saepissime rescripserunt: ›licet enim‹ inquiunt ›legibus soluti sumus, attamen legibus vivimus‹« und Dig. XXXII,23: »decet enim tantae maiestati eas servire leges, quibus ipse solutus esse videtur.« Zur Betrachtung dieses Prinzips im mittelalterlichen Byzanz vgl. Dieter Simon, Princeps legibus solutus. Die Stellung des byzantinischen Kaisers zum Gesetz, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel, hg. v. ders./D. Nörr, Frankfurt a. M. 1984, 449–492. 58 Vgl. Jean Gaudemet, L’empereur, interprète du droit, in: Geschichte der antiken Rechte und allgemeine Rechtslehre (FS E. Rabel), Bd. II, hg. v. W. Kunkel/H. J. Wolff, Tübingen 1954, 169–203. 56 57

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den. Der Kaiser hat eine Position über dem positiven Gesetz, wird in seiner Souveränität aber durch das Naturrecht beziehungsweise göttliches Recht eingeschränkt und muss sich zudem postum vor Gott für seine Rechtspraxis rechtfertigen. 59 Die Harmonie des utrumque jus göttlichen und weltlichen Rechts, war ›eigentlich‹ geregelt als ursprüngliche und finale Überordnung der Souveränität Gottes. Aber ›zu Lebzeiten‹, im Horizont von Welt, Geschichte und Kultur galt faktisch, ›was dem Kaiser gefiel‹. Nur bedurfte es einer Legitimierung dieser ›Interimssouveränität‹. Daraus ergab sich für Friedrich Barbarossa ein prekärer Legitimierungsbedarf: Wenn er absolute Souveränität über das Recht beanspruchte, musste diese außerordentliche Position legitimiert werden. Nur wäre diese Legitimierung zugleich eine Limitierung gewesen, wenn sie von ›höherer‹ Stelle aus erfolgte. Aus dieser aporetischen Lage hätten ihn die Bologneser Legisten befreien können, wenn sie ihrerseits frei gegenüber Kaiser und Papst gewesen wären. Und eben diese Freiheit sprach ihnen das Scholarenprivileg Friedrichs zu – und gilt deshalb als Installation der akademischen Freiheiten. Der zu einer Rechtsreform nach Italien gereiste Friedrich traf sich mit den quattuor doctores, den Bologneser Legisten der damals maßgeblichen Rechtsschule, und beanspruchte zugleich ein absolutes Gesetzgebungsrecht, für dessen Anerkennung eben diese doctores später viel gescholten wurden. Er beanspruchte nicht nur Rechtsauslegungssouveränität – also Deutungsmacht über das Recht –, sondern machte eine entscheidende Differenz, indem er Rechtssetzungssouveränität beanspruchte: »Hac edictali lege in perpetuum valitura iubemus, ut« (so im Ronkalischen Landfrieden) und zugleich »Hac igitur generali lege et in eternum valitura decernimus, ut« (so im Scholarenprivileg). 60 Akademische Freiheiten für die ›freie Universität‹, die Rechtsschule Bolognas, im Tausch gegen die freie Anerken-

Vgl. Cod. I,14,4: »Digna vox maiestate regnantis legibus alligatum se principem profiteri: adeo de auctoritate iuris nostra pendet auctoritas. Et de re vera maius imperio est submittere legibus principatum.«; vgl. auch Cod. VI,23,3. 60 Scholarenprivileg, in: Die Urkunden Friedrichs I. (Monumenta Germaniae historica. Diplomata 10.2), hg. v. H. Appelt/R. M. Herkenrath, Hannover 1979, 36–40; Landfrieden, in: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum (Monumenta Germaniae historica. Legum sectio 4.1, Nr. 176), hg. v. L. Weiland, Hannover 1893, 245. 59

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nung des ›iustinianischen Absolutismus‹, 61 so kann man die ›Lösung‹ des Machtkonflikts verdichten, in der die Differenz von kirchlicher und staatlicher Universität entstand. Sind also die Juristen Bolognas der ›Beihilfe zum kaiserlichen Absolutismus‹ schuldig? Sind dann die akademischen Freiheiten von einer ›Erbschuld‹ belastet, nur Mittel zum Zweck des ›absoluten Fürsten dieser Welt‹ zu sein? Wenn die Kontiguität von Scholarenprivileg und Ronkalischem Landfrieden in ein Verhältnis der Kontinuität gesetzt und zudem ein Konditionalverhältnis unterstellt wird, überschreitet man die Grenzen historischer Kritik. Nicht in akademischer, sondern in literarischer Freiheit wurde das von Umberto Eco gewagt. 62 In seinem Roman Baudolino erzählt Eco die Geschichte eines Bauernsohnes aus dem Piemont, der 1154 Friedrich Barbarossa begegnet und mehr oder weniger durch Zufall zu dessen Ziehsohn wird. Der Witz der Erzählung ist nun, dass die große Geschichte des Stauferkaisers aus der Perspektive dieses Bauernsohnes namens Baudolino erzählt wird. Als Baudolino seinen Ziehvater besucht, findet er ihn darüber grübelnd, wer ihm sage, ob sein Gesetz richtig sei. Baudolino daraufhin: »Mein lieber Vater, wenn du so zu fragen anfängst, kommst du an kein Ende mehr, dabei gibt es den Kaiser doch gerade deswegen. Er ist nicht Kaiser, weil er die richtigen Ideen hat, sondern die Ideen sind richtig, weil er sie hat, und basta!« 63 Der Berater Friedrichs erinnert sich prompt an den Grundsatz kaiserlichen Rechts, Gesetz sei, was dem Kaiser gefällt, weil und nur weil es ihm gefällt. 64 Um diesen römischen Rechtsgrundsatz in Kraft zu setzen, bedurfte Barbarossa einer entsprechenden Autorisierung. Nur woher nehmen? Hätte er ihn kraft seiner von Rom erhaltenen Kaiserwürde deklariert, wäre der Grundsatz letztlich durch die Macht des Papstes begründet und damit limitiert. Für die Prätention einer Allmacht und Willkürfreiheit reicht also der Rekurs auf die Kaiserwürde nicht. Stattdessen scheint die Universität endlich einmal zu etwas nütze zu sein: Baudolino kommt auf die durchaus raffinierte Idee, wenn die Vgl. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 2 1967, 135 u. ö. 62 Daraus ergibt sich eine Folgefrage: Wer hat oder wer nimmt sich die Freiheit der Deutungsmacht über die Geschichte? Mit Ricœur: Wer bestimmt über das Verhältnis von Geschichte und Fiktion in der Geschichtsschreibung? Souverän ist, wer die Deutung macht? 63 Umberto Eco, Baudolino, München 2001, 74. 64 Vgl. ebd., 74 f.: »quod principi placuit legis habet vigorem«. 61

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Doktoren von Bologna zuerst die akademischen Freiheiten erhalten (also nicht dem Papst und auch nicht dem Kaiser unterstellt seien), um frei über das Recht zu entscheiden, könnten sie – wenn es klappt – den Rechtsgrundsatz in aller Freiheit autorisieren, ohne ihn zu limitieren. Baudolino: »Es wäre so, wenn du ein Gesetz machtest, in dem du anerkennst, daß die Magistres von Bologna wirklich unabhängig von jeder anderen Macht sind, sowohl von dir wie vom Papst wie von jedem anderen Souverän, allein dem Recht verpflichtet. Sobald sie mit dieser Würde ausgestattet sind, die auf der Welt einzigartig ist, werden sie erklären, daß – gemäß der Vernunft, der Natur und der Tradition – das einzige Recht nur das römische ist und der einzige, der es repräsentiert, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches – und daß natürlich, wie es Herr Rainald so schön gesagt hat, quod principi placuit legis habet vigorem, und zwar: ›Weil du ihnen dafür das Recht gibst, es sagen zu dürfen, und das ist nicht wenig‹.« 65

Daher also datiert laut Eco die akademische Freiheit, von der Bologna auch prompt den rechten Gebrauch zu machen verstand. Drei der gefragten Doktoren befürworteten den kaiserlichen Rechtsgrundsatz und nur einer widersprach ihm, ohne dafür mit dem Leben bezahlen zu müssen. Der Tausch von akademischer Freiheit gegen Anerkennung kaiserlicher Willkürfreiheit war gelungen. Die ganze Geschichte ist natürlich ein Kuhhandel höherer Ordnung, eine abgekartete Angelegenheit und erscheint wie ein profaner Priesterbetrug: Die akademischen Freiheiten sind gekauft und die kaiserliche Rechtshoheit erschlichen. Der Witz dieser Groteske wird dadurch aber nur noch gesteigert, dass eine waghalsige Erfindung – in aller Freiheit des Romans – Wirklichkeit wird und eine zwar nicht wahre, aber gut erfundene Gründungslegende der akademischen Freiheiten wie der kaiserlichen Rechtshoheit bietet. Seltsam an diesem Tausch ist, dass beide Seiten etwas geben, das sie selber nicht haben: die akademische Freiheit seitens des Kaisers, die Freiheit über das Recht seitens Bolognas. 66 Was genau sie jeweils gegeben haben, wussten sie womöglich gar nicht. Die Brisanz und der Gebrauch der jeweiligen Freiheit waren im Augenblick des Gebens kaum absehbar. Bernhard Waldenfels erklärte: »Das außerordentliche Geben gibt, was im Geben erst zu Ebd., 75. Und beide haben mehr bekommen, als sie gegeben haben. Gab Friedrich die akademischen Freiheiten, erhielt er die über das Recht, gab Bologna die Rechtfertigung der Rechtshoheit des Kaisers, erhielt es die Freiheit des Urteils über alles, was Recht ist.

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erfinden ist […]. Wer so gibt, gibt, was er nicht hat, und weiß nicht, was er tut.« 67 Souveränität ist nicht nur ursprünglich nachträglich, stets ›zu spät‹, sie ist ursprünglich aporetisch – stets unmögliche Souveränität. Aber in dieser Unmöglichkeit ebenso fascinosum wie tremendum. Ob Papst oder Kaiser – beides sind Figuren, in denen sich das Imaginäre der Souveränität metonymisch manifestiert. Aber sowenig das Fiktive unwirklich ist, sowenig ist das Imaginäre unwirksam. Im Gegenteil: Imaginäres ›von Gewicht‹ kann wirklicher sein als die Wirklichkeiten, in denen wir leben. Denn wovon jemand lebt oder wofür und woraufhin, bildet das Gravitationszentrum seiner Lebensform. Das verdichtet sich in einem ganz bestimmten ›Theopoliticum‹ : der Eucharistie.

7.

Souverän ist, wer über die Eucharistie gebietet?

Auf der Suche nach den Unmöglichkeiten der Souveränität und einer Souveränität nach der Souveränität ist mit Papst und Kaiser der eingangs genannte ›Jurassic Park‹ der Paläopolitik und -theologie durchschritten. Die ursprünglich aporetischen Souveränitätsfiguren sind ausgestellt und vorgeführt, nicht aus Gründen schlichter ›Herrschaftskritik‹, sondern um die bereits im Gottesbegriff exponierte Verschiebung zu zeigen: Der Wille zur Souveränität bleibt ›umsonst‹ und ›vergeblich‹. Der invisibilisierte ›dritte Körper‹ bleibt irreduzibel und markiert bei noch so großer Machtfülle des Papstes seine immer noch größere ›Hinfälligkeit‹. Und die Abhängigkeit der kaiserlichen Souveränität von ›freier Anerkennung‹ seitens der Wissenschaft markiert die ursprüngliche Entzogenheit des Objekts des Begehrens. Die Aporetik absoluter Souveränität verarbeitet zu haben, gehört zur Eigenart der christlichen Theologie, die darum keine staatsoder kirchentragende Legitimierungstheorie sein kann – aller Hermeneutik des Verdachts zum Trotz. Wenn sie doch Souveränitätstheorie wäre, dann eine Theorie der entzogenen und unmöglichen Souveränität. Das sehen allerdings nicht alle so – wie sich verdichtet in den neueren Abendmahlsstreiten zeigt. War zwischen Luther und Zwingli noch strittig, ob für Brot und Wein gelten soll ›est, est, est‹ oder nur ›significat‹, ob also Realpräsenz Christi vertreten oder be67

Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt a. M. 2007, 620.

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stritten wird, geht es in den zeitgenössischen Kontroversen um das Arcanum der Theopolitik: Wer hat das Sagen in Sachen Eucharistie? Wer das Heil verwaltet, wäre der entscheidende Souverän. Nur wer könnte das beanspruchen? Hier treten drei grundverschiedene Theopolitiken auseinander und gegeneinander an: Marion, Nancy und Agamben, deren Abendmahlsthesen sich tentativ folgendermaßen formulieren lassen: • Souverän ist, wer über die Eucharistie gebietet. • Souverän ist – das Opfer? • Souveränität ist Operativität.

7.1 Marion: ›Allein der Bischof‹ Dionysius’ Erfindung der ›Hierarchie‹, nicht nur als ›heilige Herrschaft‹, sondern als theopolitische Theorie von Regierung, ist grundlegend geworden für die Theopolitik bis heute (wie an Joseph Ratzingers Theologie zu zeigen wäre). Ohne dem hier näher nachzugehen, sei nur eine Rezeption und Revitalisierung als Souveränitätstheorie erörtert. Dionysius’ hierarchisches Dispositiv wird emphatisch affirmativ und apologetisch vertreten von Jean-Luc Marion, wenn er schreibt: »Der theologische Diskurs kann nur dann auf seine alte Höhe zurückfinden, wenn das Band zwischen Bischof und theologischem Lehrer, das die Grundlage für dessen Entsendung bildet, wiederhergestellt wird« 68 . Es ist symptomatisch, dass Marion hier explizit auf Dionysius Areopagita verweist mit dem Anspruch, der Theologe müsse »durch Leiden den Gehorsam gelernt« haben (Hebr 5,8), also pathos mathos – mit der doppelten Pointe, dass er heilig zu werden habe, christomorph, und zugleich der Gehorsam dem Bischof gegenüber zu leisten sei. Inkorporation hätte Mondzain 69 das im Blick auf Bilder genannt, die institutionell inkorporiert werden, ›zugerichtet‹, um es noch deutlicher zu sagen – mit der von Marion für Identität gehaltenen Ambivalenz von Gehorsam Gott und dem Bischof gegenüber. Denn Marion meint tatsächlich, »dass allein der Bischof es verdient, und zwar im eigentlichsten Sinne des Wortes, den Titel TheoJean-Luc Marion, Gott ohne Sein, hg. v. K. Ruhstorfer, übers. v. A. Letzkus, Paderborn 3 2014, 238. 69 Vgl. Marie-José Mondzain, Können Bilder töten?, übers. v. R. Voullié, Zürich 2006. 68

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loge zu führen« 70 . Daher könne auch ein Lehrer, der »ohne oder sogar gegen den Bischof spricht, in keinster Weise mehr seine Rede an einen wahrhaft theologischen Ort führen« 71 . Daher sei auch jeder »Versuch, die Theologie als Wissenschaft zu etablieren, als zumindest äußerst problematisch zu betrachten« 72 . Denn das würde zu einer »Lockerung« der in der »Delegierung liegenden Verbindung zwischen dem Bischof, dem Theologen par excellence, und dem von ihm beauftragten Lehrer führen« 73 . Wissenschaftliche Theologie führe zu einem »Bruch mit dem Bischof« und dann »nützt der Theologe für die Gemeinschaft überhaupt nichts mehr« 74 . Das hierarchische Dispositiv erweist sich als ebenso klerikal wie antiwissenschaftlich aufgrund einer dogmatistischen Alternative von episkopalem Lehrauftrag versus wissenschaftlicher Arbeit, oder von Eucharistiegemeinschaft und wissenschaftlicher Öffentlichkeit. Man könnte meinen, Marion retrahiert die akademischen Freiheiten, die Barbarossa erfunden hatte – oder er schlägt sie aus, wie der vierte der Bologneser Doctores. Aber genau darin nimmt er zugleich in Anspruch, was er ausschlägt. Man könnte das eine sich selbst verkennende akademische Freiheit nennen. Da Marions Thesen ihrerseits als Philosophie auftreten, ohne bischöflichen Auftrag, ohne nihil obstat, könnte man hier ein Kreterparadox erkennen. Wenn alle Wissenschaftler ›lügen‹, keine Theologie mehr treiben können, wie kann dann die Aufgabe der Theologie dergestalt ›von außen‹ bestimmt werden? Wer verfügt dergestalt über die Gehorsamspflicht der Theologie dem Bischof gegenüber? Spricht hier ein Philosoph ex cathedra? Oder spricht er in freier Vernunft? Marion ist Philosoph und (stolzer) Schüler von Derrida (auch wenn man das prima facie nicht vermuten würde) und zugleich Repräsentant eines offenbar dezidiert episkopalen Katholizismus – als könnte ihm die coincidentia oppositorum von wissenschaftlicher Philosophie und episkopaler Theologie gelingen. Seine Philosophie müsste dann als christliche Philosophie auftreten, die der demonstratio catholica dient: der Apologie einer Theorie von Gemeinschaft und

Marion, Gott ohne Sein, 236 (wie Anm. 68); vgl. ders., Dieu sans l’être. Hors-texte, Paris 1982, 215. 71 Marion, Gott ohne Sein, 237 (wie Anm. 68). 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd. 70

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Herrschaft, die in ähnlich neuplatonischer Ordnung auftritt wie Joseph Ratzinger. ›Allein der Bischof‹ ist Marions ›Exklusivpartikel‹, deren Pointe sich im Gegenüber zu den lutherischen zeigt: solus Christus, sola scriptura (beziehungsweise solo verbo), sola gratia und sola fide. Im Sinne von Marions episkopaler Philosophie wäre zu sagen: ›Souverän ist, wer über die Eucharistie gebietet‹. Wo Kirche herrscht, in figura des Bischofs, da ist Eucharistie. Die lutherische Gegenthese wäre: Wo Eucharistie gefeiert wird, da ist rechte Kirche. Das wäre als protestantische ›Souveränität von unten‹ zu formulieren: eine ›Selbstermächtigung‹ der ›Laien‹ gegenüber der hierarchischen Institution der römischen Kirche und deren Alleinvertretungsanspruch. Das ist zugleich eine Selbstentmächtigung der Institution gegenüber dem ›Referenten‹ Christus. Im Streit um die Eucharistie(verwaltung) geht es um die Beherrschung der ›Ökonomie‹, der Heilsökonomie.

7.2 Nancy: ›Souverän ist das Opfer?‹ Zwei Gegenbesetzungen zu Marion sind exemplarisch: Jean-Luc Nancy und Giorgio Agamben. Beide sind so Kirchen- wie Katholizismus-kritisch – und darin gelegentlich protestantischen Kritiken und Traditionen (ungewusst?) sonderbar nahe. Ist Marion gleichsam der ›Rechts-Derridist‹, so ist Nancy ein ›Links-Derridist‹, wenn man so unterscheiden wollte. Nancys Corpustraktat erscheint als ein ebenso subversives wie freundliches ›takeover‹ der Eucharistie. Sein zweibändiges Hauptwerk zur Dekonstruktion des Christentums entfaltet eine Dissemination der römischen Korporation. Und seine Texte zur Gemeinschaft entwerfen eine Theorie der Communio, des Mitseins, ohne Souverän, oder zumindest ohne Korporation und Hierarchie. So beginnt der Corpustraktat: »Hoc est enim corpus meum: Wir entstammen einer Kultur, in der diese rituelle Formel von Millionen von Priestern in Millionen von Gottesdiensten unermüdlich vorgetragen wird.« 75 Eine Pointe dieses Abendmahlstraktats ist, die ›Darbringung des Körpers‹ als singuläre Exposition anthropologisch zu wenden. ›Dies ist mein Leib‹ wird zur Grundfigur sozialer Phänomenalität – ohne Hierarchie der Seele über den Körper oder der Seelen75

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Jean-Luc Nancy, Corpus, übers. v. N. Hodyas, Berlin 2003, 9.

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retter über die Seele. Hatte Luther der Institution Hierarchie und Soteriologie bestritten und für Christus reserviert, so geht Nancy weiter, auch Christus die soteriologische Souveränität zu bestreiten. Jeder verkörpert das ecce homo und kann sagen: Dies ist mein Leib. (Das trifft sich vermutlich mit Levinas: Nicht einer ist der delegierte Gerechte, sondern jeder steht unter dem Anspruch des Gesetzes. Jeder, nicht Christus allein). Bemerkenswert ist, dass Nancy nicht eine Umbesetzung der Christologie durch Anthropologie vorführt, sondern durch die Pneumatologie. Im Corpustraktat ist zentral das Kapitel Eine Wunde, 76 in dem es indirekt um Golgatha, die Schädelstätte geht: »Hier, an des Nicht-Ortes Statt und nirgendwo anders als an dieser ›Stätte‹, die es nirgendwo anders gibt, bricht der Geist heraus, die unendliche Konzentration in sich, der Atem oder der Wind, der allein die Löcher füllt.« 77 Nancys Traktat ist anthropologisch oder naturphilosophisch gelesen eine (Pomponazzi ähnliche) Relecture von Aristoteles’ De anima mit einer politisch relevanten These: Nicht die anima ist forma corporis im Sinne des Souveräns. Als gäbe es eine unsterbliche Seele, die den Körper beherrscht. Vielmehr ist die Seele die Form des Körpers, dessen Form also ist die Seele – und nicht etwas Immaterielles, Körperloses. Das wahrgenommen, fragt man sich, was nun der Geist an dieser zentralen Stelle zu suchen hat? Doch wieder eine Figur des Souveräns in der Anthropologie? Nicht Seele, sondern Geist? Zunächst vollzieht Nancy eine Schubumkehr, wie im Verhältnis von anima und corpus: »Der Geist ist der Körper des Sinns, oder der Sinn als Körper. Der Geist ist das Organ des Sinns oder der wahre Körper, der verklärte Körper.« 78 Dann aber folgt eine überraschende Wendung, die die ›Golgatha‹-Hypothese begründet: »Der Geist des Christentums, das heißt das Christentum als Theologie des Heiligen Geistes, ist in seiner Gänze hier: Religion des Atems (schon jüdisch), der unantastbaren Berührung, Religion des Wortes, des Vorbringens, des Aushauchens – tödlicher Geruch des Todes und dem Ewigen Gott angenehmer Duft, Duft der Heiligkeit (schon jüdisch, auch islamisch) –, Religion des Ausatmens, des Einatmens, allgemeine Pneumatologie; Religion der Abstammung: der Geist geht vom Vater auf den Sohn über (die Mutter ihrerseits begnügt sich damit, ein intakter Bauch zu sein, über den 76 77 78

Vgl. ebd., 67 ff. Ebd., 67. Ebd.

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sich dieser Hauch vollzogen haben soll); der Sohn ist der Körper, nicht die schöpferische Expansion der Körper, sondern der versammelte auf seinen Hauch konzentrierte Körper des Geistes, dem Vater, dazu dem er im Ausatmen gelangt, als Opfer dargeboten, Körper des letzten Schreis, des letzten Seufzers, in dem alles vollendet wird. Pater hoc est enim corpus meum: spiritus enim sanctus tuus.« 79

Hier kann man eine Assemblage der letzten Worte Jesu am Kreuz finden. Zentral ist das johanneische κλίνας τὴν κεφαλὴν παρέδωκεν τὸ πνεῦμα von Joh 19,30. Nancys Weiterführung bestätigt das: »Hier exponiert der Geist, der sich aushaucht, am ureigensten seinen eigenen Körper: Ecce homo« 80 . Phänomenologische ›Kreuzesmeditation‹ könnte man das nennen, eine phaenomenologia crucis, in die eine Reminiszenz der katholischen Meditation der Wunden Jesu eingeht: »Wobei sich der Sohn und der Körper des Geistes im Angesicht des Vaters aushauchen und sich in Ihm auflösen, in den Ausdünstungen und den Strömen des Opfers, das ihn heiligt: Schweiß, Wasser und Blut, Tränen, Seufzer und Schreie.« 81 Die nackte, sich auflösende, sterbende Körperlichkeit der Verkörperung des Geistes lässt, wie schon die Seele, so den Geist als Körper erscheinen. Das ist gegen platonische (oder aristotelistische) Dualismen bemerkenswert. Wird doch weder eine augustinische noch eine reformierte Dualisierung (im Zeichenbegriff) damit fortgeschrieben. Nancy trägt zur Entplatonisierung und Entdualisierung bei, ohne eine physische oder naturalistische Reduktion – soweit ich sehe. Denn es ist nicht einfach ›Körper, alles was ist‹, sondern es ist der Geist, der Körper ist. Und zwar nicht ›irgendwie und neutral‹, sondern als Wunde: »Doch so offenbart sich, was ihn wirklich zum Körper des Geistes macht: Er ist eine Wunde, dieser Körper ist in seine Wunden übergegangen.« 82 Geist als Wunde und Wunde als Geist – das ist die absurd klingende Hyperbole Nancys. Mit der Entplatonisierung und Entdualisierung geht eine Entspiritualisierung einher und eine sonderbare Umbesetzung: Die Wunde wird bei Nancy zur Metonymie aller ›zerrissenen Körper‹, der ›Kadaver‹ bis ins »Weltweite der Körper« 83 . Diese Generalisierung wirkt arg generell, überblickend, wenn nicht 79 80 81 82 83

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Ebd., 67 f. Ebd., 68. Ebd. Ebd. Ebd.

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latent metaphysisch. Es ist zwar ein Antignosticum, aber auch eine indirekte Wiederkehr des Souveräns – in der Rolle der Opfer. Gilt dann (als Oxymoron?): Souverän ist das Opfer? »Es ist schwierig zu sagen, wie sehr die Konzentration (Initialen: KZ) die Geburt unserer Welt markiert: Die Konzentration des Geists, das glühende SICH« 84 . Soll das heißen, die Massengräber der KZs werden zum Inbegriff der Wunde – zur neuen Schädelstätte – und das als »Geburt unserer Welt«? Der Zugriff auf das ›Singuläre‹ würde dann bedenklich generell – und wenn nicht soteriologisch, so doch schöpfungstheologisch zum neuen Souverän ernannt? Die Ambivalenz ist merklich. Das Ende aller Souveränität ›des Geistes‹ wie ›Gottes‹ im Kreuz ist auch theologisch bonisiert worden: bei noch so großer Ohnmacht eine immer noch gründlichere Macht in der Ohnmacht (Jüngel). Damit wird das Ende einer ›Majestät Gottes‹ im Kreuz unterlaufen und überwunden, zugunsten eben dieser im Grunde doch unberührten Majestät. Theologisch gesagt: Bei noch so gefährdeter theologia crucis gilt dann doch eine immer noch souveränere theologia gloriae. 85 Wenn nun Nancy den Geist als Wunde deutet, umdeutet, und damit alle Opfer zu identifizieren scheint, wird dann nicht doch wieder das Opfer zum neuen Souverän? Es ist eine Ambivalenz auf der äußersten Grenze: Die Souveränität scheitern zu sehen, den Souverän als verwundet, geopfert, gestorben zu entdecken ist das Eine. Die Unerträglichkeit dessen das Nächste. Das scheint bei Nancy (wie nicht selten in der Theologie) zu einer Re-Inthronisierung der Opfer zu führen. Mit der Nebenwirkung, dass solche Opferidentifikation auch zur Selbstexkulpation dienen kann. Nancy allerdings versucht genau dieser Opferlogik zu widerstehen, der Opferdeutungsökonomie: »›Opfer‹ sagt zuviel oder zuwenig darüber, was wir mit den Körpern machen. Das meint (im Prinzip), den Übergang des Körpers an eine Grenze, wo er gemeinsamer Körper wird, Geist einer Kommunion, dessen tatsächliches materielles Symbol er ist (hoc est enim …), absoluter Bezug an sich des Sinnes im Blut, des Blutes im Sinn.« 86 Ebd., 69. Wiederholt hat Žižek die Umschlagslogik eines ›apokalyptischen‹ Automatismus kritisiert, die besonders in Heideggers Gebrauch des Hölderlin-Wortes zum Ausdruck kommt: ›Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.‹ Vgl. Slavoj Žižek, The Parallax View, Cambridge, Mass. 2006, 76; Ders., Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism, London 2012, 888. 86 Nancy, Corpus, 70 (wie Anm. 75). 84 85

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Das klingt doch etwas unheimlich: Denn damit wird die communio der Eucharistie wiederholt – mit gravierender Differenz in der Wiederholung. Nancys Grundfigur seiner politischen Philosophie, das Mitsein, ist hier gegründet und manifest: in der Kommunion der Opfer. Werden Sinn und Blut hier ununterscheidbar? Gegen solche Inkorporation der Opfer in ›den Sinn‹ heißt es bei Nancy: »Doch wir haben keine Opfer mehr, es ist nicht mehr unsere Welt. Das Blut, das aus unseren Wunden fließt, fließt furchterregend, und nur furchterregend, so wie der Geist Tropfen für Tropfen aus den Wunden Christi floß und sich auflöste. Es gibt keinen Gral, um dieses Blut aufzufangen. Die Wunde ist von nun an nur noch eine Wunde – und der gesamte Körper ist nur eine Wunde […] die nichts anderes bezeichnet als das Leiden.« 87

Heißt das, Wunde und Blut – aber nicht Opferinthronisation als neuer Souverän, sondern Blut ohne Sinn? ›Nur noch Wunde, nur noch Leiden‹ ? Oder ist doch ›das Leiden‹ das neue große Signifikat? Nancy will der ›Sinngebung des Sinnlosen‹ entkommen (wie Levinas angesichts des ›sinnlosen Leidens‹) – aber gelingt das? Kann das überhaupt gelingen, wenn die Wunde besprochen wird, um nicht zu sagen bezeugt und beschworen? Keine unio zwar, aber doch communio? Keine communio sanctorum, aber doch eine communio passionis – oder communio lectorum? Wird schon durch die ›Passionsmeditation‹, die phaenomenologia crucis, wider Willen Deutungsmacht beansprucht? ›Was bleibet aber, stiften die Denker, die Schreiber, die Leser?‹ Wird in der Deutung der Wunde wie des Leidens nolens volens doch wieder ein Deutungssouverän konstituiert? Souverän ist, wer über die Eucharistie gebietet, war die latente Souveränitätsthese Marions. Denn damit wird über die Zulassung zur Heilsgemeinschaft entschieden, über In- und Exklusion, über die Vergemeinschaftung – und über den Sinn der Gemeinschaft. Der Souverän war bei Marion ›allein der Bischof‹. Ist es bei Nancy – ein Weg ›ins Offene‹ ? Zugänglich für alle und jeden? Oder kehrt ein phänomenologischer Souverän wieder in der Deutungsmacht des Philosophen? Wer spricht? 88 Communion ist Nancy zufolge nicht mehr die hierarchisch verwaltete, exklusive Eucharistie, sondern eine offene, Ebd. Vgl. Philipp Stoellger, Wer spricht? Zur Inkarnation des Denkens und Sprechens, in: Körper des Denkens – Neue Positionen der Medienphilosophie, hg. v. L. Engell et al., München 2013, 83–112.

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kommende, undarstellbare Gemeinschaft. Nicht, dass das ohne messianischen oder eschatologischen Zug wäre, nur ist es nicht mehr Privileg der Kirche, diese Gemeinschaft zu sein und zu werden, sondern es wird ›undarstellbar‹, also nicht in einem Sakrament zu verwalten. Gemeinschaft ohne Souverän? Vermutlich nicht, sondern in die Position des Souveräns ›von unten‹ und ›außerordentlich‹ tritt das Singuläre. Wenn ich recht sehe, ist das Nancys Alternative zum (erneut souveränen) Subjekt. Nancy schlägt vor, »die Ordnung der ontologischen Exposition zu verkehren« 89 . Das wäre immer noch Ontologie, wenn auch erfrischend perverse Ontologie, aber es bliebe im Horizont des Seinsdenkens (der Totalität?). Nicht Onto-Theologie, aber Onto-Soziologie? »Eine Singularität […] ist […] das Sein selbst oder sein Ursprung.« 90 Nancy erklärt explizit (gegen Levinas), nicht vom Einen oder vom Anderen, nicht vom ›für‹ aus zu denken, sondern allein vom ›mit-‹. Das ist auch nach- und vor allem mitvollziehbar. Denn im Unterschied zum Verhältnis der Anklage und des Gesetzes (Levinas’ vor dem Gesetz) ist die ›evangelische‹ Alternative, vom ›für‹ des Einen aus das Miteinander als Mitsein zu denken. Aber, kehrt so nicht die Synchronie als Zeitlichkeit des Mitseins wieder, statt der Diachronie (Levinas’)? »Denn das ›Mit‹ ist das genau Gleichzeitige seiner Termini, es ist in der Tat ihre Gleichzeitigkeit.« 91 Zielt das auf eine Dissemination oder auf eine Pluralisierung der Identitätsphilosophie? 92 Mit Leibniz würde ich meinen: das plurale Absolute. 93 Nicht zerteilte Identität, sondern geteilte. Dazu passt, wenn es heißt, das ›wir‹ sei die ›geteilte Souveränität‹. 94 Das ist ein entscheidender ›Wink‹ : Souveränität ist teilbar, nicht atomos, sondern dividuell, ein ›divisibile‹. Das ist der Ausgang in die Dissemination der Souveränität. Im Sinne von Nancy wäre wohl zu formulieren: Souveränität ist ›rien‹ – ›fast nichts‹ (wie Nancy ›rien‹ versteht), eine Minimalsouveränität des Singulären. Ist das eine Berührung mit der Kreuzestheologie? Oder geht es weiter im definitiven Bruch des Souveräns und dem Verschwinden von diviner Souveränität? 89 90 91 92 93 94

Jean-Luc Nancy, Singulär plural sein, übers. v. U. Müller-Schöll, Berlin 2004, 61. Ebd., 62. Ebd., 65. Identität ist aus dem mehr als eines zu denken (vgl. ebd., 70). Darin erinnert Nancy an Leibniz’ Monadologie (vgl. ebd., 65). ›Wir‹ (ebd., 66.74) als ›geteilte Souveränität‹ (ebd., 73).

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7.3 Agamben: Souveränität als Operativität? Agambens eigenartige Genealogie der Gegenwart aus dem Geist der Theologie fordert das hierarchische Dispositiv des Dionysius und damit der neuplatonischen Tradition heraus. Seine ›Metathese‹ im Hintergrund ist ein Doppelparadigma: politische und ökonomische Theologie als zwei »im weiteren Sinne politische Paradigmen […]. Aus ersterem gehen die politische Philosophie und die moderne Theorie der Souveränität hervor; auf das zweite läßt sich nicht nur die moderne Biopolitik zurückführen, sondern auch der Sieg, den gegenwärtig die Ökonomie und die Regierung über jeden anderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens davonzutragen scheinen.« 95

Daher meint er, »daß das zentrale Rätsel der Politik nicht in der Souveränität, sondern in der Regierung, nicht in Gott, sondern im Engel, nicht im König, sondern im Minister, nicht im Gesetz, sondern in der Polizei besteht – oder präziser, in der doppelköpfigen gouvernementalen Maschine, die sie konstituieren und am Laufen halten« 96 . Das Problem dieser Sicht ist ihr ›nicht – sondern‹. Denn dann könnte man Marions Souveränitätstheorie und Agambens Gouvernementalitätstheorie separieren, wenn nicht kombinieren: Mag der eine von Gott ausgehen, so der andere von den Engeln. Das Verhältnis von Regierung und Ökonomie ist entscheidend, nicht deren Separation. Von der Ökonomie aus wird das Abendmahl beziehungsweise die Liturgie zum Paradigma von Gouvernementalität einer Verwaltungsökonomie, d. h. des indifferenten Funktionierens einer Regierungsmaschine. Gouvernementale Souveränität ist die Operativität der Administration (Engel) beziehungsweise der Liturgie (Priester). Die Hierarchie als ›heilige Herrschaft‹ begründet (in Agambens Relecture) die Angelologie als Verwaltungstheorie und die Liturgie als Theorie der Operativität. 97

Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer II,2), übers. v. A. Hiepko, Frankfurt a. M. 2010, 14. 96 Agamben, Demokratie, 11 f. (wie Anm. 13). 97 Dagegen stehen bei Agamben die Franziskaner mit ihrer ›außerordentlichen‹ regula beziehungsweise forma vitae. Agambens Version der ›Ästhetik der Existenz‹ (Foucault) ist eine Lebensform, ›hors de la loi‹, in der das Leben erst Form gibt und nicht einer vorgegebenen Form folgt. 95

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Im Hintergrund von Agambens ›Herrschaft und Herrlichkeit‹ – mit seiner seltsamen Einschaltung der Angelologie – steht Foucaults These zur neuzeitlichen Administration: Mit dem Prokurator beziehungsweise dem Sekretär tritt eine administrative, Wissen produzierende Form der Macht an die Stelle der Souveränität. 98 Siegert formulierte, es sei das ›neue System‹, »das die realpräsente Repräsentation allein auf den Körper des Königs bezieht, während es sie in den Praktiken der Raumdurchmachtung durch bürokratische Verfahren ersetzt: die Administration« 99 . Der ›Witz‹ von Agambens Studie ist gegen Foucault und auch Siegert der (versuchte) Nachweis einer Genealogie der Administration aus der Angelologie, genauer: aus der dionysischen (und thomistischen) Lehre der administrierenden Engel. Dann wäre die archäologische These Foucaults (in an Blumenbergs Neuzeitstudie erinnernder Weise) von der Neuzeit ins Mittelalter, ggf. in die Spätantike vorverlegt. Bereits Gottes Macht braucht ebenso Herrlichkeit wie Verwaltung. Zugleich ist mit der Administration keineswegs das Problem der Verkörperung und Präsenz ›des Fürsten‹ abgelöst oder erledigt. Wenn Siegert die »Institution des permanenten Gesandten von dem Moment an zu existieren« sieht, »seit dem es die Institution eines permanenten Officiums gibt« 100 , und zwar mit den permanenten Gesandten beziehungsweise Sekretären im 15. Jahrhundert – wäre Agambens These dagegen: Das geschieht bereits in der Angelologie. Dunkel zugespitzt, in der Administration ewiger Strafen in der Hölle. Das ist sc. bedingt durch seine These von der Ökonomie als Grundfigur (a?)politischer Theologie: Denn die Ökonomie ist seines Erachtens das Paradigma (oder Dispositiv) der dionysischen Hierarchie: der heiligen Herrschaft. »Angelologie [hat; Ph. S.] ihren Ort in der Ökonomie der göttlichen Weltregierung, deren Minister die Engel sind« 101 . Sie sind Minister, die Engel also das ›himmlische Ministerium‹ (mit Hieronymus). »Insofern neigen Engel und Bürokraten dazu, ununterscheidbar zu werden: Nicht nur die himmlischen Boten sind nach Aufgaben Vgl. Slavoj Žižek, Iraq: The Borrowed Kettle, London 2004, 156: »The passage from Master’s discourse to University discourse means that the state itself emerges as the new Master: the state is run by the expertise of qualified bureaucrats.« 99 Siegert, Vögel, 60 (wie Anm. 38). 100 Ebd. 101 Giorgio Agamben, Die Beamten des Himmels. Über Engel, hg. und übers. v. A. Hiepko, Frankfurt a. M. 2007, 12. 98

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und Ämtern angeordnet, sondern auch die irdischen Beamten nehmen ihrerseits englische Züge an und werden befähigt, wie die Engel zu behüten, zu erleuchten und zu vervollkommnen.« 102 Das ist für die ›irdischen Beamten‹ des Himmels maßgebend, für Bischöfe und Pfarrer. Die Engel werden traditionell in zwei Funktionsgruppen unterschieden: in administrative (im eigentlichen Sinne ›gouvernementale‹) und in assistierende (die Gott schauen und verherrlichen). 103 Aber beide seien »zwei Seiten ein und derselben Regierungsmaschine […], die man als ›Ökonomie‹ und ›Herrlichkeit‹ beziehungsweise ›Regierung‹ und ›Reich‹ nennen könnte« 104 . Agamben zieht hier direkt die Parallele zu den irdischen Beamten: Die »verzückten Chöre […] sind nichts anderes als der zeremonielle und liturgische Widerpart der fleißigen geflügelten Beamten, die auf der Erde die ›historischen‹ Verfügungen der Vorsehung vollstrecken« 105 . Daher bestehe »Wesensgleichheit von Engeln und Bürokraten« 106 . Wie andere, etwa Blumenberg, geht Agamben von dem Problem der Gnosis aus: ob Gott letztlich »nicht von dieser Welt« sei, »oder regiert er sie?« 107 Daher seien die Engel für die Entdualisierung und Vermittlung so relevant, für das göttliche Wirken der Weltregierung. Angelologie erscheint so als Antignosticum – und zwar seines Erachtens im Judentum, Christentum und Islam. 108 Darin geht es um die Wirklichkeit Gottes als Wirken, also anders: um die Operativität Gottes. »Jeder Engel ist ein Regierungsakt, und jeder Regierungsakt ist ein Engel.« 109 Nur, Agamben sieht auch, dass das Christentum auf das Problem mit der Trinitätslehre antwortet, die als »Dispositiv […] in Gott selbst eine englische Macht einführt und so der Weltregie-

Ebd. Vgl. ebd., 13, mit Dante, Conv. [sic] II, IV, 10–12. 104 Agamben, Beamten des Himmels, 13 (wie Anm. 101). 105 Ebd. 106 Ebd. Mit Verweis auf Kafka (»der größte Theologe des 20. Jahrhunderts« [ebd.]), vermutlich ist gemeint »Barnabas heiße ich, sagte er, ein Bote bin ich«? Oder sind die Boten der Hauptfiguren im Prozess und im Schloss gefallene Engel: der hinkende Kirchendiener im Dom und der hinkende Beamte Erlanger? In den ›Verschollenen‹ sind hundert als Engel gekleidete Frauen präsent, die danach von als Teufel verkleideten Männern abgelöst werden. 107 Ebd., 14. 108 Vgl. ebd., 14 ff. 109 Ebd., 16. 102 103

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rung eine göttliche Gestalt gibt« 110 . Das ist zwar eine Unterbestimmung Christi, aber sachlich triftig, sodass die Engel eigentlich irrelevant werden müssten. Trinität als Ökonomie ist Agambens Antwort. »Dies ist der Grund für den unverbrüchlichen Zusammenhang von Christologie und Angelologie«, weil die Engel »Instrumente der Heilsökonomie« seien, und »Christus selbst tritt von Anfang an als Engel auf.« 111 Das ist bestenfalls eine, und zwar unterbestimmende Metapher und wird auch nicht von den Belegen Agambens getragen; ebenso wenig wie seine weitere These, die immanente Trinität werde durch eine ökonomische »ersetzt« 112 . Treffender ist die von ihm notierte »Ambiguität der christlichen Angelologie«, in der er die »Notwendigkeit« begründet sieht, die Engel »durch die Eingliederung der himmlischen Heerscharen in die Regierungsmaschine vollständig in eine bürokratisch-exekutive Struktur der göttlichen Vorsehung zu überführen«, was erst in der Scholastik geleistet worden sei. 113 Hier wird Agamben selber ambivalent: Einerseits sieht er in der Wirkungsgeschichte von Kol 1,18–2,10 (wie er meint von Paulus!) in Christus als Haupt der Kirche und dem Papst als seinem Vikar ›die wesentlich gouvernementale Bedeutung der Christologie‹ begründet. Andererseits meint er: »Tatsächlich jedoch ist in der christlichen Theologie das Paradigma der Weltregierung seinem Wesen nach an ein Ende gelangt.« 114 Nach dem Jüngsten Gericht (dann erst?) bleibe den Engeln nur der Lobpreis der Herrlichkeit – und, wie er später erörtert, die Regierung der Hölle. Anscheinend treten hier zwei Perspektiven auseinander: eine kritische und eine affirmative. Die Vermutung wird sich bestätigen, wenn er in ›Kirche und Reich‹ einen eschatologisch affirmativen Kirchenbegriff vertritt. Souveränität als Operativität – heißt letztlich, die ›alte‹ Souveränität geht auf in der Gouvernementalität, ursprünglich und paradigmatisch in der Heilsökonomie und deren Verwaltung: im Sakrament. Denn das ex opere operato wirksame Sakrament sei Wirklichkeit als Wirksamkeit: ein Vollzug ohne Souverän – oder aber ein per se souveräner Vollzug. Agamben hat das auf pointierte Weise

110 111 112 113 114

Ebd., 19. Ebd. Ebd., 21. Ebd. Ebd., 22.

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untersucht in seiner ›Liturgik‹, dem letzten Band seines Homo sacerProjektes. Unter dem Titel Opus Dei. Archäologie des Amts 115 wird mit dem ›Opus Dei‹ die Liturgie verhandelt, das officium resp. das Amt. Das sei für einen spätmodernen politischen Philosophen relevant und interessant, weil es ein ›ontologisches Paradigma‹ darstelle, das für die spätmodernen Wirklichkeiten dominant geworden sei. Eine Untersuchung zur Liturgie in einer politischen Philosophie? Eine Archäologie des Amts als Genealogie einer ›Ontologie der Gegenwart‹ ? 116 Liturgie ist Konsequenz und ›Applikation‹ der Ökonomie, der trinitarischen oikonomia. Im Hebräerbrief bringt Christus mit seinem Opfer eine leitourgia dar, eine ›öffentliche Dienstleistung‹ der Errettung der Menschheit. 117 Dem entsprechen die Engel (Hebr 1,7.14), die als ›dienstbare Geister‹ das Heil verwalten (die administrierenden Engel, im Unterschied zu den jubilierenden). Daher nennt Agamben diese Engel in ihrer ›liturgischen‹, ›administrierenden‹ Funktion ›Beamte des Himmels‹. Und dem entsprechen abgeleitet die Priester als ›minister‹ dieser Heilsverwaltung und -vermittlung. Im Rahmen der Heilsökonomie ist die ›Liturgie‹ der Dienst oder die Dienstleistung dieser Verwaltung des Heils. Regieren (im Unterschied zu Herrschen) als Verwaltung des Heils. Noch der verbi divini minister steht in diesem Horizont der Heilsökonomie. Die ›Minister‹ handeln nicht als natürliche, gar ›authentische‹ Personen (etwa kraft ihrer Glaubwürdigkeit oder ›Authentizität‹), 115 Vgl. Giorgio Agamben, Opus Dei. Archäologie des Amts (Homo sacer II,5), übers. v. M. Hack, Frankfurt a. M. 2013, allerdings anschließend an Ders., Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform (Homo sacer IV,1), übers. v. A. Hiepko, Frankfurt a. M. 2012. 116 Am Rande nur ein Hinweis, warum das Homo-sacer-Projekt relevant ist für die Theologie: Es dreht sich um den Vogelfreien, den Exkludierten, der straflos getötet werden kann. Für die reformatorischen Christentümer ist sicher unvergesslich, dass mit Luther der wohl prominenteste Vogelfreie der Neuzeit benannt ist. Reformatorische Kirchen ›gründen‹ in Struktur und Semantik auf diesem Vogelfreien, Gebannten und von Rom Exkommunizierten (– bis heute, wenn ich recht sehe, wurde er nicht offiziell rehabilitiert, anders als Galilei). Mit dem ›homo sacer‹ geht es um Figuren ›außerhalb des Rechts‹, um Lebensformen ›hors de la loi‹ (wie die Franziskaner). Die theologische Leitdifferenz von Gesetz und Evangelium begreift das Evangelium nicht als ein anderes Gesetz, sondern als das Andere des Gesetzes. Evangelische Lebensformen sind daher etwas Außerordentliches: Leben, das nicht eigentlich unter der Herrschaft des Gesetzes steht. Die Nähen zum ›homo sacer‹ sind klar – aber weder von Agamben so gesehen noch von der protestantischen Theologie bisher aufgenommen. 117 Vgl. Agamben, Opus Dei, 112 (wie Anm. 115).

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sondern sie sind Amtsträger und erfüllen eine Funktion (die der Heilsverwaltung). Sie handeln ex officio, und d. h. »zu handeln, als ob man ein anderer wäre« 118 , anstelle des Auftraggebers, hier (nicht der Kirche, sondern) Gottes. Insofern handelt Gott in der Liturgie, maßgebend im Sakrament ex opere operato. Liturgisches Handeln ist (so gesehen) strikt Handeln Gottes – und der Liturg ist ›Gottesdiener‹ (minister), der an Gottes Stelle handelt. Semper ubique actuosus galt traditionell von Gott, dem ens realissimum. Er ›schläft noch schlummert nicht‹ und ist permanent tätig, die Welt zu erhalten. Eben diese Allwirksamkeit und ruhelose Tätigkeit zeigt einen (aristotelisch motivierten?) Wirklichkeitsbegriff an: Gott als der Allerwirklichste ist der Allerwirksamste, wirklich in seiner Wirksamkeit. Diesen Hintergrund in der Gotteslehre verschweigt Agamben. Aber er zeigt beunruhigend deutlich, wie der theologische Amtsbegriff von dieser Wirklichkeit als Wirksamkeit bestimmt ist: von einer Umbesetzung dessen, was Gottes Eigenschaft ist, in die Wirklichkeiten, in denen ›wir‹ leben. Wirklich ist, was wirksam ist; sonst ist es nicht. Für Pfarrer, Lehrer oder Wissenschaftler ist das fast selbstverständlich, aber damit noch nicht in Genese und Geltung verstanden. Im ›Amt‹ (des Priesters) werden ›Sein und Praxis‹ ununterscheidbar, also das Tun und das Sein des Amtsträgers. Auch wenn wir gewohnt sind, gut protestantisch, auf der Differenz von Person und Werk ebenso zu insistieren wie auf der von Person und Amt, so ist doch das Sein und Tun des Amtsträgers ununterscheidbar, meint Agamben: »Real ist, was wirkmächtig und damit regelbar und wirksam ist: So umfassend hat das Amt, in der schlichten Kluft des Beamten wie im strahlenden Gewand des Priesters, die Regeln zuerst der Philosophie und dann der Ethik umgekrempelt« 119 , genauer: zuerst die Regeln der Religion. Denn dass ein bestimmtes Handeln gleich Sein sei, ein bestimmtes Werk per se wirksam, ist eine genuin theologische Erfindung: die des Sakraments, dass das ex opere operato wirke. Im Amt sei »das Sein in der Wirklichkeit ununterscheidbar von seinen Wirkungen, besteht aus ihnen (esse in effectu) und ›dient‹ ihnen« 120 . Darin kommt der von Agamben verkannte Hintergrund der Gotteslehre zum Tragen, der Gottesbegriff eines Wirklichkeitsprimats. 118 119 120

Ebd., 139, mit Gasparri. Ebd., 9. Ebd., 107.

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Das könnte man für eine römische oder aristotelistische Groteske halten und sich protestantisch davon weit distanzieren, wenn denn nicht Luthers Auffassung der Wirksamkeit des Sakraments als Wirken oder Handeln Gottes dem ›faktisch‹ doch sehr nahe stünde. Und Agamben führt hier kulturhermeneutisch weiter. Was für den Priester erfunden wurde und gelte, sei zum ›ontologischen Paradigma‹ geworden. Die ›Ontologie der Gegenwart‹ sei genau davon bestimmt. »Der Priester muss sein Amt erfüllen, weil er Priester ist, und er ist Priester, weil er sein Amt erfüllt. Das Sein schreibt das Tun vor, aber das Tun bestimmt vollständig das Sein: Das allein ist die Bedeutung von ›sein-sollen‹. Der Priester ist das Seiende, dessen Sein unmittelbar eine Aufgabe und eine Dienstleistung ist – kurzum: eine Liturgie.« 121 Ausgerechnet das für maßgebend zu halten, wirkt absurd – ist es aber vielleicht doch nicht. Das opus operatum, das Werk als Wirksamkeit und die Wirksamkeit als Werk, bestimmen unsere ›Dienstleistungsgesellschaft‹ durch und durch, auch in Kirchen, Schulen und Wissenschaften. Ob man das begrüßt oder dem doch lieber nicht folgen würde, sei dahingestellt. Es ist anscheinend eine ›ontologische Kondition‹, an der ›wir‹ partizipieren, ohne sie gewählt oder gewollt zu haben. Man könnte auch sagen, das ›liturgische Dispositiv‹ ist ein theologisches Erbe der Wirklichkeiten, in denen wir leben, wenn auch in ›säkularisierter‹ Gestalt. Semper ubique actuosus zu sein, oder zumindest sein zu sollen, ist nicht nur inhuman, es ist auch für einen Gott unpassend, der nicht ohne ›Passion‹ ist, wer er ist.

8.

Postscriptum: Katargesis der Souveränität?

Die These der ›Aufhebung‹ der Souveränität in der Operativität war eine kritische Genealogie Agambens. Was aber wäre die Alternative? Wie dem Dispositiv der Souveränität als Operativität entkommen? Nicht ohne messianischen Ton meinte Agamben: »Die Herausforderung der kommenden Philosophie liegt darin, eine Ontologie jenseits der Operativität und des Gebots zu denken und eine Ethik und eine Politik, die von den Begriffen der Pflicht und des Willens befreit sind.« 122 Das führt zum Topos der Inoperativität beziehungsweise 121 122

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desœuvrement und inoperativeness, wie Agamben (mit Blanchot und Nancy) formuliert. Agamben wagte es, als politischer Philosoph mit kerygmatischem Ton von der ›kommenden Gemeinschaft‹ zu sprechen und darin zu zeigen, was er hofft: »Die Erlösung […] ist kein Werk, sondern eine Art der Sabbatruhe«, eine »Untätigkeit« und »Entschöpfung […]. Untätigkeit heißt nicht Trägheit, sondern katargesis« 123 . Dass er hier einen paulinischen Grundbegriff als Gipfel der Erlösung aufruft, als das, worauf wir hoffen dürfen, ist bemerkenswert. Denn mit dem καταργειν ist der Begriff explizit, der der ominösen ›Entwerkung‹ (desœuvrement) im Rücken liegen dürfte. 124 Καταργέω ist im religiösen Sprachgebrauch »fast nur« 125 bei Paulus belegbar und zwar in zwei Bedeutungen: Vom Menschen gesagt ist es ein Vergehen gegen eine religiöse Ordnung; von Gott und Christus gesagt »eine religiöse Wohltat, eine Befreiung« 126 . So kann Gott die Überheblichen unter den Korinthern und deren Werte ›bedeutungslos machen‹ (1. Kor 1,28), oder die Weisheit der Griechen ihrer Geltung oder Wirkung entheben (Eph 2,15). Es ist dann eine Entmächtigung, Entwertung, womöglich auch eine göttliche Umwertung aller Werte, so wie das Gesetz (Sinaitora) außer Kraft gesetzt wurde (Röm 2,14; 3,17). Damit werden auch die Fürsten oder Mächte dieser Welt ihrer Macht beraubt (1. Kor 2,6), auch der Teufel als die Macht des Todes (1. Kor 2,14). 127 Entmächtigung, Enthebung, Entamtung, Entbindung, Entglorifizierung, Entgötterung gehören zum Spiel der Deutung von katargesis, des Vorübergehens von Herrschaft als Herrlichkeit, von Kirche als Ökonomie und Amt als permanente Tätigkeit. Und das nicht nur als Negation, sondern als Eröffnung eines Kommenden, einer außerordentlich unsouveränen Gemeinschaft. Wer dem Dispositiv der Souveränität wenigstens gelegentlich entkommen möchte, könnte solch einem prophetischen und eschatologischen Wink folgen. Denn zur Wirklichkeit gehört nicht zuletzt, was wir zu hoffen wagen: das Imaginäre, von dem wir leben.

123 Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, übers. v. A. Hiepko, Berlin 2003, 105. 124 Offen ist noch die Frage, welche Pendants dazu sich im Hebräischen finden lassen. 125 Gerhard Delling, Art. Καταργέω, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. I, hg. v. G. Kittel/G. Friedrich, Stuttgart 1990, 453–455, hier 453. 126 Ebd. 127 Vgl. ebd., 454.

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Wenn es darum ginge, »eine Ontologie jenseits der Operativität und des Gebots zu denken und eine Ethik und eine Politik, die von den Begriffen der Pflicht und des Willens befreit sind«, 128 dann ist es hier nicht abwegig, die Theologie Luthers in Erinnerung zu rufen. Denn Luthers Ontologie der Relation ist entscheidend eine der Passivitätsrelation des Menschen zu sich und zu Gott. In dreifacher Hinsicht (schöpfungstheologisch, hamartiologisch und soteriologisch) ist Sein nicht im Wirken, sondern im Werden. Bestimmte Passivität ist kreativ, rekreativ und heilvoll. Diese Pointe würde mit der sogenannten protestantischen Arbeitsethik komplett verkannt und verspielt. Dass Luther hier ›weiter‹ geht als Agamben (und bei ihm sonderbarerweise keine Rolle spielt), liegt an seiner Distanz gegenüber dem aristotelischen Paradigma des Wirklichkeitsprimats, das die katholische Tradition dominiert (daher opus operatum). 129 Die kritische Rückfrage an Luther bleibt aber, ob er den anthropologischen (und sozialen) Passivitätsprimat begründet mit einem umso intensiveren Aktivitätsprimat aufseiten Gottes. Dann wäre am Orte Gottes genau das ›Operativitätsparadigma‹ in Kraft, das Agamben vorführt. Das würde verständlich machen, warum Luther den Glauben durchaus als Werk verstehen kann: als ›göttlich Werk an uns‹. Wäre es so einfach, würde die kreuzestheologische Brechung dieses Paradigmas verkannt. Gott in Christo ist der vor allem und für alle leidende Gott: nicht die allmächtige Majestät, sondern die ohnmächtige Selbstverausgabung. Wenn für Golgatha gilt: Da streitet Gott gegen Gott – ist das der Widerstreit zweier ›ontologischer Paradigmen‹, genauer ›theologischer Paradigmen‹ : der Majestät und der Niedrigkeit. Nur – wie dieser Streit ausging, ist selbst theologisch noch strittig. In anthropologischer Hinsicht kehrt das Operativitätsproblem wieder: zwischen Rechtfertigung und Heiligung wie Glaube und guten Werken. Agamben meinte, um »den Übergang der Potenz zur Wirklichkeit zu erklären. Wenn das Sein einer Verwirklichung bedarf, wenn es notwendigerweise ins Werk gesetzt werden muss, so wird ein Wille, der dies ermöglicht, zur Voraussetzung« 130 . Kants

Agamben, Opus Dei, 202 (wie Anm. 115). Dass Luther damit nicht allein steht, sondern in der Tradition der deutschen Mystik, ist allerdings nicht zu vergessen. Vgl. Stoellger, Passivität aus Passion (wie Anm. 48). 130 Agamben, Opus Dei, 201 (wie Anm. 115). 128 129

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›heiliger Wille‹ wie Schopenhauers und Nietzsches sogenannte ›Willensmetaphysik‹ zeigen das. Die Frage ist, ob eine evangelische Ethik so konzipiert werden muss – oder Alternativen kennt. Noch bei Jüngel heißt es mit Bultmann, dem Indikativ der Gnade folge der Imperativ der Freiheit. Ich würde dem lieber nicht folgen. Denn ist der Übergang von Glaube und Werk ein Wollen, vom Imperativ reguliert und ›notwendig‹ ? Oder ist dieser Übergang sua sponte, spontan und ein Begehren des Nächsten? Als ›weniger als notwendig‹, nicht notwendig, sondern unwillkürlich? Wäre das Werk des Glaubens in dem Sinne unwillkürlich, wäre das ein gewichtiger Hinweis auf eine Ethik (und Politik), »die von den Begriffen der Pflicht und des Willens befreit sind« 131 , wie Agamben zu hoffen wagte. Glaube würde zur kreativen Labilisierung – und zwar abgründig unsouverän, ohne das Geländer einer immer noch größeren Stabilisierung durch einen Souverän, der ihm sein Wagnis a limine abgenommen hätte.

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Doppelkörper und Korridorbildung. Souveränität und Subversion in The West Wing Friedrich Balke

»Doch war der Jargon des Doppelkörpers kein Reservat der Juristenzunft.« 1 Ernst H. Kantorowicz

1.

›Body Politic‹ und ›Body Natural‹

The West Wing, die zwischen 1999 und 2006 zur Prime Time auf NBC ausgestrahlte Serie, die am Ende 156 Folgen in sieben Staffeln umfasst, entfaltet ein zugleich populärkulturelles und systematisches Reflexionswissen über exekutives Entscheiden in der US-amerikanischen Machtzentrale, das außerhalb der Serie, in politologischen Abhandlungen wie politischen Romanen seinesgleichen sucht. Die Serie betreibt einen ungewöhnlichen, ansonsten nur in der Dokumentarfilmtradition eines Frederick Wiseman üblichen Aufwand, 2 um dem Zuschauer die Verwicklungen und Retardierungen des legislativen ebenso wie des exekutiv-militärischen Alltags im Weißen Haus über einen Zeitraum von zwei vollen Amtsperioden auf eine detaillierte und technisch präzise Weise vor Augen zu führen. Neben den administrativen und verfassungsrechtlichen Dimensionen dieser Regierungspraxis berücksichtigt die Serie dabei auch die imaginären Dimensionen höchster politischer Machtentfaltung. 3 Die Hochgeschwindigkeitsdialoge des administrativen Personals, für die die Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, übers. v. W. Theimer, München 1990, 47. 2 Vgl. etwa State Legislature (USA 2006). Zum Verhältnis von Wisemans Kino des Sozialen zu neueren US-amerikanischen Fernsehserien vgl. Markus Stauff, Zur Sichtbarkeit von Gesellschaft. Institutionen in den Filmen von Frederick Wiseman und in US-amerikanischen Fernsehserien, in: Frederick Wiseman. Kino des Sozialen, hg. v. E. Hohenberger, Berlin 2009, 85–104. 3 Vgl. dazu Friedrich Balke, Von der fiktiven Person zur imaginären Institution. Poli1

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Doppelkörper und Korridorbildung

Macher die Form des Walk’n Talk entwickelten, besetzen zwar den Vordergrund der Serie, hinter dem die Figur des Präsidenten gelegentlich zu verschwinden scheint. Ich möchte im Folgenden dennoch einen Aspekt ins Zentrum rücken, der eine spezifische Dialektik präsidentieller Macht betrifft, die sich nicht zuletzt auch im kommunikativen Gewimmel des Vorraums der Macht manifestiert. Ausgerechnet am Pol des exekutiven Regierungshandelns legt die Serie eine konstitutive Ohnmacht und einen Abgrund frei, der das Bild der politischen ›Macher‹ und die Vorstellung der ihnen eigenen unerschöpflichen Potenz konterkariert. In dieser spezifischen Ohnmacht, die sich am Pol höchster Macht manifestiert, mag man eine subversive Dimension der Serie erkennen, die nicht unerheblich zu ihrem ästhetischen Faszinationspotenzial beiträgt. Wenn man sagt, dass der Körper des Präsidenten im Mittelpunkt der Serie steht, dann ist das im Hinblick auf ihren Titel sofort zu spezifizieren: Nicht der Körper des Präsidenten, sondern sein institutionell festgelegter Aufenthaltsort, der Westflügel des Weißen Hauses, in dem die technische, administrative und personelle Infrastruktur konzentriert ist, leiht der Serie ihren Titel. Die Macher waren ursprünglich sogar von der Idee beherrscht, die Figur des Präsidenten so weit wie möglich zurückzunehmen, um die Serie ganz auf die Darstellung der Arbeitsformen und Kommunikationsabläufe des präsidialen Mitarbeiterstabes zu fokussieren. Der Erfolg Martin Sheens als President Josiah Edward (›Jed‹) Bartlet beim Publikum hat die Figur des Präsidenten zwar stärker in den Vordergrund treten lassen, aber nichts an der grundsätzlichen Tendenz geändert, die ich als eine funktionale Spezifizierung und Dezentrierung der mit höchster Machtfülle ausgestatteten Position beschreiben würde. Die repräsentative Schauseite präsidialer Macht wird auf diese Weise beständig von der ihr abgewandten Funktionsseite durchkreuzt. Das Bezugsproblem dieser operativen Dimension des politischen Geschäfts, die in ihrer Kleinteiligkeit und Störanfälligkeit nach außen gekehrt wird, besteht dabei in der kommunikativen und legislativen Formierung und Übertragung zentralisierter Entscheidungsmacht. Diese Dezentrierung, die ich im Folgenden an einigen Sequenzen erläutern möchte, vollzieht sich in zwei fundamentalen Registern. Das eine Register betrifft die Bedeutung, die der physische Körtik und Bildgebung bei Ernst Kantorowicz und Cornelius Castoriadis, in: Imagination. Suchen und Finden, hg. v. G. Boehm et al., Paderborn 2014, 189–215. Souveränität und Subversion

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per des Präsidenten im Verlauf der Serie erhält, dessen Defekt, um es mit Ernst Kantorowicz zu formulieren, unmittelbar zu einer politischen causa wird und damit ex negativo von der Existenz dessen Zeugnis ablegt, was ich den zweiten Körper des Präsidenten nenne. Im ersten Register ist es der Körper des Präsidenten selbst, der zur Projektionsfläche politischer Erwartungen (und damit zu einem character angelicus) wird, die er aufgrund seiner physischen Konstitution aber zugleich enttäuschen muss. Sind es hier also die »Unvollkommenheiten der gebrechlichen menschlichen Natur« 4 , die auch den Körper des Präsidenten nicht ausnehmen, so ist es im zweiten Register eine verteilte Handlungsmacht, die sich in der architektonischen und organisatorischen Struktur der Entscheidungszentrale manifestiert und die die souveräne Fiktion einer Einmann-Körperschaft, die der Präsident gewissermaßen vom Monarchen erbt, in Frage stellt, sodass er als bloße personificatio eines Kollektivs erscheint. Unter demokratischen Bedingungen handelt es sich bei diesem Kollektiv zunächst einmal um das ›Volk‹, dem der Präsident seine Legitimität verdankt, ohne dass es sich direkt in die Abläufe der RegieKantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 33 (wie Anm. 1). Zu einem ersten Versuch, The West Wing mit der politisch-theologischen Zweikörperlehre, die Ernst Kantorowicz in den USA erforscht und zum Gegenstand einer umfangreichen Monografie gemacht hat, zu lesen, vgl. Heather Richardson Hayton, The King’s Two Bodies. Identity and Office in Sorkin’s West Wing, in: The West Wing. The American Presidency as Television Drama, hg. v. P. C. Rollins/J. E. O’Connor, New York 2003, 63–79. Die Verfasserin betont zu Recht die liminale Dimension der Serie, insofern sowohl die Figur des Präsidenten als auch die räumliche Lokalisierung des Geschehens an der Schnittstelle der beiden Flügel des Weißen Hauses immer wieder die Durchlässigkeit der privaten und der öffentlichen Sphäre darzustellen erlaubt. Dennoch kann die These, so vordergründig sie auch zuzutreffen scheint, Sorkin ziele auf einen »presidential iconoclasm« (ebd., 74) aufs Ganze gesehen nicht überzeugen. Vielmehr werden meine folgenden Überlegungen zeigen, dass The West Wing das Spannungsverhältnis zwischen privatem und öffentlichem Körper des Machthabers in der Nachfolge Shakespeares, dem Kantorowicz ja nicht zufällig ein Kapitel seiner Studie widmet, kunstvoll dramatisiert und eben nicht zugunsten einer Seite der Unterscheidung auflöst. Wenn Shakespeare in seinen Königsdramen die gewaltsame Trennung der beiden Körper des Königs behandelt, so folgt ihm die Serie in diesem Punkt, da sie ihre Spannung aus der Eventualität der präsidialen Degradation bezieht: »Stück für Stück«, schreibt Kantorowicz über Richard II., »nimmt er seinem politischen Körper die Symbole seiner Würde und setzt seinen armen natürlichen Leib den Blicken der Zuschauer aus« (Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 58 [wie Anm. 1]). Auch Präsident Bartlet wird genötigt, seinen armen natürlichen Leib den Blicken der Zuschauer auszusetzen; zugleich erhält er aber auch die Gelegenheit, sich die schon verloren geglaubten Symbole seiner Würde Stück für Stück wieder anzueignen.

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rungsgeschäfte einschreiben könnte; im Rahmen der Serie, in der nur wenig ›Volk‹ vorkommt, erweist sich der Präsident aber vor allem als Delegierter seines im ›West Wing‹ konzentrierten Teams, ohne dessen permanente Vor- und Zuarbeit die Maschinerie, als deren äußerster Exponent er fungiert, zum sofortigen Erliegen käme.

2.

Fahrradsturz und souveräne Erscheinung

West Wing entfaltet sich im ersten Register, das die Dialektik souveräner Macht in den Körper des Präsidenten selbst einschreibt, als ein Drama der »Stellungen des Menschen«, die Elias Canetti in Masse und Macht daraufhin analysiert, »was sie an Macht enthalten« 5 : Das Stehen, das Sitzen, das Liegen, das Hocken, das Knien sind nicht nur anthropologisch mögliche Stellungen, sie drücken zugleich auch »etwas Bestimmtes aus. Rang und Macht haben sich feste, traditionelle Positionen geschaffen.« 6 Der Machthaber ist derjenige, der steht, gelegentlich auch sitzt – auf dem Thron, oder kniet: in der Position dessen, der seine Würde und ihre Zeichen von einer anderen Machtinstanz erhält. Die ihm eigentlich versagte Position ist das Liegen, denn das Liegen ist »eine Entwaffnung des Menschen« 7 . Ganz besonders verhängnisvoll für jeden Machthaber ist sein sich öffentlich vollziehender Sturz: »Die unfreiwillig Liegenden haben das Unglück, den Aufrechten an das gejagte und getroffene Tier zu erinnern.« 8 West Wing weiß um diese Topologie der souveränen Macht, die eben souverän heißt, weil sie am höchsten platziert ist. »Als Spitze«, schreibt Jean-Luc Nancy, »ist der Souverän nicht nur erhöht: er ist der Erhöhteste. Sein Name ist ein Superlativ im wahrsten Sinne des Wortes: der, der sich nach oben absetzt und der nicht mehr der komparativen und relativen Ordnung angehört. Er steht nicht mehr im Vergleich, sondern ist absolutum.« 9 Die Serie demonsElias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1990, 433. Ebd. 7 Ebd., 437. »Der Liegende«, schreibt Canetti, »entwaffnet sich so sehr, daß man überhaupt nicht begreift, wie die Menschheit es fertiggebracht hat, den Schlaf zu überleben.« (ebd.). 8 Ebd., 439. 9 Jean-Luc Nancy, Ex nihilo summum (Über die Souveränität), in: Ders., Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, übers. v. A. Hoffmann, Zürich 2003, 123–145, hier 125. 5 6

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triert in eindrücklichen Szenen, dass die Figur einer höchsten Macht, die sich »nach oben absetzt« 10 , nicht das letzte Wort über den Souverän ist. Die Pilotfolge führt daher Potus (das Akronym für President of the United States) auf hochsymptomatische Weise als Gestürzten ein. Bezeichnenderweise ist es aber nicht sein politischer Sturz, der trotz aller Stürze, die noch folgen werden, ausbleibt, sondern ein banaler Sturz vom Fahrrad, der, wie jedes, noch das kleinste und unbedeutendste Ereignis im Leben eines Präsidenten, immer zugleich auch ein kommentierungsbedürftiges Ereignis ist. Die dürren Fakten des präsidentiellen Fahrradunfalls teilt C. J. Cregg, Pressesprecherin des Präsidenten, den Journalisten beim morgendlichen Pressebriefing mit. Der Präsident ist nicht nur mit dem Fahrrad gegen einen Baum gefahren und gestürzt, sondern ein weiteres Mal gefallen, da er sich nicht vom Sicherheitspersonal auf die Beine helfen lassen wollte. Es sind allerdings nicht »Verachtung und Abneigung« 11 , die sein Sturz bei den versammelten Presseleuten hervorruft, sondern bloß Heiterkeit und Gelächter. Damit ist die Bedeutung und die Funktion dieses initialen Sturzes, der in der Episode selbst nicht gezeigt, sondern nur berichtet wird, aber keineswegs erschöpft. Wieder ist es eine Feststellung Canettis, mit der sich die entscheidende Wendung, die der Fortgang der Handlung nimmt, auf den Punkt bringen lässt: »Vermag er [der Gestürzte; F. B.] es, sich bald wieder auf den Beinen zu halten, so werden alle Zuschauer über diese Wiederaufrichtung des Menschen, der sie selber sind, Genugtuung empfinden.« 12 Nicht nur in dieser Episode, mit der die Serie startet, auch in vielen weiteren Folgen geht es um die Wiederaufrichtung des amtierenden oder (in der Endphase der regulären Amtszeit Bartlets) um die ›Aufrichtung‹ eines neuen Präsidenten. Die »Zuschauer«, von denen Canetti hier spricht, sind nicht länger mit den Zuschauern einer beliebigen Straßenszene gleichzusetzen, sondern umfassen ein TV-Millionenpublikum, das in der Tat an nichts so sehr Interesse hat wie am Sturz und der Wiederaufrichtung von (berühmten) Menschen. Die Serie bewegt sich auch deshalb auf der Höhe politischtheologischer Einsichten in die Position des Souveräns, weil sie ganz unmissverständlich die Geschichte der ›plötzlichen‹ Wiederaufrichtung des Präsidenten mit einem theologischen Streit verknüpft. »Alle 10 11 12

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Ebd. Canetti, Masse und Macht, 439 (wie Anm. 5). Ebd., 440.

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Still 1: Erstes Gebot (1; 1) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre«, hat Carl Schmitt bekanntlich festgestellt, »sind säkularisierte theologische Begriffe.« 13 Ernst Kantorowicz weitet diesen Befund Schmitts von den Begriffen auf die Bilder aus: »Nicht nur ist der politische Körper größer und weiter als der natürliche, sondern ihm wohnen auch geheimnisvolle Kräfte inne, die ihn über die Unvollkommenheiten der gebrechlichen menschlichen Natur hinausheben.« 14 In der Pilotfolge geht es im Kern um die Freisetzung dieser »geheimnisvollen Kräfte«. Höhepunkt dieser Freisetzung ist die ambivalente Platzierung eines Bibelzitats, nämlich des ersten Gebots, das als Zitat einen vorausgegangenen heftigen Streit zwischen Vertretern der Christian Right und Mitarbeitern des Präsidenten entscheiden soll. In der Situation ist das Zitat aber zugleich als die politisch-theologische Identifikation dessen, der es zitiert, nämlich des Präsidenten, mit der göttlichen Äußerungsposition lesbar: »Ich bin der Herr dein Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2 1934 (Nachdruck Berlin 4 1985), 49. 14 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 33 (wie Anm. 1). 13

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Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben.« »Boy, those were the days«, das waren noch Zeiten: Mit diesem ironisch nachgeschobenen Kommentar Bartlets ist aber zugleich die ganze Differenz zu einer politisch-theologischen Inanspruchnahme des ersten Gebots für die Zwecke eines souveränen Unitarismus markiert. Um die Szene zu verstehen, muss man wissen, dass Josh Lyman, Stellvertreter des Stabschefs, am Vortag in einer Talkshow einer Vertreterin der Christian Right, Mary Marsh, empört vorgeworfen hatte, dass der Gott, zu dem sie bete, zu beschäftigt sei, ihr zuzuhören, da er wegen Steuerbetrugs belangt werde. Der Eklat ist groß und Josh, der wesentlich am Erfolg der Wahlkampagne des Präsidenten beteiligt war, muss befürchten, dass der Präsident ihn wegen dieser öffentlichen Entgleisung aus taktischen Gründen opfern wird. Ein Präsident, den die Zuschauer bislang nicht gesehen, sondern von dem sie nur gehört haben. Seinen ersten Auftritt überhaupt hat er spät genug, nämlich erst kurz vor Ende der Pilotfolge (in der 34. Minute). Die Souveränität ist an eine spezifische Struktur der Erscheinung gebunden, die Jean Starobinski für das Theater Corneilles untersucht hat. Er spricht von einer »Magie der Anwesenheit«: 15 »Was ist Allmacht, wenn nicht das Privileg, sich nur zeigen zu brauchen, um Gehorsam zu erlangen? Das Wort éclat (›plötzliches Erstrahlen‹), das bei Corneille so häufig vorkommt, drückt jenen aktiven Glanz vollkommen aus: siegreiche Überraschung, blitzhafte Eroberung, Triumph ohne Kampf. So waren die Siege von Louis XIV. beschaffen: ›Louis braucht nur zu erscheinen‹, und schon fallen die Mauern, die Schwadrone fliehen, die Völker unterwerfen sich.« 16

Aaron Sorkin, der showrunner, moduliert den initialen Auftritt des Souveräns so, dass er der Position eines Bürgerkönigs entspricht, die ein direkt gewählter Präsident mit den Vollmachten, die ihm die amerikanische Verfassung einräumt, einnimmt. Bevor die Kamera ihn zeigt, lässt Sorkin den Präsidenten hören: Im Anfang war das Wort, und dieses Wort verfügt in seiner ganzen schneidenden Prägnanz über die Kraft, den vorausgegangenen Konflikt zwischen Vertretern der ins Weiße Haus eingeladenen christlichen Eiferer und den Mitgliedern des Stabs des Präsidenten, die sich um eine Beilegung des Streits bemühen, zu entscheiden. Nicht der Präsident entscheidet Jean Starobinski, Über Corneille, in: Ders., Das Leben der Augen, Frankfurt a. M. 1984, 20–51, hier 21. 16 Ebd. 15

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aufgrund seiner säkularen Machtvollkommenheit den Streit zwischen seiner Mannschaft und den christlichen Fundamentalisten. Es ist das Wort Gottes selbst, das sich durch den Mund des Präsidenten denen gegenüber in seiner originären Reinheit Gehör verschafft, die es mit ihrer politischen Ideologie zu okkupieren versuchen. Der Präsident macht sich zum Sprachrohr dieses göttlichen Wortes und vertreibt die Fundamentalisten mit drastischen Ausdrücken aus dem Tempel der Macht, weil sie sich als Schacherer erweisen, die die Entschuldigung von Josh nur annehmen, um im Gegenzug die Unterstützung der Administration für bestimmte Punkte ihrer politischen Agenda zu erhalten. Toby Ziegler, der Communications Director im Stab des Präsidenten, hatte dem verbalen Auftritt seines Chefs vorgearbeitet. Er brandmarkt nicht nur den unterschwelligen Antisemitismus in einer polemischen Bemerkung, mit der sich die in der Talk Show attackierte Mary Marsh gegen Joshua Lyman wendet; Toby ist auch nicht bereit, die Verwechslung von erstem (Fremdgöttergebot) und viertem beziehungsweise fünftem Gebot (Elterngebot) in den Ausführungen der religiösen Eiferer hinzunehmen (obwohl er selbst, darin besteht der Humor dieser Szene, nicht richtig liegt, wenn er im Eifer des Gefechts das Elterngebot als drittes Gebot ausgibt). Der Präsident entscheidet nicht nur diese Kontroverse mit dem Wort Gottes, er beteiligt sich im Folgenden an der Auseinandersetzung mit den Vertretern der Christlichen Rechten und wirft damit zugleich ein neues Licht auf seinen Fahrradunfall vom Vortag. Die Spuren des Fahrradunfalls sind noch gegenwärtig, denn der Präsident muss sich einer Gehhilfe bedienen. Er steht noch nicht wieder ganz auf eigenen Füßen. Dennoch: Den Vorschlag der Pressechefin, alle mögen sich, nachdem der Präsident seine Gäste begrüßt hat, wieder setzen, lehnt er höflich, aber bestimmt ab, weil die Gäste, wie er unmissverständlich hinzufügt, nicht mehr lange bleiben würden. Die mangelnde Bibelfestigkeit der angeblich Bibeltreuen und ihre verquaste politische Agenda sind das eine; etwas ganz anderes ist die von einer radikalen Splittergruppe angedrohte Gewalt gegen Andersdenkende. Sie richtet sich im konkreten Fall ausgerechnet gegen die zwölfjährige Nichte des Präsidenten, die sich in einem Interview mit einer Jugendzeitschrift für das Recht auf Abtreibung ausgesprochen hatte. Der Fahrradunfall, so erfährt der Zuschauer, steht im direkten Zusammenhang mit der Wut des Präsidenten über die Morddrohung gegen ein Familienmitglied.

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3.

Präsidiale Lähmung und das Drama der souveränen Wiedererrichtung

West Wing, eine Serie, die mit einem präsidialen Fahrradsturz beginnt, wird in den folgenden Staffeln weitere prekäre Situationen zeigen, in denen der Körper des Präsidenten von Mängeln und Schwächen heimgesucht wird. Als sich Bartlet, der zuvor Gouverneur von New Hampshire war, für die Präsidentschaftswahl beworben hatte, verschwieg er selbst seinen engsten Beratern, dass er an Multipler Sklerose leidet. Die Krankheit führt in bestimmten Abständen zu akuten Schüben (mit Schwindel, Taubheit in den Beinen und verschwommener Wahrnehmung als Symptomen), die Bartlet bei der Erfüllung seiner Amtspflichten vorübergehend stark beeinträchtigen. Zwar können die Anhörungen, die der Generalstaatsanwalt nach der öffentlichen Bekanntgabe der Erkrankung durch den Präsidenten einleitet, den Vorwurf der Fälschung medizinischer Unterlagen über den Gesundheitszustand des Präsidenten und damit der bewussten Täuschung der Öffentlichkeit nicht bestätigen; die Krankheit ergreift jedoch auch nach der erfolgreichen Wiederwahl immer wieder aufs Neue den body natural des Präsidenten und eröffnet der Serie so die Möglichkeit, die Überlegenheit des body politic über den durch Mängel und Schwächen gezeichneten natürlichen Körper zu demonstrieren. So ließe sich mit Kantorowicz sagen: So sehr der erste Körper des Präsidenten auch durch Krankheit geschwächt sein mag, sein zweiter Körper bleibt von diesen Defekten unberührt, ja er steigert seinen Glanz sogar im Kontrast zu den Demütigungen, die er ertragen muss. Dramatischer Höhepunkt dieses Konflikts zwischen natürlichem und politischem Körper ist die fast vollständige Lähmung der Hände und Beine des Präsidenten, die ausgerechnet auf einer Flugreise zu einem Staatsbesuch nach China eintritt: Der zunehmend kritischer werdende Zustand des Präsidenten raubt diesem nicht seine »geheimnisvollen Kräfte«, die ihn über die »Unvollkommenheiten der gebrechlichen menschlichen Natur hinausheben« 17 , wenn er im Zustand progressiver Paralyse, auf einer Trage liegend, den Vorschlag seiner Berater, die Reise abzubrechen und in die USA zurückzukehren unter Berufung auf seine Position als Commander in Chief strikt ablehnt: »This plane is going to China. That’s a direct order from your commander in chief.« 17

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Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 33 (wie Anm. 1).

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Still 2: Befehl, liegend erteilt (6; 8) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

Nachdem die Kraft allmählich in die Glieder des Präsidenten zurückgekehrt ist, das Telefongespräch mit dem südkoreanischen Amtskollegen wegen einer bedrohlich erscheinenden außenpolitischen ›Situation‹ geführt ist, schließt die Folge mit der langen Einstellung auf den Präsidenten, der wie sein berühmter, krebserkrankter Amtsvorgänger Franklin D. Roosevelt auf den Rollstuhl angewiesen ist, um sich noch an Bord der Air Force One den Fragen der mitgereisten Presse zu stellen:

Still 3: Wiederaufrichtung (6; 8) – © NBC / Warner Bros. Entertainment Souveränität und Subversion

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Politische Theologie, das wird in der uferlosen Literatur zu diesem Thema häufig übersehen, liegt nicht nur dann vor, wenn sich ein weltlicher Potentat als Statthalter Gottes (vicarius Dei) begreift und sich eine der göttlichen Allmacht abgesehene Omnipotenz zuschreibt; sie kann auch den Moment des Aufruhrs, der Rebellion oder Stasis bezeichnen, wenn der Machthaber sich gegen denjenigen stellt oder mit ihm abrechnet, als dessen Stellvertreter er offiziell gilt oder dessen Wohlwollen er zumindest reklamieren zu können glaubt. Am Ende der zweiten Staffel nähert sich West Wing der vorläufigen Klimax: Der Präsident ist angezählt, die Umfragewerte sind nach Bekanntwerden der verschwiegenen MS-Erkrankung und wegen des möglicherweise drohenden Amtsenthebungsverfahrens tief im Keller, der eigene Vizepräsident, Hoynes, konspiriert gegen den Präsidenten, weil er sich Chancen für die Nominierung als Kandidat der Demokraten für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen ausrechnet. Persönlich ist der Präsident zudem aufs Äußerste getroffen, als seine langjährige Sekretärin und Vertraute bei einem Autounfall ums Leben kommt. Im Anschluss an das feierliche Requiem lässt er die Sicherheitsleute die Türen der Kathedrale von außen verschließen, um mit Gott ein ernstes Gespräch unter vier Augen zu führen. Ja, er hat gelogen und verschiedene Sünden begangen, aber seine politische Leistungsbilanz, an der er doch allein zu messen ist, kann sich sehen lassen und sollte eigentlich auch auf den Allmächtigen ihren Eindruck nicht verfehlen: »You’re a son of bitch, you know that«, stellt der Präsident eingangs seines konzisen Monologs fest, um dann die von Gott zu verantwortenden Schadensereignisse mehr oder minder großen Ausmaßes gegen die Leistungen seiner Amtszeit zu stellen. Und dennoch, »that’s not enough to buy me out of the doghouse?« Der Präsident belässt es diesmal nicht bei bloßen Worten, selbst ein in perfektem Latein ausgestoßener Fluch ist ihm nicht genug: »gratias tibi ago, domine. haec credam a deo pio, a deo justo, a deo scito? cruciatus in crucemtuus in terra servus, nuntius fui; officium perfeci. cruciatus in crucem – eas in crucem.« 18

»Thank you, Lord. / Am I to believe these things from a righteous god, a just god, a wise god? / To hell with your punishments! (put/send punishments onto a cross) / I was your servant, your messenger on the earth; I did my duty. To hell with your punishments! And to hell with you! (may you go to a cross).«

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Still 4: Abrechnung mit Gott (2; 22) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

Der äußerste Ausdruck seiner Gottesverachtung ist in dem Moment erreicht, in dem er sich eine Zigarette anzündet und sie nach einem Zug auf dem Boden der Kathedrale austritt. Der Akt der Profanierung des Gotteshauses ist mit einem Blick nach unten, auf den Fuß des Präsidenten, verbunden. Das Pathos der Szene erreicht seinen Höhepunkt, wenn die Kamera, unmittelbar nachdem der Präsident die Zigarette ausgetreten hat, die eindrucksvolle Höhe des Gebäudes abfährt, die die politische Hoheit und Höhe des Machtträgers um ein Vielfaches überschreitet. Einmal mehr wird der Präsident hier als derjenige gezeigt, der trotz aller Rückschläge wiederaufsteht: Das Drama der ›Wiedererrichtung‹ dessen, der schon am Boden liegt, spitzt sich in Two Cathedrals (so der Titel der Folge) zu, weil derjenige, der steht, eine höhere, aber unsichtbare Macht herausfordert, die ihn um ein Vielfaches überragt. Genau darin aber besteht das Wesen des dynamisch Erhabenen, das sich immer dann einstellt, wenn wir, so Kant in der Kritik der Urteilskraft, »in unserem Gemüte eine Überlegenheit über die Natur selbst in ihrer Unermeßlichkeit« finden. »Macht ist ein Souveränität und Subversion

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Still 5: Profanierung I (2; 22) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

Still 6: Profanierung II (2; 22) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

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Still 7: Sturm (2; 22) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

Vermögen«, heißt es weiter bei Kant, »welches großen Hindernissen überlegen ist.« 19 Zu den Schadensereignissen, für die der Präsident die Omnipotenz Gottes verantwortlich macht, gehört daher auch ein bevorstehender tropischer Jahrhundertsturm, dessen Wirkung auf den Präsidenten in der Schlusssequenz von Two Cathedrals darin besteht, um noch einmal Kant zu bemühen, seine »Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß [zu] erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art« hervorzubringen, sodass der Präsident sich selbst »mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können« 20 glaubt. Ausdrücklich nennt Kant im Abschnitt über das Erhabene die »am Himmel sich auftürmenden Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend« als ein Beispiel für diese »scheinbare

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Werke in zehn Bänden, Bd. VIII, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1983, 349. 20 Ebd. 19

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Allgewalt der Natur« 21 . Der Höhepunkt, zugleich die Schlusssequenz der zweiten Staffel, zeigt den Präsidenten auf dem Weg zu einer eigens einberufenen Pressekonferenz, auf der er sich zu der nicht länger zu umgehenden Frage äußern muss, ob er für eine zweite Amtszeit antreten wird – trotz der miserablen Umfragewerte und der gerichtlichen Maßnahmen, die der Kongress gegen ihn und den gesamten Mitarbeiterstab angekündigt hat. Der Sturm bläst dem Präsidenten aber nicht nur politisch, sondern auch meteorologisch ins Gesicht. Statt Schutz zu suchen, setzt er sich ihm offen aus und führt seinem malträtierten Körper und seiner angeschlagenen psychischen Verfassung auf diese Weise wieder ›übermenschliche‹, »geheimnisvolle Kräfte« 22 zu. Die Gewalt des Sturms geht metonymisch auf ihn über, der Körper des Präsidenten partizipiert an einer entfesselten Naturgewalt. »Watch this!«, flüstert der Stabschef, Leo McGarry, wie in Trance nicht nur seinen Mitstreitern zu, sondern zugleich auch dem Zuschauer, der sich an dem eigentümlichen Glanz stummer Souveränität berauschen kann. Für die Mitarbeiter wie für die Zuschauer gleichermaßen überraschend, ignoriert der Präsident taktische Vorabsprachen mit der Pressechefin, die ihm empfohlen hatte, zunächst nur Fragen zuzulassen, die seinen telemedial bereits umfassend aufbereiteten Gesundheitszustand betreffen, um nicht gleich zu Beginn der Pressekonferenz die heiklen Fragen zu den von ihm gezogenen politischen Konsequenzen beantworten zu müssen. Nachdem er den Raum betreten und sich an das Pult gestellt hat, ruft er nach kurzem Zögern eine Journalistin auf, von der er sicher sein kann, dass sie sich nicht mit bereits bekannten medizinischen Präliminarien aufhalten wird, sondern gleich zum Punkt des Politischen kommen wird. Statt die Frage zu beantworten, täuscht der Präsident zunächst vor, sie wegen der allgemeinen Unruhe im Raum nicht ganz verstanden zu haben und bittet Sandy, die Journalistin, ihre Frage noch einmal zu stellen. Aber auch auf die wiederholte Frage bleibt eine Antwort aus. Die zweite Staffel endet mit der Schlusseinstellung des beharrlich schweigenden Präsidenten. Die innerdiegetische Spannung, die sich auf den Gesichtern der versammelten Pressevertreter abmalt, überträgt sich durch die Platzierung eines cliffhangers auf den Fernsehzuschauer, der bis

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Ebd. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, 33 (wie Anm. 1).

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Still 8: Positionsgefühl (2; 22) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

zum Beginn der nächsten Staffel warten muss, um zu erfahren, was der Präsident gesagt haben wird. ›Das Schweigen auf eine Frage‹ ist hier nicht Ausdruck präsidialer Verlegenheit angesichts einer politisch verfänglichen Frage, sondern höchster Ausdruck wiedergewonnenen präsidialen »Positionsgefühls« 23 , das für sich selbst spricht, ohne sich dem gesprochenen Wort anvertrauen zu müssen, dessen rhetorische Kraft hinter der Evidenz der körperlichen Repräsentation, die durch die pathetische Off-Musik verstärkt wird, 24 zurückbleibt. Canetti, Masse und Macht, 489 (wie Anm. 5). Vom gemeinsamen Aufbruch des Präsidenten zur Pressekonferenz bis zum Ende der Folge ist den Bildern der Song »Brothers in Arms« von den Dire Straits unterlegt. Die Wahl des Songs ist doppelt motiviert, nämlich einmal über den Namen der Band, denn Bartlet ist tatsächlich in dire straits, also in einer akuten Notlage, aus der er sich mit seinem Auftritt auf der Pressekonferenz befreien will; zum anderen setzt die Szene visuell die ›Waffenbruderschaft‹ des Präsidenten mit seinem engsten Mitarbeiterstab um, der ihn komplett zur Pressekonferenz begleitet, wobei in einer symptomatischen Einstellung die Kamera auf die im Gleichschritt getakteten Beine und Füße der Gruppe schwenkt, um so die Entschlossenheit der vorwärts schreitenden ›verschworenen Brüder‹ zu demonstrieren.

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Der Präsident schweigt und begnügt sich damit, sich selbst zu zeigen. Er wird zu einer politischen Semiophore, einem Objekt, das sich ausstellt zu dem einzigen Zweck, »um den Blick auf sich zu ziehen« 25 . Statt sprachliche Zeichen auszusenden, verwandelt er sich selbst in ein stummes Zeichen, das mit dem Objekt, das es bezeichnet, dem eigenen Körper, zusammenfällt. Dieses Schweigen, also die Abweisung des Zwangs zu antworten, der ja die soziale Situation der Pressekonferenz definiert, ist Ausdruck gesammelter, inkarnierter politischer Macht, die einen feindlichen Angriff nicht durch Worte oder Handlungen abwehrt. Wenn nämlich alles Fragen, erst recht das journalistische Fragen, »ein Eindringen« ist, das »wie ein Messer in den Leib des Gefragten« 26 schneidet, dann lässt sich Bartlets Schweigen in dieser massenmedial verbreiteten Situation, die vom Mitarbeiterstab, der den Präsidenten zu diesem wichtigsten öffentlichen Auftritt seiner Amtszeit begleitet, auf Fernsehbildschirmen verfolgt wird, tatsächlich mit dem »Abprallen einer Waffe an Schild und Rüstung« vergleichen: »Verstummen ist eine extreme Form der Abwehr […]. Der Verstummte gibt sich zwar nicht preis, doch dafür wirkt er gefährlicher, als er ist. Man vermutet mehr in ihm, als er verschweigt.« 27 In der Schlusseinstellung fährt die Kamera daher langsam um den Oberkörper des Präsidenten herum und fängt die regennasse, glänzende Oberfläche seines Anzugs ein, die in der Tat wie die Rüstung eines Kämpfers wirkt, an der alles abprallt. Obwohl Bartlet nicht spricht, ist seine Körperhaltung umso beredter. Die wiedergewonnene Selbstsicherheit kommt in der Haltung seiner Hände zum Ausdruck, die er langsam von dem Pult, an dem er sich zunächst noch festhält, zurückzieht und in den Hosentaschen vergräbt, eine Geste, die ihm, wie die Episode zuvor gezeigt hatte, seit seiner Jugend vertraut ist, wenn er sich Situationen ausgesetzt sieht, in denen er einer feindlichen Übermacht trotzen muss. Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, übers. v. G. Rossler, Berlin 2001, 50. Vgl. auch ebd., 52 f., wo Pomian sich explizit mit der herrschaftstechnischen Funktion politischer Semiophoren befasst, deren Aufgabe an der Spitze der sozialen Hierarchie darin besteht, die Verbindung zum ›Unsichtbaren‹ (Götter, Ahnen, Volk etc.) durch eine spezifische Verkörperung für die Gesellschaft öffentlich sichtbar zu machen: »An der Spitze der Hierarchien gibt es immer einen oder mehrere Menschen, die Zeichenträger sind, Repräsentationen des Unsichtbaren: der Götter oder des einen Gottes, der Ahnen, der Gesellschaft im Ganzen etc.« 26 Canetti, Masse und Macht, 317 (wie Anm. 5). 27 Ebd., 319. 25

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Still 9: Glanz der Rüstung (2; 22) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

4.

Korridorserie

Die souveräne Macht operiert in West Wing nicht nur im Spannungsverhältnis von body politic und body natural des Präsidenten. Das ihr zugewiesene Entscheidungsmonopol ist zugleich in komplexe institutionelle Rahmungen und Protokolle eingebunden, die die Serie, mit einem Begriff Carl Schmitts, als »Vorgang der Korridorbildung« 28 sichtbar macht. Es würde zu weit gehen, hier von einer regelrechten Subversion souveräner Machtfülle zu sprechen. Das Thema der Subversion wird in der Serie, wenn überhaupt, dann in jener Phase der Geschichte verhandelt, in der das Verhalten des Präsidenten im Hinblick auf das Verschweigen seiner Krankheit beziehungsweise die Vertuschung ihrer dokumentierten Spuren aufgearbeitet wird. Die Relativierung der souveränen Spitzenposition dagegen resultiert aus ihrer Verortung in einem architektonisch-inCarl Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Pfullingen 1954, 17.

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frastrukturellen Gefüge, das der Serie zugleich ihren Titel gibt: West Wing ist eine Korridorserie, die in der medienwissenschaftlichen Forschungsliteratur vor allem für ihre fast schon ethnografische Darstellung der äußersten »Kleinteiligkeit des Betriebs« 29 und der Fokussierung auf die Vorbereitungs- und Umsetzungsebene des Entscheidungshandelns gelobt wird. 30 Der Stab des Präsidenten agiert in einer Art administrativen »Dauerausnahmezustands« 31 , da die besten Absichten exekutiver Gestaltungsmacht permanent von den legislativen Komplizierungen des politischen Prozesses durchkreuzt werden, wie sie z. B. in der »Spezialinteressenpraxis der Anfügung blockierender Zusatzanträge« 32 zum Ausdruck kommt. Gleich der establishing shot der ersten Folge führt uns den mächtigen Chief of Staff und Vertrauten des Präsidenten vor, der in Form seines ganz speziellen Morgenrundgangs, eines im Halbsprint absolvierten Bürohindernislaufs den gesamten Korridor beziehungsweise Vorraum des Machthabers durchmisst. Dabei wird schnell deutlich, dass es sich bei diesem power walk zugleich um eine »zeitökonomische Form der Informationsakquise« 33 handelt, die auch gleich mögliche Sprachregelungen für die offizielle Stellungnahme zum Fahrradunfall des Präsidenten testet – neben all den anderen issues, auf die zeitnah zu reagieren ist (kubanische Bootsflüchtlinge, die sich der amerikanischen Küste nähern; Joshs verunglückter Talkshowauftritt; diverse Terminplanungen etc.). Das Oval Office ist zu dem Zeitpunkt, als sein Stabschef es durchläuft, noch leer, der Präsident abwesend, aber die präsidiale Maschine zur Verarbeitung der kontinuierlich eingehenden Informationen läuft bereits auf Hochtouren. Für sie kann es keinen Stillstand geben – ebenso wenig wie für die Mitarbeiter, die sie bedienen und die keine Grenzen ihrer Arbeitszeit kennen, weshalb sie die Nacht schon mal schlafend an ihren Schreibtischen statt zu Hause im Bett verbringen. Carl Schmitt, den man je nach politischer Präferenz für sein Beharren auf der Unvermeidbarkeit souveräner Entscheidungsmacht bewundert oder kritisiert, hat ausgerechnet in seinem Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber auf die strukturellen, Simon Rothöhler, The West Wing, Zürich 2012, 35. Vgl. dazu Michael Cuntz, Gehen, Schalten, Falten. Produktive Räume und Medienlogik in The West Wing, in: Navigationen 13/1 (2013), 31–52. 31 Rothöhler, The West Wing, 38 (wie Anm. 29). 32 Ebd., 37. 33 Ebd., 47. 29 30

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genauer personellen, medialen und kommunikativen Voraussetzungen jeder Ausübung souveräner Macht hingewiesen: »Es gibt keine menschliche Macht ohne diesen Vorraum und ohne diesen Korridor.« 34 »Auch der absoluteste Fürst ist auf Berichte und Informationen angewiesen und von seinen Beratern abhängig. Eine Unmenge von Tatsachen und Meldungen, Vorschlägen und Vermutungen, dringt Tag für Tag und Stunde für Stunde auf ihn ein. Aus diesem flutenden, unendlichen Meer von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeiten und Möglichkeiten kann auch der klügste und mächtigste Mensch höchstens einen Tropfen herausschöpfen.« 35

West Wing bezieht seine dramatische Kraft aus der Fähigkeit der Drehbuchautoren und Regisseure, Sprache und Bilder für diese strukturelle (quantitative wie temporale) Disproportionalität zwischen andrängender Information und souveräner Entscheidungsinstanz zu finden. Dass Sorkin auf die Idee verfiel, den Präsidenten als einen ehemaligen Wirtschaftsprofessor und Nobelpreisträger zu präsentieren, konstelliert das Problem der Unvermeidbarkeit informationeller Korridorbildung ganz nach Schmitts Vorgabe, weil sich dieses Problem ja ausdrücklich auch im Hinblick auf den mächtigsten und klügsten Souverän stellt: Ein klügerer und weiserer Präsident als Bartlet ist jedenfalls kaum vorstellbar. Ohne sich eigens auf die politische Theologie der zwei Körper zu beziehen, ist sie doch auch in Schmitts Aufsatz präsent, der in den physiologischen Einschränkungen der Person, die die souveräne Macht innehat, zugleich auch eine politische Grenze ihrer Ausübung erkennt: »Der Machthaber kann sich die berühmtesten Ärzte und Nobelpreisträger kommen lassen. Er kann sich mehr Spritzen verabreichen lassen als jeder andere. Trotzdem: nach einigen Stunden der Arbeit oder des Lasters wird er müde und schläft ein.« 36 West Wing verschärft, wie gezeigt, diese physiologische Einschränkung souveräner Machtausübung, indem die Serie den Machthaber zusätzlich mit einem unheilbar kranken Körper ausstattet und zugleich diese konstitutionelle Schwäche des ersten Körpers des Präsidenten in eine politische, also öffentlich ausgetragene causa verwandelt. So wie Schmitt in der »physischen Gefährdung« des Machthabers nur die »gröbste« und »alltäglichste« Auswirkung der konsti34 35 36

Schmitt, Gespräch über die Macht, 15 (wie Anm. 28). Ebd., 14. Ebd., 13.

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tutionellen Schwäche jedes Menschen sieht und die »objektive Eigengesetzlichkeit jeder Macht gegenüber dem Machthaber selbst« 37 als viel entscheidendere Dimension zur Seite stellt, verfährt auch die Serie, wenn sie die »unentrinnbare innere Dialektik von Macht und Ohnmacht« 38 einmal im Körper des Präsidenten selbst verankert und dann in den komplexen institutionellen und informationellen Bedingungen der Ausübung höchster Macht, über die der Präsident nicht souverän verfügt. Bei Schmitt sind die Vorräume des Machthabers Aufenthaltsorte der sogenannten »Indirekten« 39 , die deshalb mit Misstrauen zu betrachten sind, weil sie die Position des Souveräns tendenziell unterminieren oder subvertieren. Der Jurist beerbt die Polemik gegen die »Indirekten« von Thomas Hobbes, der bekanntlich in den Juristen und Theologen die Handhaber gefährlicher Unterscheidungen sah, mit denen sie die Befehle des Leviathan, der sich im Lichte der Öffentlichkeit bewegt, verwirren und die Gehorsamsbereitschaft der Bürger schwächen. Interessanterweise finden wir bei Hobbes die Behauptung eines (imaginären) Zusammenhangs zwischen der Unterminierung des Gemeinwesens durch die »scholastische[n] Unterscheidungen und schwerverständliche[n] Worte« der Indirekten und der »Epilepsie oder Fallsucht bei einem natürlichen Körper« 40 , mit der auch West Wing operiert. So wehrt in der Pilotfolge der nach einem Sturz wiederhergestellte Präsident die Forderungen der Christian Right entschieden ab, weil sie, anders als der kaum nachwirkende Fahrradunfall des ›Oberbefehlshabers‹, den politischen Körper ›in Raserei geraten‹ lassen würden, wenn sich die Regierung diese Forderungen zu eigen machte. »Antichambre, Hintertreppe, Umraum, Unterraum« 41 sind Namen, die Schmitt für den Vorraum anführt und in denen sich das Misstrauen gegen diesen politischen ›Unort‹ artikuliert. Anders als bei Hobbes und Schmitt ist in West Wing das politische Verhältnis zum Vorraum der Macht und der bunten und gemischten Gesellschaft, die sich dort zusammenfindet – Minister und Botschafter in großer Uniform, aber auch Beichtväter und Leibärzte,

Ebd., 14. Ebd. 39 Ebd., 16. 40 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651), Frankfurt a. M. 1984, 251. 41 Schmitt, Gespräch über die Macht, 16 (wie Anm. 28). 37 38

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Adjutanten und Sekretärinnen, Kammerdiener und Mätressen – gerade nicht von Paranoia geprägt. Immerhin lässt auch Schmitt keinen Zweifel daran, dass alle wohlfeile Polemik gegen die Indirekten, der seine eigene wissenschaftliche Publizistik so viel Vorschub geleistet hat, nichts daran ändert, dass die Existenz des Vorraums ›alternativenlos‹ ist. Politische Versuche, ihn zu umgehen oder gar auszurotten, sind zum Scheitern verurteilt, indem sie den Raum lediglich verlagern. West Wing geht mit dieser Einsicht in die Unvermeidbarkeit des Vorraums offensiv um, indem die Serie von Beginn an, wie am emblematischen power walk des Chief of Staff deutlich wird, auch den Raum der präsidialen Macht visuell nur als einen weiteren Passagepunkt in der räumlichen Abfolge präsentiert, der mit derselben Selbstverständlichkeit betreten und wieder verlassen werden kann, wie alle anderen Räume auch, die McGarry durchläuft. Vorraum und Raum des Präsidenten sind als Büros markiert, die zweifellos unterschiedlich dimensioniert sind und sich markant in ihren Ausstattungsmerkmalen, insbesondere im Hinblick auf Repräsentationscharakter und Hoheitszeichen, unterscheiden; der Präsident selbst teilt zudem das Pathos funktional spezifizierter Aufgabenerledigung, das seinen Mitarbeiterstab auszeichnet, indem er weniger selbst permanent Impulse zu kreativem Agenda-setting setzt, als sich mit dem stets paraten what’s next auf die fortlaufende Zulieferung von entscheidungsfähigen issues verlässt und damit als oberster Sachwalter die ungestörte Autopoiesis der Entscheidungsprozesse sicherstellt. Schmitt sieht im Übrigen den in West Wing durchgespielten Fall einer funktionalen und personalen Integration von Korridor und Raum der Macht selbst vor, wenn er ausdrücklich erwähnt, dass sich manchmal auch »kluge und weise Männer«, »fabelhafte Manager oder brave Hausmeier« im Vorraum befinden. 42 West Wing ist »auch klassisches Herrscherdrama, das überwiegend im Palast spielt«, und das sogar auf eine forcierte Weise, insofern die Serie »ein bemerkenswertes Misstrauen gegenüber jeder Form von Direktheit, Unmittelbarkeit oder Authentizität an den Tag« 43 legt. Es gibt keine Fakten, »die von und für sich selbst sprechen« 44 , denn Fakten müssen, in der Wissenschaft wie in der Politik, 42 43 44

Ebd. Cuntz, Gehen, Schalten, Falten, 41 (wie Anm. 30). Ebd., 43.

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durch mühsame Arbeit an den eingehenden Daten allererst ›zusammengesetzt‹ werden. Daher verbietet sich die Serie auch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die zudem im Modus der Ironie behandelt werden, 45 systematisch den vermeintlich direkten und unvermittelten »Blick nach draußen durch das vermeintlich transparente Fenster« 46 und situiert das politische Entscheidungszentrum in einer »anderen Raumzeit« 47 als das Land, das durch dieses Zentrum regiert wird. Um den oft »grotesken Abhängigkeiten« zu entfliehen, greifen manche Machthaber, so Schmitt, zu dem Mittel, das der Kalif al Raschid anwandte, der »als Mann aus dem Volke verkleidet, des Nachts in die Kneipen von Bagdad« ging, »um endlich die reine Wahrheit zu erfahren« 48 . Weil man den Vorraum grundsätzlich »nicht umgehen« 49 kann, versucht es West Wing erst gar nicht, sondern gibt bereits mit der Wahl des Titels zu erkennen, dass alle Kommunikation, die Regierungshandeln vorbereitet und anschließend durchsetzt, zwar auf fortlaufende Information ›von draußen‹ angewiesen ist, dass aber die Möglichkeit eines Direktkontakts zwischen System und Umwelt, West Wing und Amerika schlichte Illusion ist. Das Problem der Korridorbildung markiert den Punkt des Medialen in der politischen Kommunikation, denn Medien sind genau jene Instanzen der Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Informationen, ohne die keine erfolgreiche Kommunikation möglich ist. Dabei übergreifen Medien, begriffs- und wissensgeschichtlich gesehen, die Differenz von Personen und Techniken, wie auch schon Schmitt klar sieht, wenn er es nicht dabei belässt, den Vorraum der Macht lediglich als Versammlungsort einer »bunten und gemischten Gesellschaft« unterschiedlichster Leute zu begreifen, sondern ausdrücklich auch die apparative Dimension der Korridorbildung betont: Maschinen regeln nicht nur das Verhältnis des souveränen Machtwillens zu seiner Durchsetzung ›draußen‹, wie Schmitt unter Hinweis auf die Gefährlichkeit der modernen Destruktionsmittel, die dem Souverän zur Hand sind, betont. Wichtiger noch als jene Maschinen, die die »Kraft menschlicher Muskeln« übersteigen, sind die Maschinen, die die

45 Vgl. die Doppelfolge 20 Hours in Amerika (4;01 und 4;02) und die Hinweise bei Cuntz, ebd., 44. 46 Cuntz, Gehen, Schalten, Falten, 44 (wie Anm. 30). 47 Ebd. 48 Schmitt, Gespräch über die Macht, 15 (wie Anm. 28). 49 Ebd., 16.

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menschlichen »Gehirne« etwa im Hinblick auf deren Rechenleistung übertreffen. 50 In West Wing stehen daher den engagierten ›Hausmeiern‹ des Präsidenten all die Fernseh- und Computerbildschirme, Monitore und elektronischen Landkarten, vor allem aber die papiergestützten Medien (Akten, Dossiers, Gesetzentwürfe, Statistiken, Memos, Redemanuskripte) zur Seite, die Informationen in belastbare Tatsachen verwandeln und damit die Grundlage regierungspolitischen Entscheidens und Agierens definieren. Anders gesagt: Aus medienanalytischer Perspektive gibt es in der politischen Kommunikation kein Faktum oder Datum, das nicht verschiedenste Instanzen passiert, die es aufbereiten und seine Annahmewahrscheinlichkeit für Anschlusskommunikation erhöhen. Dass alle politische Korridor- oder ›Vorraumarbeit‹ in West Wing paperwork ist, erscheint auf den ersten Blick befremdlich, wenn man sich an das Versprechen papierloser Büros im Zuge der Digitalisierung zeitgenössischer Dienstleistungsarbeit erinnert. West Wing vollzieht für die Sphäre der regierungspolitischen Kommunikation nach, was die neuere Wissenschaftsforschung für das Labor aufgewiesen hat, das auf nichts so sehr wie auf der fortlaufenden Produktion von Inskriptionen beruht. 51 Durch das Privileg, das das Papier unter all den verschiedenen Medien und Apparaten sowie kommunikativen Formaten (Briefing, Verhandlung, Beratung etc.) genießt, gelingt es West Wing, die black box der »kollektive[n] Bastelarbeit« 52 freizulegen, die nötig ist, um politische Pläne oder Visionen in Gesetzesvorlagen und Entscheidungsgrundlagen zu verwandeln. Das Modell einer am Mausklick orientierten Kommunikation taugt nicht zur Beschreibung der Abläufe in Laboren sowie politischen Entscheidungszentralen, denn es täuscht über die tatsächliche Behäbigkeit, Umwegigkeit, Schwerfälligkeit und Indirektheit politisch relevanter kommunikativer Prozeduren hinweg. An diesen Anforderungen hat sich mit der Einführung des Computers als kommunikativer Beschleunigungstechnologie nichts geändert, denn der Computer ist seinerseits nur eines von vielen politisch Ebd., 25. Für Latour etwa, der Science in Action beobachtet, so wie West Wing es mit Politics in Action tut, ist Laborarbeit »hauptsächlich und erstrangig die fortwährende Arbeit an und mit Texten, durch die unterschiedliche Arten von Aussagen in Zustände der Tatsächlichkeit überführt werden.« (Henning Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, Hamburg 2011, 65 f.). 52 Cuntz, Gehen, Schalten, Falten, 48 (wie Anm. 30). 50 51

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relevanten Arbeitsmedien, die sich ihrerseits als eine ›bunte und gemischte Gesellschaft‹ im Vorraum der Macht zusammengefunden haben. West Wing wirft die politisch und souveränitätsgeschichtlich erstrangige Frage auf, wie sich die chain of command mit dem Präsidenten als Chef der Exekutive und Oberkommandierenden an ihrer Spitze zur chain of communication verhält, die nicht hierarchisch, sondern heterarchisch und zirkulär organisiert ist, was bedeutet, dass die Spitze der politischen Hierarchie permanent ›umgebogen‹ wird und ihre Abhängigkeit von formal untergeordneten Verantwortungsträgern und Kommunikationsprozeduren erfährt. Das Problem der Korridorbildung wird in der Serie dabei auf unterschiedlichste Weise durchgespielt: Der Walk’n Talk und die auf den Gängen und in den Büros sich vollziehende Kommunikation ist nur die eine, zweifellos dominante Weise, die labyrinthische Struktur des Vorraums auf der Ebene der Informationsbeschaffung und -verarbeitung zu visualisieren. Andere Räume wie der Situation Room, bei dem der Zugang auf die Mitglieder des National Security Council (NSC) des Präsidenten beschränkt ist, oder ein Kellerraum, der nur mit einem vorab mündlich vereinbarten Passwort betreten werden kann und in dem Dinge besprochen werden, die nicht die Sicherheit der Nation, sondern Geheimnisse betreffen, die die Privatperson des Präsidenten berühren, verschieben die Bedeutung des Vorraums vom Korridor zur Hintertreppe und zu dem, was Schmitt den ›Unterraum‹ nennt, sodass die Serie die Vielgestaltigkeit der Korridorbildung zum ausdrücklichen Thema macht.

5.

Situation Room: Die Ausdehnung des Korridors in den Macht-Raum

So sehr Schmitt allerdings auch die Abhängigkeit und Isolierung des Machthabers »durch den unvermeidlichen Machtapparat« 53 betont und damit die phantasmatischen Zuschreibungen souveräner Entscheidungsgewalt einer Kritik unterzieht, so offen bleibt in diesem für einen politischen Theologen erstaunlichen Text, was aus seinen Einsichten für das berühmte Axiom »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« 54 , folgt. Schmitt hat immer wieder die 53 54

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Schmitt, Gespräch über die Macht, 17 (wie Anm. 28). Schmitt, Politische Theologie, 11 (wie Anm. 13).

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Unvermeidbarkeit dieses souveränen Entscheidungsmonopols betont, das allen Versuchen seiner rechtsstaatlichen Zähmung und Hegung widersteht. 55 Der Begriff der Souveränität wird von Schmitt als »Grenzbegriff« 56 bezeichnet, der nicht aus der Welt geschafft werden könne, weil auch der »extreme Ausnahmefall« nicht »aus der Welt geschafft werden kann« 57 . Im Fall der souveränen Entscheidung seien Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz »notwendig unbegrenzt« 58 . Ich will hier nicht das für Schmitt-Philologen interessante Problem erörtern, wie die korridorinduzierte Abhängigkeit und Begrenztheit souveräner Macht mit dem Beharren auf der Unbegrenztheit souveräner Entscheidung im Ausnahmefall zusammenpasst, sondern abschließend zeigen, wie West Wing mit einem Zwiespalt umgeht, der weniger einem Widerspruch im Werk Carl Schmitts als vielmehr einer inneren Spannung institutionalisierter Souveränität selbst entspringt. Dieser Zwiespalt manifestiert sich immer dann, wenn eine (in der Regel außenpolitische) Situation vorliegt, für deren Behandlung es im Weißen Haus einen eigens eingerichteten Raum gibt, eben den sogenannten Situation Room, in dem, so könnte man vermuten, die souveräne Entscheidungsmacht sich unbegrenzt entfaltet. Es ist kein Zufall, dass sowohl in der Politischen Theologie Schmitts als auch in seinem späteren Begriff des Politischen der Begriff der (konkreten) Situation einen zentralen Stellenwert einnimmt, weil sich in ihr das »spezifisch-juristische Formelement« souveräner Macht, nämlich »die Dezision« offenbare. 59 Der Souverän steht einem »Ausnahmefall« gegenüber, in dem die »normale Situation« entfallen ist, die die Voraussetzung für die Anwendung des Rechts ist: »Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht. Alles Recht ist ›Situationsrecht‹.« 60 Der Souverän ist beEine »Kurze Geschichte des Ausnahmezustands«, genauer der Ausweitung exekutiver Ausnahmebefugnisse unter rechtsstaatlichen Bedingungen im 20. und 21. Jahrhundert findet sich bei Giorgio Agamben, Der Ausnahmezustand als Paradigma des Regierens, in: Ders., Ausnahmezustand (Homo sacer II,1), übers. v. U. MüllerSchöll, Frankfurt a. M. 2004, 18–32. 56 Schmitt, Politische Theologie, 11 (wie Anm. 13). 57 Ebd., 13. 58 Ebd., 12. 59 Ebd., 19. 60 Ebd., 20. 55

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fugt, geltendes Recht (für einen bestimmten Zeitraum) außer Kraft zu setzen, solange die »normale Situation« nicht vorliegt, auf die allein es anwendbar ist. Zugleich stellt Schmitt klar, dass das Entscheidungsmonopol des Souveräns, der berechtigt ist, alle Maßnahmen zu ergreifen, die ihm zur Wiederherstellung der normalen Situation notwendig erscheinen (all means necessary), auf einem Interpretationsmonopol beruht, denn, was eine normale Situation ist, entzieht sich gerade der juristischen beziehungsweise normativen Überprüfung und ist nicht ›objektiv‹ feststellbar. Der Souverän »entscheidet sowohl darüber ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen« 61 . Es hat den Eindruck, als wolle Schmitt die Relativierung höchster Macht, die er im Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber so wortreich und mit historischen Beispielen gesättigt vor Augen stellt, 62 auf die alltäglichen Regierungsgeschäfte beschränken, während er in der »konkreten Situation« 63 , die der Ausnahmefall darstellt, keinerlei Restriktionen für die Ausübung der pleins pouvoirs des Souveräns akzeptieren will. Aber die souveräne Entscheidung ist selbst im Ausnahmefall nicht hinreichend beschrieben, wenn man sie in der Nachfolge Hobbes’ auf den Sprechakt des Befehls und damit ihrer Verlautbarung reduziert. Gerade weil das souveräne Entscheidungsmonopol mit einem Interpretationsmonopol verknüpft ist, wie Schmitt ganz richtig sieht, sind im Entscheidungsprozess neben den deklarativen Akten, in denen sich die Souveränität äußert, immer zugleich auch konstative Sprechakte einbezogen, anders gesagt: Bevor der Souverän über die Mittel befindet, die in einer gegebenen Ausnahmesituation anzuwenden sind, ist er auf die Beschaffung und Auswertung von Berichten und Informationen angewiesen, weshalb selbst die als punktuell und augenblickshaft vorgestellte souveräne Entscheidung in ein Netzwerk von Zuträgern, Informanten und Berichterstattern eingebettet ist. Auch die souveräne Entscheidung wird dadurch, entgegen ihrer voluntaristischen Selbstbeschreibung, unweigerlich zum Produkt einer verteilten Handlungsmacht. Schmitt spricht im GeEbd., 13. »Das menschliche Individuum, in dessen Hand für einen Augenblick die großen politischen Entscheidungen liegen, kann seinen Willen nur unter gegebenen Voraussetzungen und mit gegebenen Mitteln bilden.« (ebd., 14). 63 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, 31. 61 62

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spräch über die Macht nicht eigens an, dass es keineswegs nur einen Korridor der Macht gibt, der ihr architektonisch vorgelagert ist, sondern dass dieser Korridor, entgegen der Unterscheidung von Vorraum (oder Verkehrsfläche) und Hauptraum, die er suggeriert, ›nirgendwo aufhört‹ und daher auch nicht von einem anderen Raum abtrennbar ist, in dem die souveräne Entscheidung vermeintlich zu sich selbst kommt. Das Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber hält letztlich an einem Dualismus aus informellem und informationellem Vorraum und souverän-repräsentativem Entscheidungsraum fest, denn so sehr Schmitt auch die Machtposition des Souveräns relativiert, so wenig nimmt er doch die juristische These von der »selbständigen Bedeutung der Dezision« 64 , die er in der Politischen Theologie begründet hatte, zurück. Wenn nun ein US-amerikanisches Verkehrsflugzeug über dem Mittelmeer durch syrische Raketen abgeschossen wird und eine erhebliche Zahl von (zivilen) Todesopfern zu beklagen ist, ist einer jener Ausnahmefälle eingetreten, der den Präsidenten in seiner Eigen64

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schaft als Commander in Chief auf den Plan und in den Situation Room ruft. Als der Präsident den Raum betritt, erwarten ihn dort allerdings an einem langen Tisch bereits seine Militärs und weitere Berater inklusive seines Stabschefs, die ihm ein mögliches Szenario vortragen, wie auf den Angriff der syrischen Seite mit militärischen Mitteln zu reagieren ist. Mit anderen Worten: Es wird für den Zuschauer völlig klar, dass sich die Funktion des Korridors in den Situation Room hinein verlängert, und zwar vor allem deshalb, weil Sorkin den Präsidenten auf die Vorschläge seiner obersten Militärs gerade nicht so reagieren lässt, wie es das für derartige Zwischenfälle vorgesehene militärische Drehbuch vorsieht. Der Präsident fällt zur großen Überraschung aller Anwesenden aus der Rolle, weil er sich weigert, einen derart drastischen Zwischenfall nach bestimmten Regeln und damit wie eine militärische ›Normalität‹ zu behandeln. Im Verlauf der Beratungen im Situation Room kommt es zu einer interessanten Vertauschung der Redepositionen, insofern es nämlich hier die militärischen Experten sind, die sich der Logik einer »proportional response« verschreiben, während der Präsident einen »extremen Fall« erkennen will, auf den nicht mit bereits umschriebenen und daher von den Feinden einkalkulierten Maßnahmen (»It’s been factored in.«) zu reagieren ist, sondern mit dem, was Bartlet eine »disproportional response« nennt: »What is the virtue of a proportional response?«, stößt der Präsident seinen obersten Militär, Admiral Fitzwallace, vor den Kopf. Eine derartige Frage ist in den scripts, die die Kommunikation im Situation Room regulieren, nicht vorgesehen, sie wird daher im strengen Sinne zunächst ›nicht verstanden‹. Für die fassungslosen Militärs gilt, was Schmitt in der Politischen Theologie von der Jurisprudenz sagt, dass sie sich ausschließlich »an den Fragen des täglichen Lebens und der laufenden Geschäfte orientiert«: »Auch für sie ist nur das Normale das Erkennbare […]. Dem extremen Fall steht sie fassungslos gegenüber.« 65 Für Bartlet ist mit dem Flugzeugabschuss der ›extreme Fall‹ eingetreten, der ihn als Souverän auf den Plan ruft und die Routinen des ›what we do‹ und ›what we have always done‹ außer Kraft setzt; die konkrete Situation, mit der er sich als Commander in Chief konfrontiert sehe, lasse nur eine Antwort zu, nämlich »total desaster«. Diejenigen dagegen, die die Einsatzpläne koordinieren und angemessene Vergeltungsszenarios ausarbeiten, die den Korridor militärischer Machtausübung be65

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Ebd., 18.

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Still 11: Total desaster (1; 3) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

setzen und ohne deren Vorarbeit und Mitwirkung dem Souverän die Hände gebunden sind, lassen zur Entrüstung des Präsidenten jedes Sensorium für den extremen Fall vermissen: anders als die Kamera, die für einen kurzen Augenblick das Porträt Ulysses S. Grants, Oberbefehlshaber des US-Heeres im Sezessionskrieg und späterer USPräsident, in Kriegsmontur und hoch zu Ross, streift: Nur wenige Serienminuten später hat der Präsident allerdings bereits ›Angst vor der eigenen Courage‹ bekommen und seine Rolle als Commander in Chief, der seine Wirkung nur in einer präzise funktionierenden chain of command entfalten kann, wiedergefunden. Sein Beitrag zur Umsetzung von Pericles 1 reduziert sich am Ende schlicht darauf, durch ein Kopfnicken die go order zu geben beziehungsweise in den Worten Fitzwallaces, der den Befehl unmittelbar telefonisch weiterleitet, »die Uhr zu starten«. Mit der Uhr ruft die Szene zugleich ein zentrales Symbol für den Ablauf eines reibungslosen Mechanismus auf, in dem es nur Rädchen und Räderwerke, aber keine souveränen Eingriffe oder Durchbrechungen geben kann. Fitzwallace ist es denn auch, der dem Präsidenten, als dieser schon dabei ist, den Situation Room zu verlassen, ein »Well done, Souveränität und Subversion

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Still 12: Sturm im Wasserglas (1; 3) – © NBC / Warner Bros. Entertainment

Mr. President« hinterher ruft und damit die erfolgreiche Einfügung der Situation in die Normalität der politischen Tagesgeschäfte bestätigt. Die Erregung des Präsidenten ist allerdings auch nach gegebenem Befehl noch nicht vollständig abgeklungen. Sie zittert in unscheinbaren, durch close-ups hervorgehobenen Gesten und in den letzten Worten nach, die er beim Verlassen des Raumes an sein zurückbleibendes team richtet: Die Zigarette, die, nur angeraucht, ins Wasserglas geworfen wird, und die resignierte Feststellung, dass er nach allem immer noch nicht wisse, »was zum Teufel wir hier eigentlich machen«.

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In seinem Buch Erlösung und Utopie hat Michael Löwy Ende der 1980er Jahre prominent die These von einer ›Wahlverwandtschaft‹ zwischen libertärem Denken und jüdischem Messianismus vertreten. 1 Gestützt auf eine soziologische Diagnose der Stellung jüdischer Intellektueller im Deutschland des 20. Jahrhunderts rekonstruiert Löwy die Geschichte der Affinität von anarchistischer Gesellschaftskritik und Judentum bei religiösen Denkern wie Martin Buber, Franz Rosenzweig und Gershom Scholem ebenso wie bei atheistischen oder assimilierten Juden wie Gustav Landauer, Ernst Bloch und Erich Fromm. Der inhaltliche Grund für diese Allianz liegt in der Kritik weltlicher, d. h. nicht zuletzt staatlicher, Herrschaft: Sowohl die Vorstellung messianischer Erlösung als auch die revolutionäre Utopie des Anarchismus zielen auf die Herstellung einer völlig anderen Welt, in der jegliche Form von Unterdrückung und Ausbeutung außer Kraft gesetzt ist. In dem nur wenige Jahre später erschienenen Buch Die Verachtung der Juden von Sarah Kofman findet sich hingegen eine Diagnose, die derjenigen Löwys diametral entgegengesetzt zu sein scheint. »[D]er Antisemitismus und der Anarchismus«, schreibt Kofman, »[gehen] nicht nur aus demselben Boden hervor, demjenigen des Ressentiments, sondern sie schließen einander notwendig ein.« 2 Diese Behauptung von der notwendigen gegenseitigen Implikation von Anarchismus und Antisemitismus kann sie aufstellen, weil KofVgl. Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, übers. v. D. Kurz/H. Töpfer, Berlin 2002. 2 Sarah Kofman, Die Verachtung der Juden. Nietzsche, die Juden, der Antisemitismus, übers. v. B. Nessler, Berlin 2002, 26. Kofman kommentiert hier eine Formulierung aus Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe in acht Bänden. Sämtliche Briefe, Bd. V (Januar 1875 bis Dezember 1879), hg. v. G. Colli/M. Montinari, München 2 2003, 309 [II.11], wo es heißt, die Pflanze des Ressentiments blühe »jetzt am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten«. 1

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man als Hauptcharakteristikum des Anarchismus einen, wie sie schreibt, ›Hass auf das Gesetz‹ identifiziert. Sie kann darauf verweisen, dass in der langen Geschichte des europäischen und insbesondere des christlichen Antijudaismus dem Judentum immer wieder die Rolle einer nur dem Buchstaben verhafteten Gesetzesreligion zugeschrieben wurde. 3 Die Figur des pathologisch gesetzestreuen Juden findet sich nicht nur in den theologischen, sondern in erstaunlicher Regelmäßigkeit auch in allen möglichen philosophischen, politischen oder literarischen Dokumenten. Für das Christentum, das sich rühmt, die Mitgliedschaft in der ecclesia von jeder ethnischen Beschränkung befreit zu haben, indem es sie an den inneren Glauben statt an äußere Werke bindet, ist die Befolgung des Gesetzes als Rechtfertigungskriterium für menschliches Handeln grundsätzlich unzureichend. Schon Paulus, der zumindest der hegemonialen Interpretation zufolge mit seinen Briefen jene Tradition der christlichen Gesetzeskritik begründet hat, konnte die jüdische Insistenz auf der Relevanz des Gesetzes nur durch einen kognitiv-emotionalen Defekt erklären: Die Herzen derjenigen Juden, welche ihre Ohren dem Evangelium verschließen, seien ›verhärtet‹ oder ›verstockt‹ (Röm 11,7). Bereits der Gnostiker Marcion zieht auf nur scheinbar paradoxe Weise aus dem universalistischen Anspruch des Christentums die Konsequenz einer radikalen Abwertung jüdischer Differenz und formuliert die paradigmatische Verbindung von Antinomismus und Antijudaismus, die dann über ein Jahrtausend später vor allem bei Luther wieder prominent zum Vorschein kommt. Die Figur des Shylock aus Shakespeares Kaufmann von Venedig, der sich aus purer Boshaftigkeit dem Flehen um Gnade seiner christlichen Schuldner verweigert, einfach nur, weil er das Recht dazu hat, säkularisiert das Motiv des jüdischen Gesetzesfetischismus und Für eine Antisemitismus-sensible Kritik der Rechtskritik vgl. Ino Augsberg, Shylocks Anspruch. Zur Kritik der Rechtskritik, in: Normativität und Rechtskritik. Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, hg. v. J. Bung et al., Stuttgart 2007, 257–267; Katrin Trüstedt, Der Buchstabe und das Leben des Gesetzes in Shakespeares »Kaufmann von Venedig«, in: Talmudische Tradition und moderne Rechtstheorie. Kontexte und Perspektiven einer Begegnung, hg. v. K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Tübingen 2013, 59–82; für einen allgemeinen Überblick der Geschichte des abendländischen Antinomismus vgl. die Beiträge in: Torah – Nomos – Ius. Abendländischer Antinomismus und der Traum vom herrschaftsfreien Raum, hg. v. G. Palmer et al. im Auftrag des FranzRosenzweig-Zentrum für Deutsch-Jüdische Literatur und Kulturgeschichte, Berlin 1999.

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repräsentiert es zugleich auf besonders emblematische Weise. Für den jungen Hegel schließlich vereinen die Juden als Volk in sich alle Fehler einer kantisch-fichteschen Moralitätsvorstellung, weil sie, statt einer vollen Vereinigung mit Anderen in Form der Liebe zu leben, einem leeren und starren Gesetzesformalismus verfallen sind; ihr gesamtes Schicksal inklusive des »schäbigen, niederträchtigen, lausigen Zustand[es], in dem es sich noch heutigentags befindet« 4 , ist für ihn darum nur die gerechte Folge dieser selbstverschuldeten Unfähigkeit, die Frohe Botschaft der Liebe Christi zu vernehmen. 5 Kofmans Beobachtung einer regelmäßigen Allianz von Antinomismus und Antisemitismus muss für die gegenwärtige Rechtskritik eine eminente Herausforderung darstellen. Systematisch formuliert kann man ihren Einwand so verstehen: Rechtskritik kann eine Herrschaftstechnik sein. Dies gilt nicht nur für die rechte Rechtskritik, wie sie prägnant Carl Schmitt repräsentiert, die am Recht vor allem die Fesselung und Einhegung souveräner Herrschaft moniert. Vielmehr betrifft dieser Einwand auch die ›linke‹ Rechtskritik, worunter man etwas unbeholfen vielleicht eine Form von Rechtskritik verstehen könnte, welche das Recht als Modus gesellschaftlicher Integration ablösen und durch eine überlegene Form von Sozialität ersetzen will (›links‹ ist hier in Anführungszeichen, denn auch diese Form der Rechtskritik kann, so die These, exkludierend und gewaltförmig sein, ist also nicht links). Das Recht sichert die Möglichkeit zur Differenz. Es sichert, heißt das, die Möglichkeit, auf die eigene Nicht-Integration zu insistieren – im Recht verbleiben zu dürfen, bedeutet außerhalb der außerrechtlichen Gemeinschaft verbleiben zu dürfen. Es autorisiert die Einzelnen zur individuellen Kaprize, unbeeindruckt von den normativen Anschauungen der restlichen Gemeinschaftsmitglieder. Der Grund für die besondere Verlockung einer ›linken‹ Rechtskritik, zur Herrschaftstechnik zu werden, liegt darin, dass sie häufig in einem harmonischen Gemeinschaftsideal oder in einer Vorstellung sozialer Versöhnung fundiert ist. Die spezifische Verlockung solcher Utopien ist der Konformismus, dessen religiöse Variante die Konversion und dessen säkulare Variante die Bildung ist;

Georg W. F. Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: Werke in 20 Bänden. Frühe Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M. 1986, 292. 5 Zum Zusammenhang von Rechtskritik und Antisemitismus beim jungen Hegel vgl. Daniel Loick, Terribly Upright. The Young Hegel’s Critique of Juridicism, in: Philosophy & Social Criticism 6/2014, 933–956. 4

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beide können in Gestalt eines sozialen Anpassungsdrucks, der in die emotional-mentale Einwilligung in präetablierte Werte resultieren soll, ein veritables Gewaltmoment beinhalten. Rechtskritik ist in einem solchen Kontext nicht Kritik an, sondern Teil von Herrschaft. Zu erkennen, dass Rechtskritik nicht immer auf der richtigen, d. h. auf der linken Seite steht, heißt, dass sie zur Kritik der Rechtskritik, dass sie zur Selbstkritik werden muss. Besteht zwischen Anarchismus und Judentum also nicht nur kein Bedingungs-, sondern sogar ein Ausschlussverhältnis? Ist Michael Löwys These also durch Sarah Kofmans Einwand widerlegt? Im Folgenden soll ein Vorschlag unterbreitet werden, wie Löwys These von der Wahlverwandtschaft zwischen jüdischem und libertärem Denken verteidigt und dennoch Kofmans Einwand Rechnung getragen werden kann. Die Pointe soll dabei darin bestehen, dass sich die anarchistische Kritik gar nicht gegen das Recht als solches, sondern gegen die Staatsgewalt, also die Souveränität richtet. Damit ist zugleich behauptet, dass es auch ein Recht ohne staatliche Gewalt – ein postsouveränes Recht – geben kann. Dieses postsouveräne Recht soll somit in der Lage sein, dem gewaltförmigen Zirkel von Recht und Rechtskritik zu entkommen. Gerade das Judentum, also ausgerechnet die Religion, die man von jeher eines herzlosen Legalismus bezichtigt, hat diese Idee bereits seit Jahrhunderten praktiziert und theoretisch reflektiert. Ich werde dafür in einem ersten Schritt kurz die zentralen Merkmale dessen konturieren, was ich in diesem Kontext als ›jüdisches Recht‹ bezeichnen will und dabei auch andeuten, warum es ein nicht-souveränes Recht ist (1), um in einem zweiten Schritt anhand einer Episode aus dem babylonischen Talmud zwei unterschiedliche Weisen darzustellen, an diese Tradition auf eine gewissermaßen ›atheistische‹ Weise anzuknüpfen, sodass es an ein anarchistisches Projekt anschlussfähig wird (2).

1.

Jüdisches Recht als nicht-souveränes Recht

In den letzten Jahren ist eine verstärkte Aufmerksamkeit an der oder vielmehr an den vielfältigen jüdischen Rechtsdiskursen zu verzeichnen. 6 Es wird dabei häufig davon ausgegangen, dass die jüdische Vgl. für den deutschen Kontext exemplarisch Eva Buddeberg/Daniel Loick (Hg.), Judentum und Praktische Philosophie. Schwerpunkt der Deutschen Zeitschrift für

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Rechtstradition sowohl aufgrund einiger der religiösen Motive, die man vielleicht zum theologischen Kernbestand des Judentums rechnen darf, als auch als Resultat der spezifischen religionssoziologischen Bedingungen, unter denen sie sich entwickelt und weiterentwickelt hat, auch für andere Kontexte – etwa rechtswissenschaftliche, philosophische, politische und literaturwissenschaftliche – einen hoch fruchtbaren Untersuchungsgegenstand abgibt. Zu den genuin theologischen Topoi zählt etwa die viele Jahrhunderte vor den modernen Vertragstheorien entwickelte Idee des Bundes als eines strukturell gleichberechtigten Verhältnisses von Gott und den Menschen, das auch in entsprechenden politischen und rechtlichen Arrangements unter den Menschen seine Entsprechung finden soll (wie es u. a. Daniel Elazar und David Novak in jüngerer Zeit herausgearbeitet haben). 7 Vielleicht noch wichtiger für die gegenwärtig zu beobachtende Intensivierung der interdisziplinären Diskussion um das jüdische Recht ist aber die grundlegende Beobachtung, dass die sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse, denen ein Rechtssystem unterliegt, Form und Inhalt dieses Systems selbst mit prägen. Für das Judentum sind dies bekanntlich Bedingungen der Diaspora; seit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 christlicher Zeitrechnung und verstärkt mit der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes im Jahr 135 musste sich das jüdische Recht ohne eigene staatliche Durchsetzungsinstanzen und zumeist in einer feindlichen Umgebung konservieren. Diese Bedingungen sind es, die das jüdische Recht von allen anderen Rechtssystemen unterscheidet. Gerade aus dieser Situation der Vertreibung und der Exklusion heraus haben sich einige Merkmale spezifisch jüdischer Rechtsdiskurse entwickelt, die es für eine heutige Bezugnahme attraktiv erscheinen lassen. Hier seien nur vier dieser Eigenschaften kurz in Erinnerung gerufen: 1. Die Rechtsgemeinschaft des Judentums ist nicht territorial umgrenzt, sondern legt andere Kriterien der Mitgliedschaft zugrunde. Diese Kriterien sind dabei keineswegs rein ethnisch definiert, sonPhilosophie, 5/2012; Augsberg/Ladeur, Talmudische Tradition (wie Anm. 3); Andreas Fischer-Lescano, Regenbogenrecht. Transnationales Recht aus den ›Quellen des Judentums‹, in: Menschenrechte. Demokratie. Geschichte. Transdisziplinäre Herausforderungen an die Pädagogik, hg. v. J. König/S. Seichter, Weinheim 2014, 163–181. 7 Vgl. Daniel J. Elazar (Ed.), Kinship and Consent. The Jewish Political Tradition and Its Contemporary Uses, New Brunswick 2 1997; Ders. (Ed.), The Covenant Connection. From Federal Theology to Modern Federalism, Lanham 2000; David Novak, Covenantal Rights. A Study in Jewish Political Theory, Princeton, NJ 2009. Souveränität und Subversion

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dern beinhalten z. B. pädagogische Elemente. Das jüdische Volk soll, wie es in Jes 49,6 heißt, ein »Licht unter den Völkern« sein. Die Konsequenz, dass es gerade aufgrund seiner außerhalb der ›schwerttaktierten‹ Geschichte der Staaten positionierten Existenz gewissermaßen die Avantgarde eines transnationalen Rechts sein könnte, haben schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Denker wie Hermann Cohen 8 und Franz Rosenzweig 9 ausformuliert. 2. Aufgrund der Diaspora-Bedingungen kann das jüdische Recht nicht auf einen staatlichen Gewaltapparat als Durchsetzungsagentur zurückgreifen. Es muss daher die Referenz im Leben der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft auf nicht-zwangsförmige Weise sicherstellen. Aus diesem Grund hat das jüdische Recht ganz andere Persuasionsressourcen entwickeln müssen, welche der römisch-christlichen Tradition gar nicht zur Verfügung standen. Die schon im Begriff ›Talmud‹ angelegte Idee des nicht mehr, weil nicht mehr gewaltförmig, angewandten, sondern nur noch ›studierten‹ Rechts als ›Pforte der Gerechtigkeit‹ hat in jüngster Zeit im Anschluss an eine Bemerkung Walter Benjamins Giorgio Agamben pointiert. 10 3. Damit hängt der Aspekt zusammen, dass sich das jüdische Recht nicht als imperativischer Befehl, sondern als Lehre versteht. Seinen ›Sitz im Leben‹ hat es darum nicht in Gerichtshäusern oder Polizeiquartieren, sondern in den Schulen und Akademien. In diesem Aspekt verbinden sich die Abwesenheit von Exekutivagenturen mit der schon in der Bibel angelegten Vorstellung, dass die Menschen ihre Rechtsauslegung vor Gott würden vertreten müssen, was eine rein passiv-gehorchende Applikation ausschließt. Weil es sich somit nicht autoritativ an seine Mitglieder adressiert, sondern auf Mündigkeit abzielt, hat Emmanuel Levinas das Judentum treffend als eine ›Religion für Erwachsene‹ 11 bezeichnet.

Vgl. Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 3 1995. 9 Vgl. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1988. 10 Vgl. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand (Homo sacer II,1), übers. v. U. MüllerSchöll, Frankfurt a. M. 2004, 77 passim; für meine eigene Interpretation der benjaminschen Idee der Entsetzung als Recht ohne Gewalt vgl. Daniel Loick, Kritik der Souveränität, hg. im Auftrag des Instituts für Sozialforschung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt a. M. 2012, besonders Teil III. 11 Vgl. Emmanuel Levinas, Eine Religion für Erwachsene, in: Ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übers. v. E. Moldenhauer, Frankfurt a. M. 2 1996, 21–38. 8

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4. Schließlich ist der jüdischen Rechtstradition das römischrechtliche Konstrukt der Instanzenhierarchie fremd, welche die naturgemäß vielstimmigen Rechtsauffassungen in einem finalen Urteil schlichtet, das bestandskräftig bleiben muss. Hieraus folgt im jüdischen Rechtsdenken eine besondere Wertschätzung und Pflege des kontroversen und dissensuellen Austausches von Rechtsmeinungen, etwa in Form der grundsätzlichen Protokollierung auch der Minderheitenmeinungen, aber auch eine beachtliche Akzeptanz fortgesetzter dissidenter Rechtspraktiken. 12 »Alle Worte sind von einem Hirten gegeben«, heißt es in der Tosefta, »mache dein Herz zu lauter Kammern und führe darin ein die Worte der Schule Hillels und die Worte der Schule Shammais, die Worte derer, die für unrein erklären und die Worte derer, die für rein erklären.« (Tosefta Sota 7,11–12) Aus diesem dynamischen Rechtsverständnis folgt auch ein verstärktes Bewusstsein der Kreativität und Flexibilität der Rechtsauslegung, weil jede Generation ihre eigene Tora finden soll. Dies hat in jüngerer Zeit Kommentatorinnen und Kommentatoren veranlasst, von einer besonderen Affinität jüdischer Rechtsdiskurse zum Rechtspluralismus zu sprechen. 13 Bereits bei oberflächlichem Blick fällt auf, dass diese vier differentia specifica des jüdischen Rechts – Aterritorialität, Verzicht auf Zwangsinstitutionen, interpretatorische Autonomie der Rechtsgemeinschaftsmitglieder und Pluralismus sowohl nach innen als auch nach außen – mit allen klassischen Souveränitätsdefinitionen in Konflikt stehen. Hier geht es nicht um die »dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt« 14 , wie es Bodin in der historisch ersten Souveränitätsdefinition bestimmt, aber auch nicht um die Konstituierung einer Gesamtkörperschaft in Form eines ›gemeinschaftlichen Ichs‹ oder mit einem Gemeinwillen, wie es die rousseausche Volkssouveränität vorsieht; das jüdische Recht greift weder auf eine kontraktualistische Zustimmungsfiktion, noch auf eine vernunftrechtliche Ableitung zurück, um eine irgendwie geartete höchste Autorität über die Rechtsgemeinschaftsmitglieder zu rechtferWie David Shatz, Interpretative Pluralism, in: The Jewish Political Tradition. Authority, Vol. I, ed. by M. Walzer et al., New Haven 2000, 339–344, betont, bedarf es für ein solches ›living with disagreement‹ freilich einer entgegenkommenden Hintergrundkultur, die solche dissidenten Praktiken zu beherbergen vermag. 13 Vgl. exemplarisch Fischer-Lescano, Regenbogenrecht (wie Anm. 6). 14 Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I-III, Bd. I, hg. v. P. C. Mayer-Tasch, übers. v. B. Wimmer, München 1981, 205. 12

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tigen. Schon hier deutet sich an, dass im jüdischen Recht weit mehr anarchistisches Potenzial liegen könnte als man es einer traditionsgebundenen – zumal religiös gestützten – Rechtsordnung gemeinhin zutrauen würde. Als entspräche es einer besonders ironischen List der Geschichte, lässt in den Augen vieler Interpreten und Interpretinnen die besondere Verfasstheit der aktuellen weltpolitischen Lage das jüdische Recht gerade aufgrund dieser Inkompatibilität mit konventionellen Vorstellungen politischer Herrschaft als ein interessantes Integrationsmodell der Weltgesellschaft erscheinen. Gerade weil die Juden über Jahrhunderte hinweg aus den klassischen Nationalstaaten und ihren etablierten Repräsentationsinstitutionen ausgeschlossen waren, so lautet diese Intuition, befanden sie sich schon in einer Situation, die für die meisten Menschen erst heute, im Zeitalter des Endes der westfälischen Weltordnung und damit einhergehend des allgemeinen Niedergangs nationalstaatlicher Institutionen, erfahrbar werden. Das jüdische Recht, das ohnehin seit 1900 Jahren dem Paradigma eines – in den Worten von Andreas Fischer-Lescano – »exterritorialen Weltrechts« 15 unterliegt, bietet sich somit besonders an, weil es ganz andere, nicht auf Zwang gestützte Konfliktschlichtungsverfahren hat entwickeln können. Wie auch Thomas Vesting schreibt, ist hier »die Geltung des Rechts von vornherein an eine netzwerkartige diffuse anonyme Autorität gebunden« 16 . Das jüdische Recht bietet somit zudem eine vielversprechende Alternative zu unitarisierenden, kosmopolitischen Entwürfen, die auf die Errichtung eines Weltstaates zielen. Statt plurale Rechtsquellen auf diese Weise zu vereinheitlichen, könnten Konflikte legaler Normordnungen kollisionsrechtlich geschlichtet werden, was dem Faktum polyzentrischer und heterogener Rechtsproduktion durch ein Konzept von »Interlegalität« 17 Rechnung tragen könnte. Dabei soll nicht einfach nach Art der römisch-christlichen Instanzenhierarchie ein bestimmtes Gesetz weltweit implementiert, sondern plurale Rechtsquellen miteinander verbunden werden.

Fischer-Lescano, Regenbogenrecht, 165 (wie Anm. 6). Thomas Vesting, ›Zuhören ist Lesen mit dem Ohr‹. Zur einmaligen Allianz von Schrift und Sprache im jüdischen Recht, in: Augsberg/Ladeur, Talmudische Tradition, 186 (wie Anm. 3). 17 Fischer-Lescano, Regenbogenrecht, 176 (wie Anm. 6). 15 16

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2.

Jüdisches Recht ohne Gott?

Diese Idee, wonach aufgrund der Bewährung des jüdischen Rechts unter nicht-staatlichen Bedingungen etwa die noachidischen Gebote als ein attraktiver Kandidat für eine Grundnorm globaler Rechtspluralität gelten könnten, sieht sich offenkundig einem fundamentalen Problem ausgesetzt. Mehr noch als der Nationalstaat ist die Weltgesellschaft multikulturell und multireligiös; es können daher von vornherein nur solche Regeln auf allgemeine Zustimmung hoffen, die nicht ihrerseits religiös gestützt, sondern prinzipiell innerweltlich einsehbar sind. Dies ist beim jüdischen Recht zunächst ebenso wenig der Fall wie beim christlichen, islamischen oder irgendeinem anderen Rechtssystem mit Gottesbezug. Soll das pädagogische Projekt, auch rechtstheoretisch und rechtspraktisch ein »Licht unter den Völkern« zu sein, dennoch nicht aufgegeben werden, kann es sich offenkundig nicht zur Voraussetzung machen, dass alle Menschen den biblischen Gott anerkennen. Die Vorbildfunktion des jüdischen Rechts betrifft daher nicht so sehr die Rechtsinhalte als die Rechtsform: Es geht nicht darum, dass alle Menschen die jüdischen Reinheitsgebote einhalten sollen, sondern dass beliebige Rechtsinhalte auf eine Weise prozessiert werden können, die ebenso wie das jüdische Recht aterritorial, zwangsfrei und plural ist und auf interpretative Mündigkeit der Rechtsgemeinschaftsmitglieder zielt. In seinem Aufsatz Zur Judenfrage hat Marx den strukturell christlichen Charakter des demokratischen Nationalstaats aufgezeigt. Obschon formal gesehen säkularisiert, konserviert dieser die spezifisch christliche Vorstellung der Jenseitigkeit des ›wirklichen Lebens‹ in Form einer Entgegensetzung zwischen einem profan-egoistischen Leben in der bürgerlichen Gesellschaft und einem geistig-gemeinschaftlichen Leben im Staat. 18 Diese Analyse lässt sich auch noch spezifizieren; wie etwa Pierre Legendre betont, drückt sich die schon früh eingegangene Allianz zwischen dem Christentum und dem rö»Religiös sind die Glieder des politischen Staats durch den Dualismus zwischen dem individuellen und dem Gattungsleben, zwischen dem Leben der bürgerlichen Gesellschaft und dem politischen Leben, religiös, indem der Mensch sich zu dem seiner wirklichen Individualität jenseitigen Staatsleben als seinem wahren Leben verhält, religiös, insofern die Religion hier der Geist der bürgerlichen Gesellschaft, der Ausdruck der Trennung und der Entfernung des Menschen vom Menschen ist.« (Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Werke. Karl Marx – Friedrich Engels. Werke, Schriften, Artikel, Bd. I, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1966, 360).

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mischen Recht etwa in einer besonderen juridischen Rationalität, genauer gesagt einer spezifisch christlichen Texthermeneutik aus, welche die Geltung eines Gesetzes immer nur in Hinblick seiner Stellung innerhalb einer machtförmig verfassten Referenzhierarchie beurteilt 19 , und Giorgio Agamben hat etwa in seiner Studie über die Engel als die Beamten des Himmels darauf verweisen können, dass selbst das Institutionendesign der modernen Bürokratie mit demjenigen einer spezifisch christlichen Himmelsökonomie korrespondiert. 20 Spricht also einiges dafür, dass zumindest viele der prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische, genauer gesagt eben christliche Begriffe sind, so stellt die jüdische Rechtstradition auch für die Neutralisierung des Gottesbezugs bereits inhärente Kapazitäten bereit. Dies lässt sich anhand einer bedeutenden Episode aus dem babylonischen Talmud plausibilisieren, die schon auf viele Philosophen und Philosophinnen eine besondere Faszination ausgeübt hat. 21 Es geht in dem Streit unter Rechtsgelehrten um die Frage der Reinheit eines Ofens, aber da es mir gerade nicht um die Frage der Rechtsinhalte, sondern um die Rechtsform geht, ist das zum Verständnis zweitrangig. Der bedeutende Rabbi Eliezer steht hier mit seiner Meinung allein gegen die Mehrheit: »An jenem Tage machte R. Eliezer alle Einwendungen der Welt, man nahm sie aber von ihm nicht an. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mag dies dieser Johannisbrotbaum beweisen! Da rückte der Johannisbrotbaum hundert Ellen von seinem Orte fort; manche sagen: vierhundert Ellen. Sie aber erwiderten: Man bringt keinen Beweis von einem Johannis-

Vgl. Pierre Legendre, Die Juden interpretieren verrückt. Gutachten zu einem Text, in: Ders., Vom Imperativ der Interpretation. Fünf Texte. Schriften I, übers. v. S. Hackbarth, Wien 2010. 20 Vgl. Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer II,2), übers. v. A. Hiepko, Berlin 2010, 165–188. 21 Vgl. exemplarisch die Interpretationen bei Micha Brumlik, Das rabbinische Verständnis theologischer Wahrheit – ein Vorläufer pragmatistischer Wahrheitstheorien, in: Ders., Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition, Baden-Baden 2013, 119–132; Ronen Reichman, Abduktives Denken und talmudische Argumentation. Eine rechtstheoretische Annäherung an eine zentrale Interpretationsfigur im babylonischen Talmud, Tübingen 2006; Susan Handelman, The Slayers of Moses. The Emergence of Rabbinic Interpretation in Modern Literary Theory, Albany 1982, 40 f.; Daniel Boyarin, Intertextuality and the Reading of Midrash, Bloomington 1990, 34 ff. 19

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brotbaume. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mag dies dieser Wasserarm beweisen! Da trat der Wasserarm zurück. Sie aber erwiderten: Man bringt keinen Beweis von einem Wasserarme. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mögen dies die Wände des Lehrhauses beweisen! Da neigten sich die Wände des Lehrhauses und drohten einzustürzen. Da schrie R. Jehoschua sie an und sprach zu ihnen: Wenn die Gelehrten einander in der Halakha bekämpfen, was geht dies euch an! Sie stürzten hierauf nicht ein, wegen der Ehre R. Jehoschuas, und richteten sich auch nicht gerade auf, wegen der Ehre R. Eliezers; sie stehen jetzt noch geneigt. Hierauf sprach er: Wenn die Halakha wie ich ist, so mögen sie dies aus dem Himmel beweisen! Da erscholl eine Hallstimme und sprach: Was habt ihr gegen R. Eliezer; die Halakha ist stets wie er. Da stand R. Jehoschua auf und sprach: Sie ist nicht im Himmel. – Was heißt: sie ist nicht im Himmel? R. Jirmeja erwiderte: Die Tora ist bereits vom Berge Sinaj her verliehen worden. Wir achten nicht auf die Hallstimme, denn bereits hast du am Berge Sinaj in die Tora geschrieben: nach der Mehrheit zu entscheiden. R. Nathan traf Elijahu und fragte ihn, was der Heilige, gepriesen sei er, in dieser Stunde tat. Dieser erwiderte: Er schmunzelte und sprach: meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt.« (Babylonischer Talmud, Baba Metzia 59b)

Es geht in dieser Episode nicht nur um eine Kontroverse bezüglich einer spezifischen Streitfrage, nämlich die Reinheit eines Ofens, sondern auch um die kasuistische Frage der grundsätzlichen Legitimität textfremder Argumente im Rechtsdiskurs. Nachdem es ihm misslingt, die anderen von der Richtigkeit seiner Interpretation mittels rechtstext- oder fallbezogener Argumente zu überzeugen, setzt Rabbi Eliezer auf die persuasive Kraft einer Reihe übernatürlicher Machtdemonstrationen, die von den anderen aber konsequent mit dem Hinweis zurückgewiesen werden, dass Wunder für die juristische Auslegung irrelevant sind. Was mit einer konsequenten Neutralisierung jeder außertextuellen Autorität beginnt, endet mit der Depotenzierung Gottes und somit des obersten Gesetzgebers selbst. Die Entfernung Gottes als finale Referenz schlägt sich in der Form der Rechtsauslegung nieder; ihr entspricht ein rein immanent-prozeduralistisches Vorgehen, das Wahrheit nicht durch außertextuelle Evidenzerfahrungen, sondern nur durch Teilnahme an einem Diskurs ermitteln zu können glaubt. 22 Der Sieg über Gott ist zugleich Vgl. Reichman, Abduktives Denken (wie Anm. 21). Ich verstehe auch den Hinweis Boyarins, Intertextuality, 35 (wie Anm. 21), dem Midrasch gehe es nicht um interpretative Anarchie, als kompatibel mit dieser Lesart: ›Sie ist nicht im Himmel‹ bedeutet nicht, dass jedes Argument gerechtfertigt ist – sondern gerade, dass bestimmte

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der Sieg über eine hierarchische Referenzstruktur, die sich wie im römisch-christlichen Recht nicht anders als autoritär und imperativisch Geltung verschaffen kann. Gott, heißt das, ist im jüdischen Recht nicht nur wie in den säkularen bürgerlichen Nationalstaaten ›inhaltlich‹, nicht nur als explizit benannte Position eliminiert, sondern auch strukturell. Der Grund des Gesetzes wird zu einem abwesenden Grund. An dieser Episode lassen sich auch gut zwei unterschiedliche (einander widersprechende, sich aber auch ergänzende) Weisen konturieren, die gegenwärtig für das Projekt typisch sind, an das jüdische Recht auf eine atheistische Weise anzuknüpfen: eine postmodern-dekonstruktive und eine modern-diskursethische. Die postmoderne Strategie wird u. a. vertreten von Autorinnen und Autoren wie Susan Handelman 23 , José Faur 24 und Daniel Boyarin 25 , in Deutschland u. a. von Karl-Heinz Ladeur/Ino Augsberg 26 und Thomas Vesting 27 . Sie findet ihre Berechtigung vor allem in einer Strukturähnlichkeit des jüdischen Interpretationsmodus mit einer dekonstruktiven Auffassung von Textualität. Deren Einsatz ist die Affirmation des Todes des Autors beziehungsweise der Autorintention. Die etwa in dem Satz ›Sie ist nicht im Himmel‹, der in der Debatte um die Reinheit des Ofens von Achnai der Diskursverweigerung des Rabbi Eliezer entgegengehalten wird, gebannte Möglichkeit der Referenz auf eine außertextuelle Autorität entfernt aus dem Rechtsstreit ein wesentliches Diskurshemmnis. Divergierende, sogar sich widersprechende Auslegungen sind nicht wie in der römisch-rechtlichen Instanzenhierarchie ein Makel, der in einem finalen Urteil überwunden werden soll, sondern gerade der Kern des rabbinischen Rechtsdiskurses. Es kommt so nicht nur zu einer internen Amalgamierung von Gesetz Argumente nicht gerechtfertigt sind. In gewissem Sinne wird die interpretative Freiheit hier also sogar eingeschränkt, allerdings mit dem Ziel, Interpretationsfähigkeit für die Zukunft offen zu halten: Ausgeschlossen sind nur solche Argumente, die auf Schließung des Diskurses abzielen. 23 Vgl. Handelman, Slayers (wie Anm. 21). 24 Vgl. José Faur, Golden Doves with Silver Dots. Semiotics and Textuality in Rabbinic Tradition, Bloomington 1986. 25 Vgl. Boyarin, Intertextuality (wie Anm. 21). 26 Vgl. Augsberg/Ladeur, Talmudische Tradition (wie Anm. 3); Dies., ›Der Buchstaben tötet, aber der Geist machet lebendig‹ ? Zur Bedeutung des Gesetzesverständnisses der jüdischen Tradition für eine postmoderne Rechtstheorie, in: Rechtstheorie 40/ 4 (2009), 431–471. 27 Vgl. Vesting, Zuhören (wie Anm. 16).

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und Gesetzeskommentar, 28 sondern auch zu einer besonderen Pflege des Streits und des Dissenses, weil Wahrheit nie in der Korrespondenz einer Auffassung mit einer externen Sache besteht, sondern sich erst in verschiedenen, miteinander wetteifernden Rechtsmeinungen ausdrückt. 29 Der Kommentar ist somit keine nachträgliche, zum eigentlichen Rechtsgeschäft gewissermaßen ›zusätzlich‹ hinzutretende Dimension, vielmehr schützt der Wettstreit der Interpretationen sowohl vor einer Erstarrung als auch einer Erschlaffung der Auslegung und ermöglicht zugleich, neuen Sachgehalten des Lebens immer neu gerecht werden zu können. Die Loslösung von der Autorintention erlaubt zudem eine besondere Flexibilität und Offenheit für interpretatorische Kreativität, welche es jeder Generation ermöglicht, eine neue Bedeutung des Textes zu entdecken. Neben diesem sehr verbreiteten postmodernen Ansatz gibt es auch Versuche, jüdische Rechtsdiskurse an das Projekt einer von Jürgen Habermas inspirierten universalpragmatischen Diskursethik anzunähern. Einen solchen Ansatz vertreten in Deutschland etwa Micha Brumlik und Ronen Reichman. Brumlik sieht das rabbinische Wahrheitsverständnis als Vorläufer pragmatistischer Wahrheitstheorien, weil es weder eine außerdiskursive Referenz wie einen göttlichen Willen als Master-Argument zulässt, noch einen drittpersonalen Beobachterstandpunkt, der sich außerhalb des Geschehens positioniert, zumal das rabbinische Wahrheitsverständnis die Wahrheitssuche einer demokratischen Konsensbildung anheimstellt. 30 Auch Reichman vertritt in seiner Untersuchung zu den für den rabbinischen Rechtsdiskurs typischen Argumentationsmustern die These, dass sich die rabbinische Rechtskultur »einem rationalen Rechtsethos [verpflichte; D. L.], das die kommunikative Vernunft des diskursiven Verfahrens ins Zentrum rückt« 31 . Rabbinische Argumentationsmuster erkennt er als Prototyp eines »verständigungsorientiert[en] Sprachgebrauch[s]« 32 . Zwar verweist Reichman auch darauf, dass der Talmud Fälle eines gerade nicht kommunikativen, sondern strategischen Sprachgebrauchs wie etwa die Diskursverweigerung des RabVgl. Augsberg/Ladeur, Buchstaben, 452 (wie Anm. 26); Faur, Golden Doves, 13 ff. (wie Anm. 24); Vesting, Zuhören, 184 ff. (wie Anm. 16). 29 Vgl. Jeffrey I. Roth, The Justification for Controversy under Jewish Law, in: California Law Review 76/2 (1988), 337–387. 30 Vgl. Brumlik, Das rabbinische Verständnis (wie Anm. 21). 31 Reichman, Abduktives Denken, 105 ff. (wie Anm. 21). 32 Ebd. 28

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bi Eliezer im angeführten Beispiel kennt und sich das rationale Potenzial des rabbinischen Rechtsethos dann nicht entfalten kann. Gerade konservative Strömungen verstanden beispielsweise den Begriff der Tradition als Gegenbegriff oder Schranke gegen Erneuerungsversuche in Form von Rechtsfortbildungen. Gleichzeitig zeigen aber gerade Episoden wie die der Debatte um den Ofen von Achnai auch die bemerkenswerte Belastungsfähigkeit des rabbinischen Diskurses; letztlich sind jegliche Versuche der Kommunikationsverweigerung oder des Diskursabbruchs der verständigungsorientierten Rationalität der demokratischen Interpretationsgemeinschaft unterlegen. Die moderne und die postmoderne Perspektive sind in Bezug auf das Projekt einer atheistischen Aneignung jüdischer Rechtstradition zwar zum einen Konkurrenten, zum anderen aber auch Bündnispartner. Zwar widersprechen sich die beiden Ansätze durchaus, vor allem hinsichtlich der Frage der Konsensorientierung der Argumentationsweisen der Rabbiner: Zielt der rabbinische Rechtsdiskurs in einem habermasschen Sinne auf eine letztliche Einigung durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments oder geht es um eine Fortführung und Kultivierung eines dissensuellen, kontestativen und durchaus agonistischen Streits? Gleichzeitig sind sich beide Ansätze aber auch in mindestens einem wesentlichen Punkt einig: der Ablehnung einer außerdiskursiven Referenz als Wahrheitsgarant und somit aller nur macht- oder autoritätsgestützten Argumentationsweisen. Die Gemeinschaft der Interpreten und Interpretinnen kennt nur die Teilnehmerinnenperspektive; niemand, nicht einmal Gott, verfügt über ein privilegiertes Wissen, das über dem Wissen der anderen steht; niemand, so lautet also die durchaus anarchistische Pointe dieser Immanenzperspektive, hat das Recht, den kollektiven Prozess der Gesetzesauslegung einzuschränken oder zu beenden. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass sich die jüdische Rechtstradition umstandslos und ohne Verluste in ein zeitgenössisches anarchistisches Projekt übersetzen ließe. Suzanne Last Stone hat am deutlichsten davor gewarnt, im Zuge einer Romantisierung des Judentums vorschnell über die Hindernisse gegenüber einer solchen Annäherung hinwegzugehen und so auch gerade den spezifisch theologischen Gehalt des jüdischen Rechts preiszugeben. Einer ihrer Haupteinwände ist dabei, dass das jüdische Recht eben doch wesentlich ein göttliches Recht ist – und dass in seinem göttlichen Ursprung eine ganz zentrale Grenze der Neu-Interpretation, vor allem aber auch der demokratischen Aneignung liegt. Schon allein die Notwen112

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digkeit, den Kern der Tora in einer oft feindlichen Umgebung zu bewahren, erfordere eine Suspension des kritischen Urteils und der interpretativen Freiheit. 33 Stone führt diese Grenzen so vor, dass sie einen postmodernen Rechtstheoretiker in einen fiktiven Dialog mit einem Halachisten bringt; der postmoderne Theoretiker wird sich angesichts des konstitutiven Konservatismus des Halachisten, schon allein in Fragen der Geschlechterverhältnisse, konsterniert die Augen reiben. Zudem ist auch die rabbinische Rechtsauslegung alles andere als gewaltlos und somit vom Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft noch weit entfernt; dies zeigt sich im zitierten Beispiel der Debatte um den Ofen von Achnai schon allein darin, dass die diskursive Niederlage Rabbi Eliezers mit einer rigorosen Verbannung aus der Gemeinschaft quittiert wird. 34 Trotz dieser Probleme aber bietet diese Interpretation des jüdischen Rechts als nicht-souveränes Recht eine Möglichkeit, die These von Michael Löwy mit dem Einwand von Sarah Kofman zu versöhnen. 35 Denn auf diese Weise kann eine Herrschaftskritik formuliert werden, die nicht in dem paulinischen und post-paulinischen Hass auf das Gesetz gefangen bleibt und die somit den gewaltförmigen Zirkel von Recht und Rechtskritik durchbricht. Anarchistische Herrschaftskritik zielt dann nicht mehr auf etwas Anderes als Recht, sondern auf ein anderes Recht: ein Recht ohne Staat und Vgl. Suzanne Last Stone, In Pursuit of the Countertext. The Turn to the Jewish Legal Model in Contemporary American Legal Theory, in: Harvard Law Review 106 (1993), 813–896. 34 Gemessen an der sonstigen Gewalt in der Bibel mutet diese Episode freilich eher harmlos an. Es handelt sich bei der Verbannung des Rabbi Eliezer um eine mit Mitteln der Gewalt vorgenommene Immunisierungsstrategie der anarchistischen Gemeinschaft gegen Tendenzen der Verstaatlichung; wie bei den von Pierre Clastres, Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 1976, ethnologisch untersuchten Völkern handelt es sich bei der rabbinischen Interpretationsgemeinschaft um ›Staatsfeinde‹. 35 Micha Brumlik, Politische Philosophie des Judentums und Globalisierung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60/5 (2012), 760, sieht das noachidische Gebot der Einrichtung von Institutionen in einer Spannung mit den messianischen Strömungen im Judentum. Mit dem hier vorgeschlagenen Konstrukt eines herrschaftsfreien Rechts rücken die beiden Pole wieder näher aneinander. Im Hintergrund steht die verschlungene Debatte um die Frage, was mit dem Gesetz in der messianischen Zeit geschieht, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Der Kommentar zum Römerbrief von Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, übers. v. D. Giuriato, Frankfurt a. M. 2006, ist dabei der bislang überzeugendste Beitrag zu diesem Problem. 33

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Herrschaft, das sich an seine Adressatinnen und Adressaten nicht in Form von Befehlen richtet, sondern auf ihre Mündigkeit zielt, und das kein identitäres oder gar völkisches Kollektiv formiert, sondern eine, in den Worten José Faurs, horizontal society, die sich als community of interpreters nur durch internen Dissens und Dissidenz verwirklichen kann.

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Masse – Volk – Multitude. Überlegungen zur Quelle demokratischer Legitimität* Juliane Rebentisch

Im Gegensatz zur Aristokratie, der Herrschaft der Besten oder der auserwählten Wenigen, lässt sich die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, als die Herrschaft der Vielen oder sogar als die Herrschaft aller verstehen. 1 Demokratie bedeutet, wie eine einflussreiche Traditionslinie politischer Philosophie deshalb übersetzt, Herrschaft der Masse. Und gemeinhin ist mit dieser Formulierung nichts Gutes gemeint. Denn während die Demokratie ihrer Idee nach auf die Selbständigkeit, Vernünftigkeit, Ich-Stärke und Urteilsfähigkeit der unzähligen Einzelnen baut, etabliert sie, so der Vorbehalt, faktisch Mechanismen, die diese Bedingungen untergraben. Vor allem dafür steht hier der Begriff der Masse: In der Masse gehen die Differenzen zwischen den Einzelnen, gehen ihre Individualität und Urteilsfähigkeit unter; die Demokratie verliert so ihre Basis und verkehrt die Freiheit, die sie etablieren wollte, tendenziell in ihr Gegenteil. Demgegenüber träumen Teile des zeitgenössischen politischen Denkens, namentlich vor allem Antonio Negri und Michael Hardt, von einer, wie sie sagen: ›absoluten Demokratie‹, 2 einer Herrschaft der Vielen, welche die Singularität der Einzelnen nicht zum Verschwinden brächte, sondern im Gegenteil vollständig realisierte. Dafür vor allem steht in der zeitgenössischen Verwendung der Begriff der Multitude: Multitude ist eine vielgestaltige Menge, die niemals auf eine Einheit zu

* Dieser Beitrag ist erstmals in der Zeitschrift WestEnd 8/2 (2011), 3–18, erschienen und wird hier wieder abgedruckt. 1 Der Beitrag von Juliane Rebentisch gibt […] einen Vortrag wieder, den sie (am 19. Januar 2011) im Rahmen der Vortragsreihe à jour ›Gemeinsam im Niemandsland. Auf der Suche nach einer neuen Sozialordnung‹ in der Frankfurter Zentralbibliothek gehalten hat. Die Überlegungen zu Platon gehen zurück auf Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012, Kap. I. 2 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, übers. v. T. Atzert, Frankfurt a. M. 2004. Souveränität und Subversion

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reduzieren ist. Sie soll sich deshalb ebenso von der Uniformität der Masse abheben wie von der Identität des Volkes. Im Folgenden will ich mich kritisch mit beiden Verständnissen einer demokratischen Herrschaft des Volkes als einer Herrschaft der Vielen auseinandersetzen. Zunächst – und das wird den bei weitem größten Teil meines Vortrags ausmachen – werde ich mich der antidemokratischen oder demokratieskeptischen Kritik der Masse zuwenden und hier verschiedene Ebenen unterscheiden. Aus meiner Verteidigung der Demokratie (oder vorsichtiger: ihrer Potenziale) gegen die verschiedenen Aspekte der Massenkritik wird sich dann eine Perspektive ergeben, aus der – erst ganz am Ende meines Vortrags – die Utopie einer absoluten Demokratie, in der die Herrschaft der Multitude realisiert wäre, paradoxerweise im Namen der Idee der Multitude zurückgewiesen werden muss.

I Die früheste demokratietheoretisch artikulierte Kritik der Masse findet sich bei Platon. Platon bringt sie vor als Erklärung für den Untergang Athens; und er artikuliert sie aus der Perspektive eines aristokratischen Vorbehalts gegen die Ersetzung einer Herrschaft der Besten (eben: der Aristokratie) durch eine Herrschaft der Masse (der Demokratie). Die Demokratie, so die platonische Diagnose, muss früher oder später an der Rohheit der Massen zugrunde gehen, von deren Urteilsfähigkeit sie sich zuvor abhängig gemacht hat. In dem Maße nämlich, wie der Masse aufgrund ihrer mangelnden Bildung keine Urteilskriterien zur Verfügung stehen, ist sie manipulierbar. Sie ist dann nichts als formbare Masse, widerstandsloser Stoff, in der Hand derjenigen, die sich auf die Verführung der Massen verstehen. Denn in der Demokratie, lässt Platon seinen Sokrates in der Politeia sagen, fragt niemand, »von was für Bestrebungen und Geschäften einer herkomme, der an die Staatsgeschäfte geht, sondern [hält; J. R.] ihn schon in Ehren […], wenn er nur versichert, er meine es gut mit dem Volk« 3 . Die Macht der Regierung beruht mithin nicht mehr auf einer Kenntnis der Besten, die das Beste kennen; vielmehr steht es Platon, Politeia, in: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. V, hg. v. K. Hülser, übers. v. F. D. E. Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1991, Rep. 558b.

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dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz gemäß prinzipiell jedem – und das heißt: jedem Dahergelaufenen, Beliebigen – frei, das Amt der Regierung anzustreben. Damit aber liefert sich das demokratische Volk, so die Diagnose, bereits dem Bann des Scheins aus. Denn sofern keine Regeln vorab bestimmen, wer regieren darf und wer nicht, müssen sich die Anwärter auf ein politisches Amt vor dem Volk, aus dem sie selbst hervortreten, produzieren. Nichts anderes als die Zustimmung des Volkes zu diesen Inszenierungen legitimiert die politische Macht. Für Platon bedeutet dies eine Perversion: Die natürliche Ordnung des Staates unter der Herrschaft der Besten transformiert sich in ein Spektakel, in dem es auf der einen Seite nur mehr oder weniger rhetorisch begabte Politikdarsteller gibt, auf der anderen Seite aber ein beängstigend unwissendes Publikum, dem für sein politisches Urteil nichts als seine schiere Beeindruckbarkeit zur Verfügung stehen soll. Daher findet denn auch das Bild der dummen, durch Rhetorik und andere Oberflächenreize zu beeindruckenden Masse bei Platon sein Paradigma am Theaterpublikum. Und zwar an einem von schlechter Kunst falsch erzogenen Theaterpublikum. Der Niedergang Athens, lässt er den ›Athener‹ in den Nomoi berichten, begann mit Dichtern, die zwar begabt, aber »ohne Kenntnis des Rechten und Gesetzmäßigen in den Musenkünsten waren« und sich deshalb vom »Taumel der Begeisterung hinreißen ließen und über Gebühr daran hingen, (ihren Zuhörern) Genuß zu bereiten« 4 . Schwerwiegender noch als der Verstoß der jungen Talente gegen die Regeln der Kunst ist dabei der Umstand, dass so das Publikum zur maßgeblichen Instanz gemacht wird. Selbst regellos, ermuntert die neue Kunst ein ungebildetes Publikum, auch ohne Kenntnis der alten Regeln, nämlich allein auf der Basis von Lust oder Unlust, über sie zu urteilen. An die Stelle der Autorität des sogenannten guten Geschmacks mit seinen Regeln tritt nun die spontane Äußerung der Masse. Platon beschreibt sie als »Zischen«, »rohe[s] Geschrei«, »Beifallsklatschen« 5 . So aber, schreibt Platon weiter, wurde aus »einer Herrschaft der Besten [der Aristokratie; J. R.] eine schlimme Massenherrschaft des Pu-

Platon, Nomoi, in: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. IX, hg. v. K. Hülser, übers. v. F. D. E. Schleiermacher ergänzt durch F. Susemihl, Frankfurt a. M. 1991, Leg. 700d. 5 Ebd., Leg. 700c. 4

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blikums [eine Theatrokratie; J. R.]« 6 . Und eben diese schlimme Massenherrschaft des Publikums, die Theatrokratie, ist für Platon nichts anderes als das wahre Gesicht der Demokratie: Die Volksherrschaft besteht nicht aus »freien und eines freien Mannes würdig denkenden Männern«, vielmehr aus einem dummen, dazu aber noch unverschämten Volk, das Scheu und Ehrfurcht gegenüber dem Urteil der Besseren eingetauscht hat für die »dreiste Einbildung, ein Jeder verstehe sich auf Alles« 7 . Unter diesen Bedingungen kann es für Platon mit der Demokratie nur bergab gehen: Am Ende werden sich die charismatischen Schurken durchsetzen, »feurige […] Unholde« 8 , wie Platon formuliert, Typen, die das Volk zu beeindrucken wissen. Das Schicksal der Demokratie scheint damit besiegelt: Sie wird sich früher oder später in eine Tyrannei verwandeln. Die Demokratie macht mit anderen Worten aus dem funktionierenden politischen Gemeinwesen ein unkultiviertes Niemandsland, das keiner anerkannten Macht mehr untersteht und in dem deshalb die Willkür zur Herrschaft gelangen muss. Nun ist Platons einflussreiche Kritik an der Theatrokratie, der Massenherrschaft des Publikums, von einer demokratietheoretisch interessanten Zweideutigkeit. Erstens handelt es sich offenkundig um eine aristokratische Kritik am Niedergang der Tradition durch den Aufstieg der unverschämt gewordenen Massen, zweitens aber um eine Kritik an der Irrationalität der Masse. Beides liegt aus der Perspektive einer Apologie der Demokratie jedoch nicht ganz so eng zusammen, wie es uns die Theatrokratiekritik weismachen will. Beginnen möchte ich mit dem ersten Strang der platonischen Theatrokratiekritik, der aristokratischen Kritik am Niedergang der Tradition durch die unverschämt gewordenen Massen. Sie hat bis heute viele Anhänger gefunden. Hinsichtlich der Fortschreibung der platonischen Verquickung von theater- und massenkritischen Motiven jedoch findet sie ihren vielleicht markantesten modernen Exponenten in Nietzsche. So klagt Nietzsche 1874, dass es sich »bis jetzt noch als unmöglich« erwiesen habe, die »Theatrokratie wieder zu beherrschen« 9 . Der, wie Nietzsche schreibt, aus »dilettantischen SchwärEbd. Ebd., Leg. 701af. 8 Platon, Politeia, Rep. 559d (wie Anm. 3). 9 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Nietzsche-Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. III,4 (Sommer 1872 bis Ende 1874), hg. v. G. Colli et al., Berlin 1978, 389. 6 7

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mern« 10 , Laien und »Kunst-Idioten« 11 bestehende »Theaterpöbel« 12 hat vielmehr überall Oberwasser; er organisiert Vereine, wie Nietzsche angeekelt feststellt, und schwingt sich zum Richter auf. Das Theater, diese »Massen-Kunst par excellence« 13 , hat sich durchgesetzt; es ist die Kunstform im demokratischen »Jahrhundert der Menge« 14 . Mit dem guten Geschmack ist es damit vorbei. »Das Theater«, notiert Nietzsche in Der Fall Wagner, »ist eine Demolatrie in Sachen des Geschmacks, das Theater ist ein Massen-Aufstand, ein Plebiscit gegen den guten Geschmack« 15 . Was Nietzsche im Blick auf Bayreuth beschreibt, tritt vor dem platonischen Horizont sogleich in seinen politischen Implikationen hervor. Denn was in der Kunst als Geschmacklosigkeit diskutiert wird, bedeutet in der Politik Kriterienlosigkeit in Fragen des Gemeinwohls. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die unwissende Masse bereits bei Platon nicht etwa unwissend in einem absoluten Sinne ist. Das Problem besteht nach Platon nicht etwa darin, dass das demokratische Volk überhaupt keine Regeln kennt, sondern darin, dass es nicht die richtigen kennt. So zeichnet Platon in der Politeia ein Bild des Demokraten, der zwar aufgrund seiner mittelmäßigen Erziehung um das Bessere weiß, nicht aber um das eigentlich und wahrhaft Gute. Gerade an diesem Punkt erweist sich Platons Kritik jedoch aus heutiger Perspektive als ausgesprochen schwach, denn in diesem Sinne unwissend, so kann man mit Recht gegen Platon einwenden, sind wohl alle gewöhnlichen Sterblichen. Die Idee eines letzten Wissens um das eigentlich und wahrhaft Gute erscheint dem nachmetaphysischen Denken heute unhaltbar. Das Gute – das ist es, was wir heute mit Gewissheit wissen – ist uns nur als ein Geschichtliches gegeben. Das, was wir jeweils für das Beste halten, ist selbst historisch wandelbar. Es ist durch veränderte Gegebenheiten, durch die Erfahrung von Neuem, Fremdem, je Besonderem irritierbar

Ders., Nachgelassene Fragmente, in: Nietzsche-Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VII,3 (Herbst 1884 bis Herbst 1885), hg. v. G. Colli et al., Berlin 1974, 406. 11 Ders., Der Fall Wagner, in: Nietzsche-Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI,3 (August 1888 bis Anfang Januar 1889), hg. v. G. Colli et al., Berlin 1969, 36. 12 Ders., Fragmente, 406 (wie Anm. 10). 13 Ders., Nietzsche contra Wagner, in: Nietzsche-Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI,3 (August 1888 bis Anfang Januar 1889), hg. v. G. Colli et al., Berlin 1969, 417. 14 Ders., Fragmente, 410 f. (wie Anm. 10). 15 Ders., Fall Wagner, 36 (wie Anm. 11). 10

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und bleibt deshalb grundsätzlich für die Möglichkeit der Revision offen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Szene, die Platon in den Nomoi schildert, in einem anderen Licht. Denn die neue regellose Kunst, von der hier die Rede ist, bietet eben dies: eine Erfahrung von Neuem und Fremdem. Die Reaktion der Lust oder Unlust wird hier von etwas erregt, für dessen Beurteilung noch keine Regeln bereitstehen. Die Beurteilung dieser Kunst ist deshalb notwendig subjektiv: Das Subjekt urteilt selbst, ohne Rückhalt in der Autorität der Tradition. Anders als es bei Platon dargestellt wird, bedeutet dies jedoch nicht, dass das Urteil über solche Gegenstände allein auf den unmittelbaren Reaktionen der Lust oder Unlust gründet. Vielmehr können solche Reaktionen eine Reflexion anstoßen, die das Neue, Fremde ins Verhältnis zum Tradierten, Bekannten setzt und daraufhin urteilend entweder als Regression verwirft oder aber als Fortschritt annimmt, sodass der zuvor maßgebliche Begriff des Guten einer Veränderung unterzogen wird. In diesem Sinne lässt sich das demokratische Subjekt gegen Platon verteidigen: Es ist keineswegs ohne Regeln – es handelt sich hier durchaus um ein sozialisiertes, ein, wie Platon selbst sagt: erzogenes Subjekt –, aber es vermag die Regeln unter Umständen – aufgrund der Erfahrung, die es im Austausch mit Neuem und Fremdem macht – zu ändern. Dass das Urteil, das Geschmacksurteil wie das politische Urteil, deshalb als prinzipiell fallibel konzipiert werden muss, entwertet nicht das Urteilen überhaupt. Im Gegenteil, seine Fallibilität steht in einem direkten Zusammenhang mit seiner Freiheit. Nur weil wir durch neue Eindrücke und fremde Impulse beeindruckbar sind und dadurch von unseren anerzogenen Prinzipien abrücken können, kann es ein freies Urteil, kann es ein selbstbestimmtes Leben geben. Denn nur dann kann sich die Frage nach dem Guten überhaupt als Frage stellen. Nur dann gibt es die Möglichkeit, dass wir uns die soziale Praxis, deren Teil wir sind, aneignen oder verändernd auf sie einwirken können. Wahre Ich-Stärke, könnte man auch sagen, kann es nur geben, weil sich die vermeintliche Schwäche einer Offenheit des Subjekts für und Durchlässigkeit auf eine veränderliche Welt nie ganz überwinden lässt. Die auf eine reine, d. h.: unirritierbare Ich-Stärke reduzierte Freiheit wäre demnach geradezu die Negation von Freiheit, und zwar in dem Maße, wie sie sich als eine Autonomie missversteht, die gegen jede Heteronomie abzuschotten wäre. Freiheit bedeutet nicht primär, sich gegenüber veränderten Bedingungen oder unerwartet auftauchenden Reizen und Einflüssen 120

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immun zu machen, um an den einmal gefassten Orientierungen festzuhalten. 16 Eine solche Einstellung führte wohl im Gegenteil früher oder später zu einer autoimmunitären Verkehrung von Freiheit in Unfreiheit. Weil sich die Bedingungen unserer Existenz ändern können und wir uns mit ihnen, gehört zu einem nachmetaphysischen Begriff von Freiheit vielmehr das Bewusstsein einer prinzipiellen Veränderlichkeit unserer Auffassung vom Guten, und d. h. zugleich: das Bewusstsein von dessen Geschichtlichkeit, konstitutiv hinzu. Worum es in der Auseinandersetzung mit Platon also geht, ist nichts Geringeres als die Ontologie des Guten; auf dem Spiel steht mit anderen Worten das richtige Verständnis der Seinsweise des Guten selbst. Denn in dem Maße, wie Platon zu wissen glaubte, was das in Wahrheit Gute ist, hat er verkannt, dass die Möglichkeit der Frage nach dem wahrhaft Guten zum Guten selbst gehören muss. Anders als es die metaphysische Idee eines objektiv Guten will, können wir niemals ganz sicher sein, ob sich das, was wir heute nach bestem Wissen und Gewissen für das Beste halten, nicht unter veränderten Bedingungen als die letztlich schlechtere Option herausstellen würde. Ein nachmetaphysischer Begriff des Guten muss deshalb die Möglichkeit der Frage nach dem Guten in den Begriff des Guten aufnehmen, und dies sogar in einer gegenüber allen inhaltlichen Bestimmungen des Guten vorrangigen Weise. 17 Eine solche Argumentation nun hat weitreichende Konsequenzen auch noch für die moderne Kritik der Masse. So beispielsweise für Nietzsches Polemik gegen die ›Kunst-Idioten‹. Man darf das Wort ›Idiot‹ bei Nietzsche nämlich nicht im heute geläufigen Sinne des ›hochgradig Schwachsinnigen‹ hören. Bis ins 19. Jahrhundert wurde der Begriff noch im Sinne des griechischen idiotes gebraucht, mit dem man den Laien und Stümper ebenso meinte wie den Privatmann. Er korrespondiert dem Adjektiv idios: ›eigen‹, ›privat‹, ›eigentümlich‹. Wenn nun erstens das Urteil des Theaterpublikums über die regellose Kunst nicht in den idiotischen, weil bloß privaten und zufälligen Regungen von Lust oder Unlust aufgeht, sondern vielmehr als ein paradigmatischer Fall dafür verstanden werden kann, dass vorhandene Urteilskriterien im Lichte neuer Einflüsse, fremder Impulse und anVgl. hierzu auch Martin Seel, Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, besonders 227–245.279–298. 17 Vgl. hierzu auch Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt a. M. 1979, 356 f. 16

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derer Perspektiven zur Disposition gestellt werden können – und wenn zweitens eben dieser Umstand im Sinne einer nachmetaphysischen Ontologie des Guten verteidigt werden muss, die die Möglichkeit, jeweilige Bestimmungen des Guten in Frage stellen zu können, in den Begriff des Guten selbst mit aufgenommen hat, so ist damit drittens eine Perspektive vorgezeichnet, in der auch die Grenze zwischen privat und öffentlich notwendig strittig wird. Das ist der Skandal der Theatrokratie: Nicht nur haben wir es hier mit einer Situation zu tun, in der die von den öffentlichen Autoritäten zum idiotischen Leben im Privaten bestimmten Menschen sich ein Urteil über öffentliche Dinge, über Kunst oder Politik, anmaßen. Vielmehr ändert sich mit der Theatrokratie der Begriff des Urteilens selbst derart, dass die Grenze von öffentlich und privat mit zur Disposition steht. Denn das Urteil gründet jetzt nicht mehr in der problematisch theoretizistischen Vorstellung, das Gute sei etwas, das wir uns im Modus objektiven Wissens aneignen können, und von aller individuellen Erfahrung unabhängig gültig. Vielmehr öffnet sich das Urteil über das Gute jetzt auf die Dimension historisch wandelbarer Erfahrung: Was gut ist, kann sich nie anders als in praktischen Vollzügen als ein solches erweisen. Die Abhängigkeit des Guten von den Erfahrungen, die die Einzelnen im lebendigen Austausch mit der Welt machen, bedeutet aber zugleich, dass das Private nie abschließend vom Öffentlichen geschieden werden kann. Vielmehr steht die Grenze zwischen beidem immer wieder neu zur Verhandlung. Dass die Möglichkeit zur Verhandlung dieser Grenze in der Demokratie tatsächlich geschützt wird wie die Freiheit selbst, bedeutet freilich für die selbsterklärten Geistesaristokraten im Gefolge Nietzsches, dass ihre Bestimmungen des Guten von nun an den furchtlosen Urteilen anderer ausgesetzt werden, vor denen sie sich rechtfertigen müssen.

II Wenn aus demokratietheoretischer Perspektive mithin der Verlust an ›Scheu und Ehrfurcht‹ vor der fraglosen Autorität traditioneller Bestimmungen des Guten verteidigt werden kann, so geschieht dies im Hinblick auf ein Bild der Volksmasse als einer Multitude von urteilenden Einzelnen. Diesem optimistischen Bild steht nun aber ein ganz anderes entgegen: das des agitierten Mobs, der die Kakophonie der Einzelurteile in grölender Einstimmigkeit untergehen lässt. Dieses 122

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negative Bild der Masse, das in der platonischen Beschreibung der Theatrokratie durchaus mitgeführt wird, stellt zweifellos auch für überzeugte Demokraten ein Problem dar. Jedoch geht es dabei um etwas ganz anderes als die von den Aristokraten mit Angst und Abwehr beäugte Furchtlosigkeit der nunmehr selbst urteilenden Massen. Denn hier hat man es nun mit einem Problem zu tun, das sich gerade nicht mehr auf den sozialen Status oder Bildungsstand der Massenglieder zurückführen lässt. In den Blick kommt eine psychologisch interessante Dynamik, die die soziale Differenzierung gerade aufhebt und daher auch noch den distinguiertesten Aristokraten zu erfassen vermag. In der Masse kann eine Versammlung von einander unbekannten Einzelnen unterschiedlichster Herkunft zu einer Einheit zusammenschießen und dabei eine Homogenität erzeugen, die alles in den Schatten stellt, was sich an Angleichungen innerhalb sozialer Gruppen herstellen mag. Es ist diese gleichmacherische Dynamik der Masse, die Nietzsche im Auge hat, wenn er schreibt: »Im Theater […] unterliegt auch noch das persönlichste Gewissen dem nivellirenden Zauber der grossen Zahl, da regiert der Nachbar, da wird man Nachbar.« 18 Ich will nicht weiter kommentieren, dass das Nachbarwerden für Nietzsche offenbar der Inbegriff eines individuellen Autonomieverlusts ist. Der Punkt, um den es mir geht, steckt in der Formulierung, dass man im Theater – und d. h. für Nietzsche: in der Masse – Nachbar wird. Denn es ist die Dynamik der Masse selbst, die ihre Mitglieder einander angleicht, ganz unabhängig von deren jeweiligen sozialen Voraussetzungen. Zwar ist diese Dynamik der Masse zuweilen im Zeichen einer demokratisch verstandenen Utopie der Gleichheit verteidigt worden; Elias Canetti etwa spricht durchaus affirmativ von dem »glücklichen Augenblick, da keiner mehr, keiner besser ist als der andere« 19 , und der erkläre, warum die Menschen zur Masse werden. Während die Einzelnen sich ansonsten in sozialen Differenzen verhausen, werden »in der Masse die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich« 20 . Das Problem der Masse liegt aus einer demokratietheoretischen Perspektive allerdings nicht schon darin, dass in ihr die sozialen Hierarchien aufgehoben werden, sondern darin, dass dies mit einer Dynamik verbunden ist, in der die Urteilsfähigkeit 18 19 20

Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, 418 (wie Anm. 13). Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980, 17. Ebd.

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des Einzelnen suspendiert wird. Damit aus den zufällig zusammengewehten Mitgliedern einer Menschenmenge etwas wie eine Masse im Sinne dieser Dynamik werden kann, bedarf es eines äußeren Anlasses, der die Menge auf ein Gemeinsames ausrichtet und damit einen spontanen Organisationsprozess bewirkt, infolgedessen sich ihre Mitglieder affektiv aufeinander öffnen und untereinander beeinflussen. Es ist dann vor allem die Kraft der wechselseitigen affektiven Ansteckung der Massenmitglieder untereinander, die den Einzelnen derart in den Bann zieht, dass sie seine Individualität, seine Distanzund Kritikfähigkeit, ja, wie Nietzsche sagt: sein Gewissen, schließlich in einer kollektiven Bewegung fortreißt. Für Gabriel Tarde, zu Lebzeiten neben Émile Durkheim die Hauptfigur der Soziologie in Frankreich und neben Gustave Le Bon einer der maßgeblichen Massentheoretiker seiner Zeit, zeigt sich an dem unheimlichen und rätselhaften Phänomen der Masse die fundamentale Rolle, die der Nachahmung bei der Sozialisierung überhaupt zukommt. In der Masse ahmen die Mitglieder einander nach, und zwar hemmungslos – darin, wie Tarde formuliert, Kindern ähnlich: ohne Zwänge, Bedenken, Zweifel, die diesen Vorgang bremsen würden. Auf Zeit werden die Mitglieder der Masse zum »perfekten Nachahmungsmedium« 21 . Der Ausnahmezustand der Regression, die Hemmung des Bewusstseins in der Masse, verweist für Tarde aber nur auf die unbewussten Anteile in aller Nachahmung. »Nichts«, schreibt er in seinem Buch Die Gesetze der Nachahmung, »ist […] weniger wissenschaftlich als diese absolute Trennung, dieser scharfe Bruch zwischen dem Willentlichen und dem Unwillkürlichen, dem Bewußten und dem Unbewußten« 22 . Tatsächlich ahmen wir nicht immer voll bewusst nach. Nicht nur sickern Überzeugungen und Gewohnheiten von anderen zuweilen unbewusst in uns ein. Überdies kann es auch einen unmerklichen Übergang von der bewussten Nachahmung, vom reflektierten Wollen zur mechanischen Gewohnheit geben. Sosehr die Masse für Tarde also einerseits zur »Bühne für das Drama der Sozialisierung« 23 wird, sowenig eignet sich die Masse aufUrs Stäheli, Übersteigerte Nachahmung – Tardes Massentheorie, in: Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde, hg. v. Ch. Borch/ U. Stäheli, Frankfurt a. M. 2009, 397–416, hier 397. 22 Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, übers. v. J. Wolf, Frankfurt a. M. 2009, 9. 23 Stäheli, Nachahmung, 405 (wie Anm. 21). 21

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grund ihrer Geschlossenheit andererseits als Modell für soziale Nachahmung überhaupt. Denn in seinem Leben ist der Einzelne stets vielfältigen Einflüssen ausgesetzt; auf ihn wirken – wie Tarde sagt: unterschiedliche »Nachahmungsstrahlen« 24 . »Das soziale Leben«, schreibt er, »besteht aus einer wirren Kreuzung solcher Strahlungen, bei denen wiederum unzählige Interferenzen vorkommen« 25 . Diese Vielfältigkeit ist nicht nur eine Quelle von Individualität; sie ist auch die Quelle einer gewissen Widerständigkeit der Einzelnen gegenüber den auf sie einströmenden Eindrücken. Eine solche Widerständigkeit kommt dabei indes weder aus einer bereits vorausgesetzten Individualität noch etwa aus einem Metawissen um das in Wahrheit Gute, sondern aus den jeweils zuvor übernommenen Überzeugungen; wenn man so will: aus einer älteren Nachahmung. 26 Aber was für uns von Geltung ist, muss sich – immer wieder neu – unter einem konkurrierenden Einfluss, einem neuen Eindruck bewähren. Es sind dies jeweils Situationen, in denen uns unbewusst übernommene oder unbewusst gewordene Überzeugungen überhaupt erst oder erneut ins Bewusstsein treten. Es entsteht dann nämlich die Szene eines inneren Konflikts, einer »kleinen inneren Schlacht« 27 , die dem bewussten Urteil über die eigenen Überzeugungen vorangeht. Für Tarde ist Autonomie mithin nur als das reflektierte Verhältnis zu einer doppelten Heteronomie zu verstehen: Autonomie gibt es nur im Austrag des Spannungsverhältnisses zwischen mechanischer Gewohnheit und fremdem Impuls, sedimentierter Nachahmung und mimetischer Öffnung – wobei der Ausgang jeweils offen ist. Das Urteil kann das Neue – die neue Idee, die neue Kunst, die neue Politik – am Ende entweder im Namen des Alten ablehnen oder aber als ein gegenüber dem Alten Besseres annehmen. Der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen demokratischer Freiheit und einer nachmetaphysisch beziehungsweise antiaristokratisch verstandenen Ontologie des Guten, erweist sich damit im Kontext der Massentheorie erneut als instruktiv. Denn vor diesem Hintergrund empfiehlt sich als Mittel gegen die Gefahr massenhafter Gleichschaltung nicht die Beschränkung und Kontrolle von EinflüsU. a. Tarde, Gesetze der Nachahmung, 78 (wie Anm. 22). Gabriel Tarde, Die sozialen Gesetze. Skizze einer Soziologie (1898), hg. v. A. Bammé, übers. v. H. Hammer, Marburg 2009 (Nachdruck Marburg 1908), 51. 26 Vgl. Tarde, Gesetze der Nachahmung, 185 (wie Anm. 22); Stäheli, Nachahmung, 413 (wie Anm. 21). 27 Tarde, Die sozialen Gesetze, 41 f. (wie Anm. 25). 24 25

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sen, sondern im Gegenteil gerade die Gewährleistung ihrer Vielfalt. Eine solche Offenheit kann das Massenphänomen nicht überhaupt abschaffen – in dem Moment, in dem wir Teil einer Masse sind, können und wollen wir (denkt man an Sportveranstaltungen etwa) vielleicht auch gar nicht ausschließen, dass ihre Bewegung uns erfasst; aber die Vielfalt der Einflüsse, die unser Leben sonst bestimmen, begrenzt den Effekt der Masse tendenziell auf den Zeit-Raum ihrer Emergenz. In diesem Zusammenhang steht, dass sich die Masse im eben diskutierten Sinne nur dann stabilisieren, ihre Gleichschaltung nur dann in gesellschaftliche Formen übersetzen lässt, wenn andere Einflüsse weitgehend ausgeschaltet werden. Das ist der Fall in totalitären Gesellschaften, die, wie wir wissen, bestens mit dem Phänomen der Massenpsychologie zusammengingen. Sigmund Freud hat denn auch auf die fundamentale Rolle hingewiesen, die eine exponierte Führerfigur für die dauerhaften Massen spielt. Der libidinöse Bezug auf diese Figur hält die Massen zusammen und ermöglicht eine stabile Identifikation der Mitglieder untereinander. »Viele Gleiche«, sagt Freud, »die sich miteinander identifizieren können, und ein einziger ihnen allen Überlegener, das ist die Situation, die wir in der lebensfähigen Masse verwirklicht finden.« 28 In ihr, so Freud, zeigt sich der Einzelne weniger als ein Herdentier, denn als ein Hordentier, als das Mitglied einer von einem Oberhaupt angeführten Horde. 29 Entscheidend ist dabei, dass die Unfreiheit des Einzelnen in den organisierten Massen in einem engen Zusammenhang steht zur Ausschließlichkeit der Masse. Das erklärt auch ihre Intoleranz nach außen.

III Diesen Massenerscheinungen nun stellt Tarde eine auf den ersten Blick geradezu gegenläufige Tendenz entgegen. Denn dem Zeitalter der Massen als eines, in dem, wie Freud sagt, die Urhorde wieder auflebt, 30 steht das Zeitalter der durch moderne Kommunikations-

Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Studienausgabe. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Bd. IX, hg. v. A. Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1982, 61–134, hier 113. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. ebd., 115. 28

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medien vermittelten demokratischen Massenöffentlichkeiten entgegen. Der entscheidende Unterschied besteht für Tarde zunächst im Plural der letzteren. Anders als im Fall der tendenziell die ganze Person absorbierenden Masse, kann der Einzelne nämlich Mitglied verschiedener Sub- oder Spezialöffentlichkeiten sein, die dadurch in einen – sich wechselseitig relativierenden und korrigierenden – Austausch gebracht werden können. Diesem, dem kritischen Bewusstsein der Einzelnen eher zuarbeitenden Prozess, entspricht auf den ersten Blick auch, dass sich die modernen Öffentlichkeiten tendenziell von der Bedingung der psychologischen Massen, der materiellen Aggregation von Körpern im Raum, loslösen. Öffentlichkeiten sind demgegenüber virtuelle Einheiten, die sich einzig über Simultaneität herstellen, sie bilden sich über die – häufig medial vermittelte – Partizipation an einer Idee zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings erzählt Tarde hier keine eindimensionale Fortschrittsgeschichte. Das Problem des Konformismus taucht nämlich auch auf Seiten der demokratischen Massenöffentlichkeiten wieder auf, vielleicht weniger extremistisch, aber in seiner unauffälligeren Form nur umso ›chronischer‹, 31 wie Tarde beobachtet. Unter demokratischen Bedingungen kommt nämlich ein Aspekt in den Blick, der in den organisierten Massen durch den fraglosen Ausnahmestatus des Führers bloß verdeckt wird: der Umstand, dass diejenigen, die der Massenöffentlichkeit Impulse geben, zugleich selbst von dieser abhängig sind und sich deshalb, um sich in ihrer aus der Masse herausgehobenen Position halten zu können, zumindest partiell nach ihr richten müssen. Dieses Problem wird seit Alexis de Tocquevilles berühmter Formulierung unter dem Titel einer ›Tyrannei der Mehrheit‹ diskutiert. Der durch Prozesse wechselseitiger Adaption zwischen Impulsgebern auf der einen und Massenpublikum auf der anderen Seite entstehende Konformismus ist auch das zentrale Problem des Kulturindustrie-Kapitels aus der Dialektik der Aufklärung. Tocquevilles Diagnose, dass die Tyrannei in den demokratischen Gesellschaften zwar nicht mehr auf die Körper, dafür aber direkt auf die Seele und das Denken ziele, 32 habe sich, so Adorno und Horkheimer in den 40er Jahren des 20. Jahr-

Vgl. Gabriel Tarde, Le public et la foule, in: Ders., L’Opinion et la Foule (Recherches politiques), Paris 1989, 31–71, hier 52. 32 Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. v. J. P. Mayer, übers. v. H. Zbinden, München 1976, 295. 31

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hunderts, »mittlerweile ganz bewahrheitet« 33 : »Kultur heute«, lautet der trockene Befund der beiden, »schlägt alles mit Ähnlichkeit.« 34 Die Logik, um die es hier geht, ist die, nach der alles an den Rand gedrängt, zu einer quasiprivaten Existenz verdammt oder gar zum resignierten Schweigen gebracht werden kann, was sich nicht an der Idee der Massenkompatibilität ausrichtet, alles das also, was als zu abwegig, zu komplex, zu schwierig, zu originell oder zu versponnen gilt. Doch so folgenreich die Entscheidungen im Namen der Mehrheit, des Mainstreams oder der öffentlichen Meinung sein mögen, so erschreckend unersättlich die Logik, die sich auf sie beruft – es handelt sich hier nicht um die Logik der Demokratie als solcher; wir haben es hier mit einer gefährlichen Dimension, nicht jedoch mit der einzigen Wahrheit der theatrokratisch-demokratischen Situation zu tun, in der diejenigen, die Macht anstreben, von der Zustimmung oder Ablehnung, kurz: vom Urteil ihres Publikums abhängig sind. Zunächst muss festgehalten werden, dass die öffentliche Meinung nicht unabhängig von ihrer Repräsentation existiert. Nie erscheint sie als solche. Die öffentliche Meinung ist weder wie ein Objekt vorfindlich noch aber spricht sie wie ein Subjekt. Man kann sie lediglich zitieren, man kann sich auf sie berufen, sie herbeizitieren, sie zum Reden bringen, aber immer nur so, wie Jacques Derrida formuliert hat, »wie ein Bauchredner es tun würde« 35 . Niklas Luhmann spricht in verwandtem Zusammenhang davon, dass die öffentliche Meinung als »der Heilige Geist des Systems« 36 verstanden werden müsse. Denn die öffentliche Meinung, so Luhmann weiter, »ist« nichts anderes als das, »was als öffentliche Meinung beobachtet und beschrieben wird, ein durch die öffentliche Kommunikation selbsterzeugter Schein, […] eine Art Spiegel, in dem die Kommunikation sich selber spiegelt«. 37 Der Umstand, dass die öffentliche Meinung, der Mainstream, die Mehrheit nicht jenseits seiner oder ihrer jeweiligen Repräsentation ist, verweist zum einen auf ein Moment von Rhetorik, Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1997, 155. 34 Ebd., 141. 35 Jacques Derrida, Die vertagte Demokratie, in: Ders., Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. v. A. García Düttmann, Frankfurt a. M. 1992, 81–97, hier 83. 36 Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, hg. v. A. Kieserling, Frankfurt a. M. 2000, 286. 37 Ebd. 33

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das immer im Spiel ist, wenn von derjenigen Größe die Rede ist, in deren Namen zum Beispiel die Geisteswissenschaften marginalisiert, öffentlich-rechtliche Sendeprogramme weiter infantilisiert oder die Einwanderungspolitik rigider reguliert werden soll. Es handelt sich beim Sprechen ›im Namen von‹ um eine rhetorische Figur, die das Subjekt, das in der Rede lediglich repräsentiert oder zitiert zu werden scheint und also dieser vorgängig sein soll, de facto erst durch die Rede konstituiert. 38 Diese Redefigur funktioniert in dem Maße effektiv, wie sie wörtlich referentiell genommen wird, wie also die öffentliche Meinung durch den Bauchredner selbst zu sprechen scheint. Als Figur, qua Figuralität, jedoch verweist sie zugleich auf die Gesichtsund Stimmlosigkeit dessen, was durch sie erst Gesicht und Stimme erhält – und das ist die unorganisierte, inhomogene Menge oder auch: die Multitude. Dass es die öffentliche Meinung niemals jenseits ihrer Repräsentation gibt, impliziert nun zugleich die Machtfrage. Denn Macht- und Herrschaftsanmaßung gibt es schon in dem Moment, in dem einer aus der Menge vortritt und beansprucht, für alle oder doch für den Mainstream, die Mehrheit zu sprechen oder die öffentliche Meinung zu vertreten. 39 Denn in diesem Moment, einem Moment der Souveränität, wird eine Trennung etabliert zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, die nicht ohne Asymmetrie, und d. h.: nicht ohne Macht und Herrschaft, zu denken ist. Diese Macht gibt es sowohl auf der Seite der Politik als auch auf der Seite der Presse und der Medien, die die öffentliche Meinung bekanntermaßen auch gegen die Politik vertreten können. Die Medien können Minderheiten eine Stimme verleihen, die in den Institutionen nicht vertreten sind; sie können dazu beitragen, dass Fehler der offiziellen Politik berichtigt und, wenn es gut geht, ungerechte Zustände beseitigt werden. Jedoch sollte man daraus keineswegs schließen, wie Derrida zu Recht betont hat, »dass eine derartige ›Demokratisierung‹ bereits die ›öffentliche 38 Es handelt sich hier um die Figur der prosopopoiia. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher (Institutionis oratoriae, Libri XII), hg. und übers. v. H. Rahn, Darmstadt 3 1995, IX,2, 31, beschreibt sie u. a. als eine Figur, durch die »Städte und Völker […] eine Sprache [erhalten]«. Vgl. zur Geschichte dieser rhetorischen Figur auch Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000, 137–216. 39 Vgl. Christoph Menke, Die Depotenzierung des Souveräns im Gesang. Claudio Monteverdis ›Die Krönung der Poppea‹ und die Demokratie, in: Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, hg. v. E. Horn et al., München 2006, 281–296, hier 293.

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Meinung‹ auf legitime Weise repräsentiert, ohne Siebwirkung« 40 . Das Moment der Macht zur Bestimmung dessen, was von öffentlichem Interesse ist und was nicht, ist nicht einmal von der liberalsten Presse abzuziehen. Daher muss die demokratisch gewährte Pressefreiheit auch noch eine Freiheit gegenüber der Presse beinhalten, nämlich das Recht auf Erwiderung und Gegendarstellung, das es, so noch einmal Derrida, »dem Bürger gestattet, mehr zu sein als nur der (immer weiter ins Private abgleitende) Bruchteil einer passiven ›Öffentlichkeit‹, einer Öffentlichkeit, die nur aus Verbrauchern sich zusammensetzt und darum zwangsläufig beschädigt ist« 41 . Eine solche Kritik der Öffentlichkeit, die immer auch eine Kritik an den Strukturen ist, die das Recht auf Gegendarstellung aufgrund von Formatzwängen und schnellen Rhythmen stark einschränken, formuliert sich aber gleichwohl innerhalb des theatrokratischen Settings, in dem jeder, der antritt, die öffentliche Meinung zu vertreten, von einem heterogenen Publikum beurteilt wird, das sich nicht immer mit seinen Repräsentationen einverstanden erklärt. Demokratisch ist die Macht zur Repräsentation – in der Politik wie in der sie kommentierenden Presse – in dem Maße zu nennen, wie sie anerkennt, dass sie selbst anerkannt werden muss, 42 wie sie also – ihrem eigenen Selbstverständnis nach – an die Möglichkeit der Gegendarstellung ausgesetzt bleibt. Allerdings geht damit natürlich nicht automatisch eine Entscheidung für Letztere einher. Es ist – wie heute im Blick auf die Kommentarseiten der Online-Magazine und -Zeitungen evident wird – nicht immer die Gegendarstellung der kommentierenden Bürger, der hier ein Mehr an Vernunft zugesprochen werden kann. Entscheidend ist aber, dass die Macht, die politische Macht wie die Medienmacht, durch die Möglichkeit der Gegendarstellung zur Rechtfertigung gezwungen wird, und dass somit prinzipiell die Möglichkeit gegeben ist, den jeweiligen Begriff der öffentlichen Meinung zu verändern. Die entsprechenden Impulse kommen indes nicht immer nur durch Gegendarstellungen in den Medien zustande. Sie können bekanntermaßen auch durch Demonstrationen erfolgen, über die dann in den Medien berichtet wird.

Derrida, Die vertagte Demokratie, 90 (wie Anm. 35). Ebd., 95. 42 Vgl. Christoph Menke, Von der Ironie der Politik – zur Politik der Ironie, in: Die Ironie der Politik. Über die Konstruktion politischer Wirklichkeiten (Tagung Marburg Oktober 2001), hg. v. Th. Bonacker et al., Frankfurt a. M. 2003, 19–33, hier 27 f. 40 41

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Dies ist die Stelle, an der die räumlich-körperlichen Massen mit ihrer ambivalenten Eigendynamik auch demokratisch wieder bedeutsam werden. Jede Demonstration ist zugleich Demonstration von Öffentlichkeit, und das geschieht gewöhnlich über die schiere Masse – es ist wichtig, dass eine signifikante Zahl zusammenkommt, damit das, worum es geht, von einer quasiprivaten Angelegenheit eines kleinen Grüppchens zu einer öffentlichen wird. Und die Masse, deshalb die notorische Polizeipräsenz, birgt als Masse stets in sich das Potenzial, die ihr eigene Affektdynamik zu entfalten und zur Handlung überzugehen. Der berühmte Funke genügt zuweilen. Aufgrund ihrer enthemmenden Dynamik bedeutet der Übergang zur Handlung in der Masse stets den Übergang zur Gewalt. Von der Zerstörungswut der Massen ist in der Massenpsychologie oft die Rede; sie ist das, was gerade an den revolutionären, den flüchtigen Massen als erstes ins Auge fällt. Sofern die Masse von der Demonstration ihrer selbst zur Handlung übergeht, wirft sie mit Vorliebe Fenster, tritt sie Türen ein oder legt Feuer. Die Macht der Masse artikuliert sich hier, wie Canetti herausgestellt hat, geradezu kurzschlüssig buchstäblich in der Form der Grenzüberschreitung. 43 Bereits die friedliche Demonstration jedoch zielt, wenn man so will, auf eine Verschiebung von Grenzen; sie zielt auf eine andere Definition der Grenze zwischen öffentlich und privat, auf eine andere soziale Wahrnehmung dessen, was als mehrheitsfähig oder überhaupt als öffentlich relevant gilt. Gerade vor dem Hintergrund der Einsicht in das Gewaltpotenzial der demonstrierenden Masse gilt es jedoch, nachdrücklich auf ihren Unterschied zur faschistischen hinzuweisen. Der Unterschied zwischen der demonstrierenden Masse auf der einen und der faschistischen Masse auf der anderen Seite besteht in der Flüchtigkeit der einen und der Dauerhaftigkeit der anderen. Die eine, die demonstrierende Masse, erschöpft sich in ihrer negativen Funktion; sie stört einen vermeintlichen Konsens, unterbricht eine gesellschaftliche Ordnung im Namen einer anderen, die sie aber nicht selbst schon verkörpern oder vorwegnehmen kann. Die andere, die faschistische Masse, übersetzt hingegen ihre Dynamik in die Positivität gesellschaftlicher Formen. Während die demonstrierenden Massen mit dem Feuer erlöschen, das sie im Extremfall legen mögen, 44 erheben die faschistischen die Fackel zum gesellschaftlichen Symbol. Die eigentlich entscheidende Diffe43 44

Vgl. Canetti, Masse, 18 ff. (wie Anm. 19). Vgl. ebd., 20.

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renz besteht also darin, dass die demonstrierende, die flüchtige Masse ihre Logik nicht an die Stelle der politischen Ordnung setzt, sondern auf diese gespannt bezogen bleibt.

IV In der Demonstration bekundet sich sehr deutlich, könnte man auch sagen, ein Abstand der demokratischen Öffentlichkeit zu sich selbst, eine Selbstdifferenz der Öffentlichkeit. Indes ist diese in der Demokratie auf verschiedenen, teils ineinandergreifenden Ebenen präsent: Sie scheint nicht nur im Verhältnis zwischen Regierung und außerparlamentarischer Opposition auf, sondern auch im Verhältnis von Regierung und parlamentarischer Opposition, im Verhältnis von Politik und Presse, im Verhältnis von Presse und Bürger, schließlich und nicht zuletzt im Verhältnis von Bürger und Mensch, wie es an den Grenzen der demokratischen Gemeinwesen im Diskurs der Menschenrechte virulent wird. All diese Ebenen demokratischen Lebens, die von einem Konflikt um verschiedene Auffassungen des öffentlich Relevanten, des Gemeinwillens zeugen, korrespondieren einem Verständnis von Demokratie, das die Idee einer letzten, wahrhaft guten Herrschaftsordnung aufgegeben hat. Eine demokratische Gesellschaft ist, wie der französische Demokratietheoretiker Claude Lefort immer wieder betont hat, eine Gesellschaft, die nicht mehr den Anspruch hat, jemals vollständig »in Übereinstimmung mit sich selbst« 45 sein zu können. Dieses Verständnis von Demokratie, das kann gar nicht genug betont werden, unterscheidet sich eklatant von einem Verständnis der Demokratie, in der das Problem der Souveränität überwunden wäre, weil ›das Volk‹ nunmehr selbst in der Position des Souveräns erscheint, denn diese Vorstellung setzt die Fiktion einer Identität des demos mit sich voraus. Die Demokratie beginnt jedoch, wie in der letzten Zeit besonders Jacques Rancière zu Recht immer wieder betont hat, mit dem Ende auch noch dieser mehr oder weniger offen totalitaristischen Fiktion. Sie beginnt mit dem Bewusstsein einer, wie Rancière sagt, »ursprünglichen Teilung« des demos in eine politisch gesetzte Einheit einerseits und andererseits das, was diesem Claude Lefort/Marcel Gauchet, Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen, in: Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, hg. v. U. Rödel, übers. v. K. Menke, Frankfurt a. M. 1990, 89–122, hier 93.

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notwendig supplementär bleibt und daher, wie er schreibt, »jede gesellschaftliche Identifizierung verschiebt« 46 . Gemeint ist damit die unauflösbare Dualität zwischen der Gestalt, die der demos in seinen Repräsentationen erhält, auf der einen Seite und der Gesichtslosigkeit des demos in seiner (Nicht-)Gestalt als heterogener Menge oder Multitude auf der anderen. Die Supplementarität des demos gegenüber all seinen politischen Repräsentationen bliebe jedoch selbst eigentümlich unbegründet, wenn man sie nicht auf die Einsicht zurückbezöge, dass jedes einzelne Mitglied des demos stets für fremde und neue Einflüsse offen bleibt und damit für die Möglichkeit, sein Leben, sein Selbst- und Weltverständnis zu ändern. Denn solche Veränderungen sind nie nur privater Natur. Durch Veränderungen meiner selbst verändere ich die Praxis, deren Teil ich bin. Das kann sich nahezu unmerklich vollziehen; es kann aber auch heißen, dass ich, um die Welt weiterhin bewohnen zu können, in einen Kampf um Anerkennung eintreten muss. Die Multitude ist mit anderen Worten deshalb unabsehbar heterogen, weil die Einzelnen das Potenzial zur Selbstveränderung haben. Dieser Zusammenhang erklärt, warum die Multitude nie vollständig, abschließend mit ihren Repräsentationen zusammenfallen kann. Daraus kann freilich nicht folgen, dass solche Repräsentationen zu vermeiden wären. Tatsächlich kann es keine Gleichheit, keine Gerechtigkeit und keine Freiheit ohne Bestimmung der Grenze zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten, ohne Bestimmung des Gemeinwillens geben. Aber es folgt daraus die Anerkennung einer unaufhebbaren Spannung zwischen dem demos als unabsehbar heterogener Menge oder Multitude auf der einen und der souveränen Macht, die dieser immer wieder eine Form, ein Gesicht, einen Willen und eine Stimme gibt, auf der anderen Seite. Diese Spannung ist aus dem Leben der Demokratie nicht wegzubringen. Im Gegenteil: Das historische Leben der Demokratie besteht auf seinen vielen Ebenen in nichts anderem als im Austrag dieser Spannung. Das zu sagen hat nun auch für das Denken demokratischer Souveränität, die als kratie oder kratía dem Begriff der Demokratie unauslöschlich eingeschrieben ist, einige Konsequenzen. Weil die Einheit des demos nicht als schlicht gegeben vorausgesetzt werden kann, muss sie gemeinsam mit der sozialen Ordnung, Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. v. R. Steurer, Frankfurt a. M. 2002, 109.

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in der er sich erfassen soll – immer wieder neu – politisch hergestellt, souverän gesetzt werden. Anders als die monarchische verweist die demokratische Souveränität indes nicht mehr auf einen unbedingten, außerweltlichen Pol, von dem her sich ihre Setzungen legitimierten. Eben deshalb tritt die Souveränität gerade in demokratischen Gesellschaften als Macht rein hervor. In dem Maße aber, wie der Glauben an eine von transzendenter Stelle legitimierte Macht und eine quasinatürliche, weil auf einem unbedingten Fundament aufruhende Ordnung zusammenbricht, öffnet sich die Souveränität zugleich auf das Problem ihrer Legitimität. Anders gesagt: In dem Maße, wie sie rein als Macht hervortritt, ist die Souveränität keine reine, unbedingte oder göttliche Souveränität mehr. Sie ist dann angewiesen auf Anerkennung. Das ist die Szene der theatrokratischen Demokratie: Sobald die Souveränität die Bühne der Demokratie betritt und damit als Macht kenntlich wird, muss sie sich selbst, ebenso wie die von ihr gestiftete politische Ordnung, in der der demos sich als Einheit erkennen soll, vor diesem rechtfertigen. Sie muss sich also der Herausforderung durch potenzielle Gegenprogramme und Konkurrenten stellen. Dann aber ist die demokratische Souveränität keine reine unteilbare Souveränität mehr, verliert sie ihre Immunität und Unteilbarkeit. Die demokratische Souveränität ist von der Anerkennung durch die unabsehbar heterogene Multitude angewiesen, und dies immer wieder neu. In der Demokratie gibt es mithin weder so etwas wie eine reine unteilbare Souveränität noch aber so etwas wie eine reine Teilhabe, die frei wäre von aller Souveränität. Eine solche Vorstellung wäre nur dann denkbar, wenn der demos tatsächlich über eine vermittlungslose Souveränität, einen unteilbaren Willen, eine Stimme, eine Meinung verfügte. Dies aber erweist sich vor dem Hintergrund der Einsicht in die unabsehbare Heterogenität der Multitude als eine strukturell totalitäre Vorstellung.

V Damit komme ich endlich, wie eingangs angekündigt, zum Konzept der ›absoluten Demokratie‹, das Antonio Negri und Michael Hardt am Schluss ihres Buches mit dem Titel Multitude propagieren. Der in unserem Zusammenhang interessante Ansatz von Negri und Hardt besteht darin, dass die beiden die Multitude zwar als das Ande134

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re der Souveränität entwerfen. Sie kann, schreiben sie, aufgrund ihrer Heterogenität, »nicht Souverän sein« 47 . Zugleich aber ziehen sie daraus nicht den Schluss eines notwendigen Spannungsverhältnisses zwischen Souveränität und Multitude, in dessen Austrag, wie ich gesagt hatte, das historische Leben der Demokratie besteht. Vielmehr träumen sie von einer »vollständigen und letzten Demokratie« 48 , in der die Souveränität und damit auch die Differenz von Regierenden und Regierten abgeschafft wäre, eine Selbstregierung der Vielen erreicht wäre. Diese Utopie ist an der Idee einer absoluten Immanenz orientiert, in der es nicht nur keine äußere, d. h. von transzendenter Stelle legitimierte Autorität, sondern gar keine Hierarchie, keine Asymmetrie mehr geben soll: Alle Elemente sollen auf der gleichen Ebene interagieren. 49 Die Rede von einer ›Zerstörung der Souveränität zugunsten der Demokratie‹ ist also in diesem ›absoluten‹ Sinne zu hören: Es geht nicht bloß um eine demokratische Transformation der souveränen Macht in eine Anerkennungsmacht, wie ich es eben skizziert habe. Vielmehr geht es hier um die Abschaffung jeglicher Macht- und Herrschaftsbeziehung. Dies ist natürlich nichts anderes als die Utopie einer gesellschaftlich verwirklichten Gleichheit aller. Unter ihrer Bedingung, so heißt es bei Negri und Hardt, soll auch die Multitude dann in einer endgültig befreiten, einer reinen Gestalt hervortreten können. So soll, das ist das Beispiel von Negri und Hardt, etwa die Geschlechterdifferenz erst dann »singuläre und kreative Macht« werden können, wenn »jede Arbeits-, Affekt- und Machtdisziplin, die die Geschlechterdifferenz zu einem Hierarchiemerkmal macht, zerstört ist« 50 . Gleiches muss dann für alle anderen Differenzen gelten. Sie in neue Singularitäten zu transformieren heißt, sie vor dem Hintergrund einer letzten Gleichheit erscheinen zu lassen. Das Problem oder die Crux dieser Utopie einer letzten Gleichheit, in der jede Verzerrung getilgt, ein Zustand grundsätzlichen Verständigtseins erreicht wäre, sodass am Ende die Politik mit der Freiheit der unvertretbaren Einzelnen in eins fiele, liegt jedoch darin, dass sie sich in letzter Konsequenz nur als Negation des geschichtlichen Lebens, nur als ein Zustand jenseits der Geschichte denken lässt. 47 48 49 50

Hardt/Negri, Multitude, 363 (wie Anm. 2). Ebd., 388 f. Vgl. ebd., 371. Ebd., 391.

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Denn die Idee einer letzten Gleichheit, und d. h.: einer vollständig realisierten Gerechtigkeit, impliziert die Aufhebung der Möglichkeit des Irrtums, der Täuschung und der Selbsttäuschung, die doch, wie Albrecht Wellmer zu Recht immer wieder betont hat, »strukturell zur Seinsweise endlicher Wesen gehört, die mit jeweils begrenzten und partikularen Perspektiven auf sich und die Welt in eine zur Zukunft hin offene Geschichte verwickelt sind« 51 . Mit der Idee, die Möglichkeiten des Fehlgehens überwinden zu können, überwindet man auch die Multitude, deren unabsehbare Perspektivenpluralität sich aus den Bedingungen der Endlichkeit speist. Nur weil uns die Welt nie anders denn in der Beschränktheit unserer endlichen Perspektiven gegeben ist, gibt es die Möglichkeit, Neues zu entdecken und zu denken, die eigenen Sichtweisen zu verändern, anders zu handeln. Sofern die Multitude in ihrer über jede Einheit, aber auch über abzählbare Differenzen hinausschießenden Unabsehbarkeit an diese Bedingung gebunden ist, widerstreitet sie konstitutiv der Idee einer letzten Perspektive, einer letzten Totalintegration. Anders gesagt: Eine Menschheit, die im Sinne der absoluten Demokratie »ganz Multitude« 52 geworden wäre, wäre keine mehr (d. h.: keine Multitude, aber wohl auch keine Menschheit mehr). Nun könnte man meinen, dass dieser Einwand den Status der Rede von einer ›absoluten Demokratie‹ bei Negri und Hardt verkennt, nämlich den, dass dieser Begriff der Praxis eine Art regulative Idee vorgeben soll. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass die demokratische Multitude weder an diese Idee glauben noch auch überhaupt auf ihre Realisierung hoffen sollte, weil die Idee einer ›absoluten Demokratie‹ das Wesen demokratischer Politik vorab verstellt. Denn die Demokratie zielt nicht auf die Singularität der Einzelnen als Ergebnis ihrer Politik; vielmehr ist die Singularität der Einzelnen ihr Ausgangspunkt; und zwar hinsichtlich der Erfahrung, dass ein strukturell unüberbrückbarer Abstand zwischen den politischen Bestimmungen der Gemeinschaft und den ihr entsprechenden Gleichheitsvorstellungen auf der einen und der aus einer unabsehbaren Vielzahl von Singularitäten sich zusammensetzenden Multitude auf der anderen Seite besteht. Demokratie beginnt mit der Einsicht, dass sich Gleichheit unter den Bedingungen der Endlichkeit nie als unbedingte, sondern Albrecht Wellmer, Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, hg. v. Th. Hoffmann et al., Frankfurt a. M. 2004, 247 f. 52 Hardt/Negri, Multitude, 391 (wie Anm. 2). 51

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immer nur als bedingte und beschränkte Gleichheit – und d. h.: niemals losgelöst von der Machtfrage – realisiert. Die Einsicht in ein Moment von Souveränität gerade am Grund der demokratischen Gesellschaften ist mit anderen Worten nicht das resignierte Ende, sondern der Anfang demokratischer Politik. Es handelt sich dabei um eine Politik, deren Dynamik sich den Erfahrungen einer Selbstdifferenz des demos mit sich verdankt und die deshalb weder in terms einer absoluten Transzendenz noch aber in terms einer absoluten Immanenz angemessen beschrieben wäre: Es ist dies die konstitutiv historisch zu denkende Dynamik einer Selbstüberschreitung der Demokratie, in der diese sich nicht etwa asymptotisch einer regulativen Idee annähert, sondern in der sie sich immer wieder neu nur in und durch den Streit um ihren Begriff gewinnt. In diesem Streit allein hat die Multitude demokratisch ihren Ort.

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Souverän und/oder unbedingt. Selbstsein im Horizont einer gastlichen, demokratischen Lebensform (nach Derrida) Burkhard Liebsch »Souveränität ausüben heißt, die Sterblichkeit zu kontrollieren.« 1 Achille Mbembe »Wo Menschen […] souverän sein wollen, müssen sie die Freiheit abschaffen.« 2 Hannah Arendt

I Man könnte die weit zurückreichende Ideengeschichte des klassischen Souveränitätsbegriffs für abgeschlossen und erledigt halten, 3 so wenige Verfechter findet er noch – Verfechter, die sich nur anachronistisch dieser Geschichte bedienen können, wenn sie den tief greifenden, radikalen Transformationen des Politischen nicht angemessen Rechnung tragen, 4 deren Zeugen wir gegenwärtig sind. 5 Achille Mbembe, Nekropolitik, in: Biopolitik – in der Debatte, hg. v. M. Pieper et al., Wiesbaden 2011, 63–96, hier 63. 2 Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, 214 f. 3 Symptomatisch dafür ist die explizite Anonymisierung der Souveränität in »subjektlosen Kommunikationskreisläufen«, wie sie Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992, 170, diagnostiziert hat, wo insofern sogar der Position Martin Krieles zugestimmt wird, im Rechtsstaat könne es ›keinen Souverän‹ mehr geben. 4 Mit der großen Ausnahme von Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Homo sacer I), übers. v. H. Thüring, Frankfurt a. M. 2002, 25–40, der die Geschichte des Souveränitätsbegriffs gerade deswegen wieder aufgreift, um zu einer radikalen Revision einer aus seiner Sicht fatalen ideengeschichtlichen Erblast nach wie vor dominanter Vorstellungen souveräner Macht beizutragen, die speziell im Nationalsozialismus gewissermaßen ihren Aggregatzustand geändert hat, wo tausende von ›kleinen Souveränen‹ über das nackte Leben Anderer zu bestimmen sich angemaßt haben. 5 Vgl. Burkhard Liebsch, Zwischenberichte. in: Philosophischer Literaturanzeiger 1

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Keineswegs beschränken sich diese Transformationen darauf, überkommene politische Begriffe und eine überlieferte Auffassung davon, was sie überhaupt zu politischen Begriffen macht, etwa auf transnationale Machtgefüge bloß auszuweiten, die man weiterhin rechtlich zu integrieren hofft. 6 Vielmehr stellen jene Transformationen alle Grundbegriffe in Frage, an denen sich speziell politisches Denken bereits in der griechischen Antike und bis in unsere Gegenwart hinein in ontologischen und neo-aristotelischen Revisionen des Politischen orientiert hatte. Angefangen beim Gerechten als dem telos oder Worumwillen einer politischen Lebensform, die ihren Namen verdient, über die polites, die als vollwertige und berechtigte Mitglieder einer solchen Lebensform zählen, weiter über alle Vorstellungen ›politischer Herrschaft‹ (despotéia) und der ›Regierung‹ (politikē) bis hin zum demos als der unbestimmten, inzwischen im globalen Horizont de-limitierten und radikal pluralisierten ›Menge‹ (Multitude) derer, die öffentlich ihre Stimme erheben können, um zu verlangen, gehört zu werden. Eine teleologische Konzeption des Politischen findet kaum mehr Verteidiger; zumal im Horizont der Globalisierung potenziell alle Menschen, nicht nur müßige, von der Last des Broterwerbs entlastete Männer (wie es sich Aristoteles vorgestellt hatte), sondern Frauen, Kinder, Fremde und alle Anderen, die sich nicht selbst äußern können, politisch zählen können sollen, sodass der demos nicht nur global erweitert und zugleich in eine Vielzahl von demoi zersplittert, sondern im Sinne einer unabsehbaren und unzählbaren, de-limitierten Menge erweitert scheint, die, so hoffen die Apologeten dieses Begriffs, zum neuen, antikapitalistischen Subjekt eines vitalen politischen Lebens sollte aufrücken können. 7 Unter Um58/3 (2005), 85–307; 61/4 (2008), 393–410; 62/4 (2009), 375–395; 65/2 (2012), 136– 166, sowie ders., Zwischenberichte, in: Philosophische Rundschau 60/2 (2013), 91– 129. 6 Vgl. Thomas Meyer, Die Transformation des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, Kap. 20. 7 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, Cambridge 2000; Dies., Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, New York 2004; Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014, 123.185.203, die fragt: »Wie wird die Multitude zum politischen Subjekt?« (17), und zwar unter der Voraussetzung, dass sie nicht einfach als souveränes Wesen existiert, sondern im Prozess ihrer Repräsentation erst entsteht. An anderer Stelle ist gleichwohl davon die Rede, der demos »bestehe« (86) aus einer Vielzahl von demoi – und diese führten wiederum auf die Spur einer unberechenbaren und nicht abzählbaren Menge von singulären Existenzen, die keineswegs immer schon einer Menge oder gar einem Volk angehören. Das Souveränität und Subversion

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ständen auch um den Preis radikaler, polemogener Auseinandersetzungen, die von keinem gesellschaftlichen telos und von keinen gemeinschaftlichen, vermeintlich in der Natur politischer Zeitgenossen verwurzelten Vorstellungen vom Guten und Schlechten mehr überschirmt scheinen. 8 Was bleibt in einer solchen Lage noch von der klassischen Idee souveräner ›Staatshoheit‹ übrig? Was oder wer könnte sich in dieser Situation noch anmaßen, eine souveräne Position einnehmen und souverän handeln zu können? Stehen nicht längst alle nationalen, inter- und transnationalen Machtgefüge, die man als geeignete Kandidaten in Betracht ziehen könnte, im Prozess einer Globalisierung zur Disposition, die die Menschen weltweit zunehmend auf Gedeih und Verderb als derart aufeinander angewiesen erscheinen lässt, dass sich überhaupt kein politisches Subjekt mehr anmaßen kann, sich so aufzuführen, als sei es niemand anderem Rechenschaft schuldig und insofern (moralisch) allein auf der Welt? 9 Lag nicht genau dieses Phantasma dem klassischen Souveränitätsgedanken seit Jean Bodins

wirft die Frage nach mehrfachen, ggf. aufeinander aufbauenden Prozessen der Subjektivierung auf, die der Stimme des Einzelnen, einer Menge, eines Volkes und am Ende einer globalen Multitude Gehör verschaffen sollten. Ich lasse dahingestellt, ob diese Vorstellung bei Hardt und Negri nicht einem neo-romantischen politischen Vitalismus entspringt, der sich politisch schwerlich konkretisieren lässt. Vgl. Tobias Mulot, Sie schreiben einen Namen in den Himmel. Historische Überlegungen zur Politik der Multitude bei Michel Foucault, Pierre-Simon Ballanche und Jacques Rancière, in: Biopolitik – in der Debatte, hg. v. M. Pieper et al., Wiesbaden 2011, 227– 261. 8 Vgl. Aristoteles, Politik, 1253a, 18; Marcus T. Cicero, Über den Staat, Stuttgart 1995, 39 (= Erstes Buch [25]); Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, 27–31. Keineswegs schreiben sich die Apologeten der Multitude nahtlos in die Geschichte dieses Begriffs ein. Denn erstens entkoppeln sie ihn von jeglichem Gemeinschaftsbezug (wie ihn Cicero noch vorausgesetzt hatte, wenn auch nur im Aufeinanderangewiesensein der Menschen), zweitens schreiben sie ihm eine ›Macht der Menge‹ (multitudinis potentia) zu, von der bei Baruch de Spinoza, Politischer Traktat, Hamburg 2010, III, § 2, nicht die Rede ist, und drittens sehen sie in ihm nicht die anarchische Gefahr, wie sie Thomas Hobbes im Leviathan dargelegt hatte. Vgl. Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Die Engel und der General Intellect, Wien 2014, 25–34. 9 Was keineswegs ausschließt, dass ein entsprechender Versuch immer wieder gemacht wird; ggf. auch von Geheimdiensten, die sich jeglicher Rechenschaft entziehen. Was rezente Formen angemaßter Souveränität angeht, so führt der vorherrschende Blick auf die nationale Staatlichkeit und deren Transformationen womöglich sehr in die Irre.

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Absolutismuslehre 10 zugrunde? 11 Und erweist es sich nicht unter den aktuellen, sich stetig verschärfenden Bedingungen der Globalisierung mit ihren zunehmend gewaltträchtigen ökologischen, demografischen und wirtschaftlichen Herausforderungen als ganz und gar anachronistisch, d. h. überholt? 12 Ironischerweise sind es weniger politische Reaktionäre als vielmehr (nicht selten als radikal-demokratisch apostrophierte) Kritiker des Souveränitätsbegriffs, die ihm ungeachtet dieser Lage zu neuer Blüte verholfen haben. Aber nicht etwa im Rückgriff auf die neuzeitliche Lehre vom souveränen Herrscher oder auf die rousseausche, inzwischen ihrerseits als anachronistisch erscheinende Volkssouveränität, 13 sondern im Zuge einer Dekonstruktion des Begriffs, deren Dringlichkeit durch die bellizistische Rhetorik einer amerikanischen Regierung offenkundig wurde, nachdem sie unter dem bezeichnenIn seiner Schrift Sechs Bücher über den Staat definiert Bodin den Begriff der Souveränität als die höchste, unteilbare, unbeschränkte, nur dem König zukommende Letztentscheidungsbefugnis, die ihm die Macht verleihen sollte, im Staat verbindliches Recht auch gegen den Willen seiner Untertanen setzen zu können. Dieser aus der Gewalt der konfessionellen Bürgerkriege in Frankreich erwachsene Gedanke greift bereits dem modernen staatlichen Gewaltmonopol vor. Vgl. Wolfgang E. J. Weber, Jean Bodin. Sechs Bücher über den Staat (1576), in: Geschichte des politischen Denkens, hg. v. M. Brocker, Frankfurt a. M. 2007, 151–166. 11 Man muss sich m. E. fragen, ob dieses Phantasma nicht durch die üblichen, juridischen und staatstheoretischen Erläuterungen des Souveränitätsbegriffs kaschiert wird. Bekanntlich stellen sie auf die Fähigkeit einer natürlichen beziehungsweise juristischen Person zu ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmung ab, deren Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in dieser Hinsicht nicht fremdbestimmt sein soll. In diesem Sinne soll eine den Staat repräsentierende Instanz das souveräne Subjekt der von ihm ausgehenden Gewalt sein; und zwar sowohl nach innen wie auch nach außen. So wird diese Gewalt scheinbar jeglicher moralischen Rechtfertigungszumutung entzogen. Der Staat genügt als souveräner moralisch sich selbst und kennt keine Instanz, vor der sich seine ›Raison‹ rechtfertigen müsste. In diesem Sinne ist jeder souveräne Staat allein auf der Welt, auch wenn er sich auf völkerrechtliche Verträge einlässt. 12 So haben ehemals souveräne Staaten Anteile ihrer Macht an supranationale Organisationen wie die EU oder EURATOM abgegeben, ohne darum aber ihre nationale Eigenständigkeit vollkommen aufzugeben. Wichtiger noch ist, dass man die moralische Unbelangbarkeit heutiger Staaten und ihrer Repräsentationen für den Fall bestreitet, dass sie dem Anspruch, ihre Bürger zu schützen, nicht gerecht werden, für die dann eine internationale Responsibility to Protect eintreten soll. Dieser Begriff ist seit 2005 Bestandteil internationalen Rechts. 13 Vgl. Judith N. Shklar, Political Thought and Political Thinkers, Chicago 1998, Ch. 14; Ingeborg Mauss, Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder: der Niedergang der Demokratie, in: Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik, hg. v. M. Lutz-Bachmann/J. Bohman, Frankfurt a. M. 2002, 226–259. 10

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den Obertitel infinite justice einen nicht enden wollenden (wenn nicht in der Tat unendlichen) ›Krieg gegen den Terror‹ erklärt und all jenen ›Schurkenstaaten‹ drastische Konsequenzen angedroht hat, die in ihren Augen den Verdacht auf sich gezogen haben, eine bestimmte, als ›islamistisch‹ eingestufte Form terroristischer Gewalt zu unterstützen. Indem Jacques Derrida die Denunziation von rogue states beim Wort genommen hat, konnte er zeigen, dass im Prinzip jeder Staat, der Souveränität für sich in Anspruch nimmt, als ›Schurkenstaat‹ erscheinen kann, insofern er sich anmaßt, sich über jegliche unbedingte Herausforderung hinwegzusetzen, die seiner unumschränkten Macht widerstreitet. 14 Paradoxerweise bot Derrida auf diese Weise einen Begriff gegen die Souveränität des Staates – nicht nur des amerikanischen Staates, sondern jedes Staates, also der Staatlichkeit als solcher – auf, der traditionell mit diesem Begriff engstens zusammen gedacht worden war: die Unbedingtheit. Seit Bodin sollte staatliche Souveränität in mehrfacher Hinsicht als unbedingte gelten: • als unbedingt irrelative, d. h. absolute, besonders auf keine andere Macht relative oder durch sie eingeschränkte; • als unbedingt einheitliche, d. h. als unteilbare, die niemals sich selbst einschränkt, beschränkt oder aufteilt, um auf diese Weise ihre Einheit zu gefährden; • als unbedingt (moralisch) freie, d. h. hier: unbelangbare, die keinem Anderen die geringste Rechenschaft schuldig ist; auch nicht in der Ausübung »unbegrenzter Gewalt«; 15 • als unbedingt höchste, die über sich keine fremde Autorität duldet. Etc. 16 Unter diesen Voraussetzungen sollte der Staat unbedingt, d. h. auf jeden Fall, unter allen Umständen, ohne Einschränkung, ohne Vorbehalt und voraussetzungslos Gehorsam verlangen dürfen – einen Gehorsam, der als seinerseits bedingungsloser zugleich blind, dem Staat oder seinen Repräsentanten gegenüber in ›unbedingter Treue‹ ergeben zu sein hatte. Wir wissen, wohin das geführt hat. Vgl. Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a. M. 2003. 15 Weber, Jean Bodin, 157 (wie Anm. 10). 16 Von der territorialen Dimension der Souveränitätslehre sehe ich hier ganz ab; vgl. dazu Nicholas Onuf, World-Making, State-Building, in: The State and State Building: Theory and Practice, ed. by V. Rakić et al., Belgrade 2012, 1–29, hier 10 ff. 14

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Demgegenüber geht Derrida dazu über, die Begriffe Souveränität und Unbedingtheit vollständig voneinander zu trennen. 17 Das ist der entscheidende, radikale Schritt, der den klassischen, wie auch immer inzwischen bescheidener gewordenen Vorstellungen von abgeschwächter, relativierter, disseminierter oder gar nur noch simulierter und imaginierter Souveränität gewissermaßen den Rest gibt, sodass kaum noch vorstellbar ist, wie heute überhaupt noch von Souveränität im Sinne der klassischen Staatslehre zu reden sein soll. Genau dadurch, durch diesen Todesstoß, ist der Begriff der Souveränität aber wieder ins Gespräch gekommen und lebt, ironisch gesprochen, sozusagen postmortal wieder auf. Warum aber sieht sich Derrida überhaupt dazu genötigt, Souveränität und Unbedingtheit voneinander zu trennen? Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen, wobei es mir weniger darum zu tun ist, ob reale, womöglich bereits eingetretene politische Veränderungen, im Horizont der Globalisierung beispielsweise, diesen Schritt nahe legen, als vielmehr darum, welche Folgen sich für einen Begriff der Selbstheit ergeben, ohne den wir – und damit meine ich alle, die nach wie vor eine demokratische Lebensform für nötig, geboten und möglich halten – nicht auskommen. Denn wer anders als Menschen, Individuen, Subjekte oder politische Wesen, denen allerdings alles Wesentliche mangeln mag, sollte für die Stabilität, die Verlässlichkeit und Gastlichkeit einer solchen Lebensform bürgen, wer sollte sie bezeugen und für sie einstehen können, wenn nicht gerade sie: politische, menschliche Subjekte, solche Un-Wesen, die immerhin sich und Andere daraufhin befragen können, wer sie sind oder (sein) werden; und zwar nicht bloß jeder für sich, sondern füreinander und auf politisch verlässliche Art und Weise. 18 Die Wer-Frage zielt aber gerade auf die Selbstheit dieser Träger einer demokratischen Lebensform.

Vgl. Derrida, Schurken, 12 (wie Anm. 14). Wobei die spezielle Art der Verlässlichkeit, um die es hier geht, näher zu untersuchen wäre. Gewiss kann es sich nicht um eine schlichte Berechenbarkeit handeln, die uns auf bemitleidenswerte Art und Weise »vertrauenswürdig« erscheinen lässt, wie Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1995, 153, meint. Die Verlässlichkeit als ein Einstehen-für jene demokratische Lebensform lässt sich darauf am allerwenigsten reduzieren. Vgl. Burkhard Liebsch, Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen – in historischer Perspektive, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 99/2 (2013), 152–172.

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So gesehen muss es geradezu tragische Konsequenzen haben, wenn Derrida jedes Denken der ›Selbstheit‹ (ipséité) einer Souveränität verdächtigt, der er zum Vorwurf macht, einen ihr niemals zur Verfügung stehenden und durch sie nicht einmal mit radikalster Gewalt aus der Welt zu schaffenden unbedingten Anspruch nicht zuzulassen. Genau davon aber hängt für Derrida letztlich allein ab, ob wir die Vorstellung einer (staatlichen, aber auch individuellen und persönlichen) Souveränität endlich hinter uns lassen können, die sich (moralisch beziehungsweise ethisch) so aufführt, als sei sie allein auf der Welt, als genüge sie sich selbst und sei keinem Anderen die geringste Rechenschaft schuldig. 19 So sehr man inzwischen auch die Staaten der Gegenwart in inter- und transnationale Machtgeflechte einzubinden versucht, so sehr einige von ihnen auch Elemente ihrer Souveränität delegiert zu haben scheinen (was dem klassischen Begriff zufolge eigentlich ein Widersinn ist), so sehr verlangt Derrida doch, daran zu zweifeln, ob wir jenes Phantasma einer souverän sich selbst genügenden und zum Anderen sich absolut indifferent verhaltenden Souveränität überwunden haben. Und er verficht offenbar die These, dass das nur gelingen kann, wenn wir eine politisch unverfügbare Unbedingtheit denken können – eine Unbedingtheit, die sich auch dem menschlichen Selbstsein vollkommen entzieht; und zwar so sehr, dass wir scheinbar nur beide Begriffe, die Souveränität und die Ipseität, in einem Zug verwerfen können, um endlich zu einem anderen Denken des Politischen vorzustoßen – zu einem Begriff des Politischen im Zeichen des Anderen, eines unbedingt Anderen, der keiner politischen Verfügungsmacht und keiner Selbstheit untersteht. Aber lässt sich menschliches Selbstsein nicht auch anders, nämlich als nicht-souveränes (oder in ganz anderer Art und Weise souveränes) denken? Und bedürfen wir nicht gerade eines solchen, für unbedingte Ansprüche aufgeschlossenen Selbst, um uns auch demokratische, gastliche Lebensformen vorstellen zu können, die sich ihrerseits dem Anspruch des Anderen gegenüber öffnen? 20 Bevor Vgl. Francis Jacques, Über den Dialog. Eine logische Untersuchung, Berlin 1986, 54. 20 An dieser Stelle scheiden sich allerdings die Geister in der Frage, ob es sich hier lediglich um eine bemerkenswerte Generosität oder um eine jeglicher subjektiver Initiative zuvorkommende Subversion des Selbstseins (im Sinne des genitivus obiectivus) handelt, die es ausgesetzt sein lässt, ohne dass das auf ein souveränes Sichaussetzen zurückzuführen wäre (wie es Georges Bataille nahe gelegt hat). Vgl. Elena 19

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ich auf diese Frage in einer kritischen Wendung gegen Derrida zurückkomme, möchte ich zunächst daran erinnern, wie es überhaupt zu einer Apologie unbedingter Alterität kommen konnte, die heute so energisch jeglichem Souveränitätsdenken entgegengesetzt wird.

II Die Lehre politischer Souveränität ist ein spezifisch europäisches Erbe, das die internationalen Verhältnisse bis heute schwer belastet. 21 Das beweisen alle Fälle, in denen sich Staaten gegen fremde Einmischung in ihre sogenannten ›inneren Angelegenheiten‹ verwahren. Mit diesem Euphemismus kaschiert man bekanntlich selbst schwerste Verletzungen der Menschenrechte, die die jeweiligen Bevölkerungen wehrlos über sich ergehen lassen müssten, wenn wir den letzten Verfechtern einer barbarischen, Anderen keinerlei Rechenschaft schuldigen Staatsraison folgen würden. Mit einer derart rücksichtslosen Verfügung über diese Rechte soll es nun ein Ende haben. 22 Wie, das zeigt u. a. die Arbeit des UN-Kontingents (MONUSCO) auf kongolesischem Boden, wo bis heute in einer zerrütteten Staatlichkeit die Folgen souveränen, machtstaatlichen Handelns offenkundig sind, das von Europa nach Afrika exportiert worden ist. 23 In diesem Fall nach der Berliner Kongo-Konferenz des Jahres 1885, die es bekanntlich dem belgischen König Leopold II. gestattet hat, den klassischen Traum unumschränkter Souveränität noch einmal WirkPulcini, Das Individuum ohne Leidenschaften. Moderner Individualismus und Verlust des sozialen Bandes, Berlin 2004, 208–215; Jacques Derrida, Berühren. Jean-Luc Nancy, Berlin 2007, 32. 21 Vgl. Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1987, Kap. IV und VI f.; Ders., Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a. M. 2 2007, 14. 22 Vgl. Daniel J. Goldhagen, Worse than War. Genocide, Eliminationism, and the Ongoing Assault on Humanity, New York 2009, 544.592, sowie die Beiträge in Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy 2/1 (2014). 23 Vgl. Robert Stockhammer, Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. den aktuellen Bericht von Raymond Gilpin, Testimony before the Senate Foreign Relations Committee at A Public Hearing on Prospects for Peace in the DRC and Great Lakes Region, 26th February 2014 (zuletzt geprüft am 13. 03. 2015; R. K.). Vgl. http://allafrica.com/stories/201402281597.html. Für den entsprechenden Hinweis danke ich Pooja Chawda. Souveränität und Subversion

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lichkeit werden zu lassen. Mark Twain, der nicht ahnen konnte, dass dieser Traum noch lange nicht ausgeträumt war, hat dazu im Jahre 1905 mit King Leopold’s Soliloquy einen sarkastischen Abgesang geschrieben, der prägnant auf den Punkt bringt, worum es in der Behauptung beziehungsweise Stilisierung politischer Souveränität ging: Um die »Konzentration der absoluten Gewalt und der absoluten Ausnahme in einem einzigen Punkt unteilbarer Singularität (Gott, Monarch, Volk, Staat oder Nationalstaat)« 24 . Diese souveräne Singularität sollte demnach auf nichts anderes gegründet, allein sich selbst verpflichtet und dazu in der Lage sein, sich als unbegrenzte Gewalt beziehungsweise Macht und in absolut unbelangbarer Art und Weise zu behaupten. Was auch immer normativ gelten sollte, diese Macht durfte sich demnach von jeglicher, auch von einer selbst eingegangenen vertraglichen Verbindlichkeit ausnehmen oder entbinden – »unhampered«, »without hesitation«, »irresponsible«, »above all law«, »trampling anything under foot«, »immune from reproach«. 25 Dass man ihm, dem souveränen Herrscher, nicht nur über Belgien, sondern auch über den Besitz der Kolonie Kongo unberechtigterweise das Recht zu derart selbstherrlichem Verhalten bestreiten wolle, beklagt das bittere, verständnislose Selbstgespräch des Monarchen, das Mark Twain in der Abenddämmerung politischer Souveränität inszeniert. Der König, der sie als »sole« und »absolute master« 26 personifiziert, versteht nicht, was man von ihm will, wenn man die drakonische Praktik der abgeschlagenen Hände moniert, mit der er die Effektivität seiner Ausbeutung der Ressourcen des afrikanischen Landes sicherzustellen versuchte. So wie dieses Selbstgespräch den König als Beleidigten und durch moralische Kritik Gekränkten hinstellt, suggeriert es wenigstens eine minimale Nicht-Indifferenz des Herrschers angesichts moralischer Vorwürfe. Indem dieser sich mit ihnen auseinandersetzt (wenn auch nur im Narzissmus seiner angemaßten Souveränität), zeigt er im fingierten Dialog mit sich selbst, dass er sich nicht vollkommen indifferent zu ihnen verhalten kann. Doch in der bevorstehenden Zukunft der Souveränität sollten die modernen Diktatoren – allen voran Stalin und Hitler – dem Anschein nach jegliche Spur 24 25 26

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Derrida, Schurken, 208 (wie Anm. 14). Mark Twain, King Leopold’s Soliloquy, New York 1971, besonders 30.34.41.75. Ebd.

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solcher Nicht-Indifferenz 27 tilgen. Erst durch diesen Exzess der Souveränität ist deren ideengeschichtliche Erbschaft vollkommen diskreditiert worden. Das sieht auch der gegenwärtig wohl schärfste Kritiker dieses Begriffs so: Giorgio Agamben. Agamben begnügt sich allerdings nicht damit, diese Erbschaft und das Erfordernis ihrer radikalen Revision auf die moderne, mit Jean Bodin, Johannes Althusius, Hugo Grotius und Samuel Pufendorf anhebende Souveränitätslehre zurückzuführen. Vielmehr verfolgt er die Spuren der Vorstellung souveräner menschlicher Macht bis weit in die Anfänge beziehungsweise Ursprünge des Politischen hinein und wird schließlich in der Antike fündig. Kommt nicht schon in der aristotelischen Politik jenes nackte Leben zum Vorschein, dessen sich die souveräne Macht Anderer bemächtigen kann? Und zwar gerade dadurch, dass ihm jeglicher eigener politischer Sinn abgesprochen wird? 28 Neigt nicht schon das klassische Denken des Politischen dazu, ein restlos depolitisiertes, jeglicher Zugehörigkeit zu einer mit Anderen geteilten ›Lebensform‹ (bios) entbehrendes und insofern nacktes ›Leben‹ (zoe) auszuschließen, mit dem anscheinend im ›Krieg‹ (polemos) beliebig verfahren werden kann? 29 Gewiss: Erst die Moderne lässt genau dieses nackte Leben zum Gegenstand politischen Handelns aufrücken (wenn wir Foucaults Analysen sogenannter BioPolitik folgen 30 ). Aber die entsprechende Möglichkeit stellte dem Anschein nach das politische Denken des Okzidents von Anfang an bereit. 31 Insofern müsste der Ursprung des Politischen im abendländischen Horizont als von Anfang an verdorben gelten, weil er den Zum Begriff der Nicht-Indifferenz vgl. Burkhard Liebsch, Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br. 1999, Kap. V. 28 Dieser suggestiven Frage Agambens wäre allerdings unter Hinweis auf die bekannte Rede vom zoon politikon und vom zoon logon echon zu widersprechen, die darauf aufmerksam macht, dass Aristoteles keine eindeutige Grenze zwischen den allenfalls mit einer ›Stimme‹ (phone) begabten Lebewesen einerseits und vernünftig Redenden andererseits zieht, die ihr Leben führen und es in ›Lebensformen‹ (bioi) Gestalt annehmen lassen. 29 Vgl. Platon, Politeia, Buch V, 470a-d; Menexenos 242d. – Affirmiert nicht selbst Jean-Luc Nancy, Wahrheit der Demokratie, Wien 2009, 64, noch jene Beliebigkeit, wenn er schreibt, Demokratie bedeute, »dass weder der Tod noch das Leben an sich etwas wert ist, sondern dass nur die geteilte Existenz etwas wert ist, insofern sie sich ihrer Abwesenheit eines letzten Sinnes wie ihres wahren – und unendlichen – Sinnes aussetzt«? 30 Zu Agamben und Foucault vgl. Burkhard Liebsch, Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, Teil C. 31 Vgl. Agamben, Homo sacer, 16 f.191 (wie Anm. 4). 27

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Boden bereitet hat für eine rücksichtslose Machtergreifung über das Leben Anderer, aus der die neuzeitliche Souveränitätslehre zunächst nur die machtstaatlichen, Jahrhunderte später unter ganz anderen realen Bedingungen dann aber in äußerste Gewalt umschlagende Konsequenzen zieht. Die Schuld, die die europäische Geschichte des Politischen in Agambens Augen bis heute belastet, liegt darin, das menschliche Leben als eines vorgestellt zu haben, dessen sich Andere indifferent bemächtigen können, um es in den Tod zu stoßen – so wie es der römische Vater offenbar mit seinem Sohn tun konnte. 32 Wo in diesem Sinne ›bloßes‹ oder ›nacktes‹ Leben vorliegt, ist demzufolge Souveränität möglich; und zwar eine tödliche Souveränität, vor der das Leben Anderer in keiner Weise mehr geschützt ist, auch nicht dadurch, dass es mit rührenden oder flehenden Augen denjenigen verantwortlich macht, der in der Kanzlei der souveränen Macht oder vor Ort, an der Rampe eines KZ, über es verfügt. Der Spur eines solchen ethisch radikalisierten Verantwortungsdenkens, wie wir es in der Philosophie von Emmanuel Levinas und auch Hans Jonas antreffen, folgt Agamben indessen nicht. Vielmehr liegt ihm daran, besonders die modernen Transformationen der Souveränität herauszuarbeiten, die sich keineswegs in einer Geschichte politischer Herrschaft im engeren Sinne erschöpfen. In seiner Auseinandersetzung mit Michel Foucault und Hannah Arendt zeigt Agamben, wie souverän in den Tod stoßendes Handeln paradoxerweise gerade in meist als ›totalitär‹ eingestuften politischen Regimes derart möglich geworden ist, dass sich beliebige kleine Machthaber zu ihm ermächtigen konnten. 33 So hat es die in weiten Teilen des politischen Systems geradezu anarchische Herrschaftsform des Nationalsozialismus unzähligen Untätern gestattet, straflos selbst über Leben und Tod Anderer zu entscheiden, d. h. sie nicht nur nach Belieben sterben zu lassen, sondern ihnen sogar ihren Tod zu rauben. 34

Vgl. Giorgio Agamben, Mittel ohne Zweck, Freiburg i. Br. 2001, 13 f. Vgl. Friedrich Balke, Die Signatur des Feindes. Carl Schmitt und die Moderne, in: Vom Sinn der Feindschaft, hg. v. Ch. Geulen et al., Berlin 2002, 133–152, hier 140.143. 34 Vgl. Burkhard Liebsch, Landschaften der Verlassenheit – Bilder des Desasters: Maurice Blanchot und Georges Didi-Huberman, in: Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit. Maurice Blanchot und die Leidenschaft des Bildes, hg. v. M. Gutjahr/M. Jarmer, Wien 2015 (im Erscheinen). 32 33

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Wer derart souveräner, keineswegs mehr in der Hand einer Macht konzentrierter, vielmehr dezentrierter Herrschaft in die Hände geriet, konnte nicht einmal mehr damit rechnen, zu sterben. 35 Diese Erfahrung ging weit über jene bloße zoe, jene gegen die potestas des Vaters nichts vermögende nackte vita eines Kindes und über jenes als »solitary, poore, nasty, brutish, and short« 36 beschriebene Leben hinaus, dessen sich ein hobbesianischer Leviathan bemächtigen konnte. Denn die in der totalitären Macht gewissermaßen wild gewordene Souveränität schritt zu einer seriellen und absolut desaströsen Vernichtung fort, als wolle sie den endgültigen Beweis dafür erbringen, was schon der antike Begriff des bloßen Lebens nahegelegt hatte: dass man sich aller Anderen, die nur in diesem schlichten Sinne leben, indifferent bemächtigen und sie ohne jegliche Rücksicht liquidieren kann. Nicht nur Hitler, sondern alle, die in seinem Namen Mordbefehle befolgt oder aus eigener Initiative, aber im gleichen Geiste barbarisch-grausam, routiniert oder auch kaltblütig seriell getötet haben, haben diese Konsequenz des abendländischen Souveränitätsdenkens vollstreckt, das sich so allerdings als nicht mehr an ein Zentrum politischer Herrschaft gebunden erwiesen hat. 37 Mit derridaschen Begriffen könnte man diese Diagnose Agambens zu reformulieren versuchen: Die problematische, bis heute anhaltende Erbschaft des klassischen Souveränitätsdenkens liegt abgesehen vom Ursprung des Politischen selbst und vom spezifisch Insofern setzten Theorien der Souveränität, die in ihr vor allem unumschränkte Macht über das Leben und den Tod Anderer sehen, nicht radikal genug an. Auf dem Spiel steht auch die menschliche Sterblichkeit selbst. Allerdings muss man bezweifeln, ob tatsächlich eine solche Macht einzuräumen ist. Die Frage ist gerade, wie weit sie gehen kann. Sind Andere tatsächlich indifferent in den Tod zu stoßen, sei es auch nur dadurch, dass man sie ihrem nackten Leben einfach überlässt? Geht vom Anderen nicht ein Anspruch aus, nicht derart behandelt zu werden? Muss eine solche Form der Macht darum nicht als eine Form der Gewalt gelten? Und findet eine solche Form der Macht nicht eben deshalb ihre Grenze am nicht indifferenten Anspruch des Anderen? Ich sehe nicht, wie auf eine Bio-Macht oder -Politik à la Foucault verkürzte Diskussion des Souveränitätsbegriffs diesen Fragen bislang gerecht werden könnte. 36 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt a. M. 1984, 96. 37 Für Agamben, Homo sacer, 124 (wie Anm. 4), hat Hitler die indifferente Tötbarkeit im großen Stil realisiert. Aber das konnte er nur mit Hilfe von Tausenden kleiner Souveräne, die sich die gleiche Macht über das Leben Anderer anmaßten; und zwar in einem mörderischen Handeln vor Ort, das gar nicht bis ins Letzte befehlbar war. Die notorische Berufung auf einen Befehlsnotstand vernebelte regelmäßig die Selbständigkeit des fraglichen Tuns. Vgl. Liebsch, Geschichte, Kap. IV (wie Anm. 27). 35

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neuzeitlichen Staatsdenken als einer fatalen Auffassung politischer Herrschaft, deren souveräne raison sie wie im Fall jenes belgischen Königs jeglicher Rechtfertigung entzieht, in der Vorstellung indifferenter Gewalt über das Leben Anderer, die sich grundsätzlich jeder anmaßen und der jeder zum Opfer fallen kann, wenn sich die Ausübung souveräner Gewalt von den klassischen Instanzen monarchischer und nationaler Staatlichkeit löst und auf diese Weise gewissermaßen entfesselt wird. Herrscht diese Vorstellung souveräner Macht über das Leben Anderer auch heute noch? Und zwar auch dort, wo man längst damit begonnen hat, das Recht souveräner Staaten, mit ihren Bürgern ohne jegliche Rechenschaftspflicht nach eigenem Gutdünken zu verfahren, in Frage zu stellen? Haben wir, anders gewendet, die Vorstellung eines indifferent tötbaren Lebens tatsächlich hinter uns gelassen und uns zu einem anderen Begriff des Lebens vorgearbeitet, das man nicht einfach liquidieren kann, ohne einen Mord zu begehen? 38 Agamben meldet daran energische Zweifel an. Und er kann dabei mit Recht auf eine Vielzahl von Grenzziehungen zwischen im engeren Sinne menschlichen und noch nicht oder nicht mehr als solches geltenden Formen des Lebens hinweisen, durch die diese Frage bis heute virulent ist. Anders als Agamben weist Derrida nun aber einen Ausweg aus den fatalen Konsequenzen eines Souveränitätsdenkens, in dem es offenbar keinen Einwand dagegen gibt, sich aus eigener Machtvollkommenheit gleichgültig am nackten Leben Anderer zu vergehen. Wenn im Politischen vor allem Souveränität auf dem Spiel steht (in wie auch immer scheinbar gemäßigten, zeitgemäß angepassten, zerstreuten, nur mehr imaginären oder simulierten Formen) und wenn die Souveränität letztlich bedingungslose Herrschaft und Gewalt über Andere bedeutet, die die skizzierten Konsequenzen hat, müssen wir, wenn wir diese Konsequenzen als absolut unannehmbar einstufen, dann nicht in der Tat die der Souveränität vielfach attestierte Unbedingtheit bestreiten? Genau das tut Derrida, indem er auf einer ihrerseits unbedingten Alterität besteht, die, wie er glaubhaft zu machen sucht, keiner menschlichen Verfügungsmacht unterstellt zu denken ist. So erfolgt seine Kritik der Souveränität im Zeichen unbedingter Alterität, die sie allerdings nicht nur bezeugt, sondern auch empfindlich schwächt, da diese Kritik anscheinend keiner Selbstheit zutraut, für die besagte 38

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Vgl. Agamben, Homo sacer, 93 (wie Anm. 4).

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Alterität einzustehen. 39 Bei Derrida verfallen vielmehr die ›Selbstheit‹ (ipséité) und die Souveränität im gleichen Zug einer sie geradezu vernichtenden Kritik, die zu besagen scheint: Es gibt überhaupt keine souveräne Selbstheit; dergleichen hat es nie gegeben und wird es nie geben. 40

III In einer offenbar durchgängig bedingten Welt mag die als absolute, unumschränkte und ungeteilte Herrschaft aufgefasste Idee der Souveränität immer schon ein Unding gewesen sein. In einem Zeitalter wie der Moderne, in der man sich immer wieder dazu bekannt hat, auf jegliches Absolute verzichten und auch jede weitere Suche nach Unbedingtem aufgeben zu wollen, musste diese so aufgefasste Idee aber erst recht als Anachronismus erscheinen. Auf Novalis’ bekannten Spruch »Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge« 41 repliziert Heidegger nicht umsonst (freilich kritisch) mit der These: »Wir sind – im strengen Sinne des Wortes – die BeDingten. Wir haben die Anmaßung alles Unbedingten hinter uns gelassen.« 42 Durchaus mit Heidegger verabschiedet Derrida nun auch den Begriff der Souveränität, insofern er eine derartige Anmaßung beinhaltet. 43 Dennoch lässt sich speziell sein Buch Schurken als eine Tatsächlich verstehe ich aber speziell Derridas Ausführungen zu Europa so, dass er dieses geradezu als ein ›Versprechen‹ begreiflich zu machen versucht, einer ihm einbeschriebenen unbedingten Alterität gerecht zu werden. 40 Damit hat die Dekonstruktion beider Begriffe allerdings nicht ihr Bewenden, läuft sie doch darauf hinaus, jene unbedingte Alterität der Souveränität gewissermaßen einzuschreiben und umgekehrt diese auf jene zu verpflichten und einer radikal revidierten Souveränität zuzutrauen, diese Alterität zu schützen. So versteht Derrida, Schurken, 143 (wie Anm. 14), schließlich auch die gastliche Demokratie als eine zur Souveränität aufgeforderte, spricht ihr aber jegliche ›reine‹ Souveränität ab. 41 Novalis, Blütenstaub § 1, in: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. II (1797–1798), hg. v. P. Kluckhohn, Stuttgart 1965, 413–464. 42 Martin Heidegger, Das Ding, in: Bremer und Freiburger Vorträge, Gesamtausgabe, Bd. 79, hg. v. P. Jaeger, Frankfurt a. M. 2 2005. 43 Darüber hinaus suggeriert Derrida, Souveränität sei immer angemaßte Souveränität, es könne sie also gar nicht anders denn als angemaßte geben. Um effektiv zu sein, muss angemaßte Souveränität aber im Modus des Imaginären bewirken, dass Andere tatsächlich an sie glauben. Und das kann so weit gehen, dass man selbst dann, wenn man den souveränen Machthaber seiner repräsentativen Kleider, seines öffentlichen 39

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Apologie des Unbedingten verstehen. Aber es handelt sich bei näherem Hinsehen keineswegs um ein Unbedingtes, auf das man Anspruch erheben, das man für sich selbst reklamieren und von dem man Besitz ergreifen könnte. Im Gegenteil: Es geht um ein Unbedingtes, das sich nur durch einen unbedingten Anspruch an uns erschließt. 44 Als solches lässt es uns ihm gegenüber stets zu spät kommen. Es geht uns uneinholbar voraus und lässt sich als solches nicht einmal erwarten. Es überkommt uns wie ein unberechenbares, nicht antizipierbares Ereignis, auf dessen ›Kommen‹ wir höchstens gefasst sein können, ohne aber je vorab zu wissen, worum es sich handeln (und worum es sich gehandelt haben) wird. Insofern ist es irreführend, Derridas Loblied auf eine gastliche, politische und speziell demokratische Lebensform, die sich für das Kommen des Unbedingten aufgeschlossen erweisen soll, umstandslos mit der Ankunft des Anderen als eines persönlichen und menschlichen Anderen gewissermaßen kurzzuschließen (wie es in allzu schlichten Konzeptionen kultureller Gastlichkeit nicht selten geAnsehens und schließlich seines Kopfes beraubt hat, um ihn als schwach, restlos menschlich und schließlich als Nullität zu demaskieren, durch die entsprechenden Gewalttaten selbst souverän zu handeln glaubt; mit der Folge, dass souveräne Herrschaft nicht etwa zerstört wird, sondern an diejenigen übergeht, die ihr in der Person des Königs höchstpersönlich den Garaus gemacht zu haben glauben. So fallen die Liquidierer der Souveränität ihrer eigenen Imagination zum Opfer und schreiben die Geschichte angemaßter Souveränität fort, die unter revolutionären und demokratischen Bedingungen umso schwerer erkennbar wird, wie eine nicht mehr im Körper eines Herrschers repräsentierte Souveränität unsichtbar oder ›desinkorporiert‹ (Claude Lefort) wird. Vgl. Albrecht Koschorke et al., Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M. 2007, 119–131. Hier müsste man weiter der Frage nachgehen, ob es eine rigorose Kritik der Souveränität nicht auch erfordern würde, das Unterworfensein (oder vielmehr das Sichunterwerfen) unter die Macht der eigenen Imagination zurückzuweisen, ohne die die Macht souveräner Herrschaft niemals funktionieren kann. Ob es sich um eine ›freiwillige Knechtschaft‹ à la Etienne de la Boétie handelt, die erst die Effektivität des Scheins einer vermeintlich realen Souveränität begründet, die sich angeblich durch ihr bloßes In-Erscheinung-treten durchzusetzen vermag, bleibe dahingestellt. Viel spricht dafür, dass letzteres nur möglich ist, wo man kraft der Imaginationen Anderer, die an ein solches Erscheinen auch glauben, mit der Macht spielt, die einem eingeräumt worden ist. Vgl. Jean Starobinski, Das Leben der Augen, Frankfurt a. M. 1984, 21. Keineswegs steht das souveräne Erscheinen allein in der Verfügungsmacht derer, die ›Eindruck machen‹ wollen, sei es auch gerade dadurch, nicht persönlich zu erscheinen. 44 Vgl. Burkhard Liebsch, Einleitung. Spielarten der Un-Bedingtheit und ihr fragliches Gewaltpotenzial, in: Bedingungslos? Zum Gewaltpotenzial unbedingter Ansprüche im Kontext politischer Theorie, hg. v. ders./M. Staudigl, Baden-Baden 2014, 23–58.

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schieht). Das Unbedingte, das uns nur in unbedingter (voraussetzungsloser, unumgänglicher und stets absolut überraschender) Art und Weise begegnen soll, lässt sich in keiner Weise auf das In-Erscheinung-treten eines/r ›persönlichen‹ Anderen reduzieren, der/die sich doch stets auch anders als er oder sie selbst erweisen kann. So lässt sich die Anderheit der Anderen niemals von einer abgründigen Andersheit trennen und im Zeichen einer angeblich absolut guten Anderheit sakralisieren. Die Differenz beider Begriffe und deren Kontamination bringt die verbreitete Rede von einer unbedingten Alterität häufig zum Verschwinden. Es ist aber unabdingbar, sie zu bedenken, soll nicht Derridas Apologie einer ›unbedingten‹ Demokratie zu einer beschaulichen Lehre ihrer ›Aufgeschlossenheit‹ für Fremde (etwa im Rahmen einer ›Kultur des Willkommens‹) verkürzt werden. Der unbedingte Anspruch jener Ander(s)heit ist nichts, was wir aus freien Stücken und im Zeichen einer womöglich lobenswerten Generosität Anderen entgegenbringen, sondern, im Gegenteil, ein nur als pathos zu kennzeichnendes Moment des Widerfahrnisses des absolut Überraschenden, das sich in jedem Ereignis bemerkbar machen kann, welches seinen Namen verdient. Nur so, als absolut Überraschendes, in keiner Weise Antizipierbares und in keiner Weise Verfügbares, setzt Derrida das Unbedingte der Souveränität entgegen und verlangt in kryptonormativer Redeweise eine gastliche Demokratie, die sich für jene Alterität aufgeschlossen erweise, nicht mehr als souveräne zu denken, sondern sie als bedingungslos auf das Kommen des Anderen eingestellt zu begreifen. Derrida geht so weit, zu behaupten, auf der ihrerseits erst ›kommenden‹, aber keineswegs erst in der Zukunft liegenden, sondern hier und jetzt schon im Advent befindlichen Demokratie, 45 Derrida, Schurken (wie Anm. 14), insistiert immer wieder darauf, das Kommen und den Aufschub der Demokratie nicht temporal gedacht (vgl. ebd., 61.105) und nicht die schon von Rousseau ausgesprochene Binsenweisheit gemeint zu haben, dass es nie die Demokratie geben wird (vgl. ebd., 105.117.129). Vielmehr gehe es um eine radikale Ereignishaftigkeit, die jeder politischen Gegenwart einbeschrieben bleibt, ohne sich in deren Horizonten aufheben zu lassen (vgl. ebd., 182.192). Insofern liegt tatsächlich die Bedrohung der Demokratie stets im Versprechen der Demokratie selber, sich als unbedingt gastliche zu erweisen. – Es ist im Übrigen ein Desiderat, dieses Versprechen genealogisch aufzuklären. Es liegt nahe, auf Saint-Justs Essai de Constitution aus dem Jahre 1793 zu verweisen, wo es in der vierten der Dispositions fondamentales heißt: »Les étrangers, la foi du commerce et des traités, l’hospitalité, la paix, la souveraineté des peuples sont choses sacrées. La patrie d’un peuple libre est

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müssten ›alle Hoffnungen‹ liegen – obwohl die unberechenbare Alterität keineswegs nur Gutes verheißt. 46 So kann Derrida denn auch nicht unter Verweis auf diese Alterität namhaft machen, was oder wer ankommen soll (sofern jenes Kommen überhaupt eine konkrete Ankunft in Aussicht stellt 47 ). Er weiß nur: Jede Form der Souveränität muss sich gewissermaßen ignorant verhalten angesichts dieser Alterität; und das Gleiche, so glaubt er, muss für jede, stets auto- beziehungsweise ipso-kratisch verfasste und insofern ebenfalls unvermeidlich Souveränität beanspruchende Selbstheit gelten. 48 Es kann für Derrida keine Selbstheit ohne Souveränität geben; kein Selbst, das sich nicht anmaßen würde, sich als

ouvert à tous les hommes de la terre« (Œuvres Complètes de Saint-Just, Paris, 1984, 425–442). Bekanntlich hat aber die Dynamik der Französischen Revolution eine progressive Verdächtigung gegen deren vermutete äußere und innere Feinde hervorgebracht. Zunächst richtet der Verdacht sich gegen die Feudalität, die von Renten lebt; dann richtet er sich gegen konterrevolutionäre Konspiration im In- und Ausland; am Ende schließlich werden überall Feinde gewittert. Wachsamkeitskommitees stellen alle unter Verdacht. Das mündet in die Schreckensherrschaft als einen ›Krieg der Freiheit gegen ihre Feinde‹, besonders aber gegen diejenigen, die sich als solche nicht zu erkennen geben. Gerade die den Revolutionären am meisten Ähnlichen, die ihnen zum Verwechseln gleichen, werden schließlich rigoros verfolgt, sodass die Revolution ihre Kinder zu fressen beginnt, vgl. Michel Vovelle, Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frankfurt a. M. 1985, 35 ff.112 f. So bekannt diese Zusammenhänge sind, so sehr bleibt die entscheidende Frage noch aufzuklären: Worin wurzelt letztlich dieser ›perverse‹ Exzess souveräner Herrschaft, gegen den eine prima facie überaus gastliche, jeden Fremden einbeziehende politische Lebensform nichts auszurichten vermochte? (a) Im Ursprung des Politischen selbst, wie es Agamben nahe legt? (b) In der spezifisch neuzeitlichen Lehre souveräner Herrschaft? (c) Im revolutionären Exzess solcher Herrschaft, die gerade im Zeichen einer universalistischen Ideologie der brüderlichen Einbeziehung aller Anderen eine Paranoia der Bedrohung durch unsichtbare Feinde heraufbeschwört? Ist die gleiche, (d) paranoide Logik nicht auch in der anti-universalistischen, auf die Reinigung von allem Fremden abzielende Ideologie des Nazis zum Vorschein gekommen, gegen die Philosophen wie Levinas und Derrida schließlich eine primäre Gastlichkeit setzen, die auch den radikalen Feind nicht ausschließen soll? Liegt aber nicht gerade darin (e) eine radikale Überforderung des Politischen, die rigorose Abgrenzungen gegen den Anderen, den Feind und den Fremden auf den Plan ruft? Liegt diese Überforderung im Ursprung des Politischen selbst schon oder erst in einer universalen Öffnung demokratischer Lebensformen, wie sie bei Saint Just anklingt? Lässt sich heute eine derartige Öffnung denken, ohne auf ein ›Vokabular der Einmütigkeit‹ im Geist einer pseudo-familiären Verwandtschaft aller Menschen zurückzugreifen? 46 Vgl. Derrida, Schurken, 13 (wie Anm. 14). 47 Vgl. ebd., 19. 48 Vgl. ebd., 27 f.36.

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möglichst unumschränktes ›Können‹ zu behaupten, als Herrschaft über sich und selbst über all das, wovon man behauptet hat, es vermöge, uns auch gegen unseren Willen zu affizieren, zu sensibilisieren oder heimzusuchen. Selbstsein impliziert so die These: ›Ich kann‹ – und zwar selbst das, was mir zustößt. Bis in unsere Passivität hinein müssten wir demzufolge fähig sein, Anderes und Andere zu empfangen. 49 Selbst unsere Rezeptivität, Sensibilität und Passivität wären so gesehen noch Ausdruck unseres Könnens – und unvereinbar mit einer radikalen Aufgeschlossenheit für eine unabsehbare Alterität, wie sie Derrida als Herausforderung zu einer unbedingten Gastlichkeit menschlichen Lebens im Allgemeinen und politischen Lebens im Besonderen ins Spiel bringt. 50 So gesehen kann kein souveränes Leben, kein Selbst und keine Form politischer Herrschaft das realisieren, was uns in Wahrheit unweigerlich abverlangt ist: eine unbedingte Gastlichkeit oder sogar Gastfreundschaft, in der wir uns für jene unbedingte Alterität aufgeschlossen erweisen müssen – und sollten: müssen, weil sie tatsächlich unvermeidlich zu sein scheint; und sollten, weil ein Leben, das dies nicht zu realisieren vermöchte, damit rechnen müsste, von einer unberechenbaren Ander(s)heit – gewaltsam – überrascht zu werden. Aber kann daran eine unbedingte, niemals souveräne und niemals auf eigenes Können zu gründende Gastlichkeit im Geringsten etwas ändern? Kann sie denn »das Unberechenbare in Rechnung stellen« 51 ? Und das selbst in einer Öffnung zum ›beliebigen Jemand‹ hin, der sich immer als Anderer herausstellen und jedes Sicheinstellen auf einen erwarteten und willkommen geheißenen Gast durchkreuzen kann? 52 Während eine in sich verschlossene Souveränität niemals in diesem Sinne mit jener Alterität rechnet, sodass diese ihr gerade deshalb in absolut überraschender und womöglich gewaltsamer Art und Tatsächlich findet man diese Engführung von Selbstsein und Können bei Ricœur mit Nachdruck bestätigt. Aber auch dieser Philosoph stößt am Ende in seiner Hermeneutik des Selbst auf Momente eines Widerstands gegen das Selbstsein und im Selbstsein, die sich dessen Vermögen entziehen; vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996; Burkhard Liebsch, Das leibliche Selbst und der Widerstand des Anderen. Paul Ricœur mit Blick auf Maine de Biran und Emmanuel Levinas, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 58/2 (2011), 471–493. 50 Vgl. Derrida, Schurken, 198 f. (wie Anm. 14). 51 Ebd., 215. 52 Vgl. ebd., 32.80. 49

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Weise widerfahren kann, soll umgekehrt eine gastliche, niemals souveräne politische Lebensform nun gerade mit dem Unberechenbaren eines solchen Widerfahrnisses rechnen können, ohne es dabei in irgendeiner Weise ihrem Vermögen, ihrem ›Können‹ zu unterwerfen. Im einen Fall stehen wir vor einer (zurückgewiesenen) Souveränität ohne Verhältnis zu jener Alterität, die ihr im singulären Widerfahrnis nur von außen scheint zustoßen zu können; im anderen Fall stehen wir vor einer (bejahten) Gastlichkeit, die sich scheinbar zu diesem Widerfahrnis aufgeschlossen verhält, die aber nichts daran ändern kann, dass es ihr niemals nur zu ihren Bedingungen widerfahren wird. So rechnet sie mit dem Unberechenbaren (oder macht sich auf es gefasst) und verstrickt sich in »die Aporie des Politischen und des Demokratischen« 53 , die an dieser Stelle keinen Unterschied zwischen Berechenbarem und Unberechenbarem mehr erkennen lässt. Die gleiche Aporie lähmt das Selbstsein, wenn es denn stimmt, dass es nur Souveränität prätendierendes Selbstsein geben kann. Auch wir selbst, in unserem selbsthaften Leben, haben demzufolge keine andere Wahl als uns entweder als vermeintlich souveräne Subjekte der Zumutung des Anderen, des Heterogenen, des Inkommensurablen etc. in unserer Ipsokratie entziehen zu wollen, oder aber uns ihr zu öffnen, sie zu bejahen, auch auf die Gefahr hin, von ihr ruiniert zu werden. Aber läuft beides nicht auf das Gleiche hinaus? Und gibt es zwischen einer auf sich selbst versteiften Souveränität einerseits und einer Gastlichkeit andererseits, die an ihrer Auslieferung an eine sie womöglich zerstörende Alterität doch nichts ändern kann, keinen dritten Weg? Derrida scheint selbst in diese Richtung gedacht zu haben, wo er erwägt, ob nicht eine gastliche politische Lebensform um willen ihrer eigenen Aufrechterhaltung darauf angewiesen ist, sich zu beschränken. An dieser Stelle ist mit Gastlichkeit nicht mehr jene (primäre, unvermeidliche) Aufgeschlossenheit gegenüber dem ›Anderen‹ gemeint (die letztlich auch souveräne Herrschaft über Andere und sich selbst nicht verhindern kann), sondern ein gastliches Verhalten zu ihr, also eine sekundäre, beschränkte Gastlichkeit, die uns das Unmögliche zu denken abverlangt. 54 Um willen ihrer eigenen AufrechtEbd., 80. Terminologisch liegt es nahe, den Begriff der Gastfreundschaft allein auf jene sekundäre Ebene des Verhaltens zu einer (primären) Herausforderung zur Gastlichkeit zu beziehen, die auch ganz anders beantwortet werden kann.

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erhaltung als einer gastlichen Lebensform soll vor allem die Demokratie souverän sein; aber zugleich so, dass sie sich in ihrer Aufgeschlossenheit für Andere auf deren unbedingte, ihr niemals zur Disposition stehende Ansprüche hin öffnet. Wie aber soll eine solche Lebensform souverän und gastlich zugleich sein können – wenn wir uns weiterhin an die klassische Begrifflichkeit anlehnen, der zufolge Souveränität und Gastlichkeit sich gegenseitig vollkommen ausschließen? Wie sollen wir eine nicht mehr ›klassische‹ Souveränität denken, 55 die die Gastlichkeit zu schützen verspräche, und wie eine Gastlichkeit konzipieren, die ihrerseits nicht jegliche Souveränität zu zerstören drohte? Diese von Derrida beschriebene aporetische Lage bleibt ersichtlich in einem gewissen Formalismus stecken. Es mag stimmen, dass die Demokratie letztlich als ein Versprechen, den Erstbesten einzubeziehen, zu verstehen sein muss, d. h. als eine unbedingte Gastlichkeit oder -freundschaft, die auch dem radikalen Feind gegenüber zu praktizieren wäre. 56 Aber kommt eine solche Demokratie wirklich ›ohne Selbstheit‹ aus? Bedarf sie, wenn jene primäre Gastlichkeit auf eine sekundäre Gastlichkeit angewiesen ist, durch die sie allein politisch effektiv Gestalt annehmen kann, nicht der Bestätigung durch diejenigen, die allein eine solche Lebensform ›mit Leben erfüllen‹ können – und zwar wesentlich dadurch, dass sie sich bewusst als dieser Gastlichkeit verpflichtet realisieren? 57 Wie sollte das je möglich sein ohne Rekurs auf eine Selbstheit, in der zum Ausdruck kommt, als wer Nicht ausgeschlossen ist, dass sich nachträglich, im Lichte ihrer Dekonstruktion, die klassische Souveränitätslehre als immer schon unhaltbar und geradezu weltfremd erweist. Für Rodolphe Gasché, European Memories: Jan Patočka and Jacques Derrida, in: Derrida and the Time of the Political, ed. by Ph. Cheah/S. Guerlac, Durham 2009, 135–157, war die Idee der Souveränität im Grunde immer schon inkonsistent. War souveräne Herrschaft nicht immer schon auf eine Exekutive angewiesen, die dazu neigte, souveräne Macht zu usurpieren? Und wäre der Souverän von sich aus eine hinreichende exekutive Macht, müsste das nicht auf das Ende jeglicher Politik hinauslaufen? Lassen sich Politik (in Topografien geteilter Macht, pluraler Sozialität und verstreuter Konfliktherde) und absolute Souveränität so gesehen überhaupt miteinander vereinbaren? 56 Vgl. Derrida, Schurken, 123 f. (wie Anm. 14). 57 Ich muss an dieser Stelle davon absehen, die sekundäre Gastlichkeit dimensional und typologisch weiter zu differenzieren (etwa in rechtlicher, politischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Hinsicht). Es liegt ja auf der Hand, dass eine privat praktizierte Gastlichkeit anderen Bedingungen (Regeln, Befristungen, Schwellen der Aufnahme etc.) genügen muss als eine verrechtlichte Hospitalität oder als eine weitgehend ökonomisierte Gastlichkeit. Diesen an anderer Stelle differenzierten Spezifi55

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sich diejenigen (politisch) verstehen, die sich als zu einer primär unbedingten, sekundär aber beschränkten Gastlichkeit aufgerufen wissen? Vermöchte nicht allein vermittels eines solchen ›Wissens‹ der Gastlichkeit im Sinne eines unbedingten Anspruchs des Anderen auch politische Kraft zukommen? Wie sollte eine primäre, unbedingte Gastlichkeit je politisch zu Kräften kommen, wenn sie nicht auch als Herausforderung der (und zur) Identität derer begriffen würde, die sich zu ihr bekennen? Zweifellos würde Derrida hier einwenden, auf diese Weise drohte eine identitäre Aneignung – und damit eine Perversion – der Gastlichkeit selbst. Denn wenn sie etwas verspricht, dann doch das, dass auch der Fremde, der Andere, von dem wir im Vorhinein nichts wissen, aufgenommen zu werden verlangen kann. Wenn wir uns diesen Anspruch aber so zu eigen machen, dass er wiederum nur zu unseren eigenen Bedingungen auch einzulösen sein wird, mutiert die gelobte Gastlichkeit dann nicht unter der Hand zu einer Form der Ungastlichkeit? Die Frage ist, ob sich an dieser Stelle nicht doch ein dritter Weg öffnet – der Weg einer vom Selbstsein der Beteiligten zwar getragenen, aber nicht identitär vereinnahmten Gastlichkeit. Genauso wenig wie im Hinblick auf die von Hannah Arendt herausgestellte Aporie der Menschen- und Bürgerrechte ist eine probate, rezeptartige Lösung dieser Frage in Sicht. 58 Dennoch ist deutlich, dass die formalistische Sterilität der derridaschen Dekonstruktion nur zu überwinden sein wird, wenn man verstärkt das Augenmerk darauf lenkt, wie die unbedingte Herausforderung zur Gastlichkeit jeweils angenommen und praktiziert wird. Dass in dieser Hinsicht selbst innerhalb des europäischen Horizonts von der christlichen Liebesgastlichkeit über eine verrechtlichte Hospitalität auf den Spuren Kants bis hin zur islamischen Sitte der saddaqa erhebliche Unterschiede bestehen, leuchtet ohne weiteres ein. 59 zierungen der Gastlichkeit geht ein aktuelles, mit Michael Staudigl (Wien) angestoßenes Editions- und Kooperations-Projekt im Detail nach. 58 Zu dieser Aporie vgl. Burkhard Liebsch, Der bezeugte Anspruch des Anderen als Recht des Fremden? Lyotard und transnationale Perspektiven gastlicher Demokratie: Derrida, in: Ders., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012, 275–314. 59 Vgl. Otto Hiltbrunner, Art. Gastfreundschaft, Reallexikon für Antike und Christentum VIII, Stuttgart 1972, 1061–1123; Hans C. Peyer, Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus. Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter, Hannover 1987; Almut Loycke (Hg.), Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins, Frankfurt a. M. 1992; Hans-Dieter Bahr, Die Sprache des Gastes, Leipzig 1994;

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IV Die Frage, wie wir Souveränität und Unbedingtheit heute, ›nach‹ Derrida, zusammen denken können, und ob diese Herausforderung nicht nach neuen Begriffen verlangt, ist schwer zu beantworten, so sehr muss sie sich nach wie vor gegen den Sog einer Ideengeschichte behaupten, die Souveränität und Unbedingtheit entweder als absoluten Gegensatz konstruiert oder aber identifiziert. So erscheint Souveränität als Inbegriff unbedingter Macht und Gewalt; und es wird undenkbar, dass es eine unbedingte Herausforderung geben könnte, der sich menschliche, politische Souveränität und Freiheit zu stellen hätte. 60 Auf dem besagten dritten Weg zeichnet sich indessen mit Derrida und über Derrida hinausgehend genau dies ab: Einer unbedingten Alterität gegenüber kommen wir stets zu spät; sie geht unserer Responsivität, in der wir sie als praktische Herausforderung realisieren, immer schon und unverfügbar voraus. Das heißt aber nicht, dass wir dieser Alterität absolut unterworfen und an der Realisierung ihrer praktischen Bedeutung gar nicht beteiligt zu denken wären. Vielmehr sind wir selbst es, durch die diese Herausforderung überhaupt erst als solche nachträglich zum Vorschein kommen kann. Und in der Art und Weise, wie das durch uns geschieht, liegt eine eminente Provokation unseres Könnens und unseres Selbstseins. Denn zumal in politischer Hinsicht kann es überhaupt keine Gastlichkeit, keine praktische Aufgeschlossenheit dem fremden Anderen gegenüber geben, wenn sie nicht auch zur praktischen Angelegenheit derer wird, die sich in einer politischen Lebensform zusammenfinden.

Karl Kopp, Asyl, Hamburg 2002; Renate Bürger-Kotzam, Vertraute Gäste – Befremdende Begegnungen in Texten des bürgerlichen Realismus, Heidelberg 2001; Heidrun Friese, Der Gast. Zum Verhältnis von Ethnologie und Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), 311–323; Burkhard Liebsch, Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg i. Br. 2008; Ders., Gastlichkeit versus Souveränität. Sprache und Erzählung im Kontext einer Kultur der Gastlichkeit, in: Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur, hg. v. E. Fountoulakis/B. Previšić, Bielefeld 2011, 153–175; Alois Wierlacher (Hg.), Gastlichkeit, Münster 2011; Daniela Falcioni, Conceptions et pratiques du don en Islam, in: Revue du MAUSS 39 (2012), 339–360. 60 Vgl. die in dieser Richtung weiterführenden Überlegungen in: Burkhard Liebsch, Passionierte Freiheit als Gabe? Jean-Paul Sartres Entwürfe für eine Moralphilosophie im kontrolliert-anachronistischen Gegenwartsbezug, in: Sartre: Eine permanente Provokation – une provocation permanente – a permanent provocation, hg. v. A. Betschart et al., Frankfurt a. M. 2014, 21–38. Souveränität und Subversion

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Dass das zu einer bedenkenlosen identitären Aneignung der Gastlichkeit führen muss, die man sich auf die Fahnen der eigenen Identität schreibt, um daraus symbolisches, politisches und auch pekuniäres Kapital zu schlagen, ist nicht ausgemacht. Vielmehr kann auch eine politische Gastlichkeit, die zur Angelegenheit derjenigen wird, welche sie allein praktisch einlösen können, im Geist des Verzichts darauf möglich werden, sie sich in diesem Sinne anzueignen. 61 Genau das wäre souverän – aber in einem dem klassischen Souveränitätsverständnis geradezu entgegengesetzten Sinne. Souveräne Gastlichkeit, die der Spur eines unverfügbaren und insofern unbedingten Anspruchs des Anderen folgt, der jeder andere sein kann, wäre nicht eine absolute, unbelangbare und einheitliche Form der Herrschaft und der Gewalt, sondern eine Form der Gelassenheit, die sich darauf einließe, sich zu vielen, ihr nicht zur Disposition stehenden Ansprüchen Anderer in einer dezentrierten, von keinem Machtzentrum beherrschten Lebensform responsiv und verantwortlich zu verhalten – ohne Furcht davor, sich im damit einhergehenden Verzicht auf souveräne Macht und Gewalt ohne weiteres der Heteronomie fremder Ansprüche unterwerfen zu müssen. Zu warnen ist an dieser Stelle allerdings vor dem kapitalen Missverständnis, mit diesem, hier nicht ausführlich zu entfaltenden Deutungsvorschlag werde gerade das bedrohliche und überfordernde Potenzial der Gastlichkeit euphemistisch übertüncht. Jene Gelassenheit kann sich demgegenüber nicht über dieses Potenzial hinwegsetzen, sondern muss sich angesichts dieses Potenzials bewähren. Wie das geschehen kann (und geschehen sollte), ist eine Frage der Spielräume politischen Verhaltens, ohne die es das Politische nicht gibt. Von einer guten Gestaltung dieser Spielräume können wir uns gewiss keine Befreiung von jeglicher Furcht (vor einer unberechenbaren Alterität, vor dem Fremden und absolut Überfordernden) oder ein souveränes ›Sein ohne Angst‹ (Georges Bataille) versprechen, vielleicht aber durchaus eine relative Befreiung von der ›Furcht vor der Furcht‹, die Judith Shklar mit Recht für das politisch Lähmendste überhaupt hält. 62 Hier folge ich Seyla Benhabib, Demokratie und Differenz: Betrachtungen über Rationalität, Demokratie und Postmoderne, in: Gemeinschaft und Gerechtigkeit, hg. v. M. Brumlik/H. Brunkhorst, Frankfurt a. M. 1993, 97–116, hier 111 f., nicht, die ein identitäres ethnos von einem weiterhin souverän gedachten demos abtrennt. 62 Vgl. Judith N. Shklar, Liberalismus der Furcht, Berlin 2013, sowie den aktuellen Schwerpunkt der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 62/4 (2014), zur politischen Theorie dieser Autorin. – Die Gelassenheit, die mir vorschwebt, ist kein Ignorieren, 61

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Läge also in solcher Gelassenheit das, was die (gastliche) Demokratie – als diejenige Lebensform, die ihren Namen wirklich verdient – auszeichnet: ihr Proprium, ihr geistiges Eigentum, ihr Eigenstes? Der Demokratie fehle das Eigene, insistiert Derrida demgegenüber; sie sei geradezu durch den »Mangel des Eigenen« 63 definiert. Demnach hätte sie buchstäblich nichts, was sie auszeichnen würde, auch keinen unanfechtbaren eigenen Grund. Tatsächlich ist sie aber überhaupt nicht ›definiert‹ ; und dieses Fehlen ist kein Mangel, keine Privation einer eigentlichen Bestimmung, sondern paradoxerweise gerade das, was sie ausmacht. Darum darf sie durchaus wissen; vorausgesetzt dieses Wissen verzichtet auf jegliche politische Aneignung der Gastlichkeit, die wir Anderen als Anderen schulden. In diesem Sinne ›gehört‹ die Gastlichkeit niemandem, auch und erst recht nicht denjenigen politischen Lebensformen, die sie sich zur ›eigenen‹ Angelegenheit machen. Insofern gehört zur demokratischen Selbstheit die Selbst-Delimitation, 64 die aber nicht völlig aus eigener Machtvollkommenheit vorgenommen wird, sondern nur nachvollzieht, wie sie von unbedingten Ansprüchen Anderer immer schon unterwandert, gefährdet und inspiriert worden ist und in diesem Sinne auch in der Zukunft herausgefordert bleibt, ohne je in einer gastlichen Identität zur Ruhe zu kommen. In diesem Sinne wäre zu verstehen, dass Derrida auf der ständigen Nicht-Identität beziehungsweise auf dem ständigen »(sich) von sich unterscheiden« 65 der Demokratie spricht. Es handelt sich jedoch nicht um eine politisch unsichtbare differance, um ein absolutes ›Jenseits des Politischen‹, wie Derrida selbst glauben macht, sondern um ein immer neues Zurückweisen jeglicher identitären Aneignung der Gastlichkeit, an dem die politischen Zeitgenossen wesentlich Anteil haben, in ihrem praktischen Tun und in ihrem politischen Selbstverständnis. 66

Herunterspielen oder Leugnen dessen, wovor man sich zu fürchten Grund hat, oder einer unbestimmten Angst, sondern ein Sichverhalten zu Furcht und Angst, das sich diesen Phänomenen aussetzt, ohne sie beherrschen zu wollen. 63 Derrida, Schurken, 59 (wie Anm. 14). 64 Vgl. ebd., 128. 65 Ebd., 62. 66 Nicht für ausgemacht halte ich, dass es sich hierbei nur um eine mehr oder weniger verzweifelte Leugnung der Souveränität handeln kann, wie Maurice Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, 47, insinuiert. Souveränität und Subversion

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Es ist kaum davon auszugehen, dass sie sich in ihrem Tun und in ihrem Selbstverständnis ohne weiteres darin einig werden können, wie die Herausforderung zur Gastlichkeit praktisch anzunehmen ist. 67 Insofern ist Jacques Rancière Recht zu geben, der Derridas unbeirrtes Festhalten an einer aporetischen Philosophie der Demokratie 68 bemängelt und das Konzept eines Dissenses vermisst, in den sich die Beteiligten immer dann verstricken, wenn sie sich mit der Frage konfrontiert sehen, wer, wie, wann, für wie lange und unter welchen Bedingungen in ihre Lebensform als Gleicher einzubeziehen ist. 69 Die Vorstellung, eine souveräne Gelassenheit der Gastlichkeit könne dazu führen, sich jegliche Auseinandersetzung um diese Fragen zu ersparen, wäre wirklich weltfremd. Vielmehr müsste sie dahin führen, sich diesen Auseinandersetzungen rückhaltlos auszusetzen, auch auf die Gefahr hin, sich darin zu überfordern und auf diese Weise eine Verweigerung jeglicher Gastlichkeit heraufzubeschwören. Ob es aber dazu kommt, wird sich wesentlich durch die Praxis derer entscheiden, auf deren Selbstverständnis gestützt eine gastliche Lebensform allein Bestand haben kann. Dazu aber sagt Derrida wenig. Doch ist es nicht zuletzt ihm zu verdanken, dass die Frage, wie politische Gelassenheit zwischen Souveränität und Unbedingtheit zur praktischen Herausforderung eines nicht länger ipsokratisch auf sich selbst versteiften Selbstseins im Horizont einer gastlichen, demokratischen Lebensform möglich sein kann, bis zu diesem Punkt verschärft werden konnte.

Wird der Schritt vom Bedenken einer ›grund-losen‹ politischen Lebensform zu der praktischen Herausforderung dieser Frage nicht gemacht, so droht die verbal radikaldemokratische Rede vom Politischen, die es ›wiederkehren‹ lassen und ihm zu neuem Leben verhelfen soll, ironischerweise in eine weitgehende Depolitisierung des Politischen im Zeichen eines bloß fehlenden, abwesenden oder uns entzogenen Grundes umzuschlagen. 68 Vgl. Derrida, Schurken, 74 (wie Anm. 14). 69 Vgl. Jacques Rancière, Should Democracy Come? Ethics and Politics in Derrida, in: Derrida and the Time of the Political, ed. by Ph. Cheah/S. Guerlac, Durham 2009, 274–288. Die Idee der Gleichheit, bezogen auf einen »beliebigen Jemand«, der sich ungeachtet seiner maßlosen Ander(s)heit einem gemeinsamen Maß unterwerfen muss, kennt Derrida, Schurken, 75.80 (wie Anm. 14), freilich ebenfalls. Daraus leitet er die Konfrontation der Demokratie mit zwei »unvereinbaren Aufgaben« ab: Gleichen als Brüdern (Mitgliedern) gerecht zu werden und Ausgeschlossenen gegenüber Gastfreundschaft zu üben; und zwar über die bislang vorherrschenden nationalstaatlichen Grenzen hinaus (vgl. ebd., 93.115). 67

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Volkssouveränität und Verschwörungskunst. Zur diskursiven Ökonomie der Terreur nach Lefort Maud Meyzaud

»Das Ausland ist’s, welches diese Faktionen anschürt und sie sich selbst zerfleischen läßt, vermittelst eines Spiels seiner Politik und um das beobachtende Auge der Volksjustiz zu täuschen. Dadurch entsteht eine Art Prozeß vor dem Tribunal der öffentlichen Meinung; diese spaltet sich alsbald, und die Republik wird dadurch gestürzt. Dieses Mittel nimmt der Nationalvertretung und ihren Beschlüssen den höchsten Einfluß im Staat […]. Das Ausland wird daher so viele Faktionen schaffen, als es kann; was für welche es sind, daran liegt ihm wenig, sofern wir nur den Bürgerkrieg haben.« 1 Louis Antoine de Saint-Just

An dieser Passage der Rede Saint-Justs Gegen die Hébertisten lässt sich beobachten, wie sich die Argumentation der jakobinischen Schreckensherrschaft im Kreis bewegt: Die Verstellung entlarvt den Verschwörer, vorausgesetzt, der Beobachter verfügt über die dem Volk zugeschriebene Schärfe der Beobachtungsgabe zur Enttarnung der Feinde. Gleichzeitig aber weiß der äußere Feind (›das Ausland‹) um diese natürliche Schärfe der Augen des Volkes, weshalb er die äußeren Merkmale oder die Verhaltensmuster seiner Agenten stets verändert. Ferner verdoppelt sich das Bürgerkriegsmotiv angesichts der innerparlamentarischen Kämpfe und des anstehenden Brudermords, die hier allesamt unter dem Deckmantel der Aufdeckung neuer Verschwörungen ausgetragen werden: Eine Form von Bürgerkrieg (die politischen Säuberungen) wird dadurch gerechtfertigt, dass sie eine andere, schlimmere (die vom Ausland gestiftete Unruhe) eindämmen soll. Schließlich erkennt Saint-Justs Rede implizit eine DifLouis Antoine de Saint-Just, Gegen die Hébertisten, in: Reden der Französischen Revolution, hg. v. P. Fischer, München 1974, 389 f. (Alle weiteren Übersetzungen aus dem Französischen stammen von der Verf.).

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ferenz an, die von den Jakobinern sonst ausdrücklich negiert wird: die Differenz zwischen Öffentlichkeit und politischer Stellvertretung. Wird das Ausland beschuldigt, durch das »Schauspiel« eines Streits zwischen zwei Gruppierungen die »öffentliche Meinung« zu spalten und so der »Nationalvertretung […] den höchsten Einfluß im Staat [zu nehmen]« 2 , so wird zugleich markiert und dementiert, dass die neue Souveränität, die Souveränität des Volkes, eine klare Artikulation von Öffentlichkeit und politischen Organen erforderlich macht. Denn das Mittel dieses Bürgerkriegs, dies macht Saint-Just deutlich, ist die Schwächung der Nationalvertretung: Öffentliche Meinung (das vermeintlich wachsame, richtende Auge des Volkes) und politische Repräsentation (der Nationalkonvent samt der exekutiven Macht, die ihm im Zuge der ›Ereignisse‹ eingeräumt wurde) können nun nicht mehr zusammenarbeiten. Die fingierte Differenz zwischen zwei ›Faktionen‹, die in Wahrheit gegen die Revolution verschworen sind, scheint den Souverän angesteckt zu haben, der sodann seinen Zusammenhalt und damit die Handlungsfähigkeit seiner Repräsentanten verliert. Faktisch bezweckt jedoch diese Rede die Anschuldigung von Jacques-René Hébert (1757–1794) und seinen Anhängern. Hébert leitete eine linksradikale Gruppierung, die bisher auf die ›Basis‹ des Revolutionspersonals, nämlich der sansculotterie, einen erheblichen Einfluss über den publizistischen Weg ausgeübt hat. Davor wurde der liberale Flügel der Girondisten beseitigt. Auf die Hébertisten werden dann die Dantonisten folgen und damit bis zum Thermidor die Verdächtigten immer enger um den Nationalkonvent und den Wohlfahrtsausschuss kreisen. 3 Der Bürgerkrieg scheint jedes politische Subjekt zu spalten. Ihm ist die politische Klasse samt den Gruppierungen, die jenseits des Nationalkonvents das politische Leben des revolutionären Frankreichs mitbestimmen, in besonderer Weise ausgesetzt. Das Leitmotiv einer ›Verschwörung des Auslands‹ gegen die Revolution scheint die Angst vor einer Spaltung des Souveräns zu schüren, die gerade und vor allem die ›Gesetzgeber‹, die Mitglieder des Nationalkonvents, prinzipiell dem Verdacht aussetzt, gegen die

Ebd. Am 13. März werden die Hébertisten festgenommen, am 21. März beginnt ihr Prozess, der mit ihrer Hinrichtung am 24. endet. Die Dantonisten werden sechs Tage später, am 30. März festgenommen, Danton erscheint am 2. und 3. April vor Gericht, am 5. April findet seine Hinrichtung statt.

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Revolution und jenes Prinzip der Souveränität des Volkes zu arbeiten, dem sie sich durch ihre amtliche Funktion verschreiben. Für die Frage, was sich verschiebt, sobald sich die Souveränität auf den Leib des Volkes überträgt, folglich Repräsentant (oder im hobbesschen Vokabular: Person) und Repräsentierter, anders als zuvor, eine Einheit eingehen und welche Folgen dies – bis heute – auf moderne Demokratien hat, bietet die Französische Revolution den historischen Bezugsrahmen. So gilt zwar als primärer historischer Bezugspunkt, was nachträglich zum Gründungsereignis der Französischen Revolution erklärt wird: die Erhebung des Volkes im Sommer 1789, der sogenannte Sturm auf die Bastille; zugleich drängt sich aber dieses andere Ereignis in der Folge des Revolutionsausbruchs auf, das ebenfalls ganz Europa (und gerade Deutschland) beschäftigen wird: die revolutionäre Schreckensherrschaft, die sogenannte Terreur. Die Terreur konnte nämlich deshalb ganz Europa erschüttern, weil hier im Namen des Volkes ›Faktionen‹, d. h. Teilmengen des Souveräns – der das Volk ja selbst war – ausgemerzt wurden. Neu an diesem Phänomen, das viel von einem Bürgerkrieg hat, ist, dass der Feind, der ins Visier genommen wird, anders als bei den Religionskriegen, zugestandenermaßen aus der eigenen Reihe kommt, dass also eine (›provisorisch‹ genannte) Regierung sich im Namen des Volkes gegen das Volk und bevorzugt gegen seine Repräsentanten richtet: Dazu reicht der bloße Verdacht. Wie an dieser exemplarischen Stelle einer Rede Saint-Justs ersichtlich, funktioniert die Argumentation der jakobinischen Schreckensherrschaft ähnlich wie im war on terror, den die westlichen Demokratien seit 9/11 führen. Spätestens im Zuge dieses Krieges wurde jene in westlichen Demokratien traditionelle Unschuldsvermutung zur Disposition gestellt. Es lässt sich aber ein ähnliches Phänomen auch schon zur Geburtsstunde der europäischen Demokratie beobachten: In der revolutionären Schreckensherrschaft ist die eigentümliche Stellung der polizeilichen Gewalt in Demokratien präfiguriert, die Walter Benjamin in Zur Kritik der Gewalt thematisiert hat. 4 Wie im heutigen Verfahren des preemptive arrest reicht dann der So vermerkt Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften. Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. II,1, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, 179–203, zur Ambivalenz der polizeilichen Gewalt, in der ja »die Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist«, »daß ihr Geist weniger verheerend ist, wo sie in der absoluten Monarchie die Gewalt des Herrschers, in welcher sich legislative und exekutive Machtvollkommenheit vereinigt, re-

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bloße Verdacht, um aus einem beliebigen Subjekt einen Verbrecher zu machen, der gegen diese Ordnung ein Bündnis mit dem ›Feind‹ geschlossen hat. 5 In diesem Maße besteht zwischen Verschwörung und Souveränität ein genuiner Zusammenhang, der sich im historischen Geschehen der Französischen Revolution beobachten lässt und dort, in dieser Matrix der westlichen Politik, deshalb besonders drastisch ist, weil der Verdacht einer Verschwörung sich weniger auf beliebige Bürger richtet, denn auf Repräsentanten des Volkssouveräns. Die Frage nach dem Übergang zwischen der Stiftung der demokratischen Gemeinschaft hin zu einer Politik der Verschwörung, die ihre Effekte in der Phase der Jakobinerherrschaft am radikalsten entfaltet habe, hat zwar Tradition, wenn man sie zurückübersetzt in ihre klassische Form, nämlich die Frage nach dem vermeintlichen ›Rousseauismus‹ der Jakobiner. 6 Ganz von der Frage abgesehen, worin die intellektuelle Hinterlassenschaft Rousseaus bestehen soll, lässt sich mit diesem Zugriff jedoch nicht das Phänomen kollektiver Paranoia adressieren, das das revolutionäre Frankreich ergreift. 7 In seinem

präsentiert, als in Demokratien, wo ihr Bestehen durch keine derartige Beziehung gehoben, die denkbar größte Entartung der Gewalt bezeugt.« (ebd., 189 f.). 5 Man vergleiche z. B. die Definition, die man auf http://en.wikipedia.org/wiki/ Preemptive_arrest (zuletzt geprüft am 12. 8. 2014; M. M.), finden kann: Sie ist darin symptomatisch, dass sie nicht nur definiert, sondern sie führt regelrecht performativ jenes preemptive Denken vor, das definiert werden soll: »A preemptive arrest is one in which a person is arrested prior to committing a crime. Preemptive arrests are sometimes viewed with suspicion as being contrary to the principles of a democracy. In the United States federal system, conspiracy to commit a crime in itself constitutes a crime, so an arrest for it would not be preemptive« (Herv.; M. M.). Diese Tendenz lässt sich zurzeit in europäischen Ländern wie Deutschland oder Frankreich sehr gut beobachten. Gesetzentwürfe wie das Loi Cazeneuve sollen im Eilverfahren ein rascheres Vorgehen gegen Mitbürger ermöglichen, die sich des Islamismus verdächtig gemacht haben. Diese Verschärfung des Strafrechts zielt darauf ab, die unterstellte Absicht (nämlich: auszureisen, um sich den Kämpfern des selbsternannten Islamischen Staates anzuschließen) vor jeder Tat an sich strafbar zu machen. 6 Zu dieser Tradition vgl. u. a. Céline Spector, Au prisme de Rousseau. Usages politiques contemporains, Oxford 2011. 7 Für das Insistieren auf diesem Spezifikum der revolutionären Terreur gegenüber der Theorie Rousseaus danke ich an dieser Stelle Friedrich Balke, wie auch allgemeiner für die anregende Diskussion den Organisatoren und Teilnehmern der Tagung »Vom abwesenden Grund – Souveränität und Subversion in linken politischen Theorien der Gegenwart« (Halle/S. im März 2014), sehr herzlich.

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Aufsatz La Terreur révolutionnaire hat Claude Lefort dieses Problem anders konstruiert. So fragt er in Anlehnung an die Polemik von Camille Desmoulins gegen die Politik des Wohlfahrtsausschusses: 8 »Sobald der Begriff des Verdächtigen zu demjenigen des Schuldigen hinzukommt, sobald er sich übernatürlich ausweitet und dann nicht nur diejenigen einschließt, von denen man vermutet, dass sie Teil einer Verschwörung sind, sondern auch jene, von denen man sich vorstellen kann, dass sie sich ihr anschließen werden; ob diejenigen, deren Absichten oder Meinungen gefährlich erscheinen, oder jene, die nichts als reale oder potentielle Feinde ausweist: Wie lässt sich dann die revolutionäre Macht von der despotischen unterscheiden?« 9

Die Antwort wird Lefort gegen Ende seines Textes geben: Den prinzipiellen Unterschied zwischen revolutionärem Wohlfahrtsausschuss und Despotismus beziehungsweise Alleinherrschaft macht jene Ausklammerung (präziser: Verneinung) der Machtposition aus, die eine demokratische Ausübung der Macht – scheinbar – gewährleistet, und zwar dahingehend, dass die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses stets die eigene Macht zur Emanation allgemeiner Grundsätze erklären müssen. 10 Diese Verneinung der eigenen Macht beziehungsweise des Machtmonopols ergibt sich nun aus der Tatsache, dass im Übergang vom Ancien Régime zur Französischen Revolution die Macht, weit davon entfernt, aus der Welt zu sein, im engeren Sinne dem Volk – dem neuen Souverän – zukommen soll. Wenn also in Ermangelung einer neuen Verfassung, die gerade im Entstehen ist und während der Schreckensherrschaft nicht in Kraft treten wird, Ausschüsse des Konvents ab September 1792 die Funktion übernehmen, die gefährdete

8 Camille Desmoulins hatte nämlich im dritten Heft seiner Zeitschrift Le Vieux Cordelier über die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses geschrieben: »Diese scheinen zu denken, dass die Freiheit, wie die Kindheit, Geschrei und Tränen braucht, um das reife Alter zu erreichen; im Gegenteil gehört es zur Natur der Freiheit, dass man sie lediglich begehren muss, um sie zu genießen [pour en jouir il suffit de la désirer]«, zitiert nach Claude Lefort, La Terreur révolutionnaire, in: Ders., Essais sur le Politique. XIXe–XXe siècles, Paris 1986, 103. 9 Lefort, La Terreur révolutionnaire, 102 (wie Anm. 8). 10 Vgl. ebd., 116 f. Lefort hebt hervor, dass wie die Terreur das Gesetz verkörpert, die Anhänger der Terreur (und das sind vom Sommer 1792 bis weit ins darauffolgende Jahr 1793 – auch dies zu betonen ist Leforts Verdienst – alle) an das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz gebunden sind. Der Selbstermächtigung der Jakobiner muss folglich paradoxerweise ein Moment der Verkennung der eigenen Macht innewohnen.

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Nation zu regieren, 11 dann tun sie dies als untadelige Dolmetscher des Willens des Volkes, auf gar keinen Fall aber, indem sie angeben, Personifikation oder Leib des Volkes zu sein. Denn eben dies soll die Souveränität des Volkes von der Zweikörperlehre aber auch vom hobbesschen body politic (und damit von Funktionsweisen der Souveränität, die im Vokabular der Französischen Revolution allesamt unter ›Despotismus‹ gefasst werden) unterscheiden: Das Volk trägt die Souveränität sozusagen ›am eigenen Leib‹, d. h. an jedem einzelnen Leib der Bürger, aus deren Zusammenschluss ein ›Volk‹ besteht. Indem sie das Volk repräsentieren, gleichzeitig aber ›provisorisch‹ als Exekutive dienen, verkörpern die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses also nicht das Volk, sondern handeln lediglich in seinem Namen. Sichtbar werden soll die dignitas des neuen Souveräns etwa in den Festen, an denen er der Hauptdarsteller ist. Doch erstens scheitern die Feste der Revolution an dieser Aufgabe. Der neue Souverän wird – anders – sichtbar werden müssen: Genau diese Funktion übernimmt unter der Schreckensherrschaft der ›innere Feind‹, der ex negativo den Volkssouverän erscheinen lässt, indem ihm zum Auftritt verholfen wird: zunächst auf der Bühne der Redner des Wohlfahrtsausschusses, dann auf der Bühne des Schafotts. Zweitens wird sich bald dieser Glaube, legitimer Dolmetscher des Willens des Volkes zu sein, an einen prinzipiellen Verdacht gegen Sprache und Kunst koppeln müssen, um sich vor der ständigen und eklatanten Inkongruenz der eigenen Beschuldigungen im Namen des Volkes zu schützen. 12 Im Folgenden soll genau dieser hier nur abrisshaft erwähnte Zusammenhang zwischen dem von Claude Lefort hervorgehobenen souveränitäts- und demokratietheoretischen Problem einer Verneinung der Machtposition und der subversiven, zersetzenden Kraft, die der Kunst zugesprochen wird, genauer rekonstruiert werden. Zwischen Volkssouveränität und Verschwörung nimmt, so die Beobachtung, die sich an den Reden Robespierres und Saint-Justs anstellen lässt, Kunst – genauer, das mimetische Moment, das in der Kunst angelegt ist – die mittlere Stellung ein. Auf diese Rolle der Kunst im Diskurs der Jakobiner geht Lefort zwar nicht ein – obwohl Zur Erinnerung: Das Königtum wird am 21. September 1792 abgeschafft, der Konvent nimmt damit seine Arbeit auf. 12 Ein besonders anschauliches Beispiel dieser Inkongruenz bietet die Haltung der Jakobiner gegenüber dem Marquis de Sade, der der Gemäßigung beschuldigt wird. 11

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er einerseits die genuine Theatralik dieser Reden durchaus registriert, andererseits das Problem des Sichtbarmachens (der Feinde der Revolution) dezidiert anspricht. Und doch lässt sich mit ihr seine These zum Verhältnis von Macht und Demokratie untermauern. Wenn die Terreur ein Problem aufscheinen lässt, das mit der demokratischen Souveränität genuin zusammengehört – das Problem des Zusammenhalts in Ermangelung einer transzendentalen Rückversicherung – und wenn diese offene Frage mit verschwörungstheoretischen Annahmen beantwortet wird, dann sind diese Annahmen darauf angewiesen, die Kunst anzuprangern. Mit der Kunst ist im politischen Imaginären der revolutionären Schreckensherrschaft nicht lediglich das platonische Problem des Betrugs, nämlich der Unterscheidung zwischen Sein und Schein, verbunden; ihre zersetzende Kraft muss vielmehr in dem Maße exponiert werden, in dem sie einem Bündnis gegen die Revolution zur Sichtbarmachung verhilft: Dieses diskursive Verfahren, so die These, macht das Modernitätssiegel der jakobinischen Argumentation aus.

1.

Der Theaterschriftsteller als Verschwörer par excellence

»La Terreur parle« (›die Terreur spricht‹), schreibt Lefort, dessen Aufsatz zur revolutionären Schreckensherrschaft von dem Befund ausgeht, dass die jakobinische Rede »die Terreur nicht zum Gegenstand hat, sondern sie ausübt«. 13 Wie sehr die platonische Dichotomie zwischen Sein und Schein, eidos und eidolon die Rede organisiert, lässt sich exemplarisch daran beobachten, wie Robespierre Fabre d’Églantine – einen Künstler schlimmster Art, einen Schriftsteller – der Teilnahme an einer Verschwörung gegen die Freiheit beschuldigt. In RoUm die diskursive Ökonomie der Schreckensherrschaft geht es Lefort in diesem Aufsatz, weshalb er, um das einzigartige Verhältnis der Schreckensherrschaft zur Sprache – die gewisse Performativität von Sprechakten, die stets die Freiheit in den Tod umwandeln – angemessen zu formulieren, eine grammatische Verzerrung in Kauf nimmt. Robespierres exemplarische Rede des 11 Germinal An II (31. März 1794) – exemplarisch, weil tödlich – markiert, so Lefort, La Terreur, 82 (wie Anm. 8), »ein entscheidendes Moment der Terreur in actu, sie spricht sie [il la parle].« Später spitzt Lefort das Problem zu: Die Wirksamkeit der Terreur »ließe sich nicht vom Vorgang des Sprechens [opération de la parole] trennen« (ebd., 95). Die Reden des Wohlfahrtsausschusses vor dem Nationalkonvent sind also kein notwendiges Mittel zur Durchführung der politischen Ausschaltung von Konkurrenten. Vielmehr wird durch sie, im Vorgang des Sprechens, das egalitaristische Moment der Terreur vergegenwärtigt.

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bespierres rhetorischem Porträt über Fabre d’Églantine wird die platonische Kritik an künstlerischer Mimesis, die Robespierre und SaintJust gegen die Künste – vor allem gegen das Theater – hegen, sehr deutlich. Fabre, dessen Name die Nachwelt mit dem Revolutionskalender und dem Kinderlied Il pleut, il pleut bergère verbindet, ist darüber hinaus weniger für seine Dramen als aufgrund seiner Teilnahme an der verruchten Affäre der Liquidierung der Compagnie des Indes und überhaupt wegen des schlechten Rufs, den er bei seinen Zeitgenossen hatte, berühmt geworden. Er gehört zu der Dantonistenfraktion und wird lange vor Danton und Desmoulins festgenommen (23 Nivôse An II beziehungsweise 12. Januar 1794). Robespierres Redeentwurf Über die Faktion Fabre d’Églantine, der späteren Anklageberichten Saint-Justs als Grundlage dient, beginnt nicht überraschend mit der Darstellung zweier ›umstürzlerischer Gruppen‹ (factions), zweier »rivalisierender Koalitionen«, die »seit kurzer Zeit skandalös kämpfen«. 14 Interessant sind vor allem die aufwendigen, seitenlangen Anklagen, die Robespierre benötigt, um zu dem Schluss zu kommen, die Gruppierungen, die die Republik zerrissen hätten, seien »scheinbar entgegengesetzt, faktisch jedoch durch einen stillschweigenden Pakt vereinigt« 15 . Zunächst wird unterschiedslos auf Schmähschriften angespielt, die seit Robespierres Eintritt in den Wohlfahrtsausschuss dessen Arbeit diskreditiert und verleumdet hätten: »Im Schatten« habe »man« Verleumdung und Intrige praktiziert, bis »ein Sieger« in die »Arena« geschickt worden sei: 16 Der somit metaphorisch erfolgte Wechsel von der Dunkelheit der Intrige ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, den Robespierres erzählender Bericht leistet, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er eine andere Operation verdeckt. Denn wenn hier ein Durchbruch zu beobachten ist, dann ist er darin zu sehen, dass Robespierres Rede nun selbst Licht auf die verschwörerischen Agenten wirft, was heißt, dass er sie beim Namen nennt und damit die nächsten Opfer der Guillotine designiert hat. So folgt auf diese Passage die konkrete Angabe, dass der Dantonist Philippeaux ein sol-

Maximilien de Robespierre, Sur la faction Fabre d’Églantine, in: Textes choisis de Robespierre. Novembre 1793 – Juillet 1794, Bd. III (Les Classiques du Peuple), hg. v. J. Poperen, Paris 1958, 132–148, hier 133 f. 15 Ebd., 141. 16 Ebd., 134. 14

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cher Verschwörer sei, den Robespierre alsbald für konterrevolutionäre Aktivitäten in der Vendée verantwortlich macht. Nun spielt hinsichtlich der dichotomischen Anschauung, die das politische Feld in Patrioten und Volksfeinde aufteilt, die Schrift eine wesentliche Rolle. Denn die Schrift gerät in den Verdacht, der prinzipiell an der Unzuverlässigkeit des Zeichens haftet, ihr wird das Vermögen unterstellt, durch eine geschickte Inszenierung Menschen, Dinge und Institutionen anders zu präsentieren, als sie sind. Dieses Vermögen der Sinnestäuschung wird noch deutlicher, wenn Schrift und Theater zusammenfallen. Daher wird Robespierre im weiteren Verlauf seines Textes den Theaterschriftsteller Fabre d’Églantine erst recht als Quelle allen Übels verurteilen: »Grundsätze, und keine Tugenden; Talente, und keine Seele; geschickt in der Kunst, die Menschen zu malen, viel geschickter in der Kunst, sie zu betrügen, er hatte sie womöglich nur beobachtet, um sie mit Erfolg auf der dramatischen Bühne zu zeigen.« 17 Mit diesen Zeilen hat Robespierres Entwurf für das Porträt über Fabre d’Églantine begonnen. Der ›revolutionären Energie‹ der ›Freiheitsfreunde‹ und den ›kräftigen Gesetzen‹ wird Fabres ›künstlicher Charakter‹ und sein Talent für politische und private ›Ränke‹ (intrigues), der energetischen Metaphorik der jakobinischen Revolution wird die Metaphorik der Künstlichkeit, der Maschine und des Spektakels entgegengesetzt. Fabre ist der designierte Urheber allen Übels: Sein künstlerisches Talent für intrigues im literarischen Sinne der Fabel, im Sinne also des aristotelischen Mythos, der Zusammenfügung von Geschehnissen, prädestiniert ihn für die Anfertigung politischer Entwürfe, welche die ›Freiheitsfreunde‹ zu täuschen vermögen, während ›dem Fremden‹ Unstimmigkeiten präsentiert werden, die die europäischen Mächte auf ein baldiges Ende der Revolution hoffen lassen. Mehr noch: Da Fabre d’Églantine persönlich, so die Unterstellung Robespierres, die revolutionäre Regierung zu stürzen plant, übt er sich politisch in der Kunst, die ihm als Schriftsteller sein tägliches Brot sichert. Er lässt Figuren handeln – politisch gewendet: Er lässt andere ohne ihr Wissen handeln – und arbeitet daran, Fäden zusammenzuknoten: »Inmitten der verschiedenen Meinungen bzw. der entgegengesetzten Faktionen stehend, arbeitete er mit einiger Geschicklichkeit daran, die Ergeb-

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nisse zu seinem besonderen Zweck zu nutzen: unterschiedliche Interessen banden ihn an das Vorhaben, die gegenwärtige Regierung zu stürzen.« 18

Fabre verfügt also über alle Register der mimetischen Künste: Er kann (Dinge, Sachverhalte, Personen) erscheinen lassen und sich selbst im gleichen Zuge verbergen; er handelt nicht, sondern lässt handeln; er kann Sachverhalte so verknüpfen, dass der trügerische Eindruck entsteht, sie würden zusammengehören. Kurz gesagt, Fabre eignet sich deswegen besonders gut als Figur des inneren Feindes, weil sich seine künstlerische Tätigkeit durch eine von Robespierre stillschweigend vorausgesetzte Operation auf das Gebiet der Verschwörung übertragen lässt: Als Autor von Theaterstücken produziert er Betrug im platonischen Sinne, weshalb er sich als ›Autor‹ von (politischen) Handlungen bestens zum Ränkeschmieden eignet. Um diese Verknüpfung herzustellen, muss Robespierre nur das semantische Spektrum von intrigue (›Ränke‹, ›Handlung‹ beziehungsweise ›Plot‹), auteur (›Urheber‹) und art (›Kunst‹) erkunden und vergessen machen, dass dieses glänzende Porträt, das Fabre zu einem prototypischen Verschwörer macht, selbst ein kunstvolles Stück ist, dessen Glanz alles andere als der Wahrheit verpflichtet ist – auch wenn sein Verfasser ernsthaft glaubt, seine eigene Schrift könne der Revolution das erwünschte Heil bringen. Kurz: Zwischen den Eigenschaften und Verfahren, die Fabre zugeschrieben werden, und dem Instrumentarium, das der anklagende Robespierre verwendet, besteht eine bemerkenswerte Symmetrie, die umso signifikanter ist, als in ihrem Licht eine andere Symmetrie bedenklich wird. Das Herzstück im Dogma der Terreur ist nämlich die symmetrische Konstruktion einer ›Schreckensherrschaft‹ (terreur), die auf den größeren ›Schrecken‹ (terreur) antwortet, den der Feind verbreitet. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es den Männern des Wohlfahrtsausschusses gelingt, ähnlich wie die Aussageposition des Autors in Theaterstücken durch den mimetischen Modus elidiert wird, sich durch bestimmte rhetorische Verfahren als Produzenten ihrer Reden zu verbergen. Dies ist erklärtermaßen die Frage Leforts. Den »Ort«, von wo aus Robespierre spricht, »seine Mittel, ihn zu verheimlichen und seine Kunst, die anderen verstummen zu lassen«, will Leforts Aufsatz erklärtermaßen durch das Studium der ›terroris-

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tischen‹ Argumentation aufdecken. 19 Leforts Hauptanliegen, seine Frage, inwiefern die Faszination, welche die jakobinische Schreckensherrschaft ausübt, damit verbunden ist, dass ihre Reden Terreur, Schrecken in actu sind, ist jedoch nur zeitweise an ihre eigene theatrale Ökonomie und an den Status der Kunst zurückgekoppelt.

2.

Verstellung der Macht

Saint-Justs Anklagebericht vom 13. März 1794, der ebenfalls die sogenannten ›Faktionen‹ zum Gegenstand hat, wird jenes Motiv des mimetischen Betrugs wieder aufnehmen, indem er anhand eines ungeheuren Verschwörungsnarrativs seine Rezipienten von der Gleichsetzung von imitation (›Nachahmungskunst‹) mit dissimulation (›Verstellung‹) überzeugt. Einen großen, furchterregenden ›Verschwörungsplan‹, eine ›vom Ausland geleitete Verschwörung‹ will Saint-Just aufgedeckt haben. Diesmal entzündet sich das politische Imaginäre der Schreckensherrschaft an einer anderen Figur: Die ›Fremden‹, d. h. die vom französischen Staat aufgenommenen Immigranten geraten in den Fokus des Anklageberichts. Wie auch schon am beruflichen (Theater-)Schriftsteller haftet der Verdacht des mimetischen Betrugs an den Fremden in besonderer Weise. Denn an ihnen kann derselbe Saint-Just, der in seinem Verfassungsentwurf von 1793 die Gastfreundschaft zum Grundprinzip eines ›freien Volkes‹ gemacht hat, 20 die ideale Vermittlung zwischen den Faktionen und den ausländischen Mächten aufzeigen: »Italiener, Bankiers, Neapolitaner, Engländer sind in Paris, welche angeblich in ihrem Vaterlande Verfolgungen zu erleiden haben. Diese neuen Sinons mischen sich unter [s’introduisent] die Versammlungen des Volkes; sie eifern darin zuvörderst gegen die Regierungen ihres Landes; sie schleichen sich [s’insinuent] in die Vorzimmer der Minister; sie beobachten alles; sie schleichen sich [se glissent] in die Volksgesellschaften; bald sieht man sie im Lefort, La Terreur, 93 (wie Anm. 8). »Die Fremden, das Glauben im Handel und in den Abkommen, die Gastfreundschaft, der Frieden, die Souveränität der Völker sind Heiligtümer. Das Vaterland eines freien Volkes ist allen Menschen der Erde gegenüber geöffnet.« Louis Antoine de Saint-Just, Essai de Constitution, in: Ders., Théorie politique, hg. v. A. Liénard, Paris 1976, 197. Für Saint-Just besteht freilich darin kein Widerspruch, denn die ›Revolutionsgesetze‹ dienen der Beschleunigung des Prozesses, der die ›republikanischen Institutionen‹ und die damit verbundenen Prinzipien etablieren soll.

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Bunde mit den Behörden, welche sie beschützen. Sie hatten ein Gesetz gegen die Ausländer erlassen; am Tag darauf schlägt man Ihnen eine Ausnahme zugunsten der Künstler vor; am folgenden Tage sind alle Ihre Feinde Künstler, sogar die Ärzte; und wenn man diese Komplottemacher [ces fabricateurs de complots] verfolgt, so ist man ganz erstaunt, sie in Kredit zu sehen.« 21

Am Fremden beziehungsweise am Immigranten lässt sich das verschwörungstheoretische Moment, das der Annahme eines inneren Feindes zugrunde liegt, wunderbar veranschaulichen: Zwischen Außen (den europäischen Monarchien und Fürstentümern) und Innen (der Revolutionsgesellschaft) fungieren die Immigranten als Relais. 22 Saint-Justs Unterstellung, sie würden ihren Regierungen insgeheim helfen, Paris gegen sich selbst zu spalten, lässt sich zwar nicht beweisen. Aber die ›Fremden‹, die in Paris Zuflucht gefunden haben, sind wie dafür geschaffen, als physische Träger eines konterrevolutionären Bündnisses innerhalb wie außerhalb Frankreichs zu fungieren. Benehmen sich die Verschwörer wie anständige Patrioten, weisen sie sich dadurch als gute Schauspieler aus: Ihre Daseinsweise, deren Wahrheit Saint-Just aufzudecken meint, beweist einmal mehr, dass »der Geist der Nachahmung das Siegel des Verbrechens ist«, und dass »der Charakter der Verschwörungen darin besteht, sich zu verkleiden«. 23 Doch vorausgesetzt, die Haupteigenschaft der Verschwörer sei ihre schauspielerische Leistung, wo soll dann die Grenze zwischen dem integeren Verhalten beziehungsweise der integeren Rede und der nachahmenden Verstellung verlaufen? Saint-Just leugnet dieses Problem nicht. Er meint, ansatzweise darauf antworten zu können, wenn er schreibt: »Was können Worte gegen Verschworene ausrichten, die verkleidet sind, bis sie losbrechen [éclatent]?« 24 Éclater: Folgt Saint-Just, Gegen die Hebertisten, 381 (wie Anm. 1). Anvisiert ist nicht zuletzt eine herausragende und womöglich die exzentrischste Persönlichkeit des Revolutionspersonals, der Baron Anacharsis Cloots, der ebenfalls um diese Zeit festgenommen und am 24. März 1794 zusammen mit den Hébertisten hingerichtet wird. Die verschwörungstheoretische Annahme, der zufolge der Geist der neugeborenen Republik den ausländischen Sympathisanten im tiefsten Inneren doch fremd geblieben sei, gilt sicherlich nicht für Cloots. Die Anekdote lautet, dass er am Tag seiner Hinrichtung erklärt, er möchte, bevor er zum Schafott geschickt wird, noch einmal über die Geschicke des Menschengeschlechts in Ruhe nachdenken. 23 Louis Antoine de Saint-Just, Sur les Factions de l’Étranger, in: Ders., Discours et Rapports, hg. v. A. Soboul, Paris 1988, 159.161. (Diese Stellen sind Teil einer längeren Passage, die in der zitierten Übersetzung nicht enthalten ist). 24 Ebd., 161. 21 22

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man Saint-Just, der unermüdlich diesen Terminus verwendet, werden die Verschwörer zwangsläufig diesen Schritt machen. Entweder, indem sie in den offenen, militärischen Kampf übergehen, oder indem das Volk sie entlarvt und zum Schafott schickt, weil sie nicht geschickt genug sind, um das Schauspiel lange genug zu betreiben, d. h. nicht ›mit der Zeit zu spielen‹ (temporiser) wissen. Daher besteht die Methode, die für Saint-Just den imitateurs ein Ende machen soll, darin, die Spione auszuspionieren. Man müsse ja bloß »den Schleier enthüllen, der die Komplotte verbirgt, die Reden, Gebärden und die Folgerichtigkeit [esprit de suite] jedes Einzelnen ausspionieren« 25 . Wachsam zu sein ist den Jakobinern zufolge die Kerneigenschaft, auf die die Volksgerechtigkeit aufbaut – womit sie dank eines Kurzschlusses, der für die Argumentation der Jakobinerherrschaft charakteristisch ist, dem Volk die Eigenschaft übertragen, die ihre eigene Organisationsweise ausmacht. 26 Spioniert das Volk mutmaßliche Spione aus, bleibt es nichtsdestoweniger rechtschaffen und rein; verstellt sich der Volksfeind beziehungsweise der Verschwörer, zeigt er hingegen seine wahre Natur: Im (Selbst-)Verständnis der Akteure der Schreckensherrschaft scheint sich die Symmetrie zwischen Freunden und Feinden des Volkes ausschließlich auf die jeweils eingesetzten Verfahren und Handlungsweisen zu beziehen, wobei der Kern, die ›Seinsweise‹ des Patrioten, unberührt bleibt, während der Feind letzten Endes, nach einer Formulierung Leforts, mit einer »unbestimmten, unverortbaren Macht« 27 ausgestattet wird. Diese Verkennung der eigenen Macht ist Teil des Dispositivs, das Robespierre, Saint-Just und ihre Anhänger seit dem Sommer 1793 etabliert haben. Gegen die konservative Geschichtsschreibung hat LeEbd., 162. Der romantische Historiker der Französischen Revolution, Jules Michelet, hat herausgearbeitet, wie die Jakobiner bereits in einem frühen Stadium der Revolution sich dazu ermächtigen, das Auge der Revolution zu werden, wie also die Mitgliedschaft im Jakobinerklub einen alternativen Verbrüderungsmodus zum Revolutionsfest darstellt, der die Revolution zur Gegenverschwörung werden lässt. Ausführlicher dazu Maud Meyzaud, Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet, München 2012, 402–420. Lefort – ein sehr aufmerksamer Leser Michelets, der ihm eine Reihe an Texten widmete – zitiert diesen Anklagebericht Saint-Justs, um die Symmetrie zwischen dem Auge des Feindes und dem Auge des Volkes hervorzuheben, und kommentiert in einer dichten, an Michelet geschulten Formulierung: »Die Aufgabe besteht somit darin, das Unsichtbare zu durchdringen.« (Lefort, La Terreur, 109 [wie Anm. 8]). 27 Ebd., 108. 25 26

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fort gezeigt, dass sie wesentlich zu der spezifischen Wirksamkeit des Diskurses der Schreckensherrschaft beiträgt. Sie markiert gerade durch ihr egalitäres Moment einen radikalen Unterschied zu den herkömmlichen Formen der Herrschaft und der Machtausübung (insbesondere zur Handlungsweise des Intriganten, aber auch zu dem despotischen Wahn, den man dem jungen Robespierre und Saint-Just unterstellt hat). Wenn die Terreur Lefort zufolge »die Machtpositionen vervielfältigt, indem sie denen, die sie erobern, die Möglichkeit bietet, die Ausübung der Allmacht [l’exercice de la toute-puissance] zu verstellen [masquer]«, dann ist diese Operation deshalb bemerkenswert, weil »diese Verheimlichung aus der Pflicht geboren ist, den Platz der Macht anscheinend leer zu lassen«. 28 Dies wäre die ›egalitaristische Fiktion‹, die in der Terreur angelegt sei: Wenn alle gleich vor dem Gesetz sind und die Macht allen gehört, wenn es also nicht möglich ist, die Macht für sich zu reklamieren, dann muss die Ausübung der Macht den Weg einer kollektiven Selbstermächtigung gehen, in der alle jederzeit und sich selbst dem Verdacht ausgeliefert sind, die Souveränität vereinnahmen zu wollen. Wohlgemerkt: Dass sich von hier aus der Weg einer Einverleibung im Körper der Bürokratie bahnt und damit der Weg zum Totalitarismus, wird vom Schlussteil des Aufsatzes suggeriert. 29 Lefort geht es hier erklärtermaßen darum, den Zusammenhang zwischen dem Regime des Schreckens und der egalitaristischen Fiktion herauszuarbeiten – eben die Prämisse der Gleichheit. Und das heißt auch für Lefort: Das Postulat einer Entsprechung der partikularen Willen mit dem allgemeinen Interesse oder Gemeinwillen hindert die Jakobiner daran, eine Bürokratie zu bilden.

3.

Das Gesicht als Maske

Ich habe einleitend an das entscheidende Merkmal erinnert, das die Volkssouveränität von den ihr vorausgehenden Souveränitätslehren unterscheidet: Auf einmal ist jeder einzelne Leib Träger des body politic. Sobald an der Vielheit der Leiber die neue (Volks-)Souveränität sichtbar werden soll, wird wiederum der soziale Körper – als ZeichenEbd., 116. Vgl. ebd., 119. Zum Phänomen der Bürokratie vgl. Claude Lefort, Éléments d’une Critique de la Bureaucratie, Genève 1971.

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träger – zum Problem. Auf dieses Problem sind das Leitmotiv der Verschwörung und die diskursive Allgegenwart des inneren Feindes als Verschwörer, d. h. als Träger geheimer Zeichen einer Kraft, die gegen die Revolution gerichtet ist, zurückzuführen: Sie hängen unmittelbar damit zusammen, dass die Würde, die Einheit und Unteilbarkeit des Souveräns nie zur angemessenen Sichtbarkeit in den Leibern der Revolutionsakteure gelangen kann. Gerade das, was im westlichen Körper am sichtbarsten ist – das Gesicht – wird dann zur Stätte des Betrugs schlechthin, indem es stets droht, als Maske ausgelegt werden zu müssen. 30 Das ›Theater‹ der revolutionären Schreckensherrschaft betrifft nicht nur die rhetorische Selbstinszenierung des historischen Personals als Römer, die Marx’ Chronik des Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte eröffnet, 31 sondern auch die Auslegung des Sozialen als eines Maskenspiels, dessen Offenlegung immer wieder auf das Werk der Guillotine angewiesen ist. Um dieses Problem und seine vermeintliche Lösung durch die Guillotine weiß jeder Leser Georg Büchners: Büchner legt die genuine Theatralität der Französischen Revolution, die Schreckensherrschaft, als Produkt eben dieser Theatralität gerade dadurch frei, dass er diesen Vorgang wiederum zum Gegenstand eines Theaterstücks macht. Dies veranlasst Büchner u. a. dazu, in Danton’s Tod (1835) den Topos des Maskenspiels zu einem kognitiven Instrument auszubauen. Auf Legendres unvorsichtige Beschreibung einer neuen Aristokratie in Gestalt jener Pariser Elite von »Leuten«, die »seit einigen Tagen die Köpfe fest auf den Schultern tragen«, in der Szene im Jakobinerklub droht Collot d’Herbois, es sei an der »Zeit, die Masken abzureißen.« 32 Diese Ausdrucksweise wird wiederum Danton zu dem lakonischen Spruch veranlassen: »Da werden die Gesichter mitgehen.« 33 Damit lässt Büchner erahnen, welche Dienste die Guillotine der jakobinisch gefassten ›Wahrheit‹ erfüllt, indem sie Köpfe von Zum (rhetorisch im Begriff der persona bestimmten) Zusammenhang zwischen Gesicht und Maske vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (Bild und Text), München 2001. 31 Vgl. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Werke. Karl Marx – Friedrich Engels, Bd. VIII (August 1851 bis März 1853), hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 6 1978. 32 Georg Büchner, Danton’s Tod, in: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Dichtungen, Bd. I, hg. v. H. Poschmann unter Mitarb. v. R. Poschmann, Frankfurt a. M. 2006, I,3.22. 33 Ebd., I,5.30. 30

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Leibern abtrennt: Worin der Unterschied zwischen dem Gesicht, das einem reinen, patriotischen Herzen gehört, und dem, das Verrat und Komplotten als Maske dient, besteht, kann nicht erklärt werden. Allein der physische Tod des Kopfes, der das Gesicht ›trägt‹, seine Rückkehr ins Reich des Anorganischen vermögen es, das Gesicht und das damit einhergehende Unterscheidungsproblem zu beseitigen. Die platonische Erbschaft einer Spaltung zwischen Natur/Sein und (mimetisch gefasster) Kunst/Schein erklärt den prinzipiellen Verdacht, den die Jakobiner gegen jedes Gesicht hegen. Das Herz ist u. a. deswegen bestens geeignet, als Metapher der Rechtschaffenheit und der Reinheit, als Organ des Volkes par excellence zu dienen, weil es sich der Sichtbarkeit entziehen muss, um zu leben, womit freilich die Rechtschaffenheit und Reinheit letzten Endes unergründbar bleiben. Das Gesicht hingegen ist jener Körperteil, der den biologischen Körper durch einen sozialen Körper überlagert, was umgekehrt impliziert, dass es, so Hans Belting, »erst durch Maskierung zu dem sozialen Zeichenträger [wird], als der es funktioniert« 34 . Dass sich der (Menschen-)Körper in einen natürlichen und einen sozialen aufgliedern lässt, dass zwischen beiden vermittelt werden könne, wollen die Jakobiner nicht erkennen: Den Prozess der régénération, der Erneuerung des Gemeinwesens durch ›sozialpädagogische‹ Maßnahmen, verstehen sie als die Rückkehr zu jenem Naturzustand, den Feudalismus, Absolutismus und überhaupt die Zeit veräußert und verdorben haben. Für die Jakobiner ist der soziale Körper stets der verdorbene Körper, der mit allen Mitteln vom gesunden, natürlichen Volkskörper abgegrenzt, ja ausgemerzt werden soll. Darum meinen sie, zwischen Maske und Gesicht gegen allen Anschein unterscheiden zu können. Dies hat jedoch weniger zufolge, den reinen ›Volkskörper‹ sichtbar zu machen, denn generell Kunst unter den Verdacht eines Betrugs zu stellen, der der Konterrevolution dient. Ironischerweise funktioniert aber letztendlich der Diskurs der Schreckensherrschaft selbst, das kann man von Leforts Analyse der Rede Robespierres am Tag nach der Verhaftung der Dantonisten lernen, aber auch schon von Büchner, wie eine Maske: Er macht seinen Sprecher unsichtbar, während er die Bühne produziert, auf der seine Gegner zur Zielscheibe aller Blicke werden. Dass der Diskurs der Schreckensherrschaft eine Maske sei, heißt aber auch, dass die Rolle Belting, Bild-Anthropologie, 35 (wie Anm. 30), formuliert hier mit Bezug auf Claude Lévi-Strauss.

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des Feindes beliebig besetzt werden kann und auch beliebig besetzt wird. Sie markiert als Leerstelle die verdächtige Sehnsucht nach der Vergangenheit, die eine vermeintliche ›monarchische Minderheit‹ (Saint-Just) pflegt, leistet dabei aber keineswegs die Bestimmung der Identität derjenigen, die diese Sehnsucht empfinden sollen. Und weil diese Sehnsucht letztlich den Einigungsmodus rechtfertigt, den das revolutionäre Frankreich für sich gewählt hat, indem es die Jakobiner an die Macht gebracht hat, muss der Glaube an ihr perpetuiert werden, muss sie immer wieder in Teile der revolutionären Gesellschaft und vor allem der politischen Klasse projiziert werden. Der Diskurs der jakobinischen Schreckensherrschaft legt also die Hypothese nahe, dass die Revolution namentlich das Paradigma der Willensbildung – wie auch immer Letztere zu denken sei – aufrechterhält, sie es jedoch still verabschiedet, um politische Zusammengehörigkeit ganz anders zu erzeugen. 35 Die Jakobiner, so scheint es, leisten die Umgestaltung des Gesellschaftsvertrags in einen ›Gegenschwur‹. Längst vor der Austreibung der verschwörerisch aktiven inneren Feinde qua Guillotine existiert (Gegen-)Verschwörung als Modus der Vereinigung beziehungsweise der politischen Gemeinschaftlichkeit, den das revolutionäre Frankreich sich in Form der Jakobiner aussucht und den es mit deren Machterlangung endgültig wählt. Ich habe eingangs gefragt, inwieweit die, wenn man so will, politische Ontologie, die einem Verständnis des politischen Bandes der Revolution als Gegenverschwörung zugrunde liegt, das Leben heutiger Demokratien noch immer heimsucht. Die Unmöglichkeit, im einzelnen Man vergleiche hierzu auch die These Daniel Arasses, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, übers. v. Ch. Stemmermann, Reinbek b. Hamburg 1988, 106, dass die Guillotine im politischen Imaginären der Revolution dahingehend zur ›Regierungsmaschine‹ wird, dass sie das Problem der Sichtbarmachung eines ein für alle Mal postulierten Gemeinwillens löst: »Indem die Guillotine die ›Parasiten‹ aus dem Volkskörper entfernt, beseitigt sie ebenso viele individualistische Einzelwillen, die sich dem Gemeinwillen des Volkes widersetzen, das sich als politischer Körper konstituiert hat.« Lefort, La Terreur, 106 (wie Anm. 8), betont allerdings unter Verweis auf eine Rede von Billaud-Varenne zurecht die phantasmatische Dimension dieses politischen Körpers oder Volkes, das sich streng genommen nicht konstituiert hat, sondern zugleich als gegeben vorausgesetzt wird und ›geschaffen‹ (créé) werden muss. In den Worten Billaud-Varennes: »Wir müssen sozusagen das Volk neuerschaffen, dem wir die Freiheit zurückgegeben haben.« (Il faut pour ainsi dire recréer le peuple qu’on veut rendre à la liberté). 35

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sozialen Leib etwas anderes zu erblicken als die Sehnsucht nach der monarchischen Vergangenheit, rührt daher, dass der Denkrahmen der Akteure der Revolution die Aufklärung bleibt und sie folglich nicht in der Lage sind, geschichtliche Zeit anders zu empfinden als in der Form eruptiver Ausbrüche der Vergangenheit. Weil sie unter ›Revolution‹ die Rückkehr zu einem unverdorbenen Urzustand verstehen, entsteht bei den historischen Akteuren die hartnäckige Vorstellung, die Zeit arbeite gegen sie. Die zentrale Stellung der Figur des Verschwörers und des Topos der Maske im Diskurs der Schreckensherrschaft machen deutlich, dass die Allgegenwart der Verschwörung im Imaginären der Schreckensherrschaft sehr wohl zurückzubeziehen ist auf die Attribute, die der Souveränität zukommen und im Volk fortleben sollen: Einheit, Unteilbarkeit, Selbstidentität des Souveräns. Wenn der Kunst, insbesondere dem Theater, in der diskursiven Ökonomie der Terreur zunächst die Funktion zugeteilt wird, den Verdacht gegenüber ehemaligen Verbündeten zu bekräftigen, dann hat dies auch prinzipielle Gründe. Was Lefort ›egalitaristische Fiktion‹ nennt, favorisiert zwar die Renaissance einer platonischen Ontologie in dem Maße, in dem hier die ›Ubiquität der Kunst‹ (Celan) exakt das Gegenbild zu einer Macht des Volkes liefert, die keinem gehört, weil sie allen gehört. Unter den extremen Bedingungen, die Konterrevolution und Krieg vorbereitet haben, entwickelt die junge demokratische Souveränität, deren Besonderheit in der ›Leerstelle der Macht‹ (Lefort) besteht, eine regelrechte Phobie gegenüber einer gesellschaftlichen Praxis, deren (mimetische) Gabe darin besteht, Orte beliebig zu besetzen. Die Kehrseite dieser Haltung ist dann, dass die eigenen kunstvollen Prozedere (die Rhetorik, aber auch die performance vor dem Publikum des Nationalkonvents) umso besser verstellt werden, als sie dem vermeintlichen Gegner zugeschrieben werden – dies gerade zu dem Zeitpunkt, an dem sich die terroristische Politik immer deutlicher gegen ihre ehemaligen Verbündeten richtet und das ›Schwert des Gesetzes‹ immer enger um den Wohlfahrtsausschuss kreist, ehe es zuschlägt. Doch wenn einerseits Verschwörung und Schwur besonders dazu geeignet erscheinen, das Kräftefeld der revolutionären Schreckensherrschaft zu beschreiben, wenn sich andererseits aber der Verdacht gegen die Kunst als geradezu exemplarisch für die diskursive Ökonomie der Terreur erweist, dann weil ein weiteres platonisches Moment bei den Jakobinern erkennbar ist: die sittliche Verderbung durch die Kunst. Verschwörung muss deshalb als Verschwörungskunst diskursiv inszeniert, die mimetische 180

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Kraft der Kunst zur Zersetzungskraft erklärt und deshalb zum Skandal werden, weil der Kunst somit die Schuld an einem mangelhaften sozialen Zusammenhalt gegeben werden kann. Lefort betont am Ende seines Aufsatzes zur revolutionären Schreckensherrschaft, wie sehr Robespierres Deismus ihm zum Verhängnis wird. Dies nicht so sehr weil er (anders als etwa die Dantonisten) die Terreur mit einer Orthodoxie zu verbinden weiß, sondern weil die ›theokratische Institution‹ des ›Kults des Erhabenen Wesens‹ (culte de l’Être suprême) schlichtweg unmodern ist: Damit wird ein Bezug auf die Transzendenz mittels einer überladenen Symbolik gerade dort wiedereingeführt, wo gerade ein politisches Zusammenleben, das sich von diesem Bezug abgekoppelt hat, die Grundvoraussetzung für die demokratische Ausübung der Souveränität liefert. In der Welt nach 09/11 ist die diskursive Stellung der Kunst, wenn überhaupt, durch die Virtualität besetzt, während die ›öffentliche Wachsamkeit‹ längst von Geheimdiensten übernommen wurde. In dieser neuen Konstellation wohnt dem Westen eine gewisse Tendenz zu Verschwörungsannahmen dezidiert inne: Von der steigenden Vermischung von legislativer und exekutiver Gewalt, Politik und Polizei bis hin zu Reaktionen der Linken auf ergriffene ›Maßnahmen‹ und im Eilverfahren verabschiedete Gesetze, das Misstrauen steuert das Verhalten von Staaten und deren wachsamen Bürgern gleichermaßen. Einen empirischen Bezugspunkt für diese Entwicklung bietet wiederum die rapide Expansion des islamistischen Terrorismus als innenpolitisches Problem. Die Angst, dass in jedem beliebigen Bürger womöglich ein Konterrevolutionär, also der innere Feind steckt, dass diese Bürger sich dann untereinander gegen die junge Revolution verbünden, mag uns in Zeiten, in denen ein Teil der europäischen Jugend sich en masse dem sogenannten ›Islamischen Staat‹ anschließt, merkwürdig vertraut sein. Das Problem, auf das reagiert wird, bleibt bestehen: Wie schreibt sich die Ausübung von Demokratie im Sozialen ein? Wie können Formen des Zusammenhalts entstehen, in denen eine irreversible transzendentale Verunsicherung gerade nicht überdeckt und dennoch ein gewisser Grad an Verbindlichkeit erzeugt wird? Das war die Frage des Philosophen gewesen, der historisch für die Terreur verantwortlich gemacht worden ist. Rousseaus Contrat social endet bekanntlich mit einem langen Kapitel zur Zivilreligion. Man mag Zweifel gegenüber den ›wenigen Dogmen‹ von Rousseaus Zivilreligion hegen. Doch das Problem, das er damit als erster im Übergang von der monarchischen hin zur deSouveränität und Subversion

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mokratischen Souveränität ahnte, bleibt unter veränderter Form bestehen. Aus dem Eintauchen in die Welt der Waren und dem Genuss von demokratischen Freiheiten und Menschenrechten entsteht kein Gefühl der Zusammengehörigkeit – dieses Gefühl wurde gerade von der französischen Tradition des Republikanismus in hohem Maße in den letzten zwei Jahrhunderten gestiftet und gepflegt, bis aus dieser zerbröselten Tradition des republikanischen Konsenses nur noch eine blasse Erinnerung an die Kultur des Aufstands, auf die diese Tradition aufgebaut hatte, zurückblieb: Diese Erinnerung scheint die französische Jugend, die derzeit nach Syrien und in den Irak zieht, regelrecht zu pflegen. Und diese europäische Jugend, die teilweise einen hohen Grad an Bildung genießt, kennt aber auch nicht den Willen oder Antrieb, Formen des ›Unvernehmens‹ (Rancière) oder der ›wilden‹ beziehungsweise ›emergenten Demokratie‹ (Lefort, Abensour) zu erfinden, die, wenn sie mit Gewalt verbunden sind, die Doppeldeutigkeit des deutschsprachigen Begriffs ausschöpfen.

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Die Nacht der Volkssouveränität. Slavoj Žižek, Walter Benjamin und die Deutung der Französischen Revolution bei Georg Forster Axel Rüdiger

In der Nacht sind alle Katzen grau beziehungsweise, wie Hegel formuliert, »alle Kühe schwarz« 1 . Diese Alltagsweisheit lässt sich mit etwas Fantasie auch auf die Beziehung zwischen Slavoj Žižek und Georg Forster übertragen. Denn obwohl Forster das hegelianische Motiv der ›Nacht der Welt‹ in seiner historischen Anthropologie vorwegnimmt – wo er von der »Nacht des Ungrundes« spricht, 2 die das menschliche Subjekt prägt –, ist Žižek bei seinem großen philosophischen Unternehmen, die Philosophie Hegels mit Hilfe der Psychoanalyse Jacques Lacans zu aktualisieren, dieser Spur bisher noch nicht nachgegangen. 3 Dies ist auch kein Wunder, da die Philosophiegeschichte bei der Auswahl ihrer Heroen bekanntlich sehr selektiv vorgeht. Manche Kühe bleiben eben auch in der Nacht der Ideengeschichte schwarz. Wenn aber in der Folge etwas Licht in diese Nacht gebracht werden soll, dann erweist sich der jakobinische Philosoph und Augenzeuge der Französischen Revolution Forster vielleicht als eine Art verschwundener Vermittler, der dieses Thema erstmals konsequent auf das Verhältnis von Souveränität und Revolution anwandte und dabei das Problem der konstitutiven Grundlosigkeit einer revolutionären Ordnung aufwarf, die als ›Nacht‹ der Volkssouveränität beschrieben werden kann. Man könnte vielleicht sagen: Forster scheint durch die Texte von Hegel und Benjamin hindurch, auf die Žižek immer wieder referiert. Der Aufsatz ist daher nicht zuletzt in der Hoffnung geschrieben, mit Hilfe von Forsters historischer Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bänden. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Bd. III, Frankfurt a. M. 1986, 22. 2 Vgl. Georg Forster, Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit, in: Georg Forsters Werke. Kleine Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, Bd. VIII, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1974, 185–193, hier 186. 3 Stellvertretend für die zahlreichen Publikationen Žižeks zu diesem Thema sei hier nur Slavoj Žižek, Die Nacht der Welt. Psychoanalyse und Deutscher Idealismus, übers. v. I. Charim, Frankfurt a. M. 1998, genannt. 1

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Perspektive für den Leser ebenso Licht in Žižeks subtile philosophische Argumentation zu bringen wie umgekehrt, die philosophische Größe Forsters durch Žižeks Texte hindurch zu lesen.

1.

Das Ende der (Volks-)Souveränität?

Dass die Souveränität in Theorie und Praxis auf keinem festen Grund mehr steht, kann heute fast schon als ein politischer Allgemeintopos gelten. So wird der Verfall staatlicher Souveränität seit geraumer Zeit vor dem Hintergrund der ökonomischen Globalisierung der Märkte und der damit verbundenen Deterritorialisierung des Kapitalismus diskutiert. In Europa kommt die Kritik am methodischen Nationalismus im Kontext der Debatten über die Delegation staatlicher Souveränitätsrechte auf die Europäische Union hinzu. Darüber hinaus wird die Emanzipation vom souveränen Staat gern von neoliberalen Globalisierungsdiskursen aufgegriffen, die damit die Demontage staatlich etablierter Sozialstandards zum Zweck der Profitmaximierung geschickt mit dem Versprechen einer Befreiung von bürokratischer Herrschaft verbinden. Potenzielle Kritik etwa aus dem libertären Spektrum wird auf diese Weise sehr erfolgreich in die neoliberale Herrschaftsstrategie integriert. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff der souveränen Herrschaft heute oft als ›Zombie-Kategorie‹ (Ulrich Beck) abgetan, oder zur anachronistischen ›Semantik-Alteuropas‹ (Niklas Luhmann) gezählt, der nun endlich vom Rumpf der politischen Theorie entfernt gehört (Michel Foucault), damit er, jenseits des Anachronismus marxistischer ›Vodoo-Politik‹, durch die zeitgemäßen Konzepte der Mikro- und Subpolitiken ersetzt werden kann. 4 Es scheint also, als ob der Dualismus souveräner Herrschaft inklusive seines abgründigen Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten im relativistisch-pluralistischen Differenzparadigma der ausdifferenzierten (Post-)Moderne keinen Platz mehr hat. An die Stelle von mechanischen Kausalitäts- und Steuerungsmodellen Vgl. hierzu mit detaillierten Nachweisen und zahlreichen weiteren Textbeispielen Hubertus Niedermaier, Das Ende der Herrschaft? Perspektiven der Herrschaftssoziologie im Zeitalter der Globalisierung, Konstanz 2006, 7 ff. Auch Hans Boldt, Art. Staat und Souveränität IX.-X., Geschichtliche Grundbegriffe VI, Stuttgart 1990, 129–153, hier 152, konstatiert, dass schon vor geraumer Zeit »die ›Souveränität‹ zum historischen Begriff erklärt [wurde], dessen Gebrauch nunmehr als anachronistisch gilt.«

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sowie essentialistisch-archaischen Klassenkampfszenarien traten mehr oder weniger subjektlose Differenzmodelle, die heuristisch auf den ersten Blick zwar den Vorteil haben, komplizierte partikulare Wechselwirkungsprozesse besser als das marxistische Basis-Überbau-Schema beschreiben zu können, darüber allerdings die umkämpfte Universalität und Subjektivität des Politischen aus den Augen verlieren, durch die radikale soziale und politische Umbrüche und Alternativen überhaupt erst möglich werden. Denn für sich genommen erlaubt das heute in allen politischen Richtungen verbreitete Differenzparadigma nur eine beliebige Variation des Bestehenden, ohne noch die Frage einer radikalen Alternative im Sinne eines souveränen politischen Aktes aufwerfen zu können. Insofern haben sich ganz unterschiedliche und vom normativen Anspruch auch durchaus gegensätzliche Ansätze in den Antinomien der postmodernen Vernunft verfangen. Besonders problematisch ist hierbei die Tatsache, dass die Kritik an der staatlichen Souveränität auch die revolutionäre Volkssouveränität als reale politische Größe suspendiert, die seit der Französischen Revolution die normative Grundlage der demokratischen Verfassungsstaaten bildet. Ohne die praktische Wirksamkeit dieser Volkssouveränität tritt die moderne Demokratie aber zwangsläufig in ein postdemokratisches Stadium ein, in welchem die Demokratie auf eine legale Staats- und Zwangsordnung reduziert wird und ihre dynamische Funktion als revolutionärer Antrieb der Politik verliert. Autoren wie Alain Badiou, Slavoj Žižek und Jacques Rancière haben deshalb darauf hingewiesen, dass die legale Demokratie unter diesen Umständen zu einem Hindernis für die demokratisch-emanzipatorische Bewegung geworden ist und nach Alternativen zu der Verflechtung von postdemokratischer und neoliberaler Souveränitätskritik sucht. Dies geht einher mit dem Versuch, die antiquierte ›Zombietheorie‹ des Marxismus nach ihrem realpolitischen Scheitern in Osteuropa so zu reformulieren, dass der relationale und kontingente Charakter des Politischen nicht auf Kosten von dessen universaler und revolutionärer Dimension anerkannt wird. Die einseitige Dekonstruktion souveräner Herrschaft zugunsten der Ausdifferenzierung von sozialer Komplexität in der politisch-sozialen Theorie der Gegenwart wird hierbei als ein politischer Angriff auf diejenige Instanz gedeutet, die Jacques Lacan als ›Herren-Signifikant‹ bezeichnet hat und ohne welche die Welt in einen atonalen Zustand verfällt, in dem die chaotische Vielfalt der Wirklichkeit ohne Souveränität und Subversion

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Bedeutungsordnung bleibt. 5 Dies entspricht im Groben dem, was klassische Souveränitätstheoretiker zwischen Thomas Hobbes und Immanuel Kant unter dem Rückfall in den Naturzustand als einen Zustand jenseits von Ordnung verstanden haben, in dem allein das chaotische (Un-)Recht des Krieges und der Stärke herrscht. Für Žižek ist diese Demontage der »Handlungsmacht des anordnenden HerrenSignifikanten […] ein augenfälliges Merkmal der postmodernen Welt« 6 . Der Widerstand gegen diese Strategie gestaltet sich aber vor allem dadurch als schwierig, weil sie ideologisch sehr erfolgreich die politisch-libertären Werte von Demokratie und Freiheit vereinnahmt, was ihr erlaubt, jegliche Kritik undifferenziert in eine autoritäre oder gar totalitäre Ecke zu drängen. 7 Žižek und Badiou plädieren dafür, diesen ideologischen Vorwurf trotz seiner Popularität auszuhalten, um den hinter dieser Strategie verborgenen Exzess der kapitalistischen Profitinteressen überhaupt ernsthaft kritisieren zu können. Nur so könne die (post-)demokratische Atonalisierung mit der umfassenden Deregulierung der kapitalistischen Märkte in VerDer leere ›Herren-Signifikant‹ bezeichnet Bedeutung als solche und ermöglicht damit überhaupt erst die differenzielle Ordnung zwischen verschiedenen Signifikanten. Die vom ›Herren-Signifikanten‹ bedeutete Differenz ist die grundlegende Differenz zwischen Bedeutung und Nicht-Bedeutung, die als reflexive Nullstelle notwendig ist, um die differenzielle Vielfalt von Bedeutung freizusetzen. Die soziale Praxis, in der ein ›Herren-Signifikant‹ artikuliert wird, lässt sich nicht vollständig auf Vernunft und Wissen zurückführen und steppt die symbolische Ordnung der Signifikanten an einen kontingenten Punkt, von dem aus im Anschluss retroaktiv eine Bedeutungsordnung hergestellt wird. Vgl. u. a. Slavoj Žižek, Der Erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, übers. v. I. Charim, Wien 2 1992, 215–218. 6 Slavoj Žižek, Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen, übers. v. A. L. Hofbauer, Hamburg 2011, 37. 7 Für Alain Badiou, Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis, unter Mitarb. v. A. Schubbach, übers. v. H. Jatho, Zürich 2010, 446, ist »[d]ie moderne, stets mit einem Lob der demokratischen Bewegung geschmückte Apologie der ›Komplexität‹ der Welt […] in Wirklichkeit nur der Wunsch nach einer allgemein gewordenen Atonie.« Ganz ähnlich ist für Slavoj Žižek, Das ›unendliche Urteil‹ der Demokratie, in: Demokratie? Eine Debatte, hg. v. G. Agamben, Berlin 2012, 116–136, hier 125, »unschwer zu erkennen, dass innerhalb des liberaldemokratischen Horizonts die ›terroristische‹ Seite der Demokratie – die gewaltsame egalitäre Erhebung der ›Überzahl‹, des ›Teils, der nicht teilhat‹ – nur als deren ›totalitaristische‹ Verzerrung erscheinen kann.« Žižek befindet sich damit in einer demokratietheoretischen Tradition, die zurückreicht bis auf Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus, Frankfurt a. M. 1988, der 1938 den Legalismus des liberalen Demokratieverständnisses für die Erfolge des Faschismus auf dem europäischen Kontinent verantwortlich machte. 5

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bindung gebracht werden, die mittlerweile insbesondere auf den internationalen Finanzmärkten so offensichtlich für soziale Verwerfungen gesorgt hat, dass sie nicht nur den demokratisch verfassten Sozialstaat zerstören, sondern die Welt auch in ein neues kriegerisches Zeitalter stürzen. Ein Ausweg aus dieser Situation kann für Žižek und Badiou unter diesen Umständen nicht mehr in der Rückkehr zur liberalen Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehen, sondern allein in der Reaktivierung einer revolutionären Volkssouveränität, die politisch mit der legalistischen Reduktion der Demokratie bricht. Damit wiederholt sich auf überraschende Weise ein Krisenszenario, wie es auch am Ursprung der revolutionären Volkssouveränität in der Französischen Revolution bestanden hat. Die politische Ausstreichung der Volkssouveränität aus der staatlich-legalistischen Demokratie der Gegenwart wiederholt gewissermaßen das Trauma der Geburt des politischen Subjekts am Beginn des demokratischen Zeitalters insofern, wie bereits Emmanuel Joseph Sieyès wusste, als jede Subjektivierung eines universalen emanzipatorischen Agenten aus der Tilgung seines konkreten Inhalts und seiner Reduktion auf den Status eines formalen ›Nichts‹ resultiert. 8 Wenn die Wiederholung des Traumas, das ein Subjekt durch die erneute Beraubung seines substanziellen Inhalts in der Gegenwart durchlebt, wie Žižek meint, die Möglichkeitsbedingungen für die Entstehung eines neuen politischen Subjekts freisetzt, dann ist jedoch die gegenwärtige Situation nicht total aussichtslos. 9 Und gerade deshalb scheint es nicht umsonst zu sein, die historischen Bedingungen der traumatischen Geburt des demokratischen Subjektes noch einmal konsequent auf die gegenwärtigen Bedingungen seiner politischen Austilgung zu beziehen. Nichts anderes steckt hinter Žižeks engagierter Relektüre HeVgl. Emmanuel Joseph Sieyès, Politische Schriften 1788–1790. Mit Glossar und kritischer Sieyès-Bibliographie, hg. v. E. Schmitt/R. Reichardt, München 2 1981, 119.126–130. Die Ausstreichung der Volkssouveränität als reales politisches Subjekt und ihre Reduktion auf ein formelles legalistisches Prozedere findet sowohl durch die praktische Beschränkung auf die Wahl von Repräsentanten als auch durch die theoretische Verkürzung auf parlamentarische Deliberation statt. Dies eint in der deutschen politischen Theorie so unterschiedliche Positionen wie Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 2 1981, als auch Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011. 9 Vgl. Slavoj Žižek, Was ist ein Ereignis?, übers. v. K. Genschow, Frankfurt a. M. 2014, 99 f. 8

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gels und des Deutschen Idealismus, in der die Geburtsprobleme des modernen politischen Subjekts vor dem Hintergrund seiner aktuellen Krise philosophisch artikuliert werden. Aus dieser Sicht kann es nicht genügen, eine kritische Gegenlektüre zur reaktionären Misere der Gegenwart auf die Werke von Karl Marx zu beschränken, sondern man muss konsequent wieder von vorn beginnen, d. h. von einem Anfang, aus dem heraus sich auch Marx’ dialektisches Denken neu erschließt. Für Žižek war es vor allem Hegel, der den Geist der (gescheiterten) Französischen Revolution in die Philosophie einführte. Hier soll lediglich daran erinnert werden, dass der große Inspirator für Žižeks Hegel der Jakobiner, Philosoph und wissenschaftliche Begleiter James Cooks Georg Forster war. 10

2.

›Göttliche Gewalt‹ und das Ereignis der Volkssouveränität

Auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution im Winter 1793– 1794 teilte Forster aus Paris dem über den Verlauf der Revolution zunehmend beunruhigten deutschen Publikum folgende Beobachtung über den Zusammenhang von revolutionärer Gewalt und öffentlicher Meinung mit: »Als Necker dieses große, nicht zu berechnende Mobil der Volkskraft anregte, wußte er nicht, was er that. Die ersten Anfänge der Bewegung waren aber wegen des Umfangs, der Masse und des Gewichts so unmerklich, daß Klügere als er, sich täuschten, und diese ungeheure Triebfeder umspannen zu können, sich vermaßen. Allein wie bald entwand sie sich aus ihren ohnmächtigen Händen! – Es entstand ein chaotisches Ringen der Elemente; es erfolgten die heftigsten Konvulsionen, die furchtbarsten Erschütterungen. Kleinere gegenstrebende Bewegungen wurden von den größeren, allgemeineren verschlungen; so gab es denn eine gleichartige Bewegung, oder mit andern Worten: der Wille des Volks hat seine höchste Beweglichkeit erlangt, und die große Lichtmasse der Vernunft, die immer noch vorhanden ist, wirft ihre Strahlen in der von ihm verstatteten Richtung.« 11

Forster, der zum Zeitpunkt dieser Beobachtung im Pariser Exil seine akademische Karriere als Kulturanthropologe, Naturwissenschaftler Den besten biographischen Überblick zu Forster bietet Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794), Göttingen 2004. 11 Georg Forster, Parisische Umrisse, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. X,1, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1990, 593–637, hier 596 f. (Herv. im Original). 10

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und Philosoph ebenso hinter sich gelassen hatte wie sein Engagement als aktiver jakobinischer Politiker im Dienste der Mainzer Republik, beschreibt hier die revolutionäre Entwicklung der öffentlichen Meinung zu einer allgemeinen und unwiderstehlichen materiellen Gewalt, in der sich der souveräne Volkswille über jeden Widerstand hinwegsetzt und dabei selbst eine apriorisch gedachte Vernunft in seine Bahnen zwingt. Letzteres muss selbstverständlich als ein kritischer Seitenhieb auf den Kantianismus gelesen werden, der zu diesem Zeitpunkt die kritische Philosophie und das mit der Revolution sympathisierende Publikum in Deutschland dominierte. Dabei nimmt Forster nicht nur die Idee der Krümmung apriorischer Vernunftschemata wie Raum und Zeit – fast analog zu Einsteins Relativitätstheorie – durch eine unwiderstehliche Gravitationskraft vorweg, er antizipiert auch inhaltlich Benjamins Konzept der ›göttlichen Gewalt‹ –, was hier von besonderer Bedeutung ist, weil beide Momente auch in Žižeks Theoriegebäude eine wichtige Rolle spielen. 12 Bei Benjamin, der Forsters Texte kannte, speist sich die Metaphorik der Göttlichkeit aus dem Gegensatz zur ›mythischen Gewalt‹, worunter die instrumentelle ›Rechtsgewalt‹ insbesondere des Staates verstanden wird. 13 Die ›göttliche Gewalt‹, die von Žižek zur Ordnung des Ereignisses gerechnet wird, ist sich dagegen Selbstzweck, weshalb sie auf ein grundloses ›Nichts‹ verweist. 14 Von daher steht sie in einer Analogie Am ausführlichsten setzt Žižek sich mit Benjamins Unterscheidung von ›göttlicher‹ und ›mythischer Gewalt‹ auseinander in Žižek, Gewalt, 157–178 (wie Anm. 6). Zur Bedeutung der Relativitätstheorie für Žižeks Hegel-Interpretation siehe u. a. Slavoj Žižek, Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor, übers. v. E. M. Vogt, Wien 1994, 288 ff. Forster greift hier höchstwahrscheinlich auf den englischen Naturphilosophen John Michell (1724–1793) zurück, der 1784 einen Zusammenhang zwischen der Gravitationskraft und der Bewegungsform des Lichts behauptet hatte sowie als erster die Existenz ›Schwarzer Löcher‹ (dark stars) beschrieb. Michell war es auch, der bereits 1768 den Begriff der ›Parallaxe‹ verwandte. Vgl. John Michell, On the Means of Discovering the Distance, Magnitude, &c. of the Fixed Stars. In Consequence of the Diminution of the Velocity of their Light, London 1784. 13 Vgl. Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften. Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. II, Frankfurt a. M. 2 1989, 179–203, insbesondere 199 ff. »Was revolutionäre Freiheit und wie sehr auf Entbehrung angewiesen sie ist«, schreibt Walter Benjamin, Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen, in: Gesammelte Schriften. Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, Bd. IV,1, Frankfurt a. M. 1991, 149–233, hier 160, über den von ihm geschätzten Forster, »hat damals schwerlich einer wie Forster begriffen, niemand wie er formuliert.« 14 Vgl. Žižek, Gewalt, 175 (wie Anm. 6). 12

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sowohl zur theologischen creatio ex nihilo als auch zur deontologischen Ethik, die Forster mit Immanuel Kant teilte, die gleichfalls ohne eine besondere empirische Triebfeder gewissermaßen aus dem ›Nichts‹ kommt. 15 Im Gegensatz zur ›mythischen‹ Staatsgewalt bezieht sich die ›göttliche Gewalt‹ eines revolutionären Ereignisses deshalb auf keine positive Letztbegründung, sondern definiert sich als der abwesende Grund der Volkssouveränität, der einzig und allein auf seine Nichtigkeit verweist. Diese Spannung ist auch schon jener politischen Differenz implizit, die Sieyès zwischen dem pouvoir constituant und dem pouvoir constitué eingeführt hat, in der die göttlichen Attribute staatlicher Souveränität (potestas constituens, norma normans, creatio ex nihilo) politisch auf das fragile Kollektivsubjekt des Volkes übertragen werden. 16 Der authentische Charakter eines solchen Übertragungsaktes erweist sich aber erst mit der Transformation der ›mythischen‹ und daher korrupten Staatsgewalt in eine ›göttliche‹ und daher ethische Revolutionsgewalt, wobei letzterer nicht mehr die positive Identität eines überlegenen und vollkommenen Herrschaftssubjekts, sondern eine politische Subjektivität zugrunde liegt, die vom Mangel einer konstitutiven Abwesenheit gekennzeichnet ist. Der souveränitätstheoretische Mythos der fest und vollständig gegründeten Staatsgewalt in der Hand eines positiven Subjekts der Fülle weicht hier einer aus dem ›Nichts‹ kommenden Gewalt, deren authentisches Subjekt weder eine positive Person, Klasse oder Ethnie ist, sondern wie der ›Dritte Stand‹ (tiers état) von Sieyès nur eine vom Mangel gezeichnete kollektive Person sein kann, deren fragile Identität durch eine politische Subtraktion bestimmt ist. 17 In der Beschreibung von Wie Kant lehnt Forster jeglichen empirischen Utilitarismus in der Moral als Quelle der Korruption ab. Zum revolutionären Potenzial von Kants Ethik und ihren Grenzen siehe Alenka Zupančič, Das Reale einer Illusion. Kant und Lacan, übers. v. R. Ansén, Frankfurt a. M. 2001. 16 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechtes, in: Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, hg. v. U. K. Preuß, Frankfurt a. M. 1994, 58–80, hier 62. 17 Im Anschluss an Badiou und Rancière bestimmt Slavoj Žižek, Der Mut, den ersten Stein zu werfen. Das Genießen innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, übers. v. E. M. Vogt, Wien 2008, 103, die politische Logik der Subtraktion als Alternative zur repressiv-staatlichen Logik der Purifikation (Säuberung) innerhalb der modernen »Passion des Realen«. »Anders als die Säuberung, die vermittels einer gewaltsamen Beseitigung aller Hüllen die Isolation des Kerns des Realen anstrebt, beginnt die Subtraktion mit der Leere, mit der Reduktion (›Subtraktion‹) jeglichen bestimmten In15

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Sieyès erscheint der ›Dritte Stand‹ als der unterdrückte und aus der Politik ausgestrichene ›Rest‹, der übrig bleibt, wenn der privilegierte Teil von der Gesamtgesellschaft abgezogen wird. Sieyès’ pouvoir constituant markiert zwar ähnlich wie die natura naturans Spinozas eine ontologisch-metaphysische Differenz, anders als diese basiert sie aber auf dem Prinzip der generativen Abwesenheit. 18 Forster arbeitet diese Theorie von Sieyès weiter aus, wenn er konsequent darauf besteht, dass sich die revolutionäre Gewalt des Volkes nicht instrumentalisieren lässt, da sie ein Selbstzweck sei. Die blindwütigsten Exzesse der Revolution führt er auf die verschiedenen Versuche zurück, diese Gewalt einem empirisch-utilitaristischen Kalkül zu unterwerfen, denen Forster entweder Naivität oder Korruption, meistens allerdings jedoch beides unterstellt. 1793 ist für Forster klar, dass jeder Versuch, den Prozess der Revolution in den positiven Rahmen eines vorhandenen philosophischen Systems oder einer bekannten staatlichen Verfassungsordnung zu pressen und hieraus politische Urteile und Handlungsstrategien abzuleiten, die Eskalationsspirale nur noch weiter voran schraubt: »Die Revolution hat alle Dämme durchbrochen, alle Schranken übertreten, die ihr viele der besten Köpfe hier und drüben bei Ihnen, in ihren Systemen vorgeschrieben hatten. Zuerst schwellte sie über den engen Kreis, den ihr Mounier wohlmeinend anweisen wollte. C’est une tête de bronze, coulée dans un moule anglois, sagten wir, weil er so hartnäckig an seiner Nachahmung der Englischen Konstitution hangen blieb; und damit war ihm das Urtheil gesprochen. Manche, auch gemäßigte Staatsmänner, gingen in ihrer Nachgiebigkeit schon weiter, und glaubten noch an die Möglichkeit einer guten Verfassung außerhalb jenes Bezirkes. Als aber auch die Herkulessäulen, trotz der stolzen Inschrift: non plus ultra, von dem brausenden Orkan umgestürzt lagen, da verkündigte ihre beleidigte Eitelkeit schon das jüngste Gericht. Andere harrten länger aus; aber seitdem ihr letzter Ableiter, den sie im Föderalsystem gefunden zu haben glaubten, durch einen Blitzstrahl vom Berge zerschmettert worden ist, kommen auch sie mit der Babylonischen Hure schon aufgetreten. Die öffentliche Meinung ist alle diese Stufen hinangestiegen, und auf jeder höheren hat sie den Irrthum erkannt, den die Täuschung des falschen Horizonts verursachte. Jetzt bleibt sie bei der allgemeinsten aller Bestimmungen stehen: einer Bestimmung, die freilich den halts und versucht dann, eine minimale Differenz zwischen dieser Leere und einem Element herzustellen, das als ihr Platzhalter fungiert.« (ebd.). 18 Vgl. hierzu die Kritik des Spinozismus bei Slavoj Žižek, Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, übers. v. N. G. Schneider, Frankfurt a. M. 2005, 55–67. Souveränität und Subversion

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Hafen so lieblich nicht vormahlt, wo das Staatsschiff wohlgemuth einlaufen und abtakeln soll, wobei es sich aber doch mit jener mystischen Losung aus den neuen Ritterzeiten eines geheimen Ordens: in silentio et spe fortitudo mea, auf offnem Meer, und selbst mit etwas beschädigten Masten und Segeln, noch ganz bequem einherschwimmen läßt.« 19

Anschaulicher kann das Scheitern der ›mythischen Gewalt‹ im Angesicht ›göttlicher Gewalt‹ kaum beschrieben werden. Die Unfähigkeit vieler Politiker, den ›göttlichen‹ Ereignischarakter der revolutionären Gewalt zu erkennen und zu akzeptieren, endete freilich deshalb für diese mitunter tragisch und trieb den gewaltsamen Prozess der Revolution nur noch weiter voran. Forster spricht in diesem Kontext vom eigenartigen Verhalten jener »Halbweisen, die ihr [der Revolution; A. R.] voranliefen und sie zuerst in Bewegung brachten, plötzlich stille zu stehen und sich zu ärgern, daß sie, wie eine Schneelawine, mit beschleunigter Geschwindigkeit dahinstürzt, stürzend an Masse gewinnt, und jeden Widerstand auf ihrem Wege vernichtet« 20 . Erkannt und repräsentiert kann die ontologische Naturgewalt der Revolution für Forster allein von der öffentlichen Meinung werden: »Die öffentliche Meinung ist also bei uns in Absicht auf die Natur der Revolution jetzt so weit im Klaren, daß man es für Wahnsinn halten würde, ihr Einhalt thun oder Grenzpfähle stecken zu wollen. Eine Naturerscheinung, die zu selten ist, als daß wir ihre eigenthümlichen Gesetze kennen sollten, läßt sich nicht nach Vernunftregeln einschränken und bestimmen, sondern muß ihren freien Lauf behalten.« 21

Was Forster hier klar problematisiert und in Worte zu fassen versucht, ist der Ereignischarakter der Französischen Revolution, der sich erst jetzt endgültig mit dem modernen Revolutionsbegriff verbindet. Ein Ereignis zeichnet sich nach Žižek vor allem dadurch aus, dass es erst rückwirkend und zirkulär die eigenen Voraussetzungen schafft, derer es eigentlich bedarf, um ins Sein zu treten und dort präsent zu bleiben. »In einer ersten Annäherung erscheint das Ereignis also als Effekt, der seine Gründe zu übersteigen scheint – und der Raum eines Ereignisses ist derjenige, der von dem Spalt zwischen einem Effekt und seinen Ursachen eröffnet wird.« 22 Dies ist der Grund, warum die Revolution die politische Zeit zu einer dialekti19 20 21 22

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Forster, Parisische Umrisse, 594 f. (wie Anm. 11; Herv. im Original). Ebd., 596 (Herv. im Original). Ebd., 595. Žižek, Ereignis, 9 (wie Anm. 9; Herv. im Original).

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schen Zeitschleife krümmt, die retroaktiv ihre eigenen Voraussetzungen setzt. 23 Bisher hatte der Revolutionsbegriff immer noch die politische Vollendung eines Zyklus aus Aufstieg und Niedergang bezeichnet, der nicht notwendig mit einer substanziellen Veränderung der Seinsordnung verbunden war, sodass die Revolution noch nicht konsequent vom bloßen Regierungswechsel oder Staatsstreich geschieden war. Erst jetzt, durch die konsequente Verbindung von Revolutions- und Ereignisbegriff, wurden Revolutionen als ›Lokomotiven der Geschichte‹ (Karl Marx) denkbar, die zugleich eine säkulare Form der Providenz etablieren. 24 So verträgt sich Forsters naturalistische Revolutionsdeutung sehr wohl mit der messianischen Überzeugung, »daß unsre Revolution, als Werk der Vorsehung, in dem erhabenen Plan ihrer Erziehung des Menschengeschlechts gerade am rechten Ort steht […]; denn sie ist die größte, die wichtigste, die erstaunenswürdigste Revolution der sittlichen Bildung und Entwickelung des ganzen Menschengeschlechts« 25 . Gerade weil Forster die Hierin besteht der rationale Kern des in der deutschen Staatslehre oft diskutierten ›Böckenförde-Dilemmas‹, vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, 60. Die Tatsache, dass der demokratisch-säkulare Verfassungsstaat »von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann« (ebd.), kündet aber weniger von der traditionell-religiösen Substanz legitimer Herrschaft als von dem revolutionären Ereignis, das dem demokratischen Staat im Innersten eingeschrieben ist. Der Versuch der legalistischen Austilgung der Revolution aus der demokratischen Ordnung geht folglich notwendig einher mit der Auslöschung dieses Ereignischarakters und reduziert den reinen ›Rechtsstaat‹ letztlich nur noch auf eine staatlich-mechanische Zwangsordnung. Ohne das jakobinische ›Unrechtsregime‹ verliert der ›Rechtsstaat‹ seine emanzipatorische Legitimität. Gegen Böckenförde sollte daher mit Žižek und Badiou darauf bestanden werden, dass sich dieses Dilemma nur dann christlich auflösen lässt, wenn der christliche Akt am Kreuz atheistisch interpretiert wird und das Christentum als radikaler Repräsentationsmodus eines Ereignisses fungiert, der in allen revolutionären Bewegungen wiederholt und aufgehoben wird. Vgl. u. a. Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, übers. v. N. G. Schneider, Frankfurt a. M. 2003, insbesondere 64–93. 24 Vgl. Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Werke. Karl Marx, Friedrich Engels, Bd. VII, Berlin 1982, 9–107, hier 85. Zur Transformation des Revolutionsbegriffes siehe Karl-Heinz Bender, Revolutionen. Die Entstehung des politischen Revolutionsbegriffes in Frankreich zwischen Mittelalter und Aufklärung, München 1977; Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung, Hamburg 3 1992, sowie Reinhart Koselleck, Revolution als Begriff und als Metapher. Zur Semantik eines einst emphatischen Worts, in: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2010, 240–251. 25 Forster, Parisische Umrisse, 600 f. (wie Anm. 11; Herv. im Original). 23

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›göttliche Gewalt‹ und die deontologische Pflichtenethik im Begriff der Revolution konvergieren lässt, kann er diese als einen universalistischen ethischen Akt von der korrupten und an ein partikularistisches Machtinteresse gebundenen Revolte und dem Staatsstreich unterscheiden. 26 Insofern sich die Revolution als Selbstzweck aber jedem utilitaristisch-instrumentellen Kalkül entzieht, muss das unbedingte Bekenntnis Forsters zur Revolution als ein Akt gelesen werden, der auf jede Begründung im ›großen Anderen‹ der symbolischen Ordnung verzichtet. Der wesentliche Unterschied zwischen Forster und den von ihm erwähnten politischen »Halbweisen« – zu denen neben dem Bankier Jacques Necker, dem Marquis de Lafayette, dem Girondisten Jacques Pierre Brissot auch der Jakobiner Georges Danton und viele andere zu rechnen sind –, die der Revolution zunächst voranliefen, um dann innezuhalten und von derselben überrollt zu werden, besteht mithin darin, dass diese entweder überhaupt keinen Sinn für den außerordentlichen Ereignischarakter der Revolution hatten (Necker und Lafayette) oder diesen nicht vollständig und in seiner letzten Konsequenz zu akzeptieren vermochten (Brissot und Danton).

3.

Vom legalen ›Begehren‹ des Glücks zum revolutionären ›Trieb‹ der Würde

Wenn Forster die Revolution konsequent als ein Ereignis beschreibt, dann kommt er dabei inhaltlich Žižeks Definition des Realen sehr nahe, für den ein reales Ereignis die »traumatische Begegnung mit einem göttlichen Ding« 27 beziehungsweise einer ›göttlichen Gewalt‹ im Sinne Benjamins beinhaltet. Die Kategorie des Realen gehört neben dem Symbolischen und dem Imaginären zu den grundlegenden Dimensionen, in denen sich der Mensch nach der Theorie Lacans bewegt. Das Reale ist bei Žižek »nicht einfach die externe Realität«, sondern etwas Unmögliches, »das weder direkt erfahren noch sym-

»Wenn der Khan oder der Visir seinen Sultan bekriegt, wenn Pugatschew in Rußland einen Aufruhr stiftet, so sind diese Revolutionen, was auch immer ihr Erfolg seyn mag, für das Menschengeschlecht unfruchtbar; denn die Absicht ihrer Urheber ist bloß persönlicher Eigennutz, und die Beförderung der Humanität kann ihnen nicht einmal Vorwand und Mittel seyn.« (ebd., 605). 27 Žižek, Ereignis, 123 (wie Anm. 9). 26

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bolisiert werden kann«. 28 Verstanden als »ein traumatisches Zusammentreffen zwischen extremer Gewalt, die unser gesamtes Bedeutungsuniversum destabilisiert« 29 , scheint der Begriff des Realen tatsächlich direkt mit Forsters Revolutionsbeschreibung zu konvergieren. Dabei erweisen sich Forster wie Žižek als radikale Materialisten, die den mechanischen Materialismus allerdings zugunsten einer dialektischen Version hinter sich lassen. Denn obwohl Forster die Revolution als ein sittliches Ereignis innerhalb der göttlichen Ordnung der Vorsehung vorstellt, so ist ihre »bewegende Kraft« dennoch »nichts rein Intellektuelles, nichts rein Vernünftiges; sie ist die rohe Kraft der Menge.« 30 Und er fährt fort: »In so fern, wie Vernunft ein vom Menschen unzertrennliches Prädikat ist, in so fern hat sie freilich auf die Revolution ihren Einfluß, wirkt mit in ihre Bewegung, und bestimmt zum Theil ihre Richtung; aber präponderieren kann sie nicht, und wenn – wie wir doch nicht in Abrede seyn wollen? – die Revolution einmal im Rathe der Götter beschlossen war, durfte sie es auch nicht, weil ihre Präponderanz an und für sich nur die Revolution hemmen, nie sie treiben und vollbringen kann. Ich würde sie die ächte vim inertiae nennen, wenn ich es mit einem Physiker zu thun hätte; denn einmal überwunden von der Stoßkraft, dürfte dennoch in ihr selbst der Grund jener langen Dauer liegen, womit die Revolutionsbewegung so manchen unerfahrnen Beobachter in Erstaunen setzte.« 31

Der ›Rat der Götter‹, in dem die Revolution beschlossen wurde, lässt sich hier klar dem Register des Realen innerhalb eines Ereignisses zurechnen. Einerseits bezieht sich diese theologische Metapher auf den fiktiven Rahmen, in dem sich die revolutionäre Veränderung vollzieht, 32 und andererseits benötigt sie Forster dazu, um das ebenso gewaltige wie unmögliche Ausmaß des revolutionären Ereignisses erfassen zu können. Der spirituelle Aspekt des Göttlichen tritt hier, wie Žižek in Bezug auf die Definition eines realen Ereignisses bemerkt, hinter den »zerstörerische[n] Aspekt des Göttlichen« zurück, Ebd., 120. Ebd., 120 f. 30 Forster, Parisische Umrisse, 596 (wie Anm. 11). 31 Ebd. (Herv. im Original). 32 Dies korrespondiert wiederum mit Žižeks Definition des Ereignisses: »In seiner grundlegendsten Definition ist ein Ereignis nicht etwas, das innerhalb der Welt geschieht, sondern es ist eine Veränderung des Rahmens, durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen. Ein solcher Rahmen kann manchmal direkt als eine Fiktion vorgestellt werden, die uns dennoch befähigt, die Wahrheit in einer indirekten Art und Weise zu sagen.« (Žižek, Ereignis, 16 [wie Anm. 9; Herv. im Original]). 28 29

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der »die brutale Explosion von Wut mit ekstatischer Glückseligkeit vermischt« 33 . Wenn Forster dabei gleichzeitig darauf insistiert, dass es nicht die Vernunft ist, die die Revolution antreibt, dann deckt sich seine Argumentation auch überraschend weitgehend mit dem Begriff des ›Triebes‹ – einem weiteren Schlüsselbegriff von Žižek, den er aus der Psychoanalyse von Freud und Lacan entnimmt. Weit entfernt davon, ein Instinkt zu sein, bezeichnet der ›Trieb‹ dort die Nullstufe der menschlichen Bedürfnisökonomie, die nicht nur das bloße Leben reproduziert, sondern auf einen unmöglichen Überschuss an Lebensgenuss gerichtet ist und dadurch immer wieder den normalen Ablauf der Ordnung revolutioniert und aus den Angeln hebt. Insofern verweist der ›Trieb‹ gerade auf den revolutionären und qualitativen Einschnitt, der den Menschen vom Tier beziehungsweise ›Kultur‹ von ›Natur‹ unterscheidet. Obwohl der ›Trieb‹ also gerade kein animalischer Instinkt ist, bezeichnet er doch auch keine intentionale Einstellung, die wie das Begehren auf ein konkretes Objekt gerichtet wäre, sondern vielmehr eine selbstreferenzielle und repetitive Bewegung, die unaufhörlich um die reale Lücke in der menschlichen Bedürfnisstruktur (imbecillitas) kreist, in der das Subjekt gefangen ist. In diesem Sinne funktioniert der ›Trieb‹ gleichsam wie ein ›untotes‹ perpetuum mobile, das, einmal im Menschen in Bewegung gesetzt, automatisch weiterläuft und seine Befriedigung auch gegen den subjektiven Willen und sogar auf Kosten seiner subjektiven Träger fordert. »Der Trieb«, so formuliert Žižek, »ist buchstäblich eine Gegenbewegung zum Begehren, er strebt nicht etwa nach der unmöglichen Fülle, um dann, weil er gezwungen ist, auf sie zu verzichten, an einem Partialobjekt als deren Rest hängenzubleiben – der Trieb ist, ganz wörtlich, genau der ›(An-)Trieb‹ dazu, die Allkontinuität, in die wir eingebettet sind AUFZUBRECHEN, ein radikales Ungleichgewicht in ihr herbeizuführen«. 34

Im politischen Kontext bedeutet dies, dass die anthropologische Annahme eines solchen ›Triebs‹ genau dann mit dem ›göttlichen‹ Charakter revolutionärer Gewalt inklusive deren inkonsistenter SubjekEbd., 123. Wenn Žižek in diesem Zusammenhang auf Hiob referiert, dem der »Gott des Realen – das Ding« erschienen ist, d. h. »ein launischer, grausamer Herr, der schlicht keinen Sinn für universale Gerechtigkeit hat« (ebd., 28), dann konvergiert auch dies mit Forsters materialistischer Beschreibung der revolutionären Gewalt. 34 Slavoj Žižek, Parallaxe, übers. v. F. Born, Frankfurt a. M. 2006, 63 (Herv. im Original). 33

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tivität konvergiert, wenn letztere im Gegensatz zur ›mythischen‹ Staatsgewalt und deren positiv-begründeter Subjektivität des Begehrens betrachtet wird. Der aus dem ›Nichts‹ kommende materialistisch-reale ›Trieb‹ (die abgründige Lücke in der menschlichen Bedürfnisstruktur) steht dann dem ›mythisch‹ fixierten Begehren in einer staatlich verfassten Sozialordnung gegenüber. »Göttliche Gewalt« ist für Žižek deshalb »der Ausdruck des reinen Triebes, des Untoten, des Exzesses des Lebens, der das ›bloße Leben‹ schlägt, welches vom Gesetz beherrscht ist.« 35 Insofern korrespondiert der ›Trieb‹ mit dem merkwürdigen Mangelsubjekt der unbegründeten Volkssouveränität, das mit sich selbst niemals identisch ist; während sich die staatlichlegale Ordnung über das Begehren auf eine Subjektivität gründet, deren Mängelwesen durch ein objektives Supplement verdrängt und ausgefüllt wird. Wenn sich Žižek hierbei auf Marx’ Theorie des Warenfetischismus beziehen kann, worin die Ware als Objekt des kapitalistischen Begehrens den subversiven ›Trieb‹ ersetzt, so findet sich dieser Zusammenhang auch bei Forster bereits angelegt. Bei diesem fällt die Kritik am legalen Begehren mit der Kritik des ideologischen Glücksbegriffs zusammen, wie es sowohl dem paternalistischen Polizeistaat als auch dem kapitalistischen Marktsystem zugrunde liegt. Dem legalen Begehren des Glücks, das für Forster in die von La Boétie, Rousseau und anderen beschriebene ›freiwillige Knechtschaft‹ führt, wird ein ›Bildungstrieb‹ gegenübergestellt, der eben nicht auf das legal erzeugte Glücksbegehren, sondern auf die revolutionäre ›Menschenwürde‹ gerichtet ist. 36 In diesem Sinne betrachtet Forster die Französische Revolution als einen politischen Prozess, in welchem das legal fixierte Glücksbegehren notgedrungen durch die sittliche Würde des ›Bildungstriebes‹ überwunden wird. Dies ermöglicht die Konvergenz des Terrors nackter physischer Gewalt und der sublimen Spiritualität der Tugend in der jakobinischen Rhetorik. 37 Wie bei Žižek, Gewalt, 172 (wie Anm. 6). Vgl. Georg Forster, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. X,1, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1990, 591. Zum Konzept des ›Bildungstriebes‹ siehe Forster, Leitfaden, 187 (wie Anm. 2), sowie Ders., Die Kunst und das Zeitalter, in: Georg Forsters Werke. Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Sakontala, Bd. VII, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2 1990, 17. 37 Ganz ähnlich deutet Žižek, Gewalt, 172 (wie Anm. 6), die Verschränkung von 35 36

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Žižek überkreuzen sich im Begriff des ›Triebs‹ somit der bedeutungslose Materialismus der Natur mit sublimer kultureller Sittlichkeit; wodurch eine philosophische Konstellation generiert wird, die Žižek als dialektischen Materialismus beschreibt. Forster rekurriert hierzu auf Herders Theorie der Sprachgenese und die Zivilisationstheorie der Spätaufklärung, die sich aus kulturellen Differenzen zwischen der ebenso authentischen wie abwesenden civilisation (modus operandi) und dekadenter civilité (opus operatum) speist. 38 Die hierin involvierte Bildungsidee ist alles andere als ein steriler Idealismus, da der ›Bildungstrieb‹, der den Menschen aus dem Tierreich heraus treibt, auch ein materieller Vorgang der Gewalt ist. Insofern kann Forster »das Bewußtseyn eines abstrakten Ich« jenseits jeder Harmonielehre auf den gewaltsamen und antagonistischen »Trieb« zurückführen. 39 Bei Žižek markiert der ›Trieb‹ den Abgrund im Subjekt als etwas Fremdes beziehungsweise Reales und trennt das Subjekt damit ebenso von sich selbst, wie es dieses beständig über sich selbst hinaustreibt, ohne dass es sich von diesem entfremdeten ›Trieb‹ befreien könnte. »Dieser Trieb ist das, was ›im Subjekt mehr ist als es selbst‹ : Obwohl das Subjekt ihn niemals subjektivieren oder als eigenes annehmen kann, indem es sagt ›Ich bin es, der dies will‹, operiert er dennoch mitten im Kern des Subjekts.« 40 Bemerkenswerterweise Theologie und revolutionärer Gewalt bei Benjamin: »Die ›theologische‹ Dimension, ohne die für Benjamin die Revolution nicht siegreich sein kann, ist die Dimension des Exzesses, des Triebs, des ›Zuviel‹.« 38 Zum Zusammenhang von Zivilisationstheorie und Französischer Revolution siehe Michael Sonenscher, Sans-Culottes. An Eighteenth-Century Emblem in the French Revolution, Princeton 2008. Sonenscher weist ausdrücklich auf die Analogie von Zivilisations- und Bildungsbegriff hin: »Civilisation was something like the opposite of civility, because civility involved hypocrisy, politeness, and simulated morality, while civilisation itself was real. In this usage, civilisation meant something nearer to the German word Bildung, with its emphasis upon the way that human culture could, progressively, enable more of what, spiritually, was inside human nature to come to be mirrored on the outside.« (ebd., 191). 39 Georg Forster, James Cook, der Entdecker, in: Georg Forsters Werke. Kleine Schriften zur Völker- und Länderkunde, Bd. V, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1985, 191–302, hier 195. Ganz ähnlich heißt es bei Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, Jena 1798, 153: »Es entsteht durch diese Reflexion auf den Trieb zuförderst ein Sehnen – Gefühl eines Bedürfnisses, das man selbst nicht kennt. Es fehlt uns, wir wissen nicht woran. – Hierdurch schon, als durch das erste Resultat der Reflexion, ist das Ich unterschieden von allen andern Naturprodukten.« 40 Žižek, Ereignis, 131 f. (wie Anm. 9).

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entwickelt Forster in diesem Kontext das Motiv der anthropologischen ›Nacht des Ungrunds‹, auf welche die Philosophie bei der vergeblichen Suche nach der menschlichen Seele letztlich stoßen muss. In der programmatischen Passage, in der Forster diesen Zusammenhang 1789 entwickelt, heißt es: »Sie [die Philosophie; A. R.] stehet am Rande jenes kritischen Abgrunds, den Milton’s Satan einst durchwanderte. Die Substanzen sagt man, fliehen sie stärker, je eifriger sie ihnen nachforscht; sie hat nicht nur die Seele ganz aus dem Gesichte verloren, sondern sogar der Körper soll ihr neulich abhanden gekommen sein. Wenn es so fortgehet, und alles um sie her verschwindet, so läuft sie wirklich Gefahr, im großen idealischen Nichts sich selbst zu verlieren, wofern nicht das uralte Chaos sie eben so freundschaftlich wie den Höllenfürsten lehrt, in jener ›Unermeßlichkeit ohne Grenzen, Ausdehnung und Gegenstand, wo Zeit und Raum unmöglich sind,‹ – sich zu orientiren! Doch zurück von dieser Nacht des Ungrunds, des Zwists und der Verwirrung, wohin vielleicht keiner von meinen Lesern weder einem gefallenen Engel noch einem exaltirten Denker Lust zu folgen hat.« 41

Das ›Licht der Vernunft‹ der Aufklärung wird hier, wie das Beispiel Hegels – der diese Reflexion Forsters offenkundig rezipierte – zeigt, durch die ›Nacht des Ungrunds‹ beziehungsweise in der Fassung Hegels durch die ›Nacht der Welt‹ verdunkelt beziehungsweise relativiert. Žižek schlussfolgert: »Das Subjekt ist nicht länger das Licht der Vernunft, das dem nicht transparenten, undurchdringlichen Stoff (der Natur, der Tradition usw.) gegenübergestellt ist; sein innerster Kern, die Geste, die den Raum für das Licht des lógos öffnet, ist absolute Negativität, die ›Nacht der Welt‹, der Punkt des schieren Wahnsinns, in dem phantasmagorische Erscheinungen von Partialobjekten ziellos umherstreifen.« 42

Damit wird aber nicht nur das intellektualistische Paradigma der Aufklärung aufgehoben, in der Fassung von Forster wird die abgründige Forster, Leitfaden, 186 (wie Anm. 2). Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, übers. v. E. Gilmer, Frankfurt a. M. 2001, 51. Während Slavoj Žižek, Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism, London 2012, 166 f., in diesem Kontext von der »Kantian revolution« im Verhältnis von Vernunft und Wahnsinn spricht, war es vor Schelling und Hegel wiederum Georg Forster, Über den gelehrten Zunftzwang [Vorrede zur deutschen Übersetzung von Volney, Die Ruinen], in: Georg Forsters Werke. Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, Bd. VIII, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1974, 232, der die »absolute Wahrheit« mit dem »Wahnsinn« identifiziert hat.

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»Nacht der Welt« darüber hinaus zum Paradigma einer jakobinischradikaldemokratischen ›Real-Politik‹. Um dies zu sehen, braucht man nur die Textpassage von 1789 auf die eingangs zitierte Bemerkung in den Parisischen Umrissen zu beziehen, wonach die unberechenbare Gewalt beziehungsweise der »Wille des Volkes« die »Strahlen«, die »die große Lichtmasse der Vernunft […] wirft[,] […] in der von ihm verstatteten Richtung« ablenkt. 43 Es wird dann deutlich, wie Forster das Subjekt der Volkssouveränität analog zu jedem wirklichen Subjekt nicht als einen rein intelligiblen Akteur begreift, da ihnen der ›göttliche‹ Wahnsinn als ebenso konstitutiver wie abgründiger ›Trieb‹ innewohnt; ein Exzess der Einbildungskraft, der dem unvorstellbaren Übergang von der ›Natur‹ zur ›Kultur‹ eine Analogie mit dem traumatisch-revolutionären Übergang vom untertänigen zum demokratischen Subjekt der Selbstbestimmung setzt. Aus der Perspektive Žižeks ist Forsters Anthropologie folglich vollständig analog zu dessen Revolutionstheorie: Ebenso wie der Exzess der wahnsinnigen Negativität und der nichtidentischen Andersheit erst den Raum für das menschliche Cogito öffnet, ist auch der sittlich-politische Fortschritt der Menschheit von der Negativität revolutionärer Gewalt abhängig. 44 Auf die »rohe Kraft der Menge« 45 und das »Mobil der Volkskraft« 46 in der Revolution bezogen, erlaubt es die Perspektive des ›Triebs‹ daher, die revolutionäre Gewalt einerseits durchaus als abstoßend und wahnsinnig grausam zu empfinden, diese aber andererseits dennoch zugleich auch als obsessiven Operator ›realer‹ beziehungsweise ›göttlicher‹ Gerechtigkeit im Sinne einer unberechenbaren Volkssouveränität enthusiastisch ›genießen‹ zu können. 47 Dieses paradoxe Konzept des ›Triebs‹ gestattet es insoweit überhaupt erst, eine Forster, Parisische Umrisse, 596 f. (wie Anm. 11; Herv. im Original). Vgl. Žižek, Ereignis, 94 f. (wie Anm. 9); Ders., Less Than Nothing, 330 f. (wie Anm. 42). Hieraus leitet sich auch die Geschichtszeichentheorie des späten Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Immanuel Kant. Werke, hg. v. W. Weischedel, Bd. IX, Darmstadt 1983, 357 f., ab, der 1798 ebenfalls die Möglichkeit erwägt, wie sich der sittliche Fortschritt der Menschheit durch die empirische Gewalt der Revolution hindurch offenbart – obgleich diese bei ihm nur aus der Perspektive des unbeteiligten Beobachters möglich sein soll, was als Abgrenzung gegenüber Forster verstanden werden kann. 45 Forster, Parisische Umrisse, 596 (wie Anm. 11). 46 Ebd., 596 f. 47 Der ›Genuss‹ (jouissance) des Triebes steht bei Žižek wie bei Lacan der Befriedigung durch das Begehren gegenüber. Vgl. u. a. Žižek, Parallaxe, 414–421 (wie 43 44

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›real-politische‹ Haltung gegenüber dem göttlichen ›Ding‹ beziehungsweise der Gewalt eines realen Ereignisses einzunehmen und eröffnet Forster die Möglichkeit, die revolutionäre Gewalt in eine repräsentative Theorie der öffentlichen Meinung und des demokratischen Republikanismus zu integrieren. Für sich genommen ist die physische Materialität der »göttlichen Gewalt« laut Žižek nur ein sinnloses »Zeichen ohne Bedeutung« oder allenfalls ein bloßes »Insignium der Ungerechtigkeit der Welt«, die selbst unmittelbar noch keiner politischen Haltung entspricht und daher auch kein »Mittel [darstellt], um die Regel des Gesetzes aufzustellen [die gesellschaftliche Rechtsordnung; A. R.].« 48 Forster teilt diese Ansicht, wenn er die revolutionäre Gewalt des Volkes in ihrer Unmittelbarkeit nur in der materialistischen Metaphorik von Naturkatastrophen vorstellt (Vulkanausbruch, Erdbeben, Schneelawine, Seesturm etc.). 49 Es kommt daher alles darauf an, das reale Ereignis über die Einnahme einer politischen Haltung in ein symbolisches Ereignis zu übersetzen, was bei Žižek letztlich bedeutet, das sinnlose Chaos der Gewalt mit der Etablierung eines neuen ›Herrensignifikanten‹ zu verbinden. 50 Wenn Forster genau dies tut, kann er die Revolution sowohl als ›Griff zur Notbremse‹ (Benjamin) als auch als dialektische ›Lokomotive der Geschichte‹ (Marx) konzeptualisieren. Damit entkommt er der falschen Alternative, die die Begegnung mit einem realen Ereignis ebenfalls eröffnet und die Žižek folgendermaßen formuliert: »entweder Abstand halten, oder von dem Ding verbrannt werden« 51 . Wie aber kann man sich engagiert und parteilich in ein Ereignis einmischen, ohne sich verantwortungslos in ein sinnloses Abenteuer zu stürzen, von dem man im schlimmsten Fall ebenso sinnlos zerstört wird? Dies ist die große Frage revolutionärer ›Real-Politik‹, die gleichsam das »Machiavell’sche Moment des Politischen« 52 markiert und nach Forster auch noch Max Weber, Georg Lukács und Walter Benjamin beschäftigt hat. Anm. 34), sowie Fabio Vighi, On Žižek’s Dialectics. Surplus, Subtraction, Sublimation, London 2010, 23–30. 48 Žižek, Gewalt, 173 (wie Anm. 6). 49 Vgl. Forster, Parisische Umrisse, 594 ff. (wie Anm. 11). 50 Vgl. Žižek, Ereignis, 136 (wie Anm. 9). 51 Žižek, Parallaxe, 63 (wie Anm. 34). Über diese falsche Alternative kommt der Kantianismus, der das revolutionäre Ereignis nur von einer distanzierten Beobachterperspektive genießen kann, nicht hinaus. 52 Obwohl Oliver Marchart sowohl Žižek als vermutlich auch Forster des ›emanzipaSouveränität und Subversion

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Der öffentliche Kredit und die Volkssouveränität

Wie Forster oben betonte, war der Schweizer Bankier Jacques Necker derjenige, der als königlicher Generaldirektor der Finanzen den revolutionären Prozess in Gang setzte, was wohl meint, dass er wesentlich an der Einberufung der Generalstände beteiligt war. Obgleich es sich hierbei, wie Forster hinzusetzt, nur um einen unbewussten ›Anstoß‹ handelte, ist das Faktum doch wesentlich. 53 Was war geschehen? Die königliche Souveränität hatte bei der Sicherung des öffentlichen Kredits versagt, sodass mit der Einberufung der Generalstände an die souveräne Einheit der Nation appelliert werden musste, um dem Monarchen ein neues Mandat für eine effektivere und gerechtere Besteuerung auszustellen und dadurch den befürchteten Staatsbankrott zu vermeiden. Die dabei notwendig unterstellte Idee der Volkssouveränität, in der das gesamte Volk als Bürge für den öffentlichen Kredit fungiert, sollte jedoch weiterhin möglichst nur fiktiv bleiben, sodass reale politische Veränderungen verhindert oder nur in geringem und kontrolliertem Maße zugelassen werden müssten. 54 Zum Verhängnis torischen Apriorismus‹ beschuldigen würde, passt seine Beschreibung dieses Moments hier dennoch: »Das Machiavell’sche Moment des Politischen ist recht verstanden, ein Moment des politischen Realismus im doppelten Sinne: im Lacan’schen Sinne eines Realen als Name für die Unüberbrückbarkeit des Abgrunds der ontologischen Differenz; und im Sinne der gewöhnlichen politischen Realität, in die man nicht handelnd eingreifen kann, ohne sich in unterschiedlichem Grade die Hände schmutzig zu machen.« (Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, 251). Zu Webers ›Verantwortungsethik‹ siehe Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 5 1988, 545–560. 53 Mit Žižek, Tücke, 64 (wie Anm. 42), könnte man hier von einem fichteschen ›Anstoß‹ reden, womit »der ursprüngliche Impuls, der die schrittweise Selbstbeschränkung und Selbstbestimmung des anfänglich leeren Subjekts in Gang setzt«, gemeint ist. 54 Die Tatsache, dass der öffentliche Kredit an die strikte Wirksamkeit der Souveränität gebunden ist, war in der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts eine bekannte Tatsache. Als Beispiel lässt sich die Bemerkung Burkes in: Edmund Burke/Friedrich von Gentz (Hg.), Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Berlin 1991, 214, zitieren: »Es läßt sich aber keine Disposition über das Staatsvermögen denken, die unbeschränktere Macht voraussetzt als die Verpfändung der öffentlichen Einkünfte. Die Einführung periodischer und vorübergehender Abgaben reicht lange nicht an diesen Souveränitätsaktus.« Zum Zusammenhang von Souveränität und öffentlichem Kredit im 18. Jahrhundert sind grundlegend Istvan Hont, Jealousy of Trade. International Competition and the Nation-State in Historical Perspective, Cambridge, Mass. 2005, und Michael Sonenscher, Before the Deluge. Public Debt, Inequality, and the Intellectual Origins of the French Revolution, Princeton 2007.

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wurde der Monarchie aber zwischen 1789 und 1792 weniger ihre übersteigerte, als vielmehr ihre mangelnde Souveränität. Und dies betraf neben der fehlenden finanziellen Souveränität vor allem ihre faktische Abhängigkeit von den oberen Ständen, deren Steuerprivilegien sie nicht in Frage zu stellen vermochte. Obwohl Ludwig XVI. die absolute Staatsgewalt also im Namen der ganzen Nation ausübte, musste seine Regierungspraxis keineswegs souverän, sondern vielmehr beschränkt und letztlich korrupt erscheinen. Aus diesem Widerspruch leiteten die Repräsentanten des Dritten Standes die Bildung einer einheitlichen Nationalversammlung mit einer egalitären Abstimmung nach Köpfen statt nach Ständen ab, wodurch diese zum Ort einer allgemeinen und ungeteilten Souveränität werden sollte, die nun mit der Volkssouveränität faktisch identisch ist. Einerseits berief man sich auf das parlamentarische Repräsentationsprinzip (›no taxation without representation‹) und andererseits ging es Theoretikern wie Sieyès um eine reale Begründung von Souveränität, die zur Sicherung des öffentlichen Kredits mittels ökonomischer Reformen als zwingend notwendig erachtet wurde. Politisch berief sich Sieyès dazu für den Dritten Stand auf den durch das Ancien Régime unterschlagenen politischen Anteil, der diesem aufgrund seiner ökonomischen Potenz in der Gesellschaft zukam. Hierzu kehrt er den omnipotenten Anspruch der monarchischen Souveränität einfach um, sodass aus dem absolutistischen Überschuss an Macht ein Mangel wird. Sieyès’ berühmte Formel dafür lautet: »1. Was ist der Dritte Stand? Alles. 2. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? Nichts. 3. Was verlangt er? Etwas zu sein.« 55 Der Wille des Dritten Standes, etwas zu werden, entspringt hier direkt aus der Kluft zwischen seinem universalen Sein als produktive Substanz der Gesellschaft und seiner politischen Nichtigkeit. Diese Nichtigkeit markiert letztlich nur seine Unterdrückung gegenüber den oberen Herrschaftsständen. Wichtig ist hierbei, dass der Dritte Stand bei Sieyès nicht für eine konkrete soziale Entität beziehungsweise eine positive Gruppe mit empirisch klar umrissener Objektivität steht, sondern lediglich für ein heterogenes Konglomerat, dessen gemeinsame Identität allein darin besteht, den unterdrückten Rest zu bilden, der quer zum ordentlichen Repräsentationsmodus des Ancien Régime steht. Dieser Rest, der mit Jacques Rancière auch als ›Teil ohne Anteil‹ be55

Sieyès, Politische Schriften, 119 (wie Anm. 8; Herv. im Original).

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schrieben werden kann, 56 tritt schon bei Sieyès als eine teilende Kraft auf, die die gegebene Ordnung unterbricht, d. h. er kann nicht einfach zur bestehenden Ordnung hinzuaddiert werden, ohne die gesamte Ordnung zu verändern. Insofern musste sich die dreigliedrige Ständeversammlung mit der Realisierung der politischen Forderungen des Dritten Standes notwendig in die einheitliche Nationalversammlung transformieren. Mit der Aktivbürgerverfassung von 1791 entstand aber wiederum ein neuer ›Teil ohne Anteil‹, der den Besitzbürgern und der Finanzaristokratie gegenüberstand, für den sich 1792 zunächst kurzfristig der Begriff der ›Sansculotten‹ einbürgerte, der aber bald nach der Revolution vom republikanischen Begriff des ›Proletariats‹ verdrängt wurde. Der ›Anstoß‹, den die Sicherung des öffentlichen Kredits für die Revolution und die politische Realisierung der Volkssouveränität darstellte, hatte aber zunächst keineswegs revolutionäre oder gar uneigennützige Absichten. Ganz im Gegenteil dominierten in der ersten Phase der Revolution unzweifelhaft die korrupten Interessen der Gläubiger der Staatsschuld, die weder an einem Staatsbankrott noch an einem Schuldenschnitt interessiert waren – denn in beiden Fällen wäre die Finanzaristokratie der große Verlierer gewesen. Während es diesen 1788–1789 darum ging, einen geordneten Staatsbankrott beziehungsweise Schuldenschnitt durch den König zu verhindern, sahen sie sich am Ziel, als die Nationalversammlung 1789 die Schulden des Königs uneingeschränkt anerkannte und übernahm. Mit der Säkularisierung der Kirchengüter und der Ausgabe verzinsbarer Schuldverschreibungen (Assignaten), die bald als Papiergeld zirkulierten, erfolgte dann auch keineswegs eine Konsolidierung des Schuldenproblems, sondern es setzte vielmehr eine neue Spekulationswelle ein, die das Schuldenproblem im Kontext des bald darauf beginnenden Krieges mit der antifranzösischen Koalition unter Führung Englands (1792) schließlich zu einer schweren Geldkrise steigerte, die die soziale Not des Volkes extrem weiter verschärfte. »Wer ohne Anteil ist – die Armen der Antike, der dritte Stand oder das moderne Proletariat –, kann in der Tat nur am Nichts oder am Ganzen Anteil haben. Aber auch durch das Dasein dieses Anteils der Anteillosen [la part des sans-part], dieses Nichts, das Alles ist, existiert die Gemeinschaft als politische Gemeinschaft, das heißt als eine von einem grundlegenden Streit geteilte, durch einen Streit, der sich auf die Zählung seiner Teile bezieht, selbst noch bevor er sich auf ihre ›Rechte‹ bezieht.« (Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. v. R. Steurer, Frankfurt a. M. 2002, 22).

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Einer der schärfsten Kritiker dieser liberalen Phase der Revolution war Edmund Burke, der die Revolution schon 1790 – und vor diesem Hintergrund nicht ganz zu Unrecht – als einen coup d’état der Finanzoligarchie kritisierte, den diese mit Hilfe von willfährigen Advokaten und korrupten Intellektuellen im Parlament ins Werk gesetzt hätten. 57 Obwohl Burke zweifellos die alte Monarchie mit dem Landadel und der Geistlichkeit als deren Hauptstützen idealisierte, traf seine ökonomische Analyse des ersten Revolutionsjahres durchaus einen wichtigen Punkt. Gerade weil die Finanzoligarchie die Volkssouveränität gegen die staatliche Souveränität mobilisiert hatte, würde sie nicht in der Lage sein, auf ihrem korrupten Interesse eine stabile Verfassung zu begründen. Burke verglich diesen Versuch deshalb mit »den verzweifelten Flügen der tollkühnen Luftschiffer« 58 , die ihre Ordnung auf dem ›Nichts‹ einer simulierten Volkssouveränität und der Spekulation auf hohe Renditen aufbauen wollten. Seine berühmte Prophezeiung, wonach Frankreich nur »in Feuer und Blut gereinigt und wiedergeboren werden« 59 könne, sollte jedenfalls in Erfüllung gehen. Der Terror der ›göttlichen Gewalt‹ wurde insofern von Burke bereits 1790 angekündigt. Tatsächlich kehrte sich der uneingelöste Überschuss der Volkssouveränität über die staatliche Souveränität der Monarchie zunächst gegen das Ancien Régime, um sich dann aber schnell auch gegen die Herrschaft der liberalen Finanzoligarchie in der ersten Phase der Revolution zu wenden. Die von Forster 1793– 1794 beschriebene revolutionäre Gewalt korrelierte und unterminier»Da diese beiden Klassen von Menschen, die Geldbesitzer und die Gelehrten, bei allen neuerlichen Verhandlungen in Frankreich die Oberhand gehabt zu haben scheinen: so dient uns ihre Verbindung und ihr politisches System dazu […] aus begreiflichen Ursachen, die allgemeine Wut zu erklären, mit welcher man über alles Grundeigentum der geistlichen Korporationen herfiel, und die auffallende Sorgfalt, mit welcher man, ganz den ausgehängten Prinzipien zuwider, das Interesse der Geldbesitzer und Staatsgläubiger, das in dem Schatten des Throns aufgewachsen war, in Schutz nahm. Aller Unwillen gegen Vermögen und Macht wurde mit ausstudierter Kunst auf eine andre Klasse von Reichen geleitet.« (Burke/Gentz, Französische Revolution, 221 [wie Anm. 54]). 58 Ebd., 391. 59 Ebd., 392. Sonenscher, Deluge, 9.34–41 (wie Anm. 54), zeigt, dass diese Prophezeiung des Terrors im 18. Jahrhundert keineswegs originell war, da sie im politökonomischen Schrifttum bezüglich der ungelösten Risiken des Staatskredits ausgiebig diskutiert worden war. Insofern kann man in der Tat behaupten, dass der jakobinische Terror lange vor der Revolution angekündigt wurde. 57

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te, mit Žižek und Badiou gesprochen, letztlich jenen Machtexzess, den die Repräsentanten souveräner Macht über die Repräsentierten immer aus ihrem freien Mandat ableiteten. 60 Schon deshalb bildet die Volksrevolution notwendig die andere Seite der staatlichen Souveränität; sie sind beide durch einen konstitutiven Exzess an Macht bestimmt. Im Falle der revolutionären Gewalt liegt »[d]er ›totalitaristische Exzess‹«, wie Žižek deutlich macht, aber »auf Seiten des ›Anteils der Anteilslosen‹, nicht auf Seiten der hierarchischen Gesellschaftsordnung« 61 . Das Volk, verstanden als der ausgeschlossene ›Rest‹, besitzt dann, wie Žižek gegen Claude Lefort folgert, »die Macht und die volle Souveränität, das heißt seine Vertreter besetzen nicht nur zeitweise die Leerstelle der Macht, sondern es ›dreht‹ den Ort der staatlichen Repräsentanz in seine Richtung.« 62 Während Leforts Modell einer temporären Besetzung des leeren Orts der Macht ein instrumentelles und mithin staatlich begründetes Modell politischer Gewalt bleibt, das man mit Benjamin dem pathologisch-korrupten Paradigma der ›mythischen Gewalt‹ zurechnen muss, ist die von Forster beschriebene jakobinische Revolutionsregierung, die Žižek als Prototyp einer ›Diktatur des Proletariats‹ interpretiert, ein politischer Repräsentationsmodus, der sich gerade durch seine abgründige Repräsentation ›göttlicher Gewalt‹ einer staatlichen Begründung entzieht. Während Leforts Demokratietheorie deshalb dem Paradigma der liberalen Demokratie als einer legalistisch bestimmten Staatsform verhaftet bleibt, unterstellt Žižek mit Forster und Benjamin hingegen, dass eine sich auf die revolutionäre Volkssouveränität berufende Demokratie niemals vollständig in einer legalen Staatsordnung aufgehen kann und genau deshalb einen Bezug behält zum Messianischen beziehungsweise Ereignishaften. Der revolutionäre pouvoir constituant geht, mit Sieyès gesprochen, niemals in der legalen Verfassungsordnung des pouvoir constitué auf, sondern bleibt darin ein unordentliches Moment, das sich als Selbstzweck gegen jegliche legale Instrumentalisierung sperrt. »Insofern ist Politik [beziehungsweise das Politische; A. R.], gerade im demokratischen Zeitalter, unser aller Schicksal.« 63

Vgl. Savoj Žižek, Auf verlorenem Posten, übers. v. F. Born, Frankfurt a. M. 2009, 177. 61 Ebd., 179. 62 Ebd. Vgl. hierzu auch Žižek, Der Mut, 106 f. (wie Anm. 17). 63 Böckenförde, Verfassungsgebende Gewalt, 66 (wie Anm. 16). 60

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Man sollte in diesem Zusammenhang an Arthur Rosenberg erinnern, der 1938, angesichts des Scheiterns zahlreicher Demokratien vor der Bedrohung des Faschismus, gegen ihre Reduktion auf die legalistisch-staatliche Variante der liberalen Demokratie polemisierte. Für Rosenberg ging die liberale Pazifizierung der Demokratie auf Kosten ihrer revolutionären Grundlagen, sodass die liberale Demokratie, wie alle legalen Staatsordnungen, die sich als »Hort der Legalität« verstehen, die »demokratische Bewegung« des pouvoir constituant im Namen des politischen Friedens unterdrücken und kriminalisieren musste, wenn sie – was sie per definitionem tun muss – den legalen Rahmen überschreitet. 64 Damit verliert die Demokratie aber nicht nur ihren ontologischen Emanzipationscharakter, sie wird auch wehrlos gegen die legale Instrumentalisierung durch die politische Reaktion. »Das Missverständnis, als wäre die Demokratie die Verkörperung der Gewaltlosigkeit, ist in neuerer Zeit nur dadurch entstanden, dass man die Demokratie im ganzen mit einem speziellen Typ der Demokratie, nämlich mit der liberalen Demokratie […], verwechselte.« 65

5.

Revolutionäre Volkssouveränität: Der neue Herrensignifikant

Genau an diesem Punkt kommen wir auf den Moment der revolutionären ›Real-Politik‹ beziehungsweise den ›Machiavell’schen Moment des Politischen‹ (Marchart) zurück, der sowohl Forster als auch Žižek umtreibt. Wie lässt sich das reale und traumatische Ereignis der Revolution so in ein symbolisches Ereignis übersetzen, dass die dabei auftretenden Destruktivkräfte möglichst weitgehend und langfristig in politische Produktivkräfte transformiert werden? Den Dreh- und Angelpunkt hierfür sieht Žižek in der Freisetzung eines neuen Herrensignifikanten. »Dieser ereignishafte Moment ist derjenige, in dem der Signifikant – eine physische Form, die eine Bedeutung repräsentiert – mit dem Signifikat in eins fällt, in seine Bedeutung, und der Signifikant Teil des Objekts wird, das er bezeichnet.« 66 Zur VerRosenberg, Demokratie, 306 (wie Anm. 7). Ebd., 308. Diese Einsicht verband ursprünglich das Projekt der ›radikalen Demokratie‹ von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau mit Žižeks politischer Philosophie. 66 Žižek, Ereignis, 136 (wie Anm. 9). 64 65

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anschaulichung kann an dieser Stelle Forsters tautologische Definition der Revolution herangezogen werden, die in der Tat nichts anderes beschreibt als das symbolische Ereignis der Etablierung eines neuen Herrensignifikanten. Sie lautet: »Die Revolution ist – vorausgesetzt, daß Sie nach unserer generalisirten Definition lüstern sind – ist die Revolution. Ihnen dünkt das wohl zu einfach? oder es scheint wohl gar ins Platte zu fallen? Einen Augenblick Geduld! Lange genug haben wir uns gesträubt, das Kind bei seinem rechten Nahmen zu nennen; aber wer kann für Gewalt? Daß sich alles Kopf über Kopf unter wälzt, ist ein vollgültiger Beweis, daß der Nahme der Sache entspricht; und wer mag wissen, ob mit dieser Bewegung nicht die Exegetik eines Deutschen Schriftstellers noch künftig gerettet werden kann, der von dem großen Worte behauptet hat, daß es eigentlicher auf die Wiederbringung, als auf die Zerstörung aller Dinge gemünzt seyn soll?« 67

Die Revolution wird hier ganz im Sinne Žižeks als neuer Herrensignifikant eingeführt, dessen Unbegründbarkeit in der tautologischen Rhetorik artikuliert wird. 68 Die inhaltliche Leere der Tautologie ist zunächst einmal dazu geeignet, die Grundlosigkeit der Revolution als neuen Herrensignifikanten mit der Grundlosigkeit der ›göttlichen‹ Revolutionsgewalt zu verbinden. Daneben ist sie zugleich ein »Name für den ›absoluten Widerspruch‹« und den »Selbstbezug des Allgemeinen«, den Hegel später als philosophische »Identität der Gegensätze« entwickelt. 69 Forsters politischer Bezugspunkt für diesen Übersetzungsakt des realen Ereignisses der Volksrevolution in ein repräsentativ-symbolisches Ereignis ist das Dekret über die Errichtung der Revolutionsregierung vom 10. Oktober 1793. 70 Er wertet dieses Dekret als eine unmittelbare und unbedingte Identifikation der Regierung mit der Revolution, was sich aus der Perspektive von Benjamin und Žižek als endgültiger Bruch mit der ›mythischen‹ Staatsgewalt darstellt. Anstatt wie bisher die Revolution instrumentalisieren, lenken oder eindämmen zu wollen, bekennt sich die jakobinische Revolutionsregierung uneingeschränkt und inklusive aller Exzesse zu dieser Revolution. Forster hält dies fest, wenn er schreibt: Forster, Parisische Umrisse, 595 (wie Anm. 11; Herv. im Original). Vgl. hierzu auch Axel Rüdiger, »Die Revolution ist […] die Revolution« – Georg Forster über Sprache, Politik und Aufklärung, in: Georg-Forster-Studien 17 (2012), 121–170. 69 Žižek, Denn sie wissen nicht, 45 ff. (wie Anm. 12). 70 Das Dekret ist abgedruckt in: Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789–1799, Bd. II, hg. v. W. Markov, Leipzig 1982, 521 f. 67 68

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»Das neulich erlassene Dekret des Nationalkonvents, daß die Regierung in Frankreich bis zum Frieden revolutionär bleiben soll, ist der eigentlichste Ausdruck der öffentlichen Meinung, daß die Revolution sich so lange fortwälzen müsse, bis ihre bewegende Kraft ganz aufgewendet seyn wird.« 71

Aus der Sicht Forsters wird damit die instrumentelle Eskalations- und Katastrophenpolitik der liberalen Vorgängerregierungen gestoppt, die gerade dadurch, weil sie die Revolution parallel zu ihren Finanzexperimenten im Zaum halten wollten, die destruktive Gewalt immer weiter entfacht hatten. Statt die Revolution für die Gläubigerinteressen der Staatsschuld zu instrumentalisieren und das dabei entstandene soziale Konfliktpotenzial durch einen Krieg nach außen abzuleiten, hat sich die jakobinische Revolutionsregierung unter Führung Robespierres aus Forsters Sicht zu der realpolitischen Einsicht durchgerungen, die Souveränität, die notwendig ist, um die rasche Entwertung des Papiergeldes aufzuhalten und die Stabilisierung des öffentlichen Kredits durchzusetzen, als revolutionäre Volkssouveränität zu akzeptieren. Dies könnte freilich auch als Kapitulation der Politik vor der Gewalt gedeutet werden, und in der Tat fügt die Regierung der revolutionären Gewalt des Volkes mit diesem politischen Akt buchstäblich nichts weiter hinzu als deren repräsentative Anerkennung. Diese ›minimale Differenz‹ aber, welche der revolutionären Gewalt nur die repräsentative Anerkennung hinzufügt, ist, wie Žižek immer wieder betont, die entscheidende Voraussetzung für den Durchbruch und die Dauer einer neuen emanzipatorischen Ordnung, was im konkreten Fall von 1793 die demokratische Freisetzung realer Volkssouveränität im doppelten Sinne revolutionärer ›Real-Politik‹ bedeutet, d. h. die Anerkennung des realen Charakters der Volkssouveränität im lacanschen Sinne sowie die Bereitschaft, jenseits des idealistischen Purismus in die ›schmutzige‹ Realität der Politik einzugreifen. 72 Der Forster, Parisische Umrisse, 596 (wie Anm. 11; Herv. im Original). Diese ›minimale Differenz‹ verkörpert, laut Slavoj Žižek, Der Mut, 105 (wie Anm. 17), sowohl die politische Differenz zwischen den funktionalen Teilen der ›ordentlichen Gesellschaft‹ und dem ›Teil ohne Anteil‹ als auch die ›reine Differenz‹ zwischen »dem Platz und dem, was diesen Platz einnimmt« beziehungsweise dem »Grund und der Gestalt«. Letztere bezeichnet zugleich »das Nicht-Soziale innerhalb des Feldes des Sozialen«, in der die Null gemäß der Logik der Signifikanten als Eins zählt (ebd.). Die Tatsache, dass »das Ereignis der Ordnung des Seins nicht äußerlich, sondern innerhalb der ›minimalen Differenz‹ angesiedelt [ist], die der Ordnung des Seins selbst innewohnt«, verweist hierbei auf die politische Logik der Subtraktion, die das Gegenteil der staatlichen Gewalt der Säuberung (Purifikation) ist (ebd., 141).

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entscheidende politische Akt besteht demnach nicht in der spontanen Revolte, sondern in dem symbolischen Moment danach, in dem durch die Kreation eines neuen Herrensignifikanten die diffuse und orientierungslose Revolte retroaktiv als sittliche Revolution anerkannt und gesetzt wird. Dies allein ist die Voraussetzung dafür, dass die alte Herrschaftsordnung des Ancien Régime durch eine neue Ordnung ersetzt werden kann. In Forsters tautologischer Definition realisiert die revolutionäre Diktatur die Macht des Volkes durch die Etablierung einer unmöglichen Identität zwischen der Regierung und den Regierten. Sie gibt der Gewalt der demokratischen Explosion, die gerade aus der Kluft zwischen Regierung und Regierten resultierte, einen neuen Namen, wobei diese antagonistische Kluft durch die Revolutionsregierung zwar provisorisch überbrückt, nicht aber vollständig geschlossen wird. 73 Die hierdurch erzeugte Volkssouveränität unterscheidet sich von der staatlichen Souveränität erstens durch ihre radikale Kontingenz und zweitens dadurch, dass sie den Widerspruch zwischen Regierung und Regierten nicht zu unterdrücken, zu leugnen oder zu legalisieren sucht, sondern ihm eine möglichst freie politische Bewegungsform öffnet. Die Qualität einer Regierung bemisst sich unter diesen Bedingungen daran, wie der preußische Publizist Friedrich Buchholz wenig später im Anschluss an Forster und Sieyès formuliert, ob es ihr gelingt, die demokratische Revolution in Permanenz zu repräsentieren, was bei Buchholz mit dem Organisationsbegriff zusammenfällt. »Gut ist nämlich diejenige Regierung, die, indem sie den Antagonismus des Selbsterhaltungs- und Geselligkeitstriebes, welcher die Staaten schafft, nie aus dem Auge verliert, unablässig darauf bedacht ist, ihn zum Vortheil der ganzen Gesellschaft zu leiten. Eine solche Regierung setzt, […] den Zustand der Revoluzion als permanent voraus (weil er es wirklich ist) und richtet sich in allen ihren Operazionen nach dieser Voraussetzung; d. h. sie selbst wird revoluzionär, um, durch ein ewiges Organisiren oder Benutzen aller auf eine bessere Anordnung der Sozialverhältnisse abzweckenden Ideen, gewaltsame Explosionen zuvorzukommen.« 74 Zur Interpretation der Volkssouveränität als unmögliche Identität zwischen Regierten und Regierenden vgl. Jodi Dean, The Communist Horizon, London 2012, 95 ff., und Žižek, Posten, 245 f. (wie Anm. 60). 74 Friedrich Buchholz, Darstellung eines neuen Gravitazionsgesetzes für die moralische Welt, Berlin 1802, 71 f. Buchholz (1768–1843) ist mehr noch als Forster ein vergessenes Opfer der deutschen Geistesgeschichte, dem seine Treue zur Französi73

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Anstatt also den gefährlichen und unberechenbaren Antagonismus zu unterdrücken, empfiehlt Forster der Revolutionsregierung buchstäblich, nichts zu tun; einen Sachverhalt, den er im Gleichnis einer Kutsche ausdrückt, deren Pferde durchgebrannt sind. Den Passagieren rät er in diesem Fall, still in der Kutsche sitzen zu bleiben. 75 Auch wenn die Politik der Revolutionsregierung somit jenseits jeder Pseudoaktivität nur als eine passive ›Bartleby-Politik‹ erscheint, so fügt sie dabei doch der unwiderstehlichen Gewalt des Volkes eine minimale – gleichsam nichtige – symbolische Dimension hinzu, ohne welche diese politisch völlig folgenlos bleiben müsste und in einem blindwütigen Exzess verpuffen würde. 76 Denn erst diese minimale repräsentative Zugabe transformiert die sinnlose (›Natur‹-)Gewalt der Menge zur legitimen Gewalt des Volkes. Wie Žižek gegen anarchistische Politikmodelle betont, bringt diese rein symbolische Dimension der Politik den realen Effekt der Volkssouveränität erst zur Geltung. Jenseits der puren Notwendigkeit ist dies für Forster zugleich ein Akt der »Nächstenliebe und Vaterlandsliebe«, ohne welche allerdings die Gefahr besteht, »auf dem Ocean der Teleologie den Kompaß [zu] verlieren«. 77 Denn schließlich ist die menschliche »Moralität […] keinem Gesetz unterworfen« mit Ausnahme des Imperativs des Johannesevangeliums: »uns zu lieben untereinander«. 78 Oder mit den Worten von Žižek ausgedrückt: schen Revolution zum Verhängnis wurde. Vgl. Rütger Schäfer, Friedrich Buchholz – ein vergessener Vorläufer der Soziologie. Eine historische und bibliographische Untersuchung über den ersten Vertreter des Positivismus und des Saint-Simonismus in Deutschland, Göppingen 1979, sowie zuletzt Iwan-Michelangelo D’Aprile, Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz, Berlin 2013. 75 »Ich sah einst die Pferde mit einer Landkutsche Reißaus nehmen, und den Kutscher vom Bocke fallen. Einige Straßenjungen stellten sich an den Weg und schimpften auf die Passagiere. Einer von diesen sprang aus dem Wagen, und stürzte den Hals ab; die übrigen waren klüger: sie blieben sitzen, und dachten, wir wollen warten, bis der Koller vorüber ist.« (Forster, Parisische Umrisse, 595 [wie Anm. 11]). 76 »Der Akt Bartlebys ist genau insofern gewaltsam, als er diese obsessive Aktivität durchbricht – in ihm überschneiden sich nicht nur Gewalt und Gewaltlosigkeit (Gewaltlosigkeit erscheint als die größte Gewalt), sondern auch Akt und Inaktivität (Nichtstun ist der radikale Akt). In ebendieser Überschneidung von Gewalt und Gewaltlosigkeit liegt die ›göttliche‹ Dimension.« (Žižek, Das ›unendliche Urteil‹, 136 [wie Anm. 7]). 77 Forster, Parisische Umrisse, 610.606 (wie Anm. 11). 78 Forster, Zunftzwang, 228 f. (wie Anm. 42). Souveränität und Subversion

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»Es gibt keine ›objektiven‹ Kriterien, die es uns erlauben einen Akt der Gewalt als göttlich zu bestimmen. Für einen außen stehenden Beobachter ist es bloß ein Gewaltausbruch, doch dieser kann für die, die sich ihm überantworten, göttlich sein. Es gibt keinen großen Anderen, der die göttliche Natur dieses Akts versichert. Das Risiko, diesen Akt als einen göttlichen zu lesen und ihn als solchen anzunehmen liegt einzig beim Subjekt. Die göttliche Gewalt ist das Werk der Liebe des Subjekts.« 79 Und daher muss man »die Idee, es gäbe eine Garantie durch die historische Teleologie fallen lassen.« 80

Die konservative, heute von der Schule François Furets repräsentierte Interpretation verkennt dagegen diese Situation, die Lenin in der Formel der ›Jakobiner mit dem Volke‹ zusammengefasst hat, wenn sie das symbolische Ereignis der jakobinischen Volkssouveränität einfach mit der absolutistischen Staatssouveränität gleichsetzt und beide damit als tendenziell totalitär disqualifiziert. 81 Tatsächlich folgt die Jakobinerdiktatur aber der Logik der Subtraktion und geht damit über die staatliche Gewalt und ihre Säuberungslogik hinaus, was neben Forster auch Fichte und dem jungen Friedrich Schlegel nicht verborgen geblieben ist. 82 »Die Erscheinungen unter dem Joch des Despotismus«, schreibt Forster, »können denen, die sich während einer republikanischen Revolution ereignen sehr ähnlich sehen, und die letzteren sogar einen Anstrich von FühlŽižek, Gewalt, 175 (wie Anm. 6). Ebd., 159. 81 Vgl. u. a. François Furet, 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, hg. v. D. Groh, übers. v. T. Schoenbaum-Holtermann, Frankfurt a. M. 1980. Gänzlich konträr hierzu sieht Žižek, Gewalt, 174 (wie Anm. 6), den Widerspruch zwischen ›totalitärer‹ Staatsgewalt und diktatorischer Volkssouveränität eher im Konflikt zwischen Danton und Robespierre am Werk: »Für den Jakobiner Danton war der revolutionäre Staatsterror eine Art Präventivaktion, die dazu diente, sich nicht an den Feinden zu rächen, sondern um die direkte ›göttliche‹ Gewalt der Sansculotten zu verhindern, dem Volk selbst also. Mit anderen Worten: Lasst uns tun, was das Volk von uns erwartet, damit es das Volk nicht selbst tun muss.« 82 Der 1796 noch stark unter dem Einfluss Forsters stehende Schlegel führt dazu die Differenz zwischen einem legalen »Quasistaat« und einem legitimen »Staat« ein, die »durch eine unendliche Kluft voneinander geschieden [sind], über welche man nur durch einen Salto mortale hinübergelangen kann«. Dieser republikanische »Salto mortale« zum sittlichen Staat bezeichnet exakt den politischen Status der jakobinischen Revolutionsregierung. »Die transitorische Diktatur aber ist eine politische mögliche Repräsentation – also eine republikanische, vom Despotismus wesentlich verschiedne Form.« (Friedrich Schlegel, Versuch über den Begriff des Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift ›Zum ewigen Frieden‹, in: Friedrich Schlegel. Werke in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1980, 53–74, hier 59.61). 79 80

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losigkeit und Grausamkeit haben, den man dort wohl hinter einer sanfteren Larve zu verbergen weiß; doch sind sie schon um deswillen himmelweit verschieden, weil sie durch ganz verschiedenartige Kräfte bewirkt werden, und von der öffentlichen Meinung selbst einen ganz verschiedenen Stempel erhalten. Eine Ungerechtigkeit verliert ihr Empörendes, ihr Gewaltthätiges, ihr Willkührliches, wenn die öffentliche Volksmeinung, die als Schiedsrichterin unumschränkt in letzter Instanz entscheidet, dem Gesetze der Nothwendigkeit huldigt, das jene Handlung oder Verordnung oder Maßregel hervorrief.« 83

Das symbolische Ereignis der Durchsetzung der revolutionären Volkssouveränität als neuen Herrensignifikanten besteht also gerade in der Umkehrung des alten Signifikanten der Souveränität, wofür der liberal-konservative Blick Furets aber blind bleibt. 84 Die neuartige souveräne Autorität der diktatorischen Revolutionsregierung von 1793–1794 ruht daher auf keiner festen staatlichen Grundlage, sondern allein auf jener radikalen politischen Kontingenz, die die symbolische Repräsentation des realen Antagonismus, der zwischen Herrschenden und Beherrschten besteht, zulässt. Den Effekt dieses symbolischen Ereignisses einer unbegründeten und kontingenten Volkssouveränität jenseits der traditionellen Staatsgewalt beschreibt Forster in der Metaphorik des ›Wunders‹. So erzeugt die Verbindung der »unwiderstehliche[n] Einheit des Volkswillens« mit der neuen »Repräsentantenvernunft« eine »öffentliche Meinung«, deren moralische Macht politische »Wunder thun kann.« 85 Das Wunder der Revolution löst als neuer Herrensignifikant aber nicht nur das christliche Wunder ab, es erneuert dieses auch, indem es die Reformation vollendet und die Religion auf diese Weise dialektisch aufhebt. So spricht Forster vom »Wunder« des »sanfte[n] Tod[es] des Priesterthums und seiner Hierarchie«, an dessen Stelle »als Vollendung der protestantischen Reformation« nun »das echte anspruchslose Christenthum des Herzens und des Geistes« trete. 86 Als ein politisches Wunder gilt Forster die neue Souveränität der poForster, Parisische Umrisse, 597 (wie Anm. 11). Zu dieser eigentümlichen Umkehrung des Signifikanten im Moment eines politischen Ereignisses vgl. Žižek, Ereignis, 138 f. (wie Anm. 9). 85 Forster, Parisische Umrisse, 597 f. (wie Anm. 11). 86 Ebd., 607 f. Mit Žižek, Less Than Nothing, 105 (wie Anm. 42), kann darauf hingewiesen werden, dass Forsters tautologische Revolutionsbestimmung natürlich der göttlichen Offenbarung aus der biblischen Dornbuschszene nachgebildet ist (›Ich bin, der ich bin‹), wobei diese zwar säkularisiert wird, aber den subversiven Inhalt des jüdisch-christlichen Ereignisses bewahrt. 83 84

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litischen Repräsentanten selbst, die nun völlig ohne Staatsgewalt auskommt. »Ohne Auszeichnung, ohne irgend etwas Äußeres, das die Sinne besticht, ohne Vorzug, und selbst ohne Autorität außer ihrem Versammlungssaale, ohne prätorianische Wache, endlich noch des Vorrechts der Unverletzlichkeit beraubt, herrschen die Repräsentanten des Volkes durch die öffentliche Meinung ohne Widerrede über vier und zwanzig Millionen Menschen.« 87

Diese Wunderkraft der öffentlichen Meinung verleiht aber nicht nur souveräne Autorität ganz ohne Anwendung äußerer Gewalt, sie vollbringt auch gesellschaftspolitische Wunder, die keine Staatsgewalt so je hätte durchsetzen können. Denn das größte und wichtigste Wunder, welches Forster auf das Ereignis der revolutionären Volkssouveränität zurückführt, ist die politische Suspendierung der kapitalistischen Spekulation und die Wiederherstellung des öffentlichen Kredits. »Man hielt es beinahe für unmöglich«, schreibt Forster, »das Agiotage zu tödten; die Strenge der Gesetze und das allgemeine Gefühl der Nation, das sich gegen den Eigennutz der Kaufleute empörte, brachten gleichwohl die Assignate wieder in Kredit.« 88 Auf diese Weise habe die »öffentliche Meinung […] der Habsucht, der Gewinnsucht, dem Geitze, mit Einem Worte, der ärgsten Knechtschaft, zu welcher der Mensch hinabsinken konnte, der Abhängigkeit von leblosen Dingen, einen tödtlichen Streich versetzt.« 89 Ohne diese wunderbare Transformation wäre es schlicht nicht möglich gewesen, die notwendigen »Finanzoperationen des National-Convents« durchzusetzen, für die sowohl das Verbot von »Wechsel- und Aktienhandel« als auch eine »Zwangsanleihe […] bei den Kapitalisten und Rentirer[n]« unerlässlich war. 90 Insofern suspendiert die Volkssouveränität, mit Žižek gesprochen, das kapitalistische Begehren (Marx’ Warenfetischismus) zugunsten des revolutionären Triebs und verbindet auf diese Weise demokratische Repräsentation mit universaler Souveränität. Wie Letzteres geschehen könne, war das große Rätsel der politökonomischen Debatten des 18. Jahrhunderts gewesen, die sich um das republikanisch-demokratische Potenzial des öffentlichen Kredits bemühten. 91 87 88 89 90 91

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Forster, Parisische Umrisse, 611 (wie Anm. 11). Ebd., 610. Ebd., 608 (Herv. im Original). Ebd. Vgl. hierzu Sonenscher, Deluge (wie Anm. 54).

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Die Nacht der Volkssouveränität

Da Forster bereits am 10. Januar 1794 starb, wissen wir nicht, wie sein Urteil über den weiteren Verlauf der Jakobinerdiktatur und die Entwicklung der Französischen Revolution ausgefallen wäre. Es sollte aber klar geworden sein, dass seine politisch engagierte Form des Philosophierens Spuren hinterlassen hat, die in den heutigen Debatten um die Aktualisierung der Volkssouveränität bewahrt und fortgeführt werden müssen. So sperrt sich Forsters originelle Verknüpfung von revolutionärer Volkssouveränität mit der ›Nacht des Ungrundes‹ gegen die staatlich-legalistische Neutralisierung der Volkssouveränität, wie sie im aktuellen System der liberalen Demokratie vorherrscht. Die im lacanschen Sinne reale Dimension der Volkssouveränität verweist auf ein revolutionäres Ereignis, das heute aus dem Demokratieverständnis weitgehend getilgt ist, sodass die Volkssouveränität nur noch als fiktive Formel innerhalb von Wahlen und parlamentarischer Deliberation geduldet wird. Diese Ausstreichung des politischen Subjektes als reale Größe aus der Politik in Kombination mit dem globalen Aufstieg des neoliberalen Finanzkapitalismus wiederholt jedoch die politische Situation von 1789. All dies spricht für die Aktualität von Forsters politischem Denken, dessen Erbe vermittelt über Hegel, Marx und Benjamin in den postfundamentalistischen Politiktheorien von Žižek, Badiou und Rancière weiterlebt. Für Benjamin zumindest war Forster unter seinen Zeitgenossen »fast als einziger Deutscher vorbestimmt, die Europäische Erwiderung auf die Zustände, welche sie veranlassten, von Grund auf zu verstehen« 92 .

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Benjamin, Deutsche Menschen, 160 (wie Anm. 13).

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Politische Logik. Zum Subjekt als Grenze bei Wittgenstein und Badiou Dominik Finkelde

In seinem Text Der Gedanke behauptet Gottlob Frege prominent in Abgrenzung zum Psychologismus, dass der Satz des Pythagoras »zeitlos wahr« sei, »unabhängig davon […], ob irgendjemand ihn für wahr hält« und unabhängig davon, ob er durch Pythagoras entdeckt worden sei. 1 Dieser These wird indirekt durch Heideggers Anmerkung in Bezug auf die von Newton entdeckten Gesetze widersprochen. Im § 44 von Sein und Zeit heißt es: »Bevor die Gesetze Newtons entdeckt wurden, waren sie nicht ›wahr‹ […]. Die Gesetze wurden durch Newton wahr.« 2 Eine fundamentale Differenz zwischen den Autoren tritt hier in der Frage nach der Wahrheit zutage. Frege rekurriert auf die logisch und analytisch freilegbare Objektivität von Tatsachen, die im Erkennen abgebildet beziehungsweise gleichsam aus Freges ›drittem Reich‹ platonischer Wahrheiten heraus instanziiert werden. Heidegger vertritt in Abgrenzung dazu die Herauslösung der Wahrheitsfrage von Tatsachen aus einem Repräsentationsverhältnis zugunsten der Analyse von Praxisbezügen, in denen von wahren Sachverhalten die Rede ist. Diese – den analytic-continental divide veranschaulichende – Differenz zwischen den beiden Philosophen ist hier erwähnt, weil in ihr ein philosophiepolitischer Konflikt um die Frage nach dem Macht- und Souveränitätsbereich der Logik beziehungsweise des logisch-analytischen Denkens als Grundlagendisziplin der Wissenschaften liegt. Besonders der späte Heidegger sieht im scientism der modernen Naturwissenschaft nicht einfach nur die Hochleistung einer neutral bleibenden, systematischen Methode der Verobjektivierung von Sach-, Tatsachen- und Lebensverhältnissen, sondern auch den instrumentell begrifflichen Ausdruck einer auf Antike und Neuzeit zurückgehenden VerobjekGottlob Frege, Der Gedanke. Eine logische Untersuchung, in: Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 1 (1918–1919), 58–77, hier 69. 2 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 18 2001, 226. 1

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tivierung von Lebensprozessen durch eine reduktionistische Ausgestaltung der Wirklichkeit in Form abstrakter ›Weltbilder‹. 3 Ein machtpolitisches Souveränitätsmodell konstituiert sich für ihn im Hintergrund durch ein eliminativ-naturalistisches Denken von Objektivitätsbezügen, dem gegenüber der politische Diskurs als Medium politischer Gestaltungskraft innerhalb eines Gemeinwesens wie ein machtloses Oberflächenphänomen erscheint. Der Zugriff naturwissenschaftlichen Denkens bilde, so Heidegger, nicht ›neutral‹ Wirklichkeit ab, sondern repräsentiere im Blickpunkt einer an den empirischen Wissenschaften orientierten Zweckrationalität unter ihren formalreduktiven Prämissen ihre auch lebensweltliche und letztlich politische Zusammenhänge betreffende Repräsentation. Es gibt also – akzentuiert formuliert – nicht einfach den Bereich der symbolisch und semantisch verhandelten Politik, den Bereich politischer Souveränitätsfragen und den Bereich der wahrheitsfähigen apolitischen Axiomatik des scientism, sondern Heidegger erläutert, dass die im Diskurs beziehungsweise in der Logik einer Disziplin wie der modernen Wissenschafts- und Technikkultur zentralen Fragen der Politik schon unlängst entschieden sein können. 4 Alain Badiou und Ludwig Wittgenstein beschreiten einen ähnlichen Weg der Analyse, indem sie sich in Teilen ihres philosophischen Werkes dem Einziehen einer strikten Grenzbestimmung zwischen den Bereichen der Politik und der Logik widmen. Sie interessiert jedoch keine Gegenwartskritik, wie sie Heidegger artikuliert, sondern im Gegenteil die Frage, wie produktiv ein Zusammenfall von Politik und Logik ausfallen mag, wenn Axiome darüber entscheiden, was im Falle ihrer Etablierung und Setzung den Bereich des Politischen und Lebensweltlichen erst etabliert. Heidegger war an der Kritik eines durch Technik geprägten Weltbildes orientiert, um zu zeigen, wie im Gestell instrumenteller Nutznießung vergessen wird, inwiefern die Welt nach Optimierungsmaßstäben erst als eine durch diese Maßstäbe gesetzte sich denselben sozusagen autopoietisch beugt. Badiou und Wittgenstein erläutern jenseits einer solchen Gesellschaftskritik das implizite politisch beziehungsweise lebensweltVgl. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, Frankfurt/M. 8 2003, 75–113. 4 In diesem Sinne kann man Heideggers Ausspruch »Die Wissenschaft denkt nicht.« verstehen. (Vgl. Martin Heidegger, Was heißt denken?, Tübingen 1954, 4.) Wissenschaft praktiziert sich im Rahmen ihrer Prämissen. Darauf beruht ihre Leistungskraft. Fragen normativ-moralischer Beurteilung müssen ihr hinderlich sein. 3

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lich auszulegende Potenzial, wenn zwei sich scheinbar diametral ausschließende Hoheitsbereiche wie Politik und Logik beziehungsweise Axiomatik sich treffen und zusammenschließen. Für Badiou kann sich in Momenten des Zusammenbruchs von Politik und Logik ein politisches Ereignis etablieren und zwar, wie aufgezeigt werden soll, durch mengentheoretische ›Erzwingung‹ neuer Normen, die wie Axiome gesetzt werden. Nicht unähnlich spricht Wittgenstein von Regelsetzungen oder Begriffsbildungen, die den Bereich etablierter Begriffe unilateral erweitern. Um eine Erörterung dieses Spannungsverhältnisses von zwei sich also scheinbar ausschließenden Hoheitsbereichen des Denkens – Politik vs. Logik – soll es in den folgenden Abschnitten gehen. 5 Die Ausführungen möchten in Bezug auf Badiou und Wittgenstein ein philosophiepolitisches Terrain abstecken. Darin soll die Frage nach dem Subjekt als einer politisch ›überzähligen‹ Größe im Souveränitätsbereich der politisch etablierten Doxa mit seinen Gremien souveräner Willensbildung vorgestellt und das Subjekt selbst als Medium einer Grenzziehung zwischen Logik und Politik präsentiert werden. Die Frage der Souveränität ist relevant, weil das politische Subjekt sich in einem Akt autonomineller Souveränität über die Ordnung des Staates, wie Badiou behauptet, in der Verfolgung einer neuen Universalität auch entgegen dem etablierten Interesse souveräner Willen hinwegsetzt. 6

Die Ausführungen verstehen sich als Versuch, ein Problemfeld zu vertiefen, das erstmals mit systematischer Klarheit in der herausragenden Studie von Paul M. Livingston, The Politics of Logic. Badiou, Wittgenstein, and the Consequences of Formalism, New York 2012, präsentiert wurde. Was den vorliegenden Artikel von Livingstons Studie unterscheidet, ist die Konzentration auf das Motiv des ›Subjekts als Grenze‹. 6 Zum Verlauf der Argumentation: Als Einstieg werden wir uns, nach einigen Anmerkungen zu Freges erkenntnistheoretischer Adaptation der Mathematik im operationalisierbaren Zugriff auf die Wirklichkeit im Erkenntnisakt, auf Alain Badious Ontologie mengentheoretisch begründeter Vielheiten beziehen. Im weiteren Verlauf werden wir dann auf Ludwig Wittgensteins Theorie der Begriffsbildung eingehen und abschließend die Konsequenzen aus der Rede vom ›Subjekt als Grenze‹ ziehen. Es sei erwähnt, dass besonders die Ausführungen zu Wittgenstein keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, zu umfangreich und vielschichtig ist das Werk und seine Rezeption. Das Ziel des Artikels wäre erreicht darzulegen, wie die erwähnte Verhältnisbestimmung zwischen Politik und Logik an einzelnen Theoremen bei Badiou wie auch bei Wittgenstein exemplarisch als ein wichtiges Thema der Analyse für die politische Philosophie, die politische Souveränitätstheorie und die politische Theologie aufscheint. 5

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I Gottlob Frege postuliert in verschiedenen Werken in Abgrenzung zu dem von ihm kritisierten Psychologismus eine Rückkehr zur Objektivität unserer Weltgehalte jenseits einer erfahrungsgesättigten (hegelianischen) Genese derselben. 7 Nicht unsere historisch sich über Jahrtausende in der Psyche entwickelt habenden Begriffe, Meme und Objektivitätsbestimmungen machen die Wirklichkeit wahr, sondern die Objektivität von Tatsachen ›da draußen‹ verifiziert als eigenständiger, durch Wahrheitswert-Analysen freilegbarer Bereich (Frege nennt ihn den Bereich des Wahren) unseren Zugriff auf Wirklichkeit. Er thematisiert dies prominent in seinem Werk Die Grundlagen der Arithmetik in der Analyse von Zahlenoperationen, die als Teil unseres Denkens Dingen in der empirischen Wirklichkeit Identitäten zusprechen. Frege wird hier erwähnt, da Badiou seiner Philosophie ebenso mithilfe der Mathematik ein axiomatisches Fundament gibt, das zumindest in der Methode, wenn auch nicht im Ergebnis, demjenigen Freges ähnlich ist. Zahlen sind für Frege keine psychologisch ableitbaren Entitäten. Sie sind keine Anhäufungen oder Eigenschaften von Dingen, sondern ideale Gegenstände, die uns helfen, die Extensionen, d. h. die objektiv mit der Wirklichkeit vergleichbaren Umfänge von Begriffen und deren Wahrheitswerten in Sätzen, abgleichbar zu machen. In diesem Sinne sind Zahlen als ein maßgebendes Medium von Verstandesoperationen auszulegen. Sie helfen uns, die Wirklichkeit wie durch Identitätsschablonen von Mengenbildungen, für die die Zahlen stehen, auf ihre Objektivität, d. h. auf ihren Referenten hin zu befragen. 8 Als abstrakte Entitäten sind Zahlen also von der empirischen Wirklichkeit ablösbar, da sie als ideale Gegenstände nicht in der empirischen Wirklichkeit vorkommen. Wo sie vorkommen, ist Freges sogenanntes ›drittes Reich‹ platonischer Gedanken, auf das unser Verstand z. B. auch durch Zahlen- und Mengenbildungsoperationen Zugriff hat und durch ihn auf die Identifizierbarkeit der Objektivität in der empirischen Außenwelt Bezug nehmen kann. 9 So kann ich beispielsweise einem Begriff eine ZahlenVgl. Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Darmstadt 1961 (Nachdruck Breslau 1934). 8 Vgl. ebd. § 26. 9 Der Logizismus vertritt die These, dass die Dinge in Mengen beziehungsweise Oberbegriffen oder Gattungen geordnet sind und dies unabhängig von der noetischen Aktivität des menschlichen Verstandes. In diesem Sinne vertritt Frege (wie auch der frühe 7

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stelle zuordnen, der in der empirischen Welt vorkommt, wie auch einem, der – Frege erwähnt den ›Venusmond‹ – nicht vorkommt. 10 Im letzteren Fall kann die empirische Nichtexistenz des Begriffs bewiesen werden, insofern der Begriff unter die Null fällt und damit ausdrückt, dass ihm in der objektiven Wirklichkeit kein Objekt entspricht. Was hier ganz selbstverständlich als Abgleichungsprozess zwischen der Wirklichkeit und unseren Urteilen und Propositionen über dieselbe in unserem begrifflichen Denken erscheint, ist nicht immer so unschuldig selbstevident, wie es Freges Beispiele aus den Grundlagen manchmal nahelegen. Denn es stellt sich die Frage, wer beispielsweise aus der Position souveräner Macht die etablierten Regelfolgen operativer und identifizierbarer Eingriffe in bestimmten Begründungszusammenhängen unserer Wirklichkeit letztverbürgt. Wie wir sehen werden, betrifft dies Fragen politischer Souveränität. Mit dem kategorialen Zugriff auf Wirklichkeit nach Regelfolgen entsteht ja auch erst die Wirklichkeit, die – ohne diesen Zugriff – vollkommen ›leer‹ aufgrund begrifflicher Unterbestimmung bliebe. Frege kann zwar zu Recht behaupten, der Inhalt des Satzes ›die Nordsee ist 10.000 Quadratmeilen groß‹ sei unabhängig von der persönlichen Auffassungsweise von ›Nordsee‹ entweder wahr oder falsch. 11 Aber er kann nicht in Abrede stellen, dass die Umfänge der Begriffe ›Nordsee‹ und ›Quadratmeile‹ von einer Grenzziehung, und d. h. von einer Regelsetzung, abhängig sind, die dann in einem zweiten Schritt die zahlenmäßige Objektivierbarkeit einer verifizierbaren Größe gemäß der begrifflich definierten Regelfolge ermöglicht. Zweifellos gibt es transzendentalphilosophisch gedacht je immer schon etablierte Begründungszusammenhänge einer geteilten Mitwelt, die meinem Zugriff auf Wirklichkeit vorausgehen müssen, da – wie Wittgenstein prominent in Über Gewißheit sagt – erst mein Weltbild mir überhaupt den Rahmen von Gewissheiten gibt, von dem aus ich zwischen wahr und falsch unterscheiden kann. 12 Aber der »überkommene HinWittgenstein des Tractatus in seiner Rede vom ›Logischen Raum‹) eine absolute Existenz von Mengen, auch dann, wenn Menschen noch keine bestimmte Zugehörigkeit eines Dinges zu einer bestimmten Klasse von Dingen erkennen. Zu Freges Realismus siehe auch Michael Dummett, Frege and Other Philosophers, Oxford 1996, 79–96. 10 Vgl. Frege, Grundlagen, § 49 (wie Anm. 7). 11 Vgl. ebd., § 26. 12 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, in: Werkausgabe in acht Bänden, Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1984, § 90–99.

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tergrund«, 13 von dem Wittgenstein wiederholt spricht, hat damit noch nicht nach Saul Kripkes Auslegung bewiesen, dass das Regelfolgen nicht vielleicht doch einmal ganz anders vonstattenging, was einen radikalen Skeptizismus, den Kripke bei Wittgenstein diagnostiziert, impliziert. 14 Auch mit Heideggers Anmerkungen in Sein und Zeit könnte man vertreten, dass das Regelfolgen uns »den Zugang zu […] ursprünglichen ›Quellen‹« 15 unserer Begründungszusammenhänge und Gewissheiten versperren kann. Da für Heidegger das Dasein »seine Vergangenheit ist«, diese ihm »aus seiner Zukunft her ›geschieht‹« und ihm seine – mit Wittgenstein gesprochen – Gewissheiten als Bedingung der Möglichkeit von erkennenden Bezügen verbürgt, 16 besteht die Gefahr, die Kontingenzen derselben Vergangenheit und deren verpasste Alternativen überhaupt auf den Bildschirm einer möglichen selbstkritischen Reflexion der eigenen Gewissheiten zu bekommen. Eine solche Reflexion gegenüber den ›abendländischen Gewissheiten‹ versucht Heidegger bekanntlich selbst in seiner These von einer alternativen Lesart der Geschichte des Seins-Begriffs zu leisten. Das Regelbefolgen, demgemäß wir die Begriffe anderer übernehmen, kann uns als alternativloser Rahmen unserer Gewissheiten dazu verleiten, in einem reflexionslosen und vorauseilenden Gehorsam ihnen (den Regeln) gegenüber immer schon mehr als gebührend untertan zu sein. Man könnte hierbei von einem vorauseilenden Regelgehorsam sprechen. Dieser mag dann verkennen, inwiefern die Grenze nicht immer klar zu ziehen ist zwischen den Regelfolgen, die den apriorischen Rahmen von Gewissheiten bilden und denjenigen, die darüber hinaus (auch bis in die Grundfesten der Gewissheiten hinein) trotzdem verhandelbar sein könnten. 17 In diese Thematik Ebd., § 94. Vgl. Saul A. Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, übers. v. H. Pape, Frankfurt a. M. 1987; siehe besonders die Ausführungen im zweiten Kapitel zu Wittgensteins Paradox (ebd., 17–73). Kripkes Diagnose ist in der Wittgenstein-Forschung wiederholt in Frage gestellt worden. Aus der Vielzahl an Sekundärliteratur zu dem Thema ragt besonders der Artikel von John McDowell, Wittgenstein on Following a Rule, in: Synthese 58 (1984), 325–363, heraus. Auch der Artikel von Georg Wilson, Semantic Realism and Kripke’s Wittgenstein, in: Philosophy and Phenomenological Research 83 (1998), 99–122, sei hier erwähnt, da er Kripke gegen McDowell verteidigt. 15 Heidegger, Sein und Zeit, 21 (wie Anm. 2). 16 Ebd., 20. 17 Man könnte Heideggers umstrittene Diagnose der Seinsvergessenheit als ein sol13 14

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führt uns, wie wir gleich zeigen werden, das Werk Alain Badious. Wir leben eben immer schon in Traditionen diverser ›Mengenbildungen‹, die als Regelfolgen den Rahmen von axiomatischen Evidenzen aufspannen. Gerade dadurch aber verkennen wir, dass den Gewissheiten ein Rest vorhergeht, den Badiou prominent in seiner Rezeption von Jacques Lacans Begriff des »Realen« das »Phantom der Inkonsistenz« 18 beziehungsweise das Phantom der Leere nennt. Einer jeden politischen Souveränitätssituation, die Badiou mit der repräsentativen Ordnung des Staates gleichsetzt, entgeht notwendig diese Leere, weil kein Staat Lücken seiner Verwaltungsmacht akzeptieren kann. Diesem Phantom der Leere begegnen wir für Badiou schon im einzelnen Akt einer Erkenntnis, insofern wir uns überhaupt nur innerhalb einer Differenz zwischen Erkenntnisakt und Erkanntem, und d. h. aufgrund einer im Erkenntnisakt sich immer schon vollziehenden Abblendung, auf Wirklichkeit beziehen. 19 Oder mit den Worten des Kantianers Bruno Liebrucks: Es gibt »keine Erkenntnis ohne Rest.« 20 Dass darüber hinaus Regelfolgen keine Garantie ihrer ewig gültigen Auf-Eins-Operationalisierungen in sich bergen, sondern auch einmal ganz anders hätten ausgeführt worden sein können, ist – wie Saul Kripke in seiner Wittgenstein-Analyse nahelegt – Ausdruck eines fundamentalen Skeptizismus, der sich in Wittgensteins Anmerkungen zu Regelfolgen bemerkbar macht. Selbstverständlich verunmöglicht ein Schachspieler das Spielen, wenn er die Regelfolge der Figur des Königs während einer Partie ches Unterfangen beschreiben. In diesem Sinne ist sie eine metatheoretische Selbstreflexion der ontologischen Grundstrukturen bestimmter Traditionen abendländischer Philosophie und abendländischer Denkformen. Mit ihr soll – so Heideggers Anspruch – aufgezeigt werden, inwiefern die moderne (seinsvergessene) Bewusstseinsform auf bestimmten Fehlinterpretationen des Seins-Begriffs aufruht. In anderen Worten: Heidegger zielt auf eine fundamentale Revision philosophischen Regelfolgens, mit dem Ziel, ein alternatives Weltverhältnis zumindest als neue Aufgabe philosophischer Analyse zu etablieren. 18 Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis I (Transpositionen 9), übers. v. G. Kamecke, Berlin 2005, 70 f. 19 Die im Erkenntnisakt sich vollziehende Auf-Eins-Zählung ist für Badiou eine Operation, die »anzeigt, dass das Eins ein Resultat ist.« (ebd., 70). Mit der Rede von der »Eins« meint Badiou hier sehr abstrakt das in einem Erkenntnisakt Identifizierte. Als solches ist es immer die erkannte Einheit beziehungsweise das Eine, das sich von einem Erkenntnisrest absetzt. »Damit das Eins […] resultiert, muss es ›etwas‹ in der Vielheit geben, das nicht absolut mit dem Resultat zusammenfällt.« (ebd.). 20 Bruno Liebrucks, Sprache und Bewusstsein. Die erste Revolution der Denkungsart. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. IV, Frankfurt a. M. 1968, 195.

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ständig unilateral neu definiert. Er kann es tun, aber die Zahl seiner Mitspieler wird sich stark reduzieren, wenn er behauptet, dass er mit der Figur des Königs zu jeder Zeit alles machen kann. D. h., auf einer basalen Ebene semantischer Alltagsprozesse des Regelfolgens ist kaum in Zweifel zu ziehen, dass Regelfolgen unabdingbar sind. Sie garantieren nicht nur das Gelingen des Spiels, sondern auch den Sozialvertrag des Alltags. Auch die jeweiligen Wissenschaften erfahren ihre Gewissheiten durch die Übernahme von Regeln der Argumentation durch die Regeln überkommener Erkenntnisse, insofern alle Begründungen indirekte Regelfolgen sind und durch die Regeln wissenschaftlicher Standards Wissenschaft erst möglich machen. Regeln sind, wie gesagt, die Bedingung des Contrat social in allen Teilbereichen gesellschaftlicher Wirklichkeit und letztlich durch den souveränen Staat mit seiner normativen Allmachtsstruktur verbürgt, die keinen Lebensbereich ausschließen, d. h. keine Leerstelle kennen darf. Gerade weil es aber den Sozialvertrag gibt, zeigt sich darin auch, dass das Regelfolgen nicht selbstverständlich ist und dass es eindringlich das Konfliktfeld des Politischen als Ort der Auseinandersetzung um Definitionsfragen von Regeln und damit von Tatsachen und Fakten betrifft. Denn nur ein Gemeinwesen, dem Regelfolgen Probleme bereitet, braucht überhaupt einen Sozialvertrag. So macht sich dann auch im Bereich des Politischen der Einzelne nicht lächerlich, wenn er die Regel in Frage stellt, die das Baskenland zu Spanien zählt oder Nordirland zu Großbritannien. Hier sind die Auf-Eins-Zählungen, d. h. die konstruktivistischen Erkenntnisse von präsentierbaren Einheiten beziehungsweise Mengen sehr viel instabiler und umkämpfter. Sie legen offen, dass unsere diversen Oberbegriffe Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern auch modellieren. Es soll in den weiteren Ausführungen darum gehen, die philosophiepolitischen Implikationen des Umstands offenzulegen, dass der Begriffsgebrauch gerade in seiner oftmals durch Strukturen der etablierten Praxis abgeblendeten schöpferischen Kraft nicht unpolitisch und unschuldig ist im Hinblick auf die Frage, welche empirische Wirklichkeit aus Fakten und Tatsachen uns den Rahmen unserer Gewissheiten vorgibt. Gerade weil es, wie gesagt, für die Entwicklung unserer basalsten Gewissheiten immer schon ein lebensweltliches Hintergrundwissen geben muss, in dem Auf-Eins-Zählungen als Identifizierungsprozeduren der empirischen Wirklichkeit stattgefunden haben, ist dieses Hintergrundwissen eine für den Bereich des Politischen, dem wir uns hier widmen, sowohl eine blindheitsbedinSouveränität und Subversion

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gende als auch eine blindheitsvermeidende Matrix unserer Selbstbezüge. Blindheit vermeidend ist die Matrix der Regelfolgen, wie erwähnt, als Bedingung der Etablierung von Strukturen des Objektiven. Hier kann man überzeugt und mit Recht optimistisch von der Genese von Werten und Normen sprechen und vom diskursiven Wachstum der politischen Wirklichkeit. Schlagworte wie Verantwortung, Solidarität, Sittlichkeit, Begründungen und Vergangenheitsbewältigung sind hier verortbar. Der Glaube an die Tugend des kulturellen Gedächtnisses, an die Pflege der Erinnerung spielt mit hinein. Blindheit bedingend ist das lebensweltliche Hintergrundwissen dahingehend, dass es uns die strukturelle Leerstelle in derselben Wirklichkeitskonstitution, die uns die Gewissheit vorschreibt, nicht sichtbar machen kann. Dann mag zwar innerhalb eines Gemeinwesens eine Gedenktafel vielleicht ein Erinnerungsmedium der Genese einer kollektiven Blickerweiterung und normativen Weiterentwicklung desselben sein, aber wenn die Gedenktafel ihrerseits zur Selbstlegitimation eines neuen Unrechtssystems beispielsweise zur Etablierung eines Apartheidsystems verwendet wird, dann ist dieselbe Gedenktafel ein neuer blinder Fleck in einer die politische Wirklichkeit etablierenden Begründungsstruktur, die im Gedenken ihr neues Unrecht nicht sehen kann. Gedenken ist offensichtlich nicht schon per se verantwortlich. In Verherrlichung der herrschenden politischen Doxa kann es – analog zu Heideggers Daseinsanalyse – wahrere Quellen der Selbstbeziehung verdecken helfen und über die Illegitimität der Auslegung der Vergangenheit hinwegtäuschen. Weil es keinen ›Blick von Nirgendwo‹ gibt, ist kein Blick durch unsere Gewissheiten auf die Wirklichkeit neutral, sondern von einem Blickpunkt abhängig, der im Zentrum der Pupille sein eigenes Negativfeld verpasst.

II Badiou entfaltet vor dieser Dialektik von systembedingter (Staats-) Blindheit gegenüber einer die herrschende politische Doxa bedingenden Außenseite, die als Alterität vom politischen Feld nicht umfasst werden kann, seine Theorie vom politischen Subjekt. Dieses mag ein einzelnes Individuum sein oder eine politische Gruppierung, die sich als Gemeinschaft zu einer politischen Einheit konstituiert. Da sich Wirklichkeit für uns nur als begrifflich geordnete etabliert, vertritt 224

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Badiou die These, dass ihr immer schon eine nicht repräsentierbare Vielheit von Vielheiten vorausgeht. 21 Das Viele existiert für Badiou nicht wie aufgereiht vor einem unerschütterlichen Hintergrund des Einen, sondern das Eine als Hintergrund des Vielen ist nachträglicher Effekt des menschlichen Verstandes als Medium ununterbrochener Synthese. Denkt der Verstand das Viele, wird er notwendig auf das Eine verwiesen und denkt er an das Eine, so im Verhältnis zum Vielen. Die Vorstellung von einer Vielheit von Vielheiten (ohne das Eine dahinter), wie sie Badiou der cantorschen Mengenlehre entnimmt, ist daher eigentlich für den Menschen undenkbar. Daher sagt auch Alain Badiou gleich zu Beginn seines Buches über Das Sein und das Ereignis: »Wir befinden uns am Punkt einer Entscheidung. Es gilt, mit den Arkana des Eins und der Vielheit zu brechen, in denen die Philosophie geboren wird und verschwindet, als Phönix ihrer sophistischen Aufzehrung. Diese Entscheidung kann nur die folgende Formel annehmen: Das Eins ist nicht.« 22 Dass das Eins nicht ist, hat für Badious Philosophie mathematischer Vielheiten den Vorteil, dass sie eine politische Logik mithilfe der Mengenlehre Georg Cantors denken kann. Weil die Welt des Menschen immer schon aus »Mannigfaltigkeiten« 23 besteht, »gibt es Subjektivierung«, 24 von der her die Vielheit immer schon in präsentierte Strukturen der Synthese gebracht ist. Mit der Rede von der Subjektivierung, die ›es gibt‹, artikuliert Badiou die Überzeugung, dass es über kollektiv abgesicherte Regelfolgen und jenseits des Glaubens an ›Wahrheitsmacher‹ Regelgründungen und Regelsetzungen gibt, die ihre propositional ergreifbaren Begründungen erst nach ihrer Ereignung etablieren können. Es gibt demnach Wahrheiten, die deshalb auf der Logik einer mathematischen Ontologie der Mengenbildung beruhen, weil Operationalisierungen nicht abgezählter Untermengen, d. h. politisch unterrepräsentierte normative Ansprüche, gegen die Ordnungsstrukturen der politisch souveränen Herrschaftssituation sich ›auf-Eins‹ zählen und damit eine neue Axiomatik von Begründungen setzen können. In diesem Sinne begegnet Dass unser Verstand diese nicht erkennen kann, da jeder Erkenntnisakt selbst als Hintergrundbedingung seiner Erkenntnisfähigkeit eine immer schon strukturierte Vielheit voraussetzt, hält Badiou nicht davon ab, die Vielheit von Vielheiten zu seiner Ontologie zu erklären. Vgl. Badiou, Das Sein und das Ereignis, 62 f. (wie Anm. 18). 22 Badiou, Das Sein und das Ereignis, 37 (wie Anm. 18). 23 Ebd., 39. 24 Ebd., 18. 21

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uns das politische Subjekt bei Badiou als ›Grenze‹ der politischen Doxa. Seine Operationalisierung versucht, den Bereich des Politischen von dessen verborgener Alterität, dessen abgeblendeter Ausschlussstelle neu durch den Akt einer ›Erzwingung‹ zu definieren. Ein einzelnes Subjekt oder ein politisches Subjekt, zu dem sich mehrere vereinen, mag folglich, so Badiou, den oben erwähnten blinden Fleck im Zentrum des Blickpunkts der etablierten Doxa durchkreuzen. Nun ›existiert‹ aber – wie Lacan behauptet – das Reale, von dem Badiou hier indirekt in seiner Theorie des Subjekts als Grenze des Ereignisses spricht, weder in der sinnlichen noch in der übersinnlichen Welt. Das Reale hat weder Sinn noch Bedeutung – schlicht und einfach, weil es mit Lacan gesprochen nicht repräsentiert werden kann. 25 Es zeigt sich nur an seinen Effekten, z. B. seinen zerstörerischen Effekten – oder – wie man mit Badiou behaupten kann, an seinen politischen, generischen Effekten politischer Erzwingung. Gerade weil der Akt einer Erzwingung nur als Ereignis ohne Herkunft existiert, kann er die etablierte symbolische Welt durch eine wunderanaloge Verrückung verändern, wie es Badiou in seiner Paulus-Lektüre beschreibt. 26 Damit möchte er nicht einer Rückkehr zu einem naiven Wunderglauben das Wort reden. Vielmehr soll unter der Rede vom Realen der politischen Logik in Form einer Erzwingung ein Aufbruchsmoment der Wirklichkeit durch einen nicht verhandelbaren Blickpunkt (beziehungsweise ein erzwungenes Axiom) verstanden werden, das Badiou als erklärter Materialist und Kritiker religiöser Welterklärungsmodelle nur deshalb mit dem Christentum verbindet, weil letzteres in der Figur des Apostels solipsistisch und politisch eine überzählig agierende Figur benennt. Wenn Paulus den auferstandenen Christus verkündet, so setzt er nach Badiou ein Axiom und bringt kein traditionelles Argument im Bereich des Nehmens und Gebens von Gründen hervor. Das Reale politischer Logik, wie es das Subjekt als Grenze der Wirklichkeit verkörpert, das eine Mit dem Begriff des Realen verweist Jacques Lacan, Das Seminar. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Buch XI (Das Werk von Jacques Lacan), hg. v. N. Haas, Olten 1978, 175, auf eine nicht repräsentierbare und doch die Erscheinungswelt konstituierende Unterseite, die so etwas wie ihr Abgrund und gleichzeitig Teil ihres Seinsgrundes ist. Im Seminar IX spricht er vom Realen als »das Unmögliche«. Siehe ebenso: Ders., Das Seminar, Buch XX (1972–1973), übers. v. N. Haas, Weinheim 2 1991, 9. 26 Vgl. Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, übers. v. H. Jatho, München 2002. 25

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neue Wirklichkeit unilateral durch eine Setzung beziehungsweise ein neues Axiom erweitert, ist weder physisch noch metaphysisch. Es ist weder im Sinnlichen immanent – als konkretes Objekt auffindbar – noch kann man es in einem fregeschen ›dritten Reich‹ als eine abstrakte Universalie denken. Angebrachter wäre zu sagen, dass das Reale politischer Logik, vertreten durch das Subjekt als Grenze, ein ›Pseudo-Sein‹ hat, das – wie Badiou schreibt – »zwischen dem getrennten reinen Akt, dessen höchster Name Gott ist, und den sinnlichen Substanzen oder wirklich existierenden Dingen aufgehängt ist.« 27 Aber man könnte auch sagen, dass so, wie für Aristoteles die mathematischen Objekte weder von der sinnlichen Welt zu trennen noch in der empirischen Wirklichkeit sind 28 (sondern »Fiktionen im Akt des Intellekts« 29 ), auch das Subjekt als Grenze eine solche Fiktion im Moment ihrer Entäußerung ist. Das Subjekt als Grenze ist weder physisch noch metaphysisch und kann nie in den Hoheitsbereich dessen fallen, was Heidegger abschätzig die ›Ontotheologie‹ nennt. Als Ort des Ereignisses existiert es »der Möglichkeit nach im Sinnlichen und bleibt dort in der definitiven Latenz« 30 der Verklärung, bis es sich entäußert. Das Subjekt als Grenze taucht deshalb auch im Moment seiner ereignishaften Grenzziehung vor Abblendungen der Begründungen auf. 31 Es verweist uns darauf, inwiefern das kommunitaristische Subjekt mit der Bestimmung des Allgemeinen im Rücken immer ›unfrei vernünftig‹ sein muss, weil das, was es denkt, nur das ist, was es – gemäß eines berühmten Aphorismus von Lacan – in umgekehrter Form von seinen Mitsprechern zu denken autorisiert ist. »Der Sender erhält«, wie Lacan sagt, »seine eigene Botschaft vom Anderen in umgekehrter Form«. 32 Kommunikation und Intersubjektivität sind die Kunst der Umkehrung des Gleichen, was nur möglich ist, wenn Sender und Empfänger sich im gleichen Herrensignifikanten, d. h. unter Alain Badiou, Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, übers. v. J. Brankel, Wien 2002, 39. 28 Vgl. Aristoteles, Das Buch M der Metaphysik, Buch M, 2,10. 29 Badiou, Das Sein und das Ereignis, 21 (wie Anm. 18). 30 Badiou, Gott ist tot, 39 (wie Anm. 27). 31 Bei Paulus ist es gemäß Badiou, Paulus, 77–103 (wie Anm. 26), die Beglaubigung des Messias-Ereignisses als axiomatische Grenzziehung innerhalb der hellenistischen und jüdischen Welterklärung. 32 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Das Werk von Jacques Lacan. Schriften I, hg. v. N. Haas, übers. v. R. Gasché, Weinheim 3 1991, 71–170, hier 141. 27

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den gleichen Diskursprämissen des Nehmens und Gebens von Gründen befinden. Dann ist für Lacan ganz selbstverständlich, dass in dem Satz »Du bist meine Frau« die Umkehrung »Du bist mein Mann« schon enthalten ist. 33 Das Subjekt als Grenze, wie es Badiou konzipiert, nimmt nicht Teil an diesen Verkehrungen des Gleichen. Was es verkündet, hält nicht schon die Umkehrung der Botschaft in sich. Warum? Weil es im Akt der Grenzziehung beziehungsweise mit Wittgenstein gesagt – der Begriffsbildung – noch im strikten Sinne keinen Empfänger, nur einen Sender gibt. Deswegen kann das Subjekt als Grenze, wenn es sich beispielsweise im Apostel-Sein verkörpert, nicht unmittelbar verstanden werden. Ihm kann nur geglaubt werden, wie schon Sören Kierkegaard in seinem Text Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel von 1845 verdeutlicht. 34 Die Autonomie, die ein demokratisch und durch parlamentarische Prozesse der Normenbildung geprägtes Gemeinwesen dem Subjekt zuspricht, ist diejenige, Teil der Sittlichkeit seiner Lebenswelt zu sein und die Negativität im Blickfeld der Doxa der Begründungen notwendig zu verwerfen als rationale und diskursethische Bedingung der Möglichkeit eines kommunikativen Gemeinwesens. Die Demokratie denkt in den Bahnen der oben erwähnten möglichen Umkehrungen, die die Kommunikationsbahnen immer schon gemäß den etablierten Rechtsstrukturen der souveränen Ordnung gelegt haben. Deshalb gibt es hier auch keinen ›Gehorsam im Glauben‹, der Badiou an der Figur des Apostels interessiert, sondern nur die Notwendigkeit, sich am Spiel der Umkehrungen als Spiel des Nehmens und Gebens von Gründen zu beteiligen. Hier erhält, überspitzt formuliert, der Sender seine eigene Botschaft vom Anderen in umgekehrter Form. Das Subjekt als Grenze muss in diesem Kontext verworfen werden und natürlich ganz zu Recht. »Verwerfung« kann man hier im Sinne Freuds und Lacans als etwas verstehen, das zumindest so lange nicht einmal als Verwerfung diagnostiziert werden kann, bis das Verworfene, wie Lacan sagt, »im Realen [wieder erscheint]«. 35 Wie könnte auch sonst ein Gemeinwesen etabliert werden, wenn nicht durch Verwerfung seines Anderen,

Ebd. Vgl. Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke. Kleine Schriften. 1848/49, unter Mitarb. v. R. Hirsch, übers. v. E. Hirsch, Düsseldorf 1960, 115–134. 35 Jacques Lacan, Das Seminar. Die Psychosen, Buch III (Das Werk von Jacques Lacan), Weinheim 1997, 227. 33 34

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durch die Etablierung eines Außen? Gäbe es keine Verwerfung, dann wäre alles möglich: eventuell sowohl die bessere Welt, wie wir sie uns immer erträumt haben, als auch eine Welt, wie wir sie uns schrecklicher nicht vorstellen könnten. Dieses Gemeinwesen vom blinden Fleck im Zentrum desselben Gemeinwesens zu hinterfragen, öffnet nicht selten für eine deutsche Öffentlichkeit den Weg in den Faschismus. Deshalb darf er nicht beschritten oder bedacht werden. Und das mit guten Gründen, die hier nicht in Zweifel gezogen werden können. Das Subjekt als Grenze wird von Alain Badiou linkshegelianisch als eine virtuelle Begriffsgröße gedacht, die deshalb die Reinform des Gehorsams verlangt, weil nur von diesem Gehorsam her sich die Negativstelle im Blickpunkt der etablierten Doxa in eine positive Besetzung verkehren kann. Alain Badiou erläutert dies mit dem mengentheoretischen Auswahlaxiom. 36 Mit Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz gilt als erwiesen, dass formale Systeme nicht zugleich ihre eigenen Prämissen vollständig und widerspruchsfrei einfangen können. So gibt es Aussagen, die sich aus den jeweiligen Axiomen, in denen sie eine Rolle spielen, nicht ableiten lassen. 37 Trifft man auf die Widersprüche eines Systems beispielsweise in diesen Aussagen, so tritt eine Situation der Unentscheidbarkeit auf, die für Badiou mithilfe des Auswahlaxioms letztlich nur in einer Entscheidung ›erzwungen‹ werden kann. Gelingt die Erzwingung, wird für Badiou erkennbar, wie eine ›leere Menge‹ in der politischen Logik der herrschenden Doxa immer schon eingeschrieben war, die nun im Moment der Erzwingung ihre eigene ›Auf-EinsZählung‹ performativ ausagiert und dadurch sichtbar macht. Vor diesem Ereignis gab es streng genommen nicht die ›leere Menge‹ als Potenzialität ihrer Performanz, weil sie sonst von der etablierten politischen Doxa benannt und ausgelöscht worden wäre. Eine jede Revolution steht für diese Art der Erzwingung. Wie beispielsweise im Jahr 1989 in Leipzig wird sie zuerst von ein paar wenigen eingeklagt. Ein Sprechakt wie der berühmte Demonstrationsspruch ›Wir sind das Volk‹ benennt dann die Leere als potentiellen Ort einer neuen Universalität. Er ist überhaupt nur verstehbar, wenn dasselbe Volk sich Vgl. Badiou, Das Sein und das Ereignis, 253–263 (wie Anm. 18). Vgl. Kurt Gödel, Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), 173–198.

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zuvor als die leere Menge, als die machtlose Masse wahrgenommen hatte und angeregt wurde, sich als das »Wir«, das »das Volk« in Gänze ist, zu benennen. 38 Als missglücktes Gegenbeispiel kann die Occupy Wall Street-Bewegung aus dem Jahr 2011 genannt werden. Ihr gelang es nach den diversen internationalen Bankenskandalen nicht, aus den Aporien eines etablierten Finanzsystems eine politisch wirksame Gegenbewegung zu generieren. Badious politische Mengenlogik will aufweisen, dass es in bestimmten politischen Situationen einen wirklichen Gehorsam geben muss, einen Befehlsruf des politischen Subjekts als Grenze, weil es in einer Situation der Unentscheidbarkeit für die erzwungene Regelsetzung ja unendlich viele Gründe dafür als auch dagegen gibt. Das politische Subjekt muss eine Erzwingung herbeiführen, weil die Begründungen zu keinem Ergebnis führen. In diesem Sinne spricht Badiou von einer generischen Wahrheit, die rückwirkend ihre eigenen Bedingungen setzt. 39 Sie tritt aus einem Pseudo-Sein zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem heraus. Gehorsam gegenüber der Erzwingung ist hier in seiner Reinform etwas ganz anderes als Regelbefolgung im Geben und Nehmen von Gründen. Warum? Weil das Geben und Nehmen von Gründen für Badiou nicht die leere Menge abdeckt, die sich in der Grenzziehung des politischen Subjekts regelrecht offenbart. Daher ist derjenige, der das Ereignis verkörpert, immer in einem Akt der Illegalität befangen. Er ist in einem gewissen Sinne Träger reiner Gewissheit, die Hegel prominent in seinen Anmerkungen zum »Gewissen« in seiner Rechtsphilosophie kritisch beurteilt. 40 Das von Hegel analysierte reine Gewissen ist immer gefahrvoll, da es ausschließlich sein eigener Maßstab ist. Das Gewissen ist »die Einheit des subjektiven Wissens und dessen, was an und für sich ist«. 41 Es ist ein »Heiligtum, welches anzutasten Frevel wäre.« 42 Das reine Gewissen ist die verkörperte Gefahr, menschenverachtend zu sein gegenüber dem unreinen Diese Thematik ist ebenso im Werk Claude Leforts zentral. Vgl. Claude Lefort, L’Invention démocratique. Les Limites de la Domination totalitaire, Paris 1994. 39 Vgl. Badiou, Das Sein und das Ereignis, Meditation 23 (wie Anm. 18). Badiou spricht dort von einer »generische[n] Treue« (ebd., 269), die das Ereignis konstituiert. 40 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Werke in 20 Bänden, Bd. VII, hg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, §§ 137–140. 41 Ebd., § 137A. 42 Ebd., § 137. 38

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Gewissen der – modern gesagt – diskursiven Vernunft. In Bezug auf diese diskursive Vernunft siegt zwar nicht immer das bessere Argument, wie der Alltag der Realpolitik offenbart, aber die regulative Idee des besseren Arguments wird aufrechterhalten als Bedingung der parlamentarischen, sich vor einer nicht abschließbaren Zukunft immer neu konstituierenden Gemeinschaft. Gerade deshalb ist das diskurspragmatisch-demokratische Gewissen nahezu das reinste Gewissen. Auch wenn das diskurspragmatische Gewissen rechtsfreie Räume konstruiert, wie im Falle diverser Skandale im sogenannten War on Terror der Vereinigten Staaten seit 2001, ist es noch rein, weil es Bedingung der Möglichkeit überhaupt der Diskursivität ist und späterhin erinnernd sich eines Besseren belehren darf. Techniken erinnernder Aufarbeitung waschen dann das demokratische Gewissen auch nach seinen Übertritten immer wieder rein, was das demokratische Gewissen noch unantastbarer macht. Zum reinen Gewissen der Demokratie gibt es scheinbar keine Alternative.

III Der eingangs erwähnte Grundabstand zwischen Begriff und Empirie wird auch prominent (wenn auch weniger philosophiepolitisch) von Wittgenstein erwähnt, und seine Analyse gibt uns ansatzweise noch eine weitere Auslegung dessen, was man gemäß einer politischen Logik das Subjekt als Grenze nennen kann. Wittgenstein schreibt in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik: »Die Grenze der Empirie – ist die Begriffsbildung.« 43 Im Tractatus heißt es ähnlich über die Grenze der Empirie: »Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.« 44 Für Wittgenstein ist die logische Aufgabe von Begriffen das Unterscheiden eines Sachverhalts von einem anderen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss ein Begriff eine sprachlich formulierte und geschichtlich bedingte Vorstellung sein, mit der den Menschen ihre Außenwelt als begrifflich vermittelte in Erscheinung tritt. Begriffe können dann richtig oder falsch sein,

Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in: Werkausgabe in acht Bänden, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1984, 237. 44 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe in acht Bänden, Bd. I, Frankfurt a. M. 1984, 68 (Nr. 5.632). 43

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je nachdem, ob die darin sich artikulierenden Vorstellungen sich als zutreffend erweisen oder nicht. Wittgenstein weist in seinen Anmerkungen zu Regelfolgen und den darin verborgenen aporetischen Beziehungen von allgemeiner Norm und individueller Anwendung derselben in einer unvergleichbaren Anwendungssituation in den Philosophischen Untersuchungen darauf hin, dass Regelfolgen nicht Urteilen beinhaltet. 45 Wenn der Mensch urteilt, er sei beim Urteil über einen Sachverhalt dieser Regel oder einer anderen Regel gefolgt, dann folgt er im Urteilsbezug auf diese oder die andere Regel ja wiederum einer Urteilsregel. Das führt ihn in einen infiniten Regress. Der Gebrauch eines Begriffs für das, was ich tue oder denke, kann nicht permanent selbst schon eine vergleichende Tätigkeit sein, weil in diesem Fall kein Diskurs mehr zu einer Synthese käme. Darüber hinaus spricht Wittgenstein von Begriffsbildung. Sie ist für ihn von anderer Art als der Begriffsgebrauch. Begriffsbildung markiert die Grenze der Empirie. 46 Während Begriffe Teil der Welt sind, ist die Begriffsbildung eine Art Überdehnung der Welt über ihr etabliertes Vokabular. 47 Die BeVgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe in acht Bänden, Bd. I, Frankfurt a. M. 1984, 345 (§ 201). 46 In Zettel betont Wittgenstein, inwiefern Begriffe die Zweckmäßigkeit der Weltauslegung erfüllen müssen und daher neue Begriffe geprägt werden können, um genau diesem Ziel zu entsprechen. »Will ich also sagen, gewisse Tatsachen seien gewissen Begriffsbildungen günstig oder ungünstig? Und lehrt das die Erfahrung? Es ist Erfahrungstatsache, daß Menschen ihre Begriffe ändern, wechseln, wenn sie neue Tatsachen kennenlernen; wenn dadurch, was ihnen früher wichtig war, unwichtig wird und umgekehrt« (Wittgenstein, Gewißheit. Zettel, § 352 (wie Anm. 12). Die eigentliche Frage liegt nun in der dialektischen Verbindung von Erfahrung und begrifflicher Auslegung derselben. Konstituiert der Begriff die Erfahrung oder die Erfahrung den Begriff? Beide Momente werden wohl immer wieder zusammenspielen. Ein neuer Begriff mag dann wie ein Testfall sein. Dann schafft er eine bestimmte Weltauslegung, die weiterer Überprüfung ausgesetzt ist. Generell kann man bei Wittgenstein sagen, dass mit der Veränderung von Begriffen sich auch das ändert, was er die »Grammatik« als Form einer bestimmten »Weltansicht« nennt. In Zettel heißt es prominent: »Ich will sagen, eine ganz andere Erziehung als die unsere könnte auch die Grundlage ganz anderer Begriffe sein.« (ebd., § 383). In Bezug auf Farbbegriffe behauptet Wittgenstein wiederholt, dass er den naturalistischen Versuch, Begriffsbildung bei Farbbegriffen empirisch zu begründen, ablehnt (vgl. ebd., §§ 331.357). Vgl. dazu auch Michael Kober, Gewissheit als Norm. Wittgensteins Erkenntnistheoretische Untersuchungen in »Über Gewißheit«, Berlin 1993, 177–187. 47 Vgl. Wilhelm Vossenkuhl, Spontaneität, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 48/3 (1994), 329–349. Joachim Schulte schreibt zur Begriffsbildung: »We get the impression, Wittgenstein says, that concept-formation conducts our experience 45

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griffsbildung geht nicht so radikal vonstatten, dass dem erkennenden Subjekt die ganze Wirklichkeit verloren geht. Was jedoch sehr wohl geschehen kann, ist eine grundlegende Transformation seiner historisch vermittelten und eventuell als unerschütterlich angesehenen etablierten Begründungsformen. Die neue Grenzziehung gehört dann im Moment ihrer Performanz im strikten Sinne, wie Wittgenstein nahelegt, nicht zur Welt, da sie aus dem Zwischenbereich zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt, in dem sie aufgehängt ist, erst in ihre eigene, durch die Spontaneität des Denkens ausgelöste Erscheinung tritt. Im § 401 der Philosophischen Untersuchungen untermalt Wittgenstein diesen Zusammenhang, indem er behauptet, dass die neue Begriffsbildung mit der Erfindung eines »neue[n] Metrum[s]« verglichen oder als »eine neue Art von Gesängen« verstanden werden kann. 48 Wilhelm Vossenkuhl bringt das treffend auf den Punkt, wenn er in Bezug auf Wittgensteins Rede von der Begriffsbildung schreibt: »Die begriffliche Tätigkeit ist die Grenze, weil sie die Grenze zieht. Wo immer diese Tätigkeit nicht vollzogen wird, gibt es keine Grenze.« Und wenig später: »Die Differenz zwischen Empirie und Spontaneität ist die Tätigkeit des Begriffsgebrauchs, nicht die Bedeutung der Begriffe. Denn diese Bedeutung gehört zur Empirie wie alles Mitteilbare und Wahrnehmbare.« 49 In seinen Anmerkungen über Gründe und Lebensform spricht Wittgenstein in Analogie zu dem gerade Gesagten von einem Vorgang, dem gemäß das gesamte »Flußbett der Gedanken sich verschieb[t]« 50 . »Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Aninto particular channels, so that one experience is now seen together with the new one in an hitherto unfamiliar way« (Joachim Schulte, Philosophy of Psychology. A Criticism of a Young Science?, in: Wittgenstein. Zu Philosophie und Wissenschaft. Forum der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und Tagung der Internationalen LudwigWittgenstein-Gesellschaft vom 26. bis 30. 9. 2007 in Leipzig [Deutsches Jahrbuch Philosophie 3], hg. v. P. Stekeler-Weithofer, Hamburg 2012, 224–235, hier 230). 48 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 406 (§ 401) (wie Anm. 45): »Du hast vor allem eine neue Auffassung gefunden. So, als hättest du eine neue Malweise erfunden; oder auch ein neues Metrum, oder eine neue Art von Gesängen.« Wittgenstein verteidigt hier keine Privatsprache. Wesentlich ist in diesen Begriffsbildungen und »neue[n] Sprechweise[n]« (ebd., 405 [§ 400]), dass in der Neuheit der Vermittlung dennoch auch etwas wirklich Inhaltliches vermittelt wird. Wie Wittgenstein im § 241 f. der Philosophischen Untersuchungen sagt, ist die Botschaftsvermittlung immer abhängig von geteilten Grammatiken, die ihrerseits in geteilte Lebensformen eingebettet sind. 49 Vossenkuhl, Spontaneität, 342 (wie Anm. 47). 50 Wittgenstein, Gewißheit, § 97 (wie Anm. 12). Souveränität und Subversion

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nahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dieses System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unserer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen.« 51 Wenn Sätze als Bedingung von Gewissheit »zu einer Art Mythologie gehören«, 52 dann können auch ganze Beurteilungszusammenhänge sich wie diese abwechseln: »Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben.« 53 Damit ist kein fundamentaler psychotischer Weltverlust gemeint, aber doch eine Veränderung des etablierten Begründungsrahmens, von dem her die Psyche sich in ihrer Welt stehen sieht. 54 Die Begriffsbildung ist daher auch strikt genommen nicht wahrheitsfähig, weil es für sie noch keine Regel der Begründung und d. h. der Beurteilung gibt. 55 Daraus folgt, dass der Begriffsgebrauch als spontane Setzung auch nicht in seiner Spontaneität schon reflexiv auf sich Bezug genommen hat. Im Hinblick auf Wittgensteins Subjektbegriff im Tractatus ist das Bild der Grenze ähnlich zu verstehen. Denn einerseits ist das Subjekt als leibliche Person Teil der Welt. Andererseits ist das, was dieses Subjekt gegenüber der Welt kennzeichnet (nämlich beispielsweise sich auch existentiell mit den Fragen von Ethik und Ästhetik zu beschäftigen) für den Wittgenstein des Tractatus nicht Teil der Welt. Im Hinblick auf das, was das Subjekt tut, wenn es denkt und sich etwas vorstellt, gehört es nicht zur Welt. Wittgenstein stellt konsequent fest: »Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht.« 56 Was es gibt, sind die vom Subjekt instanziierten Propositionen eines naturalistischen Weltbildes, wobei – wie oftmals in der Sekundärliteratur Ebd., § 105. Ebd., § 95. 53 Ebd., § 97. Es ist wichtig, nicht zu verkennen, dass Wittgenstein hier keinen radikalen Konstruktivismus verteidigt. Die Regeln des Begründens sind immer schon vorgegeben, was nicht ausschließt, dass sie immer auch wieder über die ›Ufer‹ ihrer etablierten ›Flußbetten‹ treten können. 54 Wittgenstein spricht gerade nicht in seiner Theorie der Spontaneität davon, dass die Begriffsbildung ein Akt einer Gemeinschaft sei, der sich aus den etablierten Begriffen ableitet. Die Begriffsbildung ist ein Akt, der die Begriffe unilateral auf eine neue Grenze hin erweitert. 55 Wie Vossenkuhl, Spontaneität, 344 (wie Anm. 47), treffend sagt: »Die Tätigkeit, streng genommen ihr Vollzug, ist nicht Teil der Welt, sondern Grenzziehung, Abgrenzung, Differenzierung.« Diese Tätigkeiten »gibt es nicht als objektivierte Teile der Empirie. Was es gibt, sind ihre Ergebnisse.« 56 Wittgenstein, Tractatus, 67, Nr. 5.631 (wie Anm. 44). 51 52

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bestätigt – Solipsismus und Realismus bei Wittgenstein zusammenfallen. 57 »[D]ie Welt [ist] meine Welt«. 58 Wie wir sagten, ist die Begriffsbildung selbst keine Teilmenge der Begriffe und ihrer Gegenstände. Ähnlich ist die Menge von Aussagen über die Welt nicht Teil der Welt, weshalb Wittgenstein selbst seinen Versuch des Tractatus in den berühmten drei letzten Propositionen 59 desselben als vergeblich und selbstwidersprüchlich darlegt. So enthält auch der Begriffsgebrauch des Tractatus mit seinen Bestimmungsversuchen dessen, was der Fall ist, nicht sich selbst. Um zu gelingen, darf er nicht reflexiv sein. So widerspricht zwar der Tractatus, von Wittgenstein eingeräumt, seinem Wahrheitsanspruch performativ, aber als Begriffsbildung, als geniale ›Erzwingung‹ eines Philosophen, schafft er dennoch – oder besser: gerade deshalb – Denkbares und Welthaftes. (Die Wittgensteinforschung beweist dies in der anhaltenden Rezeption bis heute.) Welche Konsequenzen impliziert dies? Wird damit die Reflexivität als zentrale Eigenschaft des Denkens nicht ganz hinfällig gegenüber der hier hervorgehobenen Dominanz von Spontaneität und scheinbar paranoider Begriffsbildung? Oder anders formuliert: Wenn bei Wittgenstein die Theorie einer spontanen – vorerst nicht bezweifelbaren, weil nicht korrigierbaren – Begriffsbildung Erwähnung findet, dann stellt sich überspitzt formuliert die Frage, ob er eventuell generell das Denken als reflexive Tätigkeit in Frage stellt. Für Vossenkuhls Wittgenstein-Interpretation sind solche Bedenken unbegründet, insofern das Denken beide Momente beinhaltet: sowohl Spontaneität als auch Reflexivität. Dass das Denken nur dann reflexiv sein kann, wenn es zuvor einen ersten Schritt sozusagen ins Nichts getan hat, schließt Reflexivität nicht aus. »Die Reflexion von Begriffen setzt den spontanen Begriffsgebrauch voraus.« 60 Ähnlich drückt sich Ernst Michael Lange über Spontaneität bei Wittgenstein in seiner Kritik 61 an Eike von Savignys Wittgenstein-Buch Zum Thema des Solipsismus als Wittgensteins »Ringen um Einsicht in die […] menschliche Subjektivität« vgl. David Bell, Solipsismus, Subjektivität und öffentliche Welt, in: Von Wittgenstein lernen, hg. v. W. Vossenkuhl, übers. v. J. Schulte, Berlin 1992, 29–52, hier 29. 58 Wittgenstein, Tractatus, 67, Nr. 5.62 (wie Anm. 44). 59 Vgl. ebd., 85, Nr. 6.53.Nr. 6.54.Nr. 7. 60 Vossenkuhl, Spontaneität, 343 (wie Anm. 47). 61 Vgl. Ernst M. Lange, Kritische Bemerkungen zu Eike von Savignys Der Mensch als Mitmensch – Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, in: Wittgenstein Stu57

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Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen 62 aus. Um zu erklären, inwiefern es sehr wohl eine vorerst solipsistisch anmutende Dimension der Regelbegründung beziehungsweise der Begriffsbildung geben kann, ohne dass dies Wittgenstein schon zum Philosophen aporiefreier Gemeinschaftsbildung macht, schreibt er: »Man stelle sich ein Individuum mit Verhaltensfähigkeiten zu instrumentellem Handeln vor; es will ein instrumentelles Problem lösen, das nur auf eine Weise zu lösen ist. Durch Herumprobieren findet es den Weg (die Technik der Lösung des Problems) und befolgt ihn von nun an und korrigiert sich, wenn es vom gefundenen Weg abweicht. Dieses solitäre Individuum folgt dann einer Regel. Sein Verhalten ist ein Fall von natura non nisi parendo vincitur und damit etwas, was von dem gedeckt ist, was zu überlegen Wittgenstein in PU § 372 auffordert: ›Das einzige Korrelat in der Sprache zu einer Naturnotwendigkeit ist eine willkürliche Regel. Sie ist das einzige, was man von dieser Naturnotwendigkeit in einen Satz abziehen kann.‹« 63

Es sei nötig, so Lange, individuelle Spontaneität, Initiative als eine hochstufige Leistung der Sprache anzusehen. Dies widerspreche nicht der sozialen Dimension des Regelfolgens, unterstreiche aber eben die von Savigny vernachlässigte elitäre, anti-soziale Haltung von Aspektwahrnehmungen und Sprachgebrauch bei Wittgenstein. Die Positionen von Vossenkuhl und Lange zu Wittgensteins Rede von Spontaneität entwerfen unter der im Folgenden näher ausgeführten Bedingung ein noch unterkomplexes Bild der Regelbegründung beziehungsweise der Begriffsbildung. Denn es gibt Kontexte mit schwerwiegenden Auswirkungen, die die uns hier interessierende Spontaneität betreffen und nicht einfach auf der Ebene einer Reflexivität eingeholt werden können. Selbstverständlich gibt es eine Spontaneität des Denkens, die zuerst als Reflexivität und dann als Regelfolge problemlos eingeholt werden kann. Man kann auf das Beispiel von Lange in Bezug auf ein praktisches Problem zurückgehen. Das einzelne Subjekt entdeckt eine neue Technik in der Lösung eines wie auch immer gearteten Problems. Man denke an die Erfindung eines technischen Gerätes, mit dem man bestimmte Arbeitsprozesse verdies 4/2 (1997), http://www.emlange.de/inhalt/ueberWittgenstein/pdf/UeberSavigny .pdf (zuletzt geprüft am 21. 1. 2015; D. F.); 62 Eike von Savigny, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen«, München 1996. 63 Lange, Bemerkungen, (wie Anm. 61).

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kürzen kann. Die Begriffsbegründung erweitert hier durch eine neue Regelfolge im Sinne einer neuen Arbeitstechnik den Raum etablierter Regeln. Aber schon bei anderen Kontexten, wie z. B. in der Philosophie, ist dies nicht mehr ganz so unproblematisch. Wenn Immanuel Kant z. B. den Begriff des Dinges an sich in seiner theoretischen oder den Begriff des moralischen Willens in seiner praktischen Philosophie einführt, dann verschieben diese Begriffe ganz erheblich im Moment ihrer Anwendung zwei große Untersuchungsfelder der klassischen Philosophie. Hier stellt sich im Folgenden die Frage, ob man solche Begriffsbildungen überhaupt übernehmen sollte, oder ob sie nicht im selben Moment ihrer Adaptation das Denken bereits fehlleiten. Aber auch dies – so könnte man sagen – ist als ein Thema innerhalb einer spekulativen Philosophie immer noch relativ harmlos. Andere Begriffsbildungen mit nicht nur rein fachspezifisch philosophischen, sondern auch konkret politischen Dimensionen sind gravierender, weil sie nicht nur unser Denken betreffen, sondern auch unsere Praktiken. Hier verschieben Begriffsbildungen von der Art, wie sie beispielsweise die Rede von Georg Lukács vom »Proletariat« als das »Subjekt-Objekt der Geschichte« aufweist, 64 nicht nur den Differenzbereich der etablierten Begriffe und Regelfolgen, sondern der neue Begriffsgebrauch subvertiert den axiomatischen Rahmen, in dem alle bisherigen Begriffsbereiche (wissenschaftlich, künstlerisch, politisch und ethisch) ihre traditionellen Rollen der Differenzierung gespielt haben. Mit Wittgenstein könnte man dann sagen, dass nicht nur einzelne Begriffe partikulär-neue Einzelbegründungen evozieren, sondern im Ganzen das ›Flußbett der Gedanken‹ verschieben. Hier zu behaupten, dass eine einfache Reflexivität die Geste der Begriffsbestimmung einholt, verkennt, dass die Reflexivität im selben Akt sich auf ein ganz anderes Gleis beziehungsweise in ein ganz anderes Flußbett der Beurteilung gesetzt hat. Die Konsequenzen einer Begriffsbildung beziehungsweise einer Regelbegründung werden also erst dort interessant und berühren Fragen souveräner Machtausübung, wo sich das Verhältnis der Reflexivität sprichwörtlich in ein anderes Flußbett setzt. In diesen Fällen ist es nicht möglich, einfach darauf zu verweisen, dass die Konvention der sprachlichen Intention vorausgeht und Georg Lukács, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in: Ders., Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923, 216.

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die Spontaneität von derselben Konvention eingeholt wird. In bestimmten Fällen verhält es sich umgekehrt: Die Intention verändert konventionslos die Konvention. Wie wir bei Badiou gesehen haben, ist dies möglich, weil Konventionen immer auch ihre Leerstellen haben, die sie eines Tages zu Fall bringen können und die ein Neues, eine neue Konvention hervorbringen können. Der Beurteilungsrahmen der Reflexivität, wie er das Subjekt zuvor geprägt hatte, kann in Spontaneität verschoben werden. Man könnte auch sagen: Die Psyche findet sich durch die Begriffsbegründung als Grenze selbst in einer neuen Welt. Das betrifft die von Badiou favorisierte Figur des Apostels, seine Rede vom Subjekt als Grenze, wie auch Wittgensteins Theorie der Begriffsbildung. Wie Badiou in seinem Essay über Wittgensteins Antiphilosophie 65 treffend darlegt, etabliert Wittgenstein ex negativo in seinem Tractatus eine eigenwillige Bekehrungsfigur, wenn er im Pathos dieses Grundlagentextes des Logizismus darauf hinweist, dass das, was die naturwissenschaftlichen Sätze ausdrücken, zwar objektive Tatsachen abbildet (nämlich all das, was der Fall ist), dass aber gerade diese Tatsachenwirklichkeit das Subjekt auf der Ebene seiner Existenzfragen, wie Wittgenstein betont, »noch gar nicht berührt.« 66 Badiou sieht hierbei das Motiv einer religiösen Weltsicht unthematisch vorbereitet. Er verweist auf den im Tractatus – nur indirekt in Bezug auf eine Grenze des Schweigens – angedeuteten Übergang zum Mystischen, das sich »zeigt«. 67 Vor diesem Hintergrund sieht er in dieser indirekten Botschaft zu Recht, dass dem Tractatus eine prophetische Dimension innewohnt, gerade indem er jede Rede über Ethik und Moralität zwar als unsinnig beziehungsweise nicht aussagbar, 68 aber letztlich existentiell als allentscheidende Grenze des Schweigens beschreibt. Letztere hat, so erscheint es zumindest, umso mehr zu sagen. 69 Badiou liest den Tractatus weniger als Pamphlet des NaturalisVgl. Alain Badiou, Wittgensteins Antiphilosophie, übers. v. H. Jatho, Berlin 2008. Wittgenstein, Tractatus, 85, Nr. 6.52 (wie Anm. 44). 67 »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (Wittgenstein, Tractatus, 85, Nr. 6.522 [wie Anm. 44]). Wittgensteins These vom Mystischen beansprucht für die Unsagbarkeit, dessen, was sich nur ›zeigt‹, einen Existenzquantor. Wie aber von Existenz gesprochen werden kann, obwohl nichts Sinnvolles darüber gesagt werden kann, ist von Otto Neurath, Soziologie im Physikalismus, in: Erkenntnis 2 (1931), 393–431, hier 396, früh kritisiert worden. 68 Vgl. Wittgenstein, Tractatus, 83, Nr. 6.421 (wie Anm. 44). 69 Vgl. dazu die Ausführungen vom englischen Religionsphilosophen Thomas McPherson, Religion as the Inexpressible, in: New Essay in Philosophical Theology, 65 66

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mus, denn als negativ-theologisches Manifest der religiösen Bekehrung, die Wittgenstein wie kaum einen anderen Philosophen des logischen Positivismus umgetrieben hatte. Der Tractatus drängt seinen Leser, auf das Mystische Bezug zu nehmen durch die Verweigerung eines sinnvollen Sprechens darüber. Dagegen erscheint jener religiöse ›Ton‹ in Heideggers späten Texten nahezu ontotheologisch gegenüber demjenigen, was Wittgenstein allein durch seinen Logizismus als die Stätte der religiösen Bekehrung, als den Raum des Realen der Mystik aufreißt. Wie gelingt ihm das? Indem er ihn als den Bereich der Sprachlosigkeit darstellt, die aber als Sprachlosigkeit umso mehr das Subjekt anspricht. Wittgensteinexperten wie James Conant und Stanley Cavell ist dies nicht unerkannt geblieben. Conant stellt in seiner komparatistischen Lektüre zwischen Kierkegaards Unwissenschaftlicher Nachschrift und Wittgensteins Tractatus eine ähnliche Strategie der beiden Autoren fest, dem Begründen von Wahrheitswerten in Propositionen mit der mystischen Geste des Zeigens und mit der Rede vom Schweigen zu entgehen. 70 Conant sieht zwar darin keine wirkliche Klärung, aber er hebt den rhetorischen Effekt dieser Geste hervor. Ebenso thematisiert ihn Stanley Cavell. Kierkegaard und Wittgenstein würden darin übereinkommen, so Cavell, die Grundfesten des Wissens ihrer Leser gerade im Motiv des Schweigens erschüttern zu wollen. Es stehe für ein enigmatisches und nicht-propositionales Fundament der Sinnvermittlung. Das Ziel beider Autoren sei, »to unmask its audience. […] And the effort to unmask requires a few masks or tricks of its own.« 71 »And in both writers the cure seems no cure. All we are given is the obvious, and the silence.« 72 Wenn Wittgenstein daher behauptet, es ginge ihm darum aufzuzeigen, was sich nur ›zeigen‹ lässt, dann ist dies ein Verweis auf ein Reales, ein nicht zu Repräsentierendes, das nie begriffen werden kann. Man könnte dann nahezu behaupten, dass derjenige, der Wittgenstein versteht, ihn gerade auch nicht verstehen darf. Wie wir bei Badiou sahen, liegt darin zum Teil die Urgeste des politischen Subed. A. Flew/A. McIntyre, London 1972, 131–143, der das Schweigen als mystische Betrachtungsform im Rückgriff auf Wittgenstein dem Wesen der Religion zuspricht. 70 Vgl. James Conant, Must We Show What we Cannot Say?, in: The Senses of Stanley Cavell, ed. R. Fleming et al., Lewisburg 1989, 242–283. 71 Stanley Cavell, Existentialism and Analytic Philosophy, in: Ders., Themes out of School. Effects and Causes, Chicago 1988, 195–234, hier 218. 72 Ebd., 220. Souveränität und Subversion

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jekts, das seine Wahrheit durch einen reinen Gehorsam der selbstreferentiellen Geste seiner Setzung (besser ›Erzwingung‹) – gegen das souveräne Recht neue Souveränität setzend – begründet. Wittgenstein behauptet zu Recht im Vorwort des Tractatus, dass sein Werk nicht eigentlich verstanden werden könne. Nur derjenige, dem dieselben Gedanken gekommen seien, sprich, der dieselbe ›Erzwingung‹ schon einmal durchdacht habe, könne ihn verstehen. 73 Der Tractatus tut bekanntlich, was nach seiner eigenen Geste nicht getan werden darf: von einer nicht durch die Sprache einzunehmenden Grenzbestimmung eines Denkens wie von einem Sprachaußerhalb das Sprachinnerhalb zu bestimmen. Das ist nur verstehbar, wenn man dem Denken zuspricht, einen souveränen Selbstgehorsam zu produzieren. Erst im Gehorsam baut sich hier die Referenz vom Ort einer exzessiven Subjektivität auf, die es ohne das Subjekt als neutralen Wahrheitswert nicht geben würde. 74 Die Rede vom Subjekt als ›Grenze‹ soll verdeutlichen, inwiefern der hyperbolische Sprachgestus des Tractatus wie von einem subjektlosen Nicht-Ort konstruiert wird, von einem Nicht-Ort, der dann glaubt auf die Welt als logische Tatsachenabbildung, als nahezu platonische Schau in Form von Propositionen der Naturwissenschaft eine Gesamtschau der Welt betreiben zu können, an deren Grenzen sich schließlich das Mystische zeigt. Badiou teilt dieselbe Geste in seiner Theorie des Ereignisses. Das Ereignis, das Wittgenstein zu etablieren gelang, als er seinen Tractatus begriffsbildend schrieb, denkt Badiou als politische Option einer Erzwingung politischer Verhältnisse aus einer Leerstelle des bisher Unvorstellbaren und Undenkbaren. Sie erfährt durch ein politisches Subjekt als Grenze der etablierten Doxa im Laufe ihrer generischen Entwicklung ihre retrospektive Legitimation. Nehmen wir abschließend noch einmal Bezug zur politischen Bedeutung unserer Ausführungen für Fragen politischer Souveränität. Beide Autoren, Badiou und Wittgenstein, sind von einem Handlungsakt der Grenzziehung fasziniert, sei es durch ein Axiom der Erzwingung oder durch ein Axiom der Begriffsbildung. Beide Philosophen antwor»Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.«, Wittgenstein, Tractatus, 9 (wie Anm. 44). 74 Vgl. zur Thematik von Normativität und exzessiver Subjektivität siehe auch: Dominik Finkelde, Excessive Subjectivity. Kant, Hegel, Lacan, and the Foundational Act of Ethics, New York 2015. 73

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ten bei unterschiedlichen Untersuchungsfeldern (politischer Kampf bei Badiou, die Strukturen sprachbedingter Lebenswelten bei Wittgenstein) auf den Umstand, dass die etablierten Gewissheiten der politischen oder lebensweltlich geprägten Doxa nie alles sind. Von dieser Gewissheit aus erscheint das Subjekt wie eine Schranke zu einer politischen (Un-)Möglichkeit. Indem Wittgenstein auf die Pluralität von Sprachspielen verweist, zeigt er, dass sich darin abspielende Verschiebungen – wie die oben erwähnte Metapher Wittgensteins von wechselnden Flußbetten ausdrückt – die Wirklichkeit mitbetreffen. Wenn die Welt jeweils die Welt meiner Sprache ist, dann verändert sich mit der Sprache die Welt ebenso. Fragen der Souveränität sind betroffen, weil Begriffsbildungen die Welt in ein neues Verhältnis ihrer Erklärungsstrukturen wie von einem nicht einnehmbaren und paranoid bleibenden Außenstandpunkt bringen können. Wittgenstein tritt mit seinem Tractatus selbst in der Geschichte der Philosophie hervor, indem er ein neues Denken gegen die Beweisbarkeit desselben Denkens in seinen Axiomen aufweist. Badiou fasziniert diese ›Paranoia‹. Er sieht darin die Geste einer politischen Wahrheitsgenese, die von einer Grenzziehung aus beginnen kann. Mit ihr drückt sich Badious Sehnsucht nach Durch- und Ausbrüchen aus, die etablierten Strukturen souveräner Staatsmacht zumindest theoretisch als durchbrechbar von dem neuen Axiom aus zu konzeptualisieren. Souverän ist daher, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Dies ist bei Badiou nicht, wie bei Carl Schmitt, der klassische Souverän, sondern ein Subjekt, das sich auf der Grenze der Souveränitätsmacht etabliert (und in dem Schmitt wohl nur einen neoromantischen Okkasionalisten wiedererkennen würde). Es versucht durch den Ausnahmezustand mit Hilfe einer neuen Universalität das etabliert Allgemeine gegen dessen angestammte Prämissen zu durchkreuzen. Das politische Subjekt muss sich zum Souverän über das Allgemeine deklarieren, wenn seine Tat als Instanziierung des Allgemeinen auf der Ebene des Partikulären von der Zukunft her die noch nicht beglückte Gegenwart in Form einer wittgensteinschen Begriffsbildung bereichern soll. Hierbei wird die Souveränität des Subjekts als Grenze, als ein Strukturmoment politischen Handelns deutlich, aber nicht in der Verwirklichung dessen, was Ethik als philosophische Disziplin normativ begründbarer Handlungen vorzuschreiben versucht, sondern in Form eines sich als souverän gebärdenden und im ethischen Akt verkörpernden Kontextbruches. Diesen verbürgt ein »Ich« (singulär oder kollektiv) in der Performanz seiner Tat. Souveränität und Subversion

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Das Durchbrechen des Zirkels der Angst. Für eine post-souveräne Exodus-Politik Andreas Hetzel

»Nur die Macht lässt sich befragen. Die Nicht-Macht ist die Frage selbst.« Edmond Jabés

Als absolute Macht, die für sich reklamiert, Gesetze geben zu können, denen sie selbst nicht untersteht, über den Ausnahmezustand zu befinden und damit selbst eine Ausnahme zu verkörpern, über Leben und Sterben zu entscheiden, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen, hat Souveränität keineswegs ausgedient. Ein Fortleben der Souveränität in der Spätmoderne wird vor allem in ihrer offensichtlichsten Wirkung deutlich: in einer Angst, über die sie sich zu reproduzieren sucht und in der große Teile der Weltbevölkerung nach wie vor leben. Diese Angst macht Subjekte aus uns allen, unterwirft und subalternisiert uns. Eine post-souveräne Politik, für die die biblische ExodusErzählung ein Vorbild liefern könnte, hätte sich zuallererst gegen diese Angst zu richten. Thomas Hobbes, dem wir unsere neuzeitliche Konzeption politischer Souveränität verdanken, geht in seiner Naturzustandslehre von einem Szenario wechselseitigen Misstrauens aus. Jeder schwebe im Naturzustand in der Gefahr, von jedem anderen verletzt oder gar getötet zu werden. Der darin implizierten Situation eines generalisierten Misstrauens lasse sich nur über einen Vertrag entkommen, der das Recht auf die Ausübung von Gewalt auf einen den Gesellschaftskörper transzendierenden, mit absoluten Befugnissen versehenen Souverän überträgt, der zugleich die Einhaltung dieses Vertrages bewachen wird. Erst das Gewaltmonopol dieser souveränen Instanz mache es möglich, dass wir unseren Mitmenschen vertrauen könnten. Dieses Modell ist insofern paradox, als es die Angst vor dem mir konkret begegnenden Anderen durch nichts anderes abzulösen vermag als durch eine (noch größere) Angst vor dem großen Anderen, dem Souverän. Soziale Integration kommt hier nur unter dem 242

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Das Durchbrechen des Zirkels der Angst

Schwert zustande, dadurch, dass wir uns einer Ordnung unterwerfen, deren Verbindlichkeit durch eine Drohung sanktioniert wird. Unter Souveränität verstehe ich weniger eine politische Wirklichkeit als einen Anspruch oder eine Anmaßung, die als solche aber sehr wohl geschichts- und wirklichkeitsmächtig werden kann. In diesem Sinne ist Souveränität auch und gerade in unserer vermeintlich liberalen und demokratischen Weltordnung kein Auslaufmodell. Sie zeigt sich überall dort, wo ein absoluter Herrschaftsanspruch dekretiert wird, etwa in den Entscheidungsstrukturen innerhalb der Vereinten Nationen. Jacques Derrida konnte darauf hinweisen, dass die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats ursprünglich identisch waren mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs; heute decken sie sich mit den größten Atommächten: Frankreich, Großbritannien, Russland, die USA und die Volksrepublik China. Im Zentrum der weltpolitischen Entscheidungsstrukturen herrscht also nach wie vor ein archaisches Recht des Stärkeren. 1 Gleiches gilt für die von China, Russland oder den USA beanspruchte globale Führungsrolle, aber auch für die EU, die an ihren Außengrenzen zur Zeit genau jene Gewalt exerziert, deren angebliche Überwindung als Kern der kulturellen Identität Europas ausgegeben wurde. Ein weiteres, mir aus eigener Anschauung sehr vertrautes Beispiel für das Fortleben von Souveränitätsansprüchen und -politiken wäre die Entwicklung, die die Türkei in den zurückliegenden zehn Jahren genommen hat. Unter dem Deckmantel der Demokratie hat sich ein populistisch-rechtskonservatives Regime etabliert, das eine Allianz von äußeren und inneren Feinden als Ursache dafür anführt, dass sich das türkische Volk nicht mit sich zu versöhnen vermag und von einer Spaltung bedroht wird. Die massiven Korruptionsbelege, mit denen sich die AKP-Regierung seit Dezember 2013 konfrontiert sieht, wurden im Rahmen eines sehr publikumswirksamen Sündenbock-Narrativs als Konstruktionen finsterer Mächte umgedeutet, die die Türkei um ihren ökonomischen Erfolg beneiden und den türkischen Volkskörper zu vergiften suchen. Diese Feinde, Verschwörer, 2 Angehörige eines Staates im Staat, einer Parallelstruktur, so die RheVgl. Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übers. v. H. Brühmann, Frankfurt a. M. 2003, 115. 2 Vgl. zur Bedeutung von Verschwörungstheorien für die Konstitution politischer Souveränität Maud Meyzaud, Der Platz der Verschwörung in der revolutionären Souveränitätstheorie, in: Dies., Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet, München 2012, 370–386. 1

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torik Erdogans, legitimieren dann einen Ausnahmezustand, den Einsatz äußerster Gewalt auf den Straßen, die Unterdrückung jeder Art von freier Meinungsäußerung sowie schließlich auch den Versuch der AKP-Regierung, sich gegenüber Exekutive und Judikative in eine souveräne Position zu begeben. Was ließe sich, so möchte ich in meinem Beitrag fragen, der sich heute überall neu formierenden Souveränität entgegenhalten, wie ließe sich ihr Anspruch als unberechtigt zurückweisen, wie ihrer Domäne entkommen? In Interviews beschreiben die Beteiligten an den Protesten, die zum Arabischen Frühling und zur Gezi-Bewegung führten, immer wieder einen entscheidenden Moment, von dem schwer zu sagen ist, ob er dem Besetzen der öffentlichen Plätze vorausging oder aus ihm folgte: das Durchbrechen jenes Zirkels der Angst, über den sich Souveränität reproduziert. Dieses Durchbrechen gelingt niemals über eine direkte Konfrontation, sondern nur über eine laterale Strategie des Sich-Ablösens, des Sich-Lossagens, des exits. Isabell Lorey hat vor diesem Hintergrund vorgeschlagen, die Geschehnisse im und nach dem Arabischen Frühling, in dessen weiteren Kontext auch die Gezi-Proteste fallen, ausgehend vom Narrativ des Exodus zu lesen. Die Besetzung der Plätze erfolgte weder im Namen westlich-repräsentativer Demokratievorstellungen, noch aus dem bloßen Zurückweisen der Machtansprüche von Dynastien und Eliten im Namen universaler Menschenrechte. Auf den Plätzen in Tunis, Kairo und Istanbul realisierte sich vielmehr bereits im Exodus eine präsentische Demokratie: »Die Besetzungsbewegungen bedeuten einen Exodus aus den beiden komplementären Figuren direkter und repräsentativer Demokratie, weil sie nicht-juridisch agieren und Demokratie präsentisch praktizieren. Das ist nichts Geringeres als ein Bruch mit der bestehenden Ordnung der ›westlichen‹ Demokratie. Der Exodus manifestiert sich auf dem zentralen öffentlichen Platz, in der Versammlung der Vielen und in dem Praktizieren neuer Lebensformen. Diese präsentische Bewegung ist Selbstorganisierung und Instituierung, eine demokratische konstituierende Macht, die nicht die alten Kämpfe um die Übernahme der Macht wiederholen will, sondern sich der juridischen Logik von Repräsentation und Souveränität zu entbinden sucht.« 3

Isabell Lorey, Reale Demokratie, in: Exodus, Reale Demokratie, Immanenz, Territorium, Maßlose Differenz, Biopolitik, Kognitives Kapital (Inventionen 2), hg. v. dies. et al., Zürich 2012, 42–47, hier 46 f.

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Ich nutze im Folgenden die Konzepte einer Exodus-Politik, wie sie sich in Michael Walzers, Paolo Virnos und Jacques Derridas Lektüren des biblischen Exodus-Mythos andeuten, um ausgehend von ihnen eine Perspektive der Subversion von Souveränität anzudeuten, mit der zugleich eine neue Form von angstfreier politischer Subjektwerdung einhergeht. Der Exodus bildet für alle drei Autoren das Modell für eine präsentische, innerweltliche Eschatologie, die den Auszug aus Ägypten im Sinne einer Ent-Unterwerfung deutet, einer Befreiung aus der Angst, die als Herrschaftsinstrument erkannt und entzaubert wird. Der Exodus besteht aus dieser Sicht in nichts anderem als in der Abkehr und Abwendung vom Zentrum der Macht, einem Stellungswechsel und der Konstitution eines neuen politischen Subjekts außerhalb des Einfluss- und Geltungsbereichs einer sich selbst als absolut definierenden Macht. Der Auszug Israels aus Ägypten wird von Walzer, Virno und Derrida nicht nur als Befreiung aus einem kontingenten historischen Herrschaftsverhältnis gelesen, sondern als Subversion von Souveränität überhaupt, oder, noch verkürzter, als Subversion schlechthin. Im Gang in die Wüste zeichne sich eine neue Idee politischer Integration ab, die nicht einfach die alten Knechte zu neuen Herren werden lässt, sondern sich an das Versprechen einer anarchischen Lebensform bindet. Im Folgenden werde ich zunächst Michael Walzers Versuch darstellen, den biblischen Exodus für ein säkulares, nicht-messianistisches Verständnis politischer Revolutionen zu nutzen (1). In einem zweiten Schritt diskutiere ich, wie Paolo Virno den Exodus als Vorbild für den Auszug aus einer spätkapitalistischen Lebens- und Wirtschaftsordnung verwendet, ein Projekt, das von Isabell Lorey wiederum in die Nähe eines politischen Konzepts der Sezession gerückt wird (2). Abschließend untersuche ich, wie sich Jacques Derrida um eine Rettung des messianischen Denkens bemüht, das er wesentlich als ein Denken der Wüste begreift (3).

1.

Jenseits des politischen Messianismus: Michael Walzers säkulare Exodus-Exegese

Aus der Sicht Michael Walzers erzählt das Zweite Buch Mose die Geschichte einer erfolgreichen Ent-Unterwerfung. Mit dem Gang in die Wüste etabliere sich eine Form des sozialen Bandes, die nicht länger durch das Schwert gestiftet wird. Als wesentliche »politische ErSouveränität und Subversion

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findung des Buches Exodus« beschreibt Walzer den »Bund«, 4 den er als freien Bund aller mit allen im Durchbrechen eines Zirkels der Angst charakterisiert, genauer vielleicht: eines Zirkels aus Angst, Einbildungskraft und freiwilliger Verknechtung, 5 der Israel über vier Jahrhunderte in der ägyptischen Sklaverei hielt. Das Buch Exodus erzählt die Geschichte derjenigen, die sich zu befreien vermochten und sich in dieser Befreiung als Volk formierten. Die Erzählung liefert also eine Erklärung für die Formierung eines politischen Subjekts, die ohne Pyramiden, Pharao und Versklavung auskommt. Es geht Walzer mit dieser These nicht um das reale, sondern um das biblische Ägypten, über das wir aus dem Zweiten Buch Mose nur so viel erfahren, dass es sich das Recht anmaßt, ganze Völker zu versklaven. Das Leben in Ägypten wird als ein Leben der Arbeit, des Mangels, aber auch und vor allem der Herrschaft charakterisiert: »Und es geschah während jener vielen Tage, da starb der König von Ägypten; und die Kinder Israel seufzten wegen des Dienstes und schrien; und ihr Geschrei wegen des Dienstes stieg hinauf zu Gott« (Ex 2,6), der die Klagen vernimmt: »Und Jehova sprach: Gesehen habe ich das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, und sein Geschrei wegen seiner Treiber habe ich gehört; denn ich kenne seine Schmerzen.« (Ex 3,7). In seinem 1985 im amerikanischen Original erschienenen Exodus and Revolution konstruiert Walzer einen Gegensatz von ›Exodus-Politik‹ und ›politischem Messianismus‹, wobei er die ExodusPolitik mit einem horizontalen und den Messianismus mit einem vertikalen Verständnis von Revolutionen assoziiert. Während der biblische Exodus-Mythos einen innerweltlichen Stellungswechsel und eine damit verbundene Subversion von Herrschaftsordnungen beschreibe, begreife der politische Messianismus die Revolution als eine einmalige, »unumkehrbare und endgültige Umwandlung der politischen Welt« 6 , eine Befreiung von der Last der Praxis und der Geschichte, die in der Exodus-Erzählung durch die Jahre in der Wüste versinnbildlicht werde. Der politische Messianismus, den Walzer Michael Walzer, Exodus und Revolution, übers. v. B. Rullkötter, Frankfurt a. M. 1998, 83. 5 Vgl. hierzu Andreas Hetzel, »Niemand zu eigen«. Zur Rolle der Einbildungskraft in den Subjektivierungstheorien von La Boétie, Vico und Lacan, in: Das politische Imaginäre. Freiheit und Gesetz V, hg. v. F. Trautmann, Köln 2015 (im Erscheinen). 6 Walzer, Exodus und Revolution, 25 (wie Anm. 4). Die Übersetzung ist hier wie im Folgenden ausgehend vom Original modifiziert. 4

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auch als »die große Versuchung« 7 der Politik des Abendlandes bezeichnet, definiert politische Auseinandersetzungen demgegenüber in theologischen Begriffen, er konstruiert ›Achsen des Bösen‹, macht den Gegner zum Satan. Aufmerksam geworden ist Walzer auf die Exodus-Erzählung bereits in den 1960er Jahren im Kontext der Civil-Rights-Movements. Er findet sie dann an vielen Orten in der Geschichte wieder, so etwa im Protestantismus (Calvin), in der Puritanischen Revolution, in den Dokumenten der ersten Immigrants, im europäischen Sozialismus, in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und schließlich bei postmarxistischen Autoren wie Ernst Bloch. Zugleich macht Walzer darauf aufmerksam, welche Revolutionen sich dezidiert nicht auf diese Erzählung berufen, zuallererst die Französische, die eher auf messianistische Konzepte zurückgreift, welche den Jacobinismus vorbereiten. Dass sich die Walzers Text strukturierende Dichotomie von Exodus-Politik und Messianismus nicht immer strikt aufrechterhalten lässt, ist dem Autor selbst bewusst, da sich in der Geschichte auch immer wieder messianistische Bewegungen ausfindig machen lassen, die explizit auf den Exodus-Mythos rekurrieren. Walzer erwähnt hier etwa die Kreuzfahrer im Mittelalter, die protoprotestantisch-fundamentalistische Bewegung Savonarolas im Florenz der Renaissance und den messianisch ausgerichteten Zionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass er an so vielen unterschiedlichen Orten in der Geschichte als Referenzmythos dienen konnte, hat gerade nichts damit zu tun, dass dieser Mythos, um eine Unterscheidung von Hans Blumenberg zu bemühen, als Legitimationserzählung verstanden werden könnte, sondern verweist eher auf seinen Charakter als Transformationserzählung. Einerseits ist der Exodus eine Geschichte, die »oft wiedererzählt werden« 8 kann und bei jeder Aktualisierung immer wieder anderes bewirkt, andererseits aber auch »eine Geschichte, die es möglich machte, andere Geschichten zu erzählen« 9 . zu einem Vorbild zu werden, das die Gestalt des Nachbilds nicht eindeutig festlegt. Walzer liest die Exodus-Erzählung als eine offene und vor allem säkulare Erzählung: »Der Exodus ist ein Bericht von Rettung oder Befreiung, ausgedrückt durch religiöse Begriffe – aber er ist auch ein säkularer, 7 8 9

Ebd., 135. Ebd., 14. Ebd., 17.

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das heißt ein diesseitiger, innerweltlicher und historischer Bericht […], in dem Wunder zwar auch eine Rolle spielen, der jedoch, für sich betrachtet, nicht ›wunderbar‹ ist.« 10 Im Zuge seiner Lektüre betont Walzer mehrfach, dass die Israeliten nicht durch eine höhere Macht aus Ägypten befreit wurden, sondern sich selbst befreit haben, aus eigenem Entschluss und eigener Kraft aufgebrochen sind. Die Vorstellung eines Erlösergottes taucht erst ausgehend vom politisch-sozialen Ereignis der Flucht aus der ägyptischen Gefangenschaft auf und nicht umgekehrt. Dass Gott nicht als Ausgangs- und Zielpunkt einer politischen Bewegung verstanden werden kann, wird in der narrativen Struktur des Mythos gespiegelt, in seiner Linearität, die ihn von den zyklischen Modellen des griechischen Mythos und Epos abhebt. Die ewige Wiederkehr des Gleichen im griechischen Mythos verankert eine soziale Wirklichkeit in einer kosmischen Ordnung und verleugnet damit die Politik. Unterdrückung und Herrschaft, so lautet dagegen für Walzer die zentrale Botschaft der Exodus-Erzählung, sind nicht in gleicher Weise unvermeidbar »wie herbstliche Vergänglichkeit und winterlicher Tod« 11 . Im Gegensatz zur homerischen Odyssee gibt es im Exodus keinen oikos, an den ein in der Fremde gereifter Held zurückkehren würde. Auch die Form der Subjektivierung ist eine andere; nicht die des Helden eines Bildungsromans, der sich in der Überwindung feindlicher Mächte selbst erhält und steigert, sondern die der Entstehung eines Volkes als eines politischen Kollektivs Freier und Gleicher. Der Exodus kehrt eine unterwerfende Subjektivierung um. »Die Sklaven«, zu denen die Israeliten in Ägypten wurden, »verinnerlichten ihre eigene ›zermalmte Identität‹« 12 . Zu einem Volk im politischen Sinne wird Israel erst wieder, wenn es ihm gelingt, die internalisierte Versklavung bewusst abzulegen. In diesem Sinne ist der Exodus ein ent-unterwerfender »Marsch auf ein Ziel zu, ein moralischer Fortschritt, eine tiefgreifende Verwandlung« 13 . Walzer charakterisiert ihn auch als »buchstäbliche Bewegung« 14 , die er näherhin als »Bewegung von einem politischen Regime zu einem anderen« 15 10 11 12 13 14 15

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Ebd., 19. Ebd., 24. Ebd., 51. Ebd., 21. Ebd., 24. Ebd.

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beschreibt. Neben dem Stellungswechsel impliziert der Exodus vor allem einen Wechsel in einer Herrschaftsordnung, er redefiniert seine Ausgangsbedingungen, hat also auch Folgen für Ägypten, den Inbegriff einer theologisch fundierten politischen Souveränität. Das Gegenmodell der Exodus-Politik wäre für Walzer, wie bereits angedeutet, ein Messianismus, der politische Revolutionen als Übergang in eine vollständig mit sich versöhnte und von allen Widersprüchen befreite Gesellschaft versteht. Hinter dem Messianismus wittert er die Gefahr einer Gesinnungspolitik, die auch äußerste Gewalt in Kauf zu nehmen bereit ist. 16 Zugleich betont er allerdings immer wieder, dass der Messianismus selbst aus dem Exodus-Mythos hervorgeht: »Der Exodus ist ein Vorbild für messianisches und chiliastisches Denken und auch eine stetige Alternative dazu – ein weltlicher und historischer Bericht von ›Erlösung‹« 17 . Der politische Messianismus begreift die Geschichte als Last, von der wir uns zu befreien hätten. Walzer hält uns demgegenüber dazu an, den Gang durch die Wüste auf uns zu nehmen, uns nicht vom Murren angesichts der Krisen und Nöte während des Marsches zu radikalen Lösungen verlocken, nach Sündenböcken für unsere Entbehrungen sowie nach goldenen Kälbern suchen zu lassen. Die von Walzer vorgeschlagene Exodus-Politik analysiert und beantwortet ein konkretes Übel (Israels Fronknechtschaft in Ägypten), sie verspricht dagegen nicht das volle und ungeteilte Glück aller im Hier und Jetzt. Ausgehend von Walzer ließe sich die Exodus-Erzählung nicht nur als die Geschichte des Auszugs, sondern auch als diejenige des Werdens eines Volkes im Sinne eines nicht länger fremdbestimmten politischen Subjekts interpretieren. In Ägypten wurde Israel sich selbst zu wenig mehr als einer Erinnerung. In der Wüste, nach dem Auszug, konstituiert sich das Volk erst wieder, etwa dadurch, dass es sich, angeleitet von Mose, 18 Gesetze gibt, einen Glauben, eine Ethik und ein Recht: Vgl. hierzu Andreas Hetzel, Vom Radikalismus zum Realismus? Michael Walzer und Raymond Geuss über Grenzen unbedingter Ansprüche in der Politischen Theorie, in: Bedingungslos? Zum Gewaltpotenzial unbedingter Ansprüche im Kontext politischer Theorie, hg. v. M. Staudigl/B. Liebsch, Baden-Baden 2014, 315–334. 17 Walzer, Exodus und Revolution, 17 (wie Anm. 4). 18 Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Freud-Studienausgabe, Bd. IX, hg. v. A. Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1974, 455–581, liest die Figur Mose als Beleg dafür, dass sich mit dem Exodus doch wieder neue Führungsstrukturen ausbilden – eine These, 16

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»Du aber ersieh dir aus dem ganzen Volke tüchtige, gottesfürchtige Männer, Männer der Wahrheit, die den ungerechten Gewinn hassen, und setze sie über sie: Oberste über tausend, Oberste über hundert, Oberste über fünfzig und Oberste über zehn, daß sie das Volk richten zu aller Zeit; und es geschehe, daß sie jede große Sache vor dich bringen und daß sie jede kleine Sache selbst richten; so erleichtere es dir, und sie mögen mit dir tragen.« (Ex 18,21–22).

Das Volk, als das sich Israel im Auszug aus Ägypten formiert, hat vor allem eine Furcht zu überwinden, eine Furcht vor der Freiheit, die es immer wieder zurückblicken lässt, sich zurücksehnen nach der vermeintlichen Sicherheit Ägyptens, nach den Fleischtöpfen und der Knechtschaft. Das Überwinden der Furcht ist also zugleich ein Überwinden der Sehnsucht nach einem Souverän. Damit gewinnt das Volk eine andere Souveränität, die man vielleicht im Anschluss an Georges Bataille 19 als Souveränität eines Sich-aufs-Spiel-Setzen-Könnens beschreiben könnte, als ein Leben, das sich nicht länger dem Primat der Selbsterhaltung (und damit der Angst) unterstellt, das mit jedem Herrschen und Beherrschtwerden bricht. Als politische Entsprechung dieser batailleschen Souveränität bietet uns Jean-Luc Nancy das Konzept einer Gemeinschaft an, die kein Werk (im Sinne des neuzeitlichen Kontraktualismus, der die Gemeinschaft als Resultat eines Vertragsschlusses von Individuen deutet, die vor und unabhängig von der Gemeinschaft existieren) wäre, sondern die Entsprechung negativer Gesten, deren erste die Zurückweisung aller Unterwerfungsverhältnisse wäre. Die entwerkte Gemeinschaft formiert sich im und als »Jenseits der Unterjochung unter eine techno-politische Herrschaft« 20 , für die in der Erzählung Ägypten steht. Das Zweite Buch Mose thematisiert vor allem eine Ökonomie der Furcht. Es erzählt zunächst, wie der Pharao das Fürchten lernen soll, sich der (Gottes-)Furcht allerdings zunächst verweigert, da er sich selbst für einen Gott hält. Komplementär dazu soll das Volk Israels lernen, sich nicht zu fürchten, verweigert sich der ihm zugedachten Lektion aber ebenfalls, zumindest anfänglich; es muss die Furchtlosigkeit erst einüben, lässt sich immer wieder zu ihr auffordern: die dann von Lacan mit seiner Behauptung beerbt wird, dass wir dem ›großen Anderen‹ nicht entkommen können. 19 Vgl. Georges Bataille, Die Souveränität, in: Ders., Die psychologische Struktur des Faschismus, hg. v. E. Lenk, übers. v. R. Bischof, München 1997, 45–86. 20 Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, übers. v. G. Febel/J. Legueil, Stuttgart 1988, 12.

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»Und Mose sprach zu dem Volke: Fürchtet euch nicht! Stehet und sehet die Rettung Jehovas, die er euch heute schaffen wird; denn die Ägypter, die ihr heute sehet, die werdet ihr hinfort nicht mehr sehen ewiglich.« (Ex 14,13). Das Volk vereint sich nicht in der gemeinsamen Angst vor dem Schwert des Souveräns, die es internalisiert, sondern dadurch, dass es lernt, sich nicht länger nach dem Schwert zu sehnen, dass es beginnt, seine Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, aus seinen eigenen Reihen Richter zu wählen, deren Amt nicht erblich ist. Gott lässt sich im Kontext dieser Erzählung nicht auf einen politischen Souverän oder als Vorbild beziehungsweise Legitimationsinstanz für einen solchen reduzieren. Die Gottesherrschaft oder ›Theokratie‹ 21 des Zeitraums, der durch das Zweite Buch Mose eröffnet und durch das Buch Richter beschlossen wird, besagt nichts anderes, als dass, wie Martin Buber, auf den sich Walzer immer wieder bezieht, schreibt, »kein Mensch König der Söhne Israels heißen«, 22 mithin kein Mensch über einen anderen Menschen herrschen soll. »JHWH«, so Buber weiter, »will nicht, wie die anderen Königsgötter, Oberherr oder Bürge eines menschlichen Monarchen sein« 23 . Gegen Freud, der Mose als Verkörperung der Sehnsucht nach einer autoritativen Vaterfigur liest, betont Buber, dass der »aus Ägypten wandernde Verband halbnomadischer Stämme seinen menschlichen Führer nicht zum Melekh erhob«, 24 ihn nicht als König einsetzte. Den Bund der Israeliten mit Gott deutet Buber insofern auch nicht als Unterwerfungsvertrag im Sinne der hobbesschen Souveränitätskonzeption, sondern als politischen Ausdruck der »Unbändigkeit der menschlichen Person, des Triebs des Menschen, vom Menschen unabhängig zu sein« 25 . Nur einer oberflächlichen Lektüre könnte Jehova selbst also als Souverän erscheinen, der Gesetze erlässt, straft, tötet und begnadigt. Seine Herrschaft scheint gänzlich anderer Art zu sein als die des Pharao, er unterwirft nicht, sondern befreit, er will nicht gefürchtet werden, sondern Furcht nehmen. In Lev 25,38 erklärt sich dieser Gott seinem Volk als Gott der Befreiung: »Ich bin Jehova, euer Gott, der ich euch aus dem Lande Ägypten herausgeführt habe, um Vgl. Martin Buber, Um die Theokratie, in: Ders., Königtum Gottes, Heidelberg 1956, 115–149. 22 Ebd., 115. 23 Ebd. 24 Ebd., 117. 25 Ebd., 118. 21 3

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euch das Land Kanaan zu geben, um euer Gott zu sein.« Und wenig später: »Ich bin Jehova, euer Gott, der ich euch aus dem Lande Ägypten herausgeführt habe, daß ihr nicht ihre Knechte sein solltet; und ich habe die Stäbe eures Joches zerbrochen und euch aufrecht wandeln lassen.« (Lev 26,13) Ausgehend von dieser Selbstoffenbarung wäre der Gott, der den Weg aus der Gefangenschaft als Wolken- und Feuersäule anführt, als die Apotheose genau jener Befreiung zu fassen, in und mit der sich ein Volk, das sich als niemandes Knecht definiert, erst bildet. Die Überwindung der Knechtschaft, die mit dem Zug in die Wüste beginnt, bezieht sich nicht nur auf die eigene Knechtschaft Israels. Walzer weist mehrfach auf Stellen hin, die das gelobte Land als »Land ohne Unterdrückung« 26 charakterisieren, so auf das mehrfach ausgesprochene Gebot, dass Israel nicht die Fremdlinge bedrücken soll, da es in Ägypten selbst Fremdling war. »In dem neuen Jerusalem«, so Walzer, »wird es keine brutalen Fronvögte geben, welche die Erzeugnisse des Volkes an sich reißen.« 27 Er zitiert Jes 65,22 f.: »Und das Werk ihrer Hände wird alt werden bei meinen Auserwählten. Sie sollen nicht umsonst arbeiten.« Das verheißene Land ist nicht nur ein Land ohne Unterdrückung, sondern auch ein Land, in dem das Leben niemals vollständig vom Mangel und von der Arbeit diktiert werden wird. In diese Richtung zielen etwa das mehrfach ausgesprochene Gebot der Sabbat-Ruhe, sowie die Aufforderungen, das Land in periodischen Abständen brach liegen zu lassen, die Bäume in Abständen von sieben Jahren nicht zu beernten etc. Der Sabbat unterscheidet das Leben Israels vom bloßen Überleben. Walzer betont, dass uns die Exodus-Erzählung eine positive und eine negative Gleichheitslehre anbiete: »Die Verheißung von Milch und Honig zieht so etwas wie eine negative Gleichheitslehre nach sich: Sie richtet sich gegen die maßlose Ungleichheit von Tyrann und Untertan, Fronvogt und Sklave. Die zweite Verheißung zielt auf positive Gleichheit ab: In Gottes Königreich werden alle Hebräer Priester und das Volk als Ganzes wird heilig sein. Deshalb war die Einrichtung des levitischen Priestertums nach ›der Sünde des Volkes mit dem Kalb‹ eine Niederlage für das revolutionäre Trachten.« 28

26 27 28

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Walzer, Exodus und Revolution, 112 (wie Anm. 4). Ebd., 113. Ebd., 117.

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Überall dort, wo sich die Angst wieder geltend macht – das goldene Kalb wird errichtet, weil sich das Volk von Mose, der über einen langen Zeitraum auf dem Berg Sinai bleibt, verlassen fühlt –, stellen sich auch soziale Hierarchien wieder ein. Das Gegenmodell der Exodus-Politik bildet für Walzer, wie bereits betont, ein Messianismus, der Revolution im Sinne einer »einmaligen und endgültigen Umwandlung der politischen Welt« 29 interpretiert. Zugleich betont Walzer allerdings auch immer wieder, dass der Messianismus selbst aus dem Exodus-Mythos hervorgeht: »Der Exodus ist ein Vorbild für messianisches und chiliastisches Denken und auch eine stetige Alternative dazu« 30 . Der politische Messianismus wird »gerade durch die vermeintliche Endlosigkeit des Ganges durch die Wüste« 31 motiviert. Messianisten begreifen die Geschichte als Last, von der wir uns befreien müssen. Walzer hält uns demgegenüber dazu an, den Gang durch die Wüste im Sinne eines politischen Realismus auf uns zu nehmen, uns nicht vom Murren in der Wüste, das immer wieder die bereits überwundene Angst vor der Führungslosigkeit zu restituieren droht, zu radikalen Lösungen verlocken und nach Sündenböcken für unsere Entbehrungen suchen zu lassen.

2.

Auszug aus den Fabriken: Paolo Virnos Aktualisierung der Exodus-Erzählung

In seinem 1996 veröffentlichten Aufsatz Virtuosity and Revolution. The Political Theory of Exodus macht der italienische Philosoph Paolo Virno vom Exodus-Mythos einen ähnlichen Gebrauch wie Walzer. Virno geht zunächst auf die marxsche These ein, dass jedes Kapitalverhältnis auf der Gewalt einer ursprünglichen Akkumulation beruhe. Von den Klassikern der politischen Ökonomie werde die Entstehung sozialer Ungleichheit, die Spaltung der Menschheit in Arbeitgeber und Arbeitnehmer, naturalisiert. Durch Leistung, Fleiß und Risikobereitschaft eignen sich bereits im Naturzustand die einen Menschen bestimmte Produktionsmittel wie etwa die Böden an, die es ihnen erlauben, alle anderen Menschen, denen diese Produktions29 30 31

Ebd., 25. Ebd., 26. Ebd., 135.

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mittel dann fehlen, für sich arbeiten zu lassen. Die Arbeitskraft wird für die Unternehmer zu einer Ware, mit deren Hilfe sie andere Waren produzieren oder veredeln, kurz: in Kapital verwandeln können. Das Kapitalverhältnis wird von Klassikern der Ökonomik als ein Rechtsverhältnis unter Freien und Gleichen konzipiert, die sich auf einem Markt begegnen. Einer bietet seine Arbeitskraft an, ein anderer kauft sie vollkommen legal ein, um mit ihrer Hilfe Mehrwert zu produzieren. Marx weist nun nach, dass dieses Kapitalverhältnis in Wirklichkeit ein Ausbeutungsverhältnis ist. Er beschreibt die »ursprüngliche Akkumulation«, die erste Inbesitznahme der Produktionsmittel durch die Kapitalisten, als gewaltsamen Akt, als einen »historischen Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel« 32 . Damit der eine gezwungen wird, seine Arbeitskraft an den anderen zu verkaufen, muss ihm bereits Gewalt zugefügt worden sein, muss er bestimmter Produktionsmittel, die ihm natürlicherweise zukämen, beraubt worden sein. Das geschah vor allem durch Enteignung des Landes sowie durch Überführung von Gemeindeland, das sich vormals mehrere Bauern teilten, in den Besitz von Fürsten. In Europa begann dieser Prozess am Ende des 15. Jahrhunderts, als die Fürsten in England die alteingesessenen Bauern von ihren Äckern vertrieben, welche sie dann, verlockt durch sprunghaft angestiegene Wollpreise, in Weideland für Schafe umgewandelt haben. 33 Die ursprüngliche Akkumulation war also nichts anderes als ein organisierter Raub, eine Umverteilung nach oben, die zugleich einen subjektivierenden Effekt hatte: Sie bringt die Proletarier als subalternisierte Klasse hervor. Aus der Sicht des Liberalismus begegnen sich die Arbeitnehmer »und die Geldbesitzer auf dem Markt und treten in Verhältnis zueinander als ebenbürtige Warenbesitzer, nur dadurch unterschieden, daß der eine Käufer ist, der andere Verkäufer, beide also juristisch gleiche Personen sind« 34 . Unterstellt wird dabei eine Freiheit und Autonomie, die die Arbeitnehmer de facto nie hatten. Das KapitalKarl Marx/Friedrich Engels, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie I,1, Der Produktionsprozeß des Kapitals, in: Werke, Bd. XXIII, hg. v. Institut für MarxismusLeninismus, Berlin 1962, 742. 33 Diese Entwicklung wurde bereits im ersten Teil der 1516 erschienenen Utopia des Thomas Morus skandalisiert, im Werk eines Autors, den Marx als einen der Gründerväter des neuzeitlichen Sozialismus begreift. Vgl. Thomas Morus, Utopia, übers. v. J. Laager, Zürich 2004. 34 Marx/Engels, Das Kapital, 182 (wie Anm. 32). 32

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verhältnis ist insofern für Marx ein sich selbst als gewaltfrei verkennendes Gewaltverhältnis und damit der Inbegriff von Ideologie: »Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint ›ursprünglich‹, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet.« 35 Während die politische Ökonomie das Kapitalverhältnis als Rechtsverhältnis zu mystifizieren sucht, spielen in der »wirklichen Geschichte […] bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle.« 36 Marx unterstreicht dies durch eine Beobachtung, die für Virnos Interesse am Exodus zentral wird. Industrialisierung und Kapitalismus haben sich, so Marx, in den USA erst deshalb mit einiger Verspätung durchsetzen können, weil sich den Arbeitern hier über einen langen Zeitraum eine Alternative bot: Sie konnten aus den Fabriken an der Ostküste fliehen und nach Westen ziehen, um sich dort wieder eigene Produktionsmittel (unbebautes Land) anzueignen. Die »beständige Verwandlung der Lohnarbeiter in unabhängige Produzenten« 37 wirkte sich sehr ungünstig auf die Möglichkeit des Kapitalismus in Amerika aus. Erst als alles fruchtbare Land im Westen vergeben war, mussten die Neuankömmlinge aus Europa in den Fabriken an der Ostküste bleiben. 38 Den ersten Arbeitern bot sich dagegen zunächst noch die Möglichkeit eines Exodus. Was dem Kapitalismus in Amerika entgegenstand, war also die Möglichkeit der Desertion, des Auszugs in die Wüste, der in Amerika ebenfalls auf die Mythologeme der Exodus-Erzählung rekurriert. Virno spricht mit Marx von einer »massenhaften Flucht aus der Arbeit unter dem Lohnherrn« 39 . In den 1960ern und 1970ern sieht Virno in Italien eine vergleichbare Bewegung. Viele Jugendliche ziehen der normalen Erwerbsbiografie das Prekariat vor und bilden eine Multitude, einen öffentlichen Intellekt. Virno spricht von einem ›Paradigma der Desertion‹, einer ›Strategie der Flucht‹, einer ›Kultur des Abfallens‹, einem

Ebd., 742. Ebd. 37 Ebd., 797. 38 Vgl. Paolo Virno, Exodus, hg. und übers. v. K. Neundlinger/G. Raunig, Wien 2010, 23–30. 39 Ebd., 25. 35 36

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›Nomadismus‹ 40 und einer Option des ›exit‹, von Formen einer verräumlichenden Subversion, die das Zentrum der Souveränität entsetzen: »Ungehorsam und Flucht sind jedoch keine negativen Gesten, die uns dem Handeln und der Verantwortlichkeit entheben. Im Gegenteil. Desertieren heißt, die Bedingungen zu verändern, unter denen sich ein Konflikt entfaltet, anstatt sich ihnen zu unterwerfen.« 41 Diese Bedingungen beziehen sich vor allem auf die Zuweisung von Subjektpositionen, auf die Erzeugung von Angst und einer ihr korrespondierenden Subalternität. Virnos Arbeiten haben Isabell Lorey dazu angeregt, den Exodus als Leitmetapher für eine politische Strategie des »immanenten Auszugs« zu verwenden, für das »Betreten eines Außerhalb von Machtverhältnissen« 42 , aus dem das Subjekt dieses Auszugs erst hervorgeht. Ihren Ausgangspunkt bilden Michel Foucaults 43 und Jacques Rancières 44 Überlegungen zu den Plebejern in der Römischen Republik, die sich über eine ausweichende Bewegung der Sezession als politisches Subjekt konstituierten. Die Plebejer geraten um 495 v. Chr. in eine immer größere ökonomische Abhängigkeit von den Patriziern, sodass ihnen die Schuldknechtschaft droht. Statt ihre Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen, »verweigern« sich die Plebejer und »ziehen, so Livius, ›ohne Befehl der Konsuln auf den Heiligen Berg‹ aus, auf einen Berg, der jenseits der Grenzen Roms und damit jenseits des Einflussgebietes der patrizischen Machthaber liegt. Dieser Auszug aus Rom stellt die erste Sezession der Plebejer dar.« 45 Wie der Exodus beschreibt also auch die Sezession einen Stellungswechsel, der ein Souveränitätsgefüge subvertiert: »Die Strategie der Plebejer, mit einer Sezession für ihre politischen, ökonomischen und rechtlichen Ziele zu kämpfen, bleibt bis heute äußerst unDas Konzept eines nomadischen Denkens übernimmt Virno von Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin 1992, 481–586. 41 Virno, Exodus, 30 (wie Anm. 38). 42 Isabell Lorey, Versuch, das Plebejische zu denken. Exodus und Konstituierung als Kritik, April 2008, http://eipcp.net/transversal/0808/lorey/de (zuletzt geprüft am 24. 9. 2014; A. H.). 43 Vgl. Michel Foucault, »Mächte und Strategien«. Gespräch mit Jacques Rancière für Les Révoltes logiques, Winter 1977, in: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. III (1976–1979), hg. v. D. Defert, übers. v. M. Bischoff, Frankfurt a. M. 2003, 538–550, hier 542. 44 Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. v. R. Steurer, Frankfurt a. M. 2002, 35 ff. 45 Lorey, Versuch, das Plebejische zu denken (wie Anm. 42). 40

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gewöhnlich. In den vorhandenen Quellen sind keine Anzeichen dahingehend zu finden, dass es sich um einen Bürgerkrieg gehandelt haben könnte, noch überhaupt um einen einzigen bewaffneten Kampf zwischen patrizischen und plebejischen Männern. Der Kampf gegen die patrizische Vorherrschaft besteht zunächst ausschließlich in Ungehorsam. Es handelt sich um eine Gehorsamsverweigerung in militärischer wie politischer Hinsicht, eine Aufkündigung der Akzeptanz der begrenzenden patrizischen Macht.« 46

Ihr Auszug verkörpert »das Ablehnen der Akzeptabilität, der Selbstverständlichkeit von Regierungsweisen« 47 . Im Auszug ermächtigen sich die Plebejer selbst und bleiben dabei, wie die Protagonisten des biblischen Exodus, ohne Führer. Genau diese Geste begreift Lorey, wie eingangs betont, als eine Art Urbild von Formen präsentischer Demokratie, wie sie sich auch im Zuge des Arabischen Frühlings und der Occupy-Bewegungen zeigen.

3.

Durch die Wüste: Derridas Dekonstruktion als Exodus-Politik

Gegen Walzer ließe sich fragen, ob wir nicht auch den Messianismus säkularer lesen könnten, etwa im Sinne einer präsentischen Eschatologie, die sich mit einem berühmten Zitat Franz Kafkas wie folgt charakterisieren ließe: »Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird«, 48 d. h. wenn die Menschen ihre Welt bereits selbst von jeder Herrschaft befreit haben werden. Im Sinne der bei Kafka anklingenden präsentischen Eschatologie formuliert Jacques Derrida einen politischen Messianismus, in dessen Zentrum das Motiv der Wüste steht, das uns aus der Exodus-Erzählung vertraut ist. Eine mehr als kontingente Rolle spielt der Exodus bereits für Derridas Verfahren einer Dekonstruktion, das sich zuvörderst als Herrschaftskritik im Medium philosophischer Begriffe lesen lässt. Die Dekonstruktion versteht sich von Anfang an auch als Dekonstruktion einer souveränitätstheoretischen Konfiguration aus Politik Ebd. Ebd. 48 Franz Kafka, Oktavheft G, in: Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. II, hg. v. J. Born et al., Frankfurt a. M. 1992, 56. Vgl. dazu Mirjam Wenzel, Vom Warten und der Gewalt des Kommenden – der Messias in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Jüdisches Museum Berlin Journal 9/2013, 22–26. 46 47

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und Theologie. In einem Text aus dem Jahr 1964, Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch, deutet sich dabei eine Art verschobene Religion oder Exodus-Religion an, die Idee eines gebrochenen Gottes, eines ewigen Umwegs und Exils, über die sich Derrida auf die jüdische Tradition bezieht. Der Jude, so Derrida, wurde »nicht hier, sondern dort geboren«; er »irrt« und bleibt »von seiner wahren Geburt getrennt«; er ist »allein aus der Sprache und der Schrift, aus dem Gesetz selbst hervorgewachsen«. 49 Doch das Gesetz weist von Anfang an einen Bruch auf, eine Unbestimmtheitsstelle. Aus dem Mangel des Gesetzes geht die Schrift in ihrer verräumlichenden, jede Fülle und Präsenz subvertierenden Kraft hervor, die sich von allen Ursprüngen unendlich entfernt hat und sie spaltet. Sie entgründet alle Kultur, alles Soziale und alle Konfigurationen politischer Herrschaft: »Zwischen den Bruchstücken der zerbrochenen Tafel«, so schreibt Derrida im Anschluss an Jabès, »wächst das Gedicht und fasst das Recht zur Rede Wurzel. Damit hebt das Abenteuer des Textes als vogelfreies Unkraut wieder an, weit von ›der Heimat der Juden‹ entfernt, die ›ein heiliger Text inmitten der Kommentare ist‹«. 50 Derridas ursprungslose Schrift legt nicht, wie der Hymnus der negativen Theologie, Zeugnis von ihrer Unangemessenheit an Gott und damit indirekt von Gottes Macht und Größe ab, sondern von der Unmöglichkeit Gottes, von seiner konstitutiven Gespaltenheit: »Der Bruch der Tafeln bezeichnet zunächst den Bruch in Gott als dem Ursprung der Geschichte.« 51 Die Schrift beschreibt einen ›unendlichen Umweg‹, der uns immer schon von allen Ursprüngen getrennt hat. »Dieser Weg, dem keine Wahrheit vorangeht, um ihm seine Geradheit vorzuschreiben, ist der Weg in die Wüste. Die Schrift ist das Moment der Wüste als Moment der Trennung.« 52 Derridas Religion legitimiert keine politische Ordnung, sondern stellt den Exodus, das Werden einer jeden Ordnung, auf Dauer, sie beschreibt einen Weg durch eine Wüste ohne die Vision eines gelobten Landes. Zusammenfassend: »Jude wäre ein anderer Name für diese Unmöglichkeit, ein Selbst zu sein.« 53 In einem späten Text, Glaube und Wissen, führt Derrida seine dekonstruktive Subversion aller Versuche einer fundationalistischen Jacques Derrida, Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, übers. v. R. Gasché, Frankfurt a. M. 1976, 102–120, hier 105. 50 Ebd. 51 Ebd., 106. 52 Ebd., 107. 53 Ebd., 116. 49

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politischen Theologie fort. Er bringt hier noch einmal die Anfangsfiguration der Dekonstruktion ins Spiel, das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Schrift, indem er zeigt, dass Religionen einerseits vorgeben, auf einen exorbitanten, vorbegrifflichen und transdiskursiven Seinsbereich zugreifen zu können, auf eine einmalige und absolute Präsenz; gleichzeitig müssen sie sich, um diesen Anspruch artikulieren und kommunizieren zu können, bestimmter Teletechniken bedienen, von der Schrift bis zum Internet. Derridas Kritik zielt dabei vor allem auf die institutionalisierten monotheistischen Religionen, die Religionen des Vaters. Der monotheistische »Diskurs über die Religion« verweist für ihn auf einen »Diskurs über das Heil, das Heile, Gesunde, Heilige, Weihevolle, Geborgene, Unversehrte, Immune« 54 und damit zugleich auf das Gegenteil des Heilen, auf das Böse und Verfemte. Jede soziale Bindung im Namen der Religion wird um den Preis einer Exklusion anderer erkauft. In der Religion geht der Glaube ein Bündnis mit dem Wissen, der Macht und der Technik ein. 55 Die Religion funktioniert wie eine Maschine oder ein Herrschaftsinstrument. »Über ›Religion‹ nachzudenken bedeutet« letztlich, »das ›Römische‹ zu denken«, 56 Rom als ein auf Souveränität gegründetes Imperium. Als »europäische Angelegenheit« gehört die Religion »in den Sprachraum des Lateinischen«, 57 sie ist Teil einer okzidentalen und imperialen Formation. Derrida geht davon aus, dass »die weltweite Latinisierung (jenes eigentümliche Bündnis des Christentums als Erfahrung von Gottes Tod mit dem fernwissenschaftstechnischen Kapitalismus) eine hegemonische Position einnimmt und zugleich an ihr Ende gelangt, übermächtig und fast schon erschöpft« 58 . Von der Religion als institutionalisiertem Gefüge hebt er den Glauben ab: »Wir werden Glaube und Religion unterscheiden müssen: nicht immer ist es möglich gewesen und nicht immer wird es möglich sein, den Glauben mit der Religion zu identifizieren.« 59 Der

Jacques Derrida, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Die Religion, hg. v. ders./G. Vattimo, Frankfurt a. M. 2001, 9 f. 55 Vgl. ebd., 11. 56 Ebd., 13. 57 Ebd., 14. 58 Ebd., 25. 59 Ebd., 19. 54

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Glaube bindet sich im Gegensatz zur Religion nicht an ein Wissen, sondern eher an einen Zweifel. Diesen Glauben beschreibt Derrida nicht in Begriffen eines »Gelobten Landes«, sondern in solchen einer »gewissen Wüste, die nicht die Wüste der Offenbarung ist, sondern eine Wüste in der Wüste, welche die Wüste ermöglicht, eröffnet, gräbt, aushöhlt, ins Unendliche verlängert«. 60 Ein anderer Name für diese Wüste wäre das Messianische, das Derrida also in einer ganz anderen Weise deutet als Walzer: »Das Messianische, das Messianistische ohne Messianismus. Genannt ist damit eine Öffnung auf die Zukunft hin, auf das Kommen des anderen als widerfahrende Gerechtigkeit, ohne Erwartungshorizont, ohne prophetisches Vorbild, ohne prophetische Vorausdeutung und Voraussicht. Das Kommen des anderen kann nur dort als besonderes und einzigartiges Ereignis hervortreten, wo keine Vorwegnahme den anderen kommen sieht; nur dort, wo der andere, der Tod und das radikal Böse (uns) jederzeit überraschen können. Möglichkeiten, die die Geschichte zu eröffnen und zugleich zu unterbrechen vermögen, zumindest den gewöhnlichen Lauf der Geschichte.« 61

Das Messianische wird hier zum Fokus zentraler dekonstruktiver Figuren wie dem Ereignis, dem Versprechen, dem Performativen, der Gabe, der Gerechtigkeit und dem Anderen, die allesamt auch als Figuren eines post-souveränen Denkens des Politischen zu dechiffrieren wären. Das Messianische steht für die Wüste, für den Aufschub und Umweg, der eine postsouveräne Vergemeinschaftung, eine Vergemeinschaftung ohne Pharao und Schwert, möglich macht. »Ohne diese Wüste in der Wüste gäbe es weder ein Glaubensbekenntnis oder eine Glaubensbekundung noch ein Versprechen, eine Zukunft, ein erwartungsloses Erwarten des Todes und des anderen; es gäbe keinen Bezug zur Besonderheit des anderen.« 62 Die Wüste, in die der Exodus führt und die durch den Exodus eröffnet wird, wäre das Andere der Souveränität oder – mit Derrida gesprochen – ›niemandes Souveränität‹. Das Verständnis eines post-souveränen Politischen, das von Walzer, Virno und Derrida aus ihren jeweiligen Lektüren der Exodus-Erzählung heraus entfaltet wird, wird hoch aktuell angesichts der Bewegungen von MigrantInnen und modernen Nomaden, die 60 61 62

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Ebd., 30. Ebd., 31 f. Ebd., 34.

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versuchen, Europa oder die USA zu erreichen. Vieles spricht dafür, auch diesen Exodus als Ausdruck einer präsentischen Demokratie zu begreifen, als Problematisierung einer postkolonialen Weltordnung, in der die Entscheidung über Aufnahme oder Ausschluss oft eine Entscheidung über Leben oder Tod ist. Der moderne Nomadismus wäre insofern als ein ›Contre-Nomadisme‹ 63 zu lesen, als ein politischer Akt der Problematisierung von Grenzen, die Étienne Balibar treffend als »undemokratische Bedingungen der Demokratie« 64 beschreibt, als Reste einer Souveränität, die willkürlich über Leben und Tod entscheidet, die zugleich aber auch die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Arbeit auf Dauer stellen. Diese Souveränität betrifft und verwandelt heute auch die Wüste – von einer Passage in eine Endstation. Nicht der Pharao hindert das Volk heute am Weiterziehen, sondern das gelobte Land, es verweigert den Zutritt, hält das Volk in der Wüste, im Limbus. Die Sahara und die Wüsten von Texas und Arizona werden, wie die Wasserwüste des Mittelmeers, zu einem Massengrab. Doch genau die Grenzen, die die spätmodernen Nomaden zurück in die Wüste zu werfen suchen, eröffnen auch die Möglichkeit einer neuen, zugleich subversiven und post-souveränen Politik, einer Politik des Einzugs der Anteilslosen, die auch als eine Demokratisierung der Grenzen begriffen werden könnte und jene Souveränität, die im Anspruch zum Ausdruck kommt, willkürlich Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu erlassen, im oft wörtlichen Sinne unterläuft.

Vgl. Claire Rodier, Immigration: Fantasmes et Réalités. Pour une Alternative à la Fermeture des Frontières, Paris 2008. 64 Étienne Balibar, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, übers. v. O. Anders, Hamburg 2003, 156. 63

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Die Grimasse der Macht. Zur Theatralität des Politischen Clemens Pornschlegel

»Drei sind, die da herrschen auf Erden, die Weisheit, der Schein und die Gewalt.« Johann Wolfgang von Goethe »Der Hegelsche Mythos [des Kampfes auf Leben und Tod zwischen Herr und Knecht] ist nur denkbar, sofern das Register des Symbolischen seinen Horizont bildet. Die Situation zwischen den beiden ist nicht in irgendeiner biologischen Panik angesichts des Todes gegründet. Der Tod als solcher ist niemals erfahrbar, er ist nie real. Die Angst des Menschen ist immer nur imaginäre Angst. Das ist aber noch nicht alles. Im Hegelschen Mythos taucht der Tod noch nicht einmal auf als das, was gefürchtet wird. Er taucht vielmehr auf als das, was man riskiert, und noch genauer: Er ist ein Spieleinsatz. Und das heißt, dass es zwischen Herr und Knecht von Anfang an eine Spielregel gibt.« Jacques Lacan

I Theatralität ist kein Beiwerk des Politischen. Politische Macht rührt nicht aus physischer Kraft und Überlegenheit, sie beruht nicht einfach auf Zwangsmitteln und Repression, sondern besteht wesentlich aus der Inanspruchnahme von Legitimität, und das heißt auch: aus Grimassen und Finten, aus theatralischen Vorführungen von Macht. Darunter fallen unter anderem auch die Grimassen der gewaltsamen Repression, deren Sinn genau darin besteht, Angst und Schrecken zu verbreiten im Namen der (legitimen) Macht, und die immer dann hinfällig werden, wenn sie plötzlich nur noch als blutige Fratzen der Illegitimität erscheinen. Anders gesagt, politische Macht entstammt dem Reich des Scheins und der Symbole; sie kommt als politische Macht nicht aus den Gewehrläufen, wie Mao-Tse-Tung sagte, der 262

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damit lediglich für sich selbst den Schein der Stärke in Anspruch nahm und seinerseits gewaltig grimassierte. Politische Macht hat wesentlich mit Ästhetik und Fiktion zu tun. Ihr Ort ist der Ort des legitimen Wortes, das Befehls-GehorsamsRelationen erst effizient macht, und ihre Macht ist die Macht der Fiktion im doppelten Sinn des Genitivs. Die Macht mitsamt ihrer realen Gewalt und mitsamt ihrem realen Schrecken entstammt einem fiktiven, mythischen, keinem Mit-Menschen wie Du und Ich zurechenbaren Ort, nämlich dem Ort der Legitimität, und gleichzeitig besteht ihre Macht darin, diesen fiktiven, unmenschlichen und mythischen Ort für ihre Subjekte wirksam, d. h. unbedingt glaubwürdig in Szene zu setzen – unter anderem mit der theatralisch ›ausgestellten‹ Figur des Souveräns, der als Souverän kein Mitmensch ist, sondern der mit der menschlichen Repräsentation des Orts der legitimen Macht betraut ist, d. h. der allein als symbolische Größe zählt. Deswegen ist der Souverän, jedenfalls in der politischen Theorie der Neuzeit, auch kein magischer Superman, kein frecher hors-la-loi und kein allmächtiger Potentat, der jenseits der Gesetze stünde, sondern (nur) der Inhaber eines symbolischen Platzes. Spinoza etwa schreibt in diesem Sinn: »Der Inhaber der Regierungsgewalt kann unmöglich […] die von ihm selbst gegebenen Gesetze öffentlich verletzen und verachten und dabei die Würde bewahren. […] Untertanen morden, ausplündern, Jungfrauen entführen und ähnliches wandelt Furcht in Empörung und macht in der Folge den staatlichen Zustand zu einem Zustand der Feindschaft.« 1

Von Bodin bis Montesquieu hat die politische Theorie der Souveränität in der Tat nicht aufgehört – dabei entschieden gegen alle politischen Allmachtsphantasien argumentierend –, die Selbstbeschränkung des Souveräns als die notwendige Voraussetzung seiner Legitimität zu denken. Selbstbeschränkung und Selbstbindung des souveränen Herrschers, der seine Person aufzuspalten hat in ein privates (womöglich korruptes) Menschenwesen und eine öffentliche Amts-Person und der seine Privatbegierden von seiner staatlichen Machtfülle zu trennen hat, sind das Wahrzeichen und der Prüfstein der legitimen Regierung im Unterschied zur ›Despotie‹, die den Raum des Öffentlichen und des Privaten gerade nicht trennt, sodass Leib und Baruch de Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Abhandlung vom Staate, in: Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. V, hg. v. C. Gebhardt et al., Hamburg 5 1977, 84.

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Leben der Untertanen den Launen des Herrschers schutzlos ausgeliefert werden. Die politische Theorie der Neuzeit beschreibt die ›Despotie‹ dabei stets als die in Permanenz drohende (allzu menschliche) Perversion der Souveränität – zugleich auch als deren schwächste und hinfälligste Form, die nämlich in jedem Augenblick ›vom Zustand der Feindschaft‹, d. h. vom Bürgerkrieg bedroht ist. Der politische Ort des Souveräns ist, anders gesagt, nicht der der rasenden realen Ausnahme, sondern es ist der mythische Ort der Legitimität, der keinem konkreten Menschen ›gehört‹ und der deswegen auch von niemandem je inkarniert werden kann. Aus genau diesem strukturellen Grunde gibt es auch kein einziges politisches Regime, nirgendwo, das ohne die zeremonielle Feier seines mythischen Ursprungs oder seines Prinzips auskäme, ganz gleich, ob dieses Prinzip Demokratie, Sowjetordnung, Republik oder Nation heißt, ganz gleich, ob es sich um großartig grimassierende Militärparaden, um erneuerte heilige Schwüre, Fahnenweihen, Verfassungsfeiern oder Gedenkstunden handelt.

II Um dem wesentlichen (symbolischen) Schein der Macht gleich das Gewicht zu geben, das ihm zukommt, beginne ich mit einer Geschichte, und zwar mit einer Geschichte, die sich tatsächlich abgespielt hat und die genau deswegen so unglücklich und tragisch endete, weil die Protagonisten unendlich viel Verständnis für Waffen, Feuerkraft, logistische Operationen, also für militärische Logik und andere Realien hatten, aber wenig, um nicht zu sagen gar kein Verständnis für die Funktion von Schein und Fiktion in politicis, für Worte und theatralische Gesten. Es ist eine deutsche Geschichte. In seinen 1987, ein Jahr vor seinem Tod, erschienenen Weltkriegsmemoiren hat sich der ehemalige Verwaltungsjurist beim Militärbefehlshaber in Frankreich, nachmalige Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium und Präsident des Deutschen Roten Kreuzes Walter Bargatzky späten Träumen (und nach wie vor nagenden Gewissensbissen) hingegeben. Bargatzky malte sich 1987 aus, was historisch vielleicht möglich gewesen wäre, wenn die im Juli 1944 in Frankreich stationierten, in den Stauffenberg-Putsch involvierten Wehrmachtsgeneräle mitsamt den entsprechenden Pariser Stabsstellen – darunter auch Bargatzkys Stelle – eine Spur entschlossener gehandelt hätten. Konkret heißt das: Wenn sie, statt in der Nacht vom 264

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20. auf den 21. Juli 1944 auf den alles entscheidenden neuen Oberbefehl zu warten – in dem der Führer sich idealerweise mit einem Führerbefehl selbst abgesetzt hätte –, den Mut und die Frechheit gehabt hätten, im Namen anderer Namen als in dem Hitlers politisch zu handeln, etwa im Namen ›der Ehre oder des höheren Interesses des Vaterlandes‹, 2 und wenn sie aus einem bloßen Offizierskomplott einen offenen Kampf um die Macht gemacht und einen Bürgerkrieg in Kauf genommen hätten. Die dramatische Situation vom 20. Juli 1944 beschreibt Bargatzky rückblickend wie folgt: »Meine Gedanken kehren oft zu den Mitternachtsstunden [vom 20. auf den 21. Juli 1944; C. P.] im ›Raphael‹ [in Paris; C. P.] zurück. Zeitlich gesehen handelte es sich um die letzte Runde im Komplott gegen Hitler. Man male sich das folgende aus: Stülpnagel, auf der Rückfahrt von La-Roche-Guyon [wo der Chef des Heeres, Generalfeldmarschall von Kluge, ihm mitgeteilt hatte, dass er jetzt, nach dem gescheiterten Attentat, den Umsturz nicht weiter mittragen wolle, weil die Voraussetzung für sein Mitwirken, nämlich der Tod Hitlers, entfallen sei, woraufhin Stülpnagel, weil auch er nicht selbstmächtig handeln wollte, die in Paris bereits in die Wege geleiteten Aktionen wieder stoppt; C. P.] – [man stelle sich also vor; C. P.] Stülpnagel gewinnt jetzt [auf der Rückfahrt von La Roche-Guyon; C. P.] seinen inneren Schwung zurück, er entschließt sich, den wortbrüchigen Kluge auf dem Weg vorwärtszustoßen, den dieser fluchtartig verlassen will, und ordnet nach seiner Ankunft im Hotel sowohl im eigenen Namen wie unter Berufung auf Kluges Einverständnis die Erschießung der führenden SD-Leute an. […] Er lässt die Grenzen nach Frankreich sperren. Den Alliierten – worin er sich auf den erfahrenen Speidel stützen kann – erklärt er die Bereitschaft zur sofortigen Kapitulation. Keine Waffen-SS kommt ihm dazwischen, Speidel hat ihre Verbände an der Normandie-Front eingesetzt, um Paris vor ihrer Intervention zu schützen. Ich zweifle nicht, das Dritte Reich – obwohl Berlin, OKW, Ersatzheer wieder in der Hand der Nazis sind – hätte nicht lange überlebt. […] Am frühen Nachmittag des 21. Juli treffe ich Ernst Jünger vor dem Eingang des ›Majestic‹. Wir haben ihn in die Details [des Putsches; C. P.] nicht eingeweiht, dazu ist er bei Hitler und dem SD viel zu verdächtig. Aber er weiß, was geplant war; er ist einer unserer geistigen Stützen. Ich erzähle ihm von der vergangenen Nacht, schweigend hört er mich an, dann in seinem kühl analysierenden Ton: ›Da muss man doch einfach schießen.‹ Das ist es. Wäre in diesem letzten verbliebenen Augenblick der Umsturz vom Westen her noch in Gang gesetzt worden, so wäre das Weitere mit ziemlicher Sicherheit vorauszusehen. Paris wäre einen Monat früher übergeben, die Rheinfront ein halbes Jahr früher erDe Gaulle berief sich in seinen Radioaufrufen wiederholt auf: ›l’honneur‹, ›le bon sens‹ und ›l’intérêt supérieur de la patrie‹.

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richtet worden. Von den Sendern Frankreichs hätten deutsche Stimmen auf Hitlers Anhänger eingehämmert, die Aufrufe des wieder genesenen Rommel – er lag noch in Frankreich – hätten den Widerstand gegen das Regime neu entflammt und die Wehrmacht gespalten.« 3

Nun hat das leicht Vorstellbare und kommandotechnisch bis ins kleinste Detail Geplante bekanntlich nicht stattgefunden. Das genau ausgeklügelte Umsturzszenario wurde nicht realisiert, weder in Paris noch in Berlin. Die SS- und SD-Chargen, die in Paris von der Wehrmacht bereits allesamt verhaftet und außer Gefecht gesetzt worden waren, sind nicht erschossen worden. Im Gegenteil. Was geschah, war Folgendes – und es lässt sich ebenso gut als Tragödie wie als rabenschwarze Slapstick-Komödie erzählen. Am 21. Juli 1944 wird Carl Heinrich von Stülpnagel, der auf der Rückfahrt aus La Roche-Guyon seinen ›inneren Schwung‹ eben gerade nicht zurückgewinnt, von Generalfeldmarschall Keitel umgehend nach Berlin beordert. Stülpnagel gehorcht und macht sich vollkommen resigniert auf den Weg. In der Gegend von Verdun – Stülpnagel kennt sie noch aus dem ersten Weltkrieg – befiehlt er seinem Fahrer plötzlich anzuhalten, steigt aus seinem Kübelwagen, geht ein paar Schritte ins Feld, setzt sich seine Dienstpistole an die Schläfe und drückt ab. Der Fahrer bringt ihn sofort ins Lazarett nach Verdun. Stülpnagel überlebt, erblindet aber infolge seiner schweren Kopfverletzung. Noch im Lazarett wird er von der Gestapo verhaftet und nach Berlin gebracht. Am 30. August 1944 verurteilt ihn Freislers Volksgerichtshof zum Tode, und noch am selben Tag wird Stülpnagel in Berlin-Plötzensee durch den Strang hingerichtet. Wie gesagt, die Tragödie, die sich zwischen La Roche-Guyon, Paris, Verdun und Berlin abgespielt hat, lässt sich auch als rabenschwarze Komödie erzählen. Ein zackiger, preußisch-deutscher General im Besitz sämtlicher Befehlsvollmachten hat unmittelbar nach Beginn der ›Operation Walküre‹ die Entmachtung der verhassten Nazi-Administration angeordnet; die Aktion läuft erfolgreich an, zwölfhundert SS- und SD-Leute sind verhaftet worden, Paris ist völlig in der Hand des Widerstands – bis die Nachricht eintrifft: Der Führer ist nicht tot, er hat das Attentat überlebt. Statt nun die Umsturzaktion erst recht zu beschleunigen, verfällt der zackige Putschist urplötzlich

Walter Bargatzky, Hotel Majestic. Ein Deutscher im besetzten Frankreich, Freiburg i. Br. 1987, 143 f.

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in tiefste Melancholie und bläst das ganze Unternehmen wieder ab. ›Herrje, der Führer, gegen den ich grade losgeputscht habe, hat wunderbar überlebt? Ja, wenn das so ist! Da muss ich mich ja sofort selbst erschießen … Wo käme man denn hin, wenn jetzt alle eigenmächtig handeln wollten? Wenn jeder Revolution und Anarchie machen wollte? Ordnung muss sein! Peng.‹ Trauriger und sarkastischer lässt sich die preußisch-deutsche Unfähigkeit zum politischen Umsturz aussichtsloser Verhältnisse kaum denken. Die Frage, die sich damit aber verschärft stellt, ist die nach den Gründen der Revolutions-Inhibition. Sie wirft zugleich auch die Frage nach dem Wesen jener seltsamen Macht auf, die Stülpnagel mitsamt seinen kriegserprobten Kollegen mit nachgerade magischer Wirkung lähmt und sie daran hindert, das jahrelang vorbereitete Komplott tatsächlich durchzuführen – und zwar auch und gerade dann, wenn der Führer nicht tot ist, sodass man seinen Tod vielleicht vortäuschen müsste, so tun müsste, als ob. Mangelnden Mut und mangelnde Todesbereitschaft kann man den Stauffenbergs, Olbrichts, Rommels, Becks und Stülpnagels jedenfalls nicht vorwerfen; Furcht vor dem Kampf und Angst ums eigene Leben scheiden als Inhibitionsmotiv ebenfalls aus. Und genauso wenig lässt sich behaupten, dass irgendeine reale Macht – Truppen, Polizei, Panzer, Kommunikationstechnologien – die in Frankreich stationierten Generäle daran gehindert hätte, den Putsch fortzusetzen. Sie hatten alle Trümpfe in der Hand. Was sie offenbar nicht in der Hand hatten, war das, was Bargatzky – noch im flotten Kasino-Ton – mit der Wendung vom ›inneren Schwung‹ umschreibt. Gemeint ist damit die subjektive Freiheit und moralische Unabhängigkeit, das legitim instituierte Befehls-Gehorsam-Verhältnis aufzukündigen und jenen Namen für null und nichtig zu erklären, in dessen Namen Befehle bislang ergangen und befolgt worden waren. Kurzum, was den Generälen dazwischen kommt, ist ihre – seit 1934 durch den Eid auf den Namen Hitler bekräftigte – subjektive Bindung an die Instanz der legitimen Macht, der sie vollkommen schutzlos ausgeliefert sind und der sie nichts anderes als ihren eigenen Tod – als vorauseilende Selbstbestrafung für die Übertretung – entgegenzusetzen wissen. In der Tat, niemand, kein General und kein politischer Führer hat sich in den entscheidenden Momenten des Jahres 1944 gefunden, um anstelle des Namens des Führers den Namen ›Deutschland‹ polemisch gegen jenen auszuspielen und die politische Verantwortung für den Angriff auf die terroristisch herrschende Ordnung öffentlich zu Souveränität und Subversion

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übernehmen. Den mytho-poietischen Augenblick der Berufung auf einen anderen legitimen Namen als den des Führers, der die Nation dem ›Führer‹ endlich streitig gemacht und das Ding namens ›Deutschland‹ aus der konfusionellen Identifikation mit dem Körper des Führers gelöst hätte, hat es nicht gegeben. Person und Funktion, sterblicher Körper und politisches Amt blieben im ›Führer‹ verschmolzen, um ihn immer weiter als leibhaftigen Allmächtigen rasen und delirieren zu lassen. Eine luzide Analyse dieses Ausbleibens politischer Verantwortung hat Dietrich Bonhoeffer in seinen Briefen aus der Haft geliefert, als er den himmelschreienden Mangel an ›Civilcourage‹ auf den für die deutsch-preußische Kultur und ihre Institutionen spezifischen Freiheitsbegriff zurückführte. Bonhoeffer schrieb: »Wer wollte dem Deutschen bestreiten, dass er im Gehorsam, im Auftrag, im Beruf immer wieder das Äußerste an Tapferkeit und Lebenseinsatz vollbracht hat? Seine Freiheit aber wahrte der Deutsche darin – und wo ist in der Welt leidenschaftlicher von der Freiheit gesprochen worden als in Deutschland von Luther bis zur Philosophie des Idealismus? –, dass er sich vom Eigenwillen zu befreien suchte im Dienst am Ganzen. Beruf und Freiheit galten ihm als zwei Seiten derselben Sache. Aber er hatte damit die Welt verkannt. […] Es musste sich herausstellen, dass eine entscheidende Grunderkenntnis noch fehlte: die von der Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag. An ihre Stelle trat einerseits verantwortungslose Skrupellosigkeit, andererseits selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte. Civilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit erwachsen. […] Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert.« 4

Die selbstquälerische Resignation Stülpnagels und die verantwortungslose Skrupellosigkeit Kluges sind damit treffend beschrieben. Zugleich ist damit der immense theologisch-philosophische und politisch-kulturelle Sockel benannt, dem der für die preußisch-deutschen Eliten verbindliche Kodex des Gehorsams und des Dienens, des Anstands, des Berufs und der Ehre aufruht. Es ist diese historische Struktur der symbolischen Ordnung, die den Subjekten die Bedeutung ihres Seins und ihrer Handlungen garantiert. Und sie ist für die Machtverhältnisse ersichtlich entscheidender als alle zur Verfügung stehenden Gewaltmittel.

Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge, München 1951, 11.

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Bonhoeffers präzise Bemerkungen zum Dienst am Ganzen decken sich im Übrigen mit den sozialanthropologischen Analysen Louis Dumonts zum deutschen Holismus. 5 Dumont hat die Neutralisierung moderner, politisch egalitärer und freier Individualität zugunsten eines hierarchisch-organischen Ganzheitsdenkens, das die politisch dissensuelle Partizipation von citoyens nicht benötigt, als die entscheidende Besonderheit der deutschen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts herausgearbeitet. Das Individuum, wie es die Theorien des deutschen Idealismus entworfen hatten und wie es sozial institutionalisiert worden war, existiert ausschließlich durch und für das organische, je schon gegebene, ominöse Ganze, in das es sich – unter Entfaltung all seiner individuellen Möglichkeiten – einzuordnen hat. Nicht setzt sich das Ganze aus individuellen Teilen zusammen, die dasselbe Ganze in einem politischen Willensakt – im Sinn des renanschen plébiscite de tous les jours – mitsamt den entsprechenden Prozeduren namens Deliberation, Wahl, Abstimmung oder Beschluss immer wieder neu konstituieren, sondern die Teile sind je schon (organisch, d. h. vor-sprachlich gebundene) Bestandteile eines ihnen vorgeordneten und sie vorab definierenden ewigen Ganzen. Ernst Troeltsch definierte noch 1925 die ›deutsche Freiheitsidee‹ in diesem Sinne als »organisierte Volkseinheit auf Grund einer pflichtmäßigen und zugleich kritischen Hingabe an das Ganze, ergänzt und berichtigt durch Selbständigkeit und Individualität der freien, geistigen Bildung.« 6 Um die Besonderheit dieses ideologischen Holismus – der sich bei Karl Philipp Moritz und Goethe ebenso gut finden lässt wie bei Tönnies und Spengler – anschaulich zu machen, genügt es, die Dienst- und Berufsmoral der Stülpnagels, Kluges oder Stauffenbergs, die bekanntlich alle mehr sein als scheinen wollten, nur einen kurzen Augenblick lang zu vergleichen mit den parallel dazu laufenden Résistance-Praktiken André Malraux’ oder Charles de Gaulles, die durchweg theatralische, um nicht zu sagen: frivole mythomanische Züge tragen. So wie de Gaulle am 18. Juni 1940 im performativen Handstreich ein unbesiegtes Frankreich auf den Langwellen von RaVgl. Louis Dumont, Homo aequalis II. L’idéologie allemande. France-Allemagne et retour, Paris 1991; Ders., Individualismus. Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt a. M. 1991. 6 Ernst Troeltsch, Die deutsche Idee von der Freiheit (1916), in: Ders., Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hg. v. H. Baron, Tübingen 1925, 106. 5

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dio Londres erfindet, so erfindet sich André Malraux 1944 als Colonel Berger der Widerstandsarmee. Die Szene ist bühnenreif. »Als Malraux im Frühjahr 1944 in der Corrèze ankommt, kann ihm sein Bruder, Roland, Kontakte zu den englischen Agenten der SOE [Special Operations Executive; C. P.] verschaffen. Malraux’ erster Trumpf. Zum zweiten führt er seine Ehrentitel als großer antifaschistischer Intellektueller an und erklärt mit absolut zwingender Selbstverständlichkeit, dass er ab sofort der Chef des regionalen Widerstands sei: London habe ihn dazu ernannt. Zum Beweis beruft er sich auf seine Verbindung zu den SOE-Leuten und verspricht, Fallschirmabwürfe englischer Waffen zu organisieren.« 7

Trotz der großsprecherischen Pose sind Malraux’ Selbsternennungscoup und sein Engagement keine eitlen Lügen. Es handelt sich vielmehr um eine – unter anderem aus der Lektüre der Schriften T. E. Lawrence’ zum Guerilla-Krieg hervorgegangene 8 – Wette, und zwar um eine Wette, die sämtliche Risiken des bewaffneten Widerstands im Namen Frankreichs eingeht und die mit dem Einsatz des eigenen Lebens gespielt wird. Malraux alias ›Colonel Berger‹ wird im April 1945 nach den unter klimatisch extremen Bedingungen geführten Kämpfen um Strasbourg von Général de Lattre nicht für Chuzpe Dominique Venner, Histoire critique de la Résistance, Paris 1995, 149: »Avec un aplomb phénoménal, lui qui n’est rien, va, du jour au lendemain, devenir le colonel Berger. Quand il arrive en Corrèze, son frère Roland le met en contact avec des agents du SOE anglais. Premier atout. Péremptoire, après avoir rappelé ses titres de grand intellectuel anti-fasciste, il annonce qu’il est le vrai chef régional des maquisards. Puis, il fait le tour de quelques maquis, prétendant être chargé ›par Londres‹ d’une mission d’unification. Pour preuve, il invoque sa liaison avec le SOE, se faisant fort d’obtenir des parachutages d’armes.« Vgl. dazu auch die Darstellung von Jean-François Lyotard, Signé Malraux. Biographie, Paris 1996, 289 f.: »Jack [der englische Verbindungsmann; C. P.] beobachtet den Korridor und hört, wie Malraux sich selbst zum Colonel befördert. Er hatte sich endlich entschieden mitzumachen. Nun gut, er muss bluffen: der Conseil national de la Résistance ernennt normalerweise niemanden in fünf Minuten zum Colonel, schon gar nicht jemanden, der nicht wirklich patriotische Verdienste vorzuweisen hat. Aber de Gaulle hat sein freies Frankreich ja auch in fünf Minuten Radioansprache erfunden. Außerdem ist die Zeit nicht danach, Papiere zu prüfen. Man ist froh, wenn jemand mitmachen will.« 8 Vgl. Lyotard, Signé Malraux, 288 (wie Anm. 7); Malraux bezieht sich in seinen Analysen in erster Linie auf T. E. Lawrence Schrift Revolt in the Desert (London 1927; dt. Übersetzung: Aufstand in der Wüste, Leipzig 1927); zur englischen Planung und zu Churchills Befürwortung des irregulären Krieges vgl. Venner, Histoire critique, 178 ff. (wie Anm. 7). Es ist signifikant, dass Carl Schmitt, der die Schriften T. E. Lawrence’ kannte, in seiner berühmten Theorie des Partisanen weder dessen grundlegende Studien noch deren Umsetzung im Zweiten Weltkrieg durch Churchill und die französische Résistance erwähnt. 7

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und Eitelkeit, sondern, völlig zu Recht, für Tapferkeit als Führer der Brigade Alsace-Lorraine ausgezeichnet. Es liegt auf der Hand, eine der entscheidenden deutsch-französischen, kulturellen Differenzen im Hinblick auf den Bezug zur Macht beziehungsweise auf das Verständnis von politischer Macht im unterschiedlich strukturierten Verhältnis zur Repräsentation und zum Theatralen zu situieren. Während die Résistance – das gilt für die Aktionen Charles de Gaulles so gut wie für die André Malraux’ (und noch mehr gilt es für die Taten Lucie Aubracs) – das Politische grundsätzlich ausgehend von der Repräsentation und der sichtbaren Mise en scène des souveränen Namens konzipiert, und zwar auf allen ihr zur Verfügung stehenden Kanälen, um die fiction d’une France en lutte aufrechtzuerhalten, während dort also die politische Realität mit theatralischen Posen und Gesten fingiert wird, um inmitten der realen Besatzungswirklichkeit ein ›freies Frankreich‹ existieren zu lassen und es im politischen Diskurs halten zu können, behandeln die deutschen Generäle Fragen der politischen Repräsentation und des Scheins durchweg als quantité négligeable. Sie denken in Kategorien wie Feuerkraft, Unterstützungsangriff, Nachschubsicherung, Vernichtung des Feindes etc. Fragen des Literarischen, merkte Gottfried Benn einmal ironisch an, seien deutschen Generälen prinzipiell ›wesensfremd‹ geblieben. 9 Genau deswegen stoßen dieselben Generäle aber auch erst am Nachmittag des 20. Juli 1944 etwas verblüfft auf die Frage: »Was sagen wir den Offizieren, wenn Keitel, Himmler oder Goebbels Hitler für lebend erklären?« 10 , d. h., wenn jemand von der Gegenseite so tut, als ob. Wenn Goebbels und Co. also genau das tun, was sie immer schon getan haben: in einem fort lügen und betrügen, fingieren, inszenieren, Kulissen schieben. Zwar fällt den aufrechten Verschwörern noch ein, dass es in diesem Fall vermutlich am besten wäre, auch so zu tun als ob, d. h. die Aktion auch unter fiktiven Bedingungen fortzusetzen. Nur kommt ihnen bei der erstbesten Gelegenheit, nämlich dann, wenn es darum geht, den Belagerungszustand in Berlin auszurufen, auch schon wieder die Prosa der routinierten Authenti-

Vgl. Gottfried Benn, Doppelleben, in: Ders., Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke, hg. v. B. Hillebrand, Frankfurt a. M. 1984, 424. 10 Hans Bernd Gisevius, Bis zum bitteren Ende. II. Vom Münchner Abkommen zum 20. Juli 1944, Zürich 1946, 368. 9

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fizierungsprotokolle dazwischen. 11 Anstatt dem Generalobersten Fromm, der nur oberflächlich in die Putschpläne eingeweiht war, den Tod Hitlers frech und entschlossen als fait accompli zu verkaufen oder ihn nötigenfalls mit vorgehaltener Pistole dazu zu zwingen, den Ausnahmezustand auszurufen, teilt man Fromm – allzu ehrlich, allzu redlich, allzu ängstlich, allzu aufrichtig – lieber die unbestätigte Meldung vom Tod des ›Führers‹ mit. Und daraufhin »tat Fromm etwas«, wie Hans Bernd Gisevius in seinen Erinnerungen schreibt, »was sich aus der Situation von selbst ergab. Er meldete ein Blitzgespräch ins Hauptquartier an, um sich an Ort und Stelle über die Richtigkeit der Meldung zu vergewissern.« 12 Der weitere Verlauf der Ereignisse, d. h. das Scheitern des Komplotts, entspricht der Antwort, die Fromm postwendend von Keitel in den Hörer gebrüllt bekam: »Es ist alles in Ordnung; der Führer lebt.« 13 Die Logik des Scheiterns ist in Berlin haargenau dieselbe wie in La Roche-Guyon und in Paris. Die Bindung an die alles entscheidende, d. h. nach wie vor intakte Instanz des Führers ist ungebrochen und die Furcht vor einer illegitimen Aktion unüberwindlich. In der Tat, kein Radioaufruf, kein Kommuniqué, keine Pressekonferenz, kein Appell wird Hitler in der Öffentlichkeit je politisch verraten haben. Kein frivoler Schein und keine Mythomanie wird das graue Sein der Dienstwege und Authentifizierungsverfahren mit einem emblematischen Gegenbild je durchkreuzen. Die Befehle des in seinem Bunker paranoid vor sich hin delirierenden Führers – als inkarnierter Allmacht – bleiben das legitime Gesetz bis zum bitteren Ende. Und sie erscheinen imaginär mindestens so unumstößlich wie die Umlaufbahn von Planeten. Der Gedanke, dass ›der Führer‹ selbst nur eine monumentale Fiktion legitimer Macht ist, dass seine Erlasse keine ewigen Naturgesetze sind, anders gesagt, die Einsicht in den Sachverhalt, dass die Macht eben kein Reales, sondern dass sie grundsätzlich symbolisch strukturiert ist, dass der Name in dessen Namen gehorcht und befohlen wird, keine physische Realität, sondern ein Name ist, eine symbolische Instanz, ist im Vorstellungshaushalt preußischer Offiziere offenbar nicht vorgesehen. Sie ziehen den Selbstmord – also jenen Akt, der das Subjekt realiter aus der Sprache katapultiert – dem Bluff, der riskanten Wette und dem gewagten Als-Ob vor. So wie sie 11 12 13

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Vgl. zum Folgenden ebd., 369 ff. Ebd., 373. Ebd.

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ein Bombenattentat einem Rundfunkappell oder einer Flugblattaktion vorziehen, das redliche Sein, leider Gottes, dem Schein.

III Nun scheint die Behauptung der genuin symbolischen Verfasstheit politischer Macht – auf den ersten Blick jedenfalls – einer Konzeption zu widersprechen, die den Ursprung und das Wesen politischer Macht zuallererst in Kämpfen und Gewaltbeziehungen situiert. Exemplarisch stehen dafür die Analysen von Nicos Poulantzas ein. Im Hinblick auf die Frage nach dem komplexen Verhältnis von Macht und Gewalt in der staatlichen Moderne hat Poulantzas – im Unterschied zu den anti-juridischen Machtanalysen Foucaults – auf die zentrale Rolle des Gesetzes in der Moderne aufmerksam gemacht – und zwar des Gesetzes nicht als des Dompteurs, sondern als des aktiven Organisators von Gewalt. Poulantzas schreibt: »Das Gesetz ist integraler Bestandteil der repressiven Ordnung und der Organisation der staatlich ausgeübten Gewalt. Der Staat erlässt Normen, verkündet das Gesetz und etabliert dadurch zunächst ein Feld von Geboten, Verboten und Zensuren. Er richtet damit den Applikationsbereich und den Gegenstand der Gewalt her. […] Das Gesetz ist, so gesehen, der Code der öffentlich organisierten Gewalt. 14 […] Das Gesetz organisiert das repressive Feld [allerdings; C. P.] nicht nur als Repression dessen, was getan wird, während das Gesetz es untersagt, sondern auch als Repression dessen, was nicht getan wird, während das Gesetz vorschreibt, es zu tun. Wenn das Gesetz immer schon in der sozialen Ordnung präsent ist und nicht erst nachträglich zu jenem hinzutritt, dann deswegen, weil es für das politischsoziale Feld konstitutiv ist – und zwar als Kodifikation von negativen Verboten und positiven Geboten zugleich. Die Repression ist also niemals reine Negativität, sie erschöpft sich weder in der realen Ausübung physischer Gewalt noch in ihrer Verinnerlichung [durch die Subjekte; C. P.]. In der Repression gibt es auch etwas, von dem man eher selten spricht, nämlich die Mechanismen der Furcht. Es handelt sich dabei um reale, nicht nur um subjektivierte Mechanismen; nämlich die Theatralität des modernen Staates, jenes immense, mysteriöse Schloss, wie es bei Kafka auftaucht. Dem modernen Gesetz ist eine Theatralität eingeschrieben – Theatralität der Labyrinthe und Korridore, der leuchtenden Fassaden und umständlichen Prozeduren –, in denen das staatliche Gesetz sich materialisiert. Aber auch

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Nicos Poulantzas, L’État, le Pouvoir, le Socialisme, Paris 1978, 84.

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wenn es im Monopol der legitimen Gewalt gründet, so muss man es doch stets ausgehend von der Strafkolonie verstehen.« 15

Was Poulantzas mit seinen Überlegungen ins Auge fasst, ist das Problem des Verhältnisses von Gesetz oder juridischer Legitimität und Gewalt, in welchem dem Staat das Monopol zur gewaltsamen Normdurchsetzung respektive der negativen und positiven Repression zukommt. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Funktion, die man dem Gesetz gibt: Ist das Gesetz, wie Poulantzas ideologiekritisch nahelegt, eine mittels des Gewaltmonopols durchgesetzte Organisationsform sozialer Gewalt, d. h. eine repressive Kodifizierung schamloser Klassenherrschaft? Die Theatralität des Gesetzes diente dann der pompös eingerichteten Einschüchterung der Subjekte, d. h. sie wäre ein interessiert in Szene gesetzter ›Mechanismus der Furcht‹, und die Legitimität wäre als Mehrwert gesetzlich organisierter Gewalt zu begreifen. Oder sind Gesetz und Legitimität nicht eher, wie die anthropologischen Analysen Lévi-Strauss’ behaupten, universale Bezugsgrößen, die prinzipiell aller menschlichen Gesellschaft eignen, ob staatlich oder vorstaatlich, und die der Gewalt zwischen Menschen von vornherein eine spezifische Qualität verleihen – nämlich die Qualität symbolischer Beziehungen –, so dass physische Gewalt unter Menschen immer schon einer Bedeutungsstruktur eingezeichnet ist und sie je schon der Kategorie des Sinns (respektive des Unsinns) und mithin auch der Rede unterliegt? Gewalt ginge der legitimen Macht also nicht gründend voraus, sondern sie stünde von Anfang an bereits im Horizont symbolischer Bedeutung, die sie als erlaubte oder unerlaubte, gerechte oder ungerechte, akzeptable oder inakzeptable qualifiziert. Die tragische Geschichte des gescheiterten deutschen Widerstands erlaubt zumindest ansatzweise eine Antwort. Wenn das Scheitern der deutschen Generäle eine Lehre enthält, so ist es zunächst einmal die, dass aus der Verfügung über reale Gewaltmittel keinerlei politische Macht hervorgeht, sondern, genau umgekehrt, dass die Verfügungsgewalt über Gewaltmittel entscheidend an die politische Macht und deren Legitimität geknüpft ist, d. h. an die Glaubwürdigkeit, die Anerkennung und Fundiertheit der bestehenden Befehls-GehorsamsRelationen. Entscheidend für die politische Macht ist allein die erfolg15

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Ebd., 91.

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reiche oder scheiternde Inanspruchnahme der Legitimität, die zu befehlen und Befehle gewaltsam durchzusetzen erlaubt. An der mangelnden legitimatorischen Glaubwürdigkeit scheitern alle Umsturzversuche zwischen Paris, Berlin und Rastenburg. Dabei geht die legitime Macht – das ist die weitere Lektion, die sich aus dem Scheitern ergibt – nicht einfach aus einem Kampf oder einem blutigen Duell hervor, in dem der Sieger den Besiegten seine Ordnung gewaltsam aufzwänge. In diesem Fall hätte man 1944 in Paris alle Legitimität der Welt für sich gehabt. Die Legitimität ruht vielmehr einem unvordenklich mythischen, nur im Modus der Repräsentation zugänglichen Ort eines sozialen Dritten auf, von dem aus der Sinn der gesamten bestehenden Ordnung, ihrer sozialen, juridischen und ökonomischen Verhältnisse plausibel und glaubwürdig wird und von dem aus sie gerechtfertigt erscheint. Pierre Legendre hat den springenden Punkt präzise benannt. »Es gibt kein institutionelles System, das nicht Im-Namen-von funktioniert. Um dieses Im-Namen-von zu erhalten, stellen komplexe Einrichtungen mit mehr oder weniger primitiven mythologischen Mitteln diese Vorstellung her, setzen sie in Szene und erlauben ihr dadurch, ihre subjektiven und sozialen Wirkungen zu zeitigen. Diese Arbeit an der Repräsentation setzt […] die Gründungsreferenz, die absolute Referenz in Szene.« 16

Gerade weil dieses strukturelle ›Im-Namen-von‹ aber ein Mythos beziehungsweise der leere (rein strukturell zu denkende) Garantie-Ort von Kommunikation ist, der zwischen Wahrheit und Lüge beziehungsweise zwischen authentifizierten und nicht-authentifizierten Botschaften zu unterscheiden erlaubt, kann man ihm mit einem physischen Attentat auch nichts anhaben. Namen kann man nicht ermorden, ebenso wenig wie symbolische Funktionen. Und ihre soziale Macht lässt sich auch nicht durch trotzigen Ungehorsam brechen. Sie lässt sich nur brechen mit einem anderen Mythos und einer riskanten Wette auf einen anderen Namen. Erst dann wird aus einer Meuterei ein wirklicher politischer Kampf; erst dann wird Gewalt symbolisch und politisch effizient. André Malraux erklärte 1944 dem deutschen General, der ihn zunächst zum Schein exekutieren ließ und dann verhörte:

Pierre Legendre, Le Désir politique de Dieu. Étude sur les montages de l’État et du Droit, Paris 1988, 19 f.

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»Sie wissen, so gut wie ich, dass jeder Kampf eine Seele voraussetzt. Unsere entgeht Ihnen vollkommen. Sie glauben, dass wir kämpfen, um zu siegen. Die Freiwilligen der Forces Françaises Libres und der Résistance sind gegenüber der Wehrmacht nur eine kleine, völlig unbedeutende Minderheit. Aber genau deswegen gibt es sie. Frankreich hat 1940 eine seiner schlimmsten Niederlagen erlitten. Diejenigen, die gegen Sie kämpfen, sind die Zeugen, dass Frankreich noch lebt, ganz gleich, ob als Sieger, Besiegte, Hingerichtete oder Gefolterte.« 17

Diese Wette auf den legitimen Namen mitsamt dem riskanten Bluff, den sie gegen die gewaltsame Wirklichkeit ausspielt, sind die deutschen Generäle nicht eingegangen. Wer nicht spielt beziehungsweise Politik mit dem Realen verwechselt, der kann auch nicht gewinnen. Das ist der politische Unterschied zwischen Herren und Knechten, zwischen Freien und Untertanen. Wie Lacan sagt: Der Tod taucht in Hegels mythischem Kampf zwischen Herr und Knecht auf als »das, was man riskiert, und noch genauer: Er ist ein Spieleinsatz. Und das heißt, dass es zwischen Herr und Knecht von Anfang an eine Spielregel gibt.« 18

André Malraux, Antimémoires, Paris 1967, 233. Jacques Lacan, Le séminaire. Livre I: Les écrits techniques de Freud (1953–1954), Paris 1975, 249 (Übersetzung C. P.).

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Subversion der Souveränität. Ein unmögliches Unterfangen? Rebekka A. Klein

1.

Auslöschen der Souveränität?

Michel Foucault hat in einem Interview 1 aus dem Jahr 1976 die politische Philosophie dazu aufgefordert, sich von ihrer Verhaftung an den Staat, den Souverän, das Gesetz und die Repräsentation zu befreien und dem König, dem Leviathan – metaphorisch gesprochen – den Kopf abzuschlagen. Foucaults Hinweis suggeriert, dass der Abschied von Theorie und Praxis der Souveränität nur gewaltsam geschehen kann. Das Bild vom Abschlagen des Kopfes erinnert dabei an die Guillotine, die Todesmaschine der Französischen Revolution. Die Enthauptung stellt als öffentlicher Akt physischer Gewalt einen frontalen Angriff auf den Körper der Souveränität dar. Dieser soll – so das Ziel – ein für alle Mal vernichtet werden, um die in ihm inkorporierte Macht zu zerstören. Doch was ist, wenn gerade dieses Unterfangen sich als illusorisch erweist, weil der Versuch, sich der Souveränität zu entledigen, diese stets in neuen Formen und Gestalten wiederkehren lässt? Die Aporie eines unmöglichen und dennoch nötigen Abschieds von der Souveränität beschäftigt seit geraumer Zeit die politische Philosophie. So hat Giorgio Agamben 2 in seinen an Foucault anschließenden Studien gezeigt, dass die ›apokryphe‹ Funktion der Souveränität, die darin besteht, das bloße Leben aus der politischen Existenz auszuschließen, sich bereits in der antiken Politik nachweisen lässt und noch in der Moderne katastrophale Konsequenzen zeitigt. Da diese Funktion sich geradezu als konstituierendes Moment der abendländischen Politik erweist, scheint ihre Überwindung jedoch

Vgl. Michel Foucault, Schriften. Bd. 3, Frankfurt a. M. 2003, 186–213. Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002. u. a. m.

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kaum denkbar. Auch Claude Lefort 3 räumt in seiner Genealogie der modernen demokratischen Repräsentation mit dem Vorurteil auf, die metaphysische Lehre von der Souveränität sei in der Französischen Revolution überwunden und abgeschafft worden. In Gestalt eines imaginären Glaubens an die Einheit von Volk, Nation und Staat wirke sie vielmehr auch unabhängig von der Enthauptung des Königs und der Verabschiedung des monarchischen Dispositivs der Macht in der modernen Politik weiter. Sich der Souveränität ein für alle Mal gründlich zu entledigen, scheint angesichts ihrer apokryphen Präsenz kaum möglich, denn die Funktion 4 der Souveränität geht mit den geschichtlichen Formen und Gestalten, in denen sie sich jeweils formiert hat, keineswegs unter. Vielmehr wandelt sie sich durch geschichtliche Verschiebungen und Umbesetzungen hindurch und bleibt auf diese Weise lebendig. Die Aufdeckung des verborgenen Fortwirkens der Souveränität provoziert allerdings erst recht die Frage, ob die souveräne Macht nicht auf andere Weise als durch bloße Vernichtung ihrer Repräsentations-, Darstellungs- und Verkörperungsformen gebrochen werden kann. Im Folgenden soll es unter dem Stichwort der Subversion um Formen der Entmachtung und Zersetzung souveräner Macht gehen, die nicht naiv auf deren Abschaffung setzen, sondern subtilere und kleinformatigere Formen ihrer Destabilisierung, Unterwanderung und Durchbrechung initiieren. Dazu sind zunächst einige mit dem Begriff der Subversion verbundene Bilder und Metaphern näher zu untersuchen und im Anschluss daran die gegenwärtige philosophische Weiterentwicklung derselben zu einer politisch-philosophischen Praxis der Subversion darzustellen.

2.

Subversion als Akt politischer Destruktion und Innovation

Sprachgeschichtlich kann das Wort ›Subversion‹ vom lateinischen subvertere (etwas umdrehen oder umwenden) und vom griechischen Vgl. vor allem die auf Deutsch erschienenen Aufsätze von Claude Lefort: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M. 1990, sowie Claude Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, Wien 1999. 4 Von einer souveränen Funktion, die darin besteht, eine bestimmte institutionalisierte Herrschaftsordnung zu legitimieren oder ihr zu widersprechen, spricht auch Friedrich Balke, Figuren der Souveränität, Paderborn 2009. 3

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katastrophe (Umwälzung) hergeleitet werden. 5 Über das Lateinische der Vulgata-Bibel hat es sich darüber hinaus mit der biblischen Tradition und Vorstellungswelt verbunden und im 14. Jahrhundert Eingang in das politische Denken in England und im 19. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland gefunden. 6 Die folgenden drei Metaphern sollen aus dieser Entwicklung herausgegriffen werden. 7 Sie entspringen alle drei einer naturverbundenen Vorstellungswelt, an die sich eine theologische und politische Auslegung anschließt. Ihnen gemeinsam ist, dass sie unter ›Subversion‹ stets einen fundamentalen Akt der Zerstörung und Umwandlung des Bestehenden verstehen. Die erste leitende Hintergrundvorstellung für den Wortgebrauch ›Subversion‹ ist eine Tätigkeit, die ihren ›Sitz im Leben‹ in der Landwirtschaft hat: das Umwerfen und Umdrehen der Ackerkrume beim Ausbringen der Saat auf den Feldern. 8 Das Umgraben der Erde ermöglicht es, den ausgebrachten Samen zu bedecken und zu verwurzeln. In dieser Tätigkeit liegt weniger etwas Zerstörerisches, als vielmehr etwas Konstruktives, da sie für die Regeneration und Fruchtbarkeit des Lebens auf der Erde unverzichtbar ist. Das Wort ›Subversion‹ bezieht sich hier also auf die Vorstellung einer zweckdienlichen, sinnvollen Wandlung, nämlich auf die kultivierende Umgestaltung der Erde. Dieses Bild wird beispielsweise aufgenommen in der politischen Deutung der Subversion als einer harten und mühseligen ›Maulwurfsarbeit‹ bei Johannes Agnoli im 20. Jahrhundert, der das Bild des Umgrabens der Erde jedoch ins Ungewisse wendet: Subversion geschehe ohne sichtbaren Erfolg und ohne das Wissen, ob sie zu einem guten Ende führen wird. 9 Ein zweites Bild lässt sich im Umfeld des christianisierten Platonismus des Arnobius von Sicca im 4. Jahrhundert n. Chr. finden. 10 Nach Arnobius haben wir es bei der subversio mit einer heilsamen, ja reinigenden Zerstörung der Erde oder sogar der gesamten MenschVgl. Friedrich Kluge, Art. subversiv, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 22 1989, 713; Kurt Röttgers, Art. Subversion. I. Wortgeschichte, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, 567–569. 6 Vgl. Röttgers, Art. Subversion (wie Anm. 5). 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. Johannes Agnoli, Subversive Theorie. »Die Sache selbst« und ihre Geschichte, Freiburg i. Br. 1999, 226. 10 Vgl. Arnobius, Arnobii adversos nationes libri VII (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum 4), Vindobonae 1975, Librum I,8. 5

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heit zu tun. In seiner Schrift Adversus Gentes verweist Arnobius auf die Deutung der Naturkatastrophe (katastrophe) in Platons Timaios, wo Überschwemmungen und Feuersbrünste als ein Werk der Reinigung und Erneuerung der Erde durch die Götter bezeichnet werden. Diese Sichtweise lässt sich durchaus geowissenschaftlich bestätigen, wie Untersuchungen des Nildeltas und seiner jahrhundertelangen Überschwemmungen, aber auch großflächiger Waldbrände gezeigt haben. Wenige Monate nach der Zerstörung der Erdoberfläche zeigt sich hier regelmäßig, wie fruchtbar und erneuernd Zerstörung sich in der Natur auswirken kann. Arnobius gemahnt deshalb daran, dass das, was dem Menschen zunächst feindlich oder böse erscheint, sich in Wahrheit als das Gegenteil erweisen könne. Sogar die vollständige Auslöschung des Menschengeschlechts könne zu einer innovatio, einer Erneuerung der Welt führen. Nach der Aufnahme des lateinischen Wortes in die Vulgata treten biblische Bilder als leitende Motive der Verwendung des Wortes ›Subversion‹ auf. Einschlägige Bibelstellen sind hier die Geschichte von der Zerstörung Sodom und Gomorras in Gen 19 und die Rede von den widerspenstigen Zuhörern des Propheten Ezechiel, die in der Vulgata als ›subversores‹ bezeichnet werden. 11 Während sich das Bild von Feuerregen und Asche in Gen 19 noch ganz auf der Traditionslinie der auch bei Arnobius in den Blick gerückten, reinigenden Wirkung von Naturkatastrophen lesen lässt, bringt die zweite Bibelstelle eine andere Vorstellungswelt ins Spiel. In Ez 2,6 ist vom Widerstand des Volkes Israel gegen das vom Propheten gesprochene Gotteswort die Rede. Die Rebellion Israels gegen seinen Gott nimmt hier eine ihrer radikalsten Formen an: Das Volk Gottes geht aggressiv und feindlich gegen den Propheten Ezechiel vor. Seine Unwilligkeit wird bildlich mit der Umzingelung des Propheten durch stachelige Dornen und dem Sitzen auf Skorpionen verglichen. Die Vulgata übersetzt das hebräische salonim für Dornen mit subversores. Der Vergleich der feindseligen Zuhörer mit einer spitzen Dornenhecke verweist damit auf einen weiteren ›Sitz im Leben‹ des Wortes, nämlich auf die Praxis der Umzäunung eines Feldstückes durch ein Dornengehege, dessen kleine spitze Dornen sich unerbittlich an vielen Stellen zugleich in das Fleisch feindlicher Angreifer bohren. Der ›Angriff‹ der Dornen erfolgt nicht offen und frontal, sondern gleicht vielen kleinen Nadelstichen, die auf lange Sicht zum Tod des Angreifers 11

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Vgl. Röttgers, Art. Subversion (wie Anm. 5).

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führen. Mit der Metapher der Dornenhecke ist also eine durchaus ernst zu nehmende und existenzielle Gefährdung für die Verkündigung des Propheten angesprochen. Die Pointe der Geschichte liegt jedoch darin, dass nicht einmal die Mordlust seiner Zuhörer den Propheten davon abhalten kann, seine Botschaft zu verkünden. Denn diese, so das Versprechen Gottes, wird sich am Ende als unwiderstehlich erweisen. 12 Die drei soeben aufgerufenen Metaphern vom Umgraben der Ackerkrume, von Überschwemmungen und Feuersbrünsten sowie von der Dornenhecke beschreiben die Wirkung subversiver Aktivitäten als ambivalent: Auf der einen Seite ist die Subversion des Bestehenden bedrohlich, zerstörerisch und existenziell gefährdend, auf der anderen Seite kann sie reinigend, rettend und erneuernd wirken. Auch Art und Umfang der zerstörerischen Gewalt, die der Subversion innewohnt, werden unterschiedlich beschrieben: Während es sich bei der Maulwurfsarbeit und der Partisanentaktik der spitzen Dornen um kleine Akte der Zerstörung mit großer Wirkung handelt, können Naturkatastrophen ein Ausmaß annehmen, das die gesamte Menschheit zu vernichten vermag. Im politischen Kontext sind für die Rede von Subversion nun weitere Aspekte von Bedeutung, die sich systematisch zusammenfassen lassen. So ist zum Ersten zu beobachten, dass den verschiedenen Redeweisen und Bewertungen von subversiven Tätigkeiten stets eine Perspektivität innewohnt. Je nachdem, welcher Standpunkt und welche Zielperspektive subversiven Aktionen unterstellt wird, können diese als progressiv oder regressiv, als zerstörerisch oder konstruktiv, als revolutionär oder konterrevolutionär, 13 als strategisch oder chaotisch beschrieben werden. So ist etwa in den in der DDR aufgelegten Lexika unter dem Stichwort ›Subversion‹ stets von einer konterrevolutionären Tätigkeit die Rede, die von imperialistischen und reaktionären Kräften organisiert wird und den gesellschaftlichen Fortschritt aufzuhalten sucht. 14 Der bundesdeutsche Brockhaus hingegen rückt die Subversion in eine klare Opposition zum Ordnungsmodell ›Staat‹ und definiert sie als eine meist im Verborgenen betriebene Tätigkeit,

Vgl. Walther Zimmerli, Ezechiel. 1. Teilband: Ezechiel 1–24, Neukirchen 2 1979, 74. Vgl. Art. Subversion, Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin 1988, 970–971. 14 Vgl. Art. Subversion, Meyers Neues Lexikon, Bd. 13, Leipzig 1976, 296; Art. Subversion, Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin 1988, 970–971. 12 13

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die auf den Umsturz der bestehenden staatlichen Ordnung zielt. 15 Dies zeigt, dass Subversion sowohl als Polizeibegriff, der illegitime Aktivitäten aus einer Machtposition heraus diffamiert, als auch als Emanzipationsbegriff verwendet werden kann, der zum Ausdruck bringt, dass die Intervention gegen eine bestehende Machtordnung durchaus legitim und notwendig ist. Von dieser klaren ›Entweder/Oder‹-Perspektive zu unterscheiden ist dagegen die bereits erwähnte Rede von der Subversion als einer ›blind‹ vollzogenen Maulwurfsarbeit (Agnoli). Denn in ihr wird der Akzent auf die Ungewissheit gelegt, die dem Akt des Umstürzens, Umdrehens und Umwendens innewohnt. Subversion ist dann geradezu getragen von einer Offenheit und Unentschiedenheit gegenüber dem, was aus der Zerstörung des Alten erwächst. Des Weiteren ist für den politischen Gebrauch des Wortes konstitutiv, dass subversive Aktivitäten sich zwar gleichsam parasitär in die bestehende Ordnung einschreiben, diese jedoch nicht ausbeuten, sondern vielmehr zerstören und erneuern wollen. Subversion zielt damit auf eine Veränderung, die nicht lediglich Perspektivwechsel ist, wie die durch die Begriffe der Inversion (der Umkehrung) oder der Konversion (der Übernahme von Neuem) angezeigten Wendungen und Wandlungen des Gegebenen. Stattdessen impliziert sie ein gewaltsames Moment der Zerstörung des Bestehenden. Zum Dritten zeichnen sich umstürzlerische Aktionen durch Innerlichkeit und Verborgenheit aus. Sie erfolgen nicht von einer außenstehenden Position, sondern bringen das traditionelle Gefüge eines Machtdiskurses von innen heraus ins Wanken. Anders als die (philosophische) Kritik, welche gesellschaftliche Verhältnisse vom Standpunkt eines übergeordneten Wahrheitsanspruches her problematisieren möchte, sucht die Subversion diese von innen heraus aufzubrechen und durch eine Vertiefung ihrer Widersprüche für Neues zu öffnen. Das subversive ZuFall-Bringen von Autoritätsstrukturen ist darum auch von einem offenen Aufruhr oder einer Revolte zu unterscheiden. 16 Es vollzieht sich nicht in Gestalt einer sichtbaren, geschichtlichen Umwälzungsbewegung, wie etwa der Begriff der Revolution in marxistischen Theoriezusammenhängen unterstellt. Der Tätigkeit des Maulwurfs vergleichbar nimmt es vielmehr die Gestalt subtiler Risse und Aufbrü-

Vgl. Art. Subversion, Brockhaus, Bd. 27, Leipzig 2006, 561. Vgl. Art. subversion, The Concise Oxford Dictionary of Politics, Oxford 3 2009, 516–517.

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che an, in denen sich eine Auflösung der geltenden Ordnungsschemata ankündigt. In der neueren französischen Philosophie nimmt das Nachdenken über die Subversion eine weitere charakteristische Wendung. Subversion wird zum Inbegriff einer politisch-philosophischen Praxis, welche insbesondere die Bedingungen der Wahrheit des Subjekts und der Rechtmäßigkeit von Herrschaft in Frage stellt. So sieht Georges Bataille die Subversion als einen ›anarchischen‹ Souveränitätsakt an, der die Grenzen der herrschenden Ordnung durch eine inhärente Überschreitung außer Kraft setzt. Das Überschreiten einer Ordnung von Macht und Wissen im Sinne Batailles versteht Foucault daher als eine »nicht positive Affirmation« 17 der Grenze dieser Ordnung. Die Überschreitung mache darauf aufmerksam, was eine Ordnung in ihren Grenzen ausschließt, ohne diese Ordnung selbst zu negieren. Eine Befreiung von den herrschenden Maßstäben werde somit möglich, ohne dass die bestehende Ordnung selbst abgeschafft werden müsse. In ähnlicher Weise vollzieht beispielsweise auch Jacques Lacan in seiner Metapsychologie eine Subversion des Subjekts, des Wahrheitsprinzips der transzendentalen Erkenntnistheorie. Lacan schafft das Subjekt nicht ab, sondern situiert es im Unbewussten neu. Dazu löst er die idealistische Setzung eines einheitlichen IchBewusstseins auf und stellt die Exzentrizität des Subjekts in seinem Begehren heraus. Als Subjekt des Begehrens ist dieses nicht souveräner Herr im eigenen Haus, sondern wird durch die Sprache und ihre symbolische Ordnung strukturiert. Die von Bataille herausgestellte, affirmierende und zugleich zersetzend-auflösende Wirkung der subversiven Überschreitung lässt sie in die Nähe zur Dekonstruktion treten, wie Jacques Derrida unterstreicht. Derrida grenzt den subversiven Exzess, den Bataille beschreibt, vor allem von der abstrakten Negation des Sinns und der Herrschaft ab, der die hegelsche Dialektik auszeichnet. Subversion sei »keine Reduktion auf den Sinn, sondern Reduktion des Sinns« 18 , so Derrida. Damit übersteige sie die Möglichkeiten der phänomenologischen epoché. Denn das Überschreiten einer Sinnordnung unter Wahrung ihrer Grenzen impliziert nach Derrida eine dekonstruktive Verschiebung: Indem sie den Sinn als solchen einklammert, anstatt Michel Foucault, Vorrede zur Überschreitung, in: Ders., Schriften, Bd. 1: 1954– 1969, hg. v. D. Defert, übers. v. M. Bischoff, Frankfurt a. M. 2001, 320–342. 18 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972, 406. 17

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ihm den Nicht-Sinn entgegenzusetzen, verbleibt die subversive Überschreitung, anders als die hegelsche Aufhebung, nicht innerhalb der Totalität des Sinns, sondern bricht diese auf. Batailles Überschreitung erweist sich daher für Derrida als Nicht-Prinzip oder Un-Grund, der sich jeder vergewissernden Erwartung einer Arche beziehungsweise eines Fundaments entzieht. Im Anschluss an die von Derrida konstatierte Nähe zur Dekonstruktion entwirft Judith Butler ihre Kritik des heterosexuellen Imperativs als performative Technik der Subversion. Subversiver Widerstand formiert sich für sie nicht in der Abschaffung, sondern in der Entlarvung des Geschlechts als einer veränderbaren Konstruktion. Insbesondere Derridas Überlegungen zeigen, dass das Nachdenken über die Subversion mit Bezug auf Bataille aus der Dialektik von Macht und Gegenmacht (Umsturz, Umkehrung, Negation) befreit werden kann. Subversion erweist sich als eine politisch-philosophische Praxis, die traumatisch-exzessiv das bestehende Herrschaftsgefüge durchbricht, dieses aber nicht gänzlich aufhebt, sondern von innen heraus verschiebt. Die subversive Überschreitung einer Herrschaftsordnung verabschiedet damit allerdings die Souveränität nicht – wie sich mit Bataille ebenfalls zeigen lässt –, sondern erfindet sie in gewisser Weise neu. Der exzessiven Überschreitung wohnt nämlich eine andere Souveränitätsmacht inne, die sich nicht autoritär oder anarchisch (›von oben‹ oder ›von unten‹), sondern subversiv ›von innen heraus‹ durch Einklammerung und Verschiebung des singulären Grundes und Fundamentes der geltenden Ordnung widersetzt. Damit ergibt sich für die eingangs gestellte Frage, wie die Souveränität entmachtet oder ausgelöscht werden kann, das folgende Problem: Eine finale Überwindung der Souveränität ist auch auf dem Wege subversiver Interventionen nicht realisierbar. Für die autoritäre Einsetzung des singulären Grundes einer Herrschaftsordnung, aber auch für dessen subversive Aussetzung, erweist sich die souveräne Funktion gleichermaßen als unverzichtbar. Dennoch lässt sich fragen, was subversive Interventionen stattdessen zu leisten vermögen, wenn sie die Souveränität zwar nicht abschaffen können, diese jedoch umbesetzen oder neu figurieren. Dieser Frage möchte ich im Folgenden noch genauer nachgehen, indem ich den Ansatz einer Ideologietheorie und -kritik der Souveränität untersuche, der in der Philosophie, aber auch in der Theologie im 20. Jahrhundert von verschiedenen Autoren vertreten wurde. Ich greife dazu die Arbeiten der Philosophen Claude Lefort und Slavoj Žižek sowie des Theologen 284

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Karl Barth heraus. Sie stufen die politische Lehre von der Souveränität übereinstimmend als eine Ideologie ein. Dabei geht es ihnen allerdings weniger darum, die Illusion zu nähren, die Macht der Souveränität ließe sich auf diese Weise endgültig brechen, als vielmehr darum, ihre ideologischen ›Auswüchse‹ zu identifizieren und zu ›entschärfen‹. Die ideologietheoretische Untersuchung der Souveränität wird zudem nicht als ein ein für alle Mal abschließbares Unterfangen, sondern als ein permanent neu zu beginnendes Unternehmen verstanden.

3.

Subversion als ideologiekritische Arbeit am politischen Imaginären

Auch unabhängig vom Fortbestehen der historischen Akteure und Institutionen neuzeitlicher Souveränität spielt die Vorstellung, die herrschende Ordnung könne durch ein souveränes Subjekt eingesetzt und legitimiert werden, bis heute eine gewichtige Rolle. Dies hat in seinen Studien zur Genealogie der modernen Demokratie insbesondere Claude Lefort gezeigt. 19 So befasst er sich u. a. mit der Französischen Revolution und der Art und Weise, in der sie die Fiktion eines souveränen Subjekts aus der frühneuzeitlichen Monarchie übernommen und in der demokratischen Vorstellung vom Volk-als-Eines weitergeführt hat. Mit dem Subjektwechsel vom König zum Volk sei ein neues Register der Macht eingeführt worden: das Verfahren ihrer symbolischen Repräsentation. Dieses habe das ›theologisch-metaphysische‹ Register der Macht aus der Vormoderne abgelöst und in gewisser Weise doch fortgeführt. So setze die moderne Demokratie nicht mehr auf den Glauben an die ›Realpräsenz‹ der Souveränität in einem sterblichen Körper der Macht (Monarchie), sondern gebe diesen Glauben zugunsten einer scheinbar nüchterneren Auffassung auf und gehe davon aus, dass souveräne Macht nur symbolisch instituiert werden kann. Das Subjekt souveräner Machtausübung, das Volk, gewinne in der Demokratie allein in der Stimmzählung bei der Wahl eine politisch maßgebliche Gestalt. In der Wahl des Stimmvolks formiere sich eine politische Institution, welche die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit von Macht voll anzuerkennen in der Lage ist: Auf Zeit Vgl. dazu den auf Deutsch erschienenen Aufsatzband: Rödel, Autonome Gesellschaft (wie Anm. 3).

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begrenzt und plural besetzt fungiere das Parlament als Repräsentation eines Souveräns, dessen Existenz zwar stets vorausgesetzt wird, der aber selbst auf der politischen Bühne nie direkt in Erscheinung tritt, sondern nur im Medium der Stimmzählung Gestalt gewinnt. Die derart in der Demokratie affirmierte und zum politischen Prinzip erhobene Medialität der Macht, also ihr Angewiesensein auf ein formales Verfahren der Repräsentation, begründet nach Lefort aber auch eine entscheidende Schwäche dieser Regierungsform: Indem die Demokratie glaube, sich des vormodernen Registers der Macht, nämlich ihrer Verkörperung in einem real existierenden souveränen Subjekt entledigt zu haben, provoziere sie geradezu dessen Wiederkehr. Lefort verweist hier insbesondere auf den Siegeszug des Totalitarismus im 20. Jahrhundert, 20 aber auch auf bislang unerkannte totalitäre Ideologien innerhalb der Demokratie wie zum Beispiel das durch die Einführung digitaler Medien erzeugte Phantasma eines homogenen sozialen Raums. 21 Diese Entwicklungen bezeugten, dass der metaphysische Glaube, dass das souveräne Subjekt real existiert und erscheint, die demokratischen Gesellschaften weiterhin heimsuche. Verantwortlich dafür ist nach Lefort die imaginäre, über die empirische Wirklichkeit hinausgehende Verfasstheit der demokratischen Souveränitätslehre: Sie begreife das souveräne politische Subjekt, das Volk, als eine identitäre, mit sich selbst eins-seiende Größe. Einheit und Identität des Volkes existierten jedoch empirisch gar nicht, sondern seien ein Produkt der schöpferischen politischen Einbildungskraft des Menschen: Faktisch trete die Gesellschaft zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort als ›ein Volk‹ in Erscheinung. Stattdessen sei sie durch Konflikte und soziale Differenzen geteilt und gespalten. Um diese Realität zu verdecken, werde das souveräne Subjekt der Demokratie in der Praxis nicht als eine universelle, sondern als eine partikulare politische Größe ausgelegt und durch ethnische (Nation) oder rechtliche (Staatsbürgerschaft) Zuschreibungen empirisch identifiziert (und damit reduziert). Durch die Markierung von ethnischen, territorialen oder bürokratischen Grenzen werde dem Volk

Vgl. Claude Lefort, The Image of the Body and Totalitarianism, in: Ders., The Political Forms of Modern Society. Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, transl. by J. B. Thompson, Cambridge 1986, 292–306. 21 Vgl. Claude Lefort, Outline of the Genesis of Ideology in Modern Societies, in: Lefort, The Political Forms of Modern Society, 181–236 (wie Anm. 20). 20

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eine scheinbar verlässliche Identität verliehen, die jedoch der universellen Reichweite dieses politisch-imaginären Begriffs nicht gerecht werde. Genau dies stellt nach Lefort aber bereits einen ersten Schritt zur Ideologisierung des souveränen Subjekts der Demokratie dar. Denn unter einer ›Ideologie‹ versteht er eine praktisch wirksame Vorstellung, »die sowohl den konfliktuellen als auch den differentiellen Charakter gesellschaftlicher Machtverhältnisse« 22 verleugnet. In aller Eindeutigkeit sieht Lefort die Ideologie der Souveränität jedoch vor allem in totalitären Regimen verwirklicht: Die Institution eines Führers der Nation beruhe, ebenso wie die Einrichtung einer sozialistischen Einheitspartei, die alle anderen Parteien überflüssig mache, auf dem Glauben, dass die Gesellschaft tatsächlich mit sich selbst eins sei beziehungsweise eins werden könne. Der Totalitarismus bezeuge demnach die praktische Wirksamkeit und die fatalen politischen Konsequenzen, die aus der Form, welche die souveräne Macht in der Moderne angenommen habe, erwachsen können. In ihm werde die Kehrseite einer Verschiebung des theologisch-politischen Dispositivs der Macht in ein symbolisch-imaginäres Register sichtbar. Mit ihrem Versuch, sich der metaphysisch-theologischen Souveränitätslehre zu entledigen, hat sich die moderne demokratische Gesellschaft nach Lefort also lediglich neue Probleme geschaffen. Anstatt den metaphysisch-theologischen Glauben an die Realpräsenz der Souveränität aufzulösen, habe sie ihn in ein imaginäres Register verschoben und damit vollständig der schöpferischen Einbildungskraft des Menschen überantwortet. Der Versuch, die Präsenz souveräner Macht symbolisch zu reduzieren, sei demgegenüber nicht wirkungsvoll genug. Die symbolische Reduktion der Souveränität vermag den imaginären Überschuss nicht einzudämmen, bevor er sich in eine Ideologie verwandelt. Dennoch ist das demokratische Modell in Leforts Augen nicht vollständig gescheitert. Seiner Auffassung nach ist das politische Imaginäre der Demokratie nämlich nicht an sich ideologisch verfasst und kann dementsprechend auch ent-ideologisiert werden. Dazu sei allerdings nicht die reflexive philosophische Kritik das geeignete MitFelix Trautmann, Die Fortdauer des Politisch-Imaginären. Das Symbolische der Macht und die Phantasmen gesellschaftlicher Einheit nach Claude Lefort, in: Andreas Wagner (Hg.), Am leeren Ort der Macht. Zum Staatsverständnis Claude Leforts. Baden-Baden 2013, 94.

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tel, denn die bloße Aufklärung über den imaginär-fiktiven Charakter der Souveränitätslehre könne deren praktische Wirksamkeit nicht eindämmen. Stattdessen sei es die Erkenntnis, dass die ›alte‹ metaphysische Souveränitätslehre in der Moderne fortwirkt, dass es also eine theologische Erbschaft der modernen Demokratie gibt, die positiv gewendet werden kann. Die politische Einbildungskraft habe nämlich erneut bei der Religion und zwar bei der modernen Religion, dem Christentum, in die ›Schule zu gehen‹. 23 Um das demokratische Projekt fortzuführen, schlägt Lefort daher vor, die souveräne Macht – ähnlich wie es im modernen Christentum mit ›Gott‹ geschehe – als ein ›konstitutives Außen‹ der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verstehen, das ihr gegenübertritt, aber entzogen bleibt. Um eine politisch-ideologische Besetzung dieses ›Außen‹ zu verhindern, müsse der ›Ort‹, an dem die souveräne Macht in Erscheinung tritt, stets negativ, nämlich als leer, vakant und subjektlos vorgestellt werden. Damit könne das ›Überborden‹ der politischen Einbildungskraft in eine politische Ideologie verhindert werden. Lefort präsentiert also eine Lösung, welche die politische Imaginationskraft nicht diffamiert, sondern an ihr arbeitet. Sein Ansatz lässt sich so verstehen, dass er diejenigen Elemente der modernen Souveränitätsimagination zu identifizieren und zu entschärfen sucht, die für die Entstehung totalitärer Ideologien verantwortlich sind. An erster Stelle steht hier der Glaube an die Positivierbarkeit des souveränen Subjekts. Der Glaube, die Gesellschaft könne tatsächlich ein Volk werden, ermögliche es einzelnen Personen oder Gruppen, sich des Orts der Macht zu bemächtigen und die Einheit der Gesellschaft nicht nur symbolisch, sondern vielmehr real und dauerhaft zu verkörpern. Um dieses Überschießen des Imaginären ins Ideologische zu verhindern, schlägt Lefort vor, den ›Ort‹ souveräner Macht stets als vakant, subjektlos und leer zu imaginieren. Auf diese Weise ›ent-ideologisiert‹, könne er sogar eine emanzipatorische Funktion für die Demokratie erfüllen, nämlich als Prinzip der Negation aller Formen einer realen Inhabe souveräner Macht. Teile der Gesellschaft können sich auf ihn berufen, um einerseits zivilen Ungehorsam gegenüber denen zu üben, welche die Macht gerade innehaben, und andererseits politische Forderungen geltend zu machen, die im derzeit herrschenden politischen System (noch) nicht repräsentiert sind. Um die Dynamik dieser Be-

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Vgl. Lefort, Fortdauer, 46–47.65 (wie Anm. 3).

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rufung auf den leeren Ort der Macht offen zu halten, sei jedoch sein nicht-positivierbarer Charakter immer wieder neu lesbar zu machen. Leforts Vorschlag, alle Versuche einer positivistischen Festlegung von Ort und Gestalt souveräner Macht in ideologiekritischer Absicht zu suspendieren, ist nicht unkritisiert geblieben. So hat etwa der Philosoph Slavoj Žižek sich gegen diesen Vorschlag gewendet. Anders als Lefort setzt er nicht auf imaginative Enthaltsamkeit und die Zurücknahme von Ort und Subjekt souveräner Macht in die abstrakt-formale Leere symbolischer Repräsentation. Denn gerade in ihr sieht Žižek erneut ein ideologisches Unterfangen am Werk. Die Forderung, der Ort souveräner Macht sei als leer und subjektlos vorzustellen, blende aus, dass der Mensch seine politische Einbildungskraft stets auf positive und konkrete Objekte ausrichte. Ihren Mangel suche er zu füllen und ihre Leere zu kompensieren. Der von Lefort vorgeschlagene Weg des Verzichts ist demnach aus Žižeks Sicht nicht realisierbar, denn er beruht auf einer rationalistischen Auffassung des Menschen, welche dessen Begehrens- und Genießensstrukturen ontologisch außer Acht lässt. Zum Zweiten kritisiert Žižek, dass mit Leforts Vorschlag die Ideologie der Souveränität nicht wirklich zerstört, sondern lediglich neu besetzt werde: Die formale Leere des Orts der Macht sei nur eine Kehrseite, eine andere Variante des von Lefort als ideologisch angeprangerten Diskurses der Fülle und Positivität souveräner Macht. Es sei jedoch überflüssig, Demokratie und Totalitarismus in Gestalt eines negativen und eines positiven Imaginären gegeneinander auszuspielen, als seien dies echte Alternativen. 24 Dass es sich vielmehr um zwei Seiten derselben Medaille handele, zeige sich u. a. darin, dass gerade die liberalen Demokratien des Westens immer wieder von fundamentalistischen und nationalistischen Bewegungen durchdrungen würden, obwohl sie sich eigentlich dagegen immun glaubten. 25 Der Grund hierfür sei, dass sie Menschen formal als Bürger eines Staates ansprechen und damit ihre ethnische, religiöse oder soziale Besonderheit zugunsten einer universellen Kategorie suspendieren. Diese Abstraktion sei aber ein Akt gewaltsamer Verdrängung, 26 der

Vgl. Slavoj Žižek, Iraq. The Borrowed Kettle, London 2004, 112. Vgl. Slavoj Žižek, Tarrying With the Negative. Kant, Hegel, and the Critique of Ideology, Durham 1993, 200–238; Slavoj Žižek, Looking Awry. An Introduction to Jacques Lacan Through Popular Culture, Cambridge 1991, 154–169. 26 Vgl. Žižek, Looking Awry, 163 (wie Anm. 25). 24 25

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zugleich konstitutiv auf das Verdrängte und Ausgeblendete als seine positive Ermöglichungsbedingung angewiesen bleibe. So bleibe der Nationalstaat stets Bedingung der Verwirklichung eines demokratischen Regimes: Ohne seine kontingente Existenz könne beispielsweise keine politische Leidenschaft für das Projekt der Demokratie geweckt werden. Auf der anderen Seite verursache die affektive Bindung an eine ›Nation‹ in der demokratischen Gesellschaft immer wieder rassistische Gewalt und Ausgrenzung und stehe damit ihrem universalistischen Anliegen, alle Menschen gleichberechtigt als Bürger eines Staates anzuerkennen, entgegen. Die von Lefort vorgeschlagene Reduktion des politischen Imaginären der Demokratie auf ein negatives und abstraktes Bild der Macht stellt für Žižek also nur eine weitere Verschiebung des Ausgangsproblems, aber keinen wirklichen Ansatz zur Ausschaltung der Ideologie souveräner Macht dar. Doch wie ist eine solche dann möglich? Žižek selbst glaubt, dass diese sich nur als subversive Intervention eines politischen Subjekts vollziehen kann, das er als Subjekt des ›Realen‹ bezeichnet. Dieses Subjekt kann nicht in der bestehenden symbolischen Ordnung repräsentiert werden und hat gerade deshalb die Macht, deren Herrschaftsanspruch durch einen singulären politischen Akt zu durchkreuzen. Žižek identifiziert ein solches Subjekt zunächst mit verschiedenen Personen oder Gruppen, welche zwar Teil der Gesellschaft sind, aber in ihrer politischen Repräsentations- und Herrschaftsordnung nicht als solche anerkannt werden. Dies sind zum Beispiel Illegale oder Staatenlose, die kein politisches Stimmrecht haben, aber auch sozial Benachteiligte wie beispielsweise Obdachlose, die auf Grund ihrer Lebenssituation von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind. Der sognannte ›Teil ohne Anteil‹ (Rancière) kann nach Žižek die herrschende Ideologie der Souveränität, nämlich die Annahme, dass die Gesellschaft im Stimmvolk oder in der Staatsbürgerschaft aufgeht, durchkreuzen, indem er seine kontingente Existenz universalisiert und beansprucht, von einer Nicht-Position, einer Position ›außerhalb‹, die bestehende Ordnung zu unterwandern. Dem von ihm als Lösung präsentierten Subjekt des ›Realen‹ schreibt Žižek damit allerdings erneut die souveränen Attribute der Singularität und der Universalität zu. Dementsprechend ist klar, dass die von diesem Subjekt ausgehende subversive Intervention sich zwar radikal gegen die bestehende Ordnung wenden kann, diese aber nur deshalb zu durchbrechen vermag, weil es seine singuläre Existenz, 290

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sein Ausgeschlossensein aus der symbolischen Ordnung, zur neuen souveränen Position erklärt und sich damit der gleichen legitimierenden Funktion der Souveränität bedient, wie diese Ordnung selbst. Die Funktion der Souveränität wird auf diese Weise also nicht suspendiert. Dies gesteht Žižek auch zu und bekennt, dass ein endgültiger Ausstieg aus der ideologischen Verfasstheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht möglich sei: Jeder Zusammenbruch einer Ideologie habe das Potential, eine neue Ideologie zu begründen, und dies sei unabwendbar. 27 Die Hoffnung auf eine ideologiefreie soziale Wirklichkeit sei dagegen Selbstbetrug. Einen Ausweg aus dieser tragischen Perspektive findet Žižek erst durch eine Auseinandersetzung mit dem politischen Erbe des Christentums, welches er insbesondere in der paulinischen Theologie begründet sieht. Paulus habe mit der Metapher vom Kreuzestod Christi das Trauma eines symbolischen Tods, d. h. eines Totalzusammenbruchs der bestehenden Sinnordnung beschrieben. Dieses Trauma habe jedoch das Christentum in seiner historisch gewachsenen Gestalt verdrängt. Es habe die radikal-subversiven Potentiale, die mit seiner zentralen Botschaft vom Tod Jesu Christi am Kreuz verbunden seien, nicht erkannt. Diese könnten erst durch eine neue Lektüre der Texte des Apostels Paulus in ideologiekritischer Perspektive offengelegt werden. Paulus habe nämlich mit der Metapher vom Kreuzestod Christi den Einbruch des ›Realen‹ in die symbolische Ordnung der Religion vorstellig gemacht. ›Gott‹ als dasjenige Subjekt, das nach Auffassung der Religion die symbolische Ordnung der Menschen einsetzt und erhält, gebe seine Allmacht auf, indem er sich am Kreuz komplett und rückhaltlos dem Todestrieb hingebe. Der Tod Christi sei daher als Tod Gottes, als symbolischer Tod des souveränen Subjekts schlechthin, und als Abschied von der Religion schlechthin zu interpretieren und zugleich als Gründungsakt einer ganz neuen Art von Gemeinschaft. In dieser Gemeinschaft werde nach Paulus zunächst die Logik von Ordnung und Ausnahme, von Gesetz und Sünde, von souveräner Ein- und Aussetzung vollends offengelegt, um sie dann in ihrer Geltung auszusetzen. In der Gemeinschaft des Heiligen Geistes, d. h. in der Nachfolge Christi werde eine neue Logik begründet, die Paulus die Macht der Liebe nennt. Die Liebe erschaffe eine Haltung Vgl. Slavoj Žižek, From Purification to Subtraction. Badiou and the Real, in: Peter Hallward (Ed.), Think Again. Alain Badiou and the Future of Philosophy, London 2004, 171.

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des ›Haben als hätte man nicht‹ (1. Kor 7,29–32). Darin liege eine grundlegende Macht der Befreiung von sozialen Bindungen und den mit ihnen einhergehenden Ideologien, wie etwa der Souveränität. Während Lefort also die religiöse Transzendenz und Entzogenheit souveräner Macht säkular nachzubilden und fruchtbar zu machen sucht, um ihre Eskalation innerhalb einer totalitären Ideologie zu verhindern, glaubt Žižek, dass nicht das religiöse Erbe der Moderne, sondern das politische Erbe des Christentums einer imaginativen Revision unterzogen werden muss. Die paulinische Metapher vom Kreuzestod Christi sei religiös und politisch missverstanden und entstellt worden. In Wahrheit sei sie als Akt der Befreiung von Souveränität, als Abschied von der Religion, ihrem Sinnuniversum und ihrem allmächtigen Subjekt ›Gott‹ zu verstehen und enthalte damit ein imaginäres Bild des ›Realen‹, des endgültigen Zusammenbruchs souveräner Macht. Beide, Lefort und Žižek, entwerfen also neue religiös-theologische Leitbilder, um die politischen Leitbilder der Souveränität emanzipatorisch und radikal-subversiv zu wenden. Lefort möchte mit Hilfe der Vorstellung, dass das politische Imaginäre ein ›konstitutives Außen‹ der Gesellschaft ist, der schöpferischen politischen Einbildungskraft des Menschen Grenzen setzen und sie auf negative und endliche Bilder der Macht beschränken. Žižek sieht genau darin ein gegenüber dieser Einbildungskraft im Letzten ohnmächtig bleibendes Instrument und setzt stattdessen auf die stets wiederkehrenden, traumatischen Einbrüche des Sinnlosen, Ausgeschlossenen und Verdrängten, die in jeder souverän eingesetzten Ordnung Unruhe stiften können, und feiert deren zerstörerische Gewalt als einen innovativen politischen Akt der Befreiung. Er postuliert, dass das Moment des Scheiterns jeder souverän begründeten politischen Ideologie bereits eingeschrieben ist und nur aktualisiert zu werden braucht. Doch was ist, wenn dieses subversive Moment lange oder gar nicht zum Zuge kommt, wenn es erfolgreich unterdrückt und verdrängt werden kann? Genau dies ist in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts vielfach und viel zu lange geschehen. Ein Bruch mit der herrschenden Ideologie souveräner Macht war zu oft und zu lange nicht möglich. Auch die von Žižek angeprangerte Ideologie der liberalen Demokratie und des westlichen Kapitalismus ist bis heute – entgegen seinen Hoffnungen – nicht radikal subversiv durchbrochen worden und es ist fraglich, ob dies jemals geschehen wird. Diese Beobachtungen lassen 292

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die Frage aufkommen, ob der herrschenden Ideologie der Souveränität noch auf andere Weise als durch Einschränkung der politischen Imaginationskraft oder durch Radikalisierung ihrer verdeckten Ausschlüsse Einhalt geboten und Widerstand entgegengesetzt werden kann. Einen Vorschlag dazu hat der Theologe Karl Barth in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht. Er soll daher an dieser Stelle ebenfalls berücksichtigt werden. Auch Karl Barth hat angesichts der Ohnmacht der Menschen gegenüber den politischen Ideologien seiner Zeit (Nationalsozialismus und Führerkult des Dritten Reichs) über die Möglichkeit einer Befreiung von der menschengemachten Ideologie der Souveränität nachgedacht. Er schreibt allerdings: »Die Illusion, dass wir uns selbst desillusionieren könnten, ist die größte aller Illusionen.« 28 Barth wählt daher einen theologischen Weg, der auf mehr als nur menschliches Vermögen setzt, um den ideologischen Auswüchsen der Souveränität entgegenzutreten. Statt auf die formale Begrenzung menschlicher Einbildungskraft oder deren subversive Zersetzung durch Verdrängtes und Ausgeblendetes setzt Barth auf Gott – und zwar nicht auf jenen ›Gott‹, jenes allmächtige Subjekt, das Žižek zusammen mit der Religion im paulinischen Christentum untergehen sieht, sondern auf die Geschichte des in der Bibel bezeugten Gottessohnes Jesus Christus, in dessen Leben Gott seine den Menschen rettende und versöhnende Macht verwirklicht hat. ›Jesus Christus‹ steht für Barth als Mittler und Offenbarer einer konkreten neuen Wirklichkeit der Freiheit, in der Gott die menschengemachte Dialektik von Herrschaft und Unterwerfung unterläuft und aussetzt. Barth glaubt, dass durch die Orientierung an dem in Jesus Christus in die Welt gebrachten ›Bild‹ oder ›Modell‹ göttlicher Macht alle anderen Mächte, darunter die menschengemachte Ideologie der Souveränität, aber auch die religiöse Ideologie von Gott als dem allmächtigen Herrn über alle Dinge, neu eingeordnet werden können, nämlich als vom Menschen geschaffene, in ihrer Wirksamkeit aber nicht mehr von ihm selbst durchschaubare und kontrollierbare dämonische Gestalten. In der radikalen Orientierung am neuen Bild der Macht, das in Jesus Christus verwirklicht sei, könne dagegen erkannt werden, dass wahre Macht nicht darin bestehe, den Anderen zu unterwerfen, auszugrenzen oder zu verdrängen, sondern ihn auf Augenhöhe kommen zu lassen. In Jesus Christus habe Gott seinen Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Bd. II,1. §§ 25–27. Die Erkenntnis Gottes, Zürich 1986, 190.

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Willen verwirklicht, den Menschen zu seinem Partner zu machen, obwohl dieser in seiner Schwachheit und Verletzlichkeit auf den ersten Blick als nicht würdig erschien. Doch was schlägt Barth damit tatsächlich vor? Er sucht die Ideologie humaner Souveränität nicht direkt anzugreifen, sondern unterläuft sie, indem er ihr ein anderes Bild der Macht entgegensetzt, das er zudem mit einem göttlichen Autoritäts- und Wahrheitsanspruch versieht. Mit dem Argument, allein Gottes Macht sei wirklich und wirksam, sucht er zunächst alle humanen Autoritätsansprüche auszuschalten und ein wirkliches Widerstandsmoment gegen deren suggestive Kraft zu schaffen. Doch dies ist nicht nur ein autoritärer theologischer Anspruch, sondern Barth beruft sich auch auf ein sachliches Argument: Anders als das von Menschen Erdachte und Erfundene, das sich in politischen Ideologien als scheinbar objektive Wirklichkeit zeige und verfestige, habe Gottes Macht in der Geschichte von Jesus Christus die Form eines dynamischen Beziehungsgeschehens angenommen, das die Befreiung des Menschen zu gleichberechtigter Teilhabe zum Gegenstand habe. 29 Jede von Menschen erzeugte Macht, die die Freiheit des Menschen nicht zulasse und befördere, sei daher als dämonische, gegen Gott und den Menschen gerichtete Macht zu identifizieren. Gottes Macht ist somit nach Barth keine Macht von einer anderen Welt, sondern erweist vor allem den Unterschied zwischen wahren und falschen Mächten in der humanen Lebenswelt. Durch seine für säkulare Zeitgenossen ›absurde‹ und ›idiotische‹ axiomatische Setzung, allein Gottes Macht sei real, kann Barth die Unentschiedenheit der Menschen, welcher politischen Macht sie vertrauen sollen – sei es in Zeiten des Nationalsozialismus, sei es in Zeiten des Kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts – beenden. Er möchte zeigen, dass angesichts des Pluralismus der Mächte nur eine Macht real und menschengerecht sein kann und zwar die, die den Menschen zur Freiheit von allen politischen Ideologien führt. Trotz seines souveränitätskritischen Gestus entkommt Barth selbstverständlich dem Problem einer Wiederkehr der Souveränität nicht. Auch die von ihm aus der politischen Illegalität heraus ins Spiel gebrachte Macht Gottes ist souverän, denn sie wird als einzig und universell unterstellt. Allerdings handelt es sich bei dem von Barth beVgl. dazu auch die Studie von Timothy J. Gorringe, Karl Barth. Against Hegemony, Oxford/New York 1999.

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haupteten singulären Subjekt der Macht (Jesus Christus) um ein vollständig imaginäres Subjekt, dessen Inkarnation als irdisches Wesen ebenfalls nur imaginativ und nicht real bezeugt werden kann. Anders als die von Lefort gesetzte Subjektlosigkeit der Macht entwirft Barth eine Figur der gesteigerten Subjektivität, um die Fixierung auf das eine Subjekt nicht zu überwinden, sondern zu überbieten. Genauso wie Žižek zielt Barth damit auf einen radikaleren und gewaltsameren Bruch mit der herrschenden Ideologie seiner Zeit (Führerkult) und nicht lediglich auf deren formale Einschränkung und Begrenzung wie Lefort. Letztere hält er jedoch anders als Žižek für möglich, da seiner Überzeugung nach die politische Imagination des Menschen wirkungsvoll ihre Grenze an der Wirklichkeit Gottes finden kann. Wie Lefort erkennt Barth die Medialität der Macht und die Macht der Medien, welche die Souveränität instituieren, voll an und sucht sie dementsprechend nicht wie Žižek auszusetzen oder zu durchbrechen, sondern imaginär neu zu figurieren. Von Leforts Neubebilderung des Orts der Macht als leer und subjektlos unterscheidet sich das von Barth propagierte imaginäre Bild der Macht Gottes wiederum darin, dass es die Souveränität im Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus uneingeschränkt positiviert und auf diese Weise die Pluralität und Heterogenität menschlicher Macht entschärft. Barths Vorschlag ist somit nach den von Lefort aufgestellten Kriterien als ideologisch einzustufen. Ganz klar bekämpft er eine Ideologie durch eine andere Ideologie. Irritierenderweise muss diesem Vorgehen jedoch zumindest in historischer Perspektive die größere politische Durchschlagskraft zugesprochen werden. Gelang es doch Barth und anderen Anhängern seiner Theologie einer ganz anderen Macht Gottes Motivation zum konkreten Widerstand oder zumindest zur Freiheit gegenüber den von Menschen geschaffenen Souveränitätsideologien zu wecken.

4.

Fazit

Eine subversive Intervention gegen die Macht der Souveränität hat einerseits der Unausweichlichkeit der menschlichen Einbildungskraft und ihren imaginären Eskalationen Rechnung zu tragen und anderseits deren ideologische Auswüchse zu begrenzen oder zu zerstören. Als Kandidaten für ein solches Unterfangen wurden die von Claude Lefort, Slavoj Žižek und dem Theologen Karl Barth entworfenen Souveränität und Subversion

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ideologiekritischen Ansätze untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass alle drei die Macht der Souveränität nicht abschaffen wollen, sondern stattdessen Wege zu ihrer Entideologisierung aufzeigen: Sie berufen sich auf einen anderen Ort oder ein neues Subjekt der Souveränität oder suchen der politischen Imagination ein besseres, ein humaneres Modell der Macht entgegenzusetzen. Im Sinne einer finalen Überwindung bleibt die Subversion der Souveränität damit ein unmögliches Unterfangen. Im Sinne einer post-souveränen Umbesetzung und Ablösung ihrer imaginären Subjekte und Orte kann sie jedoch gelingen.

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Friedrich Balke Dr. phil. habil.; Professor für Medienwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Theorie, Geschichte und Ästhetik bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum Dominik Finkelde SJ Dr. phil. habil., Privatdozent an der Universität Frankfurt a. M.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter für politische Philosophie und Kulturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München Andreas Hetzel Dr. phil. habil.; Professor für Philosophie an der Fatih-University Istanbul und Vertretungsprofessor für Kulturphilosophie an der Universtität Magdeburg Rebekka A. Klein Dr. theol. habil.; Dilthey-Fellow der Volkswagenstiftung und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Systematische Theologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Burkhard Liebsch Dr. phil. habil.; apl. Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum Daniel Loick Dr. phil.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt a. M.

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Maud Meyzaud Dr. phil.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte der Medienkulturen an der Fernuniversität Hagen Clemens Pornschlegel Dr. phil. habil.; Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München Juliane Rebentisch Dr. phil. habil.; Professorin für Philosophie und Ästhetik, Bereich Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung Offenbach a. M. Axel Rüdiger Dr. phil.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim Philipp Stoellger Dr. theol. habil.; Professor für Systematische Theologie, insbesondere Dogmatik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

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