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German Pages 198 Year 2014
Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Solidarität in der Migrationsgesellschaft
migration – macht – bildung
2014-04-16 10-47-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c5364055821054|(S.
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Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.)
Solidarität in der Migrationsgesellschaft Befragung einer normativen Grundlage
2014-04-16 10-47-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c5364055821054|(S.
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Anne Broden, Milena Detzner, Paul Mecheril Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2686-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2686-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
2014-04-16 10-47-04 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c5364055821054|(S.
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Inhalt
Solidarität in der Migrationsgesellschaft. Einleitende Bemerkungen
Anne Broden & Paul Mecheril | 7
TEIL 1 NORMATIVE REFERENZEN DER RASSISMUSKRITIK Normative Grundlagen der Rassismuskritik
Micha Brumlik | 23 Kritik und Engagement in den Uneindeutigkeiten von Befreiung, Unterdrückung und Vereinnahmung
Astrid Messerschmidt | 37 Dürfen Weiße Rassismuskritik betreiben? Zur Rolle von Subjektivität, Positionalität und Repräsentation im Erkenntnisprozess
Mark Schrödter | 53 Postkommunitäre Solidarität als Motiv kritischer (Migrations-)Forschung
Paul Mecheril | 73
TEIL 2 SOLIDARITÄT – ERKUNDUNG EINER (UN)ZEITGEMÄSSEN O RIENTIERUNG IM KONTEXT DER MIGRATIONSGESELLSCHAFT Solidarität und Bildung in der Migrationsgesellschaft
Krassimir Stojanov | 95
Solidarität mit den Anderen. Gesellschaft und Regime der Alterität
Serhat Karakayali | 111 „… aller Länder, vereinigt euch!“ Integration, Anti-Integration, Solidarität
Radostin Kaloianov | 127 Das Konzept des Verbündet-Seins im Social Justice als spezifische Form der Solidarität
Gudrun Perko & Leah Carola Czollek | 153 Die Europäische Union – eine Solidargemeinschaft auch für Roma?
Sabine Hornberg | 167 Autorinnen und Autoren | 195
Solidarität in der Migrationsgesellschaft. Einleitende Bemerkungen A NNE B RODEN & P AUL M ECHERIL
Welche regulativen Konsequenzen folgen dem Umstand, dass „Migration“ ein zentrales Moment gesellschaftlicher Realität und Dynamik ist? Seit etwa den 1980er Jahren gehört diese Frage zu den im deutschsprachigen Raum in Medien, Politik und Alltagswelten intensiv debattierten Themen und prägt als offener Topos der Auseinandersetzung gesellschaftliche Realität. Zwar waren auch vor 1980 Wanderungsbewegungen für gesellschaftliche Prozesse von großer Bedeutung und in bestimmten, wie ihr Objekt eher marginalisierten, wissenschaftlichen und politischen Feldern (z. B. „Ausländersoziologie“ oder „Ausländerpädagogik“) Gegenstand der Auseinandersetzungen.1 Der intensivere Diskurs um Themen und Topoi wie „Ausländer“, „Fremde“, „Migration“, „Integration“, „unsere ausländischen Mitbürgerinnen“ setzt freilich erst in etwa mit den 1980er Jahren ein. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit Bezug auf die Tatsache der Migrationsgesellschaft werden immer auch bestimmt von einer Art Identitätsfrage. Gerungen wird um die Antwort auf die Frage, welcher Typ von gesellschaftlichem Kontext nun die je relevante politisch-symbolische
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So unerwünscht die an die Arbeitskraft der Körper angeschlossenen Migrantinnen und Migranten in Deutschland waren, so wenig angesehen waren die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit ihnen beschäftigten. „Die Ausländerpädagogik und die Sozialarbeit mit ausländischen Arbeiterfamilien waren lange Zeit so marginal wie ihre Klientel“ (Auernheimer 2003, 46).
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Referenzeinheit sei und sein solle. Zwei sich ausschließende und zu Beginn polar formulierte Antworten standen in der Referenzeinheit, die wir als Deutschland kennen, ab den 1980er Jahren einander gegenüber: Deutschland sei eine „multikulturelle Gesellschaft“ vs. Deutschland „ist kein Einwanderungsland“. Faktisch war die zweite, da offizielle Identitätsantwort folgenreicher als die eher in „wohlmeinenden“ und „linken“ Milieus gepflegte multikulturelle Antwort. Immense Immigrationsbewegungen, im Zuge derer in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren Millionen so genannter (Spät-)Aussiedler und Aussiedlerinnen nach Deutschland kommen, die medial Beachtung findenden Morde und Übergriffe in Mölln, Rostock, Solingen, Hoyerswerda und anderen Orten, die diese Geschehnisse medial säumenden Lichterketten und die gleichzeitige Einschränkung des Rechts auf Asyl2 prägen den Migrationsdiskurs der letzten Dekade des vergangenen Jahrhunderts. Die Kritik an der offiziellen Beschwörungsformel „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ wird massiver und führt schließlich zu einem neuen offiziellen, gesellschaftlichen Selbstverständnis. Symbolischer Höhepunkt der Veränderung in Richtung der offiziellen Anerkennung der Migrationstatsache ist die Veränderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahr 2000. Deutschland distanziert sich von dem Prinzip, das Staatsangehörigkeit allein an „Volkszugehörigkeit“ qua Abstammung bindet und nimmt Elemente des „ius soli“ in seine Gesetzgebung auf. Seit der Jahrtausendwende kann in Deutschland nun eine überaus intensive
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„Die Bundesrepublik Deutschland ist [mit den Regelungen des 1993 veränderten Asylrechts] für asylsuchende Flüchtlinge auf dem Landweg legal nicht mehr erreichbar. Der Luftweg wiederum hat, der Kosten wegen, eine deutliche soziale Selektionsfunktion. Fliehen kann nur, wer das Geld für den Flug oder aber für Agenten und Schlepper hat, weshalb oft viele zusammenlegen und zurückbleiben müssen, um eine Flucht zu ermöglichen. Einfliegende Asylsuchende aus sog. ‚Nichtverfolgerstaaten‘ oder ohne gültige Papiere müssen im Transitbereich bleiben und dort auf ein Schnellverfahren warten. Viele im Inland abgelehnte Asylbewerber warten im ‚Asylknast‘ auf ihre Abschiebung, betreut von Gefängnispersonal, das für die Bewachung von verurteilten Kriminellen ausgebildet ist. Psychische Zusammenbrüche, Suizidversuche und gewaltsame Abschiebungen sind Alltag geworden im Land von Artikel 16a GG“ (Sechster Familienbericht 2000, 51).
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und darin kontroverse Thematisierung der Migrationswirklichkeit beobachtet werden. Im Rahmen dieser Thematisierung verweisen Wirtschaftsverbände, Vertreterinnen und Vertreter der politischen Parteien und auch der Bundesregierung seit einiger Zeit auf den so genannten Fachkräftemangel3 und die so genannte demographische Entwicklung und plädieren für die Anwerbung gut ausgebildeter „Fachkräfte“. Die Wirkung dieses Diskurses besteht unter anderem darin, dass in ihm die Unterscheidung von Menschen, die aufgrund ihres Migrationsstatus als nicht fraglos zugehörig gelten, in wirtschaftlich Nützliche und weniger Nützliche vorangetrieben wird. Das wandernde und wanderungsfähige „Humankapital“ ist zu einer der begehrtesten Ressourcen im globalen Wettstreit um die Sicherung des nationalen Wohlstandes und der nationalen Konkurrenzfähigkeit geworden. Dies wird auch in Deutschland erkannt. Gesteuerte Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist die Formel, in der das Bewusstsein um das Erfordernis gezielter und kontrollierter Migration zum Ausdruck kommt. Die Logik des neuen, auf demographischen und wirtschaftlichen Ausgleich zielenden öffentlichen Migrationsdiskurses ist hierbei im Kern ökonomistisch: „Nutzung von Arbeitskraft“, „Erhalt und Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit“, „Gewinnung Hochqualifizierter“, „Innovationskraft der Wirtschaft“, „Sicherung des Wohlstandes“ sind zentrale Vokabeln. Die Abkehr von der bis zu Anfang des 21. Jahrhunderts in Deutschland geltenden offiziellen Weigerung, die Migrationstatsache anzuerkennen, war zwar überfällig; zugleich muss aber darauf hingewiesen werden, dass mit Politiken, die bestrebt sind, die instrumentelle Bedeutung der Migranten und Migrantinnen sowie ihre Verwertbarkeit hervorzuheben, eine Reihe von Problemen verbunden sind. Beispielsweise wird dadurch in der Konsequenz zwischen „guten“ und „schlechten“ Migranten und Migrantinnen unterschieden. „Gute“ sind solche, die einen Beitrag zur Sicherung „unseres“ Wohlstandes leisten, „schlechte“ sind solche, die „unsere“ Ressourcen verbrauchen (Roma beispielsweise, die aufgrund rassistischer Verfolgung in bestimmten Teilen
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„Deutschland steht vor einem riesigen Fachkräftemangel – ein Phänomen, das sich in den kommenden Jahren drastisch verstärken wird. Dagegen helfen können vor allem drei Maßnahmen, darunter eine verstärkte Zuwanderung.“ (Fokus 2014)
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Europas versuchen, nach Deutschland zu gelangen und hier vom Innenministerium des „Missbrauchs“ bezichtigt werden). Der aktuelle Diskurs um sog. Armutszuwanderung (in Bezug auf Menschen aus Rumänien und Bulgarien) mutet hierbei besonders zynisch an, weil er nicht nur entlegene, vielmehr auch in Europa geltende Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsverhältnisse, die Migrationsbewegungen nach sich ziehen, nicht berücksichtigt und Menschen des Sozialhilfemissbrauchs bezichtigt. Gleichzeitig werden in Europa die mit der Öffnung nach innen einhergehende Abschottung der EU-Außengrenzen sowie die tödlichen Auswirkungen dieser Grenzsicherung nicht ausreichend problematisiert und in ihrem Ausmaß verschleiert. Zwar werden die Toten von Lampedusa kurzfristig öffentlich beklagt, die Abschottungspolitik wird jedoch nicht ernsthaft infrage gestellt, die „Europäische Agentur für die Operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“, Frontex, bleibt ein System der Abwehr, nicht des Schutzes von Flüchtenden, die nach Europa gelangen wollen.4 Dass Menschen fliehen oder migrieren und teilweise versuchen, nach Europa zu gelangen, kann sehr unterschiedliche Gründe haben: Bürgerkriege, Klimawandel, unzureichende Versorgung mit Wasser und/oder Lebensmitteln, unzureichende medizinische Versorgung, rassistische, religiöse oder genderspezifische Diskriminierung und Verfolgung, aber auch individuelle Aspirationen und kollektive Projekte.5 Im europäischen und bun-
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Dass sich trotz der Anfang Oktober 2013 zahlreichen Ertrunkenen vor Lampedusa nichts an der Abschottungspolitik an den EU-Außengrenzen geändert hat, zeigen die erneuten Toten vor Ceuta vom 6.02.2014: „Die beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla erleben seit zwei Wochen Massenanstürme, nachdem Spanien neue Anweisungen an seine Sicherheitskräfte herausgegeben hatte. Am 6. Februar [2014] waren mindestens 14 Flüchtlinge beim Versuch ertrunken, schwimmend über das Meer nach Ceuta zu gelangen. Der Einsatz von Gummigeschossen durch die spanischen Sicherheitskräfte führte in Spanien zu einer heftigen Debatte über den Umgang mit den Flüchtlingen.“ (Tagesschau 2014)
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Dass viele dieser Flucht- und Migrationsursachen mit dem bis heute nachwirkenden Kolonialismus sowie den nach wie vor herrschenden Ausbeutungsverhältnissen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden zu tun haben, wird von Thomas Gebauer eindrucksvoll beschrieben (vgl. Gebauer 2010).
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desdeutschen Diskurs um Migration wird aber eher ausgeblendet, dass eine geringere Zahl der Migrierenden nach Europa oder gar nach Deutschland gelangt. Die meisten Menschen, die ihre Heimat verlassen (müssen), fliehen oder migrieren innerhalb ihres Landes oder innerhalb der Herkunftsregion und kommen oftmals in Nachbarländern unter, die in viel größerem Maße von Flucht und Migration betroffen sind als Europa und Deutschland und die ökonomisch viel weniger in der Lage sind, die ankommenden Menschen adäquat unterzubringen und zu versorgen (vgl. Broden 2013, 8). Im Rahmen der hier nicht nur überaus grob, sondern auch recht selektiv wiedergegebenen jüngeren Geschichte des Migrationsdiskurses in Deutschland wurden eine Reihe von normativ-regulativen Überlegungen und Ansätzen formuliert und debattiert. Die Tragweite und Bedeutung dieser Vorschläge können wir uns daran klarmachen, dass Migration – verstanden als Bewegungen von Menschen über Grenzen ebenso wie Diskurse – nicht allein nach gewissermaßen technischen Fragen der Regulierung „der menschlichen Menge“ verlangt, sondern eine Problematisierung von symbolischen Grenzen der Zugehörigkeit und handfesten Ressourcenverhältnissen darstellt. Mit Bezug auf regulative Konzepte können nun in einer allgemeinen Einstellung zwei Typen von Konzepten unterschieden werden (die empirisch nicht immer zu unterscheiden und argumentativ wie praktisch zuweilen auch ineinander verschränkt anzutreffen sind): a) Partikulare Konzepte, die auf die Funktionsfähigkeit des Gesamtzusammenhangs bezogen sind. b) Universelle Konzepte, die auf die Ermöglichung der Integrität des und der Einzelnen bezogen sind. Erstere Konzepte, empirisch häufig an das Stichwort „Integration“ geknüpft, sind partikular, weil sie das Funktionieren eines abgegrenzten Zusammenhangs („Deutschland“, „Europa“, „unsere Gesellschaft“) zum Hauptbezug ihrer regulativen Vorschläge machen (z. B. „Migranten“ sollen die deutsche Sprache erlernen, weil die Verkehrssprache Deutsch das gesellschaftliche Funktionieren und seinen auch wertabhängigen Zusammenhalt ermögliche). Das Funktionieren des nationalgesellschaftlichen oder auch europäischen Gesamtzusammenhangs stellt in diesem Typ von Regulation die zu präferierende Größe dar. Erst in diesem konzeptionellen Horizont gilt es beispielsweise als legitim, einen rechtlichen Unterschied zwi-
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schen Menschen und in dem nationalen, respektive europäischen, Kontext privilegierten Menschen („(Unions-)Bürgern und Bürgerinnen“) zu machen. Universelle Konzepte hingegen werden mit implizitem oder explizitem Bezug auf grundlegende sozialphilosophische, gesellschaftskritische und moraltheoretische Argumente eingebracht. Regulative Bezugsgröße ist hier nicht der Vorrang des partikularen Raums, sondern die nicht kontextrelativ, sondern universell gedachte Würde oder Integrität der und des Einzelnen. Wenn der erste Regulationstyp danach fragt, wie migrationsgesellschaftliche Verhältnisse modelliert und gesichert werden können, die das Funktionieren der gesellschaftlichen Teilsysteme (organisiert beispielsweise um „Recht“, „Gesundheit“, „Bildung“) in einem größeren Funktionszusammenhang ermöglichen, fragt der zweite Regulationstyp danach, wie migrationsgesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden können, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Individuen sich selbst als würdevolle Wesen erfahren, darstellen und verändern können.6 Eine rassismuskritische migrationspolitische Perspektive beispielsweise kann als politische und pädagogische Praxis verstanden werden, die zum Thema macht, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse und Handlungsweisen von Individuen, Gruppen, Institutionen und Strukturen durch Rassismen in der Migrationsgesellschaft vermittelt sind, und diese stärken. Diese Perspektive zielt darauf ab, auf Rassekonstruktionen beruhende und diese stärkende Unterscheidungen zu erkennen und zu problematisieren, dadurch zu schwächen und alternative Unterscheidungen deutlich zu machen, nicht um in erster Linie (mit Argumenten etwa, die die monetären Kosten von Diskriminierungsverhältnissen ausweisen) das Funktionieren des gesellschaftlichen Zusammenhangs zu befördern, sondern um vielmehr Gewalt zu mindern – koste es, was es wolle. Sie kann in einem allgemeinen Sinne als reflexive und unabschließbare, zugleich entschiedene Praxis verstanden werden, die von der Überzeugung getragen wird, dass es sinnvoll ist, nicht in dieser Weise auf rassistische Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen angewie-
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Universelle Konzepte werden nicht selten aus Minderheitenperspektiven formuliert, da Minderheiten ihren Forderungen nach Anerkennung ihrer spezifischen – etwa lingualen – Lebensform besonderes Gewicht durch den Bezug auf die universelle Geltung ihres Anspruchs verleihen.
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sen zu sein (siehe ausführlicher die Einleitung und die Beiträge in Melter/Mecheril 2009). Die rassismuskritische Perspektive tritt mit dem Anspruch auf, einen Beitrag zu alternativen, ‚gerechteren‘ Verhältnissen leisten zu wollen. Die Tagung „Für eine ‚andere Welt‘? Beiträge der Rassismuskritik zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse“, die im Herbst 2011 in Kooperation zwischen dem Center for Migration, Education and Cultural Studies (Universität Oldenburg) und dem Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW, Düsseldorf) durchgeführt wurde, analysierte Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und thematisierte die normativen Referenzen der Rassismuskritik, ging also der Frage nach, welche normativen Ansprüche und welche normativen Entwürfe rassismuskritischer Gesellschaftskritik zugrunde liegen und diese Kritik strukturieren und orientieren (können). Im Herbst 2012 schloss eine Tagung zum Thema „Solidarität – eine angemessene Orientierung für migrationspädagogische Reflexion und migrationspädagogisches Handeln?“ an. Das Insistieren auf Solidarität bedarf womöglich nicht nur des Mutes zum Anachronismus und vielleicht einer gewissen Beharrlichkeit, es impliziert auch neue Dilemmata und/oder Paradoxien, die bedacht werden wollen, damit weder die Bestärkung einer Verbundenheit mit einem exklusiven, partikularen Wir noch der Vorwurf der weltabgewandten Träumerei („Gutmenschen“) eine vorschnelle Bestätigung findet. Im Rahmen der Tagung im Herbst 2012 wurde hervorgehoben, dass (Migrations-)Pädagogik und Rassismuskritik einen Rahmen der Diskussion und Konkretisierung weltzugewandter Visionen gerechterer Verhältnisse darstellen, freilich nie frei von Dilemmata und/oder Paradoxien. Wenn in dem vorliegenden Band Solidarität als politische Praxis, als Solidarität in der Migrationsgesellschaft untersucht wird, so macht es Sinn, sie als einbezogene, involvierte (vgl. Messerschmidt 2009) Solidarität zu konzipieren, die nicht nur als „uneliminierbare moralische Dimension“ (Bayertz 1998, 44) gekennzeichnet ist, sondern zugleich ein konflikthaftes Handeln einschließt, will sie gesellschaftlich relevant sein: So kann Solidarität mit Flüchtenden und Asylsuchenden in der Kommune zu Auseinandersetzungen mit den machtvollen „Etablierten“ (Elias/Scotson 2002) führen, zu Konflikten mit Behörden und politisch Verantwortlichen. Solidarität mit
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Kindern und Jugendlichen, die im deutschen Schulsystem als migrationsgesellschaftliche Andere gelten („mit Migrationshintergrund“) bedeutet beispielsweise für Lehrerinnen und Lehrer ein Hineingezogenwerden in Auseinandersetzungen mit einem machtvollen und einem im Hinblick auf Veränderungen zurückhaltenden Schulsystem (Kolleginnen und Kollegen, Schulleitung, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bezirksregierung und des Schulministeriums, aber auch Eltern, Mitschülerinnen und Mitschüler …). Auch die „Ideologie der individuellen Chancen“ (Kampmann-Grünewald 2004, 296) steht im Widerspruch zu solidarischem Handeln. Dies wird beispielsweise durch die Causa Sarrazin belegt, denn in dieser wird letztlich kein wirklicher Widerspruch zu der wirkmächtigen Ideologie des PostWohlfahrtsstaates formuliert (vgl. Atzmüller 2014), dass jeder und jede seines oder ihres Glückes Schmied sei. Involvierte Solidarität ist eine Praxis der Kritik (vgl. Mecheril u. a. 2013); sie zielt auf das Erkennen der Schieflagen gesellschaftlicher Verhältnisse und ihre Veränderung. Solidarität drückt sich somit auch in einer widerständigen Haltung aus, die vielleicht nicht am Unüberzeugendsten mit der Foucaultschen Frage „Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird?“ (Foucault 1992, 11f.) angesprochen ist. Solidarität setzt damit ein Wissen um die Strukturen und Prozesse voraus, die uns regieren;7 Solidarität ermöglicht dieses Wissen aber auch und wendet sich darin von einer vorschnellen ideologischen Versöhnung mit dem Status Quo ab. „Die Erfahrung, gleichermaßen – wenn auch nicht auf die gleiche Weise und mit gleichen Konsequenzen – Imperativen ausgesetzt zu sein, die eben nicht auf die Entwicklung individueller oder sozialer Potentiale, sondern bewusst pointiert formuliert auf die Mehrung von Kapitalvermögen angelegt sind, ist aber eine nicht unwesentliche Voraussetzung für Solidarität.“ (KampmannGrünewald 2004, 296; Hervorhebung im Original) Solidarität gründet auf dem Wissen, dass die „Imperative“, die die Notlage des und der Anderen zur Folge haben, strukturelle Größen auch je meines Lebenszusammenhangs darstellen. Solidarisches Handeln entspringt
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Dass das hier angesprochenes Wir ein Wir ist, dass sich selbst durchaus unvertraut ist, wird in vielen Beiträgen des vorliegenden Bandes (etwa im Aufsatz von Serhat Karakayali oder Paul Mecheril) ausgeführt.
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zwar weder einer zwingenden Pflicht (zur Hilfe, zur Mildtätigkeit) noch dem Kalkül einer instrumentellen Logik (wie ich Dir, so Du – ein mögliches späteres Mal – mir), weist aber darauf hin, dass im Widerspruch zu bestehenden Verhältnissen, im Bemühen, problematische Verhältnisse zu verändern, und nicht zuletzt in der Realisierung „besserer Verhältnisse“ auch für die Akteure und Akteurinnen solidarischen Handelns dieses Handeln an sich sinnvoll und darin möglich ist. Solidarisches Handeln in der Migrationsgesellschaft hebt auf gesellschaftliche Veränderungen ab, die im Widerspruch zu Praxen stehen, die auf das Maß ökonomischer Nützlichkeit reduziert sind. Solidarisches Handeln, involviertes Handeln, setzt Empathiefähigkeit und ein „inneres Alarmsystem“ voraus, das dann anschlägt, wenn sich die Opfer der realen Verhältnisse, die alle betreffen, zu Wort melden, nicht die Privilegierten. Flüchtlinge sind Teil unserer Weltgesellschaft. „Der Andere fehlt, und deshalb gibt es keinen Kontakt“, so Richard Sennett (1998). Solidarität heißt dann wohl auch, das Fehlen des Anderen zu kompensieren, über Bedingungen nachzudenken und diese zu verantworten, die Andere ins Wirkliche setzen und wirklich sein lassen. Dass dies, da potenziell paternalistisch, womöglich gar patriarchal, ein nicht unproblematisches Unterfangen ist, ändert nichts daran, dass Solidarität unter Bedingungen praktischer Verflechtungen in räumlicher und kultureller Differenz und Distanz eine diskutierenswerte und auch angemessene Bezugsgröße in migrationsgesellschaftlichen Kontexten bezeichnet. Die vorliegende Anthologie beinhaltet einige Beiträge, die auf die beiden erwähnten Tagungen zurückgehen. Darüber hinaus konnten Autorinnen und Autoren gewonnen werden, die weiterführende Aspekte sowohl der Frage nach normativen Referenzen professionellen Handelns in der Migrationsgesellschaft als auch der Frage nach der Angemessenheit des bzw. eines Solidaritätsbegriffs als normative Referenz problematisieren. Das Buch ist entsprechend den beiden Tagungen in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil (Normative Referenzen der Rassismuskritik) finden sich Beiträge, die den ethischen Grundlagen einer rassismuskritischen Theoriebildung nachgehen. Die Beiträge des zweiten Teils (Solidarität – Erkundung einer (un)zeitgemäßen Orientierung) widmen sich aus unterschiedlichen Perspektiven und in exemplarischen Einstellungen dem Begriff der Solidarität mit Blick auf migrationsgesellschaftliche Fragestellungen.
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T EIL 1 Ist die Aufklärung noch zu retten? Oder muss sie angesichts ernstzunehmender Kritik durch die postkoloniale Theoriebildung über Bord geworfen werden, weil die maßgeblich von Kant und Hegel entwickelten normativen Grundlagen einer philosophischen Anthropologie der rassismuskritischen Befragung ihrer Protagonisten nicht standhält? Micha Brumlik geht dieser Frage nach und argumentiert, dass das von Kant geprägte Denken zumindest das Potenzial hat, den ihm innewohnenden herrschaftlichen Eurozentrismus zu überwinden. Der Autor versteht postkoloniale Theorie als einen Erkenntnisgewinn, der aus den Zwängen eines eurozentristischen Fortschrittsmodells befreit, und konstatiert, dass Ereignisse, die bislang „mental“ an der Peripherie lagen, nun ins Zentrum gerückt werden (können) und dass Loslösungen von Vereindeutigungszwängen der klassischen Historiographie möglich werden. In gleichermaßen kritischer Perspektive verdeutlicht Astrid Messerschmidt, dass eine normative Beanspruchung von Aufklärung und Emanzipation in der Rassismuskritik sich auf die inneren Brüche dieser Konzepte bezieht. Aufklärung und Emanzipation sind beschädigte Ideale, die freilich nicht aufgegeben werden können. Dabei kann sich Rassismuskritik keiner Eindeutigkeit, keiner ungebrochenen oder unreflektierten Normativität verschreiben, weil sie damit, so die Autorin, ihr kritisches Potenzial verlieren würde. Den wesentlichen Impuls der rassismuskritischen Konzepte und Theorie sieht Messerschmidt in der Aufforderung zur Selbstreflexivität, die eigenes Involviertsein in Rassismus mit bedenkt. „Dürfen Weiße Rassismuskritik betreiben?“ Mark Schrödters Frage bezieht sich auf die in letzter Zeit in Kontexten der Auseinandersetzung um Whiteness und Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland geführten Debatten und akzentuiert die Frage wissenschaftstheoretisch und -ethisch. Schrödters ironisch anmutende Frage könnte auch lauten: Wann ist Selbstpositionierung forschungsmethodologisch notwendig und forschungsethisch geboten? Es geht also nicht allein um die Frage der politischen Repräsentation, sondern um die Frage nach dem Verhältnis von Repräsentationspolitiken und dem wissenschaftlichen Tun: Wer ist ethisch berechtigt und wissenschaftlich in der Lage, über Ausbeutung und Missachtung, vor allem über Ausbeutungs- und Missachtungserfahrungen zu sprechen; wer ist berechtigt und in der Lage, Erfahrungen rassistisch Diskreditierbarer zu
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re-präsentieren und zu theoretisieren? Der Beitrag Schrödters kommt zu einem differenzierten Ergebnis: Zwar liege der Wissenschaft das Ideal der an dem bloßen Gehalt von Argumenten abzuschätzenden Güte von Aussagen zugrunde, das, was als gehaltvolles Argument gelte, sei aber in komplexe soziale Prozesse der Herstellung von Glaubwürdigkeit und Autorität verfangen, die die (Selbst-)Reflexion auf die Frage, wer hier eigentlich spricht, erforderlich mache. In seinem Beitrag zu postkommunitärer Solidarität setzt sich Paul Mecheril zunächst von einem Wissenschaftsverständnis ab, das vermeintlich wertfreie Fragen stellt und Antworten gibt, als würde sozialwissenschaftliche Arbeit lediglich soziale Sachverhalte abbilden, nicht aber erzeugen. Mit Bezug auf Pierre Bourdieu und über diesen hinausgehend plädiert Mecheril für eine moralische Reflexion der erkenntnisproduzierenden Prozesse im Dienste ihrer Verfeinerung und bedenkt in diesem Zusammenhang einen postkommunitär gefassten Begriff von Solidarität. Mit diesem Begriff, so Mecheril, sei der Umriss eines Motivs markiert, das kritische, auf die Theoretisierung von Notlagen, ihre Bedingungen und Wirkungen zielende Analysen (migrations-)gesellschaftlicher Verhältnisse gewissermaßen zu energetisieren imstande ist.
T EIL 2 Als erster Beitrag im zweiten Teil befasst sich Krassimir Stojanov explikativ mit dem Begriff der Solidarität und entfaltet ihn zunächst in seinem alltagsweltlichen Verständnis. Des Weiteren zeigt der Autor in Anschluss an Jürgen Habermas und Richard Rorty auf, wie der Solidaritätsbegriff von seiner Bindung an partikulare Gemeinschaften und Interessen abgelöst werden kann. Auf dieser Grundlage führt Stojanov Gründe für ein solidarisches Handeln im Bildungswesen der Migrationsgesellschaft, das zur Stärkung der Bildungsmotivation und der Bildungsfähigkeit aller Kinder dieser Gesellschaft beiträgt, an. Dass Solidarität mit den Anderen, mit den Fernen, keine multikulturalistische Überforderung oder allein ein moralisches Gebot darstellt, dass vielmehr erst mit dem Verlassen der engen Gemeinschaft und mit der Öffnung für eben jene Andere die Bildung einer kosmopolitischen Bürgerschaft ermöglicht wird, erläutert Serhat Karakayali in seinem Beitrag, in-
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dem er den Solidaritätsbegriff historisch und philosophiegeschichtlich nachzeichnet. Dabei plädiert er für eine Verschiebung der solidaritätstheoretischen Thematik, weg von der Frage, mit wem wir solidarisch sein können, hin zur Analyse der Umstände, die ein entsprechendes Handeln verhindern. Karakayali interpretiert politische Gemeinschaften als prinzipiell unabschließbar und verweist mit Bezug auf Michael Hardt und Antonio Negri darauf, dass durch Migrationsprozesse eine Beschleunigung und ein sozialer Wandel in Richtung auf die kosmopolitische Gesellschaft möglich werden. In seinem Beitrag „‚… aller Länder, vereinigt euch!‘ Integration, AntiIntegration, Solidarität“ befasst sich Radostin Kaloianov mit kritischen Ansätzen in der Migrationsforschung. Exemplarisch befasst sich der Autor mit der Kritik am Integrationskonzept. Integration wird von verschiedenen Autoren und Autorinnen verstanden als Bestandteil eines hegemonialen Zugriffs auf in der Migrationsgesellschaft als Andere geltende Personen, die hierüber erst als Andere adressiert werden. Kaloianov sieht in diesen kritischen Stellungnahmen nun jedoch einen Antikollektivismus walten, der letztlich zwei Konsequenzen hat. Erstens wird damit eine Art szientifische Überlegenheit der Kritik gegenüber der auf migrantisch-kommunitärer Solidarität gründenden Alltagspraxis bekräftigt und gesichert, wodurch zweitens die Integrationsleistungen, verstanden als Selbstermächtigung, von Migranten und Migrantinnen geringgeschätzt und de-thematisiert werden. Das Konzept des Verbündet-Seins wird im Beitrag von Gudrun Perko und Leah Carola Czollek vorgestellt. Es ist ein Konzept, das auf der Reflexion der Privilegien beruht, und zwar der Privilegien von Menschen, die sich, auch auf die Gefahr hin, dass sich ihr eigener privilegierter Status dadurch verändert, für Gerechtigkeit im Sinne von Social Justice einsetzen. Die beiden Autorinnen interpretieren Verbündet-Sein als spezifische Form von Solidarität in der Migrationsgesellschaft, die neben ethnisch-nationalen Kategorien auch Differenzlinien wie Geschlecht, Alter, soziale und kulturelle Herkunft, Gesundheit in den Blick nimmt. Der Beitrag von Sabine Hornberg konkretisiert Solidarität am Beispiel des möglichen Engagements für mehr Bildungsgerechtigkeit für Roma. Mit Hintergrundinformationen zu ihrer Lebensrealität in Ost- und Südosteuropa sowie in der Bundesrepublik Deutschland werden der gesellschaftliche Hintergrund für den Bildungsbereich abgesteckt, ihre Bildungsbeteiligung skizziert und Ansätze für die Bildungsarbeit mit dieser Minderheit in
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Deutschland vorgestellt. Der Beitrag schließt mit der Skizzierung von zentralen migrationspolitischen Herausforderungen, die sich für die Bundesrepublik Deutschland entwickeln lassen und mit einem Ausblick auf Handlungsspielräume sowie Handlungsempfehlungen für eine gerechtere Bildungsarbeit.
L ITERATUR Atzmüller, Roland (2014): Aktivierung der Arbeit im Workfare-Staat. Arbeitsmarkt und Ausbildung nach dem Fordismus, Münster Auernheimer, Georg (2003): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik (3. Auflage), Darmstadt Bayertz, Kurt (1998): Begriff und Problem der Solidarität, in: Ders. (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt a. M. Broden, Anne (2013): Migration und europäische Abwehrpolitik, in: IDANRW (Hg.): Überblick 4/2013, 6-12. Elias, Norbert/Scotson, John L. (2002): Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a. M. Fokus-online (2014): www.focus.de/politik/gastkolumnen/klug/fachkraefte mangel-in-der-wirtschaft-ueber-6-millionen-arbeiter-fehlen-deutsch land-schrumpft-sich-ins-mittelmass_id_3459481.html (05.03.2014) Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin Gebauer, Thomas (2010): Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen. Eine Herausforderung für unser Handeln. Rede vom 11.11.2010 im Ökumenezentrum der EKM Magdeburg; www.medico.de/themen/menschen rechte/migration/dokumente/alte-und-neue-fluchtursachen/3025/ (15.11.2013) Kampmann-Grünewald, Andreas (2004): Solidarität oder „Sozialkitt“? Der Strukturwandel freiwilligen gesellschaftlichen Engagements als Herausforderung christlicher Praxis, Mainz Mecheril, Paul/Arens, Susanne/Melter, Claus/Romaner, Elisabeth/ThomasOlalde, Oscar (2013): Migrationsforschung als Kritik? Eine Annäherung an ein epistemisches Anliegen in 57 Schritten, in: Dies. (Hg.): Migrationsforschung als Kritik? (Sowohl in Band I als auch Band II), Wiesbaden, 7-55.
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Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.) (2009): Rassismuskritik: Rassismusforschung und Rassismuserfahrungen (Band I), Schwalbach/Ts. Messerschmidt, Astrid (2009): Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt a. M. Sechster Familienbericht (2000): Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen – Belastungen – Herausforderungen, herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin Tagesschau-online 2014: www.tagesschau.de/ausland/ceuta100.html (05.03.2014)
Teil 1 Normative Referenzen der Rassismuskritik
Normative Grundlagen der Rassismuskritik M ICHA B RUMLIK
K LASSIKER
UNTER
A NKLAGE
Es hat den Anschein, als gerieten die normativen Grundlagen einer Kritik an Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus angesichts postkolonialer Theorie unter Verdacht (vgl. Fanon 1980; vgl. Memmi 1980). Der Begriff der „Rasse“ (vgl. Hannaford 1996) selbst, ja sogar die Idee einer allgemeinen philosophischen Anthropologie (vgl. Rölli 2011) werden damit Gegenstand einer historisch-ideologiekritischen Betrachtung. Es sind der moralische Universalismus Immanuel Kants und Hegels Philosophie der Anerkennung, die ihre Brauchbarkeit als Grundlagen verwirkt zu haben scheinen. Seit Robert Bernasconis schon klassisch gewordenem Aufsatz „Kant as an Unfamiliar Source of Racism“ aus dem Jahr 2002 (vgl. Bernasconi 2002, 145-166) sind eine Reihe von Beiträgen erschienen, die Kant und Hegel, die bisher als Zeugen wider den Rassismus verstanden wurden, als dessen wahre Begründer erscheinen ließen. Tatsächlich lässt sich bei Kant in der 1775 entstandenen Schrift „Von den verschiedenen Rassen der Menschen“ Folgendes lesen: „Übrigens ist feuchte Wärme dem starken Wuchs der Tiere überhaupt beförderlich, und kurz, es entspringt der Neger, der seinem Klima wohl angemessen, nämlich stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist.“ (Kant 1964, Bd. 9, 23)
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Das führt in einer vergleichenden Betrachtung verschiedener „Rassen“ zu einer eindeutigen Hierarchisierung: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer [Inder] haben schon ein geringes Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.“ (Ebd., 116) Dies ist eine Meinung Kants, die deswegen unbekannt blieb, weil sie sich so nur in der eher peripheren Vorlesung über „Physische Geographie“ findet. Einzuräumen ist freilich auch, dass in den weitaus bekannteren Ausführungen zur „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse“ zu lesen ist: „Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen unterschieden; und es gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen.“ (Ebd., 75) Hegel, der Philosoph der Vernunft und des absoluten Rechts eines jeden Menschen auf Rechte, erscheint in einem besonders düsteren Licht, wie seine Äußerungen aus dem Jahr 1822 zeigen: „Der Neger stellt“, so Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, „den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; vor aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.“ (Hegel 1970a, 122)
Aus dieser „Beobachtung“ folgt für Hegel, dass jene afrikanischen Menschen, die er als „Neger“ bezeichnet, noch nicht einmal eine Ahnung von der „Würde des Menschen“ entwickelt hätten: „Die Wertlosigkeit des Menschen geht ins Unglaubliche; die Tyrannei gilt für kein Unrecht, und es ist als etwas ganz Verbreitetes und Erlaubtes betrachtet, Menschenfleisch zu essen. Bei uns hält der Instinkt davon ab, wenn man überhaupt beim Menschen vom Instinkte sprechen kann. Aber bei dem Neger ist dies nicht der Fall, und den Menschen zu verzehren hängt mit dem afrikanischen Prinzip überhaupt zusammen; für den sinnlichen Neger ist das Menschenfleisch nur Sinnliches, Fleisch überhaupt.“ (Ebd., 124f.)
Daraus wiederum folgt für Hegel eine gewisse Legitimation der Sklaverei:
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„Aus diesen verschiedentlich angeführten Zügen geht hervor, daß es die Unbändigkeit ist, welche den Charakter der Neger bezeichnet. Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildung fähig, und wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen. Der einzige wesentliche Zusammenhang, den die Neger mit den Europäern gehabt haben und noch haben, ist der der Sklaverei. In dieser sehen die Neger nichts ihnen Unangemessenes, und gerade die Engländer, welche das meiste zur Abschaffung des Sklavenhandels getan haben, werden von ihnen selbst als Feinde behandelt. Denn es ist ein Hauptmoment für die Könige, ihre gefangenen Feinde oder auch ihre eigenen Untertanen zu verkaufen, und die Sklaverei hat insofern mehr Menschliches unter den Negern geweckt.“ (Ebd., 128)
Einer solchen Deutung Hegels hat Susan Buck-Morss speziell mit Blick auf die Frage der Sklavenbefreiung massiv widersprochen, indem sie nachzuweisen versuchte, dass Hegel von den Sklavenaufständen Kenntnis hatte und sie in seiner „Phänomenologie des Geistes“ implizit verarbeitete (vgl. Buck-Morss 2011). Damit hat die Philosophen des deutschen Idealismus schlussendlich jene Aufklärung ereilt, die den britischen Empiristen, zumal John Locke und David Hume, schon seit längerem zuteil wurde – in deren Fall durch den Nachweis verstärkt, dass sie derlei Positionen auch, wenn nicht vor allem, aus materiellen Interessen – Locke war wirtschaftlich an der auf Sklaverei basierenden Plantagenwirtschaft in der Karibik engagiert – vertreten haben (vgl. Brumlik 2002). In diesem Zusammenhang hat Wulf D. Hund eine weitere Studie zu Kant vorgelegt, in der er mit erdrückenden Belegen nachweist, dass Kant nicht nur als einer der Urheber des Hautfarbenrassismus zu gelten hat, sondern auch als Begründer eines kulturellen Rassismus, dessen menschheitsuniversalistisches Fortschrittskonzept letztlich darauf zielt, alle anderen – als „Rassen“ bezeichneten Gruppierungen der Menschen – zum Verschwinden zu bringen, um Fortschritt und Aufklärung ihre Erfüllung allein in politischen Verbänden weißhäutiger Menschen finden zu lassen (vgl. Hund 2011). Das lässt sich besonders prägnant an Kants mehrdimensionaler Judenfeindschaft zeigen, die von aufklärerischem, christlich grundierten Antijudaismus bis hin zu vorurteilsgeladenen Abwertungen der sog. „Palästiner“ reichen, die im Wesentlichen als betrügerische, „vampyrische“ Händler skizziert werden (vgl. Brumlik 2000, 58f.; vgl. Kant 1970, 517). Mit Blick auf Hegel scheint die Beurteilung noch eindeutiger zu sein: Seine aus heutiger Sicht absolut skandalösen Äußerungen in den Vorlesun-
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gen zur Philosophie der Geschichte über Afrika als geschichtslosen Kontinent und seine nicht zum Bewusstsein ihrer Menschlichkeit gekommenen Bewohner können durch sein zwar entschiedenes, aber doch vorsichtiges Eintreten für eine maßvolle Aufhebung der Sklaverei nicht mehr aufgewogen werden.
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Gleichwohl stellt sich die Frage, was diese – durchaus notwendigen Hinweise auf Hegels und Kants Rassismus – systematisch bedeuten: Haben Kant und Hegel ihre – nennen wir sie – fortschrittlichen Positionen ihren rassistischen Überzeugungen zum Trotz entwickelt oder besteht ein begrifflich notwendiger, dialektischer Zusammenhang zwischen menschheitsuniversalistischer Normativität hier und andere Menschen bzw. Kulturen abwertenden eurozentrischem Fortschrittsgedanken dort? Und was folgte – wenn dem so wäre – daraus? Wären Fortschritts- und Aufklärungsgedanke dann ebenso preiszugeben wie die Idee einer allen menschlichen Individuen zukommenden unveräußerlichen Würde? Und wenn nicht, warum nicht? Lässt sich die Geltung von Menschheitsuniversalismus und Menschenwürde von seiner eurozentrischen Genese lösen? Und wenn dies tatsächlich möglich wäre: Würde das die uns vertrauten Gehalte dieser normativen Programme wesentlich verändern und wenn ja in welcher Hinsicht? Diese Fragen lassen sich nicht vorab beantworten, gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass sie jedenfalls den Zeitgenossen Kants und Hegels in manchen Fällen durchaus bekannt waren. Im Folgenden sollen zunächst zwei Überlegungen präsentiert werden, die darauf verweisen, dass wesentliche Gehalte der Theorie der Menschenwürde und der universellen Anerkennung in Reaktion auf Emanzipationsbestrebungen und soziale Kämpfe – zumal Schwarzer – in das Werk jedenfalls Hegels eingeflossen sind, bzw. dass – ein jedenfalls kritischer Kantianismus – durchaus in der Lage ist, Kants Beschränkungen hinter sich zu lassen. Hegels Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft“ in der 1807 erschienenen „Phänomenologie des Geistes“ gehört zu den berühmtesten Stücken der Philosophiegeschichte. Es inspirierte nicht nur Marxens Theorie der Revolution und des Proletariats, sondern übte über die Vorlesungen
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Alexandre Kojeves auch wesentlichen Einfluss auf den französischen Existenzialismus aus. Jürgen Habermas und in seiner Spur Axel Honneth haben diesem Kapitel und seinen Vorarbeiten wesentliche Impulse zu ihrer Sozialphilosophie der Anerkennung zu verdanken. 2009 hat die US-amerikanische Philosophin Susan Buck-Morss, die bisher durch ihre sorgfältigen Interpretationen der Arbeiten Walter Benjamins hervorgetreten ist, eine in den USA heiß umstrittene Schrift vorgelegt, die auf Deutsch unter dem Titel „Hegel und Haiti“ publiziert wurde und in ihrer englischen Ausgabe als „Hegel, Haiti und Universal History“ firmierte. In dieser Schrift geht es Susan Buck-Morss keineswegs nur um den (versuchten) Nachweis, dass sich Hegels Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft“ seiner Kenntnis der haitianischen Revolution von 1791 verdankt, sondern vor allem um die systematische Frage, wie sich derzeit – in einer globalisierten Welt, in der in den Sozialwissenschaften postkoloniale Perspektiven immer wichtiger werden – „Universalgeschichte“ noch treiben lässt. Den Begriff der „Universalgeschichte“ prägte übrigens – ebenfalls weitgehend vergessen – Friedrich Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1789. Buck-Morss versucht nun nicht weniger als den Aufstand der Schwarzen auf der heute Haiti genannten karibischen Insel im Jahre 1791 als das wesentliche universalhistorische Ereignis nachzuzeichnen, das auch und gerade Hegels Theorie der Anerkennung zu ihrer Entfaltung gebracht hat. Ein kurzer Abriss der Geschichte der Insel macht den Gedanken plausibel: Die zwischen Spanien und Frankreich geteilte Insel Hispaniola war im 18. Jahrhundert ein wesentlicher Produktionsort für die neue bürgerliche Droge des Kaffees bzw. seiner süßenden Zubereitung durch Zucker. Nach Ausrottung der indianischen UreinwohnerInnen sorgte der massenhafte Import westafrikanischer Schwarzer als SklavInnen für die benötigte Arbeitskraft. Am Vorabend der französischen Revolution stellten schwarze SklavInnen etwa 90 % der dortigen Bevölkerung. Der Rest dieser rassistisch gegliederten Klassengesellschaft ungleichen Rechts bestand zu gleichen Teilen aus Weißen und NachfahrInnen von weißen und schwarzen Elternteilen, damals „Mulatten“ genannt. Die Schwarzen selbst unterlagen dem 1685 vom französischen König Ludwig XIV. erlassenen „Code Noir“, der nicht nur den Katholizismus als Staatsreligion festlegte, sondern vor allem drakonische Strafen gegen ungehorsame oder entflohene SklavInnen
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festlegte, den Herren gleichwohl ihre Folter verbot und ihre Freilassung grundsätzlich ermöglichte. 1791 – unter dem Einfluss der revolutionären Ereignisse in Frankreich – erhob sich die schwarze Sklavenbevölkerung Haitis unter Francois Dominique Toussaint, genannt L’Ouverture, gegen ihre UnterdrückerInnen, wobei es zu nicht unerheblichen Massakern an der herrschenden weißen Bevölkerung kam. Die Erhebung war eine Reaktion auf den Umstand, dass sich das revolutionäre französische Parlament, der Konvent in Paris, nicht imstande sah, den „Code Noir“ aufzuheben und die Prinzipien der Revolution allen französischen Untertanen, einschließlich der schwarzen SklavInnen auf Haiti, zu gewähren. 1797 schließlich dekretierte der Pariser Konvent die Freiheit der SklavInnen; freilich wurde die 1801 gegebene freiheitliche Verfassung Haitis kurz darauf unter Napoleon wieder aufgehoben. Ein französisches Expeditionskorps besiegte und verhaftete 1802 den Führer der befreiten Sklaven, Toussaint L’Ouverture, und wurde doch kurz darauf wieder von der Insel vertrieben. Ein Mitstreiter Toussaints, Jean Jacques Dessalines, dem erhebliche Grausamkeit gegen die Weißen nachgesagt wurden, proklamierte 1804 die Unabhängigkeit der Insel und ernannte sich – wie Napoleon – selbst zum Kaiser. Damit war Haiti nach den USA der zweite Staat in der Region der Amerikas, der die Unabhängigkeit errungen hat – Jahre vor der Unabhängigkeit der anderen lateinamerikanischen Staaten. Mit der Ermordung Kaiser Jakobs I., wie sich Dessalines nun nannte, im Jahre 1806 verfiel dieses noch heute besonders arme Land in ungezählte politische Turbulenzen, die die Insel im 20. Jahrhundert praktisch erst zu einem Protektorat der USA werden ließ, um in einem bis heute nicht endenden Strudel von Putschen, Diktaturen und Revolten zu versinken. Buck-Morss, die im Unterschied zur marxistischen Orthodoxie davon überzeugt ist, dass es bei Hegels „Herrschaft und Knechtschaft“ nicht um den Gegensatz von Kapital und Arbeiterklasse – auch nicht in ihren rudimentären Anfängen – geht, kann plausibel machen, dass Hegel – ohne den Slavenaufstand jemals eindeutig zu erwähnen – von ihm gewusst haben muss. Indem sie nachweist, dass die von Hegel hochgeschätzte Monatszeitschrift „Minerva“ – sie wurde 1792 von dem liberal gesonnenen preußischen Offizier von Archenholz gegründet – ausführlich über die Verhältnisse in Haiti berichtete, kann sie kritisch fragen, warum Hegel dieses Ereignis nicht eigens und namentlich behandelt hat. Spätestens mit dieser kritischen Frage erreicht Buck-Morss jenen Punkt, um den es ihr eigentlich geht: Um
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eine massive, grundsätzliche Kritik an jeder Form eurozentrischer Universalgeschichte, die zwar nach wie vor die amerikanische und die französische Revolution, evtl. auch noch die bolivarischen Revolutionen Lateinamerikas in eine Universalgeschichte der Befreiung und Emanzipation einschreibt, aber ausgerechnet jene Revolution, in der sich die Unterdrücktesten der Unterdrückten unter Berufung auf die Menschenrechte erhoben haben, unterschlägt. Dieser Verdrängung misst Buck-Morss systematische Bedeutung zu und erkennt in ihr eine eurozentrische Zentralperspektive, die bei ihrer Geschichtsbetrachtung nicht nur unbefragt und selbstverständlich von der eigenen Hegemonie und Suprematie ausging, sondern auch von der Eindeutigkeit einer Zivilisationsgeschichte, die so niemals gegeben war. Damit versucht die Autorin, ohne dies jemals in dieser Deutlichkeit zu entfalten, die geschichtsphilosophischen Ideen Walter Benjamins, die er am deutlichsten in seinen „Thesen über den Begriff der Geschichte“ aus dem Jahr 1940 artikuliert hat, zu aktualisieren. Bei Benjamin heißt es in These XVII: „Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillegung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. Er nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk.“ (Benjamin 1980, 703)
Es liegt auf der Hand, dass sich mit dieser Perspektive für eine Universalgeschichte, die postkolonial belehrt ist, besondere Erkenntnisgewinne erzielen lassen. Hat man sich einmal aus den Zwängen eines eurozentrischen Fortschrittsmodells gelöst, geraten plötzlich Ereignisse, die bisher sowohl geographisch als auch mental an der Peripherie lagen, ins Zentrum. Löst man sich zudem in einer postmodernen Perspektive von den Vereindeutigungszwängen klassischer Historiographie, eröffnet sich ein Raum historischer Wahrheit, von dem wir jetzt wissen können, dass er nie abgeschlossen ist und der uns auf Ereignisse und Räume verweist, die bisher übersehen wurden. Daher:
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„Die politische Haltung des Wissenschaftlers“, so Buck-Morss Plädoyer, „die ich hier vorschlage, ist die der Neutralität. Allerdings meine ich damit nicht jene unparteiische Neutralität des „Die Wahrheit liegt immer irgendwo in der Mitte“, sondern eine radikale Neutralität, die darauf besteht, dass der Raum zwischen den feindlichen Linien immer porös ist. Dieser Raum mag umkämpft und unsicher sein, er ist allerdings frei und offen genug, so dass die Idee der Humanität nicht aus dem Blick gerät.“ (Buck-Morss 2011, 206)
Die von den europäischen Meisterdenkern verdrängte Revolution in Haiti war ein Ereignis, das sich vermeintlich peripher an nur wenig bemerkten oder gar verdrängten Bruchlinien der menschlichen Freiheitsgeschichte ereignet hat und ist als geschichtliches Fundstück von besonderem Wert für eine herrschaftskritische Universalgeschichte. Indes ist auch dieses Projekt sachlichen Einwänden ausgesetzt, die über die technische Frage, wie sehr man Hegel wirklich eine Kenntnis dieser haitianischen Revolution zuschreiben kann, bei weitem hinausgeht. Erstens ist zu fragen, ob es letztlich nicht doch das „Masternarrativ“ der französischen Revolution ist, das auch dieser Ereigniskette zugrunde liegt. Zweitens könnte es sein, dass Buck-Morss in ihrer Vorliebe für koloniale Revolutionen selbst einer Verdrängung unterliegt. An einer Stelle ihrer Studie hebt sie hervor, dass einer der Urheber der Sklavenaufstände ein gewisser aus Westafrika nach Haiti deportierter Mann namens Bookman gewesen sei, eine Erkenntnis, die sie darüber spekulieren lässt, ob dem Namen nicht zu entnehmen sei, dass es sich um einen gelehrten Muslim gehandelt haben könnte (vgl. ebd., 193). Dieser Umstand, wäre er erwiesen, könnte weitere Perspektiven erschließen, indes: Buck-Morss äußert sich nicht zu dem Umstand, dass der Islam über Jahrhunderte ungebrochen das System der Sklaverei mittrug und – anders als die Welt von Christentum und Aufklärung – niemals eine Abolitionsbewegung kannte. Vor allem stellt sich die Autorin drittens nicht der Frage nach der furchtbaren Dialektik befreiender Gewalt, wie sie in die Revolutionstheorien und -praxen kolonialer Befreiung bis zu Frantz Fanon eingegangen ist. Es verwundert doch sehr, dass die gelehrte Autorin, die sich so glänzend mit der Literatur des Revolutionszeitalters auskennt, ausgerechnet jene literarische Quelle weder erwähnt noch behandelt, die als eine der ganz wenigen den Aufstand der Schwarzen in Haiti zu ihrem Thema hat: Im Folgenden soll anhand einer Erzählung eines Zeitgenossen der idealistischen
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Philosophen, Heinrich von Kleists, gezeigt werden, dass das Thema informierten und sensiblen LeserInnen auf den Nägeln brannte. Schließlich: Die anfangs zitierten Äußerungen Hegels über die „Neger“ stammen aus dem Jahr 1822. Die von Buck-Morss mit Blick auf die „Phänomenologie des Geistes“ aus dem Jahr 1806 vertretene These, dass sich hinter der dort verhandelten Dialektik von „Herrschaft und Knechtschaft“ eine Theorie der Sklavenbefreiung als Reaktion auf den Aufstand in Haiti verberge, scheint damit widerlegt. Denn entweder hat Hegel alles, was er in dieser Beziehung 1806 noch wusste, vergessen bzw. revoziert oder er hatte sich doch nie mit der real existierenden Sklaverei seiner Zeit befasst. Oder könnte es sein, dass Hegel im Aufstand der Schwarzen auf Haiti eine Dialektik der Befreiung beobachtet hatte, die ihn wieder in rassistische Denkmuster zurückfallen ließ? Das könnte ein anderes Zeugnis zu diesen Ereignissen belegen.
D ER S CHRECK
DER
B EFREIUNG
Heinrich von Kleists 1811 publizierte Erzählung „Die Verlobung von St. Domingo“ schildert wie sonst kein literarisches Zeugnis jener Zeit die Schrecken einer befreienden Revolution, die schließlich in quasi genozidale Massaker ausartet: „Der Wahnsinn der Freiheit“, so Kleist durch den Mund des „Fremden“, eines in seiner Erzählung in französischen Diensten stehenden Schweizers, „der all diese Pflanzungen ergriffen hat, trieb die Neger und Kreolen, die Ketten, die sie drückten, zu brechen, und an den Weißen wegen vielfacher und tadelnswürdiger Misshandlungen, die sie von einigen schlechten Mitgliedern derselben erlitten, Rache zu nehmen.“ (Kleist 1993, 170)
Womöglich lässt sich Hegels „Herrschaft und Knechtschaft“ ohne das spätere Kapitel der Phänomenologie „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ doch nicht angemessen verstehen. Mit dem Hinweis auf Kleists Erzählung geht es jetzt auch – nach Hegel – noch einmal um Immanuel Kants philosophische Intuitionen bzw. deren Wirkungsgeschichte. Heinrich von Kleist, der als eigenständiger Denker und Dichter überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, war dennoch – wenn auch stets in kritischer Auseinandersetzung – von Kants
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Philosophie zutiefst geprägt. Von diesem Umstand ausgehend, will ich im Folgenden anhand einer knappen Analyse der „Verlobung in St. Domingo“ zeigen, dass das von Kant geprägte Denken jedenfalls das Potenzial hat, den ihr innewohnenden herrschaftlichen Eurozentrismus zu überwinden. Die Handlung der Erzählung ist schnell wiedergegeben: Ein versklavter Schwarzer namens Congo Hoango hatte in seiner Jugend einem weißen Gutsbesitzer das Leben gerettet und wurde daher nach der Rückkehr auf St. Domingo in die Freiheit entlassen, mit materiellen Gütern bedacht und zum Aufseher über seine Besitzungen ernannt. Der Witwer, zugleich der Gutsbesitzer, ließ sich mit einer entfernt verwandten Frau schwarz/weißer Herkunft namens Babekan ein, die aus einem früheren Verhältnis mit einem weißen Franzosen eine Tochter namens Toni hatte. Zu Beginn des Aufstandes ermordete Congo Hoango seinen ehemaligen Herrn und forderte dessen Lebensgefährtin und deren Tochter auf, flüchtigen Weißen, die bei ihnen Unterschlupf suchten, vorzugaukeln, ihnen zu helfen, um sie tatsächlich den schwarzen Aufständischen preiszugeben. Als ein junger Schweizer Zuflucht sucht, verliebt sich das Mädchen Toni in ihn und gerät in einen schweren Konflikt, als sie von ihrer Mutter aufgefordert wird, den jungen Mann zu verraten. Hin und her gerissen ruft sie den bewaffneten Trupp der weißen Flüchtlinge in ihr Haus, befreit den schon gefesselten jungen Mann, kann aber nicht mehr verhindern, dass die Truppen der Schwarzen ins Haus eindringen. Im Glauben, seine heimliche Verlobte habe ihn verraten, erschießt der junge Mann, Gustav, seine Verlobte. In Erkenntnis seines Irrtums begeht er Suizid, während Congo Hoango, dieser Inbegriff rächender Gewalt, mit dem Anführer der flüchtigen Weißen, einem Schweizer namens Strömli, ein Abkommen trifft, das es den Schweizern ermöglicht, unversehrt zu entkommen. Man kann natürlich, wie es in der Sekundärliteratur auch immer wieder geschehen ist, diese Erzählung vor allem als ein Narrativ tragischer Verstrickungen lesen, um den Widerstreit von erotischer Liebe hier und familialer, gruppenbezogener Loyalität dort, als ein Lehrstück über das bisweilen destruktiv wirkende Prinzip, jederzeit die Wahrheit sagen zu müssen, und über den erstaunlichen Wandel, dem menschliche Gefühle unterliegen. Was diese Erzählung jedoch aus anderen Erzählungen Kleist heraushebt, ist der Umstand, dass all diese Konflikte sich entlang der „Colour Line“ abspielen und die Handlung in einen revolutionären „Rassen“krieg verlegt ist, in dem
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in diesem Falle weiße Menschen die angsterfüllten und ausgesetzten Opfer sind. Daran, dass Kleist selbst einem rassistischen Vorurteil aufsitzt, scheint die Eingangspassage der Erzählung keinen Zweifel zu lassen: „Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Herrn Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter Neger, namens Congo Hoango.“ (Ebd., 160)
Freilich lässt Kleist in seinen einleitenden Worten, in denen er die Situation rahmt, keinen Zweifel an seiner kritischen Einstellung gegenüber dem Verhalten der revolutionären französischen Nationalversammlung: „Congo Hoango war, bei dem allgemeinen Taumel der Rache, der auf die unbesonnenen Schritte des National-Konvents in diesen Pflanzungen aufloderte, einer der ersten, der die Büchse ergriff, und, eingedenk der Tyrannei, die ihn seinem Vaterlande entrissen hatte, seinem Herrn die Kugel durch den Kopf jagte […]“ (ebd., 160).
In weiteren Schilderungen berichtet Kleist dann über seinen negativen Helden: „[…] bald fiel er am hellen Tage die in ihren Niederlassungen verschanzten Pflanzer selbst an, und ließ alles, was er darin vorfand, über die Klinge springen.“ (Ebd., 161) Des weitern wird von Congo Hoangos „unmenschlicher Rachsucht“ berichtet, die darin bestand, die fünfzehnjährige Tochter aufzufordern, flüchtige Weiße mit allen Liebkosungen „bis auf die letzte, die ihr bei Todesstrafe verboten war“, solange auf der Farm zu halten, bis er zurückkehrte. Dann war „unmittelbarer Tod das Los der Armen, die sich durch diese Künste hatten täuschen lassen.“ (Ebd., 161) In Heinrich von Kleists, des Kantianers Erzählung schlägt sich der Schrecken über den Akt einer unerwarteten, zunächst mit Sympathie betrachteten Befreiung der Geknechteten uneingeschränkt nieder. Das war eine Erfahrung, die Kant und Hegel jedenfalls mit Blick auf die Sklaverei nicht gemacht haben, was sie nicht hinderte, schon früh und enthusiastisch mit der Französischen Revolution, jedenfalls in ihren Anfängen, zu sympathisieren:
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„Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern ... – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer ... eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“ (Kant 1970, 358)
Von Hegel wiederum ist bekannt und gesichert, dass er sich nicht nur in seiner Jugend für die französische Revolution begeisterte, sondern ihr in ihren Grundzügen bei aller Kritik der terreur treu blieb. Einzuräumen ist allemal, und das wurde oben gezeigt, dass weder Kant noch Hegel die Problematik des Rassismus, die systematisch im Widerspruch zu ihren Ideen von Aufklärung und Vernunft steht, und vor allem das System der Sklaverei angemessen theoretisch fassen konnten. Aber – so will ich abschließen – wie soll eine Kritik an der menschenverachtenden Theorie des Rassismus und an einer ebenso menschenverachtenden Praxis wie der transatlantischen Sklaverei ohne Prinzipien formuliert werden, die uns Kant und Hegel vorgegeben haben: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant 1956, 61) Auch Hegel, in den 1820er Jahren von seinen frühen, judenfeindlichen Überlegungen abgekehrt, hatte politisch das formuliert, was als Vorläufer der Idee der Menschenrechte im heutigen Sinn gelten kann: „So formelles Recht man etwa gegen die Juden“, so Hegel als früher Denker des modernen Nationalstaats in seiner Rechtsphilosophie, „in Ansehung der Verleihung selbst von bürgerlichen Rechten gehabt hätte, indem sie sich nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volke angehörig sehen sollten, so sehr hat das aus diesen und anderen Gesichtspunkten erhobene Geschrei übersehen, daß sie zuallererst Menschen sind und daß dies nicht nur eine flache, abstrakte Qualität ist.“ (Hegel 1970b, 421)
Worauf es also auch im Geist postkolonialer, antirassistischer Kritik nur ankommen kann, ist, die Grundlage dieser Einsichten gegen die zeitbedingten Verzerrungen, Wahrnehmungsstörungen, schlicht falschen Überlegungen und gegen die mangelnde Konsequenz ihrer AutorInnen zu bewahren.
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L ITERATUR Benjamin, Walter (1980): Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt a. M. Bernasconi, Robert (2002): Kant as an Unfamiliar Source of Racism, in: Ward, Julia K./Lott, Tommy L. (Hg.): Philosophers on Race. Critical Essays, Oxford, 145-166. Brumlik, Micha (2000): Deutscher Geist und Judenhass, München Brumlik, Micha (2002): Der transatlantische Sklavenhandel, das Entstehen des modernen Rassismus und der Antisemitismus, in: Wojak, Irmtrud/ Meinl, Susanne (Hg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts): Jahrbuch 2002 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt a. M./New York, 69-86. Buck-Morss, Susan (2011): Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Frankfurt a. M. Fanon, Frantz (1980): Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt a. M. Hannaford, Ivan (1996): Race. The History of an Idea in the West, Washington Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970a): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970b): Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. Hund, Wulf D. (2011): It must come from Europe. The racisms of Immanuel Kant, in: Ders. et al. (Hg.): Racisms made in Germany, Berlin, 69-98. Kant, Immanuel (1956): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Ders.: Werke Bd. 6, Darmstadt Kant, Immanuel (1964): Von den verschiedenen Rassen der Menschen, in: Ders.: Werke Bd. 9, Darmstadt Kant, Immanuel (1964): Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, in: Ders.: Werke Bd. 9, Darmstadt Kant, Immanuel (1964): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Ders.: Werke Bd. 10, Darmstadt Kant, Immanuel (1970): Der Streit der Fakultäten, in: Ders.: Werke Bd. 9, Darmstadt Kleist, Heinrich von (1993): Die Verlobung in St. Domingo, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München
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Memmi, Albert (1980): Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts, Frankfurt a. M. Rölli, Marc (2011): Kritik der anthropologischen Vernunft, Berlin
Kritik und Engagement in den Uneindeutigkeiten von Befreiung, Unterdrückung und Vereinnahmung A STRID M ESSERSCHMIDT
Der folgende Beitrag geht auf den Kritikbegriff und das Kritikverständnis im Kontext von Rassismuskritik ein und nimmt historische Bezüge zur Geschichte rassistischer Praktiken auf. Dabei wird besonderes Gewicht darauf gelegt, dass ein Engagement gegen Rassismus selbst in Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist, die Rassismus reproduzieren.
K RITIK
ALS R EFLEXION DES EIGENEN I NVOLVIERTSEINS IN
R ASSISMUS
Mit dem Begriff der Rassismuskritik wird ein Anstoß gegeben, sich mit eigenen rassistischen Denkweisen und Praktiken auseinander zu setzen, anstatt Rassismus als eine Abgrenzungsfolie zu verwenden, die beansprucht wird, um sich selbst jenseits von Rassismus zu positionieren. Dem liegt ein Verständnis von Kritik zugrunde, das sich von Entlarvung unterscheidet. Gegenüber der Aufklärungstradition, die als wesentliche normative Referenz für rassismuskritische Interventionen betrachtet werden kann, erfolgt aus einer entlarvenden Kritikform die Verwerfung der Aufklärungsschriften, ihrer Verfasser und der daraus entwickelten Traditionen, weil dieselben Rassismus enthalten. Aus der Entlarvung der Nähen zum rassistischen Denken ihrer Zeit erfolgt eine Abgrenzung, um nicht selbst in die Nähe jenes
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Rassismus zu geraten, der im Zusammenhang der kolonialen Herrschaft im 18. und 19. Jahrhundert das europäische Denken prägte, während zugleich die Ideale von Mündigkeit, Vernunft und Gleichheit propagiert worden sind. Erst eine dialektische Perspektive auf die Aufklärung kann aber den in ihr sich etablierenden europäischen Rassismus erkennbar werden lassen. Schließlich ist die Phase der europäischen Aufklärung durch „zwei in ihren Ergebnissen widersprüchliche Strömungen gekennzeichnet: die Kritik an den herrschenden Mächten und Glaubenssätzen im Namen der Gedankenfreiheit und die Katalogisierung der Menschen im Geiste der erwachenden Naturwissenschaften“ (Scherschel 2006, 54), wobei die Klassifizierung menschlicher Unterschiede im Kontext der kolonialen Eroberungen von vornherein hierarchisierend erfolgt. Emanzipatorische Selbstvergewisserungsprozesse sowie die Ideen von Gleichheit und Vernunft sind historisch verknüpft mit den Abwertungen derer, die als ethnisch ‚Andere‘ identifiziert worden sind (vgl. ebd., 57). Weder eine idealisierende Affirmation der Aufklärung noch eine distanzierende Verwerfung sind aus meiner Sicht geeignet, um eine rassismuskritische Position einzunehmen. Eher geht es darum, die inneren Brüche innerhalb der Konzepte und der historischen Praktiken von Aufklärung und Vernunft wahrzunehmen und immanente Kritik zu üben.
R ASSISMUSKRITIK
UND
B ILDUNGSKRITIK
Im Umgang mit dem Bildungsbegriff, der genauso zur Aufklärungstradition gehört wie der Vernunfts- und der Freiheitsgedanke, entfaltet Theodor W. Adorno in seiner „Theorie der Halbbildung“ (1959) eine immanente Bildungskritik: Er beschreibt die bürgerliche Grundstruktur der Bildung, ohne deshalb Bildung für erledigt zu halten und stellt der Halbbildung nicht den traditionellen Bildungsbegriff entgegen, so als könne man eben die ‚ganze‘ Bildung haben. Ihm geht es um die Kritik genau dieser traditionellen Vorstellung, um eine Einsicht, warum Bildung notwendig zur Halbbildung geworden ist. Als „Antithese zur sozialisierten Halbbildung“ taugt der „traditionelle Bildungsbegriff“ keineswegs, steht dieser doch selbst unter Kritik (Adorno 1972, 102). So wie der Begriff der Kultur ist jener der Bildung nach Adorno nicht ungebrochen zu beanspruchen, weshalb der Versuch einer Kontrastierung von Bildung und Halbbildung misslingen muss. Dem-
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gegenüber gilt Adornos Vision einem Zustand, der „weder Kultur beschwört, ihren Rest konserviert, noch sie abschafft, sondern der selber hinaus ist über den Gegensatz von Bildung und Unbildung, von Kultur und Natur“ (ebd., 120) – ein Weder-Noch statt ein Sowohl-Als-Auch. Adornos Position ermöglicht es, Bildung immanent zu kritisieren und bietet einen Anknüpfungspunkt für eine Rassismuskritik, die ich als involvierte Kritik kennzeichnen möchte (vgl. Messerschmidt 2009, 205ff). Erst wenn es mir gelingt, deutlich zu machen, dass ich mich selbst sowohl strukturell als auch in einem zeitgeschichtlichen Gefüge als auch persönlich in die Problematik von Rassismus involviert sehe, wird eine Möglichkeit eröffnet, sich damit herrschaftsanalytisch auseinander zu setzen. Die eigene „Verortung in einem rassistischen Gefüge“ zu thematisieren (Pech 2006, 86), verändert die sozialen Beziehungen in Bildungsprozessen, weil deutlich wird, dass es sich um ein gemeinsames Problem sowohl von Lehrenden wie von Lernenden handelt, das allerdings sehr unterschiedlich erlebt werden kann – je nachdem, welche Machtposition eingenommen wird und welche Privilegien damit verbunden sind und je nachdem, welche Machtressourcen jemandem verwehrt werden. Sich in den Gegenstand zu involvieren, ist aber nicht als methodisches Gestaltungselement aufzufassen, um Lernverhältnisse zu dynamisieren, sondern in der Sache selbst begründet. Wer Rassismen analysieren will, stößt auf die eigene strukturelle Verwobenheit mit dem Problem – sei es aufgrund eigener Diskriminierungserfahrungen oder aufgrund der eigenen privilegierten sozialen Position, in der Whiteness unsichtbar gemacht wird, weil es der unausgesprochenen Norm entspricht.
A UFKLÄRUNG
UND
S KLAVENAUFSTAND
Die Gleichzeitigkeit von Aufklärung und Sklavenökonomie beschäftigt Susan Buck-Morss in „Hegel und Haiti“ (Buck-Morss 2011). Den Aufstand der Sklaven von Haiti im Jahr 1791 würdigt sie als einen bedeutenden Schritt in einer Aufklärungsgeschichte, die aus den Ideen politische Praxis werden lässt – und zu dieser Umsetzung von Idealen in Praxis gehört eine Gewalteskalation, die es wiederum verbietet, den Aufstand selbst zu idealisieren. Das Bedürfnis nach einer reinen Geschichte von Widerstand und Täterschaft kann im Rückgriff auf die historischen Ereignisse nur um den
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Preis von Ausblendungen befriedigt werden. Die antikolonialen Befreiungsprozesse bieten viele Anlässe, sich mit der Uneindeutigkeit von Befreiung und Unterdrückung auseinander zu setzen. Die Befreiungsprozesse haben zu neuen Machtkonstellationen geführt, die wiederum Ungleichheitsstrukturen produziert haben. Der Kolonialismus hat keine totale Herrschaft erzeugen können, und ihn darauf zuspitzen zu wollen, verfehlt die innere Uneindeutigkeit kolonialer Herrschaftspraktiken in doppelter Hinsicht. Zum einen werden dabei die „Momente von Eigensinn und Widerstand kolonisierter Subjekte“ ausgeblendet, auf die Kien Nghi Ha unter Bezugnahme auf Homi Bhabhas Analysen aufmerksam macht (Ha 2005, 88). Zum anderen bleibt die „unheimliche Ähnlichkeit des Kolonisierten mit dem Kolonisierenden“ außen vor (ebd., 89). So zu tun, als handle es sich um rein oppositionelle Positionen, bleibt in einem binären Muster von Opfern und Tätern stecken, wodurch insbesondere die Kolonisierten wiederum als handlungsunfähig erscheinen. Zugleich sollte aber eine Auseinandersetzung mit den wechselseitigen Hervorbringungen von Kolonisator und Kolonisiertem nicht zu einer Relativierung der Gewalt- und Demütigungserfahrungen führen. Wenn dem kolonialen Rassismus ein „gegensätzliche(s) Verhältnis von Abspaltung und Identifikation“ inhärent ist, dann treffen sich darin „gewalttätige Diskurse“ und „Vereinigungswünsche(.)“ (Ebd., 114). Die Wahrnehmung der inneren Zwiespältigkeit kolonialer Herrschaft und ihrer Wirkungen ist in sich selbst eine zwiespältige Angelegenheit und verlangt Sensibilität im Umgang mit Uneindeutigkeit. Mit der Durchsetzung kolonialer Verhältnisse ist ein „voneinander abhängiges Referenzsystem von Bedeutungszuweisungen und gesellschaftlichen Hierarchien“ entstanden, das bei allen Wechselwirkungen auf ungleichen Beziehungen basiert (ebd.). Zwar hängt die koloniale Machtartikulation von „einer unvermeidlichen Einbeziehung des Anderen“ ab (ebd.), aber diese Einbeziehung erfolgt aus einer militärisch-technologisch abgesicherten, überlegenen Position, und sie erfolgt zum Zweck der Herrschaftssicherung. Dennoch wird diese Position eben durch die Abhängigkeit von den Kolonisierten uneindeutig und instabil. Für die kritische Analyse des Kolonialismus ist daher eine differenzierende Sicht auf Herrschaftsverhältnisse erforderlich, die sich nicht in der Darstellung imperialer Unterwerfung erschöpfen kann. Die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Herrschaft und Befreiung macht den Grundgedanken der „Dialektik der Aufklärung“ aus. In den
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gleichnamigen „philosophischen Fragmenten“, die Horkheimer und Adorno 1947 veröffentlichten, wird der Zusammenhang zur Sklavenökonomie aber genauso wenig explizit wie bei den als Klassiker der Bildungstheorie beanspruchten europäischen Philosophen Kant und Rousseau. Bei den einen bleibt sie abstrakt, bei den anderen ausgeblendet, und das macht einen Unterschied aus. Denn anders als Kant und Rousseau gehen Horkheimer und Adorno von einer in sich gebrochenen Aufklärung aus, während die humanistischen Bildungsvorstellungen den Bruch außerhalb der aufgeklärten Bildungsidee verorten und somit auslagern. Die Verdrängung der inneren Dialektik europäischer Konzepte von Freiheit und Vernunft führt zu dem von Buck-Morss angesprochenen „blinden Fleck“ in der „akademischen Forschung des Westens“ (Buck-Morss 2011, 46). Aus einer materialistischen Perspektive ist diese Blindheit plausibel, gehen doch die Ressourcen dieser Forschung auch aus der Sklavenökonomie hervor, die eine wesentliche Voraussetzung des florierenden Handels war, der die Industrialisierung erst ermöglicht hat. Dass Rousseau die real existierende Sklavenarbeit verdrängte, lässt sich aus seiner Einbindung in das Denken seiner Zeit erklären, schwerer wiegt die Fortsetzung dieser Verdrängung durch seine Rezipienten. Die abstrakte Verurteilung von Unfreiheit blieb folgenlos, eine theoretische Empörung bei gleichzeitiger Ignoranz. Wie sich diese Konstellation heute fortsetzt, könnte anhand des Umgangs mit aktuellen rassistischen Ausbeutungsstrukturen in globalisierten Produktionsformen sichtbar gemacht werden. Was heißt da schon global denken? In der erziehungswissenschaftlichen Rekonstruktion der Geschichte der Bildung ist der weiße Fleck weitgehend immer noch vorhanden. Seit den 1970er Jahren haben feministische Wissenschaftlerinnen die unmarkiert männliche Geschichtsschreibung von Erziehung und Bildung thematisiert und das Denken der Differenz eingeführt – ein bedeutender Einschnitt (vgl. Jacobi 1991). Die unmarkiert weiße Geschichte der Bildung ist in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft demgegenüber bisher kaum benannt worden, weshalb sich eine weiße Bildungsgeschichte fortsetzt. Feministische Wissenschaftskritik hat das Subjekt der Aufklärung dekonstruiert und dessen Partikularität heraus gearbeitet. Postkoloniale Wissenschaftskritik stellt eine Geschichtsschreibung in Frage, die koloniale Herrschaft ausblendet und rekurriert auf die Erfahrungen antikolonialer Befreiung.
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Beide Kritikkonzepte stoßen im Verlauf ihrer Entwicklung auf eigene Ausblendungen und neue Praktiken hegemonialer Subjektkonstruktion. In Buck-Morss’ Essay wird die Idee kollektiver Teilhabe und Freiheit in der Erfahrung der Sklaven verankert. Ihre Kämpfe werden als wesentlich für die Entwicklung der Aufklärung betrachtet. Mit ihrem Befreiungskampf sind sie zu „Agenten der Weltgeschichte“ geworden (ebd., 27), werden aber von der Geschichtsschreibung selten als solche betrachtet. In der historischen Rekonstruktion wird der Beitrag der Versklavten missachtet, sie bleiben Objekte, während die Geschichte als eine der Sieger erscheint, wie Walter Benjamin in seinen „Thesen zum Begriff der Geschichte“ ausführt. Für Benjamin ist diese partikulare Siegergeschichte Ausdruck des Historismus (vgl. Benjamin 1974).1 Dieser zeichnet sich aus durch ein Verfahren der Einfühlung in die Sieger2 der Geschichte und durch ein Abtrennen der Historie vom weiteren Geschichtsverlauf, eine Trennlinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das Verfahren der Einfühlung charakterisiert Benjamin als „Trägheit des Herzens“, wodurch es nicht gelingt, „des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt“ (ebd., 696). Sowohl bei der Beanspruchung von Aufklärung als europäisch-humanistisches Ideal wie bei der postkolonial inspirierten Abgrenzung von dem den Aufklärern inhärenten Kolonialrassismus bleibt der aufklärerische, Freiheit beanspruchende Beitrag der Sklaven ausgeblendet. Die Nicht-Repräsentation der Erfahrungen derer, die versklavt worden sind, kann als Ausdruck eines Dominanzverhältnisses betrachtet werden. Darin fällt das Fehlen der Artikulationen Versklavter gar nicht mehr auf. Der in den letzten Jahren im Kontext von Rassismuskritik im deutschsprachigen Raum rezipierte Ansatz der Whiteness-Analysen zielt auf die Thematisierung von Dominanzverhältnissen, die unsichtbar bleiben, weil sie selbstverständlich geworden sind. Mit Whiteness verbinden sich die Er-
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„Der Historismus stellt das ‚ewige‘ Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht“ (Benjamin 1974, GS 1.2, 702). Diese Erfahrung ist in der Gegenwart verankert und verbindet Gegenwärtiges und Vergangenes. Diese „einzige“ Erfahrung lässt das Vergangene nicht auf sich beruhen, sondern sprengt das Kontinuum auf, betrachtet Geschichte nicht als verhängt, sondern als Aufforderung zum Handeln in der Gegenwart.
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„Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben“ (Benjamin 1974, GS 1.2, 696).
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fahrungen der unmarkierten Wirkungen weißer Dominanz wie auch das Fragwürdigwerden jeder Identifizierung. Die Kategorie der Whiteness beschreibt insofern auch keine Identität, sondern macht darauf aufmerksam, „dass jeder Person – eben auch weißen Menschen – ein Platz in dem rassistischen Machtverhältnis zugewiesen wird“ (Pech 2006, 64). Pech beschreibt die Abwehrstrategien, die in der Konfrontation mit eigenen Machtpositionen und Privilegien ausgelöst werden. Weil die weiße Position als unmarkierte konstituiert ist, wird sie dethematisiert, ihre strukturelle Relevanz wird bestritten, noch ehe es überhaupt zu einer Analyse der mit Whiteness verbundenen sozialen Positionierung kommen kann. Susan Arndt betont, dass gerade aus einem kritischen Selbstverständnis heraus und in „gewollter Distanzierung zu Kolonialismus und Nationalsozialismus“ Weißsein „verleugnet und damit auf neue Weise ermächtigt“ wird (Arndt 2005, 27). Durch die „explizite Nicht-Thematisierung von Whiteness“ (Pech 2006, 71) werden Ungleichheitsverhältnisse zementiert und der Kritik entzogen. Insofern liegt in der Auseinandersetzung mit den Funktionen der Nichtthematisierung der zentrale Gegenstand Whiteness-kritischer Ansätze.
A BHÄNGIGKEITEN IN
POSTKOLONIALER
A NALYSE
Albert Memmi hat die im Prozess der Kolonisation gewachsene Abhängigkeit der Europäer_innen von den Kolonisierten und umgekehrt die Abhängigkeit der Kolonisierten von den Kolonisator_innen in „Portraits“ beider Positionen und den daraus herausgebildeten Selbst- und Weltbildern beschrieben. Im Vorwort zur französischen Ausgabe von 1966 hält er fest: „Das koloniale Verhältnis, das ich darlegen wollte, kettete den Kolonisierten wie den Kolonisator in einer Art erbarmungsloser Abhängigkeit aneinander“ (Memmi 1980, 13). Mit dieser Abhängigkeit entsteht ein globalisiertes soziales Verhältnis, das postkolonial nachwirkt. Die koloniale Begegnung ist sozial produktiv, sie erzeugt transnationale und transkulturelle Beziehungen, die durch Herrschaftsbedingungen strukturiert sind, ohne dass es für die sich für überlegen haltenden Kolonisatoren möglich wäre, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Der_die Kolonisator_in muss in ständiger Beziehung zu den Kolonisierten leben, da erst diese Beziehung das Privileg schafft, das er_sie genießt (vgl. ebd., 26). Für Memmi ist klar, dass die Ausbeutungspraktiken der Kolonialmächte bei einigen ein Unbe-
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hagen erzeugen können und dass sie versuchen werden, sich selbst als weniger beteiligt darzustellen. Für die Selbstbilder des Kolonisators, „der sich verneint“ interessiert sich Memmi besonders. Er zeigt, wie alle Versuche, sich auf die Seite der Kolonisierten zu stellen, an der kolonialen gesellschaftlichen Struktur scheitern, die von dem sich verneinenden Kolonisator nicht ausreichend analysiert wird.3 Memmi geht damit von einer durch die Kolonisation institutionalisierten Subjektivität aus und verabschiedet sich implizit in seiner kolonialen Identitätsanalyse von einem Subjektverständnis, das eine von den Verhältnissen unabhängige Handlungsfreiheit voraussetzt. Die Handlungsfreiheit des sich verneinenden Kolonisators scheitert schon daran, dass er von den Kolonisierten nicht als jemand angenommen und akzeptiert wird, der auf ihrer Seite stehen könnte. Die politische Wirkungslosigkeit dessen, den Memmi den „linken Kolonisator“ nennt, ergibt sich „aus dem besonderen Charakter seiner Einfügung in die kolonialen Verhältnisse“ (ebd., 51). Auch der „wohlmeinende Kolonisator“ kann „das Gute niemals erreichen“, er hat nur die Wahl „zwischen dem Bösen und der inneren Malaise“ (ebd., 52, Hervorh. im Original). Kritik an den kolonialen Verhältnissen benötigt eine Analyse der eigenen involvierten Position anstatt einer Anprangerung der Grausamkeit der Kolonisatoren. Memmi bleibt unnachgiebig gegenüber einer linken kolonialen Kritik, die nicht die eigene Perspektive mit reflektiert und sich nicht fragt, wie sie selbst eingewoben ist in die koloniale Welt. An diese Unnachgiebigkeit, die anspruchsvoll gegenüber sich selbst bleibt, könnten aktuelle Formen der Globalisierungskritik anknüpfen und von Memmis Analyse des kolonialen Verhältnisses lernen, wie Privilegierte und Subalterne in der globalisierten Welt heute aufeinander bezogen sind, ohne zu behaupten, Kolonialverhältnisse und Globalisierungsverhältnisse seien identisch. Eher sind die postkolonialen globalisierten Abhängigkeiten noch komplexer geworden und die Vermittlung der sozialen Positionen noch vielschichtiger.
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„Die Kolonialverhältnisse werden nicht durch den guten Willen oder die Geste eines einzelnen verbessert; sie bestanden bereits vor seiner Ankunft oder Geburt; ob er sie akzeptiert oder ablehnt, ändert nichts Grundsätzliches daran. Im Gegenteil, sie sind es, die wie jede Institution a priori seinen Platz und den des Kolonisierten und schließlich auch ihr eigentliches gegenseitiges Verhältnis bestimmen“ (Memmi 1980, 49, Hervorh. im Original).
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Mit dem Versuch, die Gegenwart mit historischen Signaturen zu kennzeichnen, bleiben die Grenzen der eigenen Sicht auf die Geschichte bestehen, so dass keine angemessene Bezeichnung gefunden wird, die trifft, was sie zu bezeichnen beansprucht. Zugleich machen historische Kennzeichnungen auf die Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufmerksam und können die Auseinandersetzung mit diesen Beziehungen in Bewegung bringen. Wenn die gegenwärtige Gesellschaft als eine postkoloniale beschrieben wird, dann ist von der Jetztzeit die Rede, von einer Gegenwart nach dem historischen Kolonialismus, der nicht in eine reine Vergangenheit übergegangen ist. Das Präfix „post“ im Postkolonialismus steht eben nicht für das Vergangene, sondern für eine gegenwärtige Verbindung mit der Geschichte. Wie wird dieses Weiterwirken des Kolonialdiskurses in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigem Rassismus reflektiert und welche Rolle spielt die Erfahrung des Kolonialismus für das historischpolitische Lernen? Im europäischen Kontext wird es für die Arbeit an diesen Fragen erforderlich, postkoloniale Lernprozesse zugleich als postnationalsozialistische Lernprozesse zu verstehen auf der Grundlage einer zeitgeschichtlichen Positionierung drei Generationen nach 1945 in einem gesellschaftlichen Raum, der mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in einer engen Beziehung von Verantwortung und Täterschaft steht (vgl. Messerschmidt 2006), sowie mit den Biografien und Erinnerungen der Opfer, der Überlebenden und deren Nachkommen verbunden ist. Die postkoloniale Gegenwart nach Auschwitz zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen- und Weltbilder des Nationalsozialismus in ihr nachwirken. Und umgekehrt zeigt sich die postnationalsozialistische Gegenwart als eine, in der die Erfahrung kolonialer Herrschaftspraktiken und die darin erzeugten Bilder von den nicht-europäischen ‚Anderen’ und dem europäischen Selbst nachwirken. Diese doppelte Perspektive gilt es einzunehmen bei dem Versuch, Bildungsprozesse in einer Gegenwart zeitgeschichtlicher Nachwirkungen zu reflektieren und dabei sowohl Zusammenhänge wie auch Unterscheidungslinien zu vermitteln. Für die Rassismuskritik sind beide Geschichtszusammenhänge zu reflektieren, sofern diese Kritik ihren jeweiligen gesellschaftlichen Ausgangspunkt beachtet, der immer auch ein zeitgeschichtlich bedingter Ausgangspunkt ist. Insbesondere in Deutschland und Österreich, die auf jeweils spezifische Weise mit nationalsozialistischen Täterschaften verbunden sind,
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steht jedes Sprechen über Rassismus in einer Beziehung zum Umgang mit der NS-Geschichte. Auf dem Hintergrund der Verbrechen des NS erscheint der Alltagsrassismus in der Demokratie quasi harmlos und wird als solcher kaum benannt. Sprechen über Rassismus ist hier postnationalsozialistisch eingebunden und deshalb von Distanzierungsbedürfnissen überlagert, wodurch rassistische Phänomene immer wieder außerhalb der Gegenwart eingeordnet werden (vgl. Messerschmidt 2010).
E MANZIPATION ALS REFLEXIONSBEDÜRFTIGE R EFERENZ DER R ASSISMUSKRITIK Rassismus ist in der gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft weitgehend normalisiert (vgl. Mecheril 2007), d. h. er ist alltäglich und banal geworden und gerade deshalb unsichtbar. Seine Dauerhaftigkeit führt zur Gewöhnung und unterstützt die übliche Praxis, Rassismus nicht als gesellschaftliche Problematik zu benennen, sondern als ein Ausnahmefall an den Rändern der Gesellschaft. Zur Normalisierung des Rassismus trägt seine Kulturalisierung bei. Nach dem Nationalsozialismus ist ein biologistisch begründeter Rassismus diskreditiert und hat eine Leerstelle erzeugt, die vom Kulturalismus besetzt wird. Mit der Behauptung kultureller Unvereinbarkeiten zwischen Bevölkerungsgruppen wird es möglich, Rassismus unsichtbar werden zu lassen, ihn gar für überwunden halten zu können und sich doch der im rassistischen Diskurs herausgebildeten Vorstellungen von den Identitäten ‚Anderer‘ zu bedienen. Rassismuskritik benötigt eine emanzipatorische Perspektive bei gleichzeitiger Reflexion des Verständnisses von Emanzipation. Sie kann keinen ungebrochenen Emanzipationsbegriff beanspruchen, ist doch dessen Geschichte selbst in das Kolonialprojekt verstrickt. Genauso wenig kann sie auf den Ansatz der Emanzipation verzichten, würde sie sich damit doch ihre eigenen Grundlagen entziehen. Eine rassismuskritische Beanspruchung von Aufklärung und Emanzipation als normative Grundlagen bezieht sich auf die inneren Brüche in diesen Konzepten. Sie knüpft an beschädigte Ideale an, ohne diese aufgeben zu können. Wenn rassismuskritische Positionen für sich Eindeutigkeit beanspruchen, verlieren sie das Moment der Kritik und bedienen sich selbst einer ungebrochenen und aus meiner Sicht unreflektierten Normativität, wenn sie anderen ein rassismusfreies Spre-
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chen auferlegen wollen. Aus einer notwendigen Sprachkritik, die Rassismus in Bezeichnungspraktiken bewusst macht, wird eine Sprachverwerfung, wenn diese Bezeichnungen als absolut unaussprechbar gelten. Das Bedürfnis nach einem korrekten Sprechen wird unhistorisch, wenn es jegliche Erinnerung an rassistische Bezeichnungen und Redewendungen aus der Sprache tilgt. Umgekehrt genügt es nicht, rassistisches Sprechen lediglich durch imaginäre Anführungszeichen zu kennzeichnen. Es ist der Kontext zu benennen, in dem diffamierende und erniedrigende Ausdrucksweisen verwendet worden sind und werden. Der wesentliche Impuls rassismuskritischer Konzepte und Theorien besteht aus meiner Sicht in der Aufforderung zur Selbstreflexion aller Beteiligten, zur Wahrnehmung des eigenen Involviertseins in Rassismus. Anstatt einen absoluten Gegensatz zum Rassismus zu formulieren, sind die Verwandtschaftsverhältnisse zu betrachten, also dasjenige, was mit rassistischen Denkweisen und Praktiken verbindet. Eine Verwandtschaftslinie besteht in der Aufklärungstradition, aus der das europäische Bildungsdenken hervorgegangen ist. Daraus den Schluss zu ziehen, mit der Aufklärung und ihren Protagonist_innen nichts mehr zu tun haben zu wollen, wäre eher in der Logik des Antirassismus begründet. Rassismuskritik erlaubt derartige Fluchtbewegungen nicht. Auf dem Hintergrund der in der älteren Kritischen Theorie formulierten dialektischen Analysen von Aufklärung und Emanzipation geht es darum, sich in den Widersprüchen der normativen Grundlagen von Gesellschaftskritik zu bewegen. Wenn anerkannt wird, dass diese Grundlagen nicht unbeschädigt geblieben sind, muss daraus nicht deren Verabschiedung folgen. Eher sind Aufklärung und Emanzipation als unabgeschlossene Projekte anzusehen, die in ihrer historischen Entwicklung zwar beschädigt, aber doch unverzichtbar sind – genauso wie die feministische und postkoloniale Kritik daran.
K RITIK IN W IDERSPRÜCHLICHKEITEN Wer heute in der Bildungsarbeit und in der Bildungswissenschaft kritische Positionen beansprucht, tut das aus einer tiefen Verunsicherung heraus – und zwar nicht deshalb, weil Kritik sich erledigt hätte, sondern weil ihre Ansätze und ihre Vertreter_innen sich immer wieder als ausgesprochen ‚anschlussfähig‘ an dominante Erwartungen und konform mit gesellschaftli-
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chen Bedürfnissen erwiesen haben. Die Postulate kritischer Bildung nach Einmischung und Engagement sind gut zu vereinnahmen in einer Bildungslandschaft, die aktive Beteiligung, Anstrengung und demokratische Übereinstimmung fordert. Begriffe aus den Repertoires emanzipatorischer Projekte werden für unternehmerische Strategien und Innovationen und für die Imperative der Kreativität und Verantwortung beansprucht (vgl. Dzierzbicka/Schirlbauer 2006). Der Ort der Kritik wird als zunehmend unsicheres Terrain erlebt und was kollektives Handeln begründen könnte, steht nicht fraglos zur Verfügung. Der Politikwissenschaftler Ulrich Brand fordert dazu auf, „Reflexionsräume“ einzurichten und Reflexionsfähigkeiten zu entwickeln, angesichts einer „gegenwärtigen relativen Motivations- und Strategiekrise“ (Brand 2006, 37). Notwendig wird die reflektierende Arbeit insbesondere deshalb, weil sich das Dilemma kritisch-emanzipativer Bewegungen im Neo-Kapitalismus zuspitzt, „dass sie entgegen ihrem Anspruch durchaus integriert werden und modernisierend wirken können“ (ebd., 42) – dass also Kritik dynamisch vereinnahmt wird und keine Gegenkräfte zu erzeugen mehr in der Lage ist. Für Brand ist dies kein Grund zur Resignation, eher ein Anlass für mehr reflektierendes Engagement: „Unter widersprüchlichen Bedingungen bleibt auch kritisches und emanzipatorisches Denken und Handeln widersprüchlich“ (ebd.). Und diese Widersprüchlichkeit reicht in die Begriffe von Kritik und Emanzipation selbst hinein, die auf ihre gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte und dadurch bedingten Blickwinkel zu befragen sind. Wenn ich mit Paul Parin emanzipatives Engagement und die darin enthaltenen Befreiungsvorstellungen als „Idealbildungen“ verstehe, dann sind die darin mobilisierten ambivalenten Tendenzen zu reflektieren. Parin kennzeichnet sie als „aggressiver Moment“ – und in dieser Aggression liegt eine Form der Abwehr von Kritik, eine gesteigerte Selbstvergewisserung, die Vorstellung, auf der richtigen Seite für die richtige Sache einzutreten (Parin 2006, 4). Für engagiertes Handeln ist diese normative Vorstellung unverzichtbar, aber nur in der Reflexion auf ihre „ambivalente Tendenz“ (ebd., 7) auszuhalten. Ohne diese verunsichernde Reflexion wird sie zur Doktrin und mit ihr ist sie kompliziert, vermutlich auch schwächer, aber möglicherweise ist das Fragile und Komplizierte genau das, was für die Auseinandersetzung mit zwiespältigen Bildungssteuerungsprozessen gebraucht wird. Andererseits lässt sich die Gefahr, dass kritische Interventionen, die ohnehin häufig aus marginalisierten Positionen erfolgen, zusätz-
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lich in eine unterlegene Situation geraten, nicht von der Hand weisen. Nur erscheint mir die Alternative einer selbstsicheren Kritik nicht mehr attraktiv. Zwischen der traditionellen Kritik in Form der Entlarvung des Falschen einerseits und der missionarischen Übereinstimmung mit dem Bestehenden andererseits kann eine selbstkritische Konzeption von Bildung einen dritten Ort besetzen, an dem das eigene Involviert-Sein in die Dynamiken der Verwertung von Bildung sichtbar gemacht und ausgesprochen werden kann. Kritik an diesen Dynamiken bedeutet in der Konsequenz wesentlich Selbstkritik, und diese wird auch von den Bildungsarbeiter_innen in universitären, schulischen und außerschulischen Feldern verlangt. Sie können sich nicht ungebrochen als Aufklärer_innen über problematische gesellschaftliche Tendenzen positionieren, sondern anstelle dessen deutlich machen, wie sie selbst in die Verwertung ihrer selbst und anderer involviert sind. Erst wenn die beschädigten Positionen der Kritik offengelegt werden, kann eine Debatte entstehen, bei der keine_r befürchten muss, als defizitär entlarvt zu werden. Um dies in Theorie und Praxis anzugehen, schlage ich einen nicht vereindeutigenden Begriff von Widersprüchlichkeit vor, der geeignet ist, die Mittäterschaften seiner Protagonist_innen innerhalb der Verhältnisse, die sie kritisieren, aufzunehmen. Es handelt sich nicht um einen singulären Widerspruch, der aus einem reinen Gegensatz hervorgeht, sondern eher um den Ausdruck von Verstrickungen in Verhältnisse, mit denen ich nicht einverstanden bin, aus denen ich aber trotzdem nicht einfach austreten kann, weil ich mich in Abhängigkeiten befinde. Eine Voraussetzung dafür, Abhängigkeitsverhältnisse als Bildungsbedingungen thematisieren zu können, liegt in der Veränderung des Subjektverständnisses. Solange das Subjekt der Bildung – und insbesondere der Bildungsvermittler_innen – autonom aufzutreten hat, ohne Abhängigkeiten zugeben zu können, wird die Widersprüchlichkeit des eigenen Handelns immer wieder verdrängt. Sie zu thematisieren ist riskant, und der Zwang, stets souverän aufzutreten, steht einer Reflexion entgegen. Das Subjektverständnis von Autonomie ohne Abhängigkeit, das in der Pädagogik eine lange Geschichte hat, ist konfrontiert mit einer breit entfalteten Subjektkritik (vgl. Sattler 2010). Unter Berücksichtigung der Befürchtung, dies würde die Möglichkeiten kritischer Interventionen schwächen, kann eine subjektkritische Reflexion dazu beitragen, eine kritische Praxis zu entwickeln, die keine überlegene Position braucht, um artikuliert zu werden. Aus dieser Po-
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sition heraus können die inneren Widersprüchlichkeiten und Brüche innerhalb der eigenen Auffassungen von Kritik, Befreiung, Widerständigkeit artikuliert werden. Auf den ersten Blick wird Kritik dadurch schwächer, auf den zweiten Blick könnte sie gestärkt aus dieser Widerspruchsreflexion hervorgehen, wenn kritische Artikulationen sich nicht mehr abschotten müssen gegenüber jedem Zweifel an ihrer Unabhängigkeit und Nichtvereinnahmbarkeit. Wenn die Protagonist_innen kritischer Interventionen stattdessen die Erfahrungen, vereinnahmt und zu werden und anschlussfähig zu sein für Herrschaftsausübungen selbst zum Gegenstand ihrer Arbeit machen, könnte daraus eine neue Attraktivität der Kritik entstehen. Rassismuskritik gewinnt diese Attraktivität gerade aus der Bereitschaft heraus, die eigene Position immer wieder auf ihre inneren rassistischen Beziehungen hin zu hinterfragen und nicht allzu sicher zu sein, auf der richtigen Seite zu stehen. Denn diese Überzeugung würde von rassismusfreien Räumen ausgehen und sich anmaßen, diese selbst hergestellt zu haben.
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1972): Theorie der Halbbildung, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 8: Soziologische Schriften I, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M., 93-121. Arndt, Susan (2005): Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands, in: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/ Piesche, Peggy/Arndt, Susan (Hg.): Mythen – Masken – Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster, 24-28. Brand, Ulrich (2006): Gegen-Hegemonie als strategische Perspektive. Ambivalenz und Strategien der aktuellen Globalen Sozialen Bewegungen, in: Marchart, Oliver/Weinzierl, Rupert (Hg.): Stand der Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratie – eine Bestandsaufnahme, Münster, 35-44. Buck-Morss, Susan (2011): Hegel und Haiti, Frankfurt a. M. Benjamin, Walter (1974): Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 1.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M., 693-704.
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Sattler, Elisabeth (2010): Die riskierte Souveränität. Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität, Bielefeld Scherschel, Karin (2006): Aufgeklärtes Denken und Abwertung ethnisch Anderer – historische und aktuelle Aspekte, in: Zeitschrift für Genozidforschung, Nr. 1/2006, 49-71.
Dürfen Weiße Rassismuskritik betreiben? Zur Rolle von Subjektivität, Positionalität und Repräsentation im Erkenntnisprozess M ARK S CHRÖDTER
Im akademischen und politischen rassismuskritischen Diskurs kursiert die Auffassung, Weiße dürften keine Rassismuskritik betreiben. Diese Auffassung wird häufig unterschwellig kommuniziert und wo explizite Begründungsversuche unternommen werden, bleiben sie zumeist diffus. Im Folgenden soll diese Auffassung einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, um die sozialen Bedingungen zu klären, unter denen die Rassismuskritik forschungsethisch akzeptabel ist. Damit wird zugleich der Frage nach den normativen Maßstäben der Wissenschaft zur Repräsentation von Minoritäten im Erkenntnisprozess nachgegangen. Eine Form von Rassismuskritik ist – neben anderen, wie etwa der pädagogischen oder politischen – die wissenschaftliche Rassismuskritik. Ihre Aufgabe ist es, etwas als rassistisch zu kritisieren, also aufzuzeigen, inwiefern etwas rassistisch ist. Diese wissenschaftliche Rassismuskritik hat dann praktische Konsequenzen, wenn sie der Aufklärung dient. Das als rassistisch Kritisierte wird so für all diejenigen, die Rassismus ablehnen, als inakzeptabel ausgewiesen. Die Begründungslast liegt dann bei denjenigen, die bei grundsätzlicher Ablehnung von Rassismus das Kritisierte weiterhin affirmativ – in welchem Kontext auch immer – verwenden möchten. Wenn Rassistisches nicht mehr verwendet werden kann, ist das eine Veränderung der Praxis. Wenn sich Personen aufgrund dieser veränderten Praxis oder
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aufgrund von überzeugender Rassismuskritik verändern, ist das eine Veränderung der Subjekte. Zu sagen, Aufgabe von Rassismuskritik sei es, etwas als rassistisch auszuweisen, ist natürlich bereits Ergebnis einer spezifischen, theoretischen Vorentscheidung. Voraussetzung dafür ist, dass etwas überhaupt aus sich heraus rassistisch sein kann. Es ist also zunächst zu klären, was hier damit gemeint ist, etwas sei rassistisch.
W AS IST R ASSISMUS ? „Rassistisch“ ist ein Prädikat, das Denkinhalten, Handlungen, Personen, Symbolen und Institutionen zugeschrieben werden kann. Unter Institutionen sollen in diesem Zusammenhang ganz allgemein gesellschaftlich vorgehaltene Handlungsbereitschaften, -vorschriften oder -begründungen verstanden werden. In diesem Sinne sind Organisationen aber auch Normen, Aussagezusammenhänge, Diskurse, Dispositive, Machtapparate oder gesellschaftliche Funktionssysteme als Institutionen zu verstehen, sofern sie Handlungen und Empfindungen von Personen leiten oder rechtfertigen. Handlungen von Personen sollen dann als rassistisch gelten, wenn sie Personen aufgrund der zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einer als ethnisch definierten Gruppe a) ungerecht behandeln, etwa durch Benachteiligung oder Vorenthaltung von Ressourcen, oder b) schädigen, etwa durch Verletzung der Würde der Person, Abwertung des sozialen Status, Schmälerung der Chancen auf Wohlergehen oder Einschränkung der Handlungsfreiheiten (vgl. Arneson 2007; Lippert-Rasmussen 2006).1 Außerdem sollen Hand-
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Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, zwischen der Missachtungstheorie (Arneson 2007) und Schädigungstheorie (Lippert-Rasmussen 2006) von Rassismus zu differenzieren, obwohl sie als in sich kohärente und wechselseitig ausschließende Ansätze betrachtet werden können. Für den hier verfolgten Zweck ist es m. E. gerechtfertigt, die Unterschiede nicht zu betonen, da beide Ansätze mit sehr umfassenden Begriffen von Missachtung bzw. Schädigung operieren und so alle Fälle von Schädigung als Missachtung (etwa von Rechten, des Status, der psychosozialen Integrität etc.) und umgekehrt alle Fälle von Missachtung als Schädigung konzipiert werden können. Aus pragmatistischer Perspektive ist daher kein Ansatz prinzipiell überlegen.
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lungen und Institutionen als rassistisch gelten, wenn sie die ungerechte Behandlung oder Schädigung einer ethnisch definierten Person oder Gruppe legitimieren. Denkweisen oder Symbole sind rassistisch, wenn sie die Schädigung der Würde (Missachtung) von ethnisch definierten Personen oder deren Ungleichbehandlung als gerechtfertigt repräsentieren. Inwiefern eine Person als rassistisch gelten kann, hängt von den jeweils gesellschaftlich geltenden Regeln der Zuschreibung individueller Handlungsverantwortung ab. In der Regel gilt eine Person dann als rassistisch, wenn ihr rassistische Denkweisen oder Handlungsdispositionen unterstellt werden können, d. h. wenn mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist: •
• •
•
Die Person hat rassistische Einstellungen. Sie vertritt (mitunter institutionalisierte) Meinungen, die die ungerechte Behandlung oder Schädigung bestimmter ethnisch definierter Gruppen legitimieren. Die Person hat rassistische Motive. Ihr Handeln ist motiviert durch rassistische Einstellungen. Die Person hat rassistische Intentionen. Sie wünscht sich, bestimmte Personen, die einer ethnisch definierten Gruppe zugeordnet werden, ungerecht zu behandeln oder zu schädigen. Die Person handelt häufig rassistisch. Dabei kann die Person auch dann als rassistisch gelten, wenn sie es nicht rassistisch „meint“, also ethnisch definierte Personen ungerecht behandelt oder schädigt, obwohl sie keine rassistischen Einstellungen, Motive und Intentionen hat. Sie sagt dann beispielsweise etwas Rassistisches oder benachteiligt jemanden aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, ohne es zu wollen etc.
Personen, die rassistische Einstellungen, Motive, Intentionen haben oder rassistisch handeln, tragen zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Systems des Rassismus bei. Wir sprechen hier auch von der gesellschaftlichen Reproduktion von Rassismus. Und in dem Maße, in dem die Institutionen in zentralen Bereichen der Gesellschaft – auch unabhängig von den Denkweisen bestimmter Personen – rassistisch sind, ist Rassismus gesellschaftlich verankert. Aufgabe von Rassismuskritik ist es, den rassistischen Charakter von Handlungen, Einstellungen, Motiven, Intentionen, Personen und Institutionen zu kritisieren.
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D AS P ROBLEM ANGEMESSENER R ASSISMUSKRITIK UND DER DIFFUSE A NSPRUCH DER S ELBSTPOSITIONIERUNG Nun kursiert im politischen und akademischen rassismuskritischen Diskurs die Auffassung, es bedürfe gewisser Voraussetzungen, um legitim Rassismuskritik betreiben zu können (vgl. etwa die Beiträge in: Eggers et al. 2005). Personen, die einer gesellschaftlich dominanten ethnischen Gruppe zugehörig sind, wird die Legitimität abgesprochen, Rassismus kritisieren zu dürfen. Diese Auffassung wird im rassismuskritischen Diskurs meist diffus vertreten und ebenso diffus begründet. So ist die Auffassung, Weiße dürften Rassismus nicht kritisieren, weit verbreitet. Wenn Weiße Rassismuskritik betreiben, dann reden sie von etwas, von dem sie selbst nicht betroffen sind, heißt es. So sei beispielsweise infrage zu stellen, dass Weiße aus sich heraus, d. h. auf Basis rein rationaler Argumentation, begründen können, inwiefern es ethisch verwerflich ist, das Wort „Neger“ zu verwenden. Müssten sie in ihrer Rassismuskritik nicht schon immer auf die lebendigen Erfahrungen von Schwarzen rekurrieren? Folglich machten sich Weiße, wenn sie Rassismuskritik betrieben, zum Sprachrohr der Schwarzen. Es scheint, als würde die Stimme der Schwarzen selbst nicht ausreichen, diese Kritik zu artikulieren. Bedarf es erst der weißen Stimme, um der Kritik Autorität zu verleihen? Und warum wollen Weiße überhaupt Rassismuskritik betreiben, etwa um vom eigenen Rassismus abzulenken? Und selbst wenn der Kritik hehre Motive zugrunde lägen, im Effekt inszenierten sie sich selbst als moralisch integer und machten politisch oder wissenschaftlich Karriere auf dem Rücken der Betroffenen. Letztlich profitierten Weiße also erneut von ihrer gesellschaftlichen Dominanzposition, während Schwarze in der Minderheitenposition verblieben. Damit reproduziere die weiße Rassismuskritik – ohne es zu wollen – die Machtverhältnisse in Politik und Wissenschaft, in der Weiße über Schwarze redeten und Schwarze vom Gutdünken der Weißen abhingen. Was in dieser Kritik an der Weißen Rassismuskritik thematisiert wird, ist die Frage nach der Repräsentation. Es geht um die Frage, wer eigentlich ethisch berechtigt ist, über Ausbeutung und Missachtung und vor allem über Ausbeutungs- und Missachtungserfahrungen zu sprechen. Und es geht darum, wer eigentlich ethisch berechtigt ist, rassistisch diskriminierte Personen in Politik und Wissenschaft zu repräsentieren.
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Gleichzeitig hat insbesondere die jüngste Diskussion um intersektionale Diskriminierung gezeigt, dass es oftmals gar nicht so einfach ist, ein Subjekt zu bestimmen, welches in jeglicher Hinsicht diskriminiert wäre (vgl. Lutz/Herrera Vivar/Supik 2010). Auch Schwarze sind eine heterogene Gruppe. Schwarze Männer teilen andere Erfahrungen als Schwarze Frauen. Schwarze lesbische Frauen teilen andere Erfahrungen als schwule weiße Männer. Behinderte weiße Männer teilen andere Erfahrungen als Schwarze Männer ohne Behinderung. Gesellschaftliche Ausbeutungs- und Missachtungsverhältnisse entlang der Dimensionen von Geschlecht, Ethnizität, Klasse und Behinderung finden sich in sehr heterogenen Kombinationen. Wer darf dann noch über Phänomene der Verschränkung solcher Ausbeutungs- und Missachtungsverhältnissen sprechen? Strittig ist, ob es so etwas wie ein „Privileg der Minorität“ – oder besser: ein Privileg der jeweiligen Minorität – in der Rassismuskritik gibt, also ob und wenn ja, inwiefern eine angemessene Rassismus- oder Sexismusund Heterosexismuskritik ein bestimmtes Erkenntnissubjekt voraussetzt und vor allem, unter welchen Bedingungen die Kritik intersektional verschränkter Ausbeutungs- und Missachtungsverhältnisse möglich ist, wenn darin doch eine in jeder Hinsicht minoritäre Position kaum von einer Forscherin2 besetzt sein dürfte. Als ein vielversprechender Umgang mit diesem Dilemma gilt im rassismuskritischen Diskurs die so genannte Praxis der „Selbstpositionierung“. Selbstpositionierung im Forschungsprozess bezeichnet die reflexive Vergewisserung der Forschenden über ihre subjektiven Einstellungen und Gefühle hinsichtlich gesellschaftlicher Ausbeutungs- und Missachtungsverhältnisse sowie hinsichtlich ihrer objektiven Verortung darin. Welchen Stellenwert diese reflexive Vergewisserung der Subjektivität und Positionalität der Forschenden hat und haben soll, ist im rassismuskritischen Diskurs unklar.
2
Der Lesbarkeit halber wird das klassische generische Maskulinum im Plural beibehalten. Um der patriarchalen Tendenz der Schreibpraxis entgegenzuwirken, die Frauen lediglich „mitmeint“, ohne sie sprachlich zu repräsentieren, wird hier in der Singularform – sofern nicht durch die Sachthematik selbst vorentschieden – das Maskulinum und Femininum unsystematisch variiert.
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Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Selbstpositionierung forschungsmethodologisch notwendig und forschungsethisch geboten ist.3
W ANN
IST S ELBSTPOSITIONIERUNG FORSCHUNGSMETHODOLOGISCH NOTWENDIG UND FORSCHUNGSETHISCH GEBOTEN ? Wenn die Forderung nach Selbstpositionierung im Erkenntnisprozess der Rassismuskritik einen vernünftigen Zweck haben soll, so kann damit nicht gemeint sein – so die hier zu vertretende These – der Forscher solle sich einer „Nabelschau“ unterwerfen und in Wort und Schrift seine intimsten biographischen Erfahrungen der Marginalisierung, Unterdrückung oder Diskriminierung mitteilen und dies als selbstreflexiven Forschungsakt inszenieren. Solche Inszenierungen sind Götzendienst an eine politisierte, akademische Kultur pseudokritischen Denkens, die suggeriert, die Offenlegung der eigenen Diskriminierungserfahrungen könne die Geltung einer Argumentation „verstärken“ oder sogar verbürgen. Vernünftig verstanden bezieht sich Selbstpositionierung auf die Rolle von Subjektivität und Positionalität im Erkenntnisprozess. Nun ist die allgemeine Relevanz der Subjektivität und Positionalität im Forschungsprozess unstrittig. In der „Logik der Sozialwissenschaften“ schreibt schon der oftmals fälschlich als Positivist bezeichnete Wissenschaftstheoretiker Karl Popper: „[D]ie Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch ihres Gegeneinanderarbeitens. Sie hängt daher zum Teil von einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab, die Kritik ermöglichen. [...] Die sogenannte Wissenssoziologie, die die Objektivität im Verhalten der verschiedenen einzelnen Wissenschaftler sieht und die Nichtobjektivität aus dem sozialen Standort der Wissenschaftler erklärt, hat diesen entscheidenden Punkt – ich meine die Tatsache, dass die Objektivität einzig und allein in der Kritik
3
Für entscheidende Diskussionen sei hier vor allem Andrea Vorrink gedankt.
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fundiert ist – völlig verfehlt. Was die Soziologie des Wissens übersehen hat, ist nichts anderes als eben die Soziologie des Wissens – die Theorie der wissenschaftlichen Objektivität. Diese kann nur durch solche sozialen Kategorien erklärt werden, wie zum Beispiel: Wettbewerb (sowohl der einzelnen Wissenschaftler wie auch der verschiedenen Schulen); Tradition (nämlich die kritische Tradition); soziale Institution (wie zum Beispiel Veröffentlichungen in verschiedenen konkurrierenden Journalen und durch verschiedene konkurrierende Verleger; Diskussionen auf Kongressen); Staatsmacht (nämlich die politische Toleranz der freien Diskussion). Solche Kleinigkeiten wie zum Beispiel der soziale oder ideologische Standort des Forschers schalten sich auf diese Weise mit der Zeit von selber aus, obwohl sie natürlich kurzfristig immer ihre Rolle spielen“ (Popper 1969, 112f.).
Schon Poppers Wissenschaftstheorie kann somit als soziale Erkenntnistheorie bezeichnet werden. Freilich sind stärker machtkritische Ansätze der Wissenschaftstheorie nicht so optimistisch und zweifeln an der Existenz eines langen Atems der Vernunft, der gültige Erkenntnisse durch die Unvoreingenommenheit des forschenden Blickes im organisierten Streit in der „Logik des besseren Argumentes“ hervorbringe. Sie stellen die Korrekturfunktion des herrschenden Wissenschaftsbetriebs infrage. Da „alle menschlichen Überlegungen – auch die wissenschaftlichsten – sozial verortet sind [... muss bestimmt werden,] welche sozialen Situationen die objektivsten Erkenntnisansprüche hervorbringen können.“ (Harding 1991, 159). Dann kann darauf hingewirkt werden, Strukturen zu schaffen, die soziale Positionierungen der Marginalisierung, Missachtung und Unterdrückung als Quellen der Erkenntnis nutzbar machen, so dass so etwas wie eine – wie die feministische Wissenschaftstheoretikerin Sandra Harding es formuliert – „strenge Objektivität“ (ebd.) entstehen kann.
S UBJEKTIVITÄT UND P OSITIONALITÄT BEI F RAGEN DER R EPRÄSENTATION Strittig ist also nicht, dass Subjektivität und Positionalität im Forschungsprozess eine Rolle spielen, sondern wie mit ihr umgegangen werden soll, welche Rolle sie einnimmt und welche Bedeutung ihr beigemessen wird.
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Es soll nun die These vertreten werden, dass die Relevanz von Subjektivität und Positionalität variiert – je nach Forschungsgegenstand, Forschungsfrage und Forschungssubjekt-Objekt-Konstellation. Wenn beispielsweise ein amusikalischer bürgerlicher Jugendforscher danach fragt, was es für einen Jugendlichen der so genannten Unterschicht bedeutet, HipHopper zu sein, wenn eine suchtmittelabstinente Soziologin danach fragt, was es bedeutet, drogenabhängig zu sein und auf der Straße zu leben, wenn eine atheistische Ethnologin danach fragt, was es bedeutet, in einer Kultur aufzuwachsen, in der Zauberei allgegenwärtig ist etc., dann fertigen diese Forscher Beschreibungen von den Beforschten an – sie repräsentieren sie in einem Bild. Vermutlich spielt für solche Repräsentationen des „Anderen“ die Subjektivität und Positionalität der Forscherin eine sehr starke Rolle (vgl. etwa Clifford 1986), je nachdem, wie Forschende und Beforschte sozialstrukturell in die „Dominanzgesellschaft“ eingebettet sind. Hier geht es nicht nur um individuelle Biographien und Identitäten singulärer Personen, wie etwa der einzelnen suchtmittelabstinenten Soziologin. Es geht um ungleichheitsrelevante Stuktureinbettungen, um die Erfahrungen der Missachtung und Deprivilegierung kollektiver Gruppen. Wir können deshalb zu dem Schluss kommen: Wer solche Forschungsfragen stellt und die subjektive Lebenswirklichkeit des Anderen repräsentieren will, muss zu den tiefsten Schichten der Subjektivität des Anderen vordringen. Und wer solche Forschungsfragen stellt, dringt dann immer auch zu den tiefsten Schichten seiner eigenen Subjektivität vor. Denn häufig geht es hier um genuin private Erfahrungen oder um gesellschaftlich neue und marginalisierte Erfahrungen, die prinzipiell oder noch nicht artikulierbar und somit einer konventionellen, diskursiven Interpretation nicht zugänglich sind. Vielleicht muss die Interpretin gerade bei solchen Frage auf nicht-diskursive Mittel der Interpretation zurückgreifen (vgl. Schrödter 2005), wie beispielsweise auf die schöpferischen Praxen der Kunst4 oder vermittels em-
4
Wenn es möglich ist, die sinnhaft-subjektive Lebenswirklichkeit des Anderen vor jeder sprachlichen oder gedanklichen Fassung wahrzunehmen (vgl. dazu Sauer 2008), erscheint es folgerichtig, dass der ethnographische Forschungsprozess als poetisches Schreiben rekonstruiert wird (vgl. Marcus 1986).
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phatischer Teilhabe an der Subjektivität der Beforschten mithilfe psychodynamischer Methoden.5 Gerade in der rassismus- und sexismuskritischen Forschung geht es häufig darum, „den Anderen“ in kritischer Absicht anders zu repräsentieren, als dies in hegemonialen Diskursen der Fall ist. Der Versuch, den Anderen neu zu repräsentieren, kann aber ungewollt dazu führen, erneut rassistische oder sexistische Bilder zu produzieren. So wurde beispielsweise in jüngster Zeit die Lebenswirklichkeit von muslimischen Schwulen und Lesben als neues Forschungsobjekt „entdeckt“. Den herrschenden islamophoben und homophoben Diskursen sollten alternative Repräsentationen entgegengestellt werden (vgl. Haritaworn/Tauqir/Erdem 2008). Die Forscher sprechen hier in kritischer, häufig auch advokatorischer Absicht über und für Menschen, mit denen sie bedeutsame Erfahrungen der Vulnerabilisierung nicht teilen (vgl. Alcoff 1991; Spivak 1988). Die Folge solcher Unternehmungen ist dann oftmals, dass Bilder und Geschichten der Anderen produziert werden, die – trotz gegenteiliger Absichten – selbst Rassismus und Homophobie reproduzieren. Um zu beurteilen, inwiefern dieses Problem der Repräsentation von Minoritäten in der Rassismuskritik ein ethisches Problem aufwirft, sind verschiedene Formen der Repräsentation zu unterscheiden. So kann zunächst zwischen der theoretisch-interpretativen Repräsentation von Minoritäten in der Wissenschaft und der politischen Repräsentation von Minoritäten in der Praxis unterschieden werden. Theoretisch-interpretative Repräsentation ist ein Sprechen über, praktische Repräsentation ist ein Sprechen für Minoritäten. Werden diese beiden Grundformen der Repräsentation noch danach differenziert, wer was vor wem repräsentiert, so lassen sich vier Bedeutungsvarianten von „Repräsentation“ unterscheiden (siehe Tabelle 1).
5
Diese emphatische Teilhabe ist Anspruch von (insbesondere ethnographischen) Forschungszugängen, in denen dem Selbstverständnis nach die Datenerhebungsund Dateninterpretationssituation zusammenfallen und eine lebendige Praxis zwischen Forschenden und Beforschten besteht. Medium der Interpretation sind dann Übertragungs- und Gegenübertragungsmechanismen zwischen Forschenden und Beforschten (vgl. Devereux 1976), wie es vor allem in tiefenhermeneutischen Verfahren in Form des szenischen Verstehens beschrieben wird (vgl. Lorenzer 1973, 2006).
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Tabelle 1: Bedeutungsvarianten von „Repräsentation“ Variante
Repräsentierendes
Adressiertes
Repräsentiertes
vor einer
„Die Minoritären
bzw. Majoritärer
minoritären
sind x“.
sagt
bzw. majoritä- (Bild über
Wissenschaft a) Darstellung Ein Minoritärer (Sprechen
Minoritärer
über)
ren Zuhörer-
Minorität)
schaft b) Darstellung Ein Minoritärer
vor einer
„Die Minoritären
der Dar-
bzw. Majoritärer
minoritären
gelten der Majo-
stellung
sagt
bzw. majoritä- rität als x“.
Minoritärer Praxis (Sprechen
c) Vertretung Minoritärer
für)
ren Zuhörer-
(Bild der
schaft
Majorität)
Ein Minoritärer
vor einer
„Die Minoritären
bzw. Majoritärer
majoritären
wollen x“.
sagt
Zuhörerschaft (Interessen der
Ein Minoritärer
vor Majoritä-
für die Macht
fungiert
ren, die die
der Minorität.
als ein Symbol
Majorität
(Macht der
Minorität) d) Präsenz Minoritärer
symbolisieren Minorität)
Betrachten wir zunächst die praktischen Formen der Repräsentation. Eine Form der praktisch-politischen Repräsentation von Minoritäten ist die Vertretung (c). Dabei präsentiert jemand das, was er für die Interessen der Minorität hält, einer Zuhörerschaft von Majoritätsangehörigen und setzt sich dort für die Minorität ein. Weil diese Interpretation von Interessen stark an die soziale Positionalität des Interpretierenden gebunden ist (Fraser 1994), macht es einen Unterschied, ob sie von einer Majoritätenangehörigen oder einem Minoritätenangehörigen vollzogen wird. So gibt es gute Gründe für die Kritik an einer Praxis, in der sich Majoritätenangehörige auf eine Weise zum Sprachrohr Minoritätenangehöriger machen, die verhindert oder wenig dazu beiträgt, dass die Minoritätenangehörigen selbst ihre Interessen vertreten können. Häufig mündet diese Kritik in die Forderung nach der Repräsentation von Minoritäten, die über die bloße Vertretung hinausgeht und Minoritäten im Sinne der konkreten Präsenz an den Orten der Macht repräsentiert (d). Dies ist zwar insofern nicht unproblematisch, als
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dass auch dann einzelne Minoritätenangehörige in die Position gedrängt werden, die Interessen einer als homogen imaginierten Minorität vor der Majorität, die ebenfalls als homogene Gruppe konstruiert wird, zu vertreten. Im Vordergrund dieser Form der Repräsentation als Präsenz steht aber der affirmative action-Gedanke, demzufolge solche Repräsentation zum einen transitorisch angelegt ist, bis die sozialen Verhältnisse egalitärer strukturiert sind. Zum anderen soll die Präsenz der Minorität als ein Symbol für die Macht der Minorität fungieren, die andere Minoritätenangehörige ermutigt, sich für den sozialen Wandel hin zu einer egalitäreren Machtverteilung einzusetzen (vgl. Sterba 2003). Kommen wir nun zu den theoretisch-interpretativen Formen der Repräsentation. In einer der Frage nach der Legitimität von Rassismuskritik zentralen Bedeutungsvariante (a) geht es um die Repräsentation eines Bildes über die Minorität. Solche Repräsentationen sind in der Regel am stärksten umstritten, da die Minorität nach gewissen theoretischen Gesichtspunkten als Kollektivität überhaupt erst konstruiert werden muss, um ihr dann bestimmte Eigenschaften zusprechen zu können („Schwarze Deutsche empfinden soundso“, „Muslimische Migranten erleben dies und das“). Sofern solche Repräsentationen nicht als abstrakte Idealtypen kenntlich gemacht werden, sondern beanspruchen, die Reichhaltigkeit der Lebenswirklichkeit der Minorität zu repräsentieren, erscheinen sie uns häufig als „unvollständig“, als „partielle Wahrheiten“ (Clifford 1986), in denen der konstruktive Akt des interpretativen Schreibens, der die Minorität als solche überhaupt erst hervorbringt, verschleiert wird. Aus forschungsmethodischer Perspektive mag es nun nicht unerheblich sein, ob Minoritätenangehörige oder Majoritätenangehörige dieses Bild zeichnen. Methodisch gesehen ist die Repräsentation der komplexen Lebenswirklichkeit immer ein besonders schwieriges Unterfangen. Da Repräsentationen der Minorität immer auch rassistische Einstellungen verfestigen können, haben Forscher, die der Minorität angehören, häufig das Bedürfnis, ihre Forschungsergebnisse (zunächst) in einem vor einer potentiell vereinnahmenden Majorität geschützten Rahmen vorzustellen. Nun gibt es eine Form der theoretisch-interpretativen Repräsentation, die im Vergleich zur Darstellung der Minorität methodisch einfacher möglich ist, deren mögliche negative Effekte begrenzt sind und die in diesem Sinne ethisch weniger problematisch ist. Es handelt sich um die Darstellung der Darstellung der Minorität (b). So dürfte es beispielsweise unproblema-
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tisch sein, Schwarze Deutsche mit dem Satz zu repräsentieren: „Schwarze Deutsche gelten der hegemonialen Auffassung nach als exotisch-wild“. Worin liegt der Unterschied zwischen den beiden Formen theoretisch-interpretativer Repräsentation? Während es in dem Beispiel aus der Forschung zur Lebenswirklichkeit von muslimischen Schwulen und Lesben (Zeile a) darum geht, „eigene“ neue Repräsentationen schwul-lesbischer Lebenswirklichkeit zu produzieren („Minoritäre sind so und so“), wird in der Aussage über Schwarze Deutsche (Zeile b) lediglich auf faktische Verhältnisse rekurriert („Minoritäre gelten als so und so“). Während es im ersten Beispiel um ein (mitunter auch rassismuskritisches) Sprechen über Minoritäre geht, geht es im zweiten Beispiel um ein Sprechen (mitunter im Sinne der Rassismuskritik) über die Majorität, nämlich über deren Bild von der Minorität. Die Behauptung, Schwarze Menschen seien so und so repräsentiert, ist hinreichend begründungsfähig, ohne dass es hierfür eines Nachweises über das subjektive Empfinden oder Erleben der Repräsentierten – also etwa Schwarzer Deutscher – oder der die Anderen Repräsentierenden – also weißer Deutscher – bedürfte. In letzterem Beispiel des Sprechens über eine bestehende Repräsentation, über ein bestehendes Bild, ist es also weniger bedeutsam, wer spricht. Insofern die partikulare Subjektivität und spezifische gesellschaftliche Positionalität der Forscherin für die Produktion von Repräsentationen Marginalisierter konstitutiv ist, ist eine Selbstpositionierung methodisch notwendig. Es wäre dann nicht hinreichend, würde die Forscherin sich dieser Perspektivität lediglich privat reflexiv vergewissern. In dem Maße, in dem die eigene Subjektivität im Forschungsprozess methodisch kontrolliert in Anspruch genommen werden muss, gehört es zur wissenschaftlichen Redlichkeit, zu dokumentieren, inwiefern bei der Repräsentation des Anderen die eigene positionale Subjektivität konstitutiv ist und welche möglichen Verzerrungen mit einer solchen Repräsentation des Anderen ganz konkret in Hinblick auf die jeweilige Forschung verbunden sein können (vgl. dazu die Beiträge in: Mruck/Roth/Breuer 2002; Roth/Breuer/Mruck 2003). Ethnographic Writing (Clifford/Marcus 1986), insbesondere in Form der Autoethnography (Ellis/Bochner 1996), erscheint hier als konsequente Radikalisierung der methodischen Inanspruchnahme von Subjektivität. Ethnographic Writing radikalisiert die Inanspruchnahme von Subjektivität durch Verabschiedung von diskursiven Darstellungsformen des Argumentes hin zu präsentativen Symbolisierungsformen der Kunst und Autoethno-
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graphie durch Verabschiedung des Anspruches auf intersubjektiv gültige Darstellung der Wirklichkeiten des Anderen hin zur Darstellung des eigenen Erlebens dieser Wirklichkeiten. Wo es aber lediglich um die Inanspruchnahme bestehender Bilder vulnerabler Anderer (im Dienste einer Rassismuskritik) geht (Zeile b), ist eine solche Selbstpositionierungspraxis weder methodisch nötig noch forschungsethisch geboten. Wenn es nicht darum geht, wie sich Rassismus, Sexismus und Heteronormativität für marginalisierte Subjekte anfühlt oder sie als solche subjektiviert, sondern wenn der diskursiv gegebene Rassismus, Sexismus und die Heteronormativität zum Gegenstand der Interpretation erhoben wird, dann werden von der Forscherin kaum Repräsentationen von Anderen produziert, sondern vornehmlich bestehende Repräsentationen rekonstruiert.
K EINE „ PRIVAT - BIOGRAPHISCHE “, SONDERN „ GENERALISIERTE “ P OSITIONIERUNG In rassismus- oder heterosexismuskritischen Forschungsprozessen, in denen wir auf negative Bilder über Frauen, Lesben und Schwarze rekurrieren, mobilisieren wir natürlich auch Subjektivität und Positionalität. Diese Subjektivität und Positionalität ist aber nicht in erster Linie die der individuellen Forschenden, sondern die Individualität eines abstrakten, generalisierten Anderen. Wenn wir beispielsweise im Rahmen einer Interpretation auf rassistische Stereotype über Schwarze und weiße Frauen zurückgreifen müssen, dann müssen wir uns fragen, welche Bedeutungen hier interessieren. Wir können dann etwa die abstrakte Position des generalisierten weißen Mannes einnehmen, wie sie in dominanten Diskursen zum Ausdruck kommt. Forschungsethisch relevant ist, dass die Explikation und Exposition dieser Stereotype diese nicht bloß reproduziert, sondern sie im Reproduktionsprozess argumentativ als logisch widersprüchlich oder ethisch verwerflich ausweist und letztlich im Dienste der Kritik von Rassismus, Sexismus und Heteronormativität steht.6 Ziel der Interpretation wäre dann gerade nicht, marginalisierte Andere (also etwa Schwarze, Frauen, Lesben, Men-
6
Dies könnte als Forderung einer „epistemischen Verantwortung“ (epistemic responsibility, vgl. Code 1987) verstanden werden.
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schen mit Behinderungen) mit einem kritischen, emanzipativen etc. Impetus (im Sinne der Variante a) zu repräsentieren, sondern zu zeigen, inwiefern ein bestimmtes Dokument gemessen am jeweils geltenden Bedeutungsbestand rassistisch und heterosexistisch ist oder nicht.
D AS S PEKTRUM FORSCHUNGSMETHODISCHER S ELBSTPOSITIONIERUNG Wenn wir mit Sandra Harding „daran festhalten, dass bestimmte soziale Bedingungen es den Menschen ermöglichen, zuverlässige Erklärungen für die Muster der Natur hervorzubringen, genauso wie andere soziale Bedingungen dies erschweren“ (Harding 1991, 97f.), dann wird damit nicht zwangsläufig einer „Betroffenheits-Epistemologie“ (Oevermann 1993, 135) das Wort geredet, sondern dann kann dies mit der Forderung einhergehen, die jeweiligen sozialen Bedingungen der Forschungspraxis transparent zu machen. Aber dies ist nicht immer möglich. Wir können uns vielleicht ein Spektrum vorstellen, bei dem auf der einen Seite Forschungsfragen angesiedelt sind, bei denen der potenzielle Einfluss von Subjektivität und Positionalität bereits im Voraus erwogen werden kann, während auf der anderen Seite Forschungsfragen verortet sind, bei denen dies wissenschaftshistorisch bedingt kaum möglich ist. So wurde beispielsweise in der etablierten Biologie lange Zeit das Phänomen des gleichgeschlechtlichen Sex unter Tieren nicht beobachtet, weil meist heterosexuelle Forscher geforscht haben (vgl. Bailey/Zuk 2009). Erst im Laufe der Zeit hat sich gezeigt, wie die sexuelle Orientierung der Forscher die Beobachtungen im Feld und ihre Theoriebildung beeinflusst. Ebenso verhält es sich mit abstrakteren theoretischen Modellierungen. So ist in der feministischen Wissenschaftsforschung eindrücklich gezeigt worden, wie die patriarchal-hierarchische Organisation der Gesellschaft auf Modellierungen der Organisation von Organismen übertragen wurde (vgl. Fox Keller 1983). Hätte man nun aber zu einer Zeit, als diese feministischen Erfahrungen und Erkenntnisse noch gar nicht ‚verfügbar‘ bzw. als Wissensbestände anerkannt waren, von homo- oder heterosexuellen Biologen gefordert, ihre eigene Positionalität darzulegen, hätten sie gar nicht ‚wissen‘ können, was zu reflektieren und aufzuschreiben wäre. Sollten sie ihre Verstrickung in der ethnischen Ordnung darlegen oder ihre Verstri-
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ckung der vergeschlechtlichten Ordnung einer Gesellschaft oder irgendeine andere Verstrickung? Weil wir alle so stark in dominante Diskurse eingebettet und durch sie hervorgebracht sind, ist grundsätzlich gar nicht absehbar, inwiefern unsere jeweiligen diskursiven Verstrickungen bestimmte Einschränkungen unserer Sichtweisen herstellen und uns darin festlegen, was wir überhaupt zu denken und erkennen imstande sind. Sicher wissen aber können wir, dass vielerlei Zugänge und Perspektiven in diesem Moment missachtet und marginalisiert sind. Auf der anderen Seite des Spektrums wären Forschungsfragen anzusiedeln, für die schon jetzt vergleichsweise eindeutig beurteilt werden kann, inwiefern bestimmte gesellschaftliche Positionierungen unsere Forschungspraxis beeinflussen – oder sogar für diese konstitutiv sind. So wurde hier argumentiert, dass Selbstpositionierung forschungsmethodologisch notwendig und forschungsethisch geboten sein mag, wenn Repräsentationen vulnerabler Anderer produziert werden, die nicht ohne Rückgriff auf die Subjektivität des Forschers möglich sind. Und in dem Maße, in dem die Forschungsfrage so angelegt ist, dass sie die innere und die subjektive Lebenswirklichkeit der Beforschten – der Anderen – repräsentieren will, muss im Forschungsprozess die eigene (durch die gesellschaftliche Positionalität bedingte) Subjektivität stärker bedacht werden. Und je mehr die eigene Subjektivität systematisch in den Forschungsprozess einbezogen werden muss, desto expliziter muss dies auch reflektiert und dokumentiert werden. Die forschungsethischen Anforderungen an die Selbstpositionierung steigern sich also, wenn es um die Repräsentation vulnerabler Anderer geht, will Forschung nicht zu der Reproduktion von Missachtung, Marginalisierung und Unterdrückung vulnerabler Anderer beitragen. Wenn es aber lediglich um die Inanspruchnahme bestehender Repräsentationen über vulnerable Andere (also um Bilder der Majorität von der vulnerablen Minorität) zum Zwecke der Rassismus- und Sexismusanalyse geht, ist eine solche Inanspruchnahme der eigenen Subjektivität und damit eine solche extensive Selbstpositionierung weder methodisch nötig noch ethisch geboten. Für solche Forschungsfragen mag es ausreichend sein, zu verdeutlichen, wie die Forscherin im gesellschaftlichen System von Rasse, Geschlecht und Sexualität positioniert ist, damit die Leserin einschätzen kann, welche erkenntnis-produktiven Bedingungen der Produktion des Textes zugrunde lagen. So ist es für die Leserin einfacher, einzuschätzen, ob etwa bei der Lesartengenerierung bestimmte soziale Positionierungen nicht
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vertreten waren und so bestimmte Lesarten gar nicht gefunden werden konnten. Die Leserin kann so Hypothesen darüber anstellen, ob anders positionierte Forscher gültigere Interpretationen hervorbringen würden. Solche Hypothesen können dann entsprechende Forschungen stimulieren.
A UTORITÄT
VERBÜRGT NICHT G ELTUNG , SONDERN IST EIN I NDIKATOR DAFÜR Nun mag der Einwand erhoben werden, dass mit der Forderung nach Selbstpositionierung einer Wissenschaftskultur Vorschub geleistet wird, in der Überzeugung an die Autorität der Person statt an sachhaltige Argumente geknüpft wird. Aber im Wissenschaftssystem gibt es viele soziale Mechanismen, die nicht die Geltung verbürgen, sondern die Orientierung in der Scientific Community erleichtern. So macht es für die meisten Leser in der alltäglichen Wissenschaftspraxis einen Unterschied, ob ein Argument von einer anerkannten oder von einer unbekannten Theoretikerin stammt – so ist etwa in der postkolonialen Theoriebildung von der „Heiligen Dreifaltigkeit“ von Said, Spivak und Bhabha die Rede (vgl. Young 1995, 163). Das Argument einer in der entsprechenden Scientific Community anerkannten Theoretikerin wird also aufgrund ihrer Autorität nicht „besser“, aber wir sehen darin einen Grund, es nicht vorschnell zu ignorieren, sondern besonders gründlich zu prüfen. Wir ziehen dann andere Texte der Autorin zurate und prüfen, wie Kollegen diese Texte verstehen. Letztlich muss die Geltung des Argumentes aber argumentativ ausgewiesen werden. Autorität verbürgt also nicht Geltung, sondern ist lediglich ein Indikator dafür (und vermutlich oftmals ein sehr schlechter). Daher kann es auch bei Forschungszugängen, für die die Inanspruchnahme der eigenen, partikularen Subjektivität nicht konstitutiv, aber einflussreich ist, dennoch forschungsethisch angezeigt sein, dass die Autoren die Reflexion ihrer Positionierung im relevanten System der gesellschaftlichen Missachtung, Marginalisierung und Unterdrückung dokumentieren. Die Leserin bekommt somit Hinweise darauf, ob den erkenntnis-produktiven Bedingungen, die der Produktion des Textes zugrunde gelegen haben, Quellen möglicher „Verzerrungen“ oder „Ausblendungen“ sind, denen es sich gründlicher nachzugehen lohnt auf der Suche nach möglichen Fehlinterpretationen oder blinden Flecken, die dann selbstverständlich argumentativ nachzuweisen sind. Letztlich ent-
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spricht diese Forderung der Auffassung der klassischen Sozialen Erkenntnistheorie (vgl. Kitcher 1993; Goldman 1999; Harding 1991), die nach den sozialen Bedingungen der Erkenntnisproduktion fragt. Den sozialen Aspekt der Erkenntnis ernst nehmen, hat aber auch die wissenschaftspolitische Konsequenz, die soziale Heterogenität der Scientific Community als einen erkenntnisproduktiven Wert anzuerkennen, den es aktiv zu fördern gilt. Neben Praktiken der Selbstpositionierung wäre auch die sozial heterogene Wissenschaftsgemeinschaft Bedingung dafür, um an dem Anspruch auf Wahrheit, Objektivität und Rechtfertigung der Erkenntnis festhalten zu können.
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Postkommunitäre Solidarität als Motiv kritischer (Migrations-)Forschung P AUL M ECHERIL
D ER
TÖRICHTE
E RKENNTNISPURISMUS
„Meine tastenden Bemühungen“, schreibt einer der bekanntesten und meist rezipierten akademischen Psycholog_innen, Hans Jürgen Eysenck, in seinem Buch über die „Ungleichheit des Menschen“ (1984, 34), „wurden von denen, die schon die Antworten wußten, mit Verachtung begrüßt – natürlich gibt es keine Rassen; natürlich sind Schwarze genauso intelligent wie Weiße; natürlich sind für alle vermeintlichen Unterschiede allein Umweltfaktoren verantwortlich. Und natürlich muß jeder, der es wagt, an diesen Wahrheiten zu zweifeln, ein Faschist sein – verführt durch ein Establishment zu schlimmster intellektueller Prostitution.“
Im Rahmen seiner Selbstdarstellung hebt sich Eysenck dadurch hervor, dass er – im Gegensatz zu seinen Kritiker_innen – vor aller empirischen Untersuchung keine Antwort weiß. Vor der Anwendung des Apparats wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung, so kann Eysencks Position ausgelegt werden, gebe es kein wissenschaftliches Wissen. Wissenschaftliches Wissen zeichne sich gegenüber anderen Formen von Wissen dadurch aus, dass es sich genau jener Voreingenommenheit enthält, die das Formulieren und Untersuchen bestimmter Fragen ausschließt. Etwa die, ob Schwarze genau-
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so intelligent sind wie Weiße. Sind Schwarze nun intelligenter als Weiße, weniger oder genauso intelligent? Wer für die Sache der Wahrheit streitet, muss, so Eysencks wissenschaftliches Selbstverständnis, in der Lage sein, auch wenn es zuweilen unangenehm und schmerzlich ist, die Dinge beim Namen zu nennen;1 und sei es dadurch, dass Fragen gestellt und verfolgt werden, die im ersten Moment zu ungeheuerlichen Ergebnissen führen: Tatsächlich, Schwarze sind nicht intelligenter, nicht genauso intelligent, sondern weniger intelligent als Weiße. Eysenck hält die unabhängigen Ergebnisse seiner Untersuchungen in Händen, sieht die ganze Wahrheit, zaudert aber noch: „[Doch] ließ mich mein Abscheu des ‚Rassismus’ nur äußerst zögernd der Auffassung, daß Neger tatsächlich genetisch zu niedrigeren IQs prädisponiert sein sollten, näher treten“ (ebd., 12). Eine Zurückhaltung, eine Scheu, ein Zagen: Noch
1
In einem ethnologischen Wörterbuchbeitrag zum Stichwort „Rasse“ heißt es: „Wenn eine Minderheit der heutigen Humanbiologen auf das Konzept ‚Rasse‘ verzichten möchte [Nennung von Autor_innennamen], bezieht man sich zwar auf objektive Schwierigkeiten der Grenzziehung (z. B. durch ‚multivariate Abstandsmaße‘) und ungesicherte Zusammenhänge zwischen einzelnen Erbfaktoren, die Vorentscheidung ist aber in der Regel außerhalb der physischen Anthropologie gefällt worden. Nach der Untersuchung von Littlefield u. a. befinden sich in diesem Lager auffällig viele Frauen, Angehörige von Einwanderergruppen und Minderheiten, vor allem Juden, und Wissenschaftler aus der Dritten Welt.“ (Streck 1987, 171). Auch diese Ausführung operiert implizit mit der Unterscheidung zwischen diesen, die an nichts als der Wahrheit interessiert sind, und jenen – „Frauen, Angehörige von Einwanderergruppen und Minderheiten, vor allem Juden, und Wissenschaftler aus der Dritten Welt“ –, deren Erkenntnisinteresse von außerwissenschaftlichen (hier: außeranthropologischen) Interessen eingefärbt ist. Die Wahrheitssucher_innen tragen – im Gegensatz zu denen, bei denen wir schon wissen können, dass ihre „Betroffenheit“ sie bestenfalls einäugig macht – keine sozialen Namen, sie, die Wahrheitssucher_innen, sie, die Seher_innen, bleiben unbenannt, ihr Blick gelangt aus der außersozialen Sphäre der Wissenschaftlichkeit und sieht, was zu sehen ist. Autor_innenschaft, Sichtbarkeit, Subjektivität, Voreingenommenheit auf der einen Seite und Unbenanntheit, Unsichtbarkeit, Objektivität und Wahrheit auf der anderen Seite stehen sich einander gegenüber.
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ringt Eysenck mit seinen eigenen emotiven Widerständen, die ganze Wahrheit zu sehen. Noch ist er unschlüssig, wankt. Doch als Wissenschaftler überwindet er diese Befangenheit und gibt schließlich entschlossen Auskunft: Schwarze – nicht an sich, jedoch im Durchschnitt – seien genetisch zu niedrigeren IQs prädisponiert. Nun kann gegen dieses Ergebnis etwa mit methodologischen Argumenten (Tests als Verfahren, die bestimmten sozialen Milieus vertrauter sind als anderen) oder mit Blick auf die inhaltliche Leere des Intelligenzbegriffs (Intelligenz ist, was Intelligenztests messen) eine Menge eingewandt werden.2 Was aber ist gegen Selbstverständnis und Vorgehen einer Wissenschaft einzuwenden, die doch nur Fragen stellt und Antworten auf ihre Fragen mittels wissenschaftlicher Verfahren sucht, diese findet und kommuniziert? Das Selbstverständnis, weder eine Göttin zu sein, noch über Götter zu verfügen,3 hat in gewissen Teilen der Sozialforschung das Bewusstsein um ihren chronischen Notstand möglich werden lassen. Unter dem Namen „Krise der Repräsentation“ wird dieses Bewusstsein in einigen Domänen der beispielsweise kulturwissenschaftlich inspirierten Wissenschaft gepflegt und etwa als doppelte Problematik der Repräsentation sozialer Tatsachen und der Legitimation sozialwissenschaftlicher Erkenntnis kultiviert. Grundlage dieser Kultivierung ist die weithin als trivial geltende Einsicht, dass sozialwissenschaftliche Aussagen soziale Sachverhalte nicht schlicht abbilden. Vielmehr tragen Sozialwissenschaften zur Erzeugung sozialer Sachverhalte bei. Sozialwissenschaftliche Forschung findet die Wahrheit über das Soziale, um eine Formulierung von Richard Rorty aufzugreifen
2
Die Kritik an den Arbeiten von Eysenck wird seit Mitte der 1950er Jahre zum Teil in massiver Form vorgetragen. Untersuchungen zum rassistischen Gehalt der Arbeiten Eysencks finden sich beispielsweise in dem von Axel Hirsch herausgegebenen Buch „Rechte Psychologie. Hans Jürgen Eysenck und seine Wissenschaft“ (1989). Auskunft über Kontinuitäten des wissenschaftlichen Rassismus in den Human- und Naturwissenschaften geben auch die Beiträge in einem von Kaupen-Haas/Saller herausgegebenen Sammelband (1999).
3
„Das In-der-Welt-Sein ist die wirklich unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit jeder Beschreibung der Welt“ (Brunkhorst 1997, 97). Götter und wohl auch Göttinnen sind von dieser irdischen – mit Edmund Husserl: „lebensweltlichen“ – Gebundenheit freilich ausgenommen.
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(1995, 22), nicht einfach vor, vielmehr macht sie sie. „Daß die Wahrheit nicht dort draußen ist, heißt einfach, dass es keine Wahrheit gibt, wo es keine Sätze gibt, daß Sätze Elemente menschlicher Sprachen sind und dass menschliche Sprachen von Menschen geschaffen sind“ (Rorty 1995, 24). „Wahrheit“, so Richard Rorty, ist Menschenwerk, das Werk von alltagspraktisch, wissenschaftlich, intellektuell, künstlerisch und religiös handelnden Menschen. Die Produktion von Erkenntnis hat also ihren Ort, sie ist gebunden. Diese interpretative Gebundenheit der Produktion von Erkenntnis meint zunächst die kognitiv-sprachliche Konstruktion (Selektion, Kreation, Brechung usf.) sozialer Sachverhalte durch sozialwissenschaftliches Tun, welches weiterhin dissiminativ auf kognitiv-sprachliche Konstruktionen (in) der Alltagswelt Einfluss nimmt. Diese Einflussnahme muss als soziale Praxis verstanden werden, die nicht allein Spielräume individuellen und kollektiven Handelns profiliert, sondern grundlegender, Vorstellung dessen transportiert, was „individuelles Handeln“ und „Kollektivität“ deskriptiv bedeutet und präskriptiv bedeuten soll. Sobald Sozialwissenschaft als eine Form sozialer Praxis verstanden wird, wird es erforderlich, über die historischen, sozialen, interaktionalen Voraussetzungen, aber auch die sozialen Konsequenzen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion nachzudenken. Auf die Krise der Repräsentation reagieren die Sozialwissenschaften mit reflexiver Selbstbezüglichkeit. Was zeichnet diese aus? Georges Devereux (1992) verdeutlicht in seinen ethnopsychoanalytischen Ausführungen wie kulturell vermittelte psychische Dispositionen der Wissenschaftler_in – etwa bestimmte Formen der Abwehr jener Angst, die durch den Untersuchungsgegenstand ausgelöst werden – Einfluss nehmen auf Methode und Prozess der wissenschaftlichen Formung von Wirklichkeit. Paradoxerweise – so Devereux – könne der formale Status der Freiheit der Forschung dazu führen, dass latente kulturelle Zwänge, die dem Handeln von Wissenschaftler_innen zugrunde liegen, verdunkelt werden. „Gerade der Wissenschaftler einer freien Gesellschaft“, so Devereux (ebd.), „[...] muß selbst der wachsame Hüter seines eigenen Denkens sein und die volle Verantwortung für seine intellektuelle Integrität übernehmen. Denn gerade weil man meint, es gebe sie nicht, ist die unsichtbare Gedankenpolizei am wirksamsten.“
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So anregend die Devereuxsche Kritik an jenem Verständnis von Sozialoder – wie es bei ihm heißt – Verhaltenswissenschaft ist, deren Grundoperation in der „Beobachtung eines Objektes durch einen Beobachter“ liegt und die Analyse nicht systematisch auf die Interaktion zwischen beiden bezieht (ebd., 309), so unbefriedigend ist – auch als Folge einer essentialistischen und essentialisierenden Verwendungsweise sozialer Differenzkategorien – die Enge des Gegenstandsbereiches, auf den Devereux die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Gebundenheit der Forscher_innen beschränkt. Seine Reflexivitätsempfehlung verbleibt im psychoanalytischen Gestus und konzentriert sich vorrangig auf das Bewusstmachen der kulturell bedingten, Angst abwehrenden „Verzerrung“ durch die Forscher_innen. Die Notwendigkeit, grundlegend über die eigene Wissenschaftspraxis nachzudenken, hat in bestimmten Wissenschaftsbereichen zu einer, wie Pierre Bourdieu (1995, 365) schreibt, „Epidemie wilder Reflexivität“ geführt, der die Reflektierenden zu erliegen scheinen. Bourdieu unterscheidet zwischen narzisstischer Reflexivität, die um ihrer selbst willen, als Selbstzweck um die Person der Wissenschaftler_in kreist, und jener Art von Reflexivität, die „auf die Verfeinerung und Verstärkung der Erkenntnismittel gerichtet“ ist (ebd., 366) und die er die wissenschaftliche nennt. Bourdieus Verständnis wissenschaftlicher Reflexivität weist nach Loic Wacquant (2009, 63) drei Kennzeichen auf: „Erstens: Ihr Gegenstand ist primär nicht der individuelle Wissenschaftler, sondern dass in die wissenschaftlichen Werkzeuge und Operationen eingegangene soziale und intellektuelle Unbewusste; zweitens: Sie ist ein kollektives Unternehmen und nichts, was dem Wissenschaftler individuell aufzubürden wäre; und drittens: Sie will die wissenschaftstheoretische Absicherung der Soziologie nicht zunichte machen, sondern ausbauen“ (Hervorhebung unberücksichtigt).
Ich habe bisher den Horizont kenntlich gemacht, in dem das grundlegende Motiv des hier präferierten Wissenschaftsverständnisses zu verstehen ist. Die Eysencksche Position habe ich genutzt, um das allgemeine Motiv des hier präferierten Wissenschaftsverständnisses in einer Absetzungsbewegung deutlich werden zu lassen. In einem ersten Schritt plädiere ich grundsätzlich – ohne einem moralischen Konzept einen Vorrang zu geben – für den Einbezug einer ethischen Perspektive als Reflexions- und Orientierungsmoment in den wissenschaftlichen Untersuchungsprozess. Es geht
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hierbei nicht um die Ersetzung von Erkenntnis durch Moral, sondern um die Stärkung einer moralischen Reflexion der erkenntnisproduzierenden, im Hinblick auf die Segmente „Entdeckungs-“, „Begründungs-“ und „Verwertungszusammenhang“ analytisch unterscheidbaren Prozesse und Phasen des Forschungsprozesses im Dienste seiner Verfeinerung. Die reflexive Verfeinerung der Erkenntnismittel allein ist nicht ausreichend, damit die sozialund kulturwissenschaftliche Analyse einen Beitrag dazu leistet, nicht die „Ungleichheit der Menschen“ (Eysenck) festzuschreiben, sondern beispielsweise Strukturen der Ungleichheit in kritischer Hinsicht erhellt. Um die Position, die die „Ungleichheit der Menschen“ als gegeben hinnimmt, nicht zu stärken, bedarf es in kritischer Absicht eine aktive und immer von einem moralischen Impuls motivierte Hinwendung zu Zusammenhängen, in denen die Ungleichheit der Menschen behauptet und „wahr gemacht“ wird. Das moralische Motiv mobilisiert die Wahl bestimmter empirisch-theoretischer Bereiche und Gegenstände. Nun werde ich in einem zweiten Schritt dieses Motiv – Solidarität – etwas genauer vorstellen. Sinnvoll sind die nachfolgenden Ausführungen zu „Solidarität“ hierbei auch, weil etwa in der Erziehungswissenschaft Bedenken gegenüber der Orientierung an Solidarität vorhanden sind. Exemplarisch seien diese Vorbehalte an einem längeren Zitat von Heinz-Elmar Tenorth (1999, 161) verdeutlicht: „In der Wissenschaft z. B. fehlt schon, und zu Recht, ein Begriff, der für legitime Politik im Wohlfahrtsstaat unentbehrlich ist, der Begriff der Solidarität. Forschung und Erkenntnis kommen ohne Solidarität mit den gesellschaftlichen Akteuren aus, ja die Betroffenheit, mit der man die Tugend kritischer Sozialforschung beschreiben wollte, gehört eher zu den Erschwernissen des Erkenntnisprozesses. Auch die Verlegenheitsformel, mit der kritische Wissenschaftler ihr Verhältnis zu sozialen Bewegungen präzisieren wollten, die ‚kritische Solidarität‘, kann das regulative Prinzip der Forschung nicht abgeben, das es zu sein verspricht. ‚Kritische Solidarität‘ gehört eher zu den hölzernen Eisen, mit denen sich die kritische Erziehungswissenschaft belastet hat. Sie sind für die Wissenschaft so wenig förderlich wie die Parteilichkeit oder die laute Propaganda der Einheit von Wissenschaft und Weltanschauung.“
Das, was ich als solidaritätswissenschaftliches Motiv bezeichne, ist nicht auf eine „Solidarität mit den gesellschaftlichen Akteuren“ angewiesen, zumindest dann nicht, wenn hier Solidarität im Sinne eines Zusammengehö-
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rigkeitsgefühls und mit ihm einhergehender Beziehungsverpflichtungen, etwa in Form der Loyalität der beforschten Gruppe gegenüber oder des gebotenen Schweigens über bestimmte Ergebnisse, verstanden wird. Solidarität mit Anderen fungiert im Rahmen des hier skizzierten Wissenschaftsverständnisses als Ausgangsmoment, das die Wahl bestimmter Untersuchungsbereiche und Untersuchungsgegenstände (wie etwa Formen der Legitimation des Ausschlusses bestimmter Akteur_innen, Notlagen von Menschen, politische und kulturelle Bedingungen dieser Notlagen, Möglichkeiten der Veränderung dieser Bedingungsmomente etc.) nach sich zieht. Im Rahmen des solidaritätswissenschaftlichen Vorgehens dient Solidarität also nicht in dem Sinne als regulatives Prinzip der Forschung, dass die Solidarität der Wissenschaftler_innen mit den konkreten Akteur_innen der sozialen Felder, die untersucht werden, den Forschungsprozess anleitet und strukturiert. Die Eigenständigkeit des wissenschaftlichen Tuns wird über das solidaritätswissenschaftliche Motiv nicht preisgegeben, vielmehr mobilisiert das Motiv Fragen, Untersuchungen und Studien, die auf Erkenntnisgewinnung gerichtet sind und an der Art gewonnener Erkenntnis beurteilt werden. Erkenntnispuristische Selbstinszenierungen können als Weigerung zur Auseinandersetzung mit ihren (auch) moralischen Voraussetzungen und Konsequenzen verstanden werden. Die reflexive Explikation der Motive und Interessen zielt auf den Ausweis der „unbewußten“, auch moralischen Grundlagen des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Und diese Grundlagen ergeben sich nicht aus der Analyse selbst, sondern sind dieser vorgelagert. „Ich glaube […]“, schreibt Ernst Tugendhat in seiner ersten Vorlesung über Ethik (1995, 18), „daß man zu dem Schluß kommen muß, daß eine kritische Gesellschaftstheorie, so wichtig sie ist, nicht an die Stelle einer Ethik treten kann, sondern eine Moral voraussetzen muß.“ Weil es nun mehr oder weniger angemessene moralische Voraussetzungen gibt, ist die Erörterung der der Kritik zugrunde liegenden normativen Orientierung, die Diskussion des Maßstabs der Analyse, unverzichtbar.
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E INE MORALISCHE L EITLINIE : S OLIDARITÄT 4 Solidarität ist ein „spezifischer Typ sozialer Regelung“, der, „in der heutigen Bedeutung des Wortes, zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die neuen Probleme der industriellen Gesellschaft“ entsteht (Hondrich/ Koch-Arzberger 1992, 10). Solidarität bezeichnet eine Form von Verbundenheit zu Menschen, welche möglich wird, weil man sich in bestimmter Hinsicht „als gleich versteht“ (ebd., 12), ohne dass dadurch alle Differenz aufgehoben würde. Solidarität ist demnach eine „Verbundenheit trotz Differenz“ (ebd., 13). Sie ist zugleich eine „Verbundenheit wegen Differenz“, da Solidarität einen moralisch fundierten sozialen Akt bezeichnet, in dem die Beteiligten sich in unterschiedlichen Lagen der Not oder Bedrängnis befinden. Bei Solidarität handelt es sich um ein supererogatorisches Phänomen, „das also jenseits des Forderbaren, und d. h. des Rechts, liegt“ (Wildt 1995a, 46). Aus dem Vermögen, die Notlage Anderer wahrnehmen zu können, folgt nicht, dass das solidarische Engagement der Person, die die Notlage der Anderen zur Kenntnis nimmt, von ihr erbracht werden muss. Das eigentümliche Gesicht der Solidarität besteht darin, dass sie einer moralischen Einschätzung der (möglichen) Notlage anderer entspringt und doch nicht von außen eingefordert werden kann, vielmehr nur als autonome Handlung einer moralisch motivierten sozialen Akteur_in wirksam wird.5 Die Betonung der supererogatorischen Dimension des Moralischen wurde etwa aus feministischer Perspektive und hier insbesondere in der Gilligan-Kohlberg-Debatte (siehe hierzu etwa Jorgensen 2006) entlang der Kritik an solchen – „deontologischen“ – Moraltheorien in die moraltheoretische Diskussion eingebracht, die verfahrensethisch mit der Beschränkung auf die Begründbarkeit von normativen Grundsätzen, die von allen Betroffenen akzeptierbar sind, das Prinzip der Gerechtigkeit gegenüber dem des Guten präferieren. Die Kritik hat deutlich gemacht, dass über die Achtung des und der Anderen als autonomem Subjekt hinaus die Achtung der Ande-
4
Ich danke Manuel Peters und Matthias Rangger für hilfreiche (Literatur-)Hin-
5
Wenn auch von einzelnen Akteur_innen Solidarität nicht eingefordert werden
weise. kann, so können wir uns doch, weil wir den Beziehungstyp Solidarität für wünschenswert halten, für Verhältnisse einsetzen, die diesen Typ befördern.
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ren im Horizont ihrer lebensgeschichtlichen Individuation notwendig ist. Lawrence Kohlberg (1986) stellt vor diesem Hintergrund und in Revision seines ursprünglichen Ansatzes der Gerechtigkeit das Prinzip der Benevolence gegenüber. Jürgen Habermas bezeichnet diesen Versuch Kohlbergs, „das Prinzip der Sorge für das Wohl des Anderen neben dem Gerechtigkeitsprinzip zur Geltung zu bringen“, als bahnbrechend (Habermas 1986, 308). Für Habermas ist Solidarität „das Andere der Gerechtigkeit“. Bei beiden moralischen Prinzipien handele es sich freilich nicht um zwei Momente, die sich ergänzten, „als vielmehr um zwei Aspekte der selben Sache. Jede autonome Moral muß zwei Aufgaben in einem lösen: sie bringt die Unantastbarkeit der vergesellschafteten Individuen zur Geltung, indem sie Gleichbehandlung und damit gleichmäßigen Respekt vor der Würde eines jeden fordert; und sie schützt die intersubjektiven Beziehungen reziproker Anerkennung, indem sie von den Individuen als Angehörige einer Gemeinschaft, in der sie sozialisiert worden sind, Solidarität fordert. Gerechtigkeit bezieht sich auf die gleichen Freiheiten unvertretbarer und sich selbst bestimmender Individuen, während sich Solidarität auf das Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen bezieht – und damit auch die Erhaltung der Integrität dieser Lebensform selbst“ (ebd., 311).
Gegenüber Gerechtigkeit betont Solidarität die Notwendigkeit der Anerkennung lebensweltlicher Strukturen, in denen die Anerkennung von einzelnen Subjekten erst zur Geltung kommen kann. Solidarität ist mithin ein auf den Erhalt und die Ermöglichung von Lebensformen zielendes Engagement, welches über die bloße Orientierung an Recht und Gerechtigkeit hinausgeht. Axel Honneth (2003) versteht in diesem Sinne gesellschaftliche Solidarität als jenes soziale Anerkennungsverhältnis, in dem jedes Gesellschaftsmitglied in die Lage versetzt wird, sich selbst in dem Sinne wertzuschätzen, dass es seine Fähigkeiten und Leistungen für den Gesellschaftszusammenhang als bedeutsam erfährt. Jedoch tendiert ein solches Verständnis von Solidarität stark dazu, Solidarität als Bestandteil und Medium eines integrierten Gesellschaftszusammenhangs zu fassen und darin den Aspekt des kulturellen, (national-)staatlichen Eigenen zu betonen. Vor diesem Hintergrund plädiert etwa Oliver Marchart (2011, 359) für eine „Entsolidarisierung mit dem Eigenen“ als Voraussetzung einer Solidarität, die auf Andere bezogen ist: „Solidarisch
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kann ich nur mit jemandem sein, dessen Position sich von meiner unterscheidet“ (ebd.). Solidaritätskonzepte, die auf die Figur einer „Solidarität unter Vertrauten“ beschränkt bleiben, sind im Rahmen eines politischen Denkens der Differenz nur begrenzt überzeugend. Wenn Solidarität wie bei Jürgen Habermas als „Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen“ verstanden wird, dann stellt das Prinzip der Solidarität unter Vertrauten in Kontexten, die eine Pluralität und Diversität der Lebensformen kennzeichnet, eher ein Instrument der Festschreibung und Festigung von Differenz dar, welche Anteilnahme und Engagement verhindern, als eine handlungsbedeutsame Verbundenheit trotz und wegen Differenz. Hauke Brunkhorst (1997) hat deshalb die Umstellung von „Solidarität unter Freunden“ auf „Solidarität unter Fremden“ als „moralischen Fortschritt“ herausgestellt. Der Schritt von „Solidarität wegen Gleichheit und in Gleichheit“ zu „Solidarität wegen und in Differenz“ ist aufgrund der Konstitution moderner Gesellschaften wünschenswert. Insofern wechselseitige Anerkennbarkeit aufgrund gemeinschaftlicher Verbundenheit für moderne, kulturell und soziale fragmentierte Gesellschaftsformen nicht als gegeben angenommen werden kann, muss über Formen sozialer Anerkennung nachgedacht werden, die den „Gemeinschafts-Mangel“ weder beklagen noch provinzialisierend oder separierend kompensieren, sondern als eine Grundvoraussetzung gleichsam postkommunitärer Solidarität bedenken. Unter Berücksichtigung der Faktizität gesellschaftlicher Differenz und Pluralität verweist eine zeitgemäße Konzeption von Solidarität auf eine handlungsbedeutsame Verbundenheit mit allen in einem weiten Sinne sprach- und handlungsbegabten Menschen,6 mit denen ich in einem wie auch immer vermittelten Handlungszusammenhang stehe. Dieser Zusammenhang kann durch Gefühle der Verbundenheit gestiftet oder angezeigt werden, muss es aber nicht: Menschen lernen mehr und mehr, sich als signifikant in nationale, supranationale und globale Handlungskontexte ökonomischer, rechtlicher, kultureller und sozialer Art eingebunden zu be-
6
Mit Menschen, die dem weiten Sinn von Sprach- und Handlungsbegabung nicht (mehr) entsprechen, weil sie etwa krankheits- oder unfallbedingt komatös sind, ist Solidarität kaum möglich, sehr wohl aber andere moralische Empfindungen und Bezugnahmen wie Liebe, Empathie und Mitgefühl.
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greifen, die sich auch auf einer sinnlich-leiblichen Ebene simplen Vereinheitlichungssuggestionen widersetzen. Die Fremdheit der Anderen, mit denen ich in zwar „außerkommunitären“, gleichwohl pragmatisch relevanten Zusammenhängen stehe, setzt den Punkt. Sie ist der Anlass, über Modelle, die Solidarität an Vertraut-Sein, lebensweltliche und emotionale Nähe binden, über kulturalistische und idyllisierende Modelle von Solidarität hinauszugehen. Lucie Billmann und Josef Held führen in Anlehnung an Stuart Hall aus, dass die „neoliberale Kultur“ eine Zunahme von Pluralisierungs- und damit einhergehend auch Individualisierungsformen bewirke, die einerseits zu einer Auflösung von Formen solidarischem Handelns führen, andererseits aber auch neue Formen von Solidarität hervorbringen würde: „Insgesamt werden unter dem Einfluss der neoliberalen Kultur grundlegende Werte verändert. Werte, die für das politische Handeln sehr wichtig sind, werden umdefiniert und damit ihrer Bedeutung für das kollektive Handeln enthoben. Das gilt insbesondere für den umfassenden Begriff der Freiheit, der unter neoliberalem Vorzeichen eher den verantwortungslosen Egoismus propagiert. […] In ähnlicher Weise verlieren in der neoliberalen Kultur die Werte Würde und Anerkennung ihre ursprüngliche fundamentale Bedeutung.“ (Billmann/Held 2013, 15)
Zugleich gibt es auch gegenläufige Tendenzen. So kann Globalisierung gleichermaßen wie Individualisierung als „Solidaritätschance“ verstanden werden „oder sogar neue Formen solidarischen Handelns mit sich bringen“ (Marvakis 2005, 163; zit. nach Billmann/Held ebd., 16), eine Form, die als „solidarischer Individualismus“ bezeichnet wurde (ebd.). Marvakis (2013) macht darauf aufmerksam, dass der Solidaritätsbegriff im Rahmen der so genannten Wirtschafts- und Bankenkrise von der extremen Rechten in Griechenland in Form der Anrufung „einer Notwendigkeit nationaler Solidarität“ instrumentalisiert wird, um nationalistische Ideen zu verbreiten. Auch Albert Scherr (2013) verweist auf die Problematik der Instrumentalisierung des Solidaritätsbegriffs durch rechte Parteien (auch in Deutschland) und kritisiert einen „gruppen-egoistischen“ Solidaritätsbegriff: „Der Rückblick auf die Realgeschichte der universalistischen Idee der Solidarität, auf das Scheitern der Versuche, eine wirkungsmächtige inter- bzw. transnationale
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Arbeiterbewegung zu organisieren, auf den menschenverachtenden Missbrauch der Idee der Klassensolidarität im Stalinismus und Maoismus sowie der gegenwartsbezogene Blick auf gesellschaftliche Fragmentierungen lassen kein naives Fortschreiben des Solidaritätsgedankens mehr zu. Aus der historischen Erfahrung ist vielmehr zu lernen: Gegenüber Ideen, die Opfer verlangen, ist aus guten Gründen Skepsis naheliegend und gegenüber Anrufungen eines Kollektivs, zu dem man sich zugehörig fühlen und mit dem man sich solidarisieren soll, ist durchaus Misstrauen angebracht. Immer dann, wenn kollektive Identitäten und kollektive Interessen Vorrang gegenüber dem Eigensinn und der Vernunft der Einzelnen haben sollen, besteht die Gefahr einer repressiven Ein- und Unterordnung.“ (Scherr 2013, 263f.)
Scherr beschreibt Solidarität als emanzipatorischen politischen Begriff, der erstens – worin bereits die gruppen-egoistische Verfallsform angelegt ist – den Anspruch erhebt, „sich für gemeinsame Interessen durch Formen des kollektiven Handelns“ (ebd., 264) einzusetzen, der zweitens einen „Zusammenschluss derjenigen [...], die Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen unterliegen“ (ebd.) darstellt. Drittens ist nach Scherr für Solidarität „eine universalistische Perspektive kennzeichnend: Es geht dann um mehr als die Verfolgung gruppen-egoistischer Interessen, sondern um ein Verständnis jeweiliger Interessen, das mit Vorstellungen einer gerechteren Gestaltung der sozialen Verhältnisse für alle verknüpft ist.“ (Ebd.)
Viertens zeichnet sich Solidarität für Scherr durch Freiwilligkeit und nicht Zwang aus. Fünftens ist es wichtig, „die postmoderne Kritik universalistischer Rechtfertigungen von Macht und Herrschaft in den Solidaritätsbegriff aufzunehmen. Das heißt: Solidarität kann nicht länger auf einen abschließenden Konsens über die richtige Gesellschaftsgestaltung oder das gute Leben gegründet werden, sondern ist darauf verwiesen, das ‚universale Recht, anders zu sein‘ als ‚die einzige Universalität, die kein Verhandlungsgegenstand ist‘ (Bauman 1992, 312), anzuerkennen.“ (Scherr 2013, 263f.)
Hinweise auf die potenzielle Realisierbarkeit postkommunitärer Solidarität – etwa mit Talcott Parsons, der „zeigt, wie Solidarität unter Fremden mit Hilfe funktionaler Differenzierung stabil und dauerhaft institutionalisiert werden kann“ (Brunkhorst 1997, 94; Hervorhebung im Original) – stützen
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Relevanz und Reichweite des Begriffs. Parsons Solidaritätsbegriff kennzeichnet Solidarität als strategisches Handeln (gefühlsneutral, universalistisch, leistungsbezogen, spezialisiert), das auf ein gemeinsames Interesse hin orientiert ist. „Durch die Isolierung von allen konkreten Gemeinschaftsbindungen wird das gemeinschaftliche Interesse an gegenseitiger Hilfe in Notfällen (ähnlich wie bei Rousseau das politische ‚Gemeinwohl‘) faktisch institutionalisiert und im funktional differenzierten Sozialsystem als verallgemeinerte Solidarität unter Fremden wirksam“ (ebd., 80; Hervorhebung im Original).
Der Sinn jenes als Solidarität bezeichneten Beziehungstyps, der auch jenseits enger Zusammengehörigkeitsgefühle wirksam ist, besteht nicht nur darin, dass er empirisch anzutreffen ist und ein gewissermaßen integratives Potenzial besitzt, sondern auch in dem Moment, dass er unter Bedingungen zunehmender Differenzierung von Lebensformen wünschenswert ist. Sinnvoll ist mithin das Engagement für soziale Verhältnisse, für die der Beziehungstyp Solidarität kennzeichnend ist, weil diese Verhältnisse moralisch wünschenswert und zugleich prinzipiell nicht „weltfremd“ oder allein „schwärmerisch“ sind. Rainer Zoll (2000) diagnostiziert „eine tiefe Krise der Solidarität heute“, wobei er darin kein Ende, sondern vielmehr einen Wandel alter Formen von Solidarität – „Solidarität unter Gleichen“ – zu neuen Form von Solidarität – „Solidarität unter Fremden“ – erkennt. Das Verständnis von Solidarität, das für unseren Zusammenhang bedeutsam ist, verweist also auf soziale Verhältnisse eines Engagements für ein Gegenüber, das zwar fremd ist und sein kann, mit dem der und die Einzelne aber in einem praktischen Zusammenhang einer geteilten Lebensform steht. Hierbei wird Solidarität von einer Bezugnahme auf Andere getragen, die erst als Handlung oder Handlungsbereitschaft zu Solidarität wird. Wer mit wem solidarisch sich zusammenschließen soll bzw. kann, ist, so etwa Albert Scherr (2013, 267), in „einer sozioökonomisch fragmentierten und sozio-kulturell pluralisierten Gesellschaft“ keineswegs offenkundig, weil Identifikationen mit anderen „prinzipiell wählbar und kündbar“ (ebd.) seien. Er folgert daraus: „Solidarisierung (im politischen Sinn des Begriffs) ergibt sich folglich keineswegs von selbst aus der objektiven Übereinstimmung von Interessen, sondern wird zu ei-
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nem voraussetzungsvollen Projekt. Im gegenwärtigen postmodernen Kapitalismus ereignet sich Solidarisierung deshalb anlassbezogen und befristet und übersetzt sich keineswegs notwendig in institutionalisierte Formen und stabile Organisationsmitgliedschaften.“ (Ebd., 268).
Solidarität ist insofern „mehr“ als bloßes Mitgefühl, als Empörung, oder als eine moralische Stellungnahme; für Solidarität ist ein Engagement kennzeichnend, das – zumindest seinem Anliegen nach – darauf bezogen ist, Verhältnisse, in denen sich die mir fremden und vertrauten sozialen Kooperationspartner_innen nicht entfalten und entwickeln können, zu verändern oder weitergehend noch: Diese Verhältnisse zu verhindern. Andreas Wildt (1995b) hat eine Definition des Solidaritätsbegriffs vorgeschlagen. Die Kommentierung dieses Vorschlags, dessen Vorteil es ist, Solidarität im oben angesprochenen Sinne als aktives Engagement zu begreifen, soll das bisher entwickelte Verständnis von Solidarität vertiefen. Solidarität beleuchtet Wildt aus einer Perspektive, die Intentionen der Akteur_innen in konkreten sozialen Situationen in den Vordergrund stellt:7 „‚Solidarität‘ bezeichnet eine engagierte Handlung oder Handlungsbereitschaft eines Akteurs gegenüber einem Rezipienten genau dann, wenn gilt I.
bezüglich der unmittelbaren Intention des Akteurs:
(1) Akteur und Rezipient sind durch Gefühle der Zusammengehörigkeit oder Mitgefühl miteinander verbunden. (2) Die Motivation des Akteurs ist mindestens teilweise altruistisch. (3) Der Akteur versteht seine Handlung als Hilfe in einer Art Notlage des Rezipienten. (4) Diese Notlage wird vom Akteur als moralisches Problem verstanden, und zwar als Ursprung einer Verpflichtung, meist auch als Unrecht an dem Rezipienten.
7
Wildts definitorischer Versuch ist dem Bestreben geschuldet, dem Begriff der Solidarität neben dem der Gerechtigkeit und über diesen hinausgehend einen systematischen Platz in der moralphilosophischen Debatte zuzuweisen. Wildt macht dabei auf die Unschärfe des Solidaritätsverständnisses von Habermas aufmerksam, insofern dieser mit Solidarität „alles das in der Moral bezeichnen [will], was über das ‚abstrakte‘ Recht der Gleichbehandlung hinausgeht“ (1995b, 46).
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(5) Der Akteur glaubt, daß er selbst moralisch verpflichtet ist, entsprechend zu handeln. (6) Der Akteur glaubt nicht, daß der Rezipient seiner Hilfe ein – juristisches oder auch nur moralisches – Recht auf diese hat. II. bezüglich der Annahmen des Akteurs über Intentionen des Rezipienten: (7) Der Akteur unterstellt, daß der Rezipient seine Notlage ähnlich beurteilt wie er selbst. (8) Der Akteur unterstellt, daß der Rezipient motiviert ist und, soweit möglich, ernsthaft versucht, seine Notlage zu bekämpfen. (9) Der Akteur unterstellt mindestens die Möglichkeit, daß es analoge Situationen gibt, in denen der Rezipient sich (aus ähnlicher Motivation) ihm oder Dritten gegenüber analog verhält, verhalten hat oder verhalten wird“ (Wildt 1995a, 45f.; Hervorhebung im Original).
Solidarität ist dieser Definition zufolge eine nicht einforderbare, supererogatorische Handlung(sbereitschaft), die vor dem Hintergrund einer als moralisch problematisch wahrgenommenen Notlage Anderer zustande kommt. Der Wildtschen Ermunterung zur Variierung und Modifikation seines Definitionsvorschlag will ich nachkommen: Zu (1): „Verbundenheit durch Gefühle der Zusammengehörigkeit“. Zwischen Akteur_in und Empfänger_in solidarischer Beziehungen müssen Gemeinsamkeiten vorhanden sein, die jedoch nicht die Verbindlichkeit von Zusammengehörigkeitsgefühlen erreichen müssen. Solidarität unter füreinander Fremde kommt ohne die Intensität emotional angezeigter kommunitärer Zusammengehörigkeit aus, der für Solidarität unter Freund_innen kennzeichnend ist. Gleichwohl handelt es sich bei der im Begriff der Solidarität angezeigten Beziehungsform um eine auch emotionale Beziehung, weil moralisches Handeln nicht allein kognitiv fundiert ist, sondern immer auch affektive Stellungnahmen voraussetzt und mit sich führt. Solidarisch sind Beziehungen, die die affektive Anteilnahme an dem Besonderen der anderen Person provozieren. Erst die grundlegende Bereitschaft, die Besonderheit der Anderen zu achten und sich für Darstellung und Entwicklung dieser Besonderheit zu engagieren, ermöglicht den nicht bloß durch allein strategische Motive errichteten Handlungsrahmen, in dem wechselsei-
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tige Angewiesenheit sinnvoll besprochen und gemeinsame Ziele bestätigt werden können. Zu (2): Wenn „altruistische Handlung“ meint, dass es sich bei solidarischem Handeln nicht allein um strategisches Handeln handelt, das allein der Maximierung solcher der Akteur_in zugute kommenden Effekte dient, dann würde ich der Kennzeichnung zustimmen. Die affektive Anteilnahme an der Besonderheit der Anderen, die Überzeugung, dass die Besonderheit Anderer grundsätzlich etwas bewahrens- und achtenswertes ist, kann nicht durch bloß instrumentell eingebrachte Unterstützung substituiert werden. Zu (3): „Handlung als Hilfe in einer Art Notlage“. Der Hinweis auf die partiell altruistische Motivation der Akteur_in ist aber insofern verzichtbar, als dieser Aspekt bereits in dem helfenden Selbstverständnis der Handelnden enthalten ist. „Hilfe“ umfasst immer das Moment des Absehens von sich selbst; das Ergebnis der Hilfe kann also nicht gänzlich als Mittel zur Erreichung von Zielen verstanden werden, die außerhalb des Wohls des Gegenübers liegen. Da „Hilfe“ und „Helfen“ zuweilen erst Hilfsbedürftigkeit und die Etikettierung als hilflos bewirken, ist hier weiterhin sinnvoll, von „Hilfsangeboten“ zu sprechen. „Solidarität“ ist ein soziales Verhältnis zwischen Subjekten, deren prinzipielle Selbstverantwortlichkeit unersetzbar ist – auch nicht im Akt solidarischer Anteilnahme und solidarischem Engagement. Zudem ist wichtig, neben Notlagen auch „mögliche Notlagen“ zu berücksichtigen, an denen das Hilfsangebot seinen Ausgang nehmen kann. Auch die Antizipation von Notlagen kann Hilfsangebote zur Folge haben. Zu (4): „Notlage als moralisches Problem“. Die mögliche Notlage muss von der Akteur_in als moralisches Problem verstanden werden, weil allein diese Art von Verständnis das solidarische Handeln zu mobilisieren weiß. Zu (5): „Moralische Verpflichtung des Akteurs“. Auf diese Kennzeichnung verzichte ich. In zur Kenntnis genommenen Notlagen Anderer, welche ihre spezifische Bedeutung darin gewinnen, dass sich jemand nicht in seiner oder ihrer Besonderheit darzustellen vermag, ist es im Rahmen einer Solidarität unter Fremden nahe liegend, ein Hilfsangebot zu formulieren, verpflichtet sind die Akteur_innen dazu nicht und müssen sich selbst diesem Verpflichtet-Sein auch nicht notwendigerweise unterstellen.
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Zu (6): Genau weil die Akteur_in „nicht glaubt, daß der Rezipient seiner Hilfe ein moralisches Recht“ auf ihr Engagement hat, also unterstützendes Handeln einfordern könnte, ist sie nicht zu diesem Handeln verpflichtet, wiewohl es im Rahmen des moralischen Empfindens der Akteur_in naheliegend ist, so zu handeln. Zu (7): „Rezipient beurteilt Notlage ähnlich“. Angesichts der nicht unwahrscheinlichen kulturellen Differenz und der möglichen Unvertrautheit der sich im Modus der Solidarität unter Fremden Begegnenden kann die Ähnlichkeit der Beurteilung (auch von Notlagen) nicht schlicht vorausgesetzt, sondern muss vielmehr zum Thema gemacht werden. Die Akteur_in nimmt zwar eine (mögliche) Notlage des Gegenübers an, ist sich aber der Gebundenheit dieser Unterstellung an ihre eigenen Not- und Hilfekonzepte bewusst, eine Gebundenheit, die sie zu einer kommunikativen Problematisierung der Frage veranlasst, welche Art von „(Not-)Lage“ vorhanden ist. Zu (8): Auch diese Kennzeichnung ist verzichtbar, da ich „Notlagen“ als Zustände verstehe, die verändert werden wollen. Wo – der Akteur_in als Notlagen erscheinende – Situationen nicht verändert werden wollen, handelt es sich nicht um eine Notlage und die Akteur_in hat sich in ihrer Wahrnehmung oder „Unterstellung“ geirrt. Dieses Irren hat die im Rahmen einer Solidarität unter Fremden notwendige reflexive Bereicherung/Belastung der solidarischen Beziehung durch Kommunikation herauszustellen. Freilich ist nicht garantiert, dass eine Kommunikation unter Fremden „Irrtümer“ konsensuell wird identifizieren können: Fragen der Realisierbarkeit einer Solidarität unter Fremden, die zwischen den Negativ-Polen indifferenter Ignoranz und paternalistischer Entmündigung schwankt, sind hierbei sinnvollerweise empirisch zu untersuchen. Die Widerständigkeit von Dissensen in Bezug auf die Frage, welchen moralischen Staus eine individuelle „Lage“ hat, ist hierbei jedoch durch kein noch so verfeinertes Modell der Beratschlagung überwindbar, sondern kennzeichnend für den dilemmatischen Grundzug solidarischen Handelns. Zu (9): „Unterstellte Reziprozität“. Reziprozität in solidarischen Beziehungen auf wechselseitige Handlungsbereitschaft auf der Ebene konkreter Hilfen zu beziehen, halte ich für unangemessen, da das Handeln dann allzu leicht einem Kalkül der Reziprozitätsökonomie (wie ich Dir, so Du mir) an-
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heimfiele. Reziprozität ist freilich auch in unserem Rahmen bedeutsam, da sich Solidarität auf Personen, die ihrem prinzipiellen Vermögen nach autonome, moralisch empfindende Subjekte sind, bezieht. Der Status als Handlungssubjekt wird bei den Gegenübern unterstellt8. Für mein Gegenüber mag es in komplementären Situationen nun naheliegend sein, ebenfalls Hilfsangebote zu formulieren. Automatisch erwartet werden kann dies aber nicht, eingefordert noch viel weniger.
S CHLUSS Gegen jede Form von Erkenntnis, die etwa die „Ungleichheit der Menschen“ (Eysenck) belegen zu können meint, bringt das solidaritätswissenschaftliche Motiv ein Erkenntnisprozesse motivierendes Unbehagen und eine Empörung ein. Der Vorrang dieses moralisch vorbehaltlichen Verständnisses gegenüber gleichsam vorbehaltlosen Ausgangspunkten ist rational nicht zwingend begründbar; jedoch kann das Motiv der Präferenz plausibel gemacht werden (zur moraltheoretischen Unterscheidung von „Motiv“ und „Grund“, siehe Tugendhat 1995, 85ff) und geht mit der Wahl und Entscheidung für die Analyse bestimmter Untersuchungsbereiche sowie der Entscheidung für bestimmte Fragestellung einher. Solidarität als Ausgangspunkt motiviert die Untersuchung von (migrationsgesellschaftlichen) Zusammenhängen, in denen beispielsweise Formen postkommunitärer Solidarität möglich sind und gefördert werden, untersucht Bedingungen dieser Formen, fragt nach den Ermöglichungsbedingungen eines Engagements für soziale Verhältnisse, für die der Beziehungstyp Solidarität kennzeichnend ist, fragt nach den Bedingungen der Entstehung und den Möglichkeiten der Veränderung solcher Verhältnisse, in denen sich die mir je fremden und vertrauten sozialen Kooperationspartner_innen nicht entfalten und entwickeln können.
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Wo diese Unterstellung nicht vorliegt, handelt es sich nicht um Solidarität: „Gegenüber Tieren, Neugeborenen und Föten gibt es deshalb zwar Mitgefühl und moralische, vielleicht auch supererogatorische Verpflichtungen, kaum aber Solidarität“ (Wildt 1995a, 47).
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Teil 2 Solidarität – Erkundung einer (un)zeitgemäßen Orientierung im Kontext der Migrationsgesellschaft
Solidarität und Bildung in der Migrationsgesellschaft K RASSIMIR S TOJANOV
Dieser Aufsatz greift die Frage auf, ob ein notwendiger Zusammenhang zwischen Solidarität und Bildungswesen in der Migrationsgesellschaft existiert und wie er gedacht werden kann. Diese Frage ist alles andere als selbstverständlich und ihre Berechtigung kann man zumindest aus zwei Gründen anzweifeln. Erstens: Solidarität wird meistens als politischer Kampfbegriff verwendet, der Kollektivierungsprozesse im Kontext ökonomischer und sozialer Kämpfe gesellschaftlicher Schichten herbeiruft, wohingegen sich Bildung auf zunächst unpolitische Entwicklungsprozesse der Individuen bezieht. Zweitens: Solidarität wird meistens in Gemeinschaften lokalisiert, die sich durch gemeinsame Traditionen und Werteüberzeugungen sowie durch intensive gemeinsame Erfahrungen konstituieren. Da sich aber die multikulturelle Migrationsgesellschaft durch eine Pluralität von solchen partikularen Gemeinschaften auszeichnet, kann und darf das Bildungswesen dieser Gesellschaft diese Partikularinteressen nicht bedienen; vielmehr soll es sich von ihnen freimachen und eine distanziert-neutrale Haltung zu ihnen einnehmen. Sollte dies bedeuten, dass Solidaritätswerte und -appelle in den Bildungsinstitutionen der Migrationsgesellschaft fehl am Platze sind? Sollte man die moralischen Prinzipien, an die sich diese Institutionen zu orientieren haben, nicht eher mit Begrifflichkeiten wie Respekt und Toleranz umschreiben, welche einen distanzierteren und gewissermaßen „gefühlskalten“
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Umgang mit den Educanden suggerieren, der keine direkte Einmischung in ihre „kulturellen Identitäten“ vorschreibt? Entgegen den radikalkonstruktivistisch-systemtheoretischen Verheißungen, die den pädagogischen Diskurs immer noch stark prägen, lässt sich allerdings mit guten Gründen behaupten, dass Bildungsprozesse ohne Anteilnahme, Anleitung und Einfühlung gar nicht möglich sind. Bildungsprozesse setzen intersubjektive Beziehungen voraus, in deren Rahmen sich die Educanden mit formellen und informellen LehrerInnen identifizieren, und von diesen in ihren Bedürfnissen, aber auch in ihren Entwicklungspotenzialen anerkannt fühlen können. Wissenserwerb setzt argumentative Diskussionen mit verständnisvollen GesprächspartnerInnen über die Lerninhalte und ihren lebensweltlichen Sinn voraus. Bildungsblockaden können oft nur durch kompetente und einfühlende fremde Hilfe durchbrochen werden. Taugt jedoch der Begriff der Solidarität wirklich dazu, die bildungsstiftenden Intersubjektivitätsverhältnisse der Anteilnahme, Anleitung und Einfühlung zu umschreiben? Ist dieser Begriff nicht viel zu stark politisch konnotiert, um auf pädagogische Beziehungssettings adäquat angewandt werden zu können? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zuerst mit dem Begriff der Solidarität näher befassen. Zu diesem Zwecke thematisiere ich in einem ersten Schritt meiner Überlegungen einige zentrale Alltagsbedeutungen dieses Begriffs. Anschließend zeige ich auf, wie anhand der Ansätze von Jürgen Habermas und Richard Rorty der Solidaritätsbegriff zum einen von rechtlichen Vertragsinteraktionen abgegrenzt und zum anderen von seiner Bindung an die Figur der partikularen kulturellen Gemeinschaften abgelöst werden kann. Abschließend arbeite ich die These heraus, dass gerade in der Migrationsgesellschaft sich Solidarität und Bildung in einem inhärenten Zusammenhang befinden.
A LLTÄGLICHE V ERWENDUNGSKONTEXTE UND B EDEUTUNGEN VON S OLIDARITÄT Sobald wir uns der Aufgabe widmen, den Begriff der Solidarität zu rekonstruieren, begeben wir uns in das Feld der philosophischen Begriffsanalytik. Als bahnbrechend für diese Analyse, die bis zum Ende der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts noch von formal-logischen Herangehensweisen be-
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herrscht wurde, hat sich in den letzten Dekaden die Methode des so genannten „reflexive equilibrium“ erwiesen, die zuerst von John Rawls in seiner epochalen Theorie der Gerechtigkeit durchexerziert wurde, und die ins Deutsche für gewöhnlich als „Überlegen-Gleichgewicht“ übersetzt wird (vgl. Rawls 1975, 68ff). Ganz allgemein ausgedrückt bedeutet diese Methode, dass bei der Analyse und Rekonstruktion eines Begriffs immer nach einem Gleichgewicht zwischen den intuitiv-alltäglichen Gebrauchsweisen dieses Begriffs, den Prinzipien, die diesen Gebrauchsweisen zugrunde liegen, und Theorien über seinen Objektbereich gesucht wird. Beginnen wir zunächst mit den intuitiv-alltäglichen Gebrauchsweisen von „Solidarität“. Wenn wir sagen, dass sich die Person X solidarisch gegenüber der Person Y verhält, dann meinen wir zunächst einmal, dass X für Y einsteht, oder dass X Y unterstützt. Das Prinzip der Solidarität weist jedoch eine wichtige Besonderheit des Unterstützungsverhältnisses auf, das als „solidarisch“ zu bezeichnen ist: Es ist ein Verhältnis, zu dem die unterstützende Person rechtlich nicht verpflichtet ist, und das auf keinerlei vertragliche Beziehungen zwischen der unterstützenden und der unterstützen Personen beruht. Wenn ich Erste Hilfe bei einem Unfall im Straßenverkehr leisten kann, ohne mich selbst dabei zu gefährden, dann bin ich rechtlich verpflichtet, dies zu tun. In diesem Fall ist meine Hilfe kein Ausdruck von Solidarität mit den Unfallopfern, sondern Erfüllung meiner bürgerlichen Pflicht. Das Prinzip des solidarischen Verhältnisses besteht also darin, dass dies ein Verhältnis der Hilfeleistung ist, zu der keine rechtliche oder vertraglich verbürgte Pflicht besteht. Dies legt nahe, dass sich Solidarität ausschließlich im Kontext von solchen sozialen Lebensformen entwickeln kann, die sich durch enge, informelle, nicht-institutionalisierte Bindungen zwischen ihren Mitgliedern auszeichnen, welche sich nicht primär als Parteien eines gesellschaftlichen Vertrags, sondern als GenossInnen einer gelebten Gemeinschaft gegenseitig wahrnehmen. Dieses Prinzip der Solidarität äußert sich nur partiell und wird durch zwei weit verbreitete alltägliche Gebrauchsweisen des Begriffs „Solidarität“ verzerrt, indem dieser Begriff einerseits als Bezeichnung für eine Art kompensatorischen Zusammenhalts, andererseits als Synonym für Kameradschaft verwendet wird. Der Typus des kompensatorischen Zusammenhalts ist charakteristisch vor allem für Defizit-Gesellschaften wie diejenige der ehemaligen DDR
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und anderer realsozialistischer Länder. Immer noch kann man Menschen antreffen, die eine gewisse Nostalgie gegenüber des dort angeblich weit verbreiteten Phänomens der Nachbarschaftshilfe an den Tag legen – ein Phänomen, das sie gelegentlich als „Solidarität“ umschreiben. In Wirklichkeit handelte es sich bei dieser Nachbarschaftshilfe um eine Kompensation der Unfähigkeit des Staates, seinen Verpflichtungen gegenüber seinen BürgerInnen nachzukommen, sie beispielsweise mit Materialien zur Wohnungsrenovierung oder mit anderen notwendigen Waren zu versorgen bzw. einen Markt zu ermöglichen, der diese Versorgung hätte gewährleisten können. Diese Form von objektiv aufgezwungenen gegenseitigen Hilfeleistungen ist deshalb nicht als „Solidarität“ zu bezeichnen, weil die darin enthaltenen zwischenmenschlichen Beziehungen nicht über vertragsförmige institutionelle Rechte und Pflichten hinausgehen. Diese Hilfeleistungen stellen vielmehr den Versuch dar, das Nicht-Vorhandensein solcher Rechte (seitens der BürgerInnen) und Pflichten (seitens des Staates) auszugleichen. Die Form der Kameradschaft, die bisweilen auch als „Solidarität“ bezeichnet wird, kommt am deutlichsten bei der Lebensform des Militärs zum Vorschein. Zugespitzt ausgedrückt bedeutet sie, dass man zuerst und vor allem Sorge für die eigenen KameradInnen tragen muss – selbst dann, wenn dafür Außenstehende geopfert werden müssen. Dass dies manchmal wirklich wortwörtlich zu verstehen ist, zeigt der Fall von Oberst Klein, der die Tötung einer Großzahl unschuldiger ZivilistInnen – einschließlich Kindern – in Kauf nahm, um hypothetische Gefahren für seine SoldatInnen abzuwenden. Die Gleichsetzung von Kameradschaft und Solidarität scheint zunächst einmal deswegen nicht ganz abwegig, weil in beiden Beziehungsformen die Idee impliziert zu sein scheint, dass man besondere Verpflichtungen gegenüber Nahestehenden – also gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft oder der eigenen Zunft – hat; Verpflichtungen, die über formelle, rechtlich verbriefte Rechte und Pflichten hinausgehen. Dies setzt eine klare Diskriminierung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern der Gemeinschaft voraus. In der Tat, solidarisches Handeln entfaltet sich zumeist in lokalen Gemeinschaften, die starke Bindungen zwischen ihren Mitgliedern aufweisen. Allerdings besteht das stärkste Band zwischen diesen Mitgliedern nicht in ihrem gemeinsamen Status und gemeinsamen Traditionen oder Riten (wie im Falle der Kameradschaft), sondern in gemeinsamen Erfahrungen der
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Ausgrenzung, Unterdrückung und generell des Leides; Erfahrungen, deren Unterbrechung das Ziel des solidarischen Handelns ist. Das paradigmatische Beispiel hierfür ist die berühmte polnische Gewerkschaft aus den 1980er Jahren, welche nicht von ungefähr den Namen „Solidarność“ trug. Bekanntermaßen entstand diese Gewerkschaft aus einer Streikbewegung auf der Leninwerft in Gdansk als ein lokaler Verbund der dortigen ArbeiterInnen, die sich gemeinsam gegen ihre Unterdrückung und Ausgrenzung wehrten. Allerdings überschritt diese Solidargemeinschaft sehr schnell die Grenzen der Werft und es schlossen sich ihr bald viele Menschen (nicht nur ArbeiterInnen) an, die sich in ganz Polen – und sogar darüber hinaus – durch das totalitäre realsozialistische Regime unterdrückt und ausgegrenzt fühlten. Dieses prominente Beispiel zeigt, dass Solidaritätsverhältnisse zwar in partikularen Kontexten entstehen, aber dennoch zumindest das Potenzial haben, lokale Grenzen sowie jegliche kulturelle und soziale Unterschiede zu sprengen. Wie ist jedoch diese Universalisierung von Solidarität angesichts des Umstandes denkbar, dass solidarisches Handeln starke und informelle Bindungen voraussetzt, von denen anzunehmen ist, dass sie nur zwischen Menschen möglich sind, die sich gegenseitig in dem Sinne nahestehen, dass sie sich in einem familienähnlichen Verbund befinden? Um diesen angeblichen oder wirklichen Widerspruch weiter bearbeiten und eventuell auflösen zu können, brauchen wir die Zuhilfenahme von Theorien über Solidarität, d. h. von solchen Herangehensweisen an diesen Begriff, die versuchen, ihn systematisch zu analysieren und seinen Bedeutungsgehalt in Attributen zu erfassen, die objektiv-intersubjektive Gültigkeit zurecht beanspruchen können.
T HEORETISCHE R EFLEXIONEN ÜBER DEN S OLIDARITÄTSBEGRIFF – J ÜRGEN H ABERMAS UND R ICHARD R ORTY Die Kategorie der Solidarität nimmt eine zentrale Rolle in der Politischen Philosophie von Jürgen Habermas ein, hierbei insbesondere in seinen jüngsten Überlegungen zum Zustand und zu den Perspektiven der Europäischen Union als Vorstoß in eine postnationale Konstellation der Weltgesellschaft. Nach Habermas können solche Konstellationen nur durch die
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gegenseitige solidarische Unterstützung der Mitgliedsstaaten aufrechterhalten werden, die über rechtliche und vertragliche Verpflichtungen hinausgeht, und die auf die Gewährung der Union als gemeinsame ethisch-politische Lebensform ausgerichtet ist, welche sich auf geteilte Werte gründet (vgl. Habermas 2013, 7ff). Dieses Verständnis von politischer Solidarität hat eine diskurstheoretische Herleitung, die Habermas bereits in den 1980ern und den 1990ern Jahren entwickelt hat, und die sich in groben Zügen wie folgt zusammenfassen lässt: Die Beziehungsform der Solidarität umfasst nach Habermas die in „[e]iner intersubjektiv geteilten Lebensform verschwisterten Genossen“ (Habermas 1991, 70), deren solidarisches Handeln auf das gemeinsame Wohl aller – und damit auf die Erhaltung der Integrität dieser Lebensform selbst – abzielt, die wiederum als Grundlage der Autonomiefähigkeit der Einzelnen zu verstehen ist (ebd.). Schon die Verwendung von Wörtern wie „Verschwisterung“ legt es nahe, die Beziehungsform der Solidarität ausschließlich für familiäre bzw. familienähnliche Gemeinschaften zu reservieren. Solche Gemeinschaften, die sich durch geteilte Sitten und gemeinsam habitualisierte Handlungs- und Wirklichkeitsdeutungsmuster auszeichnen, können selbstverständlich nicht strukturell kongruent mit dem Bildungswesen in der multikulturellen Migrationsgesellschaft sein. Daher scheint dieses Bildungswesen zunächst mit dem Prinzip der Solidarität nicht vereinbar zu sein. Freilich merkt Habermas an, dass die enge Bindung von Solidarität an partikularistischen, familienähnlichen Gemeinschaften sowohl politisch und moralisch problematisch (da hier Solidarität leicht in ethno-nationalistische Parolen übersetzt werden kann), als auch obsolet in den pluralistischen und globalisierten Gesellschaften der (Spät-)Moderne geworden ist (vgl. ebd., 70f.). Es wird deutlich: Wenn man am Solidaritätsbegriff auch heute noch festhalten will, dann muss man zeigen können, wie Solidaritätsbeziehungen und solidarisches Handeln die Grenzen von partikularistischen kulturellen Gemeinschaften überschreiten können. In der Tat umreißt Habermas einen Weg zu einer nicht-partikularistischen und nicht-ethnozentrischen Auffassung von Solidarität. Seiner Auffassung nach sollte das Prinzip der Solidarität in ihrer höchsten Form in das Modell einer kommunikativ entgrenzten Diskurs- und Argumentationsgemeinschaft einfließen, in deren Rahmen SprecherInnen mit beliebigen kulturellen Hintergründen und Werteüberzeugungen verständigungsorientiert
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miteinander kommunizieren. Diese Verständigung ist nur dann möglich, wenn die DiskursteilnehmerInnen sich in die Perspektiven der KommunikationspartnerInnen zu dem Diskursgegenstand hineinversetzen. Das ist ein Akt, den Habermas als „solidarische Einfühlung“ (ebd., 73) bezeichnet. Dieser Solidaritätsakt entspringt dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zur entgrenzten Argumentationsgemeinschaft aller (vernünftigen) Menschen. Umgekehrt gilt, dass ohne die so verstandene Solidarität diese Gemeinschaft gar nicht existieren kann (vgl. ebd., 72). Dieses Verständnis von Solidarität als Inklusion von und Einstehen für alle Menschen als argumentationsfähige Wesen hat kaum zu überschätzende bildungstheoretische und bildungspolitische Implikationen. Sich solidarisch mit Educanden zu verhalten, bedeutet nach diesem Verständnis, sie als mit Vernunftpotenzial ausgestattet anzuerkennen und sie an argumentativen Diskussionen über Themen und Problematiken zu beteiligen, die sie als bedeutend empfinden. Es bedeutet, ihre Perspektiven zum Diskussionsgegenstand zu übernehmen und sich in ihre Anliegen und Erfahrungen einzufühlen, die diese Perspektiven mitbedingen. Nur dann kann sich ihre Humanfähigkeit entwickeln, die nach Habermas darin besteht, sich vollwertig an Argumentationspraktiken zu beteiligen, und die eigenen Ideale, Weltbilder und Wertüberzeugungen argumentativ zu artikulieren und zu modifizieren.1 Vor dem Hintergrund dieses Solidaritätsverständnisses sind einige, im deutschen Bildungswesen immer noch weit verbreitete bildungsbehindernde Praktiken zu kritisieren, etwa das Absprechen von vollwertigen Argumentationsfähigkeitspotenzialen bei Kindern und Jugendlichen aus „bildungsfernen“ Schichten (und ihre „Allokation“ zu handwerklichen Tätigkeiten), oder das Ignorieren der lebensweltlichen Perspektiven der SchülerInnen im Unterrichtsgeschehen im Zuge seiner Ausrichtung an standar-
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In diesem Zusammenhang ist auf die These von Harvey Siegel hinzuweisen, der gegenwärtig als einer der wichtigsten Vertreter der „Critical Thinking Movement“ gilt, dass Kultivierung von (praktischer) Vernunft die zentrale Aufgabe von Pädagogik darstellt; eine Aufgabe, die deshalb vor allem moralisch begründet ist, weil diese Kultivierung ein Gebot des Respekts gegenüber der Autonomiefähigkeit jeder heranwachsenden Person ist. Dabei ist unter Vernunft die Fähigkeit zu verstehen, sich Argumenten zu bedienen sowie Argumente zu erkennen und zu evaluieren (vgl. Siegel 2007, 306f.).
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disierten Leistungsbestimmungen, welche lediglich als Aneignungsgrade von vorgegebenen curricularen Inhalten angedacht sind. Dennoch fehlt ein wichtiger Aspekt des intuitiv-alltäglichen Solidaritätsverständnisses im Solidaritätsbegriff Habermas’ – nämlich der Aspekt des aktiven Mit-Leidens. Sich auf die Anderen als Mit-Angehörige der universalen Argumentationsgemeinschaft zu beziehen impliziert noch nicht, ihre eventuelle Leidenserfahrungen nachzuvollziehen und sie dabei zu unterstützen, ihr Leiden zu beseitigen. Die TeilnehmerInnen an argumentativen Diskussionen sind nicht per se leidvolle Wesen, und mein gemeinsames Argumentieren mit ihnen beinhaltet keineswegs Mitleid mit ihnen: Ganz im Gegenteil, wenn ich Mitleid mit jemandem habe, dann sehe ich normalerweise von einer argumentativen Auseinandersetzung mit ihm oder mit ihr ab. Der Moment des aktiven Mit-Fühlens mit Leidenden als Kerndimension des Solidaritätsverhältnisses spielt eine zentrale Rolle in Richard Rortys alternativer Solidaritätstheorie. Der spezifische Sinn seines Solidaritätsbegriffs, in dem gewissermaßen die zentrale politische Botschaft der gesamten Philosophie Rortys enthalten ist, kommt am besten in der folgenden Passage aus seinem Buch „Contingency, Irony, and Solidarity“ zum Ausdruck: „The view I am offering says that there is such a thing as moral progress, and that this progress is indeed in the direction of greater human solidarity. But that solidarity is not thought of as recognition of a core self, the human essence, in all human beings. Rather, it is thought of as the ability to see more and more traditional differences (of tribe, religion, race, customs, and the like) as unimportant when compared with similarities with respect to pain and humiliation – the ability to think of people wildly different from ourselves as included in the range of „us““ (Rorty 1989, 192)
Dieses Zitat macht deutlich, dass sich Solidarität nach Rorty weder auf „GenossInnen“ bezieht, mit denen man gemeinsame Traditionen, religiöse Überzeugungen oder kulturelle Hintergründe teilt, noch auf ein vermeintliches „Kernselbst“ aller Menschen, das hinter ihren kulturellen, religiösen, ethnischen Differenzen stehen würde. Vielmehr gründet sich solidarisches Handeln auf der Fähigkeit, diese Differenzen als geringfügig vor dem Hintergrund der ähnlichen Art und Weise wahrzunehmen, in der alle Menschen – auch solche, die sich gegenseitig „wildfremd“ sind – durch Schmerz und
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Erniedrigung betroffen werden. Solidarisch Handeln bedeutet demnach, aktiv für die Überwindung von Schmerz und Erniedrigung, von sozial produziertem Leid einzutreten, und dabei jegliche kulturelle Differenzen mit den Betroffenen beiseite zu schieben. Umgekehrt gilt: Wir verhalten uns dann unsolidarisch mit unterdrückten Andersdenkenden in Ländern wie z. B. China, wenn wir deren Leiden kulturalistisch zu relativieren versuchen, indem wir etwa argumentieren, dass sie in einem „Kulturkreis“ leben, dem „unsere“ „westlichen“ Werte von Rede- und Gewissensfreiheit angeblich fremd seien. Diese Überlegungen bereiten den Boden, um den Solidaritätsbegriff auf die Beschaffenheit einer multikulturellen Gesellschaft anzuwenden. Damit auch der Zusammenhang zwischen Solidarität und Bildung erfasst werden kann, bietet es sich an, Rortys Solidaritätskonzept, das an der Idee eines aktiven, differenzüberschreitenden Mitleids ausgerichtet ist, zusammen mit Habermas’ Solidaritätsverständnis zu denken, das auf der Grundlage des pädagogisch hochrelevanten Modells der Argumentationsgemeinschaft entwickelt ist. Wenn wir dies tun, dann geraten in unser Blickfeld spezifische Leidenserfahrungen von Educanden insbesondere (aber nicht nur) aus Migrantenfamilien, deren Beseitigung solidarisches Handeln bedürfte; Leidenserfahrungen, die beispielsweise durch den Ausschluss dieser Educanden aus argumentativen Praktiken sowie durch die Nicht-Anerkennung ihres Potenzials, sich an solchen Praktiken zu beteiligen, oder durch eine ausbleibende pädagogische Förderung dieses Potenzials hervorgerufen werden. Es ist an der Zeit, diese sozialen und pädagogischen Quellen des Leids sowie die dazu komplementären Solidaritätsformen etwas ausführlicher zu erörtern.
S OZIALE UND PÄDAGOGISCHE Q UELLEN DES L EIDS – G RÜNDE FÜR SOLIDARISCHES H ANDELN IM B ILDUNGSWESEN DER MULTIKULTURELLEN G ESELLSCHAFT Wie ich es an einer anderen Stelle ausführlich darzulegen versucht habe (vgl. Stojanov 2011, 83ff), hat die sukzessive Inklusion des heranwachsenden Individuums in die universalistisch entgrenzte Argumentationsgemeinschaft zwei soziale und pädagogische Voraussetzungen: Erstens sollen die
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erwachsenen Bezugspersonen des Individuums seine und ihre spezifischen, lebensweltlich und sozialisatorisch mitbedingten Perspektiven zu den Inhalten einnehmen, die etwa in der Schule diskutiert werden, sowie seine und ihre Befindlichkeiten und Erfahrungen mitfühlen können, welche diese Perspektiven prägen. Zweitens sollen die Bezugspersonen die Fähigkeit des Individuums vorausgreifend anerkennen, seine und ihre Befindlichkeiten, Weltbilder und Wertvorstellungen begrifflich zu reflektieren und zu artikulieren und so den Standpunkt der Allgemeinheit einzunehmen – was eine unabdingbare Dimension der Teilnahme an Argumentationspraktiken ist. Wenn die erste Voraussetzung nicht gegeben ist, dann können wir von fehlender Empathie gegenüber den betroffenen Educanden bzw. von ihrer emotionalen Vernachlässigung sprechen. Und wenn die zweite Voraussetzung nicht erfüllt ist, dann ist fehlender Respekt bzw. kognitive Missachtung zu diagnostizieren. Nun konnte eine Vielzahl von theoretischen und empirischen Studien, die in den letzten zwei Dekaden im Rahmen des anerkennungstheoretischen Ansatzes verfasst wurden, überzeugend darlegen, dass fehlende Empathie und fehlender Respekt tiefes soziales Leid bei den betroffenen Personen verursachen, das die Grundlagen ihrer Ich-Identität erreicht (vgl. Honneth 2000, 90ff; Honneth 1992, 148ff). Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass das (heranwachsende) Individuum nur dann seine identitätsbildenden Selbst-Eigenschaften in Form von Bedürfnissen, Fähigkeiten, Weltdeutungen und Wertsetzungen entwickeln kann, wenn diese Eigenschaften vorausgreifend und affirmativ durch einen signifikant Anderen anerkannt werden. Das Individuum kann nur dann einen Zugang zu seinen Bedürfnissen finden und Ideale, d. h. deutende und evaluative Standpunkte zu der von ihm erlebten Wirklichkeit ausbilden, wenn diese Bedürfnisse und Ideale empathisch von seinen Bezugspersonen nachvollzogen, ja miterlebt werden. Das Fehlen von Empathie verursacht psychisches Leid dergestalt, dass es dem Individuum verunmöglicht, seine Bedürfnisse und Anliegen auszudrücken sowie konsistente Weltansichten und Wertvorstellungen auszubilden, die sein Handeln orientieren können. Ersteres führt zur Anomie und Letzteres zur Orientierungslosigkeit. Auf der anderen Seite kann das Individuum sich nur dann zu einem vollwertigen Mitglied der Argumentationsgemeinschaft, zu einem/einer kompetenten TeilnehmerIn am Spiel des „Gründe-Gebens und Nach-Grün-
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den-Verlangens“2 entwickeln, wenn sein/ihr Potenzial respektiert wird, seine/ihre Anliegen, Weltansichten und Wertvorstellungen begrifflich-argumentativ dadurch zu artikulieren und zu transformieren, indem das Individuum diese Anliegen, Weltansichten und Wertevorstellungen mit den objektiven Kenntnissen akademischer Disziplinen vermittelt. Wenn dieses Potenzial nicht anerkannt wird, wenn ein heranwachsender Mensch etwa als niedrige „kognitive Ausgangsvoraussetzungen“ besitzend etikettiert wird, dann wird er oder sie von Beginn an aus diesem Spiel ausgeschlossen. Sowohl dieser Ausschluss als auch das oben erwähnte Ignorieren der individuellen Bedürfnisse und Ideale bringen unumgänglich ein Gefühl der Geringschätzung hervor. Es bedarf wohl keiner besonderen Erläuterung, dass dieses Gefühl massives psychisches Leid verursacht. Nun stellt sich die Frage, inwieweit und in welchen typischen Situationen Educanden im deutschen Bildungssystem den so skizzierten Leidenserfahrungen strukturell ausgesetzt sind. In unzähligen wissenschaftsförmigen und publizistischen Diskussionen, die in den letzten Jahren insbesondere im Zusammenhang mit den Ergebnissen der PISA-Studie erschienen sind, werden Schülerinnen und insbesondere Schüler „mit Migrationshintergrund“ als „Problem“ für das deutsche Bildungswesen dargestellt. Dabei wird oft die Assimilation (vgl. Esser 2000, 302ff) bzw. die „konsequente Akkulturation“ (vgl. Vereinigung der bayerischen Wirtschaft 2007, 146) dieser SchülerInnen gefordert. Damit geht einher, dass die alltäglichen Übersetzungsleistungen der Kinder und Jugendlichen „mit Migrationshintergrund“ zwischen verschiedenen sprachlichen und soziokulturellen Kontexten wohl kaum pädagogische Beachtung und Wertschätzung in diesem Bildungswesen finden (vgl. Mannitz/ Schiffauer 2002). Diese Beachtung und Wertschätzung wird durch die nach wie vor vorherrschende Homogenitätsideologie im deutschen Bildungswesen verunmöglicht, die Educanden mit einer Familiensozialisation und mit Herkunftssprachen, die vom „Normalfall“ des in einer Mittelschichtsfamilie monolingual aufwachsenden Kindes differieren, als per se defizitär erscheinen lässt. Dadurch werden Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien, für die Deutsch Zweit- und/oder Nebensprache ist, tendenziell zu Objekten
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Ich entnehme den Ausdruck „das Spiel des Gründe-Gebens und Nach-GründenVerlangens“ („Game of Giving and Asking for Reasons“) der sprachpragmatischen Philosophie Robert Brandoms (vgl. Brandom 1994, 496f.).
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jenes Mechanismus gemacht, der etwa von Mechtild Gomolla und FrankOlaf Radtke als „institutionelle Diskriminierung“ bezeichnet wird (vgl. Gomolla/Radtke 2002, 12ff; 257ff). Daraus folgt, dass die spezifischen Sozialisationserfahrungen von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien, ihr Aufwachsen in mehrsprachigen Kommunikationssettings, die daraus resultierenden besonderen Wirklichkeitswahrnehmungsperspektiven und Selbst-Eigenschaften nicht empathisch-affirmativ anerkannt, sondern vielmehr als im Bildungssystem zu korrigierende Defizite angesehen werden: Sogar in Positionspapieren von großen Volksparteien wird der „Migrationshintergrund“ einer Art „Lernbehinderung“ gleichgestellt (vgl. Stojanov 2011, 144f.). Die Stigmatisierung, die an dieser Stelle durch fehlende Empathie hervorgerufen wird, verursacht ohne Zweifel starkes psychisches Leiden. Dieses Leiden nicht nachvollziehen zu können bzw. es zu ignorieren, verstärkt enorm das unempathische Verhalten gegenüber diesen Kindern und Jugendlichen im Bildungssystem. Neben der fehlenden Empathie ist eine zweite zentrale, strukturell generierte Quelle von Leiden nicht nur für die SchülerInnen aus Migrantenfamilien, sondern auch für all diejenigen Educanden zu vermerken, denen eine „bildungsferne“ Familiensozialisation, und/oder eine geringere kognitive „Begabung“ zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung ist als kognitive Missachtung bzw. als fehlender Respekt zu bezeichnen, d. h. als fehlende Anerkennung der grundsätzlichen Autonomiefähigkeit des Einzelnen. Hier wird sie oder er als Produkt einer als abweichend postulierten Sozialisation bzw. als Produkt seiner/ihrer angeblichen genetischen Dispositionen modelliert. Dadurch wird dem betroffenen Individuum das Potenzial aberkannt, das man eigentlich bei jedem Menschen voraussetzen soll: sich kritischargumentativ über kulturelle Grenzen und sozialisatorische Prägungen hinwegzusetzen (vgl. Ruhloff 1982, 191), und bei entsprechenden Anerkennungserfahrungen die kognitiven Fähigkeiten stets zu erweitern, indem er und sie sich zu einem/einer vollwertigen TeilnehmerIn des Spiels des „Gründe-Gebens und Nach-Gründen-Verlangens“ entwickelt, in dessen Rahmen sie oder er seine bzw. ihre Standpunkte und Anliegen reflektiert und argumentativ-begrifflich artikuliert. Es ist evident, dass die Aberkennung dieses Potenzials durch die Beschaffenheit eines mehrgliedrigselektiven Bildungssystems perpetuiert wird, das nur dann funktionieren und seine angeblich zentrale „Allokations-Funktion“ (d. h. die Zuteilung
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von Humanressourcen auf unterschiedlichen Qualifikations- und Berufslaufbahnen; vgl. Fend 2006, 34f.; 44ff) wahrnehmen kann, wenn Kinder schon früh in unterschiedlichen, essentialistisch konstruierten Begabungsschubladen eingeteilt werden. Kinder, die als „wenig begabt“ oder als geprägt durch eine ungünstige Sozialisation stigmatisiert werden, werden zu Objekten tiefgreifender Geringschätzung, die unumgänglich massives psychisches Leid verursacht. Dabei ist anzumerken, dass Educanden, die fehlende Empathie und fehlenden Respekt im Bildungswesen erfahren, nicht nur direkt, sondern auch indirekt darunter leiden. Die Ignoranz gegenüber den spezifischen Erfahrungen, Standpunkten und Anliegen dieser Educanden und ihre kognitive Missachtung bereiten ihnen nicht nur unmittelbar einen – meist diffusen – psychischen Schmerz, vielmehr resultiert diese Ignoranz und Missachtung darüber hinaus in einer Behinderung ihrer Bildungsmotivation und -fähigkeit; eine Behinderung, die wiederum zu einer weiteren sozialen Marginalisierung führt, die zusätzliches Leid generiert. Denn die produktive Befassung mit begrifflich-theoretisch strukturierten Bildungsinhalten setzt voraus, dass sich die Educanden in diesen Inhalten mit ihren Anliegen und Standpunkten wieder erkennen und dass sie diese Anliegen und Standpunkte mit den Bildungsinhalten argumentativ und diskursiv vermitteln. Damit diese Wiedererkennung und Vermittlung ermöglicht wird, sollten zum einen die lebensweltlichen Erfahrungen und Perspektiven der Educanden emphatisch ins Unterrichtsgeschehen einbezogen werden, zum anderen muss ihr Potenzial, sich an Argumentationsdiskursen vollwertig zu beteiligen, vorausgreifend anerkannt werden. Wenn dies nicht geschieht, ist davon auszugehen, dass die Motivation und die Fähigkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen, die Bildungsinhalte zu bewältigen, verkümmern, wodurch ihnen eine erfolgreiche Bildungskarriere versperrt bleibt. Soziale Exklusion und Entstehung von Minderwertigkeitsgefühlen sind die Folgen. Wir haben gesehen, dass vorwiegend Kinder und Jugendliche aus so genannten „bildungsfernen“ Schichten und insbesondere aus Migrantenfamilien direkt und indirekt unter fehlender Empathie und fehlendem Respekt leiden, da sie im Bildungswesen strukturell als Produkte von lebensweltlichen Erfahrungen und „Kulturen“ betrachtet und behandelt werden, welche als defizitär postuliert werden. Die Beseitigung oder zumindest die Milderung dieses Leidens erfordert solidarisches Handeln, das angebliche oder tatsächliche kulturelle Differenzen beiseite schiebt und die betroffenen
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Kinder und Jugendlichen nicht als Angehörige fremdartiger „Kulturen“ oder Schichten adressiert, sondern als heranwachsende Menschen, die sozial produziertem Schmerz ausgesetzt sind. Dieses Handeln kann verschiedene Formen annehmen und unterschiedliche Subjekte haben. Bildungsprojekte, die gezielt Kinder und Jugendliche aus „bildungsfernen“ Schichten bei ihrem Weg zur Hochschule unterstützen, zählen genauso dazu wie das Engagement Einzelner gegen die frühzeitige Abseitsstellung von Migrantenkindern auf niedrigere Bildungswege oder das Engagement gegen deren Stigmatisierung und Kulturalisierung. Auch die Anerkennung und Behandlung von Mehrsprachigkeit als wertvolles Fähigkeitspotenzial sind hier zu nennen. Wahrscheinlich ist jedoch die beste und die effektivste Form der Solidarität mit den leidtragenden Kindern und Jugendlichen im deutschen Bildungswesen der Kampf für die Überwindung seiner Mehrgliedrigkeit und seiner herkunftsbasierten und begabungsideologisch untermauerten Selektivität sowie für seine Öffnung für heterogene lebensweltliche Erfahrungen und Sozialisationswege.
F AZIT In diesem Aufsatz habe ich versucht zu zeigen, dass der Begriff der Solidarität dann missverstanden wird, wenn er als eine Beziehungsform zwischen GenossInnen ausgedeutet wird, die eine gemeinsame Zugehörigkeit zu einer partikularen ethnisch-kulturellen Gemeinschaft oder zu einem Kameradenbund aufweisen. Vielmehr ist Solidarität als ein Verhältnis des aktiven, rechtlich nicht verbrieften Mit-Leidens mit unterdrückten Menschen zu verstehen, das jede kulturelle und sonstige Differenz zwischen den InteraktionspartnerInnen transzendiert. Da Kinder und Jugendliche aus „bildungsfernen“ Schichten, insbesondere solche aus Migrantenfamilien, dadurch am deutschen Bildungswesen leiden, dass sie innerhalb dieses Bildungswesens strukturell als Produkte defizitär postulierter Familiensozialisation und lebensweltlicher Erfahrungen betrachtet und behandelt werden, bedürfen und verdienen sie solidarischen Beistand. Da dieser Beistand fehlende Empathie und fehlenden Respekt ihnen gegenüber kompensieren kann, kann er zur Stärkung ihrer Bildungsmotivation und Bildungsfähigkeit beitragen.
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L ITERATUR Brandom, Robert B. (1994): Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge/London Esser, Hartmut (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 2: Die Konstruktion der Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York Fend, Helmut (2006): Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen, Wiesbaden Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen Habermas, Jürgen (2013): Plea for a Constitutionalization of International Law. Paper presented at the 23rd World Congress of Philosophy in Athens on 6. August 2013; www.habermas-rawls.blogspot.de/2013/08/ habermass-lecture-in-athen-august-6.html (14.09.2013) Habermas, Jürgen (1991): Gerechtigkeit und Solidarität. Zur Diskussion über „Stufe 6“, in: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M., 49-76. Honneth, Axel (2000): Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. Mannitz, Sabine/Schiffauer, Werner (2002): Taxonomien kultureller Differenz: Konstruktionen der Fremdheit, in: Schiffauer, Werner/Baumann, Gerd/Kastoryano, Riva/Vetrovec, Steven (2002): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern, Münster, 67-100. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. Rorty, Richard (1989): Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge Ruhloff, Jörg (1982): Bildung und national-kulturelle Orientierung, in: Ders. (Hg.): Aufwachsen im fremden Land, Frankfurt a. M. Siegel, Harvey (2007): Cultivating Reason, in: Curren, Randal (Hg.): A Companion to the Philosophy of Education, Madlen u. a., 305-319. Stojanov, Krassimir (2011): Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs, Wiesbaden Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (Hg.) (2007): Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten 2007, Wiesbaden
Solidarität mit den Anderen. Gesellschaft und Regime der Alterität S ERHAT K ARAKAYALI
Bei dem Wort Solidarität denken nicht alle an dasselbe: Manchen mag der Solidaritätszuschlag in den Sinn kommen, mit dem seit knapp 20 Jahren die Folgekosten der Zusammenführung zweier deutscher Staaten finanziert werden, andere erinnern sich dagegen an die ein oder andere Parole, die sie vielleicht selbst auf Demonstrationen riefen oder noch rufen. Das ist zunächst nicht weiter erstaunlich. Es gehört zum Kanon des postmodernen Denkens, dass der mögliche Sinn von Zeichen sich niemals vollständig fixieren lässt. Es ist freilich kein Zufall, dass dies vor allem auf jene Begriffe und Zeichen zutrifft, mit denen wir die Modalitäten unseres politischen Gemeinwesens bezeichnen und damit zugleich gestalten. Begriffe wie „Freiheit“, „Revolution“ oder „Demokratie“ sind daher, wie der Politikwissenschaftler Ernesto Laclau schrieb, „leere Signifikanten“. Solche leeren Signifikanten sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen ein stabiler Bedeutungsinhalt entzogen ist. Auch für den Begriff der Solidarität lässt sich eine solche Uneindeutigkeit beobachten. Daraus könnte man auch folgern, dass solche Begriffe beliebig „mit eigenen Botschaften“ füllbar seien (vgl. Fraas 1999, 13-39). Aus der von Laclau vertretenen hegemonietheoretischen Perspektive wäre demgegenüber einzuwenden, dass es ja zu verstehen gilt, weshalb sich verschiedene Inhalte gerade in einem gemeinsamen Begriff verdichten. Anstatt diese Uneindeutigkeit als Folge mangelnder Präzision bei der Begriffsarbeit abzutun, sollte man sie eher – ganz wie bei anderen wichti-
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gen politischen Begriffen – als Indiz für einen Konflikt oder eine Spannung im Herzen des modernen Gemeinwesens interpretieren. Eine Spannung, die sich im Rahmen einer gewissen Problematik abspielt, die die Randbedingungen des Begriffs liefern: Allgemein beschreibt der Begriff nämlich ein prinzipiell – wenn auch nicht immer faktisch – wechselseitiges Füreinandereintreten von Individuen und Kollektiven,1 in materieller, politischer oder sozialer Hinsicht, mit dem auch der Vereinzelung oder Atomisierung der Individuen in der Moderne entgegengewirkt werden soll. Bevor wir uns mit den verschiedenen Dimensionen dieses Konflikts und seinen Verlaufsformen beschäftigen, ist ein kurzer begriffsgeschichtlicher Blick hilfreich: Die allgemein als Gründungsereignis der modernen bürgerlichen Gesellschaft angesehene Französische Revolution von 1789 brachte eine Parole hervor, in der das Wort Solidarität nicht vorkommt. Stattdessen wurde der Ausdruck „Brüderlichkeit“ populär, als im Verlauf der Revolution die soziale Frage, vorangetrieben vor allem durch die Jakobiner, einen zentralen Platz im kollektiven Imaginären der Republik eroberte. Solidarität dagegen war ein Begriff, der damals noch stark mit dem Ancien Regime assoziiert war. Er bezeichnete eine Eigenschaft der Zünfte und religiösen Gemeinschaften, die mit zentralen Zielen der Revolution gerade in Konflikt standen, nämlich die starke wechselseitig verpflichtende Bindung der Mitglieder an ihre Gemeinschaften. Der moderne Solidaritätsbegriff entfaltet sich erst ein halbes Jahrhundert später, vor allem unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung, die ihrerseits aus jenen Bruderschaften
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Die Idee der Gegenseitigkeit ist auch fundierend für das Versicherungswesen, das eine Institutionalisierung von Solidarität darstellt. Den gesetzlichen Versicherungen in Deutschland liegt etwa das Solidarprinzip zugrunde, das in einer allgemeinen Umverteilung der Behandlungskosten unter den Mitgliedern besteht. Das Versicherungsprinzip ist historisch auch an die Idee von Sozialität als einer regulativen und normativen Instanz gebunden (Donzelot 1994) und bietet daher Anschlussstellen für das sozialistische Denken. Das 1931 in Paris erbaute Maison de la Mutualité (Haus der Versicherung) ist ein symbolischer Ort der französischen Linken, an dem etwa traditionell die Präsidentschaftskandidaten der Sozialistischen Partei gekürt werden und es bietet exakt 1789 Sitzplätze! Vor diesem Hintergrund ist die Anekdote berichtenswert, dass das Haus 1973 von ca. 4000 Sans Papiers, MigrantInnen ohne Papiere, als Zeichen ihres Protests für ihre Regularisierung, besetzt wurde.
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heraus entstanden war und an deren Erbe sie gewissermaßen anknüpfte. Die moderne Arbeiterschaft gilt einerseits als Erfinderin solidarischer Praktiken und wird andererseits mit einem ganz spezifischen Begriff von Solidarität in Verbindung gebracht: „Die Grundlage der Solidarität der Arbeiterschaft ist ihre soziale Nähe.“ (Hondrich/Koch-Arzberger 1992, 30) Die Solidarität von Menschen, die unter vergleichbaren Bedingungen leben, die sich also in verschiedenen Hinsichten „ähnlich“ sind, hat der französische Soziologie Émile Durkheim in seinem einflussreichen Werk „Über die Teilung der sozialen Arbeit“ als „mechanische Solidarität“ bezeichnet (vgl. Durkheim 1977). Die Unterscheidung zwischen dieser, von ihm traditionalen, segmentären Gesellschaftstypen zugeschriebenen Form von Solidarität und einer „organischen Solidarität“, die für die ausdifferenzierten, arbeitsteiligen Gesellschaften der Moderne angemessener seien, gehört zum Standardrepertoire von Soziologievorlesungen im ersten Semester. Durkheims Vorschlag einer „organischen Solidarität“, die auf dem Bewusstsein einer umfassenden Interdependenz der Individuen in der Gesellschaft aufruhen sollte, war die Antwort auf ein Kernproblem der modernen Gesellschaft: „Wie geht es zu, daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein?“ (Ebd., 82) Die politischen Revolutionen und die durch die Industrialisierung verursachten radikalen Umwälzungen der Lebensweisen, hatten zur Auflösung der alten korporativen Strukturen und damit auch zum Verlust der sozialen Bindekraft geführt, für die diese sorgten. So wurde im 19. Jahrhundert die soziale Ordnung zu etwas Problematischem und dieses Problem war zugleich auch Geburtstunde des soziologischen Denkens. Für den Zeitgenossen und Kollegen Durkheims, Ferdinand Tönnies, stellte sich diese große Transformation der sozialen Welt als die Durchsetzung eines neuen Typus von Beziehung, der „Gesellschaft“ (Großstadt, Handel, Staat) dar, die er der im Schwinden begriffenen, historisch älteren Formen von „Gemeinschaft“ (Nachbarschaft, Familie) entgegenstellt. In der Gemeinschaft fühlen sich nach Tönnies die Menschen einander verbunden, im Rahmen der Gesell-
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schaft hingegen „bejahen“ sie einander nur, insofern sie zueinander ein instrumentelles, ja konkurrenzielles bis feindseliges Verhältnis eingehen.2 Allerdings ist Tönnies’ Rhetorik eines „Verlusts“ von Gemeinschaft, die für die späteren Kritiker der Moderne Pate steht, irreführend. Wie Gertenbach et al. argumentieren, erlangt der Begriff der Gemeinschaft erst ab dem 19. Jahrhundert seine heutige Prägung: „Obwohl Sozialität schon immer bedeutete, in Gemeinschaft mit anderen zu leben, und daher die Frage des Zusammenhalts über alle Zeiten und Gesellschaftsepochen hinweg eine zentrale Rolle spielte, wird das Fortbestehen der Gemeinschaft offenbar erst mit der Durchsetzung der modernen Gesellschaft als Problem erkannt.“ (Gertenbach et al. 2010, 31)
Koch-Arzberger und Hondrich sprechen aus diesem Grund von einer „sozio-optischen Täuschung“ (vgl. Hondrich/Koch-Arzberger 1992, 11): Solidarität sei als neues, modernes Prinzip der Organisierung von Verbundenheit eine Ausdifferenzierung älterer Formen von Gemeinschaft, werde aber auf die Vergangenheit insgesamt rückprojiziert. Solidarität und Gemeinschaft hängen nicht nur miteinander zusammen, weil beide in der Moderne zu raren Gütern deklariert werden, sie sind auch aus einem anderen Grund miteinander verschränkt. Solidarität als Form von Verbundenheit und gegenseitiger Hilfestellung erscheint wie ein Mittel, mit dem Gemeinschaftlichkeit hergestellt werden kann, oder es wird umgekehrt angenommen, dass Gemeinschaftlichkeit Voraussetzung für solidarisches Handeln ist. Beide sind jedenfalls Chiffren für etwas, das sich mit dem berühmt gewordenen Diktum des Rechtstheoretikers Ernst-Wolfgang Böckenförde als Quelle oder Ressource gesellschaftlicher Beziehungen beschreiben lässt. Der Staat, so Böckenförde, „lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (vgl. Böckenförde 1976, 60). Dieses Argument verweist auf ein Verständnis, wonach zwischen formalen und nichtformalen Formen sozialer Beziehungen ein mindestens komplementäres Verhältnis besteht. Die Auflösung der Bindekräfte, so könnte man es auch formulieren, verlangt den nunmehr auf sich gestellten Individuen die reflexive (Re-)Kons-
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Ein Faksimile der Originalausgabe von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ ist online im Deutschen Textarchiv: www.deutschestextarchiv.de/toennies/gemein schaft/1887/viewer/image/9/
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truktion einer Sphäre nicht-vertraglicher Beziehungen ab. Eine Aufgabe für die viel gerühmte Zivilgesellschaft. Auch heute noch diskutieren PhilosophInnen und SozialwissenschaftlerInnen diese Spannung zwischen nichtformalen Bindungen einerseits und abstrakten bzw. formalen Formen des gesellschaftlichen Verkehrs andererseits. Es gibt dabei allerdings unterschiedliche theoretische und disziplinäre Herangehensweisen. Im so genannten Kommunitarismusstreit werden vor allem rechts- und moralphilosophische Argumente vorgetragen, in der Debatte um Biopolitik handelt es sich hingegen um eine gesellschafts- bzw. kapitalismustheoretische Problematisierung.
S OLIDARITÄT
DURCH V ERFAHREN ODER REPUBLIKANISCHE S OLIDARITÄT Der Kommunitarismusstreit entzündete sich an der Gerechtigkeitstheorie des US-amerikanischen Philosophen John Rawls (vgl. Rawls 1975). Dieser hatte den Kern der Idee der Gerechtigkeit an den Begriff des autonomen Individuums gekoppelt. Er verteidigt zwar den Sozialstaat in seiner Schrift, das Begründungsmuster dafür ist jedoch rein formal und, mit Kant gesprochen, „verstandesmäßig“. Ähnlich wie andere liberale Theoretiker, etwa Richard Rorty (1995), plädierte Rawls für eine deontologische3 Theorie der Politik, in der Arbeit, Produktion, Geschlechterverhältnisse, Rassismus, Begehren usw. nicht berücksichtigt werden sollten. Kritiker wie Charles Taylor argumentierten nun, dass die liberale Position, wie sie von Rawls vertreten wurde, Freiheit nur als „negative Freiheit“ zu fassen vermöge. Weil die anderen Individuen nur als potenzielle Hindernisse gesehen werden und die Gesellschaft als ganze nur als allgemeiner Referenzrahmen für die je individuellen Zwecke, könne soziale Solidarität gar nicht gedacht werden: Wenn alle nur ihre eigenen Zwecke verfolgen, sich also niemand für die Belange der anderen oder des Ganzen einsetzt, drohe, so die Kommunitaristen, im Grenzfall der Zusammenbruch der Gesellschaft selbst.
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Deontologische Theorien beschreiben Handlungen unabhängig von ihren Konsequenzen als ethisch gut oder schlecht.
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Problematisch an der Position der Kommunitaristen ist indes, dass ihr Begriff von Solidarität zwar – mit Verweis auf Aristoteles’ Bestimmung des Menschen als gemeinschaftlichem oder sozialem Lebewesen (zoon politikon) – einerseits das Leitbild eines atomistischen Individuums verwirft, dafür aber das Gemeinschaftliche substanzialisiert. Ein typisch kommunitaristisches Argument wie das von Alasdair MacIntyre, für eine rein formale Idee von Gesellschaft zöge niemand in den Krieg, veranschaulicht dies genauso wie Taylors Konzept einer „republikanischen Solidarität“, die er an die Vorstellung einer geteilten Vergangenheit und eines gemeinsamen Schicksals knüpft (vgl. MacIntyre 1993, 84-102). Solidarität wird hier als etwas verstanden, mit dem der Individualismus nur vermittelt durch überindividuelle Wesenheiten wie z. B. die „Nation“ überwunden werden kann. Diese Bezugsebene ist aus kommunitaristischer Perspektive nötig, um dem Utilitarismus des atomisierten Individuums etwas entgegenzusetzen, das vermeintlich unhintergehbar bzw. durch individuell-egoistische Zwecke nicht herstellbar ist. Aus der Beobachtung, dass das Individuum immer eingebettet bzw. situiert in einen sozialen Kontext ist, folgert etwa Taylor, dass dieser konkrete historische Kontext für die jeweiligen Individuen auch unhintergehbar ist. Die kulturellen Grundlagen der Solidarität werden so zu Grenzen der Solidarität, was insbesondere im Kontext der US-amerikanischen Debatte um postnationale Staatsbürgerschaft und Multikulturalismus deutlich wurde. Die Menschen seien, so die Annahme von Philosophen wie Michael Walzer und anderen, nur zu Verfahren der materiellen Solidarität bereit, wenn sie sich einander auch verbunden fühlten. Das Verbundenheitsgefühl wiederum sei ein kulturelles und historisches, das durch die prozeduralen Verfahren moderner Demokratien nicht herzustellen sei.
S OLIDARITÄT
DURCH
A RBEIT ?
Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive gründen sowohl der Individualismus und der auf ihn beruhende Liberalismus als auch dessen kommunitaristische Kritik auf einem verkürzten Subjektbegriff. Während für die Liberalen das Selbst als körperloses und abstraktes Subjekt seiner gesellschaftlichen Beziehungen entleert ist, ist es im Kommunitarismus derart radikal situiert, dass es als Anhängsel der Gemeinschaft, buchstäblich einer Nation, erscheint. Diese Spaltung könnte man als Effekt jener eingangs erwähnten
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Spannung deuten, die sich mit der Moderne wenn nicht erst entfaltet, so doch radikalisiert. Dass die Individuen überhaupt als solche, nämlich monadisch angelegte letztinstanzliche Entitäten auftreten, wird von den Kommunitaristen vor allem als ideologisches Problem gedeutet, nämlich das einer Verkennung der kommunitären Situiertheit des Einzelnen bzw. der Verbreitung liberaler Ideologien (vgl. Bayertz 1998, 15). Demgegenüber ist es hilfreich, an den Titel der Arbeit Durkheims zu verweisen, der zumindest daran erinnert, mittels welchen Mediums die Menschen gesellschaftliche und zugleich gemeinschaftliche Beziehungen zueinander eingehen: der Arbeit als Produktion und Reproduktion der mittelbaren und unmittelbaren Bedingungen menschlichen Lebens. Die zunehmende Arbeitsteilung kann man sicherlich unter der Perspektive der Zerstörung des sozialen Bandes, der Anonymisierung und Urbanisierung oder der Ausdifferenzierung von Rollen und Lebensstilen betrachten. Man kann die Arbeitsteilung aber auch kapitalismustheoretisch verstehen als die Aneignung und Subsumtion lebendiger Arbeit unter die politische und ökonomische Kontrolle kapitalistischen Eigentums. In der jüngeren Debatte wird dieser Komplex mit Begriffen wie „Landnahme“ (etwa bei David Harvey (2010) oder Klaus Dörre)4 oder in Bezug auf die von Marx in den Grundrissen entwickelten Ansätze von Hardt und Negri als „reelle Subsumtion“ (vgl. Hardt/Negri 1997) diskutiert und mit dem Foucaultschen Begriff der „Biopolitik“ verknüpft (vgl. Atzert et al. 2007). Voraussetzung dieses Ansatzes ist die Annahme, dass die gesellschaftlichen Beziehungen eben nicht zuvorderst vertragliche oder formale sind, sondern solche der Kooperation durch Arbeit. Das Verhältnis der verschiedenen Formen von Sozialbeziehung und deren jeweiliges Gewicht wird als Folge einer fundamentalen Entfremdung der Produzenten verstanden, deren Kooperativität zunehmend unter die Anforderungen marktlich vermittelter Profitabilitätserwartungen gestellt wird. Mit anderen
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Zahlreiche zeitgenössische Forschungen, die sich mit der „Eingebettetheit“ oder den Grenzen der Ökonomie befassen, rekurrieren in diesem Sinn auf dieses Verhältnis zwischen Gesellschaft und dem Kommunen. Dieses Verhältnis wird z. B. von Klaus Dörre als eine dem Kapitalismus vorgängige Widersprüchlichkeit beschrieben: „Funktionierende Konkurrenz setzt in gewisser Weise ihr Gegenteil voraus. Die Ausdehnung und Verallgemeinerung von Warenbeziehungen und Konkurrenz erzeugt auf ihrer Kehrseite einen systemischen Bedarf an nichtmarktförmigen [...] Institutionen und Verhaltenweisen.“ (Dörre 2009, 188)
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Worten: Die Menschen stellen die Welt beständig durch ihre Kooperationen her, verfügen aber nicht über diese Kooperation. Plausibilisiert wird diese These durch eine historische Beobachtung. Wurden anfangs die Produkte handwerklicher oder manufaktureller Arbeit nachträglich und gleichsam äußerlich kapitalisiert, dem Kapital also „formell subsumiert“, so bedeutete dies noch keine Veränderung des Arbeitsprozesses selbst. Mit dem zunehmenden Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse im Produktionsprozess verwandelt sich die Arbeit jedoch: Sie transformiert sich von einer individuellen zu einer genuin gesellschaftlichen Aktivität, in die schließlich alle möglichen menschlichen Verkehrsformen, Praktiken, Kooperationen, Wissen selbst einfließt.5 Entscheidend für die Argumentation ist aber, dass Gesellschaft und Arbeit in letzter Hinsicht ein und dasselbe werden. Lebendige Arbeit meint nämlich nicht nur lohnförmige Arbeit, vielmehr wird Arbeit als „gesellschaftliche Arbeit“ verstanden, als materielle und immaterielle und schließlich auch affektive Produktion sozialer Beziehungen, die teils ökonomisch verwertet werden, teils sich aber eher als Randbedingungen der ökonomischen Produktion darstellen.6 So ist auch der Umstand zu
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Marx’ Analyse dieser „reellen Subsumtion“ ist zwiespältig. Einerseits vertiefe sich damit die Mystifikation, in der das Kapital selbst als das Subjekt des Prozesses erscheint und wodurch die lebendige Arbeit auf den Status eines „Produktionsfaktors“ reduziert wird. Andererseits betont er die historische Bedeutung der kapitalistischen Produktion, die diese Produktivkräfte erst hervorgebracht habe. Laut Michael Hardt und Antonio Negri liefert die erstgenannte Mystifikation die Grundlage für das liberale Konzept eines rein auf ein formales Subjekt gegründeten Gemeinwesens, wird hier eben von den gesellschaftlichen Grundlagen des Gemeinwesens abgesehen.
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Jede Form der sozialen Beziehung, die Gesellschaft macht, dient letztlich der Produktion von Reichtum. Es wird also nicht zwischen produktiven und unproduktiven Tätigkeiten unterschieden, sodass Arbeit in diesem Verständnis nicht nur von denjenigen verrichtet wird, die einen Arbeitsplatz „besitzen“. Michael Hardt und Antonio Negri verwenden hier (vermittelt über die Lesart von Deleuze 1995) ein Argument des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz: Durch die Verbindung des Prinzips des zureichenden Grundes mit dem Prinzip der Kausalität enthält eine Substanz bei Leibniz nicht nur alle ihr zugehörigen, sondern eine unendliche Menge von Prädikaten, alles nämlich was ihr „widerfährt“ und damit schließlich die gesamte Welt. Deshalb ist in jedem einzelnen Arbeitsver-
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interpretieren, dass Solidarität – was in der wissenschaftlichen Literatur ständig erwähnt, aber nie problematisiert wird – immer empfunden wird. Solidarisches Empfinden könnte man dann als eine affektive Arbeit an der Gestaltung des Kommunen bezeichnen. Solidarität ist aus dieser Perspektive nicht die Wiederherstellung einer verlorenen historischen Form von Gemeinschaftlichkeit und die im Gegensatz zur Arbeitsteilung steht oder deren Verankerung im Staat.7
T HEORIE
DER GESELLSCHAFTLICHEN
G EFÜHLE
Wenn man Solidarität als eine Art Medium gesellschaftlicher Beziehungen konzeptualisiert, wirft das die Frage auf, ob hier nicht mit dem Begriff der Solidarität eine grundlegende Kluft zwischen den Individuen bzw. zwischen den sozialen Gruppen gleichsam verdeckt werden soll. Wenn wir solidarisch sind, stellen wir dann nicht unsere eigenen Interessen hinten an? Sind Gefühle der Solidarität wie etwa Empathie oder Mitleid aus diesem Grund dazu da, die verstandesmäßige Skepsis gegenüber den anderen gleichsam zu überspielen? In den herkömmlichen klassischen Theorien über den „Gesellschaftsvertrag“ von Hobbes bis Rousseau wird angenommen, dass Gesellschaft ein Zusammenhang ist, der gleichsam über die Individuen hinweg, vermittelt über den Staat, errichtet werden muss. Ein substantiell gesellschaftstheoretischer Begriff der Solidarität muss hingegen diese Entgegensetzung konzeptionell überwinden. In den letzten zwei Jahrzehnten ist mit den so genannten affekttheoretischen Ansätzen in unterschiedlicher Weise der Versuch unternommen worden, diesen Dualismus zu überwinden, insbesondere mit Bezug auf die Philosophie Spinozas.8 Mit Spinoza wird nicht nur die Opposition zwischen Individuum und Gemeinschaft, sondern auch der Dualismus zwischen Gefühl und Verstand einer Kritik unterzogen. Spinoza geht davon aus, dass jedes Ding durch „cona-
mögen alles enthalten, was in einer unendlichen Kette von Kausalitäten dessen Existenz ermöglicht. 7
Vgl. die überaus aufschlussreiche Diskussion des Begriffs des Besitzindividua-
8
Für einen Überblick zu Affekttheorien vgl. Gregg/Seigworth 2010; zu Spinoza:
lismus bei Balibar 2012, 121-170. Balibar 1998.
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tus“, eine Art Bestreben, definiert ist, im Sein zu verharren. Auf der Ebene menschlicher Subjektivität bedeutet dies, dass das Begehren zur Existenz schöpferisch ist und Welt konstituiert. Was Spinozas Denken nun radikal von allen zeitgenössischen und den meisten modernen Philosophien unterscheidet ist, dass dieses Begehren nicht als eine Art atomistischer Selbsterhaltungstrieb gedacht wird. Zunächst entfernt er jeglichen Finalismus aus diesem Begehren. Die Güter und Zustände, die wir begehren, beurteilen wir nicht a priori nach Werturteilen, sondern umgekehrt. Wir beurteilen etwas als wertvoll, weil wir es begehren. Begehren wiederum ist bedingt und geformt durch Affekte, Bilder und Begriffe, die wir von den Dingen haben, und diese Affekte, die unsere Handlungsmacht verringern bzw. vergrößern, sind notwendig relational, d. h. sie sind selbst bestimmt durch Beziehungen mit anderen Individuen, deren wechselseitige Handlungen und Leidenschaften. Im Kern des individuellen Begehrens befinden sich demgemäß meine Beziehungen zu anderen. Mit anderen Worten, jede Individuation ist transindividuell. Diese grundlegende Einsicht in die transindividuelle Dimension unserer Existenz teilt Spinoza mit Hegel und Marx. Der Mensch ist demnach „nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“ (Marx 1967, 20) Gefühle kann man mit Spinoza so verstehen, dass sie nicht den inneren Zustand des Subjekts beschreiben, sondern mit sozialen Interaktionen verbunden sind und damit eine Funktion von Macht. Dies wird auch dadurch plausibel, dass Ideen keineswegs den Gefühlen entgegengesetzt oder von ihnen abgeleitet sind, sie repräsentieren nicht eine Sache außerhalb des Verstandes, sondern jede Idee ist immer schon mit einem Affekt verbunden (und umgekehrt) (Balibar 1998, 109). Die Ideen verkörpern, was mit unseren Körpern geschieht, die Wirkungen anderer Körper, Substanzen und Ideen auf den unseren (vgl. Deleuze 1993). Negative Gefühle entstehen dann, wenn unsere (Handlungs-)Macht gemindert, positive, wenn diese gesteigert wird in solchen Wechselwirkungen. Vor diesem Hintergrund ist die herkömmliche Problematik der Solidaritätsthematik, die Frage nämlich „Mit wem können wir überhaupt solidarisch sein?“ nicht mehr sinnvoll. Denn nun müsste man umgekehrt fragen, welche Umstände dazu führen, dass meine ursprünglich transindividuelle Konstitution, mein Dasein als gesellschaftliches Wesen, sich nicht in meinen Ideen und Gefühlen äußern? Die meisten SozialwissenschaftlerInnen sind der Auffassung, Solidarität könne man in der Regel nur für eine überschaubare Gruppe aufbringen,
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vor allem aber für die Angehörigen der eigenen Gruppe (vgl. Taylor 1994, 14). Der Soziologe Robert Putnam etwa meint, Solidarität mit weiter entfernten Gruppen und Gemeinschaften könne nur gelingen, wenn diese auf der Ebene der Binnengruppe bereits vorhanden ist.9 Die sozialwissenschaftliche und philosophische Tradition scheint sich weitgehend einig, dass Solidarität wie ein Haus zu denken ist, bei dem die Primärgemeinschaft das Fundament oder Erdgeschoss darstellt und auf das man optional ein zweites Geschoss bauen kann, von dem aus man sich dann erst den „Fremden“ zuwenden kann. Dies erscheint auf den ersten Blick ungemein plausibel, dient als Argument in der US-amerikanischen Debatte um Multikulturalismus (vgl. Kymlicka 1995) und wird auch in der hiesigen Debatte um Multikulturalismus gern von konservativer Seite bemüht. Gegen eine solche Konzeption können zweierlei Argumente angeführt werden: Das eine ist auf der Ebene des Verhältnisses von institutionalisierten Formen der Solidarität und der Konstitution der Primärgemeinschaft angesiedelt. Denn nationale Kollektive entstehen nicht naturwüchsig, sondern sie sind Produkt politischer und hegemonialer Projekte, die schließlich in der Form des Nationalstaats stabilisiert werden. Im Rahmen dieses Prozesses entstehen Institutionen der sozialen Solidarität, die dann national kodiert werden. Die Verschränkung sozialer Rechte mit nationaler Staatsbürgerschaft, aber auch die Tatsache, dass Gewerkschaften die Interessen der Arbeiterschaft mit Strategien der Verknappung innerhalb eines nationalen Raums verfolgen, führen demnach eher zu einer strukturellen Xenophobie und schließlich zu dem Widerspruch einer politisch proklamierten internationalen Solidarität, die sich die Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen auf die Fahnen schrieb und deren pragmatischer Politik des „boundary-drawing“ – aus dem mobilen und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehenden Plebs wird eine nationale Klasse (vgl. Karakayali 2011, 59-76). Vieles scheint also gegen einen emphatisch universalen Begriff von Solidarität zu sprechen. Wie sollen wir dann aber den Einsatz und das Engagement so vieler beurteilen und erklären, die sich für so etwas wie internationale Solidarität, für die Rechte
9
Gertenbach et al. kommentieren dies bündig so, dass allem Anschein nach „starke Solidarbeziehungen und soziale Bande in einer ‚Primärgemeinschaft‘“ eher dazu führen, „sich Fremden gegenüber vertrauensvoll zu öffnen“, sehen aber auch das Problem der rassistischen Gemeinschaften (Gertenbach et al. 2010, 110).
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und die Kämpfe von Minderheiten, MigrantInnen, Schwarzen, etc. eingesetzt haben und die dies nicht unbedingt auf der Grundlage einer solidarischen Primärgemeinschaft getan haben? Die Solidarität mit den Anderen scheint keinerlei Grundlage zu besitzen – außer im Motiv einer Vereinnahmung und Verwertung des Anderen, wie Moritz Ege in seiner Studie zur „Afroamerikanophilie“ nahelegt (vgl. Ege 2007). Das zweite Argument ist nun eine Art Umkehrung von Ansätzen, in denen „der Andere“ Gemeinschaft negativ stiftet, in dem er uns am Genießen hindert (vgl. Zizek 1994) oder als Sündenbock fungiert (vgl. Girard 1992), sondern in dem sich in der Beziehung zu den Minderheiten eine „kommende Gemeinschaft“ (vgl. Agamben 2003) äußert. Dieses zweite Argument stützt sich auf die gesellschaftstheoretischen Überlegungen der französischen Denker Gilles Deleuze und Félix Guattari, die dabei u. a. mit dem von Nietzsche geborgten Begriff der „Fernstenliebe“ arbeiten. Den „Fernsten“ zu lieben meint bereits bei Nietzsche nicht nur die geographische Entfernung, sondern sich in Beziehung zu bestimmten Elementen der kollektiven Existenz zu setzen, die minoritär sind und die sich damit dem Moment der rechtlichen, staatlichen, herrschaftlichen Fixierung des Kollektivs entziehen.10 Dieses Argument verweist auf die Idee einer prinzipiellen Unabschließbarkeit politischer Gemeinschaften. Diese sind niemals vollständig, sondern „unvollendet, konfliktträchtig, dem Eindringen des Anderen ausgesetzt, das sie benötigt, um sich zu konstituieren“. (Balibar 2012, 245) Die Geschichte der Gemeinschaften ist eine ihres Werdens, der Suche nach Identität, die in der Geschichte der Revolten, Aufstände und Gehorsamsverweigerungen zum Ausdruck kommt und in der die Minderheiten oder Anderen nicht nur die Schließungen des Gemeinwesens repräsentieren, indem sie zu Objekten der staatlichen Gewalt werden, was immer dann deutlich wird, wenn sich große soziale Bewegungen nicht im Namen der „eigenen Interessen“ formieren, sondern um anderer Willen, etwa im Protest gegen den Krieg in Vietnam, den zahlreichen Solidaritätsbewegungen gegen Diktaturen in Südeuropa bzw. im „globalen Süden“ oder im Widerstand gegen den Kolonialismus. Mehr noch, sich die „Sache der Anderen“ (vgl. Ran-
10 Vgl. z. B. ihre Überlegungen zur Rolle von Minderheitensprachen und deren transformativen Kraft für sich verändernde Gemeinschaften (was sie als „fehlendes Volk“ bezeichnen) in ihrem gemeinsamen Werk über Kafka, in: Deleuze/ Guattari 1976.
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cière 2004) zu eigen zu machen, ist nicht nur Effekt der Unabschließbarkeit der Gemeinschaft, es geht auch darum – und hier schließen wir wieder an das Argument von Michael Hardt und Antonio Negri an – dass das Minoritäre und Andere stets ein Moment der Beschleunigung, des sozialen Wandels, der Dekomposition innerhalb eines sozialen Gefüges bewirkt.11 Es ist sicher kein Zufall, dass in der Kulturindustrie und im neueren Diskurs um kulturelle Vielfalt „Migration“ oder „Migrationshintergrund“ bereits per se mit Lebendigkeit identifiziert wird – nicht weil MigrantInnen kreativer sind, sondern weil mit der Migration (und mit vielen anderen vergleichbaren Prozessen der Beschleunigung des Sozialen) festgefügte Identitäten, kulturelle Codes und Lebensweisen in Bewegung geraten. Genau dieser Prozess findet in der modernen Gesellschaft unablässig statt, hier werden die kulturellen und sozialen Überschüsse hergestellt und schließlich ökonomisch verwertet. Solidarität mit den Anderen statt den Ähnlichen, den Fernen statt den Nahen, ist so gesehen weder multikulturalistische Überforderung noch einfach moralisches Gebot, sondern genau umgekehrt: Erst mit dem Verlassen der engen Grenzen der Gemeinschaft, vermittelt durch die Hereinnahme des Anderen, gelingt die Herausbildung einer genuinen, weil kosmopolitischen Bürgerschaft.
L ITERATUR Agamben, Giorgio (2003): Die kommende Gemeinschaft, Berlin Atzert, Thomas et al. (Hg.) (2007): Empire und die biopolitische Wende, Frankfurt a. M. Balibar, Étienne (2012): Gleichfreiheit, Frankfurt a. M. Balibar, Étienne (1998): Spinoza and Politics, London Bayertz, Kurt (1998): Solidarität: Begriff und Problem, Frankfurt a. M. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976): Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. M.
11 Das haben eine ganze Reihe von Soziologen des beginnenden 20. Jahrhunderts sehr ähnlich gesehen. Robert Park schreibt etwa: „The effect of mobility and migration is to secularize relations which were formerly sacred.“ (Park 1928, 888). Siehe auch Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2008.
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„… aller Länder, vereinigt euch!“ Integration, Anti-Integration, Solidarität R ADOSTIN K ALOIANOV
Viel gebrauchte Konzepte verbrauchen sich schneller, schlittern in Widersprüche, sind von Vieldeutigkeit gezeichnet und können missbraucht werden. Von einer Abnutzungs- und Umdeutungsdynamik ist auch das Vokabular erfasst, das von der „Integration“ von MigrantInnen in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften handelt und wie andere ähnlich resonanzstarke Begrifflichkeiten dauerhaft „feindlichen“ Übernahmen, konzeptuellen Beschlagnahmungen und inhaltlichen Umkehrungen ausgesetzt ist.1 Verschiedene hostile takeovers belasten gegenwärtig das Sprechen und Diskutieren über „Integration“, entfachen Streit über die Bedeutung von „Integration“, motivieren dazu, „Integration“ mit neuen, moralisch und politisch weniger kompromittierten Vokabeln zu ersetzen oder die sprachli-
1
Kritisch merkt Serhat Karakayali zum Integrationsbegriff als eine catch-allphrase an, dass in diesem Überbegriff unterschiedliche Integrationsvorstellungen, wissenschaftliche wie politische Semantiken von „Integration“ diffundiert sind. So investieren liberale Theoretiker im Integrationsbegriff die modernistische Hoffnung „eines Bedeutungsverlustes ethnischer Differenzierung und ständischer Zugehörigkeit“; Konservativen „geht es darum, die Nation jenseits von gesellschaftlichen Widersprüchen als Gemeinschaft zu konstruieren. Auch für die Sozialdemokratie wird mit „Integration“ die Vorstellung verbunden „dass alle Menschen in einer Gesellschaft in gleichem Maße an ‚ihr‘ partizipieren“ (Karakayali 2009, 98).
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chen Mittel, die normativen Vorstellungen und politischen Zielsetzungen der „Integration“ gänzlich aufzugeben.2 Welchen Sinn kann noch das Reden und Fordern von „Integration“ aus der Sicht von MigrantInnen haben vor dem Hintergrund der verschiedenen Kritiken an „Integration“? Von dieser Frage ausgehend greife ich zuerst zwei verschiedene Spielarten von Integrationskritik auf, die die problematischen Motive und negativen Auswirkungen von Diskursen, politischen Praktiken oder gar Dispositiven der „Integration“ aufzeigen und die Problemseite von Integration als Disziplinierung und/oder Diskriminierung von MigrantInnen erkennen. Mit der Analyse dieser beiden Spielarten von Integrationskritik kristallisiert sich nachfolgend die richtungweisende Spur heraus, welche zur Solidarität mit und unter MigrantInnen als ein unterbelichteter, aber wichtiger Bedeutungsgehalt und eine noch unterentwickelte, aber aussichtsreiche Praxis der Integration von MigrantInnen führt und Solidarität als eine erstrebenswerte integrationspolitische Aufgabe definiert. Auf diesem Weg wird ein neues Verständnis von Integration der MigrantInnen vorgeschlagen, das die emanzipatorischen politischen Sprachen und moralischen Ansprüche von MigrantInnen neu orientieren und energetisieren kann.
„I NTEGRATION “
IST
K ONTROLLE
Der erste Strang an Integrationskritik macht „Integration“ als totale Kontrolle zum Thema und setzt sich kritisch mit Diskursen und Praktiken der nationalstaatlichen Kontrolle und Repression gegenüber MigrantInnen, die sich unter dem rhetorischen Deckmantel der „Integration“ etabliert haben,
2
Das Beanspruchen von „Integration“ in Zusammenhang von Migration ist weder der erste noch der einzige Kontext, in dem „Integration“ als politische Zielsetzung oder als theoretisches Thema präsent ist. Schon vor und auch parallel zur Herausbildung dieses relativ rezenten „Integration-Migration“-Konnexes formulierten ethno-kulturelle Minderheiten, AfroamerikanerInnen in den USA oder Frauen emanzipatorische moralische Ansprüche und politische Agenden in Hinblick auf „Integration“. Siehe dazu weiter unten Teil 2 und die Kritik an „Integration“ als Diskriminierung.
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auseinander.3 Kontrolltheoretische Integrationskritiken erforschen entweder historiographisch den historischen Werdegang von „Integration“ als staatliches Kontrolldispositiv und/oder greifen in Anlehnung an eine post-strukturalistisch inspirierte Machtkritik die repressiven Effekte des staatlichen „Integrationsdispositivs“ auf.4 Die Letzteren sind in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und theoretischen Traditionen (Marxismus, postkoloniale Studien, Poststrukturalismus) angesiedelt, operieren mit unterschiedlichen theoretischen Sprachen, Argumentationen und thematischen Schwerpunkten, aber sind sich in ihrer resoluten Schlussfolgerung „No Integration“ einig (vgl. Hess et al. 2009; vgl. Bojadžijev 2008; vgl. Böcker 2011). Auch politische Aktionen wie „Demokratie statt Integration“ des Netzwerks „Kritische Migrationsund Grenzregimeforschung“ und die publizistische Deklaration „Schluss mit der Integrationsdebatte“ (Der Standard 2010) üben Kritik an „Integration“ als Kontrolle, orten in der „Rede von Integration […] eine Feindin der Demokratie“ (Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 2010) und glauben im „ständigen Sprechen über Integration“ einen rassistischen Mechanismus zu erkennen, der „Teile der Gesellschaft unter Generalverdacht“ stellt (Der Standard 2010). In der Kritik am „Integrationsdispositiv“ als einen Komplex staatlicher Kontroll- und Disziplinierungspraktiken, der MigrantInnen wenige Möglichkeiten zum autonomen Handeln offen lässt und von dem es kein Entkommen für MigrantInnen gibt, fließen eine antietatistische Kritik des Staates als Instanz totaler Kontrolle und eine antikollektivistische, elitistische Ablehnung von „Integration“ als Ensemble von Zwängen des sozialen Zusammenlebens ein.
3
Die Beiträge im „No Integration“-Band umreißen die Bandbreite dieser antiintegrationistischen Perspektive (vgl. Hess et al. 2009).
4
Das Dispositiv ist „ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst“ (Foucault 1978, 119f.).
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Der antietatistische Impuls der Kritik an „Integration“ als Kontrolle Die antietatistische Kritik setzt eine tiefgreifende Entfremdung zwischen der Instanz des Staates und den sozialen Kollektiven voraus, die den Disziplinierungseingriffen des Staates ausgesetzt sind und gleichzeitig deren einzige und oberste Autorisierungsquelle als Volk, als zivilgesellschaftliche Vereinigungen sein sollen. Kommt der Staat nicht mehr als der institutionelle Ausdruck eines demokratisch ermittelten kollektiven Willens zur Geltung, so wird nicht nur das Verhältnis zwischen aufnehmendem Staat und neuzugewanderten Minderheiten, sondern auch die Relation zwischen Staat und Zivilgesellschaft als eine repressive und jedenfalls einseitig belastende Relation wahrgenommen. Die antietatistische Kritik an „Integration“ weist auf den Umstand hin, dass Staaten „Integration“ als politischen Diskurs mit unverbrauchten moralischen Ressourcen zur ideologischen Tarnung ihrer Sicherheitsagenden und -politiken verwenden. Die antietatistische Kritikpointe gegen „Integration“ ist gegen die staatliche Beschlagnahmung des politischen und moralischen Vokabulars der „Integration“ im Namen und im Dienste der öffentlichen Sicherheit gerichtet, die Migrationen und MigrantInnen fast automatisch als Sicherheitsgefahr postuliert. Die Kritik an „Integration“ als Kontrolldispositiv, mit dem Nationalstaaten vermutlich ihre Überforderung und Entmachtung durch Prozesse der Globalisierung, der Migration und der gesellschaftlichen Pluralisierung abreagieren, ist offenbar mehr als eine Bloßstellung sprachpolitischer Tarnmanöver.5 Diese Kritik weist auch auf die Tatsache hin, dass die Etikettierung sicherheitspolitischer Praktiken als „Integration“ auch reale politische Konsequenzen nach sich zieht. Auf diese Weise wird die Öffentlichkeit daran gewöhnt, solche Politiken gegenüber MigrantInnen als „Integration“ zu denken, zu akzeptieren, zu fördern und zu fordern, was nunmehr nicht nur eine sprachpolitische, sondern eine prak-
5
Paul Mecheril führt die Herausbildung des „Integrationsdispositivs“ auf identitätspolitische Verunsicherungen bzw. Verunmöglichungen überkommener WirIdentitäten sowie auf sicherheitspolitische Kompensationsversuche von Nationalstaaten zurück, die unter spätmodernen Bedingungen weder imstande sind, Sicherheitsrisiken adäquat zu erkennen, noch fähig sind, gegen reale oder imaginierte Gefahren Schutz zu bieten (Mecheril 2011).
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tische Dimension darstellt und die kritische Offenlegung dieser Verkettung sprachlicher, politischer und praktischer sowie symbolischer und struktureller Momente als einen „Dispositiv der Integration“ berechtigt. Konsequent und zum Ende vorgetragen sollte aber die antietatistische Argumentation gegen „Integration“ als Kontrolle auch die diskursive Entwaffnung all jener (MigrantInnen) thematisieren, die mit der Berufung auf „Integration“ Gleichbehandlung, Gerechtigkeit und Verbesserung ihrer Lebenssituation anstreben, durch die Kompromittierung des Begriffs der „Integration“ diskursive Ausweichrouten suchen müssen und dabei nicht selten Sackgassen finden. Das antikollektivistische Ethos der Kritik an Integration als staatliches Kontrolldispositiv Die poststrukturalistische Perspektive zur „Integration“ als staatliche Kontrollpolitik rührt von einem elitistischen Unbehagen mit staatlicher Einmischung und kollektivem Zwang her und schließt Integration als soziale Praxis bereits auf einer theoretisch-algorithmischen Ebene aus. Den intellektuellen Nährboden des antikollektivistischen Strangs der Kritik am „Integrationsdispositiv“ stellen die Schriften von Michel Foucault bereit.6 Außerdem ist in Foucaults Theorie der „Entunterwerfung“ (vgl. Foucault 2007; siehe auch Butler 2002) insofern eine implizite Kritik an „Integration“ als eine totale Kontrollwirklichkeit enthalten, als diese Theorie zum Ausbrechen aus den Anpassungszwängen des kollektiven Zusammenlebens auf-
6
„Die Integrationsfrage handelt vielmehr von sozialer Devianz und ihrer Domestikation. Es geht um das falsche Befüllen von Mülltonen, die falsche Erziehung der Kinder und die sich darin ausdrückende mangelnde Bereitschaft, sein Leben ‚richtig‘ zu führen, auf die die bürgerliche Gesellschaft mit Idiosynkrasie reagiert. Ob real oder imaginär, die ‚Anderen‘ repräsentieren in den Augen der Mehrheitsgesellschaft die Abweichung von der Norm der Anpassung und Unterwerfung unter die gesellschaftlich hegemonialen Leistungsideale. […] Damit sind die Kämpfe der Migration heute nicht mehr nur um Fragen der gleichen sozialen und politischen Rechte zentriert, sondern sind auch und zunehmend Kämpfe um Regierung, wie Foucault sie verstanden hat […] Es geht darum, welche Sprache auf dem Schulhof gesprochen wird, wie man sich anzieht, wie man sein Leben führt“ (Karakayali 2009, 101).
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ruft. Das „Entunterwerfen“ regt zur individuellen „Befreiung“ aus den Zangen kollektiver Existenzformen an und hält daher nicht viel von den Realitäten und Aufgaben, welche kollektive Existenzformen und das soziale Zusammenleben nach sich ziehen (Interdependenz, Kooperation, Koordination, Integration usw.).7 Die ethische Botschaft der Kritik der „Entunterwerfung“ lautet, ein Leben persönlicher Selbstentfaltung führen zu können, welches möglichst ungehindert durch die Kontroll- und Koordinationsaufforderungen eines kollektiven Zusammenlebens bleibt. Die Einschätzung von „Integration“ als Hindernis vor der individuellen Selbstverwirklichung von unverwechselbaren Persönlichkeiten gehört den reflexiven Lebensentwürfen von gesellschaftlichen Eliten (Macht-, Geld- oder Bildungseliten) an und findet insbesondere bei akademischen Eliten positiven Widerhall. Diese intellektuelle Position erachtet Kontrolle, Anpassungszwang und soziale Interdependenzen mit den elitistisch-individualistischen Vorstellungen von Lebensführung für nicht vereinbar. Für jene, die ihren Zugriff und ihre Kontrolle auf „money and meaning“ (Mignolo 2005, 383) prinzipiell für einen individuellen Verdienst halten, kommen die Vokabulare, Praktiken, Strukturen gesellschaftlicher „Integration“ als Lasten in Betracht, die „entunterworfen“ gehören. Dieses antikollektivistische Ethos der Kritik als „Entunterwerfung“ schwappt auch auf die verschiedenen Theorieteile dieser Position, darunter auch die Dispositivkritik, über und dieses antikollektivistische Ethos hallt in den nachfolgenden Verwendungen des Dispositivkonzepts Foucaults
7
Damit will ich aber nicht behaupten, dass Angehörige von gesellschaftlichen Eliten nur das Einzelgängertum als Modus sozialer Existenz kennen. Schließlich verdankt sich die überlegene Stellung von Eliten gerade der gelungenen Selbstorganisation zu politischen, wirtschaftlichen, sozialen, akademischen Kollektiven und den engen und intensiven Beziehungen und Interaktionen, die die Reproduktion solcher Kollektive ihren Mitgliedern laufend abverlangt (vgl. Lukes 2005). Kritische Rezeptionen von Foucault wenden auch ein, dass gerade die praktische Umsetzung individueller Entunterwerfung nur in Kooperation mit anderen und als kollektive Praxis erreicht werden kann (vgl. Loick 2009, 20). Die „Entunterwerfung“ ist als ethische Vorstellung und politische Praxis nur im Plural, als „wir“, im Kollektiv praktikabel und kann in Wirklichkeit nur durch „Integration“ Erfolg haben.
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nach, insbesondere und sofern die ethische Prämisse des Antikollektivismus in diesen nicht thematisiert bleibt. Auch der Kritik am „Integrationsdispositiv“ bleibt die Aufgabe nicht erspart, die Mitübernahme des Ethos des Antikollektivismus durch das Dispositivtheorem Foucaults zu reflektieren und den Auswirkungen dieser ethischen Prämisse auf die eigene Theoriebildung nachzugehen. Schwierigkeiten mit dem „Integrationsdispositiv“ Die Kritik am staatlichen „Integrationsdispositiv“ ist allem voran mit der Frage konfrontiert, warum sie „Integration“ so umfassend und restlos dem Staat überantwortet. Bereits die geläufigen Klassifikationen von „Integration“, mit denen der sozialwissenschaftliche Mainstream zwischen „Systemintegration“, „struktureller Integration“ und „sozialer Integration“ unterscheidet, verweisen auf Formen und Realitäten von „Integration“, welche sich staatlichen Kontroll- und Disziplinierungspraktiken entziehen, sich diesen gezielt widersetzen können und sich jedenfalls konzeptuell nicht im Begriff des staatlichen „Integrationsdispositivs“ subsumieren lassen. „Systemintegration“ und „strukturelle Integration“ visieren tatsächlich Felder von „Integration“ als Kontrolle und Disziplinierung durch staatliche Interventionen an, zumal die meisten Aufgaben der „Systemintegration“ und „strukturellen Integration“ mithilfe von kontrollpolitischen Instrumenten (Gesetzen, Steuern, Förderungen, Ausschreibungen, Statistiken usw.) erledigt werden können.8 „Systemintegration“ und „strukturelle Integration“ stellen jene Rahmungen dar, in welchen Prozesse „der wechselseitigen Anpassung“ (Bauböck 2001, 14) oder „der gesellschaftlichen Eingliederung
8
Die „Systemintegration“ beschreibt kategorial die Kohäsion gesellschaftlicher Teilsysteme (vgl. Lockwood 1964, 371ff) und ist als Perspektive in der systemtheoretisch arbeitenden Migrations- und Integrationsforschung vertreten (vgl. Esser 1980, 2001). Die „strukturelle Integration“, oft in der deutschsprachigen Migrationsforschung mit der „Systemintegration“ vermengt und der „Sozialintegration“ entgegengestellt (vgl. Esser 2001; vgl. Fassmann 2010), betrifft vor allem die Anschlussfindung von benachteiligten sozialen Gruppen an die sozialen Systeme (wie Märkte), institutionellen Strukturen (politischer Organisationen) und gesellschaftlichen Medien (vgl. kritisch hierzu Hetfleisch 2011).
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und Partizipation der zugewanderten Bevölkerung“ (Fassmann/Stacher 2003, 12) stattfinden können sollen. Wenn man sich auch noch den realpolitischen Stellenwert von Praktiken, Normen und politischen Maßnahmen vergegenwärtigt, die auf „System-“ oder „strukturelle Integration“ hinarbeiten, ist dieser Kritikdiskurs gewiss nicht übertrieben. Nationale Integrationspläne, diverse politische Institutionen und juristische Regelwerke auf unterschiedlichen Regierungsstufen (lokale, nationale, supranationale) und auch integrationstheoretische Standardwerke (manche wurden bereits angeführt) widmen der „Systemintegration“ und der „strukturellen Integration“ als staatlich fokussierte Formen von Integration nicht zufällig die gebührende Aufmerksamkeit, die ihr realpolitisches Gewicht widerspiegelt. In dem Dreieck von „Systemintegration“, „struktureller“ und „sozialer Integration“, sind die Prozesse und Praktiken von „sozialer Integration“ für die staatliche Steuerung großteils unzugänglich. Mit „sozialer Integration“ wird nachdrücklich die Integrationsdimension der sozialen Beziehungen, der sozialen Interaktionen zwischen Personen und Gruppen, der kulturellen Praktiken und der Lernprozesse bezeichnet. Die alltäglichen Interaktionen, die Vernetzungen, die Beziehungsarbeit zwischen Individuen und Gruppen stehen der staatlichen Kontrollmacht nicht zur Disposition, jedenfalls sind sie durch diese nicht so (restlos) kontrollierbar, wie es die Kritiken am „Integrationsdispositiv“ suggerieren. Die „soziale Integration“ ist gewiss ein umkämpftes Terrain, an dem staatliche Kontrollpolitiken (von oben) auf „Assimilation“ hinsteuern (vgl. Esser 2001) und dabei ständig an latenten oder offenen Formen von Widerständigkeit, Nicht-Steuerbarkeit, NichtEinnehmbarkeit scheitern, die sich im breiten und bunten Feld dessen, was als „soziale Integration“ bekannt ist, andauernd formieren oder sich spontan ergeben. Nicht zuletzt umfassen die Prozesse und Realitäten „sozialer Integration“ auch Diskurse und politische Praktiken der „Solidarisierung von unten“, die sich in ausgesprochener Opposition zu staatlichen Kontrollbestrebungen herausbilden. Gerade die Integrationsrealitäten, die sich staatlicher Kontrolle entziehen und widersetzen, sind Thema der historiographischen Kritiken an „Integration“ als staatlichem Kontrolldispositiv.
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Historiographisch gegen „Integration als Kontrolle“ Die historiographische Analyse von „Integration“ als staatlichem Kontrolldispositiv zeigt, wie die Konzepte und Praktiken migrantischer Bestrebungen auf Integration (von unten) für die Rechtfertigung von Integrationspolitiken (von oben) „rekuperiert“ wurden. Die Entstehung und Durchsetzung eines staatlichen Dispositivs zur Integration in Deutschland seit den 1970er Jahren analysiert Manuela Bojadžijev anhand von historischen Beispielen migrantischer Kämpfe um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, um mehr Rechte und größere Mitsprachemöglichkeiten und betrachtet die Formierung des staatlichen „Integrationsdispositivs“ als Reaktion des deutschen Staates auf die Widerstandspraktiken und das Aufstandspotenzial migrantischer Bevölkerung (Bojadžijev 2008, 60). „Integration bezeichnete im Kontext der ausländerpolitischen Maßnahmen der 1970er Jahre eine Rekuperation der Widerstandspraktiken und Kämpfe der Migrantinnen und Migranten. […] Es handelt sich hier um etatistische Entgegnungen, die von Migrantinnen und Migranten zweifellos als Rekuperation ihrer Forderungen aufgefasst werden konnten“ (Bojadžijev 2008, 242f.).
Das Potenzial migrantischer moralischer Ansprüche und politischer Praktiken und Organisationsformen, mehr „Integration“ zu fordern, Verbesserung von Lebenssituation und -aussichten zu verlangen, so die Schlussfolgerung dieser kritischen Position, wird durch die politischen AkteurInnen der Aufnahmegesellschaft erkannt und sukzessive in eine politische Integrationsprogrammatik umgewandelt, die im Großen und Ganzen das Gegenteil der Zielsetzungen migrantischer Integrationsbestrebungen von unten erreichen will.9 Auf eine ähnliche Dynamik vom Umschlagen der „Integration“ von unten in ein staatliches Dispositiv zur „Integration“ von oben verweist auch
9
„Das Dispositiv der Integration desartikuliert die kollektiven Ansprüche, verschiebt sie hin zu individuellen Anpassungsleistungen der Migrantinnen und Migranten und reduziert sie auf Infrastrukturprobleme, denen am besten mit Rückkehrförderung beizukommen sei. Vor allem aber ist die Forderung nach gleichen Rechten im Dispositiv der Integration vollständig absorbiert“ (Bojadžijev 2008, 244).
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Birgit zur Nieden in ihrer Studie zum Spracherwerb in Deutschland (vgl. zur Nieden 2009). Die Geschichte von sprachunterrichtspolitischen Maßnahmen setzt beim selbstorganisierten Spracherwerb von MigrantInnen an, der von diesen als Moment des Selbstempowerment begehrt und erkämpft wird, um sich dann zu einem späteren Zeitpunkt als Instrument staatlicher Repression gegen migrantische Gruppen zu richten. Die historiographische Kritik schärft die Aufmerksamkeit auf die dialektischen Verflechtungen zwischen „Integration“ als repressives Dispositiv und Integration als emanzipatorische und ermächtigende Praxis von MigrantInnen und nimmt auf diese Weise eine zentrale Erkenntnis des zweiten Strangs der kritischen Auseinandersetzung mit „Integration“ vorweg. Hier wird nicht die Kontrolle, sondern die Diskriminierung der Zielgruppen von „Integrationspolitik“ als negativen Haupteffekt hervorgehoben und mit Solidarität eine soziale Praxis von „Integration“ gefunden, welche gegen die integrationspolitischen Effekte von Kontrolle, Unterdrückung und Diskriminierung erfolgreich opponieren könnte.
K RITIK
AN
„I NTEGRATION “
ALS
D ISKRIMINIERUNG
Feministische und afroamerikanische Theorieansätze fingen schon früh damit an, jene „Integration“ der Differenzblindheit (difference-blindness) zu kritisieren, die durch den liberal-theoretischen Mainstream befürwortet wurde und ihren institutionellen Ausdruck in diversen Politiken der Inklusion, der Chancengleichheit, der Gleichbehandlung fand, dies mit dem Ergebnis, dass durch diese die Benachteiligung und Unterlegenheit von diskriminierten Gruppen noch konserviert oder gar vergrößert werden konnten.10 Auf difference-blindness insistieren Theorien und politische Programme des liberalen Egalitarismus mit dem Argument, dass soziale Differenzen soziale Konstrukte seien, die die Umsetzung der obersten normati-
10 Klassisch weist Michael Walzer (1994) daraufhin, dass in stark polarisierten und differenzierten Gesellschaften wie die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften die formelle Gleichbehandlung – das Achten auf die Gleichheit von Rechten und in Prozeduren – die Lage von schlechter gestellten, benachteiligten Gruppen noch mehr verschlechtert. Auch Immanuel Wallerstein macht auf Verhältnisse vom „Ausschluss durch Einbeziehung“ aufmerksam (vgl. Wallerstein 1995).
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ven Gebote der Gleichheit und persönlichen Autonomie von Individuen beeinträchtigten.11 Wird von sozialen Differenzmerkmalen abgesehen, so die gängige Annahme, werden die Gründe zur Diskriminierung ausgeräumt. Antiintegrationistische Kritiken, die an „Integration“ per difference-blindness die Diskriminierung kritisieren, bestehen hingegen auf „Differenz“ und orten genau in der liberal-egalitaristischen Ideologie der Differenzblindheit eine ausgeklügelte theoretische und politische Strategie, bereits bestehende Diskriminierungsverhältnisse einzufrieren und diese gleichzeitig für politische Gegenmaßnahmen unantastbar zu machen. Wie sehr die Theorien und Praktiken der Differenzblindheit die moralische Rechtfertigung und die politische Richtung der „Integration“ von benachteiligten sozialen Gruppen vorgeben, zeigt sich für solche Kritikerinnen diskriminatorischer Integration wie Iris Young (1990; 2007) und Patricia Hill Collins (1990) daran, dass sogar kritisch-theoretische Reaktionen auf den Grundsatz der Differenzblindheit diesen im Großen und Ganzen akzeptieren und sich mit dessen praktischen Implikationen arrangieren. Exemplarisch dafür sind die Theorien und politischen Programme des Multikulturalismus. Diese entwerfen und begründen eine politische Praxis, die zwischen der kontrollierten Inklusion einer als „deviant“ erscheinenden sozialen Diversität (durch die politisch gesteuerte Kultivierung minoritärer Kulturformen und Traditionen) und deren ununterbrochenen Diskriminierung (durch das containment dieser Devianz) pendelt. Multikulturalistische Politiken wollen die kulturellen Ressourcen (Identitäten, Traditionen, Sprachen, Kunst, Literatur usw.) minoritärer Gruppen schützen und pflegen, um auf diese Weise einen Platz für deren Andersheiten in der Gesamtgesellschaft zu schaffen. Durch ihre Eingliederung in den normativen Ordnungen, politischen Agenden und institutionellen Strukturen des liberal-demokratischen Mainstreams wird die „Devianz“ der kulturellen Besonderheiten kleinerer sozialer Gruppen keineswegs abgebaut, sondern im Gegenteil bestätigt, verstärkt, zur Schau gestellt und gleichzeitig eingefangen und eingedämmt. Dadurch werden die diskriminatorischen
11 Soziale Differenzen werden außerdem als Konstrukte zwieträchtiger epistemischer Operationen – Imaginationen, Ängste, Affekte usw. – zumindest für ein theoretisch geschultes Publikum in Misskredit gebracht. Bei Differenzen handele es sich in der Regel um „othering“ – also um erzwungene Differenzierungen, die Machtausübung einkodieren und rechtfertigen sollen.
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Macht- und Werteasymmetrien zwischen der dominanten Mehrheitsgesellschaft und den container-artig darin inkorporierten Einzelstücken von (minoritärer) Devianz vorausgesetzt und fortgesetzt. Multikulturalistische Politiken ändern grundsätzlich nichts an den asymmetrischen und diskriminatorischen Verhältnissen zwischen Mehrheit und Minderheit, sondern sind bemüht, diese Asymmetrie für die Beteiligten erträglich zu machen und die Intensität solcher Belastungen kontrolliert auf ein niedrigeres und akzeptableres (für wen?) Niveau zu reduzieren. Die antidiskriminatorische Kritik ortet das Problem der „Integration“ darin, dass differenzblinde Integrationsmodelle Diskriminierung (re-)produzieren und dadurch die ohnehin beschränkten Partizipationsmöglichkeiten der Zielgruppen differenzblinder Integrationsmaßnahmen verringern, deren Aussichten auf gerechte Behandlung schmälern und ihre soziale Existenz atomisieren. Integrationsgebote und -angebote, die auf Differenzblindheit setzen, erzielen die Atomisierung ihrer Zielgruppen dadurch, dass sie ausschließlich an Individuen adressiert sein können. Die Logik der Differenzblindheit fordert dazu auf, von kollektiv geteilten und kollektivbildenden Differenzmerkmalen (des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Herkunft, der Sprache, der Hautfarbe) abzusehen und integrationspolitisch keinen Gruppen, sondern einzelnen Individuen den Vorrang zu erteilen. So wird eine Abstraktion vom radikal entbundenen Individuum befürwortet, das sich nur auf sich selbst verlassen können muss und seine Bestrebungen nach Gleichheit, Autonomie, Erfolg, Glück und Partizipation erst durch das Hinwegsehen über kollektive Eigenschaften und durch das Abschneiden kollektiver Bindungen realisieren kann. Die Kritik an den differenzblinden Integrationspolitiken und -diskursen, die Diskriminierung perpetuieren und intensivieren, stellt diesen „Solidarität“ als positive und erstrebenswerte Alternative entgegen. Dieses positive Bild von „Integration“ reagiert auf die Erfahrungen unterlegener Gruppen mit sozialer Ausgrenzung, der Abwertung ihrer Fähigkeiten und der Atomisierung ihrer sozialen Existenz und stellt ethische Visionen, moralische Forderungen und politische Agenden zur „Integration“ auf, deren inhaltlicher, normativer und operativer Schwerpunkt die Solidarisierung und Selbstorganisierung von unten ist. Als die allerwichtigsten Schritte zum Ausbau der politischen Handlungsfähigkeit von historisch diskriminierten Gruppen erachten feministische und afroamerikanische TheoretikerInnen die Artikulierung von affirmativen Selbstbildern, den Aufbau von Solidari-
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tätsverhältnissen untereinander und die Suche nach Allianzbildungen mit politischen Subjekten, die um die Umsetzung vergleichbarer politischer Agenden bestrebt sind (vgl. hooks 1984; vgl. Hill Collins 1990; vgl. Patterson 1997; vgl. Shelby 2007). Solche kritischen Umfokussierungen von „Integration“ auf die Ethik und Praxis von Solidarität von unten stellen die Forderung nach einem Mehr an „Integration“ in den Raum, allerdings von einer „Integration“, welche unterlegene soziale Gruppen politisch empowert. Zwei ethische Aspekte sozialer Unterlegenheit unterstreichen die Bedeutsamkeit von Integration als Solidarisierung. Menschen in unterlegener sozialer Stellung fehlen zumeist die sozialen Ressourcen, um als AlleingängerInnen zu agieren, was ihre Lebensentwürfe und Handlungsstrategien auf die Suche nach Kooperation und Solidarisierung mit anderen ausrichtet. Grundsätzlich – und oft auch erzwungenermaßen – auf andere Mitmenschen angewiesen, lernen die Angehörigen diskriminierter und unterdrückter Gruppen die Vorzüge eines Lebens in Kollektiven zu schätzen, zu nutzen und aktiv zu gestalten. Diese ethische Verbindung zwischen sozialer Unterlegenheit und kollektiver Lebensführung erhöht auch die Sensibilität für Möglichkeiten der kooperativen Lebensgestaltung und steigert die Bereitschaft zur Beteiligung an solchen Lebensformen. Ähnlich wie journalistische „field-work“-Experimente attestieren sozialwissenschaftliche empirische Forschungen sozial Unterlegenen ein größeres Einfühlungsvermögen und erhöhte Kooperationsbereitschaft gegenüber Menschen in einer sozialen Notlage, die also jede und jeden in einer depravierten Position treffen könnte bzw. bereits trifft, als etwa Bessergestellten, die solche Notlagen für sich ausschließen und für andere mit deren individuellen Entscheidungen erklären würden (vgl. Piff et al. 2010; vgl. Ahr/Sußebach 2012; vgl. Kraus et al. 2012). Zusätzlich gewinnt das Verständnis von Integration als Solidarität an Gewicht, weil dieses unter den Bedingungen einer umschweifenden Atomisierung der sozialen Existenz unterlegener Gruppen formuliert wird und sich dem Abbau von sozialen Verbindungen und dem Niedergang der Instanzen des kollektiven Lebens aktiv widersetzen will. Die soziale Atomisierung ist nicht nur durch die knappe Ressourcenausstattung bedingt, die (Selbst-)Isolation der Einzelnen wird zusätzlich durch negative Stigmata der normativen Devianz, kulturellen Inferiorität usw. verschärft. Man will nicht zu den Unterlegenen, zu den Abartigen, zu den Minderwertigen ge-
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zählt werden. MigrantInnen wehren sich dagegen, in öffentlichen Diskursen als MigrantInnen, als Menschen mit Migrationshintergrund oder mit sonstigen negativ besetzten Kategorien angesprochen zu werden. Solche psychologisch nachvollziehbaren Reaktionen verleihen dem Solidarisierungsbedarf von sozial Unterlegenen ein besonderes Gewicht. Ideengeschichtlich wird dieser Solidarisierungsbedarf einprägsam im klassischen Aufruf des Kommunistischen Manifestes verkündet: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ (Marx/Engels 1972, 493).
„…
ALLER
L ÄNDER ,
VEREINIGT EUCH !“
Im Kontext der gegenwärtigen Debatten zur „Integration“ von MigrantInnen behält der manifestalische Aufruf von Marx und Engels seine ungeminderte Aktualität und Fortsetzung in einem umformulierten Appell zur Solidarität mit einem offenen Adressatenkreis „… aller Länder, vereinigt euch!“. Die Periphrase „… aller Länder, vereinigt euch!“ kann als Leitformel einer „Integration“ unter den Bedingungen gegenwärtiger Migrationsgesellschaften des Westens dienen, dessen Kernbotschaft die Solidarisierung von und mit MigrantInnen ist.12 Als ultimatives Ziel und legitimatori-
12 Als „Migrationsgesellschaft“ werden offene Gesellschaften bezeichnet, welche die Mobilität von Einzelpersonen oder Gruppen ermöglichen und dadurch für diese neue Lebenschancen generieren. Von „Migrationsgesellschaft“ kann aber auch kritisch in dem Sinne einer Gesellschaft gesprochen werden, in welcher ein Segment der Bevölkerung zweiter Klasse als „MigrantInnen“ ausgemustert wird. Dieses Migrationssegment umfasst all jene, die durch das Prisma einer negativ besetzten „Migrationsandersheit“ (Mecheril/Varela 2011) behandelt werden. Gekoppelt mit der mehrheitsgesellschaftlichen Erwartung, dass „Migrationsandere“ ihr Los stillschweigend zu ertragen haben, erweist sich die negativ konnotierte Migrationsandersheit für die kulturelle und materielle Reproduktion der gegenwärtigen Migrationsgesellschaften des Westens wesentlich, um z. B. Zugehörigkeitsbilder und -gefühle zu stabilisieren, um ökonomisch effizient und wettbewerbsfähig zu sein, um Arbeitsteilungen aufrechtzuerhalten, um politisch regierbar zu sein.
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sche Grundlage einer solchen Integration mit „langem Atem“13 gewinnt Solidarität dadurch wieder an politischer Attraktivität, dass viele der aktuell diskutierten und politisch verfolgten „Integrationsziele“ – wie etwa Sprache zu erwerben, Staatsbürgerschaft zu erlangen oder Diskriminierung zu bekämpfen – selbst nur Schritte auf dem Weg zu einer Solidargesellschaft sind, die nun auch MigrantInnen einschließt. Die gesellschaftliche Partizipation von MigrantInnen „auf gleicher Augenhöhe“ kann als gesellschaftspolitische Zielsetzung nur unter der Voraussetzung und unter den Bedingungen einer solidarischen Migrationsgesellschaft erreicht werden – wer in solidargemeinschaftlichen Netzwerken aufgefangen ist, in solidarischen politischen Kollektiven organisiert ist, in den normativen Ordnungen und institutionellen Strukturen der Gesellschaft solidarisch berücksichtigt wird, hat bessere und vor allem reale Aussichten auf soziale Partizipation, auf Einzug und Mobilität in die gesellschaftlichen Opportunitätsstrukturen. An Solidarität als Integrationsperspektive zu denken, bietet sich auch aufgrund des kritischen Potenzials dieses Vorschlags an, zumal solidarische Verhältnisse zwischen Einzelnen, Gruppen, politisch organisierten Kollektiven sowie solidarisch handelnden Institutionen die kritische Gegenkraft aufbringen können, um erfolgreich jenen Praktiken und Politiken von „Integration“ zu opponieren, die auf Kontrolle und/oder Diskriminierung von MigrantInnen hinauslaufen. Kritisch ist der Vorschlag, in der Solidarität die zentrale Integrationsmöglichkeit für MigrantInnen zu sehen, auch deshalb, weil dieser Anstoß empirisch wenige Anhaltspunkte vorfindet und eine praktische Option in einem „kritisch“ unterentwickelten und unausgeschöpften Zustand markiert. In Deutschland und Österreich bleibt die Solidarisierung von MigrantInnen untereinander, aber auch jene zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen eine schwache und ferne integrations- und gesellschaftspolitische Perspektive. Gerade diese Schwäche und Marginalität legt aber nahe, in der Solidarität zugleich die normative Leitvorstellung und die praktische Voraussetzung einer ernst gemeinten Integration von MigrantInnen zu erblicken und darauf zumindest theoretisch zu insistieren.
13 „Langer Atem“ ist gefragt, sollte dieses Projekt die vielen Schwierigkeiten, Widersprüche und Widerstände, mit welchen es konfrontiert wird, theoretisch wie praktisch bestehen können und sollte Integration durch und als Solidarität über Generationen hinweg ernsthaft ausgebaut werden.
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Für ihre Reaktualisierung im migrationsgesellschaftlichen Kontext begreife ich Solidarität hauptsächlich als eine praktische Reaktion auf geteilte Not. Eine andere, normativ-theoretische Sichtweise thematisiert Solidarität entweder als eine Norm oder ein Ideal des guten Lebens, dessen Umsetzung moralisch und politisch zwingend ist, oder kommentiert Solidarität als Ziel bzw. Konsequenz der Befolgung von moralischen Normen und ethischen Idealen (vgl. Hondrich/Koch-Arzberger 1992). So wird Solidarität diskursethisch als ein soziales Verhältnis diskutiert, welches hochschwellige intellektuelle Leistungen und moralische Reflexionen auf verbindende kollektive Eigenschaften und schützenswerte kollektiven Güter voraussetzt (vgl. Habermas 1991), vornehmlich einen mentalen Charakter hat und vom idealisierten Soll-Bild eines solidarischen Gemeinwesens nicht wegzudenken ist. In der Realität übernimmt aber die Solidarität aus Betroffenheit die Oberhand und ist die Betroffenheitssolidarität auch für die integrationskritische Reaktualisierung des Solidaritätskonzepts im Kontext gegenwärtiger westlicher Migrationsgesellschaften federführend.14 Die Betroffenheitssolidarität entspringt nicht aus der theoretisch durchdachten Einsichtnahme in ein kollektives Gemeinwohl oder aus dem aufgeklärten Umgang mit Solidaritätsimperativen, sondern nimmt ihren Anfangspunkt in den Wellen des Protests und der Empörung über unerträgliche Lebensverhältnisse und -aussichten, die auf Dauer und mit System große Bevölkerungsteile, minoritäre soziale Gruppen und invisibilisierte soziale Lebensformen belasten.15
14 Die Betroffenheitssolidarität bezeichnet Hauke Brunkhorst als eine „praktische Solidarität“ (Brunkhorst 2008, 3), welche ein spezifisch modernes Phänomen ist (vgl. Hondrich/Koch-Arzberger 1992, 30). Richard Rorty führt diese Art von Solidarität auf eine praktische Fähigkeit zurück, die die Quelle jeglicher solidarischer Reaktionen, Handlungen, Organisationsformen und Institutionen bildet als eine „ability to see more and more traditional differences (of tribe, religion, race, customs, and the like) as unimportant when compared with similarities with respect to pain and humiliation“ (Rorty 1989, 192). 15 Nach meinem Dafürhalten umfasst die initiale und minimale Form von Solidarität die Ausarbeitung, Verbreitung und Resonanz auf geteilte Standpunkte, Sprachen und Diagnosen der Problemfindung, wofür kritische Theorien von besonderer Bedeutung sind. Klar ist der Schritt von dieser initialen Stufe epistemischer und diagnostischer Solidarisierung zu kollektiven praktischen Anstren-
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Die Betroffenheitssolidarität ist allein deshalb nicht widerspruchsfrei theoretisch zu denken, weil die Verhältnisse in der Praxis einen multipolaren Charakter haben. Betroffenheit verbindet nicht durch ein einziges Thema, eine einzige Ansicht oder eine einzige Problemdeutung.16 Vielmehr speist sich diese multipolare Solidarität aus einer Bündelung verschiedener Betroffenheiten, die auch eigene thematische Foci, Problemdefinitionen, Sprachen und politische Agenden hervorbringen. Die verschiedenen AkteurInnen finden provisorisch und „projektbezogen“ zueinander, ziehen am gleichen Strang, gehen aber nicht im Gleichschritt und befinden sich in polarisierten Verhältnissen der Interdependenz. Für die Reaktualisierung des Solidaritätskonzepts im migrationsgesellschaftlichen Rahmen ist die Betroffenheitssolidarität vor allem wegen ihrer multipolaren Beschaffenheit interessant, also aufgrund der Tatsache, dass wir hier nicht von dem verbindenden Moment im Singular sprechen können, sondern dass der Moment der Gemeinsamkeit nur im Plural vorgestellt und gelebt wird – als eine Textur unterschiedlicher Betroffenheiten, der einerseits erst mühevoll und ununterbrochen gestrickt werden muss, und andererseits stets unter polarisierender Hochspannung und kurz vor der Auflösung steht. Also bedürfen solidarische Verbindungen und soziale Praktiken aus Betroffenheit durch soziale Misslagen wie Unterdrückung, Diskriminierung, Deprivierung der Kunst, eine unstabile, ja polarisierte Konstellation verschiedener Betroffenheiten auch dann in Verbindung zu halten, wenn diese in Dissonanz miteinander geraten. Durch eine derartige Reaktualisierung erhält Solidarität den Schwung, welchen sie als Praxis und Idee unter der gegenwärtigen ideologischen Vorherrschaft neoliberaler Theorien und politischer Praktiken mehr denn je benötigt, um sich gegen ihre Marginalisierung und Stigmatisierung als unzeitgemäßes Überbleibsel einer längst vergangenen Ära der Arbeiterbewegung und von Klassenkämpfen behaupten zu können. Denn es gilt gegenwärtig weiterhin, dass nur soziale Kollektive, die in eigener Sache eigenständig am sozialen Leben teilhaben, sich politisch selbst vertreten und kulturell für
gungen der Problemlösung weder automatisch vorgegeben, noch vor dem Scheitern gefeit. 16 In der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Forschung wird Solidarität überwiegend als ein monopolares Verhältnis aufgefasst (vgl. Klindworth/ Schröder 2010).
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sich sprechen, ein reales soziales Gewicht haben und vom Rest der Gesellschaft ernst genommen werden. Im Folgenden umreiße ich mit der intramigrantischen Solidarisierung von MigrantInnen untereinander und der intragesellschaftlichen Solidarisierung von MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen kursorisch zwei Dimensionen der Solidarisierung in der Migrationsgesellschaft. In beiden Fällen handelt es sich um Solidarität aus Betroffenheit, deren wichtigster motivationeller, handlungspraktischer und struktureller Moment die Multipolarität ist.17 Für die Analyse eines multipolaren Solidaritätsverhältnisses erübrigt sich die Skalierung von Betroffenheitsgraden nach dem Muster „Leid – Mit-Leid – Mit-mit-Leid usw.“18 So müssen Solidaritätsverhältnisse mit MigrantInnen nicht unbedingt und nicht an erster Stelle (migrantisches) Leid mit dem Mit-Leid (von Nicht-MigrantInnen) in Verbindung bringen.19 Nicht-MigrantInnen können mit MigrantInnen durchaus solidarisch denken, fühlen und handeln, weil sie selbst direkt durch jene Misslagen affiziert sind, für die die gegenwärtigen Migrationsgesellschaften reichlich „Stoff“ bieten, und aus eigener Betroffenheit agieren, die auf mehr als nur ein „Ein-, Nach- oder Mit-fühlen“ hinausläuft. Die intragesellschaftliche Solidarität zwischen MigrantInnen und NichtMigrantInnen ist keine bloß utopische Vorstellung. Sozialwissenschaftliche Studien registrieren in Deutschland bereits eine Tendenz der Auflösung so-
17 Die Multipolarität als zentrales Strukturmoment der Betroffenheitssolidarität in der Migrationsgesellschaft wird auch durch die These angedeutet, mit welcher Serhat Karakayali seinen Beitrag in diesem Band abschließt. 18 Diese Denkweise ist für die Konzeptualisierung von Solidarität als ein monopolares Verhältnis die einzig mögliche, da hier die Motive der Solidarisierung dem einen überragenden und verbindenden „Grund“ der Solidarität untergeordnet werden müssen (sei dieser ein konkreter Erfahrungsgehalt, eine Konzeption des guten Lebens oder eine moralische Norm). Die Stärke der Bindung wird je nach Nähe oder Ferne zu diesem „Grund“ skaliert („Mit-Leiden“, „Ein-Fühlen“, „Nach-Empfinden“ usw.), und so wird ein provisorisches Motiv in den Rang des zeitenthobenen und umstandslosen Integrators emporgehoben, von dem dann erwartet wird, jene sozialen Praktiken der Solidarisierung zu „regulieren“, deren inhärente Widersprüchlichkeit und Polarisation sich solchen Regulationen gar nicht fügen. 19 Zu dieser Konstellation von Solidarität mit MigrantInnen vgl. den Beitrag von Krassimir Stojanov in diesem Band.
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zialer Spannungsverhältnisse zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen und deren sukzessive Umwandlung in Solidaritätsverhältnisse. „Deutschland ist nach der „Sarrazin-Debatte“ ein gespaltenes Land. Aber die Trennlinie verläuft nur oberflächlich zwischen „den Muslimen“ und „dem Rest“ und nur temporär zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und jenen ohne. Die Trennlinie verläuft zwischen den „alten“ und den „neuen“ Deutschen und ihrer jeweiligen Vision von der Zukunft ihres Landes. Es sind zwei unterschiedliche Vorstellungen von Deutschland, die hier aufeinanderprallen. Das neue Deutschland wird sich in der Zukunft nicht mehr durch Herkunft, Genetik und Abstammungsstrukturen definieren können – dies erlaubt schon der demografische Wandel nicht mehr. Es wird sich trotzdem nicht abschaffen – es wird nur ethnisch und kulturell vielfältiger sein. Und Deutschsein gilt dann als Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land“ (Foroutan 2010, 15).
Die identitätspolitischen Hypotheken der Gegenwart lassen solche gesellschaftstheoretischen Prognosen als wunschbeladene Vorankündigungen einer Zukunft erscheinen, deren Eigenschaft gerade die Unsicherheit solcher Entwicklungen ist. Die Unsicherheit solcher Prognosen rührt aber auch daher, dass in sie die normativen Erwartungen und Zukunftsvisionen avantgardistischer Eliten einfließen, welche den eigenen, an sich marginalen Lebensrealitäten die diffusen Vorzeichen und Vorboten eines noch schwach ausgeprägten Identitäts- und Lebenswandels entnehmen und diese zur gesamtgesellschaftlichen Zukunftsoption verdichten. Die wenigen isolierten Fälle von Solidarisierung zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen, auf die man gegenwärtig zeigen kann, unterstreichen nochmals die Marginalität, die Exklusivität und den sporadischen Charakter dieser Form von Solidarisierung. Die Protestbewegungen von AsylbewerberInnen in Deutschland und Österreich im Herbst 2012 sind ein rezentes und eindrucksvolles Beispiel der Solidarisierung zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen, auch wenn die Protestaktivitäten wesentlich von einer intramigrantischen Solidarisierung und Selbstorganisierung von AsylbewerberInnen getragen wurden. Dennoch reflektieren die Aktivitäten, die Pressemitteilungen, die Deklarationen und Forderungen der Protestierenden die politischen Agenden einer breiteren Allianzbildung, welche AsylbewerberInnen, lokale aktivistische Gruppierungen und die Netzwerke transnationaler Protestbewegungen verbindet und so auch die
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zeitliche, inhaltliche, aktivistische Koordination der Proteste in verschiedenen Staaten und Städten, über größere Distanzen und unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen ermöglicht. Die entstandenen Solidaritätsverhältnisse sind noch sehr fragil, politisch auf „single issue“-Programme beschränkt und zeitlich mit einem Ablaufdatum versehen. Wie instabil solche Solidaritätsbeziehungen zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen auch sein mögen, auffallend ist dabei die Tatsache, dass sich gerade jene MigrantInnen um Solidarisierung bemühen, die am stärksten mit dem Rücken zur Wand stehen.20 Die fragilen zivilgesellschaftlichen Solidarisierungsverhältnisse können durch institutionalisierte Formen der Solidarisierung mit MigrantInnen eine Verstärkung erhalten. Ein international beachtetes Beispiel der institutionalisierten Solidarisierung mit MigrantInnen – in diesem Fall handelt es sich erneut um ein am stärksten entrechtetes und depraviertes Segment migrantischer Bevölkerung, den undocumented migrants – liefert die kanadische Metropole Toronto. Toronto erklärt sich zur sanctuary city, die unter dem Motto „Access without fear“ allen StadtbewohnerInnen ungeachtet ihres Status und ihrer formellen Rechtsansprüche Zugang zur kommunalen Infrastruktur, zu Ressourcen und Dienstleistungen öffnen will.21 Grundsätzlich gelten auch starke Politiken der Affirmative Action, wie Quotenregelungen für MigrantInnen, als ein effizienter politischer Hebel zur Institutionalisierung und Förderung der intragesellschaftlichen Solidarität zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen. Quotenmaßnahmen für MigrantInnen schaffen durch die Ermöglichung von sozialen Beziehungen und Interaktionen zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen in den gesellschaftli-
20 Die Solidarisierung mit MigrantInnen bildet auch eine unumgängliche (migrations)pädagogische Voraussetzung. Krassimir Stojanov thematisiert die Solidarität mit MigrantInnen als ein Nachempfinden jener „Leiderfahrungen“, denen MigrantInnen in Bildungssituationen durch den Ausschluss aus der „Argumentationsgemeinschaft“ der Educanden zugefügt werden (siehe Beitrag in diesem Band). Hier ist fraglich, ob die Diskursethik mit ihrer Überfokussierung auf die Reproduktion normativer Rationalität der passende Ansatz für die Analyse der Leidquellen ist, welche die solidarischen Verhältnisse mit MigrantInnen im Bildungsbereich energetisieren. 21 Näheres über das solidaritätspolitische Programm der Stadt Toronto ist zu finden unter www.toronto.nooneisillegal.org/node/779 (September 2013).
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chen Opportunitätsstrukturen die wichtigste Voraussetzung für Solidarisierung. Auch die zweite Spielart integrationsfördernder Solidarität – die intramigrantische Solidarisierung von MigrantInnen – befindet sich gegenwärtig in Migrationsgesellschaften wie Deutschland und Österreich in einem fragilen und unausgereiften Zustand. Das Antriebsmoment einer intramigrantischen Solidarität liegt nicht in der normativen Berufung auf politische Werte der „Solidarität“, sondern im Empfinden und Einsehen geteilter Problemlagen und in der Suche nach gemeinsamen Problemlösungen. Der kritischtheoretischen Suche von Schnittpunkten geteilter Problemauffassungen kommt eine besondere Bedeutung zu. Solidarität appellativ, argumentativ und reflexiv als eine politische Norm abzurufen, deren Umsetzung politisches Empowerment verspricht, wird der intramigrantischen Solidarisierung nicht den Antrieb geben können, den die kollektivbindenden Reaktionen auf geteilte Problemlagen entfalten können. Es ist naheliegend, die empirische Basis der Solidarisierung von MigrantInnen untereinander in Tendenzen der migrantischen Selbstorganisation zu suchen, um sich einerseits über die unausgeschöpften Potenziale solcher Tendenzen gewahr zu werden und andererseits die aktuelle Schwäche und Beschränktheit intramigrantischer Solidarität zu thematisieren. Wenn auch weit von einer Ausschöpfung der vollen Potenziale intramigrantischer Solidarität entfernt, stellt sich gegenwärtig nicht die Frage, ob MigrantInnen es schaffen, sich selbst zu organisieren. Vielmehr lautet die Frage, wie sich MigrantInnen politisch selbst organisieren und wie weit sie dabei gehen. Bekanntlich sind MigrantInnen in diversen Kultur-, Sport-, Berufsund Freizeitvereinen organisiert und durch Dachorganisationen nach Außen vertreten. Religionsgemeinschaften (Kirchen, Moscheen) und (formelle und informelle) ethnische Netzwerke spielen auch eine wichtige Rolle für das kommunale Zusammenleben vieler migrantischer Gruppen. Solche Organisationsformen von MigrantInnen in Deutschland und Österreich sind hinlänglich bekannt und erforscht worden (vgl. Haase/Müller 2012; vgl. Waldrauch/Sohler 2004). Vereinigungen auf Basis religiöser, sprachlicher, ethnischer Gemeinsamkeiten sind zweifelsohne wichtig für die Alltagsbewältigung, für die Pflege von Identität, Kultur und Heimatbeziehungen. Aber solche Organisationsformen bauen wenige Brücken für den Anschluss an die Opportunitätsstrukturen der Aufnahmegesellschaft. Vielmehr sind solche Organisati-
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onen in eine Schutzstellung gedrängt und können so ihren Mitgliedern wenig Anreize, Kompetenzen und wenig Unterstützung bieten, um sich in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft neue Teilhabemöglichkeiten zu erschließen. Für den letzteren Schritt bedarf es einer Steigerung der migrantischen Selbstorganisation. Zu dieser Steigerungsstufe der Selbstorganisation sind Verhältnisse der Solidarisierung gefragt, welche die herkömmlichen Marker von Gemeinsamkeit wie Sprache, Herkunft oder Religion deutlich überschreiten. Organisatorisch gehen die gesteigerten Verhältnisse migrantischer Solidarität weit über den derzeitigen Status quo von Kulturund Sportvereinen hinaus und kristallisieren sich in neuen Kollektivsubjekten mit einem größeren Gewicht und einem klareren Auftrag zur politischen Selbstvertretung nach dem Prinzip „in eigener Sache, aus eigener Hand“. Als „neue“ Kollektivsubjekte der politischen Partizipation von MigrantInnen kommt etwa eine MigrantInnen-Partei, -Bewegung oder -Allianz infrage, die dezidiert dem Kurs der Teilhabe am politischen Wettbewerb der repräsentativen Demokratie folgt. Eine derartige Perspektive der Steigerung migrantischer Selbstorganisation und politischer Partizipation steht aktuell weder politisch, noch wissenschaftlich, noch medial zur Debatte, ja, ein solches Szenario wird als Separatismusdrohung angesehen, was diesen Schritt auch für die Mehrheit von MigrantInnen unvorstellbar macht. Gerade diese Unvorstellbarkeit und Verschwiegenheit über die parteipolitische Selbstorganisierung und -vertretung von MigrantInnen macht aus meiner Sicht das Aufgreifen des Themas zu einer Bringschuld kritischer Sozialforschung. Die Steigerung migrantischer Solidarität in Richtung parteipolitischer Selbstorganisation und Selbstvertretung ist ein Thema, das hier nicht mit der gebührenden Vertiefung und Ausführlichkeit weiter verfolgt werden kann. Bereits das gesellschaftstheoretische Trivialwissen spricht aber dafür, eine derartige Perspektive ernst zu nehmen und nicht als eine utopische, unrealistische oder kontraproduktive Entwicklung abzutun. Erst die Selbstorganisierung von MigrantInnen in Parteien oder als sonstige Kollektivsubjekte, die sich am politischen Wettbewerb vollwertig beteiligen, kann ihre Aussichten zum Einstieg und Aufstieg in den gesellschaftlichen Opportunitätsstrukturen (und zwar in allen sozialen Bereichen) entscheidend verbessern. Anders als einzelne Individuen haben in den gegenwärtigen repräsentativ-demokratischen Gesellschaften des Westens politisch organisierte Kollektivsubjekte (Parteien, Gewerkschaften, Interessensvertretungen) eine wesentlich bessere Ausgangsposition und größere Chancen zur Mitbestim-
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mung und Partizipation. Politisch vertretene und mitbestimmende Kollektive können mit einer stärkeren Resonanz auf ihre Anliegen, mit ernsthaft geführten Diskussionen ihrer Agenden, mit deren tatsächlicher Umsetzung sowie mit der Wertschätzung ihrer kollektiven Identitäten (durch Institutionen oder im Alltag) rechnen. Auch für deren einzelne Mitglieder vergrößern sich die Chancen beim Einzug oder Aufstieg in den Opportunitätsstrukturen, etwa bei der Arbeits- oder Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der Schule, auf der Universität, am Amtsschalter nicht diskriminiert oder sonst wie schlechter behandelt zu werden. Schließlich verbessert die Selbstorganisierung von MigrantInnen in neuen politischen Kollektivsubjekten nicht nur die Aussichten ihrer Partizipation, sondern verändert auch die materiellen, normativen und personellen Voraussetzungen von Partizipation. Institutionen und Gremien werden personalpolitisch bunter besetzt, ihre Prioritäten und Arbeitsagenden werden inklusiver gegenüber MigrantInnen und es wird selbstverständlich, dass ihre Regularien und Praktiken auch von migrantischer Hand mitgestaltet werden.
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Das Konzept des Verbündet-Seins im Social Justice als spezifische Form der Solidarität G UDRUN P ERKO & L EAH C AROLA C ZOLLEK
Social Justice bedeutet partizipative Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit.1 Im Kontext von Social Justice-Theorien wurden Methoden zugunsten von Antidiskriminierung, Partizipation, Inklusion (im weiteren Sinne) und Empowerment gegen strukturelle Diskriminierung2 entwickelt. Im Zentrum des Projektes Social Justice steht die von uns ausgearbeitete Idee des Verbündet-Seins, der politischen Freundschaft, wo die Anliegen der Anderen die je eigenen Anliegen sind. Dabei ist kein identitäres Wir, sind keine identitätslogischen Merkmale als Bedingung für ein Verbündet-Sein gegeben, weder in Bezug auf Einzelpersonen noch in Bezug auf Gruppen respektive hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns. Die Idee des VerbündetSeins als spezifische Form von Solidarität richtet sich gegen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und die dadurch hergestellte Exklusion, strukturelle
1
Zur Theorie und zum Konzept Social Justice und Diversity vgl. Czollek/ Perko/Weinbach 2012.
2
Unter struktureller Diskriminierung wird das Ineinandergreifen von Diskriminierung auf individueller, institutioneller und kultureller Ebene verstanden, die verschiedene Teilaspekte aufweisen kann wie Ausgrenzung, Gewalt, Unterdrückung, Marginalisierung etc. und die einhergeht mit Stereotypisierung, Vorurteilsbildung etc. (vgl. ebd.).
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Diskriminierung und soziale Ungleichheit bestimmter Menschen aufgrund spezifischer Diversitykategorien wie Geschlecht, Alter, zugewiesener Behinderung, kulturelle Herkunft, soziale Herkunft, Hautfarbe etc. (vgl. Czollek/Perko/Weinbach 2012). Das Konzept des Verbündet-Seins erscheint uns als eine sinnvolle pluralgesellschaftliche und damit auch migrationsgesellschaftliche Perspektive, insofern es nicht mein „Ich“ ins Zentrum des Handelns stellt, sondern den Anderen, der mir nicht gleichen muss. Mit der jeweils eigenen Entscheidung, für Menschen Verbündete_r zu sein, wird zudem strukturelle Diskriminierung, der bestimmte Menschen ausgesetzt sind und über die sie verletzt werden, in den Blick des Handelns für Menschen gerückt. Dabei wird im Kontext des Verbündet-Seins auch Sprechen als (Sprech-)Handlung aufgefasst. Der Ansatz des Verbündet-Seins ist keine moralisch zu verallgemeinernde Anrufung eines bestimmten Tuns oder Handelns. Vielmehr steht die eigene Entscheidung für verbündete (Sprech-) Handlungen im Zentrum, deren Intention die Beendigung jeder Form von Diskriminierung und damit die Verwirklichung von Social Justice ist. In unserem Beitrag stellen wir das Konzept der Verbündet-Seins vor, in dem Menschen ihre eigenen Privilegien reflektieren, sich für Rechte und Gerechtigkeit im Sinne von Social Justice einsetzen, auch auf das Risiko hin, dass sich ihr eigener privilegierter Status verändert.
D AS V ERHÄLTNIS VON S OLIDARITÄT UND V ERBÜNDET -S EIN In der Beschreibung von Solidarität finden sich bei Mau (2008) folgende, hier kurz skizzierte, klassische Formen: Eigennutzsolidarität beschreibt eine besondere Form sozialer Kooperation, die aus gegenseitigen Abhängigkeiten von unterschiedlichen Interessen entsteht: Z. B. wenn in Berlin Schulen in Neukölln unterstützt werden, um den sozialen Frieden zu erhalten. Verbundenheitssolidarität beschreibt Zusammengehörigkeitsgefühle zwischen Mitgliedern sozialer Gruppen, beispielsweise aufgrund von Sympathie, Gefühlen, emotionaler Nähe, die die Grundlage für ein solidarisches Verhalten einzelner Mitglieder untereinander und für den Zusammenhalt der Gruppe bilden. Bürger_innensolidarität bezieht sich auf die Staatsbürgerschaft und die Rolle der Menschen als
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Staatsbürger_innen. Diese Art der Solidarität ist weitgehend verrechtlicht und damit entpersonalisiert (Solidarprinzip im Wohlfahrtsstaat). Bewegungssolidarität betrifft soziale und politische Bewegungen, deren Zusammenhalt z. B. identitätslogische Merkmale sind (z. B. Klassensolidarität). Mitgefühlssolidarität bezeichnet eine Solidarität aus freier Entscheidung aufgrund von Mitgefühl gegenüber Menschen (Einzelnen oder Gruppen), die in Not geraten sind. Diesen Formen fügen wir das Verbündet-Sein als eine spezifische Form von Solidarität hinzu, dessen zentrales Merkmal darin besteht, dass alle Menschen an allen Ressourcen einer Gesellschaft partizipieren können sollen. Dabei ist nicht Voraussetzung, dass Menschen ein Opferstatus oder ein bestimmtes identitäres Merkmal zugeschrieben wird, um Verbündete zu sein, sondern eine ethisch-politische Haltung, die – ungeachtet von Sympathie, emotionaler Nähe, Angehörigkeit zu einer Gruppe oder Eigennutz – Partizipation ermöglicht. Die Intention von Verbündet-Sein ist letztlich die Sichtbar- und Hörbarmachung der Pluralität von Menschen, die bislang struktureller Diskriminierung und Exklusion erfahren bzw. ausgesetzt sind. Im Folgenden beschreiben wir die Charakteristika des Konzeptes des Verbündet-Seins.
D AS K ONZEPT WAS ZEICHNET
DES V ERBÜNDET -S EINS V ERBÜNDETE AUS ?
–
Verbündete sind Menschen, die in bestimmten Kontexten zu privilegierten sozialen Gruppen gehören und ihre soziale Macht nutzen, um sich gegen Ungerechtigkeit und strukturelle Diskriminierung nicht privilegierter Menschen einzusetzen (vgl. Adams/ Bell/Griffin 1997; 2007). So kann eine Person beispielsweise in Bezug auf soziale Herkunft zwar zur nicht privilegierten Gruppe, in Bezug auf Geschlecht und sexueller Orientierung aber zur privilegierten Gruppe gehören. Aus dieser privilegierten Situation heraus, kann diese Person Verbündete sein für Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts und/oder sexuellen Begehrens Diskriminierung erfahren. Dieses Beispiel veranschaulicht Verbündete im Kontext des Privilegiert-Seins. Das bedeutet, dass Menschen als Akteur_innen im „eigenen“ Kontext (sich beispielsweise als Migrant_in für Migrant_innen einsetzen oder sich als Schwuler für die Rechte von Schwulen einsetzen) politische Akteur_innen
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sind. Verbündete können ebenfalls politische Akteur_innen sein, gehören aber im Prozess des Verbündet-Seins weder dieser oder jener Gruppe an: Sie setzen sich ein für die Rechte und Belange von Menschen, die in anderer Weise nicht so privilegiert sind wie sie selbst. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen Repräsentation und Handeln, oder wie Hakan Gürses das „Subjekt der Handlung“ im Gegensatz zum „Subjekt der Repräsentation“ beschreibt: „Ich handle, und in diesem Moment bin ich ein Subjekt: Subjekt der Handlung. Ich stehe als Individuum hinter meiner Tat, ich bin der/die TäterIn hinter der Tat – ohne dafür einen kollektiven Namen annehmen zu müssen. Und ohne nur eine Anzeige (ein kollektives Subjekt) als Handlungsgrundlage wählen zu müssen. Ich muss mich nicht als schwul, Migrant oder Schwarzer bezeichnen, um als Individuum gemeinsam (oder manchmal auch nicht) mit anderen Individuen gegen die Macht (die im Subjekt der Repräsentation angezeigt wird) zu kämpfen: unabhängig davon, ob die anderen Individuen, die MitkämpferInnen, sich als schwul, MigrantIn oder Schwarze bezeichnen (bezeichnet werden)“ (Gürses 2004, 151).3
Im Sinne des Handelns als bewusstem Akt, Bestehendes verändern zu wollen, können auch Verbündete sich daran beteiligen, ohne ein spezifisches Merkmal mit den Handelnden zu teilen.4 Das (politische) Handeln ist eine mögliche Form des Verbündet-Seins, eine andere wäre das individuelle Tun oder Agieren. Ein Beispiel: Wird ein
3
Das Subjekt der Repräsentation hingegen „zeigt eine Gruppe an, deren Mitglieder aufgrund einer Differenz (oder mehrerer Differenzen) Ausschluss, Diskriminierung, Benachteiligung oder Unterdrückung und Gewalt erfahren. Sie stehen ‚im Auge der Macht‘, werden von ihr geformt, oft auch vereinnahmt, jedenfalls als ‚Andere‘ definiert. Die eigentliche ‚Urerfahrung‘ all dieser Personen liegt darin, dass sie einer Gruppe der ‚Anderen‘ zugeschlagen wurden. Sie tragen in ihrem kollektiven Namen stets die Spur der sozialen Konstruktion“ (Gürses 2004, 149).
4
Die Auseinandersetzungen in Bezug auf Voraussetzungen oder nicht Voraussetzungen eines gemeinsamen Handelns sind nach wie vor divergierend. Im Kontext dekonstruktivistischen Denkens wird die Aufgabe von identitätspolitischen Merkmalen nicht gleichgesetzt mit dem Verlust des Politischen bzw. der Möglichkeit politischen Handelns.
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Lehrer im Unterricht von Schüler_innen gefragt, ob er schwul sei, so wäre eine mögliche Antwort im Sinne des Verbündet-Seins, sich nicht als heterosexuell zu bezeichnen und damit nicht die normative Logik aufrechtzuerhalten. Verbündet-Sein würde bedeuten, die eigene Positionierung nicht ins Zentrum zu stellen, sondern in der Schwebe zu halten oder das Schwul-Sein (ohne es selbst sein zu müssen) zu bejahen. Ein weiteres Beispiel: Wird einem_r Schüler_in ein Migrationshintergrund zugewiesen, zeigen die Analysen aus dem Bildungsbericht 2012, dass diese Schüler_innen deutlich weniger Empfehlungen für weiterführende Schulen erhalten. VerbündetSein würde hier bedeuten, sich der gesellschaftlichen Strukturen bewusst zu werden und davon ausgehend tatsächlich gleiche Bewertungsmaßstäbe für alle Schüler_innen heranzuziehen, indem ein anonymisiertes Verfahren bei Bewertungen angewandt wird. (Diese zwei Beispiele werden weiter unten nochmals im Hinblick auf mögliche Reflexionsebenen und Handlungsmöglichkeiten im Verbündet-Sein aufgegriffen). Verbündete haben ein Bewusstsein für eigene sozial konstruierte Gruppenzugehörigkeiten und sozial konstruierte Identitäten. Mit ihrem Handeln bzw. Tun in ihrem jeweiligen Kontext übernehmen sie Verantwortung dafür, die Perspektiven von benachteiligten bzw. diskriminierten Gruppen sichtbar und Unterdrückungsmechanismen thematisierbar zu machen. Verbündet-Sein bezieht sich auf einzelne Menschen und auf Gruppen, die struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind. Aus dem Wissen und der Erkenntnis struktureller Benachteiligung und Diskriminierung beispielsweise im schulischen Kontext heraus, können Verbündete dieser Diskriminierung individuell (oder gemeinsam mit anderen Verbündeten) entgegenwirken. Dies setzt voraus, die Perspektiven von benachteiligten Menschen zu respektieren, wahrzunehmen, anzuerkennen und damit ein Interesse zu haben an den jeweiligen Lebensrealitäten von Menschen, die immer auch gesellschaftlich im Sinne von Privilegiert-Sein oder nicht Privilegiert-Sein bestimmt sind. Insofern arbeiten Verbündete an der Umverteilung von Privilegien. Zwar ist es nicht möglich, den eigenen Status zu verteilen (eine Person mit deutscher Staatsbürgerschaft kann nicht die Staatsbürgerschaft an eine andere Person verschenken), doch ist es möglich, vorhandene Ressourcen für andere einzusetzen und/oder abzugeben: So kann sich ein_e Lehrend_er dafür einsetzen, dass benachteiligte Schüler_innen eine gerechte Empfehlung für die weiterführende Schule erhalten. Im achtsamen Umgang mit eigenen Kräften geht es in Prozessen des Verbündet-Seins immer auch
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darum, Risiken und das breite Spektrum möglicher Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Zum Beispiel: Ich kann geoutet werden, wenn ich mich nicht als heterosexuell positioniere; ich kann Mobbing und den Verlust der Anerkennung erfahren, wenn ich mich für benachteiligte Menschen einsetze; und schließlich kann ich auch das Risiko eingehen, dass sich der eigene privilegierte Status verändert. Risiken basieren darauf, Rassismus, Heterosexismus, Antisemitismus, Antiromanismus etc. zu benennen und im Sinne des Verbündet-Seins dagegen zu agieren respektive zu handeln. Das ist der Moment, in dem das individuelle Tun bzw. Agieren im Sinne des Verbündet-Seins zum politischen Moment des Sprechens und Handelns bzw. auch der Sprachhandlungen wird. Verbündete agieren gegen Ungerechtigkeit und strukturelle Diskriminierung, auch wenn spezifische Inhalte bzw. Gegenstände nicht in ihrem unmittelbaren Interesse liegen. Wenngleich persönliche Motivationen für Verbündet-Sein sehr unterschiedlich sein können, geht es weder um Belohnung noch um Anerkennung der eigenen Person, auch nicht um Reziprozität. Vielmehr ist es darum zu tun, sich immer wieder mit eigenen Verhaltensmustern sowie mit gesellschaftlichen Machtund Herrschaftsverhältnissen auseinanderzusetzen und an Veränderungen von Ungerechtigkeit und Diskriminierungsstrukturen in den je eigenen und möglichen Kontexten zu arbeiten. Insofern ist das Konzept des VerbündetSeins an die Idee von Social Justice gebunden, bei der es um partizipative Anerkennung und Verteilungsgerechtigkeit (vgl. Young 1996)5 und um das
5
Bei der Idee des Social Justice geht es explizit um die Verteilung und Teilhabe von und an Gütern in der Gesellschaft. Dabei bedeutet Verteilungsgerechtigkeit, eine Gesellschaft dahingehend zu gestalten, dass die Ressourcen so verteilt sind, dass alle Menschen physisch und psychisch in Sicherheit und Wohlbefinden leben können. Anerkennungsgerechtigkeit meint, eine Gesellschaft so zu gestalten, dass niemand individuell, institutionell und kulturell diskriminiert wird, sondern partizipativ anerkannt wird. Zugleich geht es um eine Erweiterung von Verteilung und Teilhabe hinsichtlich der Fragen, wer an welchen Stellen aus welchen Gründen über Entscheidungsvermögen und Anweisungsmacht verfügt, wie die Arbeit aufgeteilt ist und welche kulturellen Reproduktionsmechanismen dabei eine Rolle spielen (vgl. Young 1996).
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Begreifen von Capabilities auch als soziale Güter geht, die ebenso fair verteilt werden müssen wie ökonomische Güter (vgl. Nussbaum 1999; 2010).6 Beim Verbündet-Sein geht es immer um das Verhältnis zwischen Menschen mit Privilegien in einem bestimmten Kontext und Menschen, die in diesem Kontext keine Privilegien besitzen. Es ist auf die individuelle Ebene (Verhalten und Tun) ebenso gerichtet wie auf die institutionelle Ebene (z. B. im Sinne der Mitgestaltung einer barrierefreien Institution) und auf die kulturelle Ebene (z. B. die Einmischung in Diskurse und Normverankerungen; Vermittlung pluraler Werte etc.). Verbündet-Sein ist mit der Erkenntnis verbunden, dass die Auseinandersetzung mit Benachteiligung und struktureller Diskriminierung ein lebenslanger Prozess ist und kein einmaliges Ereignis. In diesem Kontext können Verbündete sich immer auch mit anderen Verbündeten verbünden, um ihre Wirkungsmöglichkeit in Bezug auf die individuelle, die institutionelle und die kulturelle Ebene des Handelns und/oder Tuns zu verstärken.
6
Young definiert im Kontext der Social Justice-Theorie Gerechtigkeit „[…] als das Vorhandensein von institutionellen/strukturellen Voraussetzungen, die es allen ermöglichen, befriedigende Fähigkeiten in sozialen Umfeldern zu erlernen und auszuüben; an Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein und ihre Gefühle, Erfahrungen und Perspektiven, die sie auf das gesellschaftliche Leben und mit ihm haben, in Kontexten artikulieren zu können, in denen andere ihnen zuhören können.“ (Young 1996, 91, Übers. d. A.). Nussbaum pointiert Gerechtigkeit im Kontext ihres Capability Approach als Befähigungsansatz bzw. FähigkeitenAnsatz oder Verwirklichungschancen-Ansatz, in dem sie eine Liste von Grundfähigkeiten (z. B. Leben, körperliche Gesundheit, kognitive Fähigkeiten, aber auch die Fähigkeit zur politischen Partizipation und Mitbestimmung) benennt, für deren Verwirklichungsmöglichkeit der Staat den institutionellen Rahmen zu stellen hat, folgendermaßen: „Eine Gesellschaft gilt als sozial gerecht, wenn sie gewährleistet, dass Menschen die Grundfähigkeiten ausbilden können“ (vgl. Nussbaum 2010, 48).
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V ERBÜNDET -S EIN , WO DIE A NLIEGEN DER A NDEREN DIE JE EIGENEN A NLIEGEN
SIND
Verbündet-Sein ohne Gebundenheit an identitätslogische Merkmale kann im affirmativen Sinne formuliert werden als Verbündet-Sein, wo die Anliegen der Anderen die je eigenen Anliegen sind. Das Konzept des VerbündetSeins setzt keine identitätslogischen Merkmale zwischen den Verbündeten und den unterstützten Menschen voraus und ist charakterisiert als spezifische Form von Solidarität. Analog zu Identitätspolitiken sind Identitätslogiken immer einem Einschluss- und Ausgrenzungsverfahren geschuldet. Am weitesten in der Mathematik ausgearbeitet, basiert identitätslogisches Denken auf Binaritäten 0–1, A–B, die innerhalb der griechisch-okzidentalen Philosophie mit Inhalten gefüllt und bewertend hierarchisiert wurden: Wirklichkeit/Fiktivität, Geist/Körper, Kultur/Natur, Ordnung/Chaos, Reinheit/Unreinheit, Mann/Frau, Gut/Böse, Weiß/Schwarz, Wir/Ihr etc. In einem Denkschema von positiv und negativ eingeordnet, werden aus den logischen Binaritäten A–B dichotome Polarisierungen, mit denen hierarchisch eingeteilt und bewertet wird: Das jeweilige A wurde/wird als das Bessere, höher Stehende und Ursprüngliche gesetzt. Während in der Identitätslogik bei A=A die Bedeutung des Ident-Seins ins Zentrum rückt, wäre es im Hinblick auf Formen zwischenmenschlichen Daseins und Unterstützens die Kategorie der Gleichheit als relative Übereinstimmung zwischen Menschen, die in Form von geteilten Identitätsmerkmalen vorgestellt wird. Historisch rückblickend kann die Auswirkung dieses identitätslogischen Denkens in vielen Kontexten ausgelotet werden. Beispielsweise auch in der Neuen Frauenbewegung, wobei das Merkmal A (Frau) das verbindende war. Dieser Prozess der Identitätslogik ist gegenwärtig in Instrumenten wie Gender Mainstreaming als Merkmal A (Frau) oder Merkmal B (Mann) zur Erlangung von Gleichbehandlung und Chancengleichheit wahrnehmbar, wenngleich ohne die oben genannte hierarchische Bewertung. Die Kategorie der Gleichheit kann sich auch auf Fragen der Mitgliedschaft bzw. NichtMitgliedschaft beziehen, wie Paul Mecheril, rekurrierend auf die Flüchtlingsgespräche von Berthold Brecht, schreibt: „Weil natio-ethno-kulturelle Kontexte soziale Wirklichkeiten der Differenzierung zwischen jenen und solchen sind (jenen mit Pass und jenen ohne Pass, Anm. d. A.), operieren sie mit dem Prinzip der Mitgliedschaft. Die Gleichartigkeit, die natio-
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ethno-kulturelle Mitgliedschaft in einem grundlegenden Sinne anzeigt, verdankt sich dem Umstand, dass natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft ein Phänomen ist, das in einem binär kodiertem Rahmen kodiert und praktiziert wird. […] Dem binären Organisationsprinzip von Mitgliedschaft zufolge bin ich entweder Mitglied oder NichtMitglied. Kann ich die bedeutsamen Merkmale vorweisen, bin ich Mitglied. Vermag ich dies nicht, bin ich kein Mitglied.“ (Mecheril 2012, 32)
Würde sich eine gegenseitige Unterstützung jeweils von A zu A (von „Frau zu Frau“, von „Mitglied zu Mitglied“ etc.) beschränken, so verhielte sich das diametral zum Konzept des Verbündet-Seins. Eine Unterstützung für Menschen ohne identitätslogische Gebundenheit zwischen Verbündeten und Unterstützten erfordert das Verlassen einer Logik, in der die Kategorie der Gleichheit als relative Übereinstimmung zwischen Menschen im Zentrum steht. In diesem Prozess des Verbündet-Seins rückt das oben beschriebene Interesse an Veränderung und zugleich das Interesse am Anderen als Anderer (nicht als Alter Ego) ins Zentrum: Verbündete unterstützen nicht, weil sie das identitätslogische Merkmal A oder B mit anderen teilen, sie unterstützen Andere in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit. In abstrakter Weise ausgedrückt, basiert das Konzept des VerbündetSeins auf Momenten pluraler Logiken: Es geht von einer Mehrdimensionalität aus, von einem immer mehr als A und B respektive immer mehr als C (im Kontext einer systematischen Dialektik, in der These A und Antithese B in der Synthese C münden, in ihr aufgehoben sind) und rekurriert auf Möglichkeiten der Gleichzeitigkeit (A kann in bestimmten Kontexten bezogen auf bestimmte „Merkmale“ privilegiert und gleichzeitig hinsichtlich anderer Kontexte und „Merkmale“ diskriminiert sein). In diesem Sinne fokussiert Verbündet-Sein weder ein geteiltes identitätslogisches bzw. identitätspolitisches Merkmal noch ein Alter Ego, sondern fokussiert – jeweils kontextualisierend – die Frage von Privilegien und Nicht-Privilegien im Zusammenhang mit Benachteiligung, Exklusion und struktureller Diskriminierung. Insofern unterscheidet sich das Konzept des Verbündet-Seins von einer paternalistischen Haltung anderen Menschen gegenüber.
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R EFLEXIONSEBENEN UND H ANDLUNGS MÖGLICHKEITEN IM V ERBÜNDET -S EIN Hier greifen wir die zwei oben genannten Beispiele nochmals auf, um zu fragen, welche Reflexionsebenen im Sinne des Verbündet-Seins sinnvoll wären. Ein Lehrer wird im Unterricht von Schüler_innen gefragt, ob er schwul sei… Intention des verbündeten Handelns kann hier sein, keine normative Logik aufrechtzuerhalten, sondern die Anerkennung von Schwul-Sein als eine mögliche Form der Lebensweise und der Alchemie des Begehrens zu vermitteln. Was kann ich als Lehrende reflektieren? Kulturellgesellschaftliche Ebene
Institutionelle Ebene
Individuelle Ebene
Normalitätskonstruktionen heterosexuellen Begehrens.
Empirische Fakten zu Diskriminierung von Schwulen an Schulen und Institutionen.
Einfluss der kulturellen, gesellschaftlichen und institutionellen Ebenen auf mein professionelles Sprechen und Handeln (kulturell geprägte Genderbrille).
Heteronormativität. Gewalt.
Adoptionsrecht, Institution der Ehe, Steuerrecht etc.
Eine Handlungsmöglichkeit wäre, ausgehend von der Reflexion, beispielsweise nicht mit der Aussage zu reagieren: „Nein, ich bin nicht schwul, aber…“. Damit würde ich mich auf die Seite der vermeintlichen Normalität des Begehrens stellen und Schwul-Sein abermals viktimisieren, in dem ich vermeintliche Normalität und Schwul-Sein in ein bewertendes hierarchisches Verhältnis bringe. Dagegen wären Aussagen wie – „Ja, ich bin es…“ (ohne es zu sein) oder „warum ist es für Dich wichtig, das zu wissen…“ oder „komm in der Pause zu mir, um darüber zu reden…“ – eine Möglichkeit, der normativen Logik entgegenzutreten und sich damit explizit gegen
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Diskriminierung zugunsten der Anerkennung von Schwul-Sein zu verhalten. Einer Schülerin mit Migrationshintergrund wird keine gerechte Empfehlung für eine weiterführende Schule gegeben… Intention des verbündeten Handelns kann hier sein, gegen strukturelle Einflüsse und Wirklichkeiten zu entscheiden und mehr Partizipation zu ermöglichen. Was kann ich als Lehrende reflektieren? Kulturellgesellschaftliche Ebene
Institutionelle Ebene
Individuelle Ebene
Prozesse und Mechanismen des Othering7 (z. B. aufgrund von kultureller und/oder sozialer Herkunft und Aussehen).
Empirische Fakten zu Diskriminierung von Migrant_innen an Schulen und Institutionen.
Einfluss der kulturellen, gesellschaftlichen und institutionellen Ebenen auf mein professionelles Sprechen und Handeln (kulturell und gendergeprägte Brille).
Kein gleicher Zugang zur Bildung, zum Arbeitsmarkt…
Eine Handlungsmöglichkeit wäre, ausgehend von der Reflexion, über ein anonymisiertes Verfahren der Bewertung von Kenntnissen und Fähigkeiten von Schüler_innen Abstand zu nehmen von Stereotypen und Zuschreibungen und ein gerechtes Beurteilungssystem zu etablieren. Das kann sowohl institutionell erfolgen als auch individuell im eigenen Lehrraum.
7
Othering bezeichnet den Prozess, in dem Menschen im negativen Sinn zu Anderen gemacht werden. Im Deutschsprachigen wird zur Zeit auch der Begriff Verandern verwendet.
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M ÖGLICHE D ILEMMATA IM V ERBÜNDET -S EIN Die (vermeintliche) Übereinstimmung von Denken, Empfinden, Wahrnehmen und Handeln usf. ist ein Moment von identitätslogischen Merkmalen. Im Konzept des Verbündet-Seins ohne Gebundenheit an solche Merkmale kann sich dieses Moment in Dilemmata zeigen, weil die Inhalte von Denken, Empfinden, Wahrnehmen und Handeln usf. plural und damit nicht bestimmbar sind: So können Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, was andere daraus machen, ist nicht bestimmbar. Ein weiteres Dilemma kann sich darin zeigen, dass potenziell Verbündete nicht in jedem Fall Verbündete sind: So kann in einer privilegierten Position beispielsweise des Geschlechts gerade dieses „Merkmal“ so vulnerabel sein, dass aus dieser Position heraus im Sinne des Verbündet-Seins nicht gehandelt werden kann. Verbündet-Sein ist nicht forderbar. Wenngleich das Konzept des Verbündet-Seins auf keine Polarisierung oder bewertende Addition von Diskriminierungsformen abzielt, sondern jede Diskriminierung gleich ernst genommen und sie zugleich in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit und Verbundenheit mit anderen Diskriminierungen (Intersektionalität) wahrgenommen wird, zeigt sich auch darin ein Dilemma. Verbündete sind eingebunden in ihre jeweils eigenen biografischen und gesellschaftlichen Kontexte, die den Blick auf die Welt bestimmen und färben. Dieser Blick kann gefärbt sein durch Kontexte der Privilegierung und Kontexte der Nicht-Privilegierung. Insofern kann gerade die Annahme von Nichthierarchisierung von Diskriminierung sehr schmerzlich sein: Sind meine Geschichte, meine Erfahrungen etc. beispielsweise geprägt von Klassismus, dann kann es herausfordernd sein, meinen Blick auf andere Diskriminierungsformen so zu richten, dass ich diese gleich ernst nehme wie jene, die ich persönlich erfahren habe.
E PILOG Verbündet-Sein ist eine Anrufung an den_die je Einzelne_n, wir sehen – um mit Levinas (1999) zu sprechen – in das Antlitz des_der Anderen, das uns in seiner_ihrer Verletzlichkeit provozieren kann zur Gewalt, aber auch sagt, ‚Du sollst mich nicht töten‘. Das Antlitz des_der Anderen ist so auch eine Anrufung zum Verbündet-Sein, das mit der von Hannah Arendt be-
VERBÜNDET-SEIN | 165
schriebenen „politischen Freundschaft“ (Arendt 1967, 238) verglichen werden kann, in dem das Interesse an den Anderen, das Interesse an der Welt, im Mittelpunkt steht.
L ITERATUR Arendt, Hannah (1967): Vita Activa oder vom tätigen Leben, München Adams, Maurianne/Bell, Lee Anne/Griffin, Pat (Hg.) (1997 und 2007): Teaching for diversity and social justice. A sourcebook, New York/ London Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hg.) (2012): Bildung in Deutschland 2012, Bildungsbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Bielefeld; www.bildungsbericht.de/daten2012/ bb_2012.pdf#page=131 (5.12.2013) Deutscher Bundestag: Bericht über E-Partizipation 2012; www.bundestag. de/dokumente/textarchiv/2012/38163897_kw12_pa_enquete_internet/ (20.02.2014) Czollek, Leah Carola/Perko, Gudrun/Weinbach, Heike (2012): Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen, München/Weinheim Gürses, Hakan (2004): Das „untote“ Subjekt, die „ortlose“ Kritik, in: Perko, Gudrun/Czollek, Leah Carola (Hg.): Lust am Denken: Queeres jenseits kultureller Verortungen. Das Befragen von Queer-Theorien und queerer Praxis hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf andere Sphären als Sex und Gender, Köln Levinas, Emmanuel (1999): Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, München Mau, Steffen (2008): Europäische Solidaritäten, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Zeitschrift APuZ. Internationale Solidarität, 21/2008; www.bpb.de/apuz/31218/europaeische-solidaritaeten?p=all (8.12.2013) Mecheril, Paul (2012): Ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen, in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.): Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft. Reflexion einer Arbeitstagung 2011, Stuttgart; www.ifa.de/fileadmin/pdf/edition/kunstvermittlung_migrati ons-gesellschaft.pdf (6.9.2013)
166 | G UDRUN P ERKO & L EAH C AROLA C ZOLLEK
Nussbaum, Martha C. (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. Nussbaum, Martha C. (1999): Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a. M. Young, Iris Marion (1996): Fünf Formen der Unterdrückung, in: NaglDocekal, Herta/Pauer-Studer, Herlinde (Hg.): Politische Theorie, Differenz und Lebensqualität, Frankfurt a. M.
Die Europäische Union – eine Solidargemeinschaft auch für Roma? S ABINE H ORNBERG
Die Gründer der heutigen Europäischen Union (EU) waren vor dem Hintergrund von zwei Weltkriegen von der Vision geleitet, ein friedliches, auf Demokratie, Solidarität und Wahrung der Menschenrechte aufbauendes, vereintes Europa zu schaffen. Ein erster Meilenstein auf diesem Weg war 1952 das Inkrafttreten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), auf das 1957 die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und 1993 mit dem Vertrag von Maastricht die Gründung der heutigen EU folgte. In den seit seiner Gründung vergangenen gut sechs Jahrzehnten ist die ursprünglich sechs Mitgliedsstaaten umfassende Gemeinschaft auf heute 28 Mitgliedsstaaten angewachsen; der Einfluss der EU prägt gegenwärtig sämtliche gesellschaftlichen Teilbereiche; kontinuierliche Aushandlungsprozesse zwischen der supranationalen Organisation EU und ihren nationalstaatlich verfassten Mitgliedsstaaten kennzeichnen das Zusammenspiel dieser Akteurinnen und Akteure. 2012 überraschte das norwegische Nobel-Komitee mit seiner Entscheidung, die EU für ihr Engagement für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen. Begründet wurde diese Ehrung unter anderem mit der Osterweiterung der EU, in deren Folge 2004 (neben Malta und Zypern) Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechische Republik und Ungarn, 2007 Bulgarien und Rumänien sowie 2013 Kroatien der europäischen Staatengemeinschaft beigetreten sind. Weitere Erweiterungen sind zu erwarten:
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Mazedonien und Serbien sind offizielle Beitrittskandidaten, Albanien, Bosnien-Herzegowina und das Kosovo potenzielle Beitrittskandidaten. Die Lebens- und Bildungssituation von Roma beschäftigt die EU nicht erst seit der erfolgten Osterweiterung; sie findet seitdem jedoch eine stärkere Berücksichtigung, und zwar nicht nur im Kontext dieser supranationalen Organisation, sondern auch ihrer Mitgliedsstaaten. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Roma über kein eigenes Staatsterritorium verfügen, sondern in allen Teilen Europas leben, wenngleich unterschiedlich stark verteilt. Hohe Anteile von Roma finden sich in den Staaten Ost- und Südosteuropas. Ihr Leben ist, dies zeigen die im Folgenden berichteten empirischen Befunde, oftmals von Diskriminierung, Erwerbslosigkeit, Armut, schlechten Wohnverhältnissen, gesundheitlichen Mangelerscheinungen und geringer Bildungsbeteiligung gekennzeichnet. Dies ist jedoch nur die eine Seite: Auf der anderen Seite, und es ist wichtig, dies hier hervorzuheben, sind Roma gut in die europäischen Staaten und Gesellschaften integriert.1 Mit Blick auf die an die Ränder der europäischen Gesellschaften verdrängten Roma haben die Mitgliedsstaaten der EU und der Europäische Rat 2011 den „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020“ abgesteckt, an den auch die Bundesrepublik Deutschland anknüpft (vgl. BMI 2011, 10). 2005 verabschiedeten die Regierungen von Bulgarien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Ungarn, Mazedonien, Rumänien, Serbien und der Slowakei ihre Erklärung zur „Decade of Roma Inclusion, 2005-2015“ (Dekade der Roma Inklusion), in der sich die Regierungen dieser Staaten verpflichtet haben, zur Beseitigung der Diskriminierung von Roma beizutragen und Maßnahmen für ihre umfassende Integration zu fördern; die dazu erstellten nationalen „Decade Action Plans“ geben die Ziele und Instrumente zu ihrer Erreichung in den Bereichen Diskriminierung, Beschäftigung, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge und Bildung vor. In diesem Kontext entstand ferner der Roma Education Fund, der dem Ab-
1
Dieser Text basiert auf einem Gutachten, das ich 2013 für den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration für sein Jahresgutachten 2013 verfasst habe (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hg.) (2013): Erfolgsfall Europa? Folgen und Herausforderungen der EU-Freizügigkeit für Deutschland. Jahresgutachten 2013 mit Migrationsbarometer, Berlin). Ihm gilt mein Dank für die Zustimmung zu seiner Verwendung für diesen Beitrag.
EU – SOLIDARGEMEINSCHAFT FÜR ROMA? | 169
bau der Bildungsbenachteiligung von Roma in Zentral- und Osteuropa verpflichtet ist (vgl. Surdu/Friedman 2013). Im Folgenden werden zunächst Hintergrundinformationen zu Roma (Kapitel 1), unter besonderer Berücksichtigung von Roma in Ost- und Südosteuropa (Kapitel 1.1) und Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland (Kapitel 1.2) im Überblick gegeben, um den gesellschaftlichen Hintergrund für den hier interessierenden Bildungsbereich abzustecken. Kapitel 2 ist den Ausgangslagen von Roma mit Blick auf ihre Bildungsbeteiligung in ausgewählten ost- und südosteuropäischen Staaten (Kapitel 2.1) und Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland (Kapitel 2.2) gewidmet und stellt Ansätze für die Bildungsarbeit mit dieser Minderheit in Deutschland (Kapitel 2.3) vor. Der Beitrag schließt mit der Skizzierung von zentralen migrationspolitischen Herausforderungen, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus dem Geschilderten ableiten lassen und einem Ausblick auf Handlungsspielräume und Handlungsempfehlungen für eine verbesserte Integration von Sinti und Roma in die hiesige Gesellschaft und die Bildungsarbeit mit ihnen (Kapitel 3). Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass sich die EU als eine Solidargemeinschaft der in ihr zusammen geschlossenen Staaten, seiner Bürgerinnen und Bürger versteht. Roma nehmen in diesem Kontext insofern eine besondere Position ein, da sie infolge ihrer in den letzten gut 600 Jahre erfolgten Wanderung auf dem Gebiet der heutigen EU zugleich Angehörige einer europaweit angesiedelten Minderheit wie Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der in der EU zusammengeschlossenen Staaten sind. Ihre Lebens- und Bildungssituationen sind historisch betrachtet und auch aktuell von divergierenden Formen der institutionellen wie individuellen Diskriminierung, daraus resultierenden Benachteiligungen und heute zum Teil prekären Lebensbedingungen gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit die europäischen Mitgliedsstaaten und die supranationale Organisation EU die Integration von Roma in die Solidargemeinschaft EU voran treiben, mithin also Formen der Solidarität mit Roma heute praktizieren, und welche Ansatzpunkte im Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland für weiter zu verfolgende entsprechende Ansätze identifiziert werden können.
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1. R OMA –
HISTORISCH GEWACHSENE UND GELEBTE V IELFALT
Nach Schätzungen der Europäischen Kommission (Europäische Kommission 2011) leben in den Mitgliedsstaaten der EU zehn bis zwölf Millionen Roma, ca. 80 % von ihnen sind sesshaft. Sie verfügen als Staatsangehörige der EU-Mitgliedsstaaten über alle damit einhergehenden Rechte und Pflichten. Ursprünglich aus Vorderindien kommend haben sich im Laufe der letzten gut 600 Jahre in Europa unterschiedliche, unter dem Oberbegriff „Roma“ gefasste Bevölkerungsgruppen wie Roma, Sinti, Lovara, Kalderaš, Gurbet, Kalé, Arlije usw. herausgebildet. Gemeinsam sind diesen Gruppen neben geteilten historischen Erfahrungen ähnliche kulturelle Bezüge, wie eine hohe Wertschätzung der Familie oder die Verwendung von Romanes in seinen Varianten gegenwärtig oder ehemals (vgl. Heinschink/Cech 2013). Der heute international gebräuchliche und auch hier im Folgenden verwendete Oberbegriff „Roma“ bezeichnet mithin nicht eine ethnisch-kulturell homogene Gruppe, sondern die Vielzahl der mit diesem Begriff identifizierten bzw. sich identifizierenden Bevölkerungsgruppen; er hat heute den in Europa überwiegend in pejorativer Absicht verwendeten Begriff „Zigeuner“, der von vielen Interessengruppen der Roma aus diesem Grunde abgelehnt wird, abgelöst. Roma in Europa blicken auf eine wechselvolle Geschichte zurück, in deren Verlauf sie mit den ihnen von europäischen Machtinhabern, gewählten Volksvertretungen und Angehörigen der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften zugewiesenen Rollen, Bewegungs- und Handlungsspielräumen und Beschränkungen umgehen mussten. Sie haben vielfach staatlich administrierte Marginalisierung erfahren, bis hin zum versuchten Völkermord an ihnen im Nationalsozialismus (Zimmermann 1996). Ihre Stigmatisierung und Marginalisierung ist jedoch nur eine Seite der Geschichte der Roma, die die Befassung mit Handlungs- und Gestaltungsspielräumen zur Verbesserung der Lebenssituationen und Lebenschancen der benachteiligten Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe notwendig macht. Auf der anderen Seite stehen die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppen, die gesellschaftlich integriert sind und etabliert in den europäischen Staaten leben. Das heißt, um es an dieser Stelle deutlich herauszustellen: Die Lebens- und Bildungssituationen der Roma sind vielfältig, dennoch zeigen sich innerhalb der EU Benachteiligungen, die große Teile der Roma in besonderer
EU – SOLIDARGEMEINSCHAFT FÜR ROMA? | 171
Ausprägung betreffen und national, regional, lokal und individuell differieren (können). Um diese Benachteiligungen identifizieren und Vorschläge zu ihrer Bearbeitung mit dem Ziel der Verbesserung der Ausgangslagen und Perspektiven von Roma entwickeln zu können, müssen die von Benachteiligung betroffenen Roma in den Fokus genommen werden. Im Folgenden geschieht dies insbesondere im Hinblick auf eine Verbesserung der Bildungssituationen und -chancen von bereits in die Bundesrepublik Deutschland zugewanderten bzw. künftig aus EU-Mitgliedsstaaten potenziell zuwandernden Roma. 1.1
Roma in Europa, insbesondere Ost- und Südosteuropa
Belastbare Daten zu Roma in der EU sind rar. Dies liegt zum einen daran, dass oftmals die ethnische Zugehörigkeit von Staatsbürgerinnen und -bürgern, wie in der Bundesrepublik Deutschland, für amtliche Statistiken und im Rahmen staatlicher Verfahren, wie im Falle der Beantragung von Asyl, i. d. R. nicht erhoben wird, zum anderen daran, dass viele Roma ihre Zugehörigkeit zu dieser ethnischen Minderheit nicht angeben, da sie damit einhergehende Benachteiligungen fürchten. Vor diesem Hintergrund gibt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung für Juni 2010 nur Schätzwerte zu der Präsenz von Roma in Europa an. Danach weisen unter den europäischen Staaten südosteuropäische die höchsten Anteile an den insgesamt geschätzten zehn bis zwölf Millionen in Europa lebenden Roma auf. Am stärksten vertreten sind Roma in Rumänien (ca. 1.950.000), gefolgt von Bulgarien (ca. 750.000), Ungarn (ca. 600.000), Slowakei (ca. 500.000), Tschechische Republik (275.000) und Mazedonien (185.000). Des Weiteren gibt es in Südeuropa hohe Anteile Roma in Spanien (ca. 700.000) und Griechenland (175.000); für Deutschland beläuft sich die geschätzte Zahl auf 120.000 Roma. Andere Organisationen, wie die Weltbank (2010, 1), legen Daten aus nationalen Mikrozensuserhebungen zugrunde und berichten für südosteuropäische Staaten niedrigere Anteile von Roma, jedoch mit Verweis darauf, dass andere Quellen höhere Anteile ausweisen. Die Struktur der Roma-Bevölkerung in Südosteuropa unterscheidet sich von der Struktur der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften. So sind laut Unicef (2007, 6) von den insgesamt geschätzten 3,7 Millionen Roma in Südosteuropa ca. 1,7 Millionen (46 %) Kinder. Während in diesen Staaten die
172 | S ABINE H ORNBERG
Mehrheitsbevölkerungen künftig insgesamt an Umfang abnehmen und die Anteile älterer Menschen (65 Jahre und älter) deutlich ansteigen werden, zeichnen sich die Roma-Bevölkerungen durch hohe Anteile Heranwachsender und von Menschen im erwerbsfähigen Alter aus (ebd., 16f.; siehe auch Weltbank 2010, 1). Die Staaten Ost- und Südosteuropas haben im Zuge des seit den 1990er Jahren stattfindenden Transformationsprozesses einen umfangreichen Wandel erfahren, der für Roma nachhaltig wirksam werdende Benachteiligungen verfestigte oder mit sich brachte: So leben Roma viermal häufiger als die in ihrer unmittelbaren Umgebung ansässigen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaften unter dem Existenzminimum von 4,30 $ pro Tag, sie haben ein höheres Risiko arm zu bleiben oder zukünftig unter das Existenzminimum zu fallen (Milcher 2010, 787). Armut, Hunger, schlechte Ernährung, Erwerbslosigkeit, geringe oder nicht qualifizierte Tätigkeiten, schlechte Wohn- und Lebensbedingungen, ein erhöhtes Krankheitsrisiko und geringe Bildungsbeteiligung kennzeichnen ihre Lebenssituationen. Nach Angaben der Weltbank (2010, 2) hat bspw. in Rumänien nur eine/r von zwei Roma im erwerbsfähigen Alter eine Arbeit, in Bulgarien und der Tschechischen Republik sind es weniger, in Serbien nur eine/r von fünf. Aber auch im Falle einer Erwerbstätigkeit sind Roma benachteiligt. So verdienen Roma in Bulgarien monatlich im Mittel 31 % weniger als erwerbstätige Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, in Serbien 48 %, in Rumänien 55 % und in der Tschechischen Republik 58 % (ebd.). Vor diesem Hintergrund beziffert die Weltbank die jährlichen Kosten der Benachteiligung von Roma in diesen Staaten auf 231 Millionen € in Serbien, 367 Millionen € in der Tschechien Republik, 526 Millionen € in Bulgarien und 887 Millionen € in Rumänien. Während die Weltbank den Blick auf die Kosten lenkt, die den genannten südosteuropäischen Staaten aufgrund der Benachteiligung von Roma entstehen, sind diese Informationen für Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland von besonderem Interesse angesichts des EU-Beitritts wichtiger Herkunftsstaaten von Roma, den damit verbundenen Freizügigkeitsrechten und der Zuwanderung von Roma in die Bundesrepublik Deutschland. Denn damit potenziell einhergehende integrationspolitische Folgen und Herausforderungen können schon heute konkreter antizipiert und Überlegungen und Ansätze zu ihrer Bearbeitung entwickelt werden, wenn Bedingungen und Lebensumstände in den Herkunftsländern bekannt sind.
EU – SOLIDARGEMEINSCHAFT FÜR ROMA? | 173
1.2
Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland
Sinti leben seit dem 14. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, die primär aus Südost- und Mitteleuropa zugewanderten Roma seit dem 19. Jahrhundert. Sinti und Roma sind in Deutschland gemäß dem Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, das in Deutschland 1998 in Kraft trat, als nationale Minderheit anerkannt (BMI 2011, 15). Dort ist festgelegt, dass keine Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit diskriminiert oder gegen ihren Willen assimiliert werden darf (ebd.). Über die Anteile von Sinti und Roma an der Gesamtbevölkerung liegen für die Bundesrepublik Deutschland keine verlässlichen statistischen Daten vor, da hierzulande im Rahmen von amtlichen Statistiken die ethnische Zugehörigkeit nicht erhoben wird. Vor diesem Hintergrund schätzt das Bundesministerium des Inneren (BMI), dass in Deutschland 2012 ca. 70.000 Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit lebten, die Mehrzahl von ihnen in den großen Ballungsgebieten und den Landeshauptstädten der alten Länder und ihren Einzugsgebieten. Die Mehrheit der deutschen Sinti und Roma lebt seit Generationen an einem Ort; das Reisen, das im 19. Jahrhundert für viele von ihnen Teil des Berufslebens war, hat für sie nurmehr kulturellen Wert, und nur noch eine Minderheit (genaue Daten sind nicht bekannt) deutscher Sinti und Roma geht dem Reisegewerbe nach, bspw. als Schausteller und Schaustellerinnen. In den späten 1950er bis zu den frühen 1970er Jahren kamen im Zuge der Anwerbung von sog. Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen Roma aus Polen und dem ehemaligen Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland. Es liegen jedoch weder verlässliche Daten über ihre Anteile an diesen Zugewanderten vor, noch darüber, wie viele von ihnen in ihre Herkunftsstaaten zurückgekehrt oder in der Bundesrepublik Deutschland geblieben sind und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben. In den 1990er Jahren kamen insbesondere Roma in die Bundesrepublik Deutschland, die aus ihren Herkunftsstaaten aufgrund von Krieg, Armut und Diskriminierung flüchteten: Zu Beginn der 1990er Jahren traf dies auf nicht näher bezifferbare Anteile Roma aus Rumänien zu, die in der Mehrheit aufgrund von Rücknahmeübereinkommen zwischen beiden Staaten bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nach Rumänien zurückgekehrt sind; gleiches gilt für die in den 1990er Jahren nach Deutschland geflüchteten Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien, insbesondere aus Bosnien (ca. 350.000
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Flüchtlinge) und dem Kosovo (ca. 15.000 Flüchtlinge, die Anzahl der Roma unter ihnen ist in beiden Fällen nicht bekannt) (BMI 2011, 17). Unter den noch heute in der Bundesrepublik Deutschland lebenden ausreisepflichtigen kosovarischen Roma sind auch in der Bundesrepublik Deutschland geborene Kinder und Jugendliche. In ihrer Entgegnung vom 14.03.2012 auf eine Anfrage von Abgeordneten zu „Beschränkungen der Reisefreiheit für Roma aus Serbien, Mazedonien, Montenegro und Mazedonien infolge des EU-Visumregimes“ gibt die Bundesregierung für die Jahre 2009 bis 2011 folgende Anteile von Roma unter den Asylbewerbern und Asylbewerberinnen an (Deutscher Bundestag 2012) (vgl. Tab. 1): Tabelle 1: Asylbewerber und -bewerberinnen in der Bundesrepublik Deutschland aus EJR2 Mazedonien, Serbien, Montenegro, Albanien sowie Bosnien-Herzegowina 2009 bis 2011 insgesamt und Anteile von Roma unter ihnen EJR Mazedonien Jahr
n
%
2009
158
55.1
2010 3547 2011 1753
Serbien
n
Montenegro Albanien
%
n
%
n
891
69.6
97
74.2
55
86.2
6795
94.8
94
72.3
86.8
6990
92.7
127
66.1
BosnienHerzegowina
%
n
%
-
252
68.3
46
-
354
75.1
87
4.6
407
75.4
Quelle: eigene Zusammenstellung nach Deutscher Bundestag 2012, 17
Von den am 31. Dezember 2011 im Ausländerzentralregister (AZR) erfassten Asylbewerberinnen und Asylbewerbern der Jahre 2009 bis 2011 sind ca. 9 % der Staatsangehörigen Serbiens, ca. 5 % der Staatsangehörigen Mazedoniens, ca. 22 % der Staatsangehörigen Montenegros, ca. 13 % der Staatsangehörigen aus Bosnien-Herzegowina und etwa 4 % der Staatsangehörigen Albaniens in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Gut 40 % der zu diesem Stichtag Erfassten waren „als nicht mehr aufhältig erfasst“
2
EJR = Ehemalige Jugoslawische Republik
EU – SOLIDARGEMEINSCHAFT FÜR ROMA? | 175
(ebd., 17); wie hoch die Anteile von Roma unter den hier Geborenen sind, ist nicht bekannt. Seit den Osterweiterungen der EU in den Jahren 2004 und 2007 kommen ferner zunehmend Roma mit Unionsbürgerschaft, insbesondere aus Rumänien und Bulgarien, in die Bundesrepublik Deutschland. Die Sprache der Roma ist Romanes; Sprachforscherinnen und Sprachforscher gehen von ihrer Verwandtschaft mit Volksidiomen des nördlichen Vorderindien und dem Sanskrit aus. In Europa gibt es zahlreiche Varianten des Romanes, die – aufgrund von Migrationsbewegungen – auch von sich überlagernden Einflüssen der Sprachen der jeweiligen Mehrheitsbevölkerungen der Roma in Europa geprägt sind. Roma bezeichnen ihre Sprache als Romani Čhib; wörtlich übersetzt bedeutet dies: Roma-Sprache (Heinschink/Cech 2013). Nach Angaben des Bundesministerium des Inneren (2011, 15f.) sprechen in Deutschland ca. 60.000 Sinti eine Variante von Romanes, die sich von anderen Romanes-Sprachen unterscheidet, und weitere ca. 10.000 Roma das deutsche Romanes (ebd.). Seit 1999 ist Romanes in der Bundesrepublik Deutschland als Minderheitensprache durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates geschützt. Repräsentative und belastbare Daten zum Gebrauch von Romanes unter deutschen und ausländischen Roma liegen nicht vor. Folgende Realitäten hinsichtlich des Sprachgebrauchs sind grundsätzlich feststellbar, individuelle Besonderheiten, wie weitere Sprachen, nicht berücksichtigend: (1) Deutsche Roma sprechen Deutsch und nicht Romanes. (2) Deutsche Roma sprechen Deutsch und Romanes. (3) Deutsche Roma mit Migrationshintergrund sprechen Deutsch, Romanes und eine weitere Herkunftssprache, eine National- oder Regionalsprache des Landes, aus dem sie selbst oder ihre Eltern in die Bundesrepublik Deutschland immigriert sind; dies könnte bspw. auf die aus den ehemaligen Anwerbeländern Zugewanderten zutreffen. (4) Ausländische Roma sprechen Romanes, eine Herkunftssprache und Deutsch. Es ist mithin in vielen Fällen von einer Mehrsprachigkeit in Roma-Familien auszugehen, wobei die Praxis jeweils individuell zu betrachten wäre. Besuchen Roma die deutsche Schule, so haben sie dort ferner Unterricht in den üblicherweise unterrichteten Fremdsprachen. In Deutschland vertreten auf Bundesebene zwei Verbände die Interessen deutscher Sinti und Roma: Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und die Sinti-Allianz Deutschland. Diese Vertretungen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung: Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat sich in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere für die Inte-
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ressen noch lebender Opfer von Konzentrationslagern im Nationalsozialismus, die Anerkennung von deutschen Sinti und Roma als nationale Minderheit und die Aufnahme von Romanes in die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen eingesetzt. Der Zentralrat unterhält an seinem Hauptsitz in Heidelberg das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma und engagiert sich auch in Bildungsfragen. Die Sinti-Allianz Deutschland mit ihrem Hauptsitz in Köln tritt insbesondere für die ethnische Gruppe der Sinti und beruflich Reisenden ein. Sie weist den Oberbegriff ‚Roma‘ als Selbstbezeichnung für die unterschiedlichen Sinti- und Roma-Gruppen zurück und plädiert stattdessen für die Verwendung des Begriffs ‚Zigeuner‘. Die Sinti-Allianz Deutschland lehnt die Verschriftlichung von Romanes, den staatlich organisierten Unterricht in ihrer Kultur und Sprache sowie den Gebrauch derselben auf Ämtern usw. mit Verweis darauf ab, dass traditionell die Pflege und der Erhalt derselben ausschließlich bei ihren Trägern liege und im privaten Raum zu erfolgen habe. Aufgrund der bisherigen Unvereinbarkeit zentraler Auffassungen dieser beiden Interessenvertretungen sind Sinti und Roma – anders als andere nationale Minderheiten – nicht in Form eines Beratenden Ausschusses beim Bundesministerium des Inneren vertreten, um dort ihre Interessen wahrzunehmen (BMI 2011, 15).
2. R OMA
IM
B ILDUNGSWESEN
2.1 Bildungsbeteiligung von Roma in Ost- und Südosteuropa Publikationen, die einen Überblick über die Bildungsbeteiligung von Roma und Ansätze zu ihrer Förderung in Europa geben, sind rar; dies hängt u. a. damit zusammen, dass verlässliche Daten in der Regel nur aus Einzelstudien zu gewinnen sind. Vor diesem Hintergrund hat Hornberg (2000) zu Beginn des neuen Jahrtausends für eine entsprechende Publikation Expertinnen und Experten ausgewählter Länder für einen Sammelband zur „Schulsituation von Sinti und Roma in Europa“ gewinnen können; gut ein Jahrzehnt später folgte ihr die von Hornberg und Brüggemann (2013) herausgegebene Publikation: „Die Bildungssituation von Roma in Europa“. Die im Folgenden berichteten Befunde zur Bildungssituation von Roma in
EU – SOLIDARGEMEINSCHAFT FÜR ROMA? | 177
ost- und südosteuropäischen Staaten knüpfen zum Teil hier an. Sie basieren auf Sekundäranalysen von Daten, die vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme/UNDP) 2004 im Zuge der Umfrage „Vulnerable Groups Survey“ in Ost- und Südosteuropa erhoben wurden, um Hintergrundinformationen für die „Decade of Roma Inclusion, 2005-2015“ zu gewinnen. An der UNDP-Befragung 2004 beteiligten sich Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Rumänien und Serbien (hier z. T. als Südosteuropa zusammengefasst) sowie die Tschechische Republik und Ungarn. Für die im Folgenden berichteten Befunde zur Bildungsbeteiligung von Roma wurden Daten zugrunde gelegt, die auf Befragungen in diesen Staaten von (a) Roma-Haushalten in Roma-Siedlungen oder in Gebieten mit einer kompakten Roma-Bevölkerung sowie von (b) Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung beruhen, die in räumlicher Nähe zur Roma-Bevölkerung leben. Die Umfrage repräsentiert ca. 85 % der Roma-Bevölkerung in jedem Teilnehmerstaat (Milcher 2013, 14); sie wurde 2011 erneut durchgeführt, entsprechende Auswertungen sind mithin zu erwarten. Abbildung 1 zeigt die Alphabetisierungsrate, mithin die Anteile von Personen, die lesen und schreiben können, unter der Roma- und der Mehrheitsbevölkerung im Jahr 2004 in den hier betrachteten Staaten. Dort zeigt sich, dass die Alphabetisierungsrate unter der Mehrheitsbevölkerung jeweils 100 % oder (mit Ausnahme von Albanien und Kosovo) annähernd 100 % erreicht, während dies für Roma in keinem Fall zutrifft. Von den Roma in Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Serbien, Tschechien und Ungarn können mindestens 80 % und mehr lesen und schreiben, in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Rumänien trifft dies auf mindestens 60 % der Roma zu, in Montenegro auf knapp unter 60 %. Hier zeigt sich mithin eine deutliche Benachteiligung von Roma in Hinblick auf diese für die Bewältigung heutiger Lebensanforderungen zentralen Fähigkeiten.
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Abb. 1: Alphabetisierungsrate innerhalb der Roma- und der Mehrheitsbevölkerung (2004, in %) Anteil der Personen, die angaben, lesen und schreiben zu können Roma
Mehrheitsbevölkerung
100 80 60 % 40 20 0
Quelle: Milcher 2013, 18
Für die Kinder von Eltern, die nicht lesen und/oder schreiben können, bedeutet diese Bildungsbenachteiligung eine eingeschränkte Unterstützung bei der Bewältigung schulischer Anforderungen und u. U. auch eine elterliche Distanz gegenüber der Institution ‚Schule‘, bspw. wenn der elterliche Analphabetismus eine Konsequenz unzulänglicher oder gar diskriminierender Beschulung ist. Im Hinblick auf Bildungsangebote für Schülerinnen und Schüler der Roma-Bevölkerung aus Staaten oder Regionen, die für solche Praxen bekannt sind, gilt es dies zu berücksichtigen. Um Erkenntnisse über die Bildungsbeteiligung von Roma zu gewinnen, können von ihnen besuchte Bildungsgänge und erworbene Abschlüsse herangezogen und mithilfe eines international verwendeten Klassifikationsschemas, der International Standard Classification of Education (ISCED), zugeordnet werden. Abbildung 2 zeigt die höchste erreichte Schulbildung unter der Roma- und der Mehrheitsbevölkerung in Südosteuropa im Jahr 2004. Dort wird ersichtlich, dass 62 % der Roma-Bevölkerung die Grundbildung absolviert haben, 33 % die Unterstufe der Sekundarbildung und 8 % die Oberstufe der Sekundarbildung; die Tertiäre Bildungsstufe absolvierte hingegen keine/r der befragten Roma. Diese Befunde zeigen die gravierende Bildungsbenachteiligung von Roma im Vergleich zur Mehrheits-
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bevölkerung; darüber hinaus deutet sich hier ferner ihre im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung deutlich geringere Verweildauer im Bildungssystem an, die mit weiteren, im Rahmen der Studie gewonnen Daten belegt wurde: So besuchten nur 43 % der 15-jährigen schulpflichtigen Roma in Südosteuropa einen schulischen Bildungsgang gegenüber 91 % der Gleichaltrigen der Mehrheitsbevölkerung (Milcher 2013, 19). Abb. 2: Höchste erreichte Schulbildung innerhalb der Roma- und der Mehrheitsbevölkerung in Südosteuropa (2004, in %) Anteil der Personen, die nicht mehr zur Schule gehen und mindestens die Grundbildung, Sekundarbildung Unterstufe, Sekundarbildung Oberstufe oder Tertiäre Bildung absolviert haben3 Roma
Mehrheitsbevölkerung
96
100
86 80 %
64
62 60 40
33 15
20
8 0
0 wenigstens Grundbildung (ISCED Level 1)
wenigstens Tertiäre wenigstens wenigstens Bildung (ISCED Level 4 und Sekundarbildung Sekundarbildung 5) Unterstufe (ISCED Level 2) Oberstufe (ISCED Level 3)
Quelle: Milcher 2013, 19 (nach UNDP 2006, 29)
Die Gründe für den frühen Schulabbruch vieler Roma in den hier betrachteten Staaten sind vielfältig; zu nennen sind insbesondere Armut, schlechte Wohnverhältnisse, segregierte Schulen oder Klassen, Sonder- und Förderschulbesuch.
3
Im Gegensatz zum UNDP Bericht 2006 unterscheidet Milcher (ebd., 19) die „höchste erreichte Schulbildung“ nach den ISCED Klassifizierungen.
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2.2 Bildungsbeteiligung von Sinti und Roma im deutschen Bildungswesen Für die Bundesrepublik Deutschland liegen keine repräsentativen Daten zur Bildungsbeteiligung von deutschen und ausländischen Sinti und Roma vor, insofern können nur Befunde aus einzelnen Erhebungen oder Initiativen herangezogen werden. 1982 veröffentlichte Hundsalz eine Studie, für die er mit 132 Sinti in Westdeutschland unstrukturierte Interviews zu ihrer Bildungssituation durchgeführt und zudem von ihm ausgewählte Sozialämter schriftlich befragt hatte (Hundsalz 1982, 17, 151). 2011 erschien eine von Daniel Strauß, dem Vorsitzenden des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, heraus gegebene „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ (Strauß 2011), die von Sinti und Roma koordiniert und durchgeführt wurde. Mithilfe eines standardisierten Fragebogens, der auch Anregungen für weiterführende „freie Erzählungen zur Bildungs- und Ausbildungssituation wie auch zur Familien- und Lebensgeschichte sowie zur Verarbeitung des Nationalsozialismus in den Familien“ geben sollte (ebd., 5), und Interviews wurden zwischen 2007 und 2010 in 35 Städten und Orten 275 Sinti und Roma von 14 Sinti und Roma, die aus dem Umfeld der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma kamen, befragt. Die Anlage dieser Studie ist insofern im deutschsprachigen Raum einzigartig, birgt aber auch methodische Herausforderungen, auf die explizit eingegangen wird, die hier aber nicht vertieft werden können (siehe zu diesem Aspekt ebd., 7-16). Von allen Befragten war etwas mehr als die Hälfte (53,3 %) weiblich, knapp über 40 % zwischen 14 und 25 Jahre alt, 42,5 % zwischen 26 und 50 Jahren alt und 16,5 % älter als 50 Jahre alt. Bisher wurden 30 der insgesamt geführten qualitativen Interviews ausgewertet; die so gewonnenen Befunde sind in den Bericht eingeflossen (ebd., 52). Ein „alarmierendes Ergebnis“ der Studie sind die von den Interviewten berichteten Häufigkeiten, Formen und Fälle der Diskriminierung, denen sie sich als „Zigeuner“ (mit negativer Konnotation) ausgesetzt sehen: „66 (25,3 %), also ein Viertel der Befragten fühlt sich regelmäßig bis sehr häufig diskriminiert, nur 46 (17,6 %) überhaupt nicht“ (ebd., 10). Unterschieden nach Altersgruppen zeigt sich, dass sich die jüngsten Befragten, also die 14- bis 25-Jährigen, häufiger als die älteren Befragten ‚gar nicht‘ und seltener als die älteren Befragten ‚häufig‘ oder ‚sehr häufig‘ diskriminiert
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fühlen (ebd., 45). In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, dass sich während ihrer Schul- und Ausbildungszeit 186 (71,26 %) der Befragten als Sinti und Roma bekannten, 37 (14,18 %) dies nicht taten und 8 (37,0 %) angaben, beides treffe zu (ebd., 47). Wie stellt sich die Bildungsbeteiligung der im Rahmen dieser Studie Befragten dar? Zur Bearbeitung dieser Frage wurden die von ihnen besuchten Schulformen erhoben: 96 (90,6 %) der 14- bis 25-Jährigen haben eine Grundschule besucht gegenüber 91 (81,3 %) der 26- bis 50-Jährigen und 26 (60,5 %) der 51 Jahre alten und Älteren. Hier zeigt sich mithin eine positive Entwicklung der Bildungsbeteiligung über die Jahrzehnte und im Generationenverlauf. Im Bereich der Sekundarschule I (5. bis 10. Klasse) haben 83 (78,3 %) der 14- bis 25-Jährigen die Hauptschule besucht (in den anderen beiden Altersgruppen in der o. g. Reihenfolge: 57=50,9 %; 11= 25,6 %). Bereits diese Befunde verweisen auf die geringen Anteile unter den Befragten, die eine Realschule oder ein Gymnasium besucht haben: zu einer Realschule gingen 13 (12,3 %) der 14- bis 25-Jährigen, 15 (13,4 %) der 26- bis 50-Jährigen und zwei (4,7 %) der 51 Jahre alten und Älteren. Nur sechs Personen gaben einen Gymnasialbesuch an. Mit Blick auf den Bereich der Sekundarstufe I zeigt sich mithin eine deutliche Bildungsbenachteiligung unter den hier erfassten Sinti und Roma im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung und keine Verbesserung im Zeit- und Generationenverlauf. Zehn (9,4 %) der befragten 14- bis 25-Jährigen haben ferner eine Förderschule besucht, 15 (13,4 %) der 26- bis 50-Jährigen und drei (7 %) der 51 Jahre alten und Älteren. Insgesamt mindestens 115 der Befragten haben keinen Schulabschluss erworben (ebd., 32). Die im Rahmen der Studie erhobenen Daten wurden nicht unter Berücksichtigung von sozioökonomischen und soziokulturellen Hintergrundinformationen zu den Familien wie Einkommen usw. ausgewertet, insofern können diesbezüglich keine Aussagen gemacht werden. Dennoch zeigen bereits diese Daten eine deutliche Bildungsbenachteiligung der Befragten im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung. In der Bildungsforschung ist der Zusammenhang von Bildungserfolg und -misserfolg von Schülerinnen und Schülern und dem ihren Familien zur Verfügung stehenden sozioökonomischen und kulturellen Kapital eindrucksvoll belegt worden, nicht zuletzt im Zuge internationaler Schulleistungsstudien wie IGLU/PIRLS, TIMSS oder PISA. Dort hat sich auch gezeigt, dass es einigen Bildungssystemen besser als anderen gelingt, her-
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kunftsbedingte Benachteiligungen von Schülerinnen und Schülern zu kompensieren. Das bundesrepublikanische Bildungssystem erweist sich in dieser Hinsicht als reformbedürftig, wie seither einhellig anerkannt wird. Im Falle von Sinti und Roma kommen neben den klassischen Erklärungsvariablen für Bildungsbenachteiligung ihre besonderen, historisch gewachsenen Diskriminierungserfahrungen in Bildungssystemen bis hin zum Verbot des Schulbesuchs während des Nationalsozialismus hinzu, weshalb auch in der von Strauß (2011) herausgegebenen Studie auf diesen Aspekt eingegangen wurde, bspw. in Hinblick auf die Möglichkeiten von Schülerinnen und Schülern bei Hausaufgaben auf Hilfe innerhalb der Familie (Eltern oder Geschwister) zurückgreifen zu können: gut 46 % der Befragten gaben an, dies treffe zu, weitere gut 45 % verneinten dies (ebd., 37). Von den 93 Befragten, die dies mit Begründung verneinten, nannten 72 „keine eigene Schulbildung der Eltern“, „selbst nur begrenzte schulische Ausbildung“, „zu geringe schulische Bildung“, „kann weder lesen noch schreiben“ und ähnliche Gründe als Ursachen (ebd., 39). Ein „ganz heikler Punkt“ sei ferner die Berufsbildung der deutschen Sinti und Roma und so wird in der Studie konstatiert: „Während in der deutschen Gesamtbevölkerung im Durchschnitt circa 85 Prozent eine Berufsausbildung irgendeiner Art machen und lediglich circa 15 Prozent nicht, ist es bei den Sinti und Roma nahezu umgekehrt.“ (ebd., 42). Die Studie gibt zahlreiche weitere wichtige Informationen, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann; das bisher Berichtete macht jedoch deutlich: Auch deutsche Sinti und Roma sind im bundesrepublikanischen Bildungs- und Ausbildungssystem vermutlich, zumindest legen dies die hier berichteten Befunde nahe, auch heute noch deutlich überdurchschnittlich von Benachteiligung im Hinblick auf ihre Bildungsbeteiligung betroffen. Ein besonderes Problem im Pflichtschulbereich stellt die Schulsituation von Kindern von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern sowie Flüchtlingen und Sinti und Roma mit diesem Status dar. Der Hohe Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) hat diesbezüglich 2005 eine „Stellungnahme des UNHCR zur Umsetzung der EU-Richtlinie über die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ vorgelegt (UNHCR 2005), in der auch auf den Zugang zu schulischer Bildung eingegangen und u. a. vorgeschlagen wird, die Schulpflicht für minderjährige Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie die Kinder von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in allen Bundesländern gesetzlich einheitlich zu verankern (ebd., 6f.).
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Die Schulsituationen von Roma-Heranwachsenden, die selber oder deren Eltern Asylbewerberinnen und Asylbewerber sind, unterscheiden sich bundesweit und gemäß lokalen Anforderungen und Möglichkeiten und können hier nicht differenziert behandelt werden, sondern bedürften einer gesonderten Aufarbeitung und Darstellung. 2.3 Bildungsarbeit mit Sinti und Roma im deutschen Bildungswesen Förderangebote für Sinti und Roma im deutschen Bildungswesen sind i. d. R. zeitlich befristet und in einen weiter gefassten Projektzusammenhang oder ein Modellvorhaben eingebettet. Einen ersten Überblick gibt bspw. der „Bericht der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission. EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 – Integrierte Maßnahmenpakete zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland“, in dem in Anlage 2 nach Ländern aufgeschlüsselt exemplarisch Projekte mit und für Sinti und Roma im Bildungswesen aufgelistet sind (BMI 2011). Sie umfassen bspw. die Schulwegbegleitung von Grundschülerinnen und -schülern (Hamburg), Fortbildungsveranstaltungen zu spezifischen Förderangeboten für Studierende des Lehramtes und Lehrkräfte (Hessen, seit 2005), den Einsatz von Mediatorinnen und Mediatoren an Schulen, bspw. in der Hausaufgabenhilfe, bei Elternabenden, der Intervention in Konfliktfällen oder als Schullaufbahnberater und -beraterinnen (Kiel, seit 1995) oder die unter dem Dach des ESF4Bundesprogramms „Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier – BIWAQ“ im Land Berlin angesiedelten Projekte (Laufzeit: 2009-2012), die die Qualifizierung von Nachbarschaftshelferinnen und -helfern, Projekte zur Antidiskriminierung von Roma und zur Förderung des interkulturellen Dialogs sowie zur Alphabetisierung und zum Spracherwerb in der Zielsprache Deutsch umfassen (ebd., Anlage 2, 12). Unter den genannten Ansätzen ist insbesondere die Arbeit mit Mediatorinnen und Mediatoren, die zum Teil den Sinti und Roma angehören, recht weit verbreitet. Diese Form der Kooperation zielt bspw. auf eine verbesserte Kommunikation zwischen Roma-Eltern, Schulen und anderen im Bildungsbereich Tätigen ab, bspw. um Schulabsentismus von schulpflichtigen
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ESF = Europäischer Sozialfond
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Roma-Heranwachsenden zu verhindern, aber auch um grundsätzlich die Unterstützung der Schülereltern, die oftmals mit dem hiesigen Bildungsund Schulsystem nicht vertraut sind, zu gewinnen. In dieser Hinsicht hat sich die Zusammenarbeit mit Mediatorinnen und Mediatoren, die selber den Sinti und Roma angehören, als hilfreich erwiesen, so bspw. in Hamburg: Dort wurde 1993 eine Koordinations- und Beratungsstelle für die Pädagogik mit Roma und Sinti im damaligen Institut für Lehrerfortbildung (ifl) – heute Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) – eingerichtet und im selben Jahr der erste Roma-Sozialarbeiter eingestellt, der schon bald als Roma-Lehrer arbeitete. Das Ziel dieser Arbeitsstelle und die damit verknüpften Tätigkeitsfelder und Inhalte reflektieren die auch heute bundesweit vorherrschenden Aufgabenfelder für eine bessere Förderung von Sinti und Roma im Bildungswesen; sie werden deshalb hier wiedergegeben (Krause 2006, 2): „Ziel der pädagogischen Arbeit mit Roma- und Sinti-Kindern und -Jugendlichen und der Unterstützung ihrer Familien ist die Verbesserung der Bildungssituation als Voraussetzung für eine berufliche Zukunft. Dazu gehören schwerpunktmäßig:
•
die Erweiterung des schulischen Angebotes, um den Kindern den Einstieg in die Schule zu erleichtern, bzw. zu ermöglichen;
•
die Einbindung von Themen in den Unterricht, die aus der Perspektive von Roma und Sinti für sie wichtige Bildungsinhalte darstellen;
• •
die Förderung der Muttersprache durch muttersprachlichen Unterricht; die Unterstützung und Förderung der Kinder durch eine teilweise Doppelbesetzung im Unterricht;
• • • • •
das Angebot von Hausaufgabenhilfe (wenn möglich in der Muttersprache); die Beratung und Unterstützung von Eltern und Lehrern; die Vermittlung in Konfliktsituationen; die Übersetzung von Gesprächen und von Unterrichtsmaterialien; die Berufsorientierung.“
Heute wird die Arbeit dieser Koordinierungs- und Beratungsstelle am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg unter dem Dach der dort angesiedelten Beratungsstelle Interkulturelle Erziehung fortgeführt und weiterentwickelt. Unter den Angeboten zur Förderung von Sinti und Roma im Bildungswesen verfügen des Weiteren zwei Bildungseinrichtungen über langjährige Erfahrungen: Das seit 1996 von dem Förder-
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verein Roma e. V. getragene Projekt „Schaworalle – Hallo Kinder“, aus dem 1999 in Frankfurt am Main die Kindertagesstätte Schaworalle hervorging, in der Roma und Nicht-Roma mit etwa 70 Roma-Kindern und Jugendlichen, insbesondere rumänischer Herkunft, im Alter von drei bis 16 Jahren arbeiten. Das niedrigschwellige Angebot erfolgt in Kooperation mit lokalen Behörden und dem Ziel des Besuchs einer Regelschule, der für viele der Heranwachsenden aufgrund von traumatischen Fluchterfahrungen, keinem Schulbesuch oder häufigem Schulwechsel und daraus resultierenden Defiziten, schlechten Wohnverhältnissen, mangelnden Sprachkenntnissen in der Zielsprache Deutsch u. v. m. eine Hürde darstellt. Eine vergleichbare Einrichtung, Amaro Kher, gibt es in Köln. Im Bereich der Jugendarbeit sind neben Angeboten lokaler Behörden ferner Selbstorganisationen von Roma und Nicht-Roma entstanden wie der Verein ‚Roma Center Göttingen e. V.‘ und der interkulturelle Jugendverband ‚Amaro Drom e. V.‘, der bundesweit aktiv ist und bisher u. a. Workshops für jugendliche Roma und Nicht-Roma zu Themen wie Bleiberecht, Musik, Frauen-Empowerment, Bildung, Sinti und Roma Dialog, Antiziganismus, Wirtschaft und Selbstständigkeit angeboten sowie Jugendkonferenzen und Jugendfestivals durchgeführt hat.
3. H ANDLUNGSSPIELRÄUME UND H ANDLUNGSEMPFEHLUNGEN Als Teil der europäischen Solidargemeinschaft und als Migrationsgesellschaft stellt sich für die Bundesrepublik Deutschland die Frage, wie solidarisches Handeln mit Roma auf den divergierenden gesellschaftlichen Ebenen institutionell und individuell ermöglicht, ausgestaltet und befördert werden kann. Dem Bildungsbereich fällt in dieser Hinsicht eine zentrale Rolle zu, da mit ihm grundsätzlich alle Bürgerinnen und Bürgern erreicht werden können; für Heranwachsende ist das Schulsystem aufgrund der in Deutschland geltenden Schulpflicht ein Ort, an dem Erscheinungsformen solidarischen Handelns mit einer absehbaren Reichweite institutionell verankert und individuell realisiert werden können. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Sinne zunächst allgemein gültige Handlungsspielräume und Handlungsempfehlungen für das Bildungssystem benannt und in einem zweiten Schritt ausgewählte Bereiche und Aspekte näher betrachtet.
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Im Kontext der Bildungsarbeit mit Sinti und Roma wäre eine Sach- und Zielgruppen spezifische Mitarbeit von bereits mit den hiesigen Verhältnissen vertrauten Angehörigen dieser Minderheitengruppen anzustreben. Dabei wären die Herkunftsländer der Neuzugewanderten durchaus ein weiteres Kriterium, das berücksichtigt werden könnte, aber kein notwendigerweise zu erfüllendes. Wichtiger wären vermutlich eine entsprechend der Zielsetzung ausgewiesene Sachkenntnis und ein guter Zugang zu den Adressatinnen und Adressaten. Insofern wäre bspw. zu überlegen, ob entsprechend ausgebildete Roma-Mediatorinnen und -Mediatoren insbesondere bei der Ankunft in Deutschland und je nach Bedarf über längere Zeiträume zur Verfügung stehen sollten. Die Beteiligung von Sinti- und RomaVerbänden bei der Konzipierung solcher Angebote wäre anzustreben. Es bestehen in der hiesigen Gesellschaft vielfach Vorurteile, Stereotype und Unkenntnis im Umgang mit Sinti und Roma. Vor diesem Hintergrund ist unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Bildungsbehörden, Lehrkräften usw. Aufklärungsarbeit zu leisten, um Reflexionsprozesse anzubahnen. In diesem Zusammenhang gilt es auch die divergierenden Ausgangslagen von Sinti und Roma zu thematisierten, um Erfordernisse erkennen und zielgruppenspezifische Angebote zu ihrer Unterstützung und Förderung konzipieren und umsetzen zu können. Dies ist umso dringender geboten, da diese Fachkräfte oftmals die ersten Vertreterinnen und Vertreter der Mehrheitsgesellschaft sind, welchen Sinti und Roma begegnen und die insofern maßgeblich Einfluss auf weitere Entwicklungsverläufe nehmen können. Evaluationen solcher Prozesse wären anzustreben, um einerseits gelingende Ansätze auch weiteren Kreisen zugänglich zu machen, und andererseits korrekturbedürftige Ansätze zu identifizieren und zu überarbeiten. Dachverbände von Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma e. V., haben wiederholt auf das gänzliche Fehlen von oder Mängel bei der Berücksichtigung von Sinti und Roma im Curriculum und in Unterrichtsmaterialien aufmerksam gemacht und entsprechende Nachbesserungen gefordert. Es wäre zu prüfen, ob für Sinti und Roma eine Art ‚Bildungspass‘ eingeführt werden sollte, der Bildungsverläufe und wichtige Zusatzinformationen umfasst. Dies könnte bspw. im Hinblick auf ortsbedingte Schulwechsel oder Übergänge im Bildungswesen sowohl für die Inhaberinnen und Inhaber eines Bildungspasses wie für die an dem Bildungsprozess beteiligten Institutionen von Nutzen sein.
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Mit Blick auf unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen und Institutionen wäre ferner die Berücksichtigung folgender Aspekte relevant für die Integration und Förderung von Sinti und Roma: Regionen, Städte, Stadtteile Es gibt bereits aus dem Europäischen Sozialfond geförderte Projekte zur Integration von Roma in den Quartieren. Im Sinne ihrer Zielsetzung sollten erfolgreiche Projekte als Vorbilder für andere von Roma-Zuwanderung betroffene Quartiere genutzt werden. Dazu bedürfte es zum einen der Veröffentlichung und Zugänglichkeit solcher Ansätze, bspw. auf entsprechenden Homepages oder Verteilern, zum anderen der Möglichkeit der Vernetzung von an solchen Projekten Beteiligten und Interessierten. Bildungsbehörden Bildungsbehörden sind aufgerufen, andernorts entwickelte und erfolgreich praktizierte Strukturen und Ansätze für die Integration und Förderung von Sinti und Roma zu adaptieren, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugänglich zu machen und auf den unterschiedlichen Ebenen des Bildungssystems zu implementieren. Dabei sind klare Zielperspektiven zu formulieren und es ist die Evaluation von Angeboten und Maßnahmen anzustreben. Bildungseinrichtungen mit Angeboten für Erwachsene Bildungseinrichtungen wie Volkshochschulen usw. sollten im Hinblick auf die besonderen Ausgangslagen von zugewanderten Sinti und Roma eingestellt sein und entsprechende Bildungsangebote bereitstellen. Hier könnte an die Integrationskurse angeknüpft und diese könnten – bei Bedarf – um ergänzende Angebote erweitert werden. Familien Für viele Sinti und Roma ist die Familie (u. U. auch die Großfamilie und der Clan) die entscheidende Bezugsgruppe; sie zu beteiligen ist insofern von grundlegender Bedeutung für eine gelingende Förderung ihrer Kinder. Deshalb sollten Eltern und ggf. auch Geschwister so früh wie möglich und so umfassend wie nötig in die Schul- und Ausbildung der Kinder eingebunden werden. Auch dies verlangt angesichts der zum Teil massiven Diskriminierungen, die Roma u. U. in ihren Herkunftsländern erfahren haben, eine hohe Sensibilität und eine gute Kenntnis ihrer familiären Gepflogenhei-
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ten auf Seiten der Anbieterinnen und Anbieter von Integrations- und Förderangeboten. Vorschulischer Bereich Die Bildungsforschung hat Belege dafür gefunden, dass der Besuch eines Kindergartens und von Kinderhorten für die kindliche Entwicklung förderlich ist, sofern die Bedingungen entsprechend sind. Insbesondere für zugewanderte Roma bieten sie die Chance, schon früh in Kontakt mit Kindern der Mehrheitsgesellschaft zu kommen und die Zielsprache Deutsch zu erlernen. Kindergärten bieten ferner mannigfache Gelegenheiten, Eltern schon früh in außerfamiliäre Sozialisations- und Bildungsprozesse ihrer Kinder einzubinden. Hier gilt es anzusetzen und Personal in entsprechender Weise auszubilden. Grundschule Die Grundschule ist in Deutschland die von allen Kindern, unabhängig von ihrer Leistung (mit Ausnahme von Kindern mit besonderem Förderbedarf), gemeinsam besuchte Schule. Es gibt unterschiedliche Ansätze für zugewanderte Kinder, die der besonderen Förderung bedürfen und auf die zurückgegriffen werden könnte. Auch in diesem Fall gilt es, die spezifischen familiären Ausgangslagen der Roma zu berücksichtigen. Beispiele für eine gute Kooperation von Familie und Schule sind hier bereits genannt worden; Beispiele für gute Förderansätze sind Schulwegbegleiter und -begleiterinnen, Roma-Lehrkräfte, Förderangebote in der Zielsprache Deutsch und in den Herkunftssprachen, Hausaufgabenbetreuung usw. Solche Angebote sind zu adaptieren und auszubauen. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Potenziale von zugewanderten Roma-Schülerinnen und -Schülern gelegt werden, die u. U. aufgrund von mangelnden Kenntnissen in der Zielsprache Deutsch nicht erkannt werden; dies gilt insbesondere im Hinblick auf Sonderschulüberweisungen, den Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule im Sekundarbereich I und Hochbegabte.
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Schulen der Sekundarstufe I Das für die Grundschule Geforderte trifft auch für die Schulen der Sekundarstufe I zu. Darüber hinaus kommen dort im Verlauf der Schulzeit Ausgangslagen der Schülerinnen und Schüler zum Tragen, die sich i. d. R. von der Grundschulzeit unterscheiden. Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I greifen stärker als jüngere Kinder auf Vorurteile, Stereotype usw. zurück und reproduzieren diese. Die Pubertät impliziert insbesondere die eigene Identitätsfindung in Abgrenzung von und Hinwendung zu anderen und fördert Gruppenbildungen, Inklusions- und Exklusionsprozesse. Vor diesem Hintergrund finden sich in Schulen der Sekundarstufe I Ansätze zur Förderung sozialer Kompetenzen, Streitschlichterprogramme usw. Sie können insbesondere auch für Schüler und Schülerinnen bedeutsam sein, die als von dem Vertrauten abweichend wahrgenommen werden. Schulleitungen und Lehrkräfte sollten für solche Mechanismen und Prozesse im Hinblick auf Sinti und Roma wie für eigene Stereotype und Vorurteile gegenüber dieser Minderheit sensibilisiert und entsprechend fortgebildet werden, um allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden zu können. Schulen der Sekundarstufe II Die hier berichteten Befunde zur Bildungsbeteiligung von Sinti und Roma haben gezeigt, dass nur ein sehr geringer Anteil von ihnen die Sekundarschule II absolviert. Diejenigen, die dies erreichen, sollten in besonderer Weise gefördert werden, da sie nicht nur als Vorbilder dienen können und gängige Vorurteile widerlegen, sondern potenziell in gesellschaftlich einflussreiche Positionen aufrücken können. Solche Potenziale wären mithin gezielt zu fördern. Über einen entsprechenden Rahmen gälte es nachzudenken, denkbar wären bspw. zielgruppenspezifische Förderprogramme im Hinblick auf die Studien-, Berufsorientierung und -planung, Stipendien u. ä. Dabei könnten erfolgreich studierende oder eine Ausbildung im Dualen System absolvierende Sinti und Roma (oder solche, die bereits entsprechend ausgebildet tätig sind) als Ansprechpartnerinnen und -partner eingebunden werden. Berufsbildende Schulen Den berufsbildenden Schulen fällt im Anschluss an die Sekundarstufe I eine zentrale Rolle zu. Dies zum einen, da sie von Jugendlichen besucht wird, die eine Ausbildung im Dualen System absolvieren, zum anderen, da sie
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Jugendlichen, auf die dies nicht zutrifft und die nicht eine Schule der Sekundarstufe II besuchen, die Möglichkeit bietet, zuvor nicht erreichte Schulabschlüsse nachzuholen, Orientierungsangebote wahrzunehmen, eine Ausbildung zu absolvieren usw. Schulen, die bereits oder künftig von Sinti und Roma besucht werden, sollten zielgruppenspezifische Beratungsangebote bereithalten und für die gezielte Förderung dieser Gruppen sensibilisiert und mit entsprechenden Kenntnissen ausgestattet werden. Damit verbunden ist ein Balanceakt, der im Übrigen auch für andere im Bildungswesen Tätige gilt: die Realisierung der zielgruppenspezifischen Förderung einerseits bei gleichzeitiger NichtStigmatisierung der zu Fördernden andererseits. Hier könnte die Vernetzung mit Initiativen im Bereich der Jugendarbeit, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheitengruppen gemeinsam getragen und ausgestaltet werden, wie bspw. Amaro Drom e. V., hilfreich sein. Tertiärer Bildungsbereich Es ist nicht bekannt wie hoch der Anteil von Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland ist, die studieren, er wird jedoch äußerst gering ausfallen und sollte erhöht werden. Dazu sollten Anreize geschaffen werden, die den potenziell infrage kommenden Kandidatinnen und Kandidaten die Aufnahme eines Studiums erleichtern. Denkbar wäre bspw. die Vernetzung selbiger mit bereits studierenden Sinti und Roma oder solchen, die bereits ein Studium erfolgreich absolviert haben, sowie Förderangebote von Stiftungen, einschließlich begleitender und beratender Angebote. Sinti und Roma sollten in der Lehrerbildung thematisiert und entsprechende Veranstaltungsinhalte entwickelt und zur Verfügung gestellt werden, um angehende Lehrkräfte für diese Gruppe zu sensibilisieren. Im Hinblick auf die Heterogenität der Schülerschaft an bundesrepublikanischen Schulen wäre dies eine Facette, für die an bereits vorliegende Konzepte und Ansätze insbesondere aus dem Kontext der interkulturellen Erziehung und Bildung angeknüpft werden könnte. Jugendverbände von Sinti und Roma Jugendverbände von Sinti und Roma oder solche, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit gemeinsam getragen und ausgestaltet werden, bieten die Möglichkeit an bereits bestehende Strukturen anzuknüpfen und Ansätze und Initiativen zu fördern, die nicht nur explizit
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die Integration von Sinti und Roma anstreben, sondern diese bereits praktizieren. Solche Jugendverbände weisen eine Nähe zu den Lebenswelten der Heranwachsenden auf und verfügen damit über einen Zugang zu ihnen, die sie von den meisten im Bildungsbereich professionell Tätigen unterscheidet. Es wäre zu prüfen, inwieweit dort vorhandene Potenziale für die Bildungsarbeit mit Sinti und Roma ausgebaut und für andere Teilbereiche des Bildungswesens adaptiert werden könnten.
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Autorinnen und Autoren
Anne Broden, Dipl.-Theologin und Historikerin, ist Leiterin des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in NordrheinWestfalen (IDA-NRW) und arbeitet dort zu den Themen Rassismuskritik, Rechtsextremismus und Pädagogik in der Migrationsgesellschaft. Aktuelle Veröffentlichungen u. a.: Anne Broden (2012): Aspekte einer kritischen politischen (und sozialen) Bildungsarbeit mit rechtsextremen und -affinen Jugendlichen, in: IDA-NRW (Hg.): Überblick 2/2012, 9-16; Anne Broden (2013): Migration und europäische Abwehrpolitik, in: IDA-NRW (Hg.): Überblick 4/2013, 6-12. Micha Brumlik, emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt a. M., ist seit Oktober 2013 Senior Advisor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin/Brandenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Theorie der Bildung und Erziehung, moralische Sozialisation, Antisemitismusforschung, Religionsphilosophie. Von 2000 bis 2005 Leiter des Fritz-Bauer-Instituts Frankfurt a. M., Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Stadtverordneter der Grünen in Frankfurt a. M. von 1989-2001; Mitherausgeber von „BABYLON – Beiträge zur jüdischen Gegenwart“, Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“; Autor und regelmäßiger Kolumnist („Gott und die Welt“) der taz. Letzte Publikationen: Micha Brumlik (2009): Kurze Geschichte: Judentum, Berlin; Micha Brumlik (2010): Entstehung des Christentums, Berlin; Micha Brumlik (2013): Innerlich beschnittene Juden. Zu Eduard Fuchs „Die Juden in der Karikatur“, Hamburg; Micha Brumlik (2013): Messianisches Licht und
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Menschenwürde, politische Theorie als Quellen jüdischer Tradition, BadenBaden Leah Carola Czollek, BA, Studium der Rechtswissenschaften und Sozialen Arbeit, ist Geschäftsleiterin des Instituts Social Justice und Diversity Berlin (www.social-justice.eu) und Mediatorin, freiberufliche Trainerin, Begründerin und Ausbilderin für Social Justice und Diversity Trainings. Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und der Fachhochschule Potsdam. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind: Interkulturelle Mediation, Dialog, Interkulturalität, Rassismus, Antisemitismus, Social Justice und Diversity Training, Gender-Training, Resilienz-Training. Aktuelle Publikationen finden sich unter: www.czollek-consult.de Sabine Hornberg, Dr. phil. habil., Lehrstuhl Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik im Kontext von Heterogenität, ist Leiterin des Instituts für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik (IADS) an der Technische Universität Dortmund. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Internationalisierung von Bildung, Erziehung und Schule, Europäische Schulentwicklung, Transnationale Bildungsräume, Lehren und Lernen im Kontext von Heterogenität, Interkulturelle Pädagogik, empirische Bildungsforschung, Roma im Bildungswesen. Radostin Kaloianov, Sozialphilosoph, ist derzeit Referent für Grundlagenund Öffentlichkeitsarbeit von Interface Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Integration, Migration, Diskriminierung, soziale Gerechtigkeit, kritische Sozialforschung, Affirmative Action für MigrantInnen. Kommende Buchpublikation: Exzellenz oder Existenz. Studie zur Kritik und Migration, Münster Serhat Karakayali hat in Frankfurt a. M. zur Genealogie illegaler Migration promoviert, ist u. a. Mitbegründer des Forschungsprojekts Transit Migration (www.transitmigration.org) und des Forschungsnetzwerks Kritische Migrationsforschung (www.kritnet.org) und war zuletzt Mitarbeiter am Lehrstuhl für soziologische Theorie am Institut für Soziologie der Universität Halle-Wittenberg. Zur Zeit ist er Gastwissenschaftler der Universität Hamburg und arbeitet an einem Projekt zur „Transversalen Solidarität“.
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Paul Mecheril, Prof. Dr., lehrt am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und ist Direktor des Center for Migration, Education and Cultural Studies. Promotion an der Universität Münster in Psychologie, an der Universität Bielefeld habilitierte er sich im Fach Erziehungswissenschaft mit einer Arbeit zu (Mehrfach)Zugehörigkeiten in der Migrationsgesellschaft. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Migrationspädagogik, Pädagogische Professionalität, Bildungsforschung sowie methodologischen und methodischen Fragen der Interpretation. Aktuelle Buchpublikationen: Paul Mecheril u. a. (2013): Differenz unter Bedingungen von Differenz. Zu Spannungsverhältnissen universitärer Lehre, Wiesbaden; Paul Mecheril u. a. (Hg.) (2013): Migrationsforschung als Kritik? Band I: Konturen eines Forschungsprogramms, Wiesbaden; Paul Mecheril u. a. (2013): Migrationsforschung als Kritik? Band II: Spielräume der Kritik, Wiesbaden Astrid Messerschmidt, Prof. Dr. phil., ist Erziehungswissenschaftlerin und Erwachsenenbildnerin, Professorin für Interkulturelle Pädagogik/ Migrationsgesellschaftliche Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und Referentin zu zeitgeschichtlicher politischer Bildung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Bildung im Kontext von Migration, Verschiedenheit und Diskriminierung; Rassismus und Antisemitismus als Bildungsprobleme; Pädagogik in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus; Kritische Bildungstheorie. Gudrun Perko, Mag.a Dr., Philosophin, ist Professorin an der FH Potsdam zu Gender und Diversity (Fachbereich Sozialwesen), Wissenschaftscoach und Mediatorin, Begründerin und Ausbilderin für Social Justice und Diversity Trainings (www.social-justice.eu). Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: politische Philosophie, Ethik, Gender, Queer, Diversity, Social Justice, kritische Kompetenzforschung. Aktuelle Publikationen finden sich unter: www.perko-profundus.de Mark Schrödter, Dr., studierte Social Anthropology an der University of London und Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld. Seit 2010 ist er Professor für Sozialpädagogik des Kindes- und Jugendalters am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel. Seine Arbeits-
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schwerpunkte sind: Theorie der Sozialpädagogik, Soziale Arbeit und Soziale Gerechtigkeit, Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung. Krassimir Stojanov ist Professor für Bildungsphilosophie und Systematische Pädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine aktuellen Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Bildungsgerechtigkeit und eine Neufassung des Bildungsbegriffs, die den sozialen Voraussetzungen und den politischen Rahmenbedingungen von Humanentwicklung Rechnung trägt. Aktuelle Veröffentlichungen: Krassimir Stojanov (2006): Bildung und Anerkennung, Wiesbaden; Krassimir Stojanov (2011): Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs, Wiesbaden; aktuelle deutsch- und englischsprachige bildungsphilosophische Zeitschriftsaufsätze.