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German Pages VIII, 325 [327] Year 2020
Julia Müller
Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde Zu den normativen Grundlagen einer moralischen Herausforderung
Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde
Julia Müller
Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde Zu den normativen Grundlagen einer moralischen Herausforderung
Julia Müller Kiel, Deutschland Zugleich Dissertation an der Universität Bielefeld, 2019 Die Dissertation wurde durch ein Promotionsstipendium des Evangelischen Studienwerkes Villigst e.V. gefördert.
ISBN 978-3-662-62574-3 ISBN 978-3-662-62575-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die Veröffentlichung meiner Dissertation, die im Frühjahr 2019 an der Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie an der Universität Bielefeld in der Abteilung Philosophie angenommen worden ist. Die Arbeit habe ich an der Universität Potsdam, wo ich mein Studium der Philosophie absolvieren durfte, begonnen und an der Universität Bielefeld fortgeführt und abgeschlossen. Das Forschungsprojekt ist aus der Beschäftigung mit der humanitären Hilfe der Bundesrepublik zu den Hungersnöten im Sahel im Rahmen meiner Magisterarbeit entstanden. Aus der zeithistorischen Analyse entstand die Frage nach der ethischen Beurteilung des Welthungers. Dem historischen Interesse folgte die philosophische Neugierde herauszufinden, wie die Situation des Welthungers aus normativer Sicht zu beurteilen ist. Außerdem drängte sich die philosophische Frage auf, wie grundlegende Normen unserer Moral mit den elenden Zuständen in der Welt vereinbar sein können. Bei Ralf Stoecker lernte ich viel über den Begriff der menschlichen Würde bzw. der Menschenwürde und die Idee beide Themen zu verbinden entstand. Diese Arbeit hätte ohne die Unterstützung und Begleitung vieler Menschen nicht entstehen können. Daher möchte ich mich an dieser Stelle für die umfangreiche Hilfe, die mir zuteilwurde, bedanken. Ralf Stoecker hat nicht nur die Arbeit von Beginn an betreut, sondern mich mit seiner eigenen Forschung zu Fragen menschlicher Würde inspiriert. Insbesondere für seine langjährige Geduld mit mir und meinem Projekt schulde ich ihm Dank. In seinem Doktoranden-Kolloquium konnte ich immer wieder Teile meiner Arbeit zur Diskussion stellen und habe von
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Vorwort
den Gesprächen mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern profitiert. Stephan Schlothfeldt danke ich für das spontane Zweitgutachten, zu dem er sich kurzfristig bereit erklärt hat. Ohne die finanzielle Unterstützung des Evangelischen Studienwerks Villigst e.V. hätte ich das Projekt nicht beginnen können. Für die Gewährung eines Promotionsstipendiums bin ich den Villigstern mit Dank verbunden. Clemens Sedmak danke ich für die Einladung zu einem Forschungsaufenthalt an das Internationale Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen in Salzburg zu Beginn dieses Projektes. Den größten Anteil am erfolgreichen Abschluss dieses Buches haben meine philosophischen Freunde Julia Engels, Thomas Wachtendorf und Nele Röttger. Ich danke ihnen für endlose Gespräche, Diskussionen und philosophischen Streit, die für dieses Buch unabdingbar waren. Aber insbesondere danke ich ihnen für die tiefe Freundschaft und die Verbundenheit in allen philosophischen Fragen. Kati LüdeckeRöttger und Britta Petersen haben mir geholfen, aus dem Manuskript ein lesbares Buch zu machen. Kristina Poncin danke ich für die nette Begleitung bei der Veröffentlichung im J.B. Metzler Verlag. Ohne die Unterstützung meiner Eltern und ihr unerschütterliches Vertrauen in meine Fähigkeiten hätte ich diese Arbeit nicht vollendet. Ich danke Euch für all die Ermutigungen auf meinem Weg.
Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................................... V 1
Einleitung ...................................................................................................... 1
Teil I Weltarmut und Welthunger als normative Herausforderungen ........... 7 2
Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik ......................... 9 2.1 Historische Dimension der Armut ................................................. 10 2.2 Deskriptive Dimension der Armut ................................................ 26 2.3 Normative Dimension der Armut .................................................. 33 2.4 Weltarmut und Welthunger als eine Frage der Menschenwürde................................................................................. 48
3
Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem .................................................... 53 3.1 Armut und Rettung aus der Not: Lifeboat Ethics ....................... 54 3.2 Armut und globale Gerechtigkeit ................................................... 69 3.3 Armut und Menschenrechte............................................................ 81 3.4 Armut und das Gute Leben: der Capability-Approach............. 101
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Menschliche Würde als normative Grundlage .................................... 117 4.1 Menschenwürde als normativer Bezugspunkt ............................ 117 4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel ..................... 124 4.3 Menschliche Würde aus ihrer Negation verstehen .................... 152
Teil II Armut als Gefahr für die menschliche Würde ................................. 159 5
Armut und entwürdigende Abhängigkeit ............................................. 161 5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut ............ 164 5.2 Gefährdete Selbstachtung .............................................................. 186
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Armut und entwürdigende Ungleichheit .............................................. 195
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Inhaltsverzeichnis
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut ........ 197 6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde ....................................................................... 215 Teil III Globaler Hunger als Folge der schweren Armut ............................. 237 7
Überleben am Existenzminimum .......................................................... 239 7.1 Verletzbares Leben und menschliche Grundbedürfnisse ......... 239 7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen............................................ 243
8
Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger .............. 259 8.1 Das Verhältnis von menschlicher Würde und Menschenrechten ............................................................................ 260 8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung ....................................................................... 266
9
Verletzungen der menschlichen Würde durch Hunger ..................... 287 9.1 Würde als gleicher und nobler Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben .............................................................. 289 9.2 Die Einordnung des Welthungers ................................................ 292
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Schluss........................................................................................................ 299
Literaturverzeichnis ............................................................................................. 307
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Einleitung
Weltweit leben Millionen von Menschen in schwerer Armut und trotz des Reichtums der Welt verhungern täglich Menschen, weil sie zu arm sind, um ausreichend Essen auftreiben zu können. Die Menschen, die hungern, kämpfen jeden Tag um ihr Überleben. Sie sind so arm, dass sie ihr Überleben nicht ausreichend sichern können. Die Lebensbedingungen dieser Menschen sind in der Regel in verschiedener Hinsicht sehr schlecht. Ihnen fehlt es an Essen und an Trinkwasser, an einer vernünftigen Behausung und dem Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung. Häufig müssen bereits die Kinder arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen, welches dennoch kaum zum Überleben reicht. Die Zahlen dazu sind erschreckend: Diese schwere Armut betrifft mindestens 800 Millionen Menschen weltweit. Jeden Tag verhungern tausende Kinder, während in der ersten Welt ein maßloser Überfluss herrscht und etwa ein Drittel aller Nahrungsmittel aufgrund extrem hoher Konsumansprüche vernichtet wird. Diese Form des Ungleichgewichts löst bei den meisten Menschen Mitgefühl aus. Die Leiden, die von schwerer Armut betroffene Menschen ohne eigenes Verschulden in elenden Bedingungen ertragen müssen, die häufig mit Krankheit, Leid und einem vorzeitigen Tod einhergehen, sind groß. Viele der Umstände, die ein solches Leben kennzeichnen, sind für relativ wohlhabende Europäer unvorstellbar. Ob in den Steinbrüchen Indiens, auf den Müllkippen Indonesiens oder in den Gemüseplantagen Südeuropas, weltweit finden sich Menschen in der Situation, dass sie nicht genügend haben, um zu leben. Diese Menschen kämpfen dort jeden Tag um ihr Überleben, auch wenn wir aufgrund der medialen Präsenz vor allem im Fall von Naturkatastrophen darauf aufmerksam werden. Häufig reagieren wir darauf mit der Überzeugung, dass etwas gegen diese Zustände getan werden muss. Wir sind überzeugt, dass Kinderarbeit verboten sein muss und Sklaverei abgeschafft werden © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_1
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1 Einleitung
muss und dass es Menschen möglich sein soll, von ihren Löhnen leben zu können. Der formulierte Anspruch und die Wirklichkeit klaffen hier weit auseinander. Die Gemeinschaft der Staaten hat diese Herausforderung vor vielen Jahren erkannt und bemüht sich seitdem, diese Probleme zu bekämpfen. Dennoch bleibt die Zahl der betroffenen Menschen auf konstant hohem Niveau. Immer wieder erschrecken Reportagen über die Slums afrikanischer Städte oder die Ausbeutung von landlosen Arbeitern mit einem Einblick in die Lebensumstände, die dort herrschen. Diese Zustände werden nicht nur als Ausdruck einer ungerechten Welt verstanden, sondern lösen mitunter Empörung aus. Menschen, die dieser Lebensbedingungen gewahr werden, betrachten sie als menschenunwürdig. Es scheint moralisches Unrecht zu sein, dass viele Menschen so arm sind, dass das, was sie haben, nicht einmal zum Überleben reicht, während gleichzeitig eine kleine Elite über gewaltige Reichtümer verfügt und in unverhältnismäßigem und exzessivem Luxus lebt. Schnell geraten wir bei solchen Überlegungen in eine moralische Zwickmühle. Es stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass Menschen so arm sind und warum eine gerechtere Verteilung nicht möglich ist. Viele Menschen sehen in der Weltarmut nicht nur einen Skandal, sondern auch eine Verletzung der menschlichen Würde. Diese Intuition, dass es sich hier um eine Verletzung der menschlichen Würde handelt, sagt uns, dass kein Kind hungernd und im Dreck, ohne Bildung und Zugang zu medizinischer Versorgung aufwachsen sollte. Solch eindeutigen Urteilen zum Trotz folgt der ersten moralischen Empörung häufig nicht viel. Mitunter spendet man eine bestimmte Summe an Geld, doch in unserem alltäglichen Handeln wird anderen Dingen als dem Welthunger und der Armut Aufmerksamkeit geschenkt. Das Leid scheint schrecklich, aber eben auch fern und insofern außerhalb unserer Verantwortung zu liegen. Moralphilosophisch lassen sich diese Tatsachen und Überlegungen allerdings nicht so leicht
1 Einleitung
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abschütteln. Weltarmut und Welthunger als eine Verletzung der Menschenwürde zu bezeichnen, ist von der Warte der Moralphilosophie aus betrachtet ein fundamentaler Vorwurf. Ein solcher Vorwurf weist darauf hin, dass es hier um eine besonders schwere Art von Unrecht geht, die sich von moralischen Vergehen wie Lügen oder Diebstahl maßgeblich unterscheidet. Die Schwere dieses moralischen Vorwurfs und die landläufige Untätigkeit passen offensichtlich nicht zusammen, und das wirft wichtige Fragen auf. Ist es tatsächlich so, dass ein Leben in schwerer Armut die Menschenwürde verletzt? Viele teilen eine starke Intuition, die dafür spricht, doch möglicherweise ist diese Intuition falsch. Es könnte sein, dass der Begriff der Menschenwürde nicht adäquat verwendet wird oder nichts zur moralphilosophischen Debatte beiträgt und es auf diesem Weg zu Verwirrungen und falschen Urteilen kommt. Ein solcher Irrtum würde nicht ausschließen, dass es sich um ein Unrecht handelt, wenn Menschen in Hunger und Armut leben, doch es wäre damit nichts über die Schwere dieses Unrechts gesagt. Vielleicht liegen wir mit der Intuition zur moralischen Relevanz von Weltarmut und Welthunger grundlegend falsch und haben es nicht mit einem moralischen Problem von besonderer Geltung zu tun. Unter der Annahme, dass doch etwas an unserer Intuition berechtigt ist, würden wir damit allerdings die Bedeutung des mit Weltarmut und -hunger verbundenen moralischen Versagens erheblich unterschätzen. Ausgehend von dieser Irritation, dass unsere moralische Einschätzung des Welthungers im krassen Widerspruch zu unseren alltäglichen Prioritäten steht, möchte ich den Fragen nachgehen, die sich daraus ergeben. Handelt es sich bei schwerer Armut und Hunger tatsächlich um Verletzungen der Menschenwürde? Eine moralphilosophische Untersuchung verlangt eine Antwort auf die Frage, was man unter Menschenwürde verstehen soll. Davon erhoffe ich mir zweierlei: einerseits einen Beitrag zu einem angemessenen Verständnis der menschlichen
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1 Einleitung
Würde zu leisten und andererseits herauszufinden, wie die Phänomene des Welthungers und der Weltarmut aus normativer Sicht zu beurteilen sind. Aus diesem Urteil erwachsen viele weitere Fragen. Wenn wir besser verstehen, in welchem Verhältnis das philosophische Verständnis der Menschenwürde und Welthunger und Weltarmut zueinanderstehen, dann können wir zu einem begründeten Urteil kommen und müssen uns nicht länger auf unsere Intuition verlassen. Dieses Buch hat also zwei Themen: die menschliche Würde und die Weltarmut/den Welthunger. Im Folgenden geht es also darum zu klären, ob die Weltarmut und insbesondere der Welthunger Verletzungen der menschlichen Würde bedeuten und, falls dem so ist, wie sich dieses Urteil begründen lässt. Für diese Begründung ist es wichtig, sagen zu können, worin die Verletzungen der Menschenwürde bestehen. Die Arbeit besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil werden das angewandte Problem und die philosophische Frage geklärt. Im zweiten Teil folgt eine Untersuchung möglicher Bedrohungen und Verletzungen der Würde und es wird geprüft, inwieweit der Vorwurf der Würdeverletzung haltbar ist. Im letzten Teil wird eine Beschreibung der Würdeverletzung auf das Problem des Welthungers angewandt, um Implikationen des Urteils zu diskutieren. Im ersten Teil Weltarmut und Welthunger als moralische Herausforderungen gehe ich der Frage nach, inwiefern das Phänomen der Weltarmut und des Welthungers ein moralphilosophisches Problem darstellt und was unter den Begriff der Armut fällt. Da es sich um ein philosophisch recht junges Problem handelt, werde ich nachzeichnen, wie Weltarmut und Welthunger zu normativen Herausforderungen geworden sind. Aus welchen Gründen wird schwere Armut verurteilt und was können diese Ansätze beitragen, um meine Frage zu klären? Die Diskussionen
1 Einleitung
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um Lifeboat Ethics, den Begriff der globalen Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Fähigkeiten-Ansatz bieten hilfreiche Elemente, um zu verstehen, worin die Ungerechtigkeit von Armut liegt und welche moralischen Pflichten sich gegenüber armen Menschen begründen lassen. Im zweiten Teil Armut als Gefahr für die menschliche Würde werden die Negationen von Würde im Fall von Armut analysiert und es wird untersucht, inwiefern von Verletzungen der menschlichen Würde gesprochen werden kann. Zwei wesentliche Begriffe für das Verständnis menschlicher Würde sind die Freiheit des Menschen und die Gleichheit der Menschen. Sowohl die Freiheit der Menschen als auch ihre Gleichheit werden aber von der Situation der Armut beeinflusst. Arme Menschen mangelt es an Handlungsmöglichkeiten und freie Entscheidungen sind in der Not häufig nicht möglich. Arme Menschen sind in Bezug auf ihre Lebenssituation außerdem deutlich schlechter gestellt und in dieser Hinsicht besteht eine Ungleichheit zu ihren Mitmenschen. Es entsteht die Frage, ob und inwieweit Armut die wesentliche Freiheit und Gleichheit der Menschen untergräbt und bedroht. Ich gehe also der Frage nach, ob Armut die menschliche Freiheit zerstört. Die Gefahren, die sich aus der Negation von Freiheiten im Handeln für arme Menschen ergeben, werden in Hinblick auf die Selbstachtung betrachtet. Im Anschluss untersuche ich das Problem, dass die Gleichheit der Menschen in ihrem moralischen Status durch Armut verhindert oder negiert wird. Die durch Armut entstehenden Asymmetrien in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen zeigen auf, dass entwürdigende Ungleichheiten entstehen. Es wird gezeigt, dass Armut die Prämisse der Gleichheit der Menschen negiert und auf so die Achtung der menschlichen Würde gefährdet wird.
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1 Einleitung
Im dritten Teil werden die Implikationen der Würdeverletzungen für den Welthunger entfaltet. Aus einer Beschreibung der armutsbedingten Würdeverletzungen werden hier inhaltliche Bestimmungen für das Recht auf Nahrung abgeleitet. Dazu werde ich im siebten Kapitel untersuchen, ob die Missachtung menschlicher Grundbedürfnisse entwürdigende Lebensbedingungen hervorbringt. Im achten Kapitel wird die Möglichkeit eines Menschenrechts gegen den Hunger, das sich aus dem Anspruch der Würde ergibt, eruiert. Dies führt schließlich zu der Frage, wie das Menschenrecht auf Nahrung verstanden werden muss, um das Problem des Welthungers als Menschenwürdeverletzung angemessen zu berücksichtigen. Im letzten Kapitel wird die Verletzung menschlicher Würde durch den Welthunger abschließend eingeordnet. Als Ergebnis wird die Frage nach verletzter menschlicher Würde beantwortet: ein Leben unter den Bedingungen des chronischen und strukturellen Hungers ist entwürdigend und nicht vereinbar mit dem universalen Anspruch auf ein Leben mit Würde. Außerdem wird der fundamentale Charakter des moralischen Unrechts verdeutlicht und die Dringlichkeit der Verantwortungsübernahme angezeigt. Das normative Postulat der Achtung und des Schutzes der Würde aller Menschen verlangt auf globaler Ebene die Beseitigung dieser Zustände.
Teil I Weltarmut und Welthunger als normative Herausforderungen
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Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
Für eine moralphilosophische Untersuchung muss das Phänomen zunächst als ethisches Problem dargestellt werden, um zu prüfen, ob ethische Theorien Antworten darauf bieten. Im Rahmen der angewandten Ethik stellt die komplexe Situation der Weltarmut eine Herausforderung für die philosophischen Theorien dar. Die vielfältige Ursachenverantwortung und die unklare Beseitigungsverantwortung für Armut machen es schwierig zu beantworten, was angesichts der Weltarmut getan werden sollte, und es stellt sich die Frage, wie eine angemessene ethische Beurteilung aussehen mag. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, dieser Herausforderung mit Bezug auf den Begriff der Menschenwürde zu begegnen und zu ergründen, ob es mit der menschlichen Würde vereinbar sein kann, dass viele Menschen sehr arm sind. Der Ausgangspunkt der Debatte sind die Fragen, wie das Phänomen der Armut als moralisches Problem beschrieben werden kann und was wir armen Menschen in moralischer Hinsicht schulden. Dazu wird zunächst die historische Entwicklung, die zu unserem heutigen Verständnis von Weltarmut und Welthunger geführt hat, dargestellt. Zunächst werde ich den Blick darauf lenken, wie die Phänomene von Armut und Hunger zu einer globalen und universalen Herausforderung geworden sind. Dabei ist die Herausforderung zweierlei: Zum einen gibt es den existenziellen Mangel schon seit Menschengedenken, zum anderen ist das Phänomen der Weltarmut als universale moralische Herausforderung relativ neu. Historisch betrachtet sind dabei zwei Zäsuren von wichtiger Bedeutung: Zunächst die grundlegende Veränderung auf globaler Ebene im Anschluss an den zweiten Weltkrieg, die neue normative Referenzpunkte herausgebildet hat sowie die Welternährungskrise
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_2
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, die das Thema der notleidenden Armut zu einem Problem mit globaler Reichweite hat werden lassen. Klar ist, dass das Thema Armut so alt ist wie die Menschheit selbst. Doch die Bezugnahme auf einen globalen Interaktionszusammenhang ist relativ neu und geht damit einher, dass die Wahrnehmung der Armut als ein globales Problem eng mit Fragen nach moralischer Verantwortung verknüpft ist. Dazu wird die Entstehung des globalen politischen sowie des universalen normativen Bezugsrahmens dargestellt. 2.1 Historische Dimension der Armut Die Zeugnisse menschlicher Geschichte zeugen von Phasen der Armut und Knappheit sowie des Hungers. Zu den meisten Zeiten herrschte immer irgendwo Armut und Hunger, während an anderen Stellen Wohlstand entstehen konnte. Die Sorge, nicht ausreichend zu essen zu haben, begleitete einen Großteil der Menschen in der Menschheitsgeschichte. Die Liste der größten Hungersnöte der Geschichte1, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, verzeichnet eine Vielzahl katastrophaler Hungersnöte in den verschiedenen Teilen der Welt. Das Charakteristische an dieser Form des Hungers ist, dass er ein regionales und zeitlich begrenztes Phänomen war und auch so wahrgenommen wurde. In Zeiten, in denen ein Großteil der Menschen mit der Produktion der eigenen Nahrungsmittel beschäftigt war, führten schlechte Ernten oder Ernteausfälle durch Krieg zwangsläufig zur partiellen Verknappung, die wiederum automatisch zur Folge hatte, dass Menschen hungern mussten. Natürlich gab es auch von jeher Menschen, die aufgrund der sozialen Strukturen chronisch Hunger litten und so arm wa-
1
Vgl. Nussbaumer, Josef/ Rüthemann, Guido, Schwere Hungerkatastrophen seit 1845, Innsbruck: 2003.
2.1 Historische Dimension der Armut
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ren, dass sie nicht für ihr Leib und Leben sorgen tragen konnten. Sklaven und Leibeigenen war die Möglichkeit, für ihr würdiges Dasein in dem hier relevanten Sinn zu sorgen, grundsätzlich verwehrt. Die bittere Armut der Menschen bestand aus echtem Mangel und der Knappheit an Ressourcen, weil ihnen die Möglichkeiten fehlten, die natürlichen Ressourcen zu nutzen. Der geringe Entwicklungsgrad in technischer Hinsicht machte die Menschen abhängiger von natürlichen Gegebenheiten wie Witterungseinflüssen, Wasserversorgung und natürlichen Ressourcen. Akute Hungersnöte traten insbesondere als Folge von Kriegen oder Seuchen auf (z.B. die Pest in Europa im Zuge des 30-jährigen Krieges im 17. Jahrhundert2). Periodische Hungerzeiten (über den Winter) waren verbreitet und abhängig von der geographischen Lage mit entsprechenden Opferzahlen verbunden.3 Die Armut ist in historischer Perspektive in einer größeren Naturabhängigkeit, eingeschränkten Nutzungspotenzialen von natürlichen Ressourcen sowie begrenzten Techniken und Technologien zu verorten. Abgesehen von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit waren die Möglichkeiten, materiellen Reichtum zu erwirtschaften, die mit einer Steigerung der Lebensqualität der Menschen einhergingen, weitaus begrenzter. Außerdem waren Kriege ein Hauptfaktor für die Entstehung von Verarmungsprozessen. Insbesondere die Verknappung von Nahrungsmitteln durch die Vernachlässigung der Landwirtschaft spielte dabei eine große Rolle. Die Zivilbevölkerung aushungern zu lassen, gilt als eines der ältesten Mittel der Kriegsführung, welches durch die Einhegung im Völkerrecht geächtet wurde, um derartige Praktiken heute zu
2
3
Vgl. Nussbaumer, Josef/ Rüthemann, Guido, Hungernde, Unwetter und Kannibalen: Chroniken, Innsbruck: 2004, S. 75. Vgl. Metz, Karl Heinz, Geschichte der sozialen Sicherheit, Stuttgart: 2008, S. 43.
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
verhindern.4 Doch auch heute noch spielen Kriege eine zentrale Rolle bei der Vernichtung und Zerstörung von materiellen Ressourcen und tragen einen erheblichen Anteil an der Armut.5 Der Mangel an existenziellen Gütern war unvermeidbar in Zeiten, in denen die Menschen stark von der Natur und ihren Ressourcen, die ohne technischen Einsatz verfügbar waren, abhängig waren. Zwar gab es Zeiten, in denen sie weniger Mangel litten, doch in großen Teilen der Geschichte der Menschheit war der Kampf um das Überleben alltäglich. In der Naturabhängigkeit der Menschen war der Mangel von existenziellen Gütern unvermeidbar. Der alltägliche Überlebenskampf konnte bessere und schlechtere Zeiten haben, war jedoch in großen Teilen der Geschichte für die Mehrheit der Mensch in ihrer Form als existenzielle Güterknappheit [war, J.M.] der Urzu6 Damit ist gesagt, dass die Erfahrung des Mangels die Menschen schon immer begleitet und keineswegs erst als neuartiges Phänomen zutage gekommen ist. Der Unterschied zwischen der Geschichte und der Gegenwart besteht demnach nicht darin, ob die Menschen Armut und Mangel erfahren oder nicht, sondern in einer anderen Beurteilung und einem anderen Umgang mit dieser Erfahrung u.a. durch die Zuschreibung von Ursachen und deren normativer Bewertung.
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Vgl. Vereinte Nationen, Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. IStGH-Statut. 17. Juli 1998, Art. 8, Abs. 2. Vgl. Welthungerhilfe/ International Food Policy Research Institute (IFPRI)/ Concern worldwide, Welthunger-Index 2016, S. 14; Weingärtner/Trentmann, Handbuch Welternährung, S. 69 ff. Hartlieb, Michael, Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut: Eine sozialethisch-systematische Relektüre des Würdebegriffs, Paderborn, München [u.a.]: 2013, S. 45.
2.1 Historische Dimension der Armut
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Um sich gegen die schlimmsten Folgen von Armut und Mangel zu schützen, entwickelten Menschen schon früh Systeme der sozialen Absicherung in Gemeinschaften, um eine Versorgung von kranken, alten oder bedürftigen Menschen zu gewährleisten. Diese Absicherung war allerdings beschränkt auf einen engen Kreis und schützte nicht vor Armut und Mangel, sondern versorgte im Idealfall ausgewählte Bedürftige mit dem Nötigsten zum Überleben. Während es in der Antike begrenzte soziale Sicherung für Bürger gab, die im Krieg gedient hatten, waren große Teile der Bevölkerung von jeglicher Sicherheit und Schutz ausgenommen. Eine minimale Absicherung gab es nur für Teile der privilegierten Bürger.7 Auch im Mittelalter war das Leben für einen Großteil der Bevölkerung von Entbehrungen und materieller Armut geprägt. Die Versorgung der armen und notleidenden Menschen wurde in dieser Zeit vornehmlich von christlichen Institutionen wie Klöstern und Kirchen übernommen. Erst mit der Industrialisierung entstanden in Europa gesellschaftliche Institutionen der Armenfürsorge 8, die über einen konfessionellen Rahmen und eine christliche Motivation hinausgingen. Mit dem historischen Prozess der Verstädterung, der gesellschaftlichen Diversifizierung, dem steigenden Bevölkerungswachstum und der beginnenden Industrialisierung nahm die Zahl derjenigen Menschen zu, die materielle Armut litten. Die marktwirtschaftliche Organisation der Wirtschaft und die Entstehung der Lohnarbeit brachten eine neue
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Vgl. Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 13 f. Vgl. Tocqueville, Alexis d., Denkschrift über den Pauperismus: 1835, (Hg.) Harald Bluhm, Schriften zur europäischen Ideengeschichte Bd. 1, Berlin: 2006; Kleine politische Schriften, S. 69: Act for the relief of the Poor (1601); Poor Laws Amendment Act. (1834).
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
Form der Armut in den Staaten Europas auf. Schon in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dieser neuen Armut wurden die Abhängigkeit der Lohnarbeiter, ihre Ausbeutung und die ungleichen Besitzverhältnisse innerhalb der Gesellschaft kritisiert.9 Während bei Karl Marx die industrielle Reservearmee unter den Verteilungsbedingungen litt, geht es einer anderen Gruppe von Menschen noch schlechter, nämlich der des sogenannten Lumpenproletariats, zu dem all diejenigen gehörten, die heimatlos, arbeitsunfähig, krank oder kriminell waren. Armut stellte damit die negative Seite des gesellschaftlichen Fortschritts dar 10, deren Opfer durch die Annahme von Hilfe ihre eigene Abhängigkeit noch festigten.11 In der Neuzeit entwickelte sich der Umgang mit armen Menschen hin zu einer wachsenden Institutionalisierung einerseits der christlichen Armenfürsorge und andererseits einer staatlichen Disziplinierung. Es wurden Armenhäuser gegründet, die Menschen aufnahmen und ihnen Nahrung gaben, aber dafür auch Arbeit verlangten.12 Die Hilfe für arme Menschen war auf soziale Kontexte beschränkt. Unterstützung konnten die betroffenen Menschen im Kontext ihrer Kirche, ihrer Stadt oder Gemeinde erhoffen, sie spielte sich dementsprechend zu großen Teilen innerhalb von engen gesellschaftlichen Grenzen ab. Auch die moralischen Pflichten gegenüber anderen Menschen beziehen sich in dieser Zeit vornehmlich auf einen solchen sozialen Kontext. Mit der Schaffung der Armenfürsorge durch Armenhäuser wird in der Herausbildung des Kapitalismus der vermeintliche
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Vgl. Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 44. Vgl. Marx, Karl, Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, in Marx Engels Werke, (Hg.) Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, MEW (Berlin: 1972), 23, S. 673. Vgl. Tocqueville, Denkschrift über den Pauperismus, S. 73. Vgl. Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 30 f.
2.1 Historische Dimension der Armut
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Grund der individuellen Schuld an der Armut durch Faulheit geschaffen. Diese These behauptet, dass Armut in der Faulheit der Menschen begründet liege und die wirtschaftliche Unterentwicklung darauf zurückzuführen ist. Dieser Idee zugrunde liegt die Annahme, dass wer bereit war zu arbeiten, auch genug zum Überleben hatte.13 Die Einhegung der Armen in den Armenhäusern, in denen sie zur Arbeit gezwungen wurden, sollte diesem Laster Abhilfe verschaffen. Armut war historisch lange gekennzeichnet durch generelle Knappheit an materiellen Gütern und die Mehrzahl der Menschen war davon betroffen. Hinzu kamen punktuelle Krisen, in denen die Not noch größer wurde, etwa weil Ernten ausfielen, die Vorräte nicht ausreichten oder Krankheiten ausbrachen. Hilfe wurde dann im Rahmen familiärer Beziehungen geleistet oder durch gesellschaftliche Institutionen, wie die Kirchen. Kennzeichnend für die Formulierung von Hilfspflichten gegenüber armen Menschen war bis in das 20. Jahrhundert hinein, dass diese Pflichten partikular gedacht wurden. Menschen, die aufgrund von Armut in Not waren, wurde lediglich in engen Bindungen Hilfe geleistet, doch es bestand kein allgemeines Anliegen, Menschen vor Armut zu schützen. Die Hilfspflichten gegenüber armen Menschen bestanden insofern bloß punktuell, situationsabhängig, kurzzeitig und in engen sozialen Beziehungen. Demnach war der Umgang mit Armut in dieser Zeit einerseits durch (räumliche) Nähe geprägt und andererseits von supererogatorischen Motiven oder einer christlichen Haltung der Nächstenliebe abhängig oder die Hilfe war an Gegenleistungen, wie im Armenhaus geknüpft. Im christlichen Verständnis wurde freiwillige Armut als Bescheidenheit und Askese hoch geschätzt, unfreiwillige Armut hingegen als Defizit im Sinne eines mangelhaften Einsatzes im irdischen Leben verurteilt. 13
Vgl. Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 30 f.
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
Religiöse Pflichten (Nächstenliebe oder das Streben nach Barmherzigkeit) führten zwar in verschiedenen Kontexten und in unterschiedlichem Ausmaß zu Hilfe, stellten jedoch keine starken moralischen Anforderungen an die Handelnden. In diesem Rahmen entstanden in verschiedenen Religionen langwährende Traditionen der Hilfe für Arme und Hungrige.14 Eine der bekanntesten ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die auch im aktuellen philosophischen Diskurs immer wieder eine Rolle spielt, beispielsweise wenn es um die Fragen nach den Grenzen der moralischen Pflichten geht. Der barmherziger Samariter, so lautet die biblische Erzählung, ist ein Samaritaner, der zufällig an einem ausgeraubten, verletzten und hilflosen, Mann vorbeikommt und diesem hilft, indem er ihn nicht nur mit dem Nötigsten versorgt, sondern auch dafür aufkommt, dass dieser in einer Herberge versorgt wird. Die Erzählung steht als Beispiel für Mitgefühl und christliche Nächstenliebe.15 Philosophisch wird an dieser Geschichte ein Verständnis von Hilfe veranschaulicht, das den Aspekt der Freiwilligkeit stark betont. Die damit verbundene moralphilosophische Tradition geht davon aus, dass die Gründe für Hilfe im Glauben der Helfenden liegen. Dieser Gedanke, der stark am Konzept der Wohltätigkeit orientiert ist und unter dem Namen Charity-View16 firmiert, behauptet, dass es keine starke moralische Pflicht zur Hilfe gibt, aber die Unterstützung von armen Menschen als supererogatorische Pflicht verlangt wird. Dieser Idee zufolge bleibt die Hilfe für Arme auf den Rahmen 14 15
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Vgl. Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 20 22. Vgl. Lukas 10, 25 37: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Nach dem 1912 vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß genehmigten Text. Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt. Vgl. LaFollette, Hugh, The practice of ethics: Chapter Sixteen: World Hunger, Malden, Mass.: 2007, S. 238; Bleisch, Barbara, Armut und Hunger, in Handbuch Angewandte Ethik, (Hg.) Stoecker, Ralf et al. (Stuttgart: 2011), S. 317.
2.1 Historische Dimension der Armut
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von Gemeinschaften begrenzt. Die Tradition der christlichen Armenhilfe prägt auch heute noch in vielen Bereichen das entwicklungspolitische Engagement.17 Diese Ethik des Helfens und der Barmherzigkeit stellte bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die häufigste Form der Unterstützung von armen und bedürftigen Menschen dar. Doch auch jenseits religiöser Gemeinschaften gab es Unterstützung und Hilfe für arme Menschen, allerdings waren diese Hilfen lange Zeit auf enge Kreise begrenzt. Innerhalb enger ethischer Kontexte wie der Familie, eines Dorfes, einer Region, eines Landes oder einer Religion trugen die Mitglieder dieser Gemeinschaften die Pflichten zur gegenseitigen Unterstützung. Dieses partikuläre Verständnis von Armut, das bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschte, ging davon aus, dass Armut eben bloß die Armen betraf und diejenigen, die in einer engen Beziehung und räumlicher Nähe zu den Armen standen.18 Der geringe Grad an globaler Vernetzung wirkte sich auch auf die Reichweite moralischer Pflichten aus und Solidarität in Notzeiten gab es lediglich in engen Grenzen. Eine geringe Divergenz des Lebensstandards eines großen Teils der Bevölkerung beschränkte einerseits die Möglichkeiten zur Hilfe, andererseits war auch der Rahmen der wechselseitigen Verpflichtungen deutlich überschaubarer. Die Entwicklungen der Armenhäuser und die religiös motivierte Fürsorge waren Hilfen für die Armen, die aber keinen grundlegenden Anspruch der Leidtragenden auf Unterstützung behaupten. So beschränkte sich die Hilfe gegenüber sehr armen Menschen auf eintretende Katastrophenfälle sowie auf die Grenzen enger Gemeinschaften. Armenhäuser, spendenbasierte Hilfen 17
18
Vgl. Nuscheler, Franz, Entwicklungspolitik, Bonn: 2006, S. 555 f.; vgl. Hartlieb, Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, S. 52 56. Vgl. Metz, Geschichte der sozialen Sicherheit, S. 40 42.
18
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
und die Arbeit religiöser Armenfürsorge19 bildeten die partikulären Hilfskontexte, in denen armen und notleidenden Menschen geholfen wurde. Diese Form der begrenzten Wahrnehmung zeigt, dass Armut nicht als systematisches, sondern als situatives Problem behandelt wurde. Die Form der eingeschränkten Wahrnehmung, mit der keine systematische Verbindung zwischen den singulären Fällen von Armut erkennbar war, führte dazu, dass keine weitreichendere Verantwortung für die Armen übernommen werden konnte und Hilfe und Unterstützung sehr begrenzt ausfielen. Hinzukam, dass die meisten Menschen damit beschäftigt waren, ihr eigenes Überleben und das ihrer Familie sicherzustellen. Insofern fehlte es oftmals an den materiellen Voraussetzungen, Hilfe überhaupt leisten zu können. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der heutige Reichtum und die vorhandenen Möglichkeiten zur Hilfe bzw. zur Überwindung des Hungers eine notwendige Voraussetzung dafür sind, dass Verantwortlichkeit gerechtfertigt zugeschrieben werden kann. Kennzeichnend für die historische Wahrnehmung eines Welthunger- oder Weltarmutsproblems ist, dass einerseits relativ starke moralische Pflichten gegenüber bestimmten Menschen bestehen und andererseits relativ schwache bis gar keine Pflichten gegenüber fremden Menschen bestehen. Da die Lebenswelt wesentlich kleiner und begrenzter war, als dies in einer heute sich globalisierenden Welt der Fall ist, war das Konzept einer allgemeinen Pflicht zur Hilfe, die wir einander aus Achtung vor der Würde der menschlichen Gattung schulden, nicht in der alltäglichen Moral vorhanden. Dies zeigt, dass die Feststellung von Mangel und Knappheit nicht hinreichend sind, um von einer moralischen Verantwortung gegenüber armen und hungernden Menschen zu sprechen. Stattdessen bedarf es eines gemeinsamen
19
Vgl. Hartlieb, Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, S. 48 f.
2.1 Historische Dimension der Armut
19
normativen Rahmens, in dem der moralische Anspruch auf ein würdiges Leben aller Menschen begründet wird, um diesbezüglich moralische Verantwortung zuschreiben zu können. Dass Armut auf internationaler oder gar globaler Ebene als ein Problemfeld wahrgenommen wird, ist sowohl politisch wie auch philosophisch relativ neu. Auch wenn Armut mit ihren verschiedenen Gesichtern die Menschheit seit jeher begleitet hat, sind die gebündelten Bemühungen auf globaler Ebene, sie zu überwinden, erst in den letzten Jahrzehnten entstanden.
Obwohl es Hunger und Armut schon immer gab, wurden sie lange Zeit nicht als grundsätzliche ethische oder moralische Probleme erfasst. Der Mangel an Ressourcen bzw. an der Fähigkeit, diese zu nutzen, und die Begrenztheit des menschlichen Interaktionsraums ließen Armut und Hunger als räumlich und zeitlich begrenzte Probleme erscheinen, die in partikularen Gemeinschaften gelöst werden mussten. Erst in der Mitte des 20. Jh. bildete sich auf internationaler Ebene ein normativer Bezugsrahmen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) sind Individuen zum ersten Mal als Rechtssubjekte auf internationaler Ebene von Relevanz. Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs geht in Reaktion auf die im Krieg verübten Gräueltaten eine Zäsur einher. Diese Zäsur bedeutet eine normative Wende mit dem Anspruch, universale Werte festzulegen und damit verbundene Forderungen zu stellen, die sich in allgemein gültigen moralischen Pflichten ausdrücken. Die Zunahme der globalen Verflechtungen sowie neue technische Möglichkeiten, die den Prozess der Vernetzung der Welt verstärkt haben, schaffen einen globalen normativen Bezugsrahmen für das menschliche Handeln. Dazu gehört, dass internationale Rechtsordnungen auf lokale Gemeinschaften Einfluss haben und sich unser wirt-
20
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
schaftliches Handeln auf die Lebensbedingungen weit entfernt lebender Menschen auswirkt. Die erhöhte Vernetzung und Verflechtung der Welt bedeutet auch, dass wir in den meisten Fällen Kenntnis davon haben können, unter welchen Bedingungen Menschen in verschiedenen Teilen der Welt leben. Der lebensweltliche Bezugsrahmen ist damit wesentlich größer geworden und mit der Idee einer universalistischen Moral und global geltenden moralischen Pflichten ist das Leid fremder Menschen jenseits von Landesgrenzen oder Gruppenzugehörigkeit relevant für uns. Ein wichtiger Teil dieses Globalisierungsprozesses von Werten ist die Entstehung der Charta der Vereinten Nationen von 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Der in diesen Urkunden formulierte normative Rahmen wird als ein Ideal postuliert, welches die jeweils beteiligten Staaten und Organisationen anstreben. Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder friedlichen Weltordnung und als erster Grund für die Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen angeführt. Im Artikel 1 folgt dann 20
Diese Dokumente enthalten formulierte Ansprüche einer universalistischen Moral, die alle Menschen vor einem Leben in Armut und Hunger schützen sollen.21 In der Zeit der Entstehung dieser Satzungen, ist der Armutsdiskurs geprägt von dem politischen Anliegen der Emanzipation abhängiger Län-
20
21
Vereinte Nationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Vereinte Nationen - Generalversammlung. 10. Dezember 1948, Art. 1. Vgl. ebd., Art. 11.
2.1 Historische Dimension der Armut
21
der von ihren ehemaligen Kolonialmächten. Während des Imperialismus waren der Grad an materieller Ausbeutung von Ressourcen und die Verarmung der kolonialisierten Bevölkerung hoch und legitimierter Bestandteil politischer Praxis.22 Mit dem Ende der formalen kolonialen Abhängigkeiten waren jedoch nicht die asymmetrischen Beziehungen zwischen den Ländern überwunden. Die erheblichen Wohlstandsunterschiede wurden mit unterschiedlichen Entwicklungsgraden begründet, die auf der Vorstellung beruhen, dass entsprechend bestimmter Modernisierungstheorien diejenigen Länder wohlhabend sind, die ihr Wirtschaftssystem (Industrien, Dienstleistungen, Ausmaß der Kapitalisierung) weiterentwickelt haben. Die Frage, die die weltweite Armut in diesem Kontext zunächst aufwarf, war die, inwiefern diejenigen Länder unterstützt werden konnten, die als unterentwickelt bezeichnet wurden. In den 1950er und 1960er Jahren tauchte Armut als internationale Herausforderung im Wettkampf der politischen Systeme des Kapitalismus und des Kommunismus als Thema auf, da beide Seiten das bessere Leben, inklusive Wohlstand bzw. die Abwesenheit von Armut mit ihren unterschiedlichen wirtschaftlichen Systemen und politischen Ideologien versprachen. Armut stellte sich in dieser von einem ökonomischen Armutsbegriff geprägten Phase als ein Entwicklungsdefizit bzw. als Unterentwicklung dar.23 Die Bekämpfung von Armut wurde im Sinne der Modernisierungstheorie über die Entwicklung der Märkte angestrebt. Die Idee war, Armut durch die Modernisierung von Produktionsbedingungen und die Aneignung moderner Verfahren und Technologien verringern zu können, unter der Annahme, dass eine
22
23
Vgl. Nuscheler, Entwicklungspolitik; Davis, Mike, Die Geburt der Dritten Welt: Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin: 2004. Vgl. Kößler, Reinhart, Entwicklung, Münster: 1998, S. 91 f.
22
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
Steigerung wirtschaftlicher Produktivität automatisch zu einer Reduktion von Armut führen würde.24 Kennzeichnend für diese Phase ist, dass der Gedanke der Entwicklung zur Armutsbekämpfung zwar von außen herangetragen wurde, der Fokus allerdings auf der Verbesserung der Ökonomien lag und nicht auf der Verbesserung des Wohls des Individuums. Zudem war das Interesse an der Entwicklung primär daran orientiert, selbst wirtschaftlichen Erfolg aus dieser Zusammenarbeit zu generieren bzw. politische Interessen durchzusetzen. Die Geopolitik des Hungers25 orientierte sich demnach nicht an dem Bedürfnis der armen und hungernden Menschen, ein menschenwürdiges Leben zu führen, sondern vielmehr an den Interessen der mächtigen Akteure. Damit verbunden war die Armutsbekämpfung im Sinne der Entwicklungshilfe ein Bestandteil politischer Interessen. Nicht zuletzt wurden auch hier Hunger und Hungerhilfe als politische Waffe eingesetzt, eine tatsächliche moralische Verpflichtung wurde nicht wahrgenommen. Trotz des neuen und allgemein gültigen normativen Rahmens war die Auseinandersetzung mit dem Leid fremder Menschen nicht an den moralischen Forderungen orientiert. Nichtsdestotrotz war ein Anspruch formuliert worden, auf den fortan Bezug genommen werden konnte und der sich auch langsam zu stärkeren Forderungen entwickelte. Die normativen Ansprüche aus den Dokumenten der Vereinten Nationen waren rhetorisch brauchbares Beiwerk, dessen Inhalte aber nur nachgeordnete Bedeutung hatte. Wer außerhalb des gesellschaftlichen Bezugsrahmens arm war, konnte allenfalls mildtätige Spenden aus dem
24 25
Vgl. Kößler, Entwicklung, S. 94 f. Vgl. Castro, Josué de, Geopolitik des Hungers, Frankfurt a.M.: 1973; Ziegler, Jean, Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt, München: 2012, S. 110.
2.1 Historische Dimension der Armut
23
Ausland erhoffen, wenn über seine Notsituation berichtet wurde. Eine ernstzunehmende ethische Diskussion über das moralische Problem, das sich aus Weltarmut und Hunger für alle Menschen ergibt, fand nicht nennenswert statt. Wie schon zuvor wurde Hilfe für sehr arme Menschen nur im Rahmen von Gesellschaften und kleineren Gemeinschaften geleistet. Die Hilfe für sehr arme Menschen, die Hunger litten, blieb auf freiwillige Hilfen beschränkt, beispielsweise im Fall von Naturkatastrophen im Rahmen von Spenden oder in Form wohltätiger politischer Zugeständnisse. In den 1970ern vollzog sich hinsichtlich der Beurteilung von Hunger und Armut eine Wende. Nahezu gleichzeitig wurden Armut und insbesondere das Hungern vieler Menschen weltweit zu einem Thema der Angewandten Ethik. Es kam zur ersten sogenannten Welternährungskrise, die die Notsituationen und deren Sichtbarkeit verstärkte. Die mediale Aufmerksamkeit und die Frage nach globalen Zusammenhängen führten dazu, dass sich der öffentliche und der ethische Diskurs mit diesem Problem konfrontiert sahen und nach Antworten suchten. Die zu dieser Zeit auftretenden Hungersnöte in der Welternährungskrise in verschiedenen Regionen der Welt wurden erstmals als ein globales Phänomen wahrgenommen und diskutiert.26 Dabei kam es Anfang der 1970er Jahre zu steigenden Preisen verschiedener Grundnahrungsmittel, was dazu führte, dass die Mangel- und Unterernährung bei denjenigen zunahm, die sich die gestiegenen Preise nicht leisten konnten. Dies führte zwischen dem Ende der sechziger Jahre und im Laufe der siebziger Jahre in verschiedenen Regionen Afrikas
26
Vgl. Gerlach, Christian, Die Welternährungskrise 1972 bis 1975, in Geschichte und Gesellschaft, Jg. 31, Nr. 4, S. 546 585.
24
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
und Asiens zu massiven Hungersnöten27, die zum Teil große mediale Aufmerksamkeit erhielten. Durch verschiedene Faktoren hatte sich die Ernährungssituation derart verschlechtert, dass Millionen Menschen akuten Hunger litten. Insbesondere in Indien (und Bangladesch) sowie der Sahelzone (und Äthiopien) waren große Teile der Bevölkerung vom Hunger betroffen. Die arme Bevölkerung verlor ihr bescheidenes Hab und Gut und konnte nicht die steigenden Preise für Grundnahrungsmittel bezahlen. Dürren hatten zu ausbleibenden Ernten und zunehmendem Verlust des Viehs geführt. Die weitgehend ländliche Bevölkerung konnte die Ausfälle und Knappheit in ihren Heimatregionen nicht kompensieren. Diese soziale und ökonomische Krise kann unterschiedlich interpretiert und bewertet werden, doch sie macht eine neue Wahrnehmung der Armutsproblematik deutlich.28 Neu ist dabei die globale Perspektive, nicht nur auf die Prozesse eines integrierten Marktes und seine Folgen, sondern auch auf die Armut der Menschen als eine Herausforderung, die jenseits enger Beziehungsgeflechte besteht. In diesem Zuge beginnt eine Phase der Problematisierung globaler Zusammenhänge, die sich auf die normativen Grundsätze bestehender internationaler Institutionen beruft und diese aktiv weiterentwickelt. Mit den Hungerkatastrophen in verschiedenen Gebieten der Welt konfrontiert, warnten die zuständigen Organisationen der Vereinten Nationen, die Food and Agriculture Organization (FAO) und das World Food Programm (WFP), vor Hungerkatastrophen, bevor sich politische Akteure zu tatsächlicher Hilfe durchringen konnten. Das Leid armer fremder Menschen wurde dadurch nicht mehr ausschließlich als partikulares
27
28
Vgl. Sen, Amartya, Poverty and famines: An essay on entitlement and deprivation, Oxford: 1982. Vgl. Gerlach, Die Welternährungskrise 1972 bis 1975; Sen, Poverty and famines, S. 154.
2.1 Historische Dimension der Armut
25
Problem wahrgenommen, sondern erhielt in globalen Kontexten Aufmerksamkeit. Für das Leid der Menschen in der Fremde gab es nun eine breitere Aufmerksamkeit und private Spenden wurden geleistet. Die Diskussion um institutionelle Hilfe gegen Hungersnöte begann auf globaler Ebene. Diese Forderung war in der Regel mit ethischen Einschätzungen verbunden, etwas dass es sich um moralische Übel handele, um Ungerechtigkeiten oder dass die Not der von den Hungerkatastrophen betroffenen Menschen nicht mit der Menschenwürde vereinbar sei. In seiner berühmten Nairobi-Rede vom 24. September 1973 beschreibt der damalige Weltbankpräsident Robert McNamara angesichts der bestehenden Situation absolute Armut als moralische Herausforderung: But absolute poverty is a condition of life so degraded by disease, illiteracy, malnutrition, and squalor as to deny victims basic human nethe potential of the genes with which one is born; a condition of life 29
Hieran schließt McNamara die Frage an, welche moralischen Pflichten bestehen, um das Leid dieser Menschen zu verringern.30 Die von den Vereinten Nationen einberufene World Food Conference im November 1974 blieb zwar ohne konkrete Folgen in normativer und juristischer Hinsicht, stellte jedoch einen Schritt dar, der den Beginn dessen markiert, Verantwortung auch jenseits partikularer Beziehungen zuzuschreiben. Zwar müssen politische Statements weder Ausdruck tatsächlicher normativer Positionen sein, noch müssen sie gut begründet oder nachvollziehbar sein. Doch in diesem Fall ging die verändert Sicht
29
30
McNamara, Robert, Address to the Board Governors, World Bank (Nairobi, Kenia, September 24, 1973). Vgl. McNamara, Address to the Board Governors, World Bank.
26
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
auf Verantwortung und moralische Verpflichtungen gegenüber notleidenden Menschen mit dem Beginn einer akademischen Debatte einher. Die Empörung über das Leid von Millionen Menschen erzeugte auch ethische Fragen, bezüglich des eigenen Handelns und der Art und Weise (Regeln), wie wir in einer gemeinsamen Welt zusammen leben wollen. Auf diese Weise hat sich der Blick auf die Armut in dieser Zeit grundlegenden verändert. Die heutige Erfassung von Armut als globale Herausforderung hat in den supranationalen Institutionen ihren Ausgangspunkt und prägt maßgeblich die empirische und deskriptive Erfassung von Weltarmut und Welthunger heute. 2.2 Deskriptive Dimension der Armut Heute leben Millionen Menschen weltweit in bitterer Armut und unter entsetzlichen Bedingungen. Ihre Situation zeichnet sich durch armutsbedingtes Leiden wie schlechte Ernährung, unzureichende Bildung, ausbeuterische Arbeitsbedingungen, Krankheit ohne medizinische Versorgung, den Mangel an elementaren Grundgütern und letztlich frühzeitiges Sterben aus. Derzeit leben fast drei Milliarden Menschen unter der Armutsgrenze und 1,2 Milliarden Menschen haben weniger als 1,50 US$ in Kaufkraftparität täglich zur Verfügung.31 Zwar ist der Anteil an der Weltbevölkerung, die extrem arm ist, in den letzten Jahrzehnten gesunken, jedoch bleibt die absolute Anzahl der betroffenen Menschen auf einem relativ konstant hohen Niveau.32 Laut der letzten Zahlen leiden weltweit rund 795 Millionen Menschen unter Hunger. 33 31
32 33
Vgl. Ravallion, Martin, The economics of poverty: History, measurement, and policy, New York: 2016, S. 3. Vgl. Ravallion, The economics of poverty, ebd. Vgl. Welthungerhilfe/ International Food Policy Research Institute/ Concern worldwide(Hg.), Welthunger-Index 2016: Die Verpflichtung, den Hunger zu
2.2 Deskriptive Dimensionen der Armut
27
Die Angaben schwanken zwar von Jahr zu Jahr, halten sich aber seit über zwanzig Jahren auf hohem Niveau. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand die Frage der technischen Machbarkeit der Welternährung im Mittelpunkt, doch daneben hat sich zusätzlich ein Diskurs über die Frage der moralischen Dimension der Weltarmuts- und Welthungerproblematik entwickelt.34 Die Zahlen sagen wenig über die tatsächlichen Lebensbedingungen der betroffenen Menschen aus. Armut hat viele Facetten. Extreme Armut ist insbesondere in der ländlichen Bevölkerung verbreitet. Dort betrifft es vornehmlich Menschen in kleinbäuerlicher Lebensweise mit sehr wenig Landbesitz oder auch solche, die in der Landwirtschaft als Tagelöhner arbeiten müssen, weil sie über kein eigenes Land verfügen. Ihr Anteil macht unter denjenigen, die hungern müssen, fast 70 Prozent aus.35 Aus diesem Grund drängen wiederum viele der sehr Armen in die wachsenden Städte, wo sie versuchen, ein Auskommen zu finden. Die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten sowie die elenden Lebensbedingungen in den Slums an den Rändern der Städte führen jedoch zum Fortbestehen der Armut. Und auch Lohnarbeit als Einkommensmöglichkeit schützt nicht vor Armut. Extreme Armut manifestiert sich auf unterschiedliche Weise: ArbeiterInnen, die in Textilfabriken Discounterwaren für die industrialisierten Länder herstellen, sogenannte garbage
34
35
beenden, Bonn/ Washington, DC/ Dublin: 2016, S. 3; FAO, IFAD, WFP(Hg.), The State of Food Insecurity in the World 2015: Meeting the 2015 international hunger targets: taking stock of uneven progress, Rom: 2015, S. 8. Vgl. Bleisch, Barbara/ Schaber, Peter(Hg.), Weltarmut und Ethik, Paderborn: 2009; Aiken, William/ LaFollette, Hugh(Hg.), World hunger and moral obligation, Englewood Cliffs N.J.: 1977; Aiken, William/ LaFollette, Hugh(Hg.), World hunger and morality, Upper Saddle River, NJ: 1996. Vgl. Weingärtner, Lioba/ Trentmann, Claudia, Handbuch Welternährung, Frankfurt am Main: 2011, S. 53; FAO, IFAD, WFP, The State of Food Insecurity in the World 2015, S. 31; Dies., The state of food and agriculture, 2014, Rom: 2014.
28
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
people auf den Müllhalden der Welt, die aus und von den Abfällen der Konsumgesellschaften leben oder Kinder, die auf Kakaoplantagen für die Schokoladenproduktion arbeiten müssen. Sind diese Lebensbedingungen der betroffenen Menschen mit unseren moralischen Wertvorstellungen vereinbar? Die derzeitige Situation ist von besonderer Brisanz, wenn die extrem ungleiche Verteilung von Reichtum und Armut global betrachtet wird. Während der Reichtum in der Welt stetig wächst, bleiben zugleich Millionen von Menschen von diesem Zuwachs ausgeschlossen. 36 Obwohl ausreichend Nahrungsmittel produziert werden, leiden um die 800 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung.37 Die Gleichzeitigkeit von massiver Armut und Elend auf der einen Seite und dem Überfluss38 auf der anderen Seite stellt nicht nur eine massive Ungleichverteilung dar, sondern ist auch ungerecht. Dabei wäre es nicht zu teuer, die Ärmsten der Armen zu Lebensbedingungen oberhalb der Armutsbemessungsgrenzen zu verhelfen und damit das größte Leid zu lindern.39 Auch wenn dies wahrscheinlich noch nicht ausreichen würde, um den betroffenen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, wäre
36
37 38 39
Vgl. Hardoon, Deborah, An economy for the 99 %: It's time to build a human economy that benefits everyone, not just the privileged few, S.L.: 2017, Fig. 2, S. 5; Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 318. Vgl. FAO, IFAD, WFP, The State of Food Insecurity in the World 2015, S. 8. Vgl. Hardoon, An economy for the 99 %. Vgl. Deutsche Welthungerhilfe e.V./ Concern worldwide(Hg.), Global Hunger Index 2016, 2016, S. 13. Es würde ca. 11 Milliarden US-Dollar jährlich zusätzlich kosten, um bis zum Jahr 2030 den Hunger in allen Ländern auf unter 5% zu reduzieren. Dies ist als Ziel in den Sustainable Development Goals (SDGs) formuliert.
2.2 Deskriptive Dimension der Armut
29
es dennoch eine wesentliche Verbesserung ihrer Situation. Die Befürchtung, dass es sich bei der Bekämpfung des Weltarmutsproblems um ein nichtfinanzierbares Projekt handelt, ist schlicht unbegründet. Die extreme Armut von heute ist zum großen Teil chronisch und strukturell, d.h. nicht durch singuläre Ereignisse ausgelöst. Dementsprechend lässt sich der Hunger auch nicht durch punktuelle Maßnahmen beheben. Ungefähr die Hälfte der extrem armen Menschen sind Kinder. Jeden Tag sterben mehr als 8.500 Kinder an den Folgen schwerer Mangel- und Unterernährung.40 Die armutsbedingten Todesfälle übersteigen um ein Vielfaches die Todesopfer von Krieg oder Terror und werden aber dennoch als Kollateralschäden toleriert. Obwohl es sich um ein marginalisiertes Phänomen handelt, gibt es auch Bemühungen im Kampf gegen die Armut. Im Jahr 2000 formulierten die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen in der Milleniumserklärung das politische Ziel: unsere Mitmenschen Männer, Frauen und Kinder aus den erbärmlichen und entmenschlichenden Lebensbedingungen der extremen Armut zu befreien, in der derzeit mehr als eine Milliarde von ihnen gefangen sind. Wir sind entschlossen, das Recht auf Entwicklung für jeden zur Wirklichkeit 41
Darin setzte die Staatengemeinschaft sich das Ziel, die extreme Armut und Hunger bis zum Jahr 2015 halbieren zu wollen.
40
41
Vgl. UNICEF(Hg.), 25 years of the Convention on the Rights of the Child: Is the world a better place for children?, New York, NY: 2014, S. 11, 27. Vereinte Nationen. Generalversammlung, Milleniums-Erklärung der Vereinten Nationen, Generalversammlungsresolution 55/2, 8. Sept. 2000. III, 11.
30
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um Jahr 2015 den Anteil der Weltbevölkerung, dessen Einkommen weniger als 1 Dollar pro Tag beträgt, und den Anteil der Menschen, die Hunger leiden, zu halbieren, sowie bis zu demselben Jahr den Anteil der Menschen, die hygienisches Trinkwasser nicht erreichen oder es sich nicht leisten können, . 42
Neben anderen Zielen stellte diese Forderung das erste und zentrale Entwicklungsziel dar. Die Ausgangslage war das Jahr 1990, in dem rund 1,8 Milliarden Menschen in extremer Armut lebten. 43 Durch eine Vielzahl von Maßnahmen und Initiativen sollte das gravierende Ausmaß von extremer Armut minimiert werden. Im Jahr 2015 wurden nach einer gemischten Bilanz zu den Fortschritten in der Armutsbekämpfung neue Ziele definiert. In den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen sind als Ziele festgelegt, extreme Armut und Hunger bis zum Jahr 2030 zu eliminieren.44 schlossen, Armut und Hunger in allen ihren Formen und Dimensionen ein Ende zu setzen und sicherzustellen, dass alle Menschen ihr Potenzial in Würde und Gleichheit und in einer gesunden Umwelt voll ent45 Diese Ziele sind ambitioniert: Die globale Armutsrate betrug im Jahr 2008 mehr als 43 Prozent (unter Einbezug nationaler Armutsgrenzen) und mehr als 22 Prozent der Weltbevölkerung galten zu diesem Zeitpunkt als absolut arm. Der prozentuale Anteil der Weltbevölkerung, der von Armut und Hunger betroffen war, konnte ge-
42 43
44
45
Milleniums-Erklärung der Vereinten Nationen, III, 11. Vgl. Pogge, Thomas, Weltarmut und Menschenrechte: Kosmopolitische Verantwortungen und Reformen, Berlin: 2011, S. 15. Vgl. United Nations. General Assembly. Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development, 21. Oktober 2015, in A/RES/70/1. Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development, 21. Oktober 2015, dt. Übersetzung 12. Okt. 2018, S. 2/38.
2.2 Deskriptive Dimension der Armut
31
senkt werden, jedoch blieb die absolute Anzahl an betroffenen Menschen auf hohem Niveau etwa gleich.46 Je nachdem, welche Grenze zugrunde gelegt wird, leben zwischen 800 Millionen und rund zwei Milliarden Menschen in absoluter Armut.47 Obwohl es seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu den erklärten Bemühungen der internationalen Gemeinschaft der Staaten zählt, diese Form der Armut aus der Welt zu schaffen, können nur langsame Erfolge verzeichnet werden. Die Finanz- und Nahrungsmittelkrisen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts haben die Situation verschärft. Je ärmer die Menschen sind, desto weniger können sie sich Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln leisten. Viele von Armut Betroffene konnten die Preissteigerungen 2005 und 2008 nicht bewältigen. Wenn die Preise für Grundnahrungsmittel steigen, können arme Menschen keine Nahrungsmittel mehr kaufen.48 In diesen Jahren kam es deswegen auch zu Hungerrevolten in diversen Ländern. Außerdem ist zu erwarten, dass der Klimawandel mit seinen extremen Anpassungsherausforderungen diejenigen am härtesten treffen wird, die am wenigsten gegen ihn ausrichten können.49 Ungefähr eine Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.50 Ihnen fehlen saubere Brunnen, sie verfügen über kein Abwassersystem und haben keine Möglichkeit sanitäre Anlagen zu nutzen. Sie müssen zur Nahrungszubereitung auf 46 47 48
49
50
Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 345, Table 7.2. Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 350, Fig. 7. 20. Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 65; Schumann, Harald, Die Hungermacher: Wie Deutsche Bank, Allianz und Co. auf Kosten der Ärmsten mit Lebensmitteln spekulieren; ein Foodwatch-Buch, Frankfurt, M.: 2013, S. 113. Vgl. Schutter, Olivier de (Hg.), Hunger im Überfluss: Neue Strategien im Kampf gegen Unterernährung und Armut, München: 2011, S. 68. Vgl. Windfuhr, Michael, Wasser als Ware oder Menschenrecht auf Wasser?, in Globale Hungerkrise: Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung, (Hg.) Bergstreser, Michael, Hamburg: 2009, S. 29; Riedel, Eibe, The human right to water, Berlin: 2006.
32
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verschmutztes Wasser zurückgreifen, was wiederum die Gefahr von Krankheiten birgt. Auch fehlt es ihnen an Gesundheitsgütern. Wer absolut arm ist, kann keine Kosten für die Wiederherstellung oder Erhaltung seiner Gesundheit erübrigen.51 In der Regel bedeutet für viele Menschen große Armut auch, dass sie selbst und ihre Kinder keinen Zugang zu Bildung haben. Dieser Mangel belastet insbesondere die Zukunftschancen der Kinder. Die Gefahr eines Teufelskreises aus Armut entsteht, da die schlechten Ausgangsbedingungen nicht überwunden werden können und zu einem Fortbestehen der Armut über Generationen beitragen. Absolute Armut ist weitestgehend nur in den sogenannten Entwicklungsländern zu finden. In industrialisierten Ländern kommt diese Armut heute kaum noch vor.52 Die Bilder von schwerer Armut sind in der wohlhabenden Welt medial vermittelt und geprägt. Das Leid, das sich aus einem Leben in Armut ergibt, taucht aber nur punktuell auf: in der Werbung von Hilfsorganisationen, in Spendenaufrufen zu Weihnachten, nach Naturkatastrophen oder in den Berichten über die regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte Afrikas. Die mediale Aufmerksamkeit orientiert sich häufig an katastrophalen Ereignissen wie Erdbeben (z.B. Haiti 2010, Nepal 2015), Tsunamis oder auch Dürrekatastrophen (z.B. periodisch in der Sahelzone mit medialer Aufmerksamkeit seit Mitte der 1970er Jahre). Häufig besteht eine große Spendenbereitschaft, um das unmittelbare Leid der betroffenen Bevölkerung zu verringern. In den humanitären Hilfseinsätzen zeigt sich eine ausgeprägte internationale Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen in Not. Obwohl die medial 51
52
Vgl. Braun, Joachim von/ Hill, Ruth V. / Pandya-Lorch, Rajul, The Poorest and the Hungry: A Synthesis of Analyses and Actions, in Braun/ Hill/ Pandya-Lorch, The poorest and hungry, S. 20 f.; Perry, Guillermo E. et al., Poverty Reduction and Growth: Virtuous and Vicious Circles, S. 32. Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 3.
2.3 Normative Dimension der Armut
33
vermittelten Katastrophenbilder eindringlich das Leid und den unmittelbaren Mangel an Gütern zeigen, bieten sie aber dennoch ein verzerrtes Bild, wenn es darum geht, die Armut in der Welt zu erfassen. Auch wenn Naturkatastrophen zu Armut führen können, spielen sie eine viel weniger wichtige Rolle, als ihnen durch die allgemeine Wahrnehmung zugeschrieben wird. In der Regel sind es die Situationen vor den jeweiligen Naturkatastrophen, die das passendere Bild der Armut zeichnen, mit der unsere Welt zu kämpfen hat. Um die Weltarmut und den Welthunger adäquat zu erfassen, reicht es eben nicht aus, das medial vermittelte Bild zu adaptieren. Vielmehr muss versucht werden, das komplexe und vielschichtige Phänomen und die damit verbundenen ethischen Probleme angemessenen zu berücksichtigen. 2.3 Normative Dimension der Armut Was unter den Begriff der Armut fällt, ist laufend neuen Interpretationen und Bezügen ausgesetzt. Aus philosophischer Perspektive geht es bei der Bestimmung des Begriffs vor allem darum, zu verstehen, was es ethisch bedeutet, wenn Menschen arm sind. Exakte empirische Daten stehen nicht im Zentrum dieser Überlegungen, weil diese keine Begründungen für moralische Aussagen liefern. Eine moralische Aussage wird nicht dadurch wahr oder falsch, dass es etwas in der Welt gibt, worauf sich diese Aussage beziehen kann, sondern sie muss auf Gründen ruhen. Selbst wenn es nicht einen Menschen auf der Welt gäbe, der an Hunger und Armut leidet, bliebe es wahr, dass wir Menschen nicht einem solchen Leid überlassen dürfen. Die empirischen Daten ermöglichen jedoch einen Blick auf die Situation armer Menschen und auf das Ausmaß der ethischen Herausforderung. Gemeinhin wird zwischen zwei Ausprägungen von Armut unterschieden. Die Differenzierung von relativer und absoluter Armut soll deutlich
34
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
machen, dass es möglich ist, auf unterschiedliche Weise arm zu sein. Üblicherweise bezeichnet man diejenigen Menschen als relativ arm, die in wohlhabenden Gesellschaften leben und durch ein soziales Sicherungssystem in gewissem Maße unterstützt werden. Da sich die verbreitete Armutsbemessung relativ zum Wohlstand aller Menschen in einer Gesellschaft bemisst, ist arm, wer relativ dazu weniger hat als andere. Wer in Deutschland als arm gilt, hat trotzdem ausreichend zu essen, Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Wenn es, wie im Fokus dieser Untersuchung, um die Fragen der Weltarmut bzw. des Welthungers geht, konzentrieren sich die Überlegungen auf die absolute Armut. Die Versuche, Armut zu erfassen und zu messen, haben sich von monetären bzw. einkommensbasierten Ansätzen 53 über Ansätze, die versuchen die Lebensqualität54 zu erfassen, zu mehrstelligen Indizes55 entwickelt, die anhand von verschiedenen Variablen versuchen, ein möglichst umfassendes Erhebungsinstrument zu bilden. Die Unterscheidung von absoluter und relativer Armut spielt sowohl in der empirischen Bemessung eine Rolle als auch in der normativen Bewertung des Phänomens. Mit absoluter Armut wird die Situation des Mangels bezeichnet, in der es einem Menschen an lebenswichtigen Gütern fehlt. Das bedeutet, wer absolut arm ist, hat nicht ausreichend Güter zur Verfügung, um dauerhaft auf diesem Niveau überleben zu können. Was bei Nahrung selbstevident erscheint, ist bei vielen weiteren Gütern schon nicht mehr eindeutig. In wirtschaftlich-orientierten Definitionen werden die Einkommen bzw. die Verfügbarkeit monetärer 53 54
55
Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 191 ff. Vgl. Nussbaum, Martha Craven/ Sen, Amartya Kumar, The quality of life: A study prepared for the World Institute for Development Economics Research (WIDER) of the United Nations University, Oxford: 1993. Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 279 ff.
2.3 Normative Dimension der Armut
35
Mittel in Kaufkraftparitäten als Messgröße herangezogen. Nach der Definition der Weltbank liegt absolute Armut dann vor, wenn jemand weniger als 2 US-Dollar Kaufkraftparität pro Tag56 als Einkommen zur Verfügung hat. Auf diesem Einkommensniveau ist es nicht möglich, sich ausreichend zu ernähren, eine Unterkunft zu unterhalten sowie sich selbst zu bilden oder für seine Gesundheit Sorge zu tragen.57 Ansätze, die nur auf der monetären Ebene Armut messen wollen, greifen allerdings zu kurz. Die Lebenssituation der Menschen kann nicht ausschließlich an ihrem Einkommen abgelesen werden. Auch Zugangsrechte und soziale Ausgrenzung verhindern, dass arme Menschen an lebensnotwendige Güter kommen. Daher wurden in der Armutsforschung komplexere Ansätze entwickelt, die weitere Kriterien einbeziehen.58 Um zu messen, wie viele Menschen arm sind, werden zum Beispiel die Lebenserwartung, die Bildung, der Zugang zu Gesundheitsgütern oder auch die Kindersterblichkeit berücksichtigt. Diese Ansätze setzen ein Set von Grundgütern voraus. Was zu diesen Grundgütern gehört, ist eine normative Bestimmung, die implizit eine Vorstellung eines menschenwürdigen Lebens voraussetzt. Auf globaler Ebene gibt es verschiedene Indizes, die versuchen, Armut im internationalen Vergleich abzubilden. Sie können zeigen, in welchen Teilen der Welt Armut besonders verbreitet ist. Es gibt drei anerkannte Bemessungen für die ungleiche Verteilung von Armut in der Welt: Der Index zur menschlichen Entwicklung (HDI - Human Development Index)59 56
57 58
59
Vgl. Chen, Shaohua/ Ravallion, Martin, The Changing Profile of Poverty in the World, in Braun/ Hill/ Pandya-Lorch, The poorest and hungry, S. 70; Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 310 f. Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 192. Vgl. Sen, Amartya, Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München: 2007, S. 114, 134 ff. Vgl. Human development report, New York: 1990, S. 10.
36
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
bemisst die Wohlfahrt von Nationen im Vergleich anhand ökonomischer Zahlen (Pro-Kopf-Einkommen, Bruttonationaleinkommen BNE), der Lebenserwartung und der Bildungsdauer seiner Bürger. Mit dem HDI werden jährlich Rangfolgen erstellt, die ausweisen, in welchen Ländern es um die menschliche Entwicklung besonders gut oder schlecht bestellt ist. Auf diese Weise lassen sich Staaten mit hoher Armutsquote identifizieren. Allerdings werden durchschnittliche Werte berechnet, die keine Auskunft über die ungleiche Verteilung von Reichtum und Wohlfahrt innerhalb eines Landes geben können. Die meisten Länder mit einer niedrigen menschlichen Entwicklung liegen im subsaharischen Afrika. Der HDI zeigt, dass die relative Ungleichverteilung weltweit abgenommen hat, jedoch die absolute Ungleichheit massiv zugenommen hat.60 Der Human Poverty Index (HPI) bzw. der multidimensionale Armutsindex (MPI) erweitert den HDI um weitere Kategorien wie die Überlebenswahrscheinlichkeit, den Anteil an Analphabeten in der Bevölkerung, die Erfüllung eines angemessenen Lebensstandards sowie in Industrieländern noch den Anteil an Langzeitarbeitslosen (als Bezugspunkt für den Grad an sozialer Ausgrenzung). Damit sind auch Elemente der relativen Armutsmessung in diesen Vergleichen abgebildet. Ein weiterer Index, der das spezifische Feld des Hungers beleuchtet, macht die Ungleichheiten auf globaler Ebene ebenfalls deutlich sichtbar. Der Welthungerindex (WHI) setzt sich aus drei Faktoren zusammen: dem Anteil unterernährter Menschen eines Landes, dem Anteil unterernährter Kinder unter 5 Jahren sowie deren Sterblichkeitsrate. Der WHI gibt Auskunft, wie sehr Menschen in einem Land durch
60
Vgl. Human development report: Human development for everyone, New York: 2016, Figure 1.3, S. 31.
2.3 Normative Dimension der Armut
37
Hunger und Unterernährung bedroht sind. 61 Dieser Index zeigt eine ernste bis sehr ernste Lage der Hungersituation in einigen Ländern Afrikas südlich der Sahara.62 Diese Indizes werden jährlich erhoben und ermöglichen einen weltweiten Vergleich von Armutsindikatoren auf Länderebene. Neben diesen weltweiten Berichten gibt es regionale Berichte, die für einzelne Länder oder Regionen Zahlen zur Armut erfassen. Die empirische Armutsforschung versucht die Ausprägung von Armut möglichst umfassend und genau zu messen, mit dem Ziel, diese Zahlen bei politischen Entscheidungen zur Armutsbekämpfung als Unterstützung zu nutzen. Die Erfassung von Armut ist breit angelegt. Von der lokalen bis zur globalen Ebene stehen mittlerweile Daten zur Verfügung, die (wenn auch lückenhaft) Rückschlüsse auf die Anzahl der armen Menschen und das Ausmaß ihrer Armut zulassen. Auch wenn diese Daten kritisch gelesen und mit Vorsicht interpretiert werden,63 zeigen sie eine erschreckende und moralisch herausfordernde Lage. Die Differenzierungen in der Bemessung von Armut machen die grundlegenden normativen Annahmen deutlich. Eine mögliche Markierung ist die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Armut. Bei absoluter Armut geht es um einen Mangel an Kaufkraft für Grundgüter, die kein Mensch entbehren kann. Relative Armut sagt etwas über
61
62
63
Vgl. Welthungerhilfe/ International Food Policy Research Institute/ Concern worldwide(Hg.), Welthunger-Index 2014: Herausforderung verborgener Hunger, Bonn/ Washington, DC/ Dublin: 2014. Vgl. Welthungerhilfe/ International Food Policy Research Institute (IFPRI)/ Concern worldwide, Welthunger-Index 2016; Braun, Joachim von/ Hill, Ruth V./ Pandya-Lorch, Rajul, The Poorest and the Hungry: A Synthesis of Analyses and Actions, in Braun/ Hill/ Pandya-Lorch, The poorest and hungry, S. 6. Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 3; Pogge, Thomas, Zum Menschenrecht auf Nahrung, in Die Ernährung der Weltbevölkerung - eine ethische Herausforderung: Vorträge der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2011 (Berlin: 2012), S. 33.
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
diejenige Armut, die innerhalb einer Gesellschaft besteht. Das bedeutet, es sind nicht nur diejenigen arm, denen es an überlebenswichtigen Gütern fehlt, sondern auch die, die im Verhältnis zu anderen sehr wenig haben. Als von relativer Armut betroffen gelten die Menschen, die weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens in ihrer Gesellschaft besitzen. Bezogen auf Deutschland und Europa bedeutet das, dass relativ arme Menschen zwar mehr haben als diejenigen, die in absoluter Armut leben haben, doch auch sie haben zu wenig, um ein menschenwürdiges Leben in ihrem Land zu leben.64 Einem relativ armen Menschen mangelt es dabei nicht an lebenswichtigen Gütern, sondern er hat zu wenig im Verhältnis zu anderen Menschen in seiner Gesellschaft. Für die Kategorie der relativen Armut wird ein soziokulturelles Existenzminimum festgelegt. Unterhalb dieses Minimums gilt ein Mensch als relativ arm. In der Kategorie der absoluten Armut gibt es eine weitere Differenzierung. Die sogenannten ultra poor sind unter den absolut armen Menschen noch schlechter gestellt als die anderen. Sie leben von weniger als 20 US-Cents KKP pro Tag.65 Bereits vor der Verschärfung der Armutszahlen durch die wirtschaftlichen Krisen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts gehörten ca. 400 Millionen Menschen zu dieser Gruppe.66 All diese Grenzen haben eine Gemeinsamkeit: Weder von 20 Cents noch von 2 US-Dollar kann ein Mensch so leben, dass er frei von Hunger ist, eine Behausung hat, ein Zugang zu elementarer Bildung möglich ist und dass er für seine Gesundheit und Sicherheit sorgen kann.
64
65 66
Vgl. Müller, Julia/ Neuhäuser, Christian, Relative Poverty, in Kaufmann/ Kuch/ Neuhaeuser/ Webster, Humiliation, Degradation, Dehumanization; Neuhäuser, Christian, Zwei Formen der Entwürdigung: Relative und absolute Armut, in Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Nr. 4 (2010), S. 542 556. Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 330, Fig. 7.9. Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 330, Fig. 7.9.
2.3 Normative Dimension der Armut
39
Wenn wir davon sprechen, dass Menschen arm sind, kann das unterschiedliche Ausmaße von Armut bedeuten. Die weltweite Armut ist im 21. Jahrhundert eine Herausforderung, die das Überleben vieler Millionen Menschen unmittelbar betrifft. Die Situation stellt sich insgesamt so drastisch dar, dass Armut aktuell die häufigste Todesursache ist. Es sterben jährlich 18 Millionen Menschen an armutsbedingten Ursachen67. Der häufig herangezogene Vergleich zu den addierten Kriegstoten des 20. Jahrhunderts verdeutlicht das Ausmaß dieser grassierenden Todesursache.68 Die Vergleichszahlen zeigen, dass es sich nicht um ein marginales, sondern um ein marginalisiertes Problem handelt. Allerdings stellt sich die Frage, ob in dem Ausmaß an Armut selbst überhaupt eine besondere moralische Relevanz liegt. Macht es einen moralischen Unterschied, ob jedes Jahr 10 oder 10000 Kinder sterben, weil sie und ihre Eltern zu arm zum Überleben sind? Die Zahlen zeigen auf deskriptiver Ebene, wie massiv das Problem ist. Jedoch lässt sich aus den Zahlen nicht herleiten, um was für ein normatives Problem es sich handelt und worin genau die moralphilosophische Herausforderung liegt. Um die Frage der moralischen Herausforderung durch globale Armut zu verstehen, gilt es, das dahinterliegende Übel zu erfassen. Hinter den genannten Zahlen stehen viele Formen der Armut und verschiedene Lebensbedingungen, doch es lassen sich auch konkrete Auswirkungen festmachen. Die Kategorisierung zur Armutsbemessung erweckt den Eindruck, dass es sich bei armen Menschen um eine homogene Gruppe handelt. Doch hinsichtlich der betroffenen individuellen Leben besteht keine
67 68
Vgl. Pogge, Zum Menschenrecht auf Nahrung, S. 32. Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 39.
40
2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
Homogenität. Armut zeigt sich auch in ihrer extremen Form auf unterschiedliche Weisen. Gleichzeitig sind aber einige Gruppen in größerem Maße von ihr betroffen als andere. Extreme Armut ist auf dem Land wie in den urbanisierten Regionen dieser Welt zu finden. Auf dem Land betrifft sie insbesondere die Kleinbauern und ihre Familien sowie die Bevölkerung ohne Landbesitz, die darauf hoffen muss, als Tagelöhner ihre Arbeitskraft an die Landbesitzer verkaufen zu können. Betroffen sind auch besitzlose Stadtbewohner der Slums69, deren Arbeitslöhne nicht zum Überleben reichen. Unter den extrem armen Menschen befinden sich außerdem auch heute noch viele, die als Sklaven arbeiten oder in sklavenähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen und faktischer Leibeigenschaft stehen.70 Während viele der absolut armen Menschen durch ihre billige Arbeitskraft und die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse noch in die globale Wirtschaftsstruktur funktional eingebunden sind und es Menschen gibt, die von diesen Ausbeutungsverhältnissen profitieren, erscheint ein erheblicher Teil der sehr armen Menschen aus wirtschaftlicher Sicht überflüssig71 oder wertlos zu sein. Diese Menschen haben keine Chance, überhaupt an wirtschaftlichen und sozialen Prozessen teilnehmen zu können. Die Armutsforschung der verschiedenen Disziplinen bildet zwar Kategorien, um empirisches Datenmaterial zu generieren, jedoch darf aus ethischer Perspektive nicht in Vergessenheit geraten, dass sich menschliche Schicksale und individuelle Leben hinter diesen Beschreibungen 69
70
71
Vgl. Chen, Shaohua/ Ravallion, Martin, The Changing Profile of Poverty in the World, in Braun/ Hill/ Pandya-Lorch, The poorest and hungry, S. 74. Vgl. Deile, Volkmar/ Hutter, Franz-Josef(Hg.), Jahrbuch Menschenrechte: Schwerpunkt: Sklaverei heute, Frankfurt a.M.: 2007, S. 9; vgl. The Global Slavery Index(Hg.), The Global Slavery Index 2016, 2016, S. 8. Vgl. Margalit, Avishai, Die anständige Gesellschaft und ihre Feinde, in Für eine Politik der Würde, (Hg.) Nida-Rümelin, Julian / Thierse, Wolfgang, S. 27.
2.3 Normative Dimension der Armut
41
verbergen. Gerade weil es im Wesentlichen nicht um Zahlen, sondern um den normativen Wert menschlichen Lebens geht, wird deutlich, dass Armut kein wertneutrales Konzept oder kein wertneutraler Begriff 72 , ist. Armut beschreibt in diesem Sinn immer ein zu wenig worin implizit ein normatives Urteil darüber enthalten ist, dass es von etwas für einen bestimmten Zweck zu wenig geben kann. 73 Im Falle der absoluten Armut sind von denjenigen Grundgütern zu wenige vorhanden, die für das Überleben notwendig sind. Um die Dimensionen und Implikationen dieser Mangelbeschreibungen wird es im Weiteren gehen. Der Blick auf die empirische Armutsforschung zeigt also zweierlei: Zum einen gibt es sehr viele arme Menschen, zum anderen sind Menschen auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß arm. Die Feststellung, dass jemand arm ist, eröffnet eher ein Feld von Fragen, als dass es Auskunft über die Lebenssituation des Betroffenen gibt. Da es sich um ein weites und komplexes Phänomen handelt, werde ich den Untersuchungsgegenstand weiter eingrenzen und nur bestimmte Fälle von Armut moralphilosophisch untersuchen. Dazu beschränke ich die Analyse auf Fälle von schwerer, struktureller und chronischer Armut. Die Konzentration auf strukturelle Armut soll verhindern, dass das Augenmerk allein auf Notlagen gerichtet wird, die durch Naturkatastrophen oder Unglücke entstehen. Da dies in der öffentlichen Wahrnehmung geschieht, soll es hier explizit um denjenigen Teil der Armut gehen, der zu jeder Zeit herrscht und nicht erst durch Dürren, Überschwemmungen oder Erdbeben ausgelöst wird. Aus gleichem Grund wird sich die Betrachtung auf chronische Armut konzentrieren und nicht akute Notsituationen als primären Fokus haben. Akute 72 73
Neuhäuser, Zwei Formen der Entwürdigung: Relative und absolute Armut, S. 547. Vgl. O'Neill, Onora, Faces of hunger: An essay on poverty, justice and development, London: 1986, S. 5.
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
Notlagen sind damit nicht von der Untersuchung ausgeschlossen, doch die moralphilosophische Beurteilung wird sich nicht auf diese beschränken. An dieser Stelle ist es wichtig, die Terminologie einmal genauer anzuschauen. Sowohl in der philosophischen Literatur als auch in anderen Publikationen zu diesem Thema sowie in der medialen Kommunikation werden die Begriffe Weltarmut oder auch Welthunger genutzt. Während es für die Benennungen von absoluter und relativer Armut Definitionen gibt, werden Weltarmut und Welthunger viel undifferenzierter gebraucht. Eine solche unkritische Verwendung trifft dabei häufig auf ein intuitives Verständnis dessen, was mit diesen Begriffen gemeint sein könnte. Wenn von Weltarmut oder -hunger die Rede ist, sind damit nicht alle Formen von Armut oder Hunger gemeint. Stattdessen beziehen sich diese Begriffe auf die besonders schlimmen Fälle von Armut, die in den industrialisierten Ländern vermeintlich nicht vorkommen. Weltarmut und Welthunger knüpfen an andere Bezeichnungen aus diesem Umfeld an wie zum Beispiel an den Begriff der Dritten Welt74. Dabei bezieht sich Welt in erster Line auf die Ferne, das heißt, es geht um Armutsfragen jenseits der eigenen Gesellschaft. Faktisch stellt sich das Problem der Armut zwar nur an einigen Orten und konzentriert sich in besonderen Regionen und sozialen und räumlichen Strukturen, doch der Begriff Welt enthält darüber hinaus auch eine normative Komponente. Das bedeutet, mit der Verknüpfung von Welt und Armut wird implizit die Frage nach globaler Zuständigkeit und prospektiver Ver-
74
Vgl. Kalter, Christoph, Die Entdeckung der Dritten Welt: Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt am Main: 2011, S. 53; Nuscheler, Entwicklungspolitik, S. 98 105.
2.3 Normative Dimension der Armut
43
antwortung bezüglich der Beseitigung dieses Missstandes aufgeworfen.75 Gleichzeitig verweist der Begriff Weltarmut wie gesagt auf weltweit vorkommende schwere Formen der Armut. Allerdings scheint es nicht sinnvoll zu sein, die Vielfältigkeit und die Unterschiedlichkeit von Formen, Gründen und Auswirkungen der Armut pauschal unter einem Begriff zusammenzufassen. Schließlich zeigt sich extreme Armut an den unterschiedlichsten Plätzen der Welt und es gibt viele verschiedene Ursachen für ihre Existenz, die sehr komplex zusammenwirken. Ein sinnvolles Verständnis von Weltarmut kann dementsprechend nicht bedeuten, alle diese heterogenen Faktoren in einem Begriff aufgehen zu lassen. Doch auch wenn es für die vielen Formen von Armut keine alleinigen Ursachen gibt, kann es sinnvoll sein, sie in einem wesentlichen Gesichtspunkt auf einen Begriff zu bringen. Armut in diesem Sinne bedeutet, dass Menschen, die von ihr betroffen sind, zu wenig haben, um ihr Existenzminimum zu sichern. Mit dem Verweis auf die Welt ist also nicht in erster Linie die Zusammenfassung der vielfältigen Bedingungen des weltweiten Problems gemeint, sondern die globale Herausforderung und die damit verbundene moralische Verantwortung.76 Die Begriffe Weltarmut und Welthunger sind dieser Überlegung zufolge bereits mit einem normativen Anspruch verbunden. Die vielen Ausprägungen von Armut zusammenzufassen und als ein einziges Problem darzustellen, bedeutet zwar einerseits eine Vereinfachung des Problems, ermöglicht aber andererseits eine Grundlage für eine universelle ethische Beurteilung. Diese gemeinsame Grundlage aller Phänomene von schwerer Armut und der damit verbundene Anspruch, Weltarmut als eine globale Herausforderung zu sehen, ist der Ausgangspunkt meiner Untersuchung. Die globale Herausforderung 75
76
Vgl. Anwander, Norbert, Ist Weltarmut ein globales Problem? Eine Analyse unserer Verantwortung, in Horster, Welthunger durch Weltwirtschaft, S. 20 ff. Vgl. ebd., S. 22.
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
wird mit einem universalen Moralverständnisses konfrontiert: dem Anspruch auf Achtung der Menschenwürde. Da es hier um die Frage des universalen moralischen Anspruchs auf ein Leben in Würde geht und darum, welche Gefahren von Armut für diesen universalen Anspruch ausgehen, werden die Begriffe Weltarmut und Welthunger im hier vorgestellten Sinn gebraucht. Gegenstand dieser Untersuchung ist die Schwierigkeit, dass das globale Problem der Armut zwar nicht alle Menschen gleichermaßen in seinen Auswirkungen betrifft, aber alle Menschen insofern etwas angeht, als sie dafür verantwortlich sind, eine globale Ordnung zu schaffen, die anständig ist. Der universale normative Anspruch, vor dem diese globale Herausforderung untersucht wird, ist das Konzept der Menschenwürde. Die Frage ist also, inwiefern Weltarmut und Welthunger Verletzungen der menschlichen Würde bedeuten. Im Unterschied zur historischen Armut besteht heute durch globale Verflechtungen eine Verbindung zwischen uns und den betroffenen Menschen. Wir leben zwar in völlig unterschiedlichen Welten, sind aber über ein globales Wirtschaftssystem in unserem Handeln und dessen Auswirkungen miteinander verbunden. Es ist ausreichend Wissen darüber vorhanden, dass alltägliche Konsumprodukte unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen hergestellt werden, und dieses Wissen wird mit den damit einhergehenden moralischen Konsequenzen verdrängt. Durch die Verflechtungen einer Welt, in der die Menschen nicht nur über Märkte, sondern auch über universale Werte miteinander verbunden sind, drängt sich die Frage auf, inwieweit durch den alltäglichen Konsum moralisches Unrecht geschieht. Das Feld der moralischen Auseinandersetzung ist gekennzeichnet durch drei Faktoren: die Vermeidbarkeit von Armut, ihre universale
2.3 Normative Dimension der Armut
45
normative Beschreibung als Übel sowie den Diskurs über die ethischen Implikationen von Armut. Der Ausgangspunkt ist die Annahme der Vermeidbarkeit von Armut, die keine natürliche Notwendigkeit darstellt. Die Armutszahlen sind deswegen so skandalös, weil kein Kind mehr verhungern müsste. Des Weiteren hat sich der Blick auf die Verantwortungszusammenhänge verändert. Gerade weil viel armutsbedingtes Leid vermeidbar wäre, besteht heute der Anspruch, dass Hunger und Armut überwunden werden. Die Vorschläge und Bemühungen zur Armutsreduktion fallen unterschiedlich aus.77 Es besteht jedoch ein hinlänglicher Konsens darüber, dass extreme Armut ein Übel ist und überwunden werden soll. Die Herausforderung im Diskurs liegt an dieser Stelle darin, dafür zu argumentieren, dass es sich bei Armut um keinen schicksalhaften, hinzunehmenden Zustand handelt. Vor allem geht es darum, diejenigen zu entlarven, die zwar keinen Standpunkt gegen den geteilten Konsens zur Überwindung der Armut beziehen, gleichzeitig aber in ihren Handlungen nichts von dieser Überzeugung zum Ausdruck bringen. Durch diese Doppelmoral verkommt der gemeinsame Konsens zu einem Lippenbekenntnis. Dieser Vorwurf wird auch von vielen Akteuren, die an ernsthaften politischen Bemühungen zur Armutsbekämpfung auf internationaler Ebene beteiligt sind, formuliert. Mittlerweile hat sich jedoch eine moralische Diskussion über die Fragen globaler Verantwortung etabliert. Wenn Zustände in der Welt potentiell vermeidbar sind, heißt das, dass es in unserer Verantwortung liegt, ob diese Zustände existieren oder nicht, und es heißt auch, dass sich unser moralisches Handeln daran messen lassen muss, ob es uns gelingt, moralisch nicht akzeptable Zustände zu vermeiden. Wenn es
77
Vgl. Braun, Joachim von/ Hill, Ruth E./ Pandya-Lorch, Rajul(Hg.), The poorest and hungry: Assessments, analyses, and actions an IFPRI 2020 book, Washington, D.C.: 2009.
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
sich um potenziell vermeidbare Zustände handelt, werden sie zu Zuständen, an deren Existenz das menschliche Handeln moralisch beurteilt werden muss. Meine Analyse in Bezug auf die Vermeidbarkeit mit dem Anspruch auf ein Leben in Würde soll Armut in den Blick nehmen, die durch vier Aspekte gekennzeichnet wird: Der erste Aspekt ist die angesprochene potentielle Vermeidbarkeit von Armut, die es zu einem verantwortbaren Problem macht. Armut ist kein Schicksal mehr, das die Menschheit hinnehmen muss, sondern besteht aufgrund von nicht-intendierten Handlungsfolgen, die im Sinne von Kollateralschäden der Weltordnung bisher hingenommen werden. In Hinblick auf die Idee menschlicher Verantwortung stellt sich die Frage, ob diese Haltung nicht grundlegend falsch ist. Wenn es um Weltarmut geht, besteht die philosophische Aufgabe darin, die Frage nach der Beseitigungsverantwortung78 zu klären. Das zweite Merkmal des Phänomens der Weltarmut ist, dass es sich um ein chronisches Problem handelt. Das heißt, das Phänomen ist kein punktuelles, krisenhaft auftretendes, sondern es beschreibt einen Dauerzustand. Für die Betroffenen bestehen kaum individuelle Veränderungsmöglichkeiten, um aus der Armut zu entkommen. Die Gründe sind in der Regel nicht auf singuläre Faktoren oder Ereignisse zurückzuführen, sondern bestehen in der Akkumulation von Faktoren, die die Lebenssituation verschlechtern und zu einer tiefen und schweren Armut führen. Nicht selten wird diese Form der Armut auch vererbt; das geschieht zwar nicht auf biologische Weise, aber im Sinne eines sozialen Erbes. Der Teufelskreis der Armut besteht darin, dass man ihr nicht entfliehen kann, weil dafür Kräfte von Nöten wären, die durch sie unterminiert 78
Vgl. Pollmann, Arnd, Armut, In: Pollmann, Arnd/ Lohmann, Georg (Hg.), Menschenrechte: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: 2012, S. 433 438, S. 433.
2.3 Normative Dimension der Armut
47
werden. Dieser Aspekt ist deswegen so wichtig, weil mit ihm die dauerhaften Umstände der Lebenssituationen in den Blick geraten. Ebenso wenig darf der verschärfende Einfluss von Krisen auf die Situation der Armen vernachlässigt werden, soll aber hier nicht im Fokus stehen, um die Reduktion auf ein Krisenphänomen zu vermeiden. Meistens ist Armut ist nicht in dem Sinne akut, dass sie plötzlich auftritt und schnell wieder verschwindet, sondern einen dauerhaften Zustand darstellt, der deshalb auch nicht durch punktuelle Hilfe überwunden werden kann. Der dritte Aspekt ergibt sich aus der Komplexität der Ursachen für Armut: Armut muss als ein strukturelles Phänomen betrachtet werden. Ihre Gründe sind nicht in individuellen Faktoren zu suchen, sondern vielmehr in der gemeinschaftlichen Struktur menschlichen Handelns. In der Armutsforschung waren lange individuelle und pathologisierende Ansätze79 verbreitet. Annahmen die behaupten, dass die Ursachen der Armut in der Faulheit oder Dummheit der betroffenen Menschen selbst begründet lägen, lassen sich allein mit der Tatsache widerlegen, dass die ärmsten Menschen weltweit diejenigen sind, die am härtesten arbeiten und die reichsten Menschen der Welt in der Regel überhaupt nicht oder sehr wenig für ihr Geld arbeiten. Außerdem ist das Verständnis als strukturelles Phänomen von Bedeutung, weil er mit einbezieht, dass es Menschen gibt, die innerhalb dieser vorgesehenen Struktur dazu bestimmt sind, arm zu sein und zu bleiben. Es stellt sich das Problem der adäquaten Versorgung von Menschen, deren soziale Einbindung nicht über Arbeit und Kapital möglich ist. Alte, kranke, invalide oder noch nicht erwachsene Menschen werden zu einem abhängigen Leben gezwungen. Als letzter, vierter Punkt ist es von zentraler Bedeutung, dass es sich um ein globales Problem handelt. D.h. es geht um
79
Vgl. Ravallion, The economics of poverty, S. 105.
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
ein weltweit auftretendes Phänomen, das nicht durch lokale oder regionale Ursachen alleine erklärt werden kann und deswegen auch nicht in der Frage nach der Verantwortung begrenzt bleiben soll. Insofern kann eine räumliche und persönliche Distanz zu den von Armut betroffenen Menschen, nicht von vornherein als Grund angeführt werden, um Verantwortung für das Leid der Betroffenen zurückzuweisen. Statt um die singuläre Betrachtung von Krisenphänomenen geht es also um die Existenz schwerer Armut als weltweiten Dauerzustand, der nicht krisenbedingt auftritt, sondern aufgrund unserer globalen Interaktionsstruktur besteht. Zu klären, inwieweit das mit bestimmten ethischen Grundannahmen vereinbar ist, ist Aufgabe der angewandten Ethik. Ein gut begründetes moralisches Urteil setzt hier voraus, dass der Komplexität des Problems Rechnung getragen wird. Es zeigt sich beispielsweise, dass Armut nicht allein an einem Mangel an bestimmten Gütern festgemacht werden kann. Mangel spielt selbstverständlich eine gewisse Rolle, doch Armut ist ebenso von sozialen Beziehungen, Interaktionen und Strukturen abhängig. Diese Bedingungen müssen berücksichtigt werden, wenn eine moralphilosophische Antwort darauf gegeben werden soll, welche Kriterien als relevant gelten und über welche Güter jeder Mensch verfügen sollte, um nicht in Armut zu leben. 2.4 Weltarmut und Welthunger als eine Frage der Menschenwürde Das zweite zentrale Thema dieser Untersuchung neben der Armut ist die Menschenwürde. Der historische, der deskriptive und der normative Blick auf die Armut haben gezeigt, dass die Frage nach menschenwürdigen Lebensbedingungen zwar auftaucht, jedoch der Begriff der Menschenwürde nur partiell eine Rolle spielt. So naheliegend der intuitive Verweis auf die menschliche Würde ist, wenn armutsbedingtes
2.4 Weltarmut und Welthunger als eine Frage der Menschenwürde
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Leid und Elend offenbar werden, spielt sie jedoch eine nachgeordnete Rolle im ethischen Diskurs. In dieser Untersuchung soll es darum gehen, die menschliche Würde in den Fokus zu stellen und ein normatives Urteil in Bezug auf sie zu fällen. Es geht darum zu erfassen, wie die Existenz von Weltarmut und Welthunger mit dem Anspruch auf ein Leben in Würde zu vereinbaren ist. Viele Menschen teilen die intuitive Ansicht, dass extreme Armut zu menschenunwürdigen Lebensbedingungen führt. Wenn Kinder auf Müllkippen leben und sich vom Abfall anderer ernähren, verurteilen wir diese Lebensbedingungen als menschenunwürdig. Die geteilte Intuition hinsichtlich bedrohter menschlicher Würde hilft zwar, wenn es darum geht, Mitleid zu erzeugen und Spenden zu generieren, aber sie sagt uns nicht, ob es sich dabei auch um ein angemessenes moralisches Gefühl handelt oder ob nicht andere moralische Kategorien geeigneter wären, um diese Lebensbedingungen zu beurteilen. Deswegen sollte man gegenüber dieser Intuition, dass es hier um einen universellen moralischen Wert geht, eine kritische Perspektive einnehmen. Dann lässt sich prüfen, ob wir dieser Intuition trauen können. Eine Intuition zu prüfen bedeutet, sie daraufhin zu untersuchen, ob wir gute Gründe für sie haben, in diesem Fall für die Annahme, dass extreme Armut zu menschenunwürdigen Lebensbedingungen führt. Liegen diese Gründe vor, spricht das für eine schärfere Beurteilung der Armutssituation. Im Folgenden wird dementsprechend die Gültigkeit eines universalen Wertes bzw. minimalen moralischen Grundprinzips für die Menschengemeinschaft in einer globalisierten Welt geprüft. Es geht dabei um den moralischen Anspruch eines jeden Menschen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Die grundlegende Frage, die sich aus der Intuition für die angewandte Ethik ergibt, ist weitreichend: Kann extreme Armut tatsächlich als eine Verletzung menschlicher Würde verstanden werden? Ist Armut ein so fundamentaler moralischer Verstoß? Und falls
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
ja, welche Konsequenzen würden sich aus diesem Urteil für den Umgang mit Armut ergeben? Es müssen entsprechend zwei Themenfelder zusammengebracht werden: die reale Situation armer und hungernder Menschen und der Anspruch eines jeden Menschen auf ein Leben in Würde. Dafür ist zum einen zu klären, auf welche Weise ein Leben in Armut die menschliche Würde gefährdet oder verletzt. Zum anderen muss deutlich werden, von welchem Begriff menschlicher Würde überhaupt gesprochen wird, da dieses normative Konzept eine lange Tradition und diverse Bedeutungskomponenten hat. Da es mir im Kern um die Frage nach einem minimalen Grundprinzidem der menschlichen Würde, gehen wird, liegt der Fokus in der Betrachtung von Armut auf den relationalen Aspekten, welche Armut als ein Phänomen menschlicher Interaktionen versteht und beurteilt. Der hier verwendete Begriff der menschlichen Würde schließt an das Würdekonzept von Avishai Margalit an. Seine These ist, dass eine anständige Gesellschaft die Voraussetzung dafür ist, um in Würde leben zu können. Diese Überlegung werde ich auf das Konzept einer minimal anständigen Gemeinschaft von Menschen übertragen. Sein Konzept bietet außerdem die Möglichkeit, institutionelle und strukturelle Missachtungen der Würde angemessen berücksichtigen zu können. Der Anspruch auf Würde ist nach Margalit, ein Leben frei von Demütigungen zu führen. Demütigung, so behaupte ich, ist der Ausschluß eines Menschen aus der Familie des Menschen; sie bedeutet, daß Menschen so behandelt werden, als ob so sie keine Menschen oder nicht menschlich wären, womit gesagt ist, daß sie behandelt werden, als ob sie Gegenstände oder Tiere wären. Daß eine Demütigung sehr häufig durch Gesten zu-
2.4 Weltarmut und Welthunger als eine Frage der Menschenwürde
51
geführt wird, rührt daher, daß es zu ihrem Wesen gehört, andere Menschen so zu behandeln, als ob sie etwas anderes wären: leblose Objekte, Werkzeuge oder Tiere 80
Es handelt sich bei der Menschenwürde nach Margalit um einen grundlegenden normativen Wert, der nicht verletzt werden darf, aber dennoch verletzt wird. Dabei interessieren ihn insbesondere die Fälle von Entwürdigungen, die nicht auf einzelne Täter, sondern auf Strukturen zurückzuführen sind. Da es sich bei der Armut ebenfalls nicht um intendierte Handlungs-konsequenzen, sondern um billigende Inkaufnahme negativer Effekte handelt, geht es in dieser Untersuchung ebenfalls um Verletzungen der Menschenwürde, die nicht durch Täter, sondern durch Strukturen und Institutionen zustande kommen. Trotzdem sind sie ethisch rechtfertigungsbedürftig. Eine anständige Gesellschaft bekämpft Verhältnisse, durch die sich ihre Mitglieder mit Recht gedemütigt fühlen können. Eine Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen den Menschen, die ihrer Autorität unterstehen, keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu betrachten. 81
Können sich von Armut betroffene Menschen als Teil der Menschengemeinschaft zu Recht gedemütigt fühlen, weil die Institutionen der Weltgesellschaft nicht dem minimalen Anspruch, anständig zu sein, genügen? Der Ausgangspunkt ist ein negativer, d.h. ich werde mich auf die Betrachtung und Erfassung von verletzter Würde konzentrieren, wobei mir wichtig ist herauszuarbeiten, worin die Würdeverletzungen bestehen. Die Frage lautet an dieser Stelle nicht, was es bedeutet, die menschliche Würde zu achten, sondern zunächst einmal nur, wann, wo und wie sie verletzt wird. Bei der extremen Armut, die sich aus einer 80
81
Margalit, Avishai, Politik der Würde: Über Achtung und Verachtung, Frankfurt am Main: 2012, S. 113. Margalit, Politik der Würde, S. 22.
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2 Weltarmut und Welthunger in der angewandten Ethik
komplexen Situation mit nicht eindeutigen Kausalzusammenhängen und nichtintendiertem Handeln zusammensetzt, wird es eine besondere Herausforderung sein, die Verletzungen der Würde aufzuzeigen. Die Analyse ist ein Beitrag zur ethischen Diskussion um die Weltarmutsproblematik, der besonders die Perspektive der Würde einnimmt. Mit diesem Blickwinkel wird eine umfangreichere und angemessenere Erfassung des moralischen Problems in dreierlei Hinsicht angestrebt: Erstens wird die Art des Problems mit Bezug auf die Würde genauer erfasst werden können. Das heißt, auf diese Weise wird das Weltarmutsproblem als ein Übel identifiziert, wobei der Bezug auf die menschliche Würde bzw. die Entwürdigungen weitere Gründe liefern, Weltarmut moralisch zu verurteilen. Zweitens kann die Frage nach der moralischen Herausforderung mit Blick auf die Würde besser gestellt werden. Die spezifischen Aspekte der entwürdigenden Komponenten von Armut können gezielt in Hinblick auf die Konsequenzen berücksichtigt werden. Drittens kann der fundamentale Charakter des moralischen Problems abgebildet werden und damit ein angemessenes moralisches Urteil erfolgen.
3
Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Die Frage nach der moralischen Verantwortung gegenüber dem Leiden fremder Menschen durch Armut ist philosophisch relativ jung. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch eine intensive Debatte zu diesen Fragen entspannt und es haben sich verschiedene Standpunkte zu moralischen Forderungen und Pflichten etabliert.82 Den Auftakt zu dieser Debatte machten die zwei Sammelbände World Hunger and Moral Obligation und Lifeboat Ethics. The moral dilemmas of world hunger von 1976/77.83 Sie reagieren auf die Hungersnöte der vergangenen Jahre und auf den 1972 erschienenen Aufsatz von Peter Singer Famine, Affluence, and Morality84. Singer fordert umfassende Hilfe für die Armen, die weit über übliche Hilfspflichten hinausgeht. Dieses Kapitel wird sich mit den moralphilosophischen Auseinandersetzungen und Argumentationen zum Armutsphänomen befassen und untersuchen, was wir armen Menschen in moralischer Hinsicht schulden. Dabei bildet die Beschreibung der Armut als moralisches Problem den Ausgangspunkt der Debatte. Auf die mit der Problembeschreibung verbundene moralische Herausforderung werden in der philosophischen Diskussion unterschiedliche Antworten gegeben, die hier vor dem Hintergrund der Frage untersucht werden, ob die Verletzung der menschlichen Würde als Teil des moralischen Diskurses verstanden werden sollte. Dazu werden vier dominierende Strömungen der Debatte vorgestellt, die die Frage nach der Verletzung der menschlichen Würde tangieren, aber jeweils einen 82
83
84
Vgl. Bleisch, Barbara/ Schaber, Peter, Einleitung, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik. Vgl. Aiken/ LaFollette, World hunger and moral obligation; Lucas, George R./ Ogletree, Thomas W., Lifeboat ethics: The moral dilemmas of world hunger, New York: 1976. Vgl. Singer, Peter, Famine, Affluence, and Morality, in Aiken/ LaFollette, World hunger and morality, S. 26 38; Singer, Peter, Hunger, Wohlstand und Moral, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik, S. 37 51.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_3
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
anderen moralischen Referenzpunkt haben, nämlich die Gerechtigkeit, die Menschenrechte oder das gute Leben. Bei der Untersuchung dieser unterschiedlichen Zugänge in Bezug auf ihren Beitrag zur Frage der Verletzung menschlicher Würde geht es mir einerseits um die Problembeschreibung von Weltarmut und andererseits insbesondere um die Reichweite des Gerechtigkeitsbegriffs. Was lässt sich aus der Perspektive der Gerechtigkeit gegen Weltarmut sagen? Welche Rolle spielen dabei Fragen nach der Gleichheit? Lassen sich aus der Einordnung als Ungerechtigkeit Hinweise ableiten, die etwas über die menschliche Würde und ihre Bedrohung durch Armut aussagen? In der Diskussion um Gerechtigkeit geht es um die kritische Auseinandersetzung mit der Legitimation von ungleicher Verteilung. Angesichts der Weltarmut steht dabei die Verteilungsgerechtigkeit, die materielle Güter als politische, soziale und kulturelle Güter einbezieht, im Mittelpunkt. Ein Ansatz, der die Gerechtigkeit ins Zentrum der Beschreibung und Bewertung der Armut stellt, sind die sogenannten LifeboatEthics, die am Anfang der philosophischen Auseinandersetzung mit der moralischen Herausforderung der Weltarmut stehen. 3.1 Armut und Rettung aus der Not: Lifeboat Ethics Die Lifeboat-Ethics identifizieren Weltarmut als Übel. Ihre These ist, dass es gegen Gerechtigkeitsprinzipien verstößt, wenn Menschen leiden und an Not sterben, während andere in Wohlstand und Reichtum leben. Das Problem der Armut wird in den Lifeboat-Ethics als eine Frage nach Leben und Tod dargestellt. Ausgangspunkt dieser Beiträge war das konkrete Leid in der Welt durch die Hungerkatastrophen zu Beginn der 1970er Jahre. Mit Peter Singers Famine, Affluence and Morality kam die Frage auf, was angesichts dieses menschlichen Leids zu tun ist. Mit der Analogie einer Notsituation und den damit verbundenen Hilfspflichten sollten die Pflichten zur Hilfe gegenüber armen Menschen in
3.1 Armut und Rettung aus der Not: Lifeboat Ethics
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Not begründet oder zurückgewiesen werden. Weil diese Beiträge prägend für die weitere Diskussion waren, werden sie hier dahingehend analysiert, inwiefern sie helfen zu verstehen, worin das ethische Problem angesichts von Weltarmut und Welthunger genau liegt. Gemeinsam ist den verschiedenen Stimmen in der Diskussion, dass das Leid und Sterben der Menschen aufgrund von Armut als Übel anerkannt wird. Ein aufkommendes Verständnis von globalen Zusammenhängen und der Zunahme internationaler Verflechtungen sowie eine verstärkte mediale Verfügbarkeit von Informationen über die Lebenssituationen in der Welt konfrontierte die Bewohner der wohlhabenden Länder mit dem Sterben der Menschen in vielen Teilen der Welt. Neben dieser Aufmerksamkeit stellten auch die technischen Fortschritte in der Katastrophenhilfe neue Voraussetzungen dar, um mit Hunger-katastrophen in der Ferne umzugehen. In den moralphilosophischen Auseinandersetzungen diskutierte man nun vordringlich die Frage, welche Pflichten wir als wohlhabende Bürger gegenüber fremden Menschen in Not haben. Dementsprechend geht es in der Analogie zwischen den Hungerkatastrophen und akuten Notsituationen nicht nur darum, das Problem zu beschreiben, sondern auch darum zu klären, was Menschen, als individuelle Träger moralischer Pflichten, in Situationen, in denen fremde Menschen in Not sind, tatsächlich zu tun haben. Wenn die schwere Armut von Menschen uns moralisch empört, muss die Frage gestellt werden, ob von jedem Menschen etwas Bestimmtes gefordert werden kann, um diese Situation zu überwinden. Peter Singer vertritt in Bezug auf diese Frage starke Hilfspflichten mit einer utilitaristischen Begründung.85 Er fordert von den Bürgern wohlhabender Staaten, dass sie den Not leidenden Menschen helfen. Die geforderte 85
Vgl. Singer, Peter, Hunger, Wohlstand und Moral, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Hilfe muss dabei so weit gehen, bis etwas von moralischer Relevanz bei den Gebenden geopfert wird.86 Seine Argumentation scheint einfach: Mit der ersten Annahme stellt er fest, dass das Sterben und Leid nahme, dass Leiden und Tod aufgrund von Nahrungsmittelmangel, Obdachlosigkeit und medizinischer Unterversorgung etwas Schlechtes 87 Die zweite Annahme besagt, dass wenn wir etwas Schlechtes verhindern können, ohne etwas moralisch Gleichwertiges zu opfern, am Geschehen zu hindern, ohne dass wir dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung opfern müssen, dann sind wir moralisch 88 Seine dritte Behauptung ist, dass durch unsere Hilfe ein gewisses Maß an extremer Armut verhindern werden kann, ohne etwas von moralischer Bedeutung zu opfern. Aus diesen Annahmen folgert Singer dann, dass es moralisch gefordert ist, dass wir ein bestimmtes Maß an extremer Armut verhindern und unser Geld für die Bekämpfung des Hungers spenden müssen. Das ethische Ziel, an dem sich diese Argumentation orientiert, ist in klassischer utilitaristischer Tradition die Verminderung oder Beseitigung von menschlichem Leid bzw. die Vermehrung des Glücks. Singers Pflicht zur Hilfe mahnt den Einzelnen zu seiner individuellen Pflicht, die für alle gleichermaßen und ohne Einschränkung gilt. Um diese weitereichende Forderung zu illustrieren, verwendet Singer das klassisch gewordenen Beispiel eines ertrinkenden Kindes im Teich. Es gilt sich vorzustellen, dass man auf dem Weg zur Arbeit an einem Teich 86
87
88
Vgl. Singer, Hunger, Wohlstand und Moral, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik, S. 39. Singer, Hunger, Wohlstand und Moral, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik, S. 39. Ebd.
3.1 Armut und Rettung aus der Not: Lifeboat Ethics
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vorbeikommt, wo man sieht, dass ein kleines Kind, das nicht schwimmen kann, hineingefallen ist. Das Kind droht in diesem Teich zu ertrinken. Es ist eine Notsituation, in der von einem verlangt wird, dass man dem Kind zur Hilfe kommt und damit dessen Leben rettet. Einwände, beispielsweise dass die neuen, teuren Schuhe oder der Anzug ruiniert sein werden und somit ein Sachschaden entsteht, werden nicht als Gründe akzeptiert, die Rettung zu unterlassen. In dieser Situation wird es ganz deutlich: Wer hier die Hilfe in der Not unterlässt und das Kind nicht rettet, handelt moralisch falsch. Singer überträgt dieses intuitiv eindeutige Bild auf das Problem der weltweiten Armut. Wer dem unterernährten Kind in Bangladesch nicht zur Hilfe kommt, obwohl er in relativem Überfluss und Luxus lebt, handelt ebenso moralisch falsch, wie derjenige, der das Kind im Teich ertrinken lässt. Während in seinem Beispiel die moralische Pflicht zur Hilfe, das Kind vor dem Ertrinken zu retten, deutlich wird, sind die Konsequenzen in seiner Begründung für Hilfe für arme Menschen in großer Distanz nicht gleichermaßen überzeugend. Singer selbst verweist darauf, dass sie im Gegensatz zu unseren üblichen moralischen Überzeugungen stehen.89 In Bezug auf die Bestimmung der Pflichten scheint sein Beispiel mit der Situation der Armen nicht hinreichend vergleichbar zu sein, da gerade die Aspekte der unmittelbaren Nähe und der auf Anhieb eindeutigen Antwort auf die Frage, was zu tun ist, einen entscheidenden Unterschied in der intuitiven Überzeugungskraft seines Arguments für die Hilfspflichten machen.90 Singers Versuche, die möglichen Einwände gegen seine Annahme, dass Distanz und Nähe moralisch irrelevant seien, auszuräumen, sind nur dann überzeugend, wenn man Bedingungen, wie der unmittelbaren 89
90
Vgl. Singer, Hunger, Wohlstand und Moral, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik, S. 38 ff. Vgl. ebd., S. 20.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Nähe keine entscheidende moralische Relevanz zuschreibt. Allgemeiner gesprochen handelt es sich um die Frage, welchen Stellenwert Parteilichkeit und Universalität innerhalb einer Moraltheorie haben sollten.91 Nicht nur die Reichweite (wem wir etwas schulden) positiver moralischer Pflichten, sondern auch ihr Umfang (wieviel wir jemandem schulden) sind umstritten. Singer versucht zwar seine Hilfspflicht klar von supererogatorischen Pflichten zu distanzieren und behauptet, dass es sich gerade nicht um einen supererogatorischen Akt handelt, wenn wir helfen, sondern um eine Pflicht. Dennoch wird der Einwand vorgebracht, dass Singers Hilfspflichten überfordern.92 Dieser Einwand deutet auf die Schwierigkeit hin, einen Grenzwert festzustellen, nämlich welches Maß an Verlust oder Verzicht von moralischer Bedeutung93 ist. Mit dieser Uneindeutigkeit der Hilfspflichten eröffnet Singer eine Debatte über die Frage, wem ein jeder was schuldet und zu welcher Hilfe alle Menschen einander verpflichtet sind. Im Anschluss an Singers Argument arbeitet Peter Unger mit einer Abwägung und Differenzierung von Hilfsszenarien ein Prinzip minimaler Anständigkeit zur Hilfe aus.94 Dabei konzentriert er sich auf die Frage, welchen moralischen Unterschied es macht, ob wir Menschen sterben lassen, weil wir nicht bereit sind zu helfen. Unger stellt verschiedene Stufen der Pflichten heraus und formuliert ein zurückhaltendes Prinzip 95 verweist auf ein Minimum an Anständigkeit:
91 92 93 94
95
Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. Unger, Peter K., Living high and letting die: Our illusion of innocence, New York, NY: 1996. Unger, Living high and letting die, S. 143.
3.1 Armut und Rettung aus der Not: Lifeboat Ethics
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Other things being even nearly equal, if your behaving in a certain way will result in the number of people who (very prematurely lose their lives) being less than the number who will do so if you don't so behave and if even so you'll still be at least (very modestly) well off, then it's seriously wrong for you not to so behave. 96
Damit setzt Unger das Handeln und dessen Auswirkungen auf Menschen in Beziehung zueinander. Die Auswirkungen des Handelns werden daran gemessen, inwiefern sie armen Menschen das Leben retten. Er macht deutlich, dass es falsch ist, Hilfe zu verweigern, wenn sie Leben retten kann und gleichzeitig dem Helfenden nicht unzumutbar schadet. Insofern sind die Zurückweisungen von Hilfspflichten für Menschen, die nicht unmittelbar in der Nähe sind oder zu denen keine enge Beziehungen bestehen, rechtfertigungsbedürftig. Unger konfrontiert die Menschen mit der Verantwortung, andere Menschen sterben zu lassen, obwohl es in ihrer Macht stünde, dies zu verhindern. Die Notlage der in Armut lebenden Menschen in Analogie zu einem Unfall darzustellen, verengt den Blick auf die Situation und lässt unter anderem die Ursachen, Auswirkungen und die Bedeutung von Armut gänzlich außer Acht. Der individualethische Ansatz fragt nach den Pflichten einzelner Akteure und beschreibt das Verhältnis zwischen den in Armut lebenden Menschen und denjenigen, die zur Hilfe verpflichtet sind, als eine Beziehung zwischen Opfern und Helfern. Dabei stehen sich die Akteure allerdings nicht gleichberechtigt gegenüber. Stattdessen wird der Rahmen, innerhalb dessen sie agieren, über Hilfe und Bedürftigkeit beschrieben. Die Not der in Armut lebenden Menschen mit derjenigen eines ertrinkenden Kindes zu vergleichen, ist geeignet, um den Aspekt der Dringlichkeit und des schieren Überlebens zu betonen, der in beiden Fällen eine entscheidende Rolle spielt. Diese
96
Vgl. ebd., S. 144.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Ansätze liefern aber keine Antwort auf Fragen nach strukturellen Aspekten der Armut. Singer und Unger können zwar auf diese Weise eine individualethische Pflicht zur Nothilfe durch das Spenden von Ressourcen begründen, blenden aber alle weitere Dimensionen des Problems der Weltarmut aus. Diese Beiträge bleiben also insofern unzureichend, als sie die ethische Komplexität der Herausforderung nicht hinreichend abbildet. Die Reaktionen auf Singers Vorschlag bestehen sowohl in utilitaristischen Gegenpositionen als auch in einer Diskussion darüber, wer in welchen Fällen zu welcher Form der Hilfe verpflichtet ist. Nicht nur die Analogie der Unfall-Situation, sondern auch die Metapher des Rettungsbootes spielten zu Beginn der Diskussionen eine wesentliche Rolle.97 Eine utilitaristische Position, die zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis als Singer gelangt, vertritt beispielsweise Garrett Hardin. In seinem Aufsatz Lifeboat Ethics: The Case Against Helping the Poor98 kommt er zu dem Schluss, dass es nicht nur nicht geboten ist, armen Menschen aus ihrer Not zu helfen, sondern dass es sogar moralisch falsch wäre, ihnen zu helfen. Dazu konstruiert Hardin die Situation der Weltarmut als einen Überlebenskampf, der alle betrifft. Er bemüht das Bild des Rettungsbootes, um die Situation zu verdeutlichen. Das Rettungsboot steht demnach für die reichen Länder und deren Bewohner und dieses Boot schwimmt in einem Meer von armen Menschen und Ländern. Das Bild soll zeigen, dass die Kapazitäten, andere zu retten, begrenzt sind und übermäßige Hilfe nur zur Überlastung und schließlich zum Untergang des Rettungsbootes führen würde. Hardin argumentiert dabei insbesondere mit der wachsenden Weltbevölkerung, die vermeintlich immer mehr arme Menschen hervorbringt. 97 98
Vgl. Lucas/Ogletree, Lifeboat ethics. Hardin, Garrett, Lifeboat Ethics: The Case Against Helping the Poor, in Aiken/ LaFollette, World hunger and morality, S. 5 15.
3.1 Armut und Rettung aus der Not: Lifeboat Ethics
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Würde man armen Menschen aus ihrer Not helfen, dann würden diese nur noch mehr Gelegenheit haben, Kinder zu bekommen. Aus der Annahme, dass das Bevölkerungswachstum in armen Ländern ohnehin schon zu hoch sei, folgert er, dass bei der Unterstützung der armen Bevölkerung lediglich eine steigende Anzahl von armen Menschen geschaffen würde. Angesichts begrenzter natürlicher Ressourcen plädiert er dafür, dass humanitäre Forderungen nach Gerechtigkeit und Gleichheit, die im Sinne der Unterstützung der Ärmsten stattfinden, aufgegeben werden sollten. Ausgehend von diesen Annahmen über Bevölkerungswachstum99 und Ressourcenknappheit100 kommt er letztlich zu dem Schluss, dass es moralisch geboten sei, armen Menschen keine Hilfe zukommen zu lassen, um nicht zukünftig noch mehr Armut und damit verbundenes Leid zu schaffen. Hardin konstruiert den Zielkonflikt, dass die begrenzten und knappen Ressourcen einen Grenzwert der Belastungskapazität (carrying-capacity) des menschlichen Lebensraums bedeuten, bei dem es schlicht nicht möglich sei, dass alle Menschen ohne Armut und Hunger leben können. Die Hilfe für arme Menschen ist diesem Gedanken zufolge deswegen falsch, weil arme Menschen weitere arme Nachkommen hätten und sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen damit stetig vergrößern würde. Hardins Argumentationsmuster ist einem einfachen Entwicklungsbegriff geschuldet, der sich am Ressourcenverbrauch der industrialisierten, westlichen Welt orientiert. Insofern stimmt der Zielkonflikt: Die Erde verfügt tatsächlich nicht über ausreichend Ressourcen, um einen Lebensstandard gemäß dem reichsten Viertel der Menschen für alle zu
99
100
Vgl. Blanckenburg, Peter von, Welternährung: Gegenwartsprobleme und Strategien für die Zukunft, München: 1986, S. 24. Vgl. Aiken, William, The "Carrying Capacity" Equivocation, in Aiken/ LaFollette, World hunger and morality, S. 16 25.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
ermöglichen. Unter dieser Voraussetzung ist eine ausreichende Versorgung für alle bei gleichbleibend hohem Ressourcenverbrauch der Reichsten nicht umzusetzen. Das bedeutet, die Rettung der Armen ist nur dann möglich, wenn die reichen Menschen ihren Lebensstandard opfern. Eine Rechtfertigung für die Beibehaltung des verschwenderischen Lebensstandards der reichsten Menschen bietet Hardin jedoch nicht. Dieses an einfachen Wachstumsmodellen orientierte Verständnis von Entwicklung und Armutsbekämpfung ist durch Konzepte nachhaltiger Entwicklung mittlerweile entschärft.101 Hardin kritisiert zwei Aspekte der Hilfe, weil sie seiner Argumentation zufolge mehr Schaden als Nutzen verursachen. Sie gehören nach wie vor zu den politisch umkämpften Themen der Armutsbekämpfung. Der erste Aspekt betrifft den Einsatz von Nahrungsmittelhilfen gegen den Hunger, dessen Diskussion in den siebziger Jahren wichtig für die sinnvolle Weiterentwicklung von entwicklungspolitischen Mitteln war.102 Der zweite Aspekt ist die Aufnahme der Armen als Flüchtlinge in wohlhabenden Staaten, die sogenannte Armutsmigration von Wirtschaftsflüchtlingen. Hardins Ergebnis ist Singer diametral entgegengesetzt, weil er in neomalthusianischer Tradition103 glaubt, dass die Hilfe und Unterstützung der Armen zwangsläufig zu einer Überbevölkerung führen würden. Die geretteten Menschen, so der Gedanke, würden sich reproduzieren und
101
102
103
Vgl. United Nations. General Assembly. Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development, 21. Oktober 2015. In A/RES/70/1. Vgl. Nuscheler, Entwicklungspolitik, S. 273; Erler, Brigitte, Tödliche Hilfe: Bericht von meiner letzten Dienstreise in Sachen Entwicklungshilfe, Köln: 1994, S. 50; Collins, Joseph/ Lappé, Frances M., Vom Mythos des Hungers: Die Entlarvung einer Legende: Niemand muß hungern, Frankfurt am Main: 1985, S. 359 f. Vgl. Blanckenburg, Welternährung, S. 24.; Vgl. Collins/Lappé, Vom Mythos des Hungers, S. 355; Malthus, Thomas Robert, Das Bevölkerungswachstum: Essay on the Principle of Population, München: 1977.
3.1 Armut und Rettung aus der Not: Lifeboat Ethics
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es bestehe die Gefahr, dass letztlich mehr arme Menschen mit begrenzten ökologischen Ressourcen versorgt werden müssten als vorher. Auch wenn die Annahmen von Malthus nachweislich nicht stimmen,104 spielen die damit verbundenen Befürchtungen immer wieder eine Rolle. Die Kritik, die daran anschließend formuliert wird, ist, dass die Hilfe für armen Menschen bzw. der Kampf gegen Armut nicht sinnvoll ist, da eine immer größer werdende Bevölkerung mehr Ressourcen verbraucht und damit der Umweltschutz sowie die nachhaltige Wirtschaft und Ökologie auf unserer Erde noch schwieriger werden. Im Sinne des Umweltschutzes wird die carrying-capacity, womit die ökologische Tragekapazität der Erde im Sinne einer menschlichen Nutzung von Ressourcen gemeint ist, in Bezug auf den Umgang mit Armut diskutiert.105 Der Zielkonflikt zwischen Fragen des Umweltschutzes und Fragen der Gerechtigkeit taucht immer wieder in der Debatte auf. Voraussetzung für diese Überlegungen ist, dass ökologische Ressourcen und Menschenleben gegeneinander abgewogen werden können und daraus folgend gegebenenfalls ein Vorrang der ethischen Pflicht, ökologische Ressourcen zu bewahren, vor der ethischen Pflicht, Menschenleben zu retten, besteht. Mit dem moralischen Anspruch auf die Geltung und Anerkennung der menschlichen Würde sind solche Argumentationen allerdings nicht vereinbar. Gemeinsam ist den konsequenzialistischen Positionen von Hardin und Singer trotz gegenteiliger Ergebnisse, dass Leid verhindert werden soll und das moralische Urteil am Ergebnis gemessen wird. Durch die neue Beschreibung des Phänomens der Weltarmut und des Welthungers als Übel haben die moralische Fragen Eingang in die ethische Diskussion 104 105
Vgl. Blanckenburg, Welternährung, S. 28. Vgl. Aiken, The "Carrying Capacity" Equivocation, in Aiken/ LaFollette, World hunger and morality; Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2010: Entwicklung und Klimawandel, Weltentwicklungsbericht, Bonn: 2010, S. 46 68.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
gefunden. Utilitaristischen Antworten auf diese Fragen beschreiben das ethische Problem der Weltarmut als eine Frage der Nothilfe. Damit vernachlässigen sie aber alle darüberhinausgehenden Dimensionen von Armut und Hunger, beispielsweise chronische und strukturelle Ursachen, die Vermeidbarkeit in der Entstehung von Armut sowie alle Fragen der Ursachenverantwortung. Die biologistische-materialistische Argumentation Hardins berücksichtigt den Anspruch von Menschen, ethisch zu handeln, nicht und verurteilt menschliches Handeln zur Armutsbekämpfung, weil negative Handlungsfolgen von ihm prognostiziert werden. Der deutlichste Nachteil der utilitaristischen Beiträge ist, dass Armut als schicksalshafte Situation dargestellt wird, die keine Ursachen hat oder Verantwortung kennt. Indem diese Fragen nach strukturellen Ursachen und nach der damit verbundenen Verantwortung außen vor bleiben, bieten sie keine hinreichende Beschreibung der ethischen Herausforderung an, die ein angemessenes Urteil erst begründen könnte. In der Auseinandersetzung mit Fragen der Nothilfe 106 die Fragen nach und der Rettungsboot-Metapher hat Onora O den Hilfspflichten gegenüber Menschen in Not durch Armut und Hunger aufgenommen und den Diskurs um eine deontologische Perspektive bereichert. In Anlehnung an Kant entwickelt O Neill107 eine Position, die besagt, dass wir armen Menschen in Not helfen und für eine moralische Struktur sorgen müssen, die solche Armut erst gar nicht hervorbringt. Bis zu diesem Zeitpunkt bezog sich die moralische Debatte auf die Fragen, ob und in welchem Umfang Hilfe für Menschen in Not gefordert ist. 106
107
O'Neill, Onora, Lifeboat Earth, in Philosophy&Public Affairs 4, Nr. 3 (1975), S. 273 292; O'Neill, Onora, In a starving world, what's the Moral Minimum?, in The Hastings Center Report 11, Nr. 6 (1981), S. 42 44; O'Neill, Onora, Ending World Hunger, in Aiken/ LaFollette, World hunger and morality, S. 85 112. Vgl. O'Neill, Faces of hunger, S.135 142.
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ll geht es nicht um das Ergebnis von Handlungen, sondern um die Frage, welche Handlungen angesichts des Weltarmuts- und Welthungerproblems moralisch richtig sind. Für die Begründung von moralischen Pflichten gegenüber Menschen in extremer Armut werden Weltarmut und Welthunger als moralische Probleme erfasst, weil ihre Existenz gegen grundlegende moralische Prinzipien verstoßen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei die Handlungen selbst und nicht das Ergebnis dieser Handlungen. Die kritische Abgrenzung zu die Einengung auf das Ergebnis und die Vernachlässigung der moralischen Bewertung menschlicher Handlung zurückweist. Stellt man die Weltarmut als eine hereinbrechende Katastrophe dar, in der Handlungsspielräume negiert und die Abhängigkeit von natürlich anmutenden Ereignissen suggeriert wird, wird man dem tatsächlichen Phänomen der Armut moralisch nicht gerecht. Die vom neomalthusianischen Standpunkt behaupteten Gefahren des Bevölkerungswachstums, das Bild des begrenzten Platzes im Rettungsboot, die Frage danach, wie viele Menschen überhaupt auf der Erde überleben können sowie die Diskussion der Triage, als Prinzip der Nothilfe108 als nicht geeignete Handlungsmodelle im Umgang mit den Armen.109 Sie lehnt eine derartige, auf punktuelle Situationen zugeschnittene Problembeschreibung ab.110 Die Komplexität des konkreten Falls wird unterschätzt, wenn er in der einfachen Analogie zur Not- und Rettungssituation dargestellt wird. der strukturellen Faktoren ab, die Armut als chronisches Problem erkennbar werden lassen, womit die Frage nach einer gerechten Grund-
108 109 110
Vgl. Collins/Lappé, Vom Mythos des Hungers, S. 355. Vgl. O'Neill, Faces of hunger, S. 20 f. Vgl. O'Neill, Faces of hunger, S. 5, 18.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
struktur von Institutionen gestellt wird. Sie vertritt dabei einen kantischen Ansatz, dem eine Pflichtenethik des Handelns zu Grunde liegt. Ihrem Ansatz zufolge haben wir die Pflicht, die deprivierenden Lebensumstände zu beseitigen, weil ein Leben in Armut und Hunger dazu führt, dass die Betroffenen nicht mehr als rationale Akteure handeln können und somit in ihrer Autonomie verletzt werden.111 davon aus, dass eine moralische Pflicht besteht, so zu handeln, dass die eigene Autonomie und die Autonomie anderer Menschen nicht untergraben werden. Das bedeutet, dass sie den Fokus auf die Handlungsfähigkeit eines jeden Akteurs legt, um zu zeigen, inwiefern das Leid der Betroffenen auch jenseits einer intuitiven Anerkennung ein moralphilosophisch begründbares Übel ist. Hier stellt sich allerdings die Frage, was der normative Referenzpunkt für gerechte Handlungsmöglichkeimit dem kantischen kategorischen Imperativ, wonach eine Handlung nur dann moralisch erlaubt ist, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden kann.112 Pflichten zur Hilfe für Menschen in Not in vollkommene und unvollkommene Pflichten. Die vollkommenen Pflichten orientieren sich am Ziel der Gerechtigkeit und zeigen das richtige Handeln an. Im Fall von großer Armut und Hunger besteht demnach die Pflicht, gerechte Verhältnisse zu schaffen, die die Handlungsfähigkeit der Menschen ohne Zwang, Schädigung oder Täuschung gewährleisten. Das bedeutet für die Institutionen, dass sie, um nicht unmoralisch zu sein, faire Kooperationen und Interaktionen hervorbringen müssen und die Schwachen nicht illegitim schädigen dürfen.113 Die unvollkommenen Pflichten sind 111 112
113
Vgl. O'Neill, Faces of hunger, S. 144. Vgl. O'Neill, Faces of hunger, S. 131 f.; Kant, Immanuel, Kants Werke: AkademieTextausgabe, Berlin: 1968, Kant, GMS, AA (IV): 421, 6 8. Vgl. O'Neill, Faces of hunger, S. 149 f., 161.
3.1 Armut und Rettung aus der Not: Lifeboat Ethics
67
gemäß der kantischen Konzeption solche der Wohltätigkeit. Sie sind zwar den vollkommenen Pflichten nachgeordnet, doch sie unterscheiden sich von einer freiwilligen Charity View. Die unvollkommenen Pflichten fordern von den einzelnen Menschen, dass sie respektvoll mit den Armen umgehen, ihre Bedürfnisse und Bedürftigkeit nicht missachten, im Rahmen der Möglichkeiten wohltätig sind und die Entwicklung der Betroffenen unterstützen. Der Verpflichtungscharakter ist der gleiche wie bei den vollkommenen Pflichten, der Unterschied besteht lediglich darin, dass sie ist es, dass sie die Unterkomplexität der Lifeboat Ethics aufgezeigt hat, weil diese auf situative Fragen der Hilfe beschränkt ist und damit instihauptet, dass Weltarmut und Welthunger ein moralisches Problem sind, weil sie bei den betroffenen armen Menschen zu Bedürftigkeit führen, die im Widerspruch zu ihrer Autonomie steht. Daraus leitet sie eine Pflicht dazu ab, Menschen aus der Bedürftigkeit zu befreien. An dieser Stelle kann man sich allerdings fragen, welche Formen von Bedürftigkeit eine Gefährdung für die Autonomie des Menschen bedeuten. Schließlich bleiben die menschlichen Bedürfnisse unabhängig von Armut und Reichtum bestehen. Menschen sind nun einmal bedürftige Wesen und es ist unklar, wie Autonomie und ihre Beziehung zum Begriff der Würde hier verstanden werden können. Entweder versteht man Autonomie als ein grundsätzliches Potenzial des Menschen, das ihm Würde verleiht. Dann lässt sich jedoch nicht davon sprechen, dass die Würde von in Armut lebenden Menschen tatsächlich gefährdet ist. Oder man versteht Autonomie als eine Form der Unabhängigkeit, in der der Mensch sich faktisch nicht als bedürftig erfährt. Dann muss allerdings gezeigt werden, welche Arten von Bedürftigkeit eine Würdeverletzung des Menschen bedeuten und welche nicht.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
muss, ist dessen Relevanz für die moralphilosophische Auseinandersetzung mit den Konzepten der Lifeboat Ethics kaum zu überschätzen. Erst at darauf hingewiesen, dass das moralische Problem des Welthungers vollkommen unterbestimmt bleibt, wenn man es auf eine Situation der Nothilfe reduziert. Diese Reduktion ist nicht bloß eine unzutreffende Beschreibung, sondern vielmehr hinderlich dafür, die moralischen Herausforderungen der Weltarmut und des Welthungers überhaupt zu erkennen. Geradezu fatal wird die Metapher des Rettungsbootes, wenn sie Armut als etwas darstellt, das als Unglück über die Menschen hereinbricht und für das letztendlich niemand verantwortlich ist. Verschiedene Varianten dieser unterkomplexen Beschreibungen prägen bis heute den philosophischen Diskurs. Die Darstellung des moralischen Problems bleibt mit der Rettungsmetapher unterbestimmt und ist gleichzeitig verzerrend, weil sie das Problem auf eindeutige Fälle der Nothilfe reduziert. Außerdem stellt sie die Ursachen von Armut und Hunger als schicksalhaft dar. Auf diese Weise werden sie wie Ereignisse behandelt, für deren Hervorbringung niemand verantwortlich ist. Damit werden Verantwortungszusammenhänge der Ursachen von Armut und Hunger von vorneherein ausgeblendet. Im weiteren Verlauf des moralphilosophischen Diskurses richten sich die Fragen nicht mehr ausschließlich auf das moralische Handeln in akuten Notsituationen, sondern auf strukturelle Ungerechtigkeit als Ursache für das Leid der Menschen. Weltarmut und Welthunger werden so als Gerechtigkeitsproblem entworfen und behandelt. Die strukturellen Ursachen des Welthungers werden von denjenigen Konzepten thematisiert, die die Frage nach globaler Gerechtigkeit in ihr Zentrum stellen. Die philosophische Auseinandersetzung ist in gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen differenzierter und beschäftigt sich damit, was eine gerechte Gesellschaft ausmacht und inwiefern diese dazu beitragen kann,
3.2 Armut und globale Gerechtigkeit
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das Problem der Weltarmut zu lösen. Diesen Ansätzen zufolge liegt die Begründung für Pflichten gegenüber armen und hungernden Menschen darin, dass Gerechtigkeit ein grundlegender moralischer Wert ist. Dies gilt unter anderem für den Capabilities Approach, dem es darum geht, dass der Einzelne in der Lage ist, seine individuellen Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Zusammenhänge zwischen der globalen Gerechtigkeit, den Menschenrechten und der Freiheit des Menschen. Der Capabilities Approach will zeigen, worin gerechte Grundstrukturen und Institutionen einer Gesellschaft bestehen und welcher Umgang mit den einzelnen Menschen als gerecht gelten kann. Um die verschiedenen Verständnisse von Gerechtigkeit in Bezug auf das Thema näher zu betrachten, werde ich die Frage nach globaler Gerechtigkeit, nach der Rolle der Menschenrechte und den auf Freiheit und Gerechtigkeit abzielenden Capabilities Approach in Bezug auf die Herausforderung globaler Armut skizzieren. Die Auseinandersetzungen zielen darauf, die Frage zu beantworten: Wer schuldet armen Menschen was aus Gründen der Gerechtigkeit? 3.2 Armut und globale Gerechtigkeit Armut ist in philosophischer Hinsicht in erster Linie eine Frage der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird hier nicht nur als Verteilungsgerechtigkeit verstanden, sondern als soziale Gerechtigkeit, die auf die Voraussetzungen für die immensen Unterschiede von Wohlstand und Armut schaut. Die leitende Frage, die sich aus der Perspektive der globalen Gerechtigkeit stellt, ist, wie eine Grundordnung an Institutionen für alle Menschen möglichst gerecht gestaltet werden kann und daraus folgend, wie die bestehenden Ungerechtigkeiten der herrschenden Institutionen erfasst und kritisiert werden können. Dementsprechend stellt sich in einer Welt, die in einem immer größeren Ausmaß
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
vernetzt ist, die Frage, inwiefern sich die Grundsätze der Gerechtigkeit, wie sie in der politischen Philosophie bereits für einzelne Gesellschaften entworfen wurden, auf die globale Ebene übertragen und anwenden lassen. Zunehmende Verflechtungen der Zusammenarbeit über staatliche Grenzen hinweg machen diese Überlegungen nicht nur sinnvoll, sondern auch im moralphilosophischen Sinne notwendig. Philosophische Ansätze zu Fragen globaler Gerechtigkeit stehen entweder in der Tradition oder in Abgrenzung zu John Rawls, der mit seiner Theorie der Gerechtigkeit114 maßgeblich den Diskurs zu Fragen der Gerechtigkeit angestoßen hat. Rawls formuliert zwei grundlegende Gerechtigkeitsprinzipien, auf die sich alle Menschen in einem hypothetischen Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissens einigen würden: umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die 115
Diese zwei Grundprinzipien der Gerechtigkeit beziehen sich allerdings auf gerechte Gesellschaftsordnungen und nicht auf die globale Gerechtigkeit. Die Übertragbarkeit dieser Prinzipien auf Gerechtigkeitsfragen jenseits von staatlichen Grenzen sieht Rawls nicht. Hingegen knüpft Rawls in seinen Überlegungen zur globalen Gerechtigkeit an Kant an,
114 115
Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: 1979. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 81.
3.2 Armut und globale Gerechtigkeit
71
der in seiner Schrift Zum ewigen Frieden116 ein System verbündeter Staaten entwirft, die ein gemeinsames internationales Recht begründen. Rawls geht es ebenfalls um ein solches Verhältnis zwischen einzelnen Staaten, die ein gemeinsames Recht und das Ziel des Friedens teilen. Die Subjekte der globalen Gerechtigkeit sind also in beiden Fällen Völker und nicht die einzelnen Menschen.117 Rawls geht es nicht darum, die Theorie der Gerechtigkeit auf die globale Ebene auszudehnen, sondern darum, eine Theorie zu entwickeln, die zu einem gerechten Miteinander von Völkern (in Staaten organisierten Einheiten) führen. Die zwei Gerechtigkeitsprinzipien, die Rawls für gerechte, liberale Gesellschaften entwickelt hat, werden nicht auf die globale Ebene übertragen. Auch für die Frage, was globale Gerechtigkeit erfordert, wählt Rawls das Instrument des hypothetischen Urzustandes, bei dem unter dem Schleier des Nichtwissens in diesem Fall die Völker über die Grundstruktur der globalen Ordnung beraten und entscheiden. Rawls Theorie zufolge ist es notwendig für eine vernünftige Entscheidungssituation, dass alle Parteien als gleich anerkannt werden, und keiner den Einigungsprozess dominieren kann. Er geht dabei von den folgenden acht traditionellen Grundsätzen der Gerechtigkeit auf internationaler Ebene aus: der Achtung der Freiheit und Unabhängigkeit der Völker; der Einhaltungspflicht von Verträgen; dem Selbstbestimmungsrecht, d.h. Beteiligung an für die Völker relevanten Entscheidungen; der Pflicht der Nichteinmischung von außen; dem Recht auf Selbstverteidigung; der Achtung der Menschenrechte und des Kriegsrechtes und schließlich der Hilfs- oder Beistandspflicht für Völker in Not.118 Das Ziel dieser 116
117
118
Vgl. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis; Zum ewigen Frieden ein philosophischer Entwurf, Hamburg: 1992, (ZeF). Vgl. Rawls, John, Das Recht der Völker: Enthält: "Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft", Berlin: 2002, S. 26; Kant, ZeF, AA (VIII): 344, 19. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit ; Rawls, Das Recht der Völker.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Gerechtigkeitsüberlegungen ist, einen stabilen Friedens zwischen den Völkern herzustellen sowie die Möglichkeit zur friedlichen Kooperation, beispielsweise eines fairen Handelssystems. Die genannten Grundsätze bedeuten für die Interaktion mit anderen Völkern ein hohes Maß an Toleranz. Schließlich kooperieren auf internationaler Ebene nicht nur Völker, die in gerechten liberalen Gesellschaften organisiert sind, sondern auch solche, die keine gerechte Gesellschaftsordnung etabliert haben. Es müssen dementsprechend auch achtbare, aber nicht in demokratischen Staaten organisierte Völker als gleichberechtigte Akteure anerkannt werden. Zu Völkern, die in Schurkenstaaten leben oder in Gesellschaften, die durch besondere Umstände belastet sind, bestehen allerdings keine gleichberechtigten Beziehungen. Während die Interessen von Schurkenstaaten nicht berücksichtigt werden und in ihrem Fall mit friedlichen Mitteln zur Überwindung der ungerechten Zustände beigetragen werden kann, besteht gegenüber den belasteten Gesellschaften die Pflicht, ihnen bei der Transformation in eine wohlgeordnete Gesellschaft zu helfen. Damit ist keine Umverteilung im Sinne des zweiten Gerechtigkeitsprinzips gemeint, jedoch sei auch darauf hingewiesen, dass es sich keineswegs um altruistische Handlungsoptionen handelt. Im Sinne eines Subsidaritätsprinzips sind wohlgeordnete Staaten verpflichtet, belasteten Gesellschaften zu helfen, so dass diese selbst wohlgeordnete Gesellschaften werden können. Diese Hilfspflicht beschränkt sich nicht nur auf materielle Unterstützung. Rawls vertritt vielmehr die These, dass die politische Kultur einer Gesellschaft eine entscheidendere Voraussetzung für eine gerechte Organisation ist, als es materielle Möglichkeiten sind. Für Rawls sind es wie gesagt die Völker und nicht die einzelnen Menschen, die auf globaler Ebene als Subjekte der Gerechtigkeit gelten. Die Kooperation, die unter den Völkern angestrebt werden soll, ist weniger anspruchsvoll als diejenige innerhalb einer Gesellschaft. Aus diesem
3.2 Armut und globale Gerechtigkeit
73
Grund ist ein Ausgleich zwischen den ungleichen Wohlstandsniveaus nicht vorgesehen. Anders als innerhalb von Gesellschaften legitimieren auch sehr große Ungleichheiten auf internationaler Ebene keine Umverteilung zugunsten derjenigen, die am schlechtesten gestellt sind. Gerechtigkeit bedeutet hier nicht eine Pflicht zu einer gerechteren Verteilung, sondern es bestehen lediglich abgeschwächte Formen der Hilfspflichten zwischen den Staaten. Wenn Gesellschaften besonders belastet sind, zum Beispiel durch schwerwiegende Naturkatastrophen, haben die anderen Völker eine Pflicht, ihnen zu helfen. Diese Unterstützungspflicht ist jedoch keine, die aus seinen Prinzipien der Gerechtigkeit folgt. Rawls kann daher mit seinem Entwurf einer internationalen Gerechtigkeit globale Armut nicht berücksichtigen. Für die Deckung der Minimalansprüche aller Menschen, die in extremer Armut leben und somit nicht nur in massivem Ausmaß schlechter gestellt sind, sondern auch objektiv zu wenig haben, um ein vernünftigen Ansprüchen gemäßes normales menschliches Leben zu führen, bietet er keine Lösung. Sein Ansatz läuft darauf hinaus, dass es auf globaler Ebene so etwas wie eine herzustellende Verteilungsgerechtigkeit nicht gibt. Die Herausforderungen, denen seine Theorie der Gerechtigkeit auf der gesellschaftlichen Ebene mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit begegnet, werden auf globaler Ebene nicht berücksichtigt, sondern es geht ihm dort um Kriegsrecht und Friedenssicherung. Insofern bietet seine Theorie keine befriedigende Lösung für die drängenden Fragen der globalen Gerechtigkeit bezüglich großer Armut und Ungleichheiten. Den Übergang von internationaler Gerechtigkeit im klassischen Sinne zur einer global verstandenen Gerechtigkeit ist mit Rawls nicht vollzogen worden. Theorie der Gerechtigkeit durchaus für das Problem der Weltarmut fruchtbar gemacht werden kann, zeigen Ansätze, die im An-
74
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
schluss an seine Theorie die Prinzipien der Gerechtigkeit auf die globale Ebene übertragen haben. Thomas Pogge gehört zu denjenigen, die den Diskurs um Armut als Thema globaler Gerechtigkeit maßgeblich vorangetrieben und beeinflusst haben.119 Pogge überträgt das zweite Gerechtigkeitsprinzip von Rawls, das Differenzprinzip, auf den Kontext globaler Gerechtigkeit. Pogge identifiziert die polarisierende und wachsende Ungleichheit in der Verteilung von Gütern und Chancen als massives Gerechtigkeitsproblem, welches aus schädigendem Verhalten entsteht und sieht in der herrschenden Weltarmut eine der größten Menschenrechtsverletzungen.120 Einen wesentlichen Grund dafür sieht er darin, dass die wohlhabenden Staaten der Welt eine Praxis betreiben, die dazu führt, dass wir die schlechteste aller möglichen Welten121 hervorbringen. Ein Aspekt dieser Praxis ist der beständige Versuch, nach moralischen Schlupflöchern zu suchen, um keine Verantwortung für die Situation derjenigen Menschen zu übernehmen, die am schlechtesten gestellt sind. Die Ausformulierung moralischer Normen und Wohlstandsfortschritten auf der einen Seite steht die Tatsache gegenüber, dass mehr als die Hälfte aller Menschen in erbärmlichen Lebensumständen leben muss, weil sie zu arm ist, um sich ein besseres Leben zu leisten. Pogge geht zur Begründung dieser These vom moralischen Prinzip der Nichtschädigung aus, seine Prämisse ist also, dass es moralisch falsch
119
120 121
Vgl. Pogge, Thomas, World poverty and human rights: Cosmopolitan responsibilities and reforms, Cambridge: 2007; Pogge, Weltarmut und Menschenrechte; Pogge, Thomas, Anerkannt und doch verletzt durch internationales Recht: Die Menschenrechte der Armen, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik, S. 95 138; Follesdal, A./ Pogge, Thomas(Hg.), Real World Justice, 2005. Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 308. Vgl. ebd., S. 8.
3.2 Armut und globale Gerechtigkeit
75
ist, anderen Menschen zu schaden.122 Vor diesem Hintergrund behauptet er, dass die Bewohner der wohlhabenden Staaten, diejenigen Menschen schädigen, die in großer Armut leben. Damit verstoßen sie gegen die negative Pflicht, andere Menschen nicht zu schädigen. Diese Schädigung geschieht durch die herrschende globale Ordnung. Pogges Ansatz ist ein kosmopolitischer und geht davon aus, dass jeder Mensch die gleichen universellen Ansprüche auf eine gerechte Grundordnung hat. Es gibt aber keine gerechte Grundordnung auf supranationaler Ebene. Damit sieht er Individuen anstelle von Völkern als die Subjekte des Gerechtigkeitsanspruches. Aufgabe der globalen Institutionen ist es, diesen moralischen Anspruch der einzelnen Menschen auf ein Leben ohne Ungerechtigkeit nicht nur zu ermöglichen, sondern auch zu erfüllen. Laut Pogge wird diese Aufgabe von den mächtigen Institutionen der gegenwärtigen Weltordnung nicht erfüllt, sondern sie bringen ganz im Gegenteil durch die Missachtung menschenrechtlicher Minimalstandards einen großen Teil der globalen Armut erst hervor. Hier zeigt sich, dass sich sein Schadensbegriff auf die Verletzung bzw. Nicht-Erfüllung von Menschenrechten bezieht. Wir schädigen also andere, indem wir solche sozialen Institutionen etablieren oder unterstützen, die zu absehbaren Menschenrechtsdefiziten führen. Im Falle der Armut trifft diese Beschreibung zu. Eine institutionelle Ordnung ist demnach dann ungerecht, wenn sie absehbar zu vermeidbaren Menschenrechtsdefiziten führt. Verantwortlich für die ungerechte Ordnung sind diejenigen, die zu ihrer Entstehung, Etablierung und ihrem Erhalt beitragen. Pogges These lautet, dass wir in diesem Sinne die Armen dieser Welt schädigen und auf diese Weise massiv zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Der moralische Vorwurf besteht darin, dass wir
122
Vgl. ebd., S. 28 f.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
unseren negativen Pflichten, andere Menschen nicht in der Verwirklichung ihrer Menschenrechte zu behindern, nicht nachkommen. Aus diesen negativen Pflichten gemäß des Schadenverbotes leitet Pogge außerdem eine Kompensationspflicht ab, die entstandene Schäden zumindest kompensieren zu müssen, wenn das eigentliche Ziel, nämlich die Etablierung einer gerechten Weltordnung, nicht erreicht wird.123 Da hier die Pflichten gegenüber armen Menschen von der Schädigungsthese abhängig sind, hängt ihre nähere Bestimmung an der Frage, inwiefern tatsächlich ein vermeidbarer Schaden durch uns für die armen Menschen entsteht. Erst daraus ergibt sich sowohl der Inhalt der negativen Pflichten als auch der der Kompensationspflicht. Es gilt demnach zu prüfen, ob die Institutionen unserer Weltordnung gerecht sind. Dies hängt davon ab, ob die Institutionen unserer internationalen Ordnung fair gestaltet sind, was Pogge zufolge bedeutet, dass diese Institutionen es allen Menschen ermöglichen, sicheren Zugang zu lebenswichtigen Grundgütern zu haben. Da etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut leben, ist dieser Anspruch offensichtlich nicht erfüllt, schließlich fehlt den Menschen, die in Armut leben, gerade dieser sichere Zugang zu lebenswichtigen Grundgütern. Damit eine globale Ordnung als gerecht bezeichnet werden könnte, müsste sie die institutionellen Voraussetzungen schaffen, um auch den Menschen, die jetzt noch in Armut leben, einen minimal angemessenen Anteil an den Grundgütern zu verschaffen. Dazu müssten Strukturen, die systematisch oder vorhersehbar andere Menschen ausbeuten oder zwangsläufig zu Deprivationen führen, abgeschafft werden. Gegenwärtig besteht die Schwierigkeit, dass moralische Schlupflöcher gesucht und ausgenutzt werden.124 Diese Praxis muss als moralisch falsch erkannt und 123 124
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 172. Vgl. ebd., S. 99.
3.2 Armut und globale Gerechtigkeit
77
entsprechend verurteilt werden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Schlupflöcher als Teil der ungerechten Strukturen verstanden werden und die Strukturen dahingehend verändert werden, dass diese Möglichkeiten des Herauswindens nicht mehr bestehen. Eine globale Struktur ist solange schädlich, wie sie arme Menschen daran hindert, ihre sozialen Menschenrechte verwirklicht sehen zu können. Solange es absehbare Nachteile und vermeidbare Schäden gibt, die so massiv sind, dass Menschen massiv in ihren grundlegenden menschenrechtlichen Ansprüchen missachtet werden, muss nach besseren und damit gerechteren Alternativen gesucht werden. Bezüglich der Frage, wer hier Verantwortung trägt, legt Pogge den Fokus auf wohlhabende, demokratisch verfasste Länder und die nicht von Armut betroffenen Bürger dieser Staaten. Das heißt, dass wir uns nicht aus der Verantwortung für die globale Ordnung ziehen sollen, da diese Ordnung auch maßgeblich von denjenigen wohlhabenden Staaten bestimmt wird, deren politisches Handeln demokratisch bestimmt wird. Zwar erkennt Pogge an, dass auch innerstaatliche Faktoren bei Armut eine Rolle spielen können, lehnt aber einen explanatorischen Nationalismus125, der behauptet, dass die Verantwortung für Armut einzig in den Handlungen und Rahmenbedingungen, wie dem politischen System, den geographischen und klimatischen Bedingungen der betroffenen Staaten begründet ist, strikt ab. Seiner Ansicht nach wird die globale Ordnung von den mächtigen und wohlhabenden Staaten bestimmt, für die moralische Erwägungen in der Regel keine Rolle spielen, sondern die danach streben, ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen durchzusetzen. Ein Problem ist, dass auf globaler Ebene nicht alle Interessen mit gleicher Berücksichtigung vertreten werden,
125
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 182 f.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
sondern diejenigen der wohlhabenden Menschen viel stärkeres Gewicht haben und die Interessen armer Menschen in vielerlei Hinsicht marginalisiert werden. Ein weiteres Problem der bestehenden ungerechten Weltordnung ist die Anerkennung undemokratischer Staatsoberhäupter durch die internationale Gemeinschaft. Durch den Grundsatz der Souveränität erkennen die Staaten diejenigen Herrscher von Staaten an, die es schaffen, sich an die Spitze eines Staates zu stellen. In aller Regel spielt es dabei keine Rolle, auf welche Weise und mit welchen Methoden die Macht über die Bevölkerung errungen wurde und erhalten wird. Auch brutale, ausschließlich durch Gewalt und Unterdrückung legitimierte Machthaber werden dementsprechend als legitime Vertreter dieser Staaten anerkannt. Ihnen werden mit der Staatsmacht einhergehende Privilegien zugesprochen, wie zum Beispiel das sogenannte Rohstoff- und das Kreditprivileg, mit denen häufig große Bürden für die arme Bevölkerung einhergehen.126 Durch diese Privilegien, die von der globalen Ordnung anerkannt und gesichert werden, werden nichtdemokratische Herrscher und politische Praktiken gefördert. Die von außen anerkannte Legitimität erlaubt den nicht-demokratischen Machthabern in der Regel, die Rohstoffe des jeweiligen Landes zu verkaufen, ohne die Bürger daran zu beteiligen. Dazu werden Kredite gewährt, die weder für Projekte zur Unterstützung der dort lebenden Menschen genutzt werden, noch von ihnen gewollt wurden, aber deren Kosten sie durch die Tilgung von Schulden und Zinsen tragen müssen.127 Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich, dass arme Menschen nicht ausreichend repräsentiert werden und dass außerdem von außen kommende Mittel zur Armutsbekämpfung nicht bei den Bedürftigen ankommen. 126 127
Vgl. ebd., S. 194 ff., S. 205 ff. Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 195.
3.2 Armut und globale Gerechtigkeit
79
Derartige Fälle von bad governance sind in Pogges Augen keine bedauerlichen Einzelfälle, sondern vermeidbare und vom System hervorgerufene Fehler unserer internationalen Ordnung. Wenn wir dem Anspruch einer gerechten globalen Ordnung erfüllen wollen, und diesen Anspruch sieht Pogge in den menschenrechtlichen Erklärungen auf internationaler Ebene formuliert, muss die globale Ordnung dahingehend geändert werden, dass diese Formen von moralisch verwerflicher Regierungspraxis nicht durch systemimmanente Anreize gefördert werden. Allerdings sind die individuellen Beiträge zur Gestaltung von Institutionen schwer zu fassen und die Beteiligung an der Aufrechterhaltung einer ungerechten Weltordnung schwierig zu bemessen. Eine Beschreibung dieser Beteiligung bleibt bis zu einem gewissen Grad abstrakt und unkonkret, so dass die besondere Herausforderung darin besteht, trotzdem eine klare moralische Verantwortung im Handeln einzelner Menschen zu benennen. Pogges Position ist aus pragmatischen Gründen moralisch sehr minimalistisch angelegt. Sie behauptet keine moralischen Pflichten, die sich unmittelbar aus dem Leid der armen Menschen ergeben und verlangt auch keine konkrete Hilfe, die sich an der Bedürftigkeit der Betroffenen orientiert. Sein Minimalanspruch an Gerechtigkeit ist erreicht, wenn armen Menschen kein Schaden mehr zugefügt wird und wir eine globale Ordnung etabliert haben, die absehbar keine vermeidbaren Menschenrechtsdefizite produziert. Wäre dies der Fall, ergäben sich aus seinem Ansatz keine weiteren Hinweise auf die moralischen Herausforderungen. Der minimale Anspruch geht jedoch mit weitreichenden Konsequenzen einher. Schon mit der Verwirklichung des moralischen Minimalanspruches der Nichtschädigung könnten viele Menschen der Armut entkommen, wenn die Kreisläufe der Armut durch gleiche
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Chancen und ein faires globales System durchbrochen werden würden. Was aber dennoch in Pogges Ansatz fehlt, sind gute Gründe dafür, dass wir dem Problem der Armut im Gegensatz zu anderen moralischen Herausforderungen den Vorzug geben sollten. Schließlich ist Armut nicht das einzige Gerechtigkeitsdefizit in der Welt. Pogge glaubt, dass die Sicherung der Grundbedürfnisse aller Menschen eine fundamentale und sehr dringliche moralische Forderung ist. Die Sicht auf das moralische Problem des Welthungers und der Weltarmut wurde mit Pogges Überlegungen von der Diskussion um internationale Gerechtigkeit zugunsten einer Betrachtung der globalen Gerechtigkeit verschoben. Während im Falle der internationalen Gerechtigkeit Staaten als die Subjekte der moralischen Ansprüche gelten, geht es der globalen Gerechtigkeit um die Berücksichtigung des individuellen Subjektes und seiner inhärenten Würde. Vor diesem Hintergrund können nun im Sinne eines moralischen Universalismus die prinzipiell gleichen Ansprüche aller Menschen in den Überlegungen Platz und Beachtung finden. Gewinnbringend ist Pogges Ansatz, weil er die Debatte von Fragen individueller Hilfspflichten auf solche nach gerechten, d.h. moralisch vernünftigen Institutionen verschoben hat. Auf diese Weise werden die strukturellen Ursachen von Armut mit einbezogen. Sein Ausgangspunkt vom Prinzip des Nichtschadens zeigt außerdem, dass es bei der Beseitigung von Armut nicht um etwas geht, mit dem wir uns dann befassen können, wenn wir moralisch besonders gut handeln wollen. Armut ist vielmehr ein Phänomen, demgegenüber wir zu grundlegenden Veränderungen bereit sein müssen, wenn wir moralische Minimalstandards erfüllen wollen. Damit offenbart Pogge die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit und fordert moralische Kohärenz ein.
3.3 Armut und Menschenrechte
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den Fragen der internationalen Gerechtigkeit geführt haben, werden von Pogge für die Überlegungen zur globalen Gerechtigkeit anschlussfähig gemacht. Damit haben alle Menschen nicht nur in einer Gesellschaft den Anspruch auf grundlegende Gerechtigkeit, sondern dieser Anspruch besteht auch jenseits von partikularen Gesellschaften. Pogges Idee entspricht einer globalen Utopie, die den Ansprüchen der Gerechtigkeit gegenüber jedem Menschen genügt. Für diese Utopie weitet er das Ideal einer gerechten Gesellschaft auf die Weltgemeinschaft anhand eines einfachen universalistischen Grundprinzips ethischen Handelns aus, nämlich demjenigen, andere Menschen nicht zu schädigen. Die Menschenrechte dienen ihm dabei dazu, Ungerechtigkeit genau benennen zu können. Die formulierten Menschenrechte bilden für Pogge den basalen Katalog an moralischen Ansprüchen. Es wird dabei kein besonderer Vorrang des moralischen Problems der Armut vor anderen Menschenrechtsverletzungen begründet, doch Pogge verweist auf die Dringlichkeit, Weltarmut zu bekämpfen, angesichts des Ausmaßes der Missachtung sozialer Menschenrechte.128 Es wird deutlich, dass der Blick auf die Frage globaler Gerechtigkeit auf Maßstäbe verweisen muss, die über Verteilungsprinzipien gerechtigkeitsrelevanter Güter hinausgehen. Die Menschenrechte sind ein solcher Maßstab. 3.3 Armut und Menschenrechte Die Menschenrechte sind ein wichtiger normativer Referenzpunkt in der moralphilosophischen Debatte um Armut. Im Folgenden untersuche ich, inwieweit der Verweis auf Menschenrechte ausreicht, um Menschen vor Armut zu schützen. Bieten Menschenrechte einen Maßstab, mit dem die Herausforderung hinreichend abgebildet werden kann? 128
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 70 93.
82
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Allgemein gesprochen sind Menschenrechte für die moralische Beurteilung der Weltarmut deshalb relevant, weil sie eine besondere Kategorie von Rechten bilden, die Menschen qua ihres Menschseins zugesprochen werden. Als moralische Rechte beanspruchen Menschenrechte Gültigkeit, ohne dass sie in einzelnen Rechtssystemen positiviert und umgesetzt sein müssen. Armut verstößt gegen eine Reihe von Menschenrechten. Insbesondere die sozialen Menschenrechte werden durch Armut verletzt. Das Konzept der Menschenrechte spielt auch für die Frage nach Verletzungen der Würde durch Armut und Hunger eine wichtige Rolle. Um Armut und Hunger als Verletzungen von Menschenrechten zu erfassen, ist zu klären, durch welche Eigenschaften sie sich auszeichnen und welche Implikationen mit ihnen verbunden sind. Welche Menschenrechte sind aus welchen Gründen relevant? Was ist der genaue Inhalt der Rechte, wovor schützt er und werden zur Verwirklichung dieser Rechte bestimmte Personen oder Institutionen in die Pflicht genommen? Um die Rolle der Menschenrechte für die Beurteilung von Weltarmut und Welthunger zu klären, ist es zunächst hilfreich, die historische Einordnung und systematische Unterscheidungen von Menschenrechten anzuschauen. Im Anschluss zeige ich, worin die Menschenrechtsverletzungen in Bezug auf Weltarmut und Welthunger bestehen. Das Ergebnis der folgenden Überlegungen ist, dass Menschenrechte tatsächlich ein geeigneter, universaler Maßstab zur ethischen Beschreibung von Armut und Hunger sind, doch ich werde ebenfalls ausführen, wo die Grenzen dieser Beschreibung liegen. Der historische Ausgangspunkt unseres heutigen Menschenrechtsverständnisses ist das Ende des Zweiten Weltkrieges und die politische Neuordnung, die vor dem Hintergrund der verübten Verbrechen gegen
3.3 Armut und Menschenrechte
83
die Menschlichkeit geschaffen wurde. Das Ende des Krieges 1945 bedeutete eine politische Zäsur, insofern man grundlegende und universale Übereinkünfte finden wollte, um zukünftig Menschenrechtsverletzungen, zu verhindern. Als Reaktion auf die furchtbaren und massenhaften Gräueltaten des Krieges wurde ein Minimalkonsens für universal geltende Normen vereinbart. Damit haben wir einen neuen Interpretationsrahmen für die Menschenrechte nach 1945.129 Die Verbrechen der Nationalsozialisten waren die Ausgangslage, in der eine Verständigung auf fundamentale Werte und Rechte offensichtlich dringend erforderlich war. Dies führte dazu, dass nach dem Sieg über das NS-Regime auf globaler Ebene Institutionen und Erklärungen geschaffen wurden, in denen Menschenrechte als schützenswertes Gut außerhalb staatlicher Macht deklariert und mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit verbunden wurden. Die These des moralischen Gattungsbruches130 markiert diesen Wendepunkt im Verständnis der Menschenrechte. Der Gattungsbruch besteht darin, dass das Paradigma der universalistischen Moral nicht notwendig mit der Gattungsallgemeinheit verbunden ist. Insofern zeigten die Verbrechen, dass es keine apriorische Gewissheit gibt, dass alle Menschen eine universalistische Moral der Gattung Mensch teilen.131Vorher war ein solcher Bruch von universaler Humanität und eine derartige Verletzung von Menschenrechten nicht für möglich gehalten worden. Das Auseinanderbrechen der
129
130
131
Vgl. Menke, Christoph/ Pollmann, Arnd, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg: 2008, S. 18; Pollmann, Arnd, Menschenwürde nach der Barbarei. Zu den Folgen eines gewaltsamen Umbruchs in der Geschichte der Menschenrechte, in Zeitschrift für Menschenrechte 4, Nr. 1 (2010), S. 26 45, S. 31 f. Vgl. Zimmermann, Rolf, Philosophie nach Auschwitz: Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: 2005, S. 10 f. Vgl. Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz, S. 11.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
menschlichen Gattung durch die systematische Vernichtung von ganzen Menschengruppen stellte in seinem Ausmaß ein ethisches Novum dar. Die menschenverachtenden Verbrechen, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus durch staatliches Handeln radikal gezeigt haben, macht die Fragilität der Menschenrechte offenbar und verstärkte die Anstrengungen und Bemühungen, einen stärken Schutz für ebendiese zu schaffen. Neben die Menschenrechte des 18. Jahrhunderts treten jetzt Deklarationen, die den unbedingten und auf globaler Ebene notwendig zu schützenden Korpus an Rechten für alle Menschen überstaatlich manifestieren wollen. Die nationalsozialistischen Verbrechen haben gezeigt, dass staatliches Handeln nicht zwangsläufig der Einhaltung und dem Schutz fundamentaler Rechte dient, sondern dass im Gegenteil staatlich organisiertes Unrecht mitunter die größte Gefahr für die Geltung der Menschenrechte bedeutet, beispielsweise wenn Staaten von terroristischen und faschistischen Regimen geführt werden. In der rechtlichen Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten schuf das Londoner Statut am 08. August 1945 den neuen Straftatbestand der Verbrechen gegen die Menschheit bzw. in 132
das Undernannte. Die Neuinterpretation der Menschenrechte stellt eine historische Zäsur im Verständnis der Menschenrechte dar.134 Sie waren vorher an die Bürgerrechte gebunden mit 133
132
133
134
Vgl. Londoner Konferenz , Statut für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945, Art. 6c. Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München: 2003, 1964, S. 399. Vgl. Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, S. 129 ff.
3.3 Armut und Menschenrechte
85
dem Ziel, dass Rechte innerhalb eines Rechtssystems nicht nur für bestimmte, sondern für alle Menschen gelten sollten. Mit der ursprünglichen Einführung der Menschenrechte sollte jeder Mensch als Bürger eines Staates zugleich als ein Rechtssubjekt anerkannt sein. Das neue Verständnis von Menschenrechten formulierte den Anspruch, dass unabhängig von Staatsangehörigkeit jedem Menschen Rechte zustehen, die ihn unter anderem gerade vor Verbrechen grausamer (Un-)Rechtssystemen schützen sollen. Um ein Träger von Menschenrechten zu sein, braucht man keinem bestimmten Staat anzugehören. In den Erklärungen und Deklarationen, die 1945 formuliert wurden, zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem neuen Verständnis der Menschenrechte und dem Begriff der Würde. So, wie allen Menschen eine innewohnende Würde zukommt, so kommen auch jedem die Menschenrechte zu. Es gibt verschiedene Ansätze der Systematisierung von Menschenrechten. Sie beschreiben inhaltliche Schwerpunkte, Begründungshintergründe, unterschiedliche korrespondierende Pflichten oder orientieren sich an der Genesis des heutigen Menschenrechtskataloges. Die Systematisierungen der Menschenrechte wurden auf unterschiedliche Weise vorgenommen. Die meisten Einteilungen weisen sowohl historische als auch systematische Elemente auf. Die erste Systematisierung stammt von Jellinek (1892/1905), der das Verhältnis von Staat und Rechten beschreibt. Er differenziert zwischen einem status negativus des Rechts, der die Abwehr von Eingriffen in die individuelle Freiheit beschreibt und einem status positivus, der einen Anspruch auf Leistungen und Anerkennungen meint. Damit schafft Jellinek eine Unterscheidung von Rechten in negative Abwehrrechte und positive Anspruchsrechte, an
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
der sich fortan oft orientiert wurde.135 Menschenrechte werden entweder historisch aus ihrer Genese begründet oder aber systematisch in Abhängigkeit von ihren Inhalten, wie beispielsweise im Falle der klassischen Einteilung in individuelle Freiheitsrechte, politische Teilnahmerechte und soziale Teilhaberechte. (im Anschluss an Thomas H. Marshall 1992).136 Während die Einteilung in verschiedene Generationen137 der Menschenrechte auf die Entstehungsgeschichte abzielt, stellt die systematische Einteilung eine inhaltliche Differenzierung von Rechten dar. Dieser Kategorisierung lassen sich unterschiedliche Traditionen von Menschenrechtsinterpretationen zuordnen. Von der klassisch-liberalen Tradition werden Menschenrechte als Freiheitsrechte verstanden, während die republikanische Tradition sie als politische Rechte auffasst und die sozialistische Tradition davon ausgeht, dass es sich bei Menschenrechten um soziale Teilhaberechte handelt. Diesen Traditionen, die jeweils eine Gewichtung der einzelnen Bereiche, auf die sich die Rechte beziehen, vornehmen, widerspricht das Verständnis Menschenrechte als unteilbar und gleichgewichtig zu bestimmen. Eine weitere Interpretation der Menschenrechte beruht auf den Überlegungen, die sich nicht nur an den Rechten, sondern auch an den dazu korrespondierenden Pflichten orientieren. Dabei wird zwischen Unterlassungs-, Schutz- und Hilfspflichten unterschieden. Eine explizite Verbindung zwischen Rechten und Pflichten zu ziehen, ist gerade in
135
136
137
Vgl. Pforten, Dietmar von der, Status negativus, status activus, status positivus, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 216 219, S. 216 f. beruht auf: Jellinek, Georg: System der subjektiven öffentlichen Rechte [1892]. Tübingen 1905. Vgl. Lohmann, Georg, Individuelle Freiheitsrechte, politische Teilnahmerechte, soziale Teilhaberechte, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 219 223, S. 219. Vgl. Weiß, Norman, Drei Generationen von Menschenrechten, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 228 231.
3.3 Armut und Menschenrechte
87
Bezug auf die Armutsproblematik von besonderer Bedeutung, um Verantwortung zuschreiben zu können.138 Menschenrechte zeichnen sich dadurch aus, dass sie von grundlegendem Charakter sind, sie beanspruchen Universalität, Unveräußerlichkeit und Egalität sowie Unteilbarkeit und Gleichgewichtigkeit. Mit dem grundsätzlichen Charakter der Fundamentalität der Menschenrechte wird zum Ausdruck gebracht, dass es um besonders grundlegende ethische Forderungen geht, weil sie zentrale Anliegen jedes einzelnen Menschen schützen. Werden Menschenrechte als fundamental beschrieben, ist damit entweder ihre begründende Funktion für alle anderen Rechte gemeint oder aber ihre notwendige Geltung in Hinblick auf jede Rechtsform. Außerdem kann der fundamentale Charakter der Menschenrechte die Grundlage des positiven Rechts bilden oder als Voraussetzung für jegliche Legitimität des Rechts und die damit einhergehende politische Macht gelten. Mit dem Anspruch auf Universalität zeichnen sich die Menschenrechte dadurch aus, dass sie eine allgemein und für jeden Menschen gültige Rechtsform darstellen. Das Subjekt der Menschenrechte ist jeder Mensch qua seines Menschseins. Niemand darf aus diesem Kreis ausgeschlossen werden. Zur Universalität wird auch der Anspruch globaler Gültigkeit, das heißt die Unabhängigkeit von kulturellen Kontexten, gezählt. Außerdem wird den Menschenrechten durch die Universalität ein axiomatischer Ausgangspunkt für den Bereich des moralischen Rechts zugeschrieben. Die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte beansprucht, dass Menschenrechte den Menschen nicht genommen, sie aber auch nicht abgelegt werden können.
138
Vgl. Shue, Henry, Basic rights: Subsistence, affluence, and U.S. foreign policy, Princeton, NJ: 1996; O'Neill, Onora, Tugend und Gerechtigkeit: Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens, Berlin: 1996; Mieth, Corinna, Unterlassungs-, Schutz- und Hilfspflichten, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 224 228.
88
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Menschenrechte können demnach zwar verletzt werden, aber der Anspruch auf sie kann nicht verwirkt werden. Das bedeutet auch, dass man nicht freiwillig auf diese Rechte verzichtet kann. Die formale Struktur der Menschenrechte unterscheidet sich in einigen Punkten von anderen Rechtsformen. Zum einen sind Menschenrechte genuin mehr als positivierte Rechte und können daher nicht hinreichend anhand der Deklarationen und verbrieften Rechte erfasst werA hat gegenüber 139 B ein Recht auf X nicht zwangsläufig erfüllt. Die Rechtsinhaber sind definiert (A= jeder Mensch). Jedoch sind in einigen Fällen die Adressaten des Rechts (B), d. h. die Pflichtträger nicht eindeutig identifizierbar. Außerdem ist der Gehalt des Rechts (X) vielfach unterbestimmt und umstritten. Die Gleichheit als Eigenschaft der Menschenrechte sagt aus, dass die Menschenrechte für jeden Einzelnen gleichermaßen gelten und niemand benachteiligt oder ohne Berücksichtigung bleiben darf. Neben der Universalität der Menschenrechte ist die inhärente Egalität eine besondere Errungenschaft, die historischen Kämpfen zu verdanken ist. So war es bis zu den bürgerlichen Revolutionen im 18. Jahrhundert selbstverständlich, Rechte als Privilegien für einige wenige zu verstehen, was erst mit der egalitären Geltung der Menschenrechte beendet wurde. Die Egalität der Menschenrechte impliziert auch ein Diskriminierungsverbot. Keine Gruppe von Menschen darf hinsichtlich der menschenrechtlichen Ansprüche ausgeschlossen oder in ihren Rechten beschnitten werden. Der Begriff der Unteilbarkeit bezüglich der Menschenrechte meint, dass diese nicht selektiv als Einzelrechte verhandelbar sind, sondern dass sie sich einer unteilbaren Idee verdanken. Auch 139
Koller, Peter, Rechte und Pflichten, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 151 159, S. 153.
3.3 Armut und Menschenrechte
89
wenn sich im konkreten Fall der Anwendung je einzelne Rechte aus dieser Idee ergeben, dürfen diese nicht gegeneinander ausgespielt werden. Somit gilt, dass ein Gleichgewicht der einzelnen Menschenrechte untereinander bestehen soll und nicht einzelne Rechte missachtet oder vernachlässigt werden dürfen, um andere durchzusetzen. Die Menschenrechte gelten als normativer Maßstab, dessen Reichweite und konkreter Gehalt jedoch umstritten sind. In Bezug auf die Weltarmut stellt sich die Frage, was die Menschenrechte für die Verhinderung und Überwindung von Armut beitragen können. Wer ist aus welchen Gründen wem gegenüber für die Beseitigung von Armut auf welche Weise moralisch verantwortlich?140 mut sind gerechtfertigt, wenn gezeigt werden kann, dass Staaten entweder ursächlich oder aber durch unterlassene Hilfeleistung verantwortlich dafür sind, dass für jene, die unfreiwillig in Not geraten sind, 141
Um diese Ansprüche zu begründen, muss klar sein, wann ein Leben in Würde unmöglich wird. Doch zunächst soll ein Blick auf einzelne Menschenrechte klären, welche Menschenrechte durch ein Leben in Armut bedroht oder verletzt werden. Dazu werde ich zunächst auf Subsistenzund Freiheitsrechte, dann auf wirtschaftliche und soziale Rechte und schließlich auf Menschenrechte der dritten Generation, d.h. Menschenrechte, die nicht einzelnen Menschen zugeschrieben werden, sondern in Hinblick auf ein Leben in einer intakten Umwelt oder auch in Bezug auf ökonomische und kulturelle Entwicklung Gruppen als Menschenrechtssubjekte zulassen, eingehen.
140 141
Vgl. Pollmann, Armut, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 433. Vgl. ebd., S. 436.
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3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
In die Kategorie der Subsistenzrechte gehören diejenigen Menschenrechte, die für das unmittelbare Überleben notwendig sind, wie zum Beispiel das Recht auf Leben.142 Das Recht auf Leben gilt als eines der fundamentalsten Menschenrechte. Primär wird es als Abwehrrecht, das den Einzelnen vor Tötung schützen soll, verstanden. Ein Leben in Armut kann als Verletzung des Menschenrechts auf Leben angesehen werden, insofern als jährlich 18 Millionen Menschen an den Folgen von schwerer Armut und Hunger sterben.143 Versteht man das Recht auf Leben allerdings in erster Linie als ein negatives Abwehrrecht, dann bedeuten die meisten Fälle von Armut und Hunger nicht die Verletzung des Menschenrechts auf Leben. Angesichts der hohen Todesrate besteht die Frage, inwieweit dies eine Verletzung des Rechts auf Leben ist. Welche menschenrechtlichen Pflichten wir haben, diese Menschen nicht sterben zu lassen, ist jedoch unterbestimmt. Es ist fraglich, welche positiven Pflichten mit dem Recht auf Leben korrespondieren, das heißt, ob und inwieweit wir verpflichtet sind, Menschen nicht sterben zu lassen. Als Bedingung der Möglichkeit, ein Menschenrechtssubjekt zu sein, stellt das Leben des einzelnen Menschen eine grundlegende normative Forderung dar. Das Überleben stellt eine Voraussetzung dar, von der nicht abstrahiert werden kann. Die Selbstverständlichkeit dieses Rechtes führt jedoch bei genauerer Betrachtung zu unklaren Ansprüchen. Zunächst einmal ist das Recht auf Leben ein Recht, nicht getötet zu werden, d.h. eines gewaltsamen, unfreiwilligen und frühen, vermeidbaren Todes zu sterben. Dieses Recht geht mit der Pflicht eines Staates einher, die unter seinem Einfluss stehenden Menschen nicht zu töten. 142 143
Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 3. Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 2.
3.3 Armut und Menschenrechte
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Ob es sich bei der Todesstrafe oder im Krieg um legitime Ausnahmen des Tötungsverbotes handelt, ist umstritten.144 Diskutiert wird dieses Recht insbesondere im Hinblick auf Fragen, die an den Übergängen zwischen Leben und Tod entstehen, etwa in Bezug auf vorgeburtliches Leben oder assistierten Suizid.145 Neben dem Anspruch, nicht getötet zu werden, umfasst das Recht auf Leben auch den Schutz des Lebens jedes einzelnen Menschen. Es ist staatliche Aufgabe, Menschen vor willkürlichen Tötungen durch Dritte zu schützen. Zwar sterben von Weltarmut betroffene Menschen eines frühen und vermeidbaren Todes, doch sie sterben nicht unmittelbar durch die Hand eines anderen Menschen. Entscheidend an dieser Stelle ist, dass die Ursachen für die Armut menschengemacht sind und auch von Menschen verhindert werden können. In diesem Sinne führen Armut und Hunger zu einem Sterben, für das Verantwortung zugeschrieben werden kann. Dieses Sterben als Kollateralschaden eines wirtschaftlichen Systems, das keine ideale Verteilung von Gütern hervorbringt, zu klassifizieren, reicht als Zurückweisung der Verantwortung nicht aus. Darüber hinaus ist es streitbar, ob eine kollektive Mitschuld an dem Leid und dem Sterben dieser Menschen nicht auch als eine aktive Beteiligung daran gesehen werden kann, da die Menschen reicher Gesellschaften von der Armut profitieren.146 Doch auch wenn das Sterben durch Armut ausschließlich auf Unterlassungen zurückgeführt wird147, versagen die Pflichtenträger, insofern sie es versäumen, den Schutz für die Verwirklichung des Rechts auf
144
145 146 147
Vgl. Schmitz, Barbara, Subsistenzrechte: Leben, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 233 234, S. 234. Vgl. ebd., S. 233 f. Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 32 f. Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 183.
92
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Leben, zu geben. Die billigende Inkaufnahme des Todes armer Menschen ist aus menschenrechtlicher Perspektive nicht vertretbar. Das moralische wie rechtliche Versagen liegt zum einen in der Unfähigkeit, die Menschen vor einem gewaltsamen und frühen Tod zu schützen, zum anderen versagt die Weltgemeinschaft darin, angemessene Hilfe zu leisten, um das Überleben zu sichern. Neben dem Recht auf Leben ist das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard148 durch Armut bedroht. Das Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard umfasst das Recht auf Ernährung, Wasser, Gesundheit und Wohnen. Zwar handelt es sich dabei um einen universellen Anspruch, jedoch sind die Ausgestaltung und das, was als sell spezifizierbar. Aufgrund dieser Kulturabhängigkeit ist das Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard umstritten und steht im Verdacht, eben keine universale Gültigkeit beanspruchen zu können. Bei den Subsistenzrechten auf Ernährung149 und auf Wasser150 handelt es sich um Ansprüche, die sich nicht ausschließlich auf Handlungen anderer Menschen beziehen, sondern auch auf materielle Güter, die jeweils Gegenstand dieser Rechte sind. Im Fall von schwerer Armut werden die Rechte auf Nahrung und Wasser verletzt. Armut besteht eben darin, keinen Zugang zu ausreichender Nahrung und zu Trinkwasser haben, um zu überleben. Die Adressie-
148
149
150
Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 25; Vereinte Nationen, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. (ICESCR), 16. Dezember 1966. In A/RES/2200 A (XXI), Art. 11. Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 25; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Art. 11, Abs. 1, Abs. 2. United Nations. General Assembly, The human right to water and sanitation, 28. Juli 2010, In A/RES/64/292.
3.3 Armut und Menschenrechte
93
rung der Unterlassungs-, Garantie- und Beseitigungspflichten ist jedoch umstritten. Wenn staatliche Akteure systematisch und intentional Menschen vom Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser ausschließen, so wie es beispielsweise im Zweiten Weltkrieg geschehen ist, dann handelt es sich eindeutig um eine Verletzung dieser Menschenrechte. Der heute verbreitetere Fall, der einen Großteil der chronisch armen Menschen betrifft, ist, dass Nahrungsmittel als Güter auf dem Markt gehandelt werden und prinzipiell alle Menschen das Recht haben, sie zu erwerben, vorausgesetzt sie können die Preise zahlen. Dies führt dazu, dass arme Menschen von diesem Zugang ausgeschlossen sind und Preisveränderungen unmittelbar für ihr Überleben von Bedeutung sind. Hier gilt die staatliche Pflicht, dass die Rahmenbedingungen derart gestaltet sein müssen, dass der Zugang zu ausreichend Nahrung und Wasser für alle möglich ist. Viele Staaten scheitern an dieser Aufgabe. Die Frage, die sich an dieses Scheitern anschließt, ist, inwieweit andere Staaten und die in ihnen lebenden Individuen die Pflicht haben, bei menschenrechtlichem Versagen für die Einhaltung dieser Rechte zu sorgen. Das Recht auf Ernährung bzw. Nahrung wird im letzten Teil dieser Untersuchung noch einmal genauer betrachtet. Mit dem Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte formuliert ist151, lassen sich einige typischen Streitfragen des Menschenrechtsdiskurses aufzeigen. Einerseits handelt sich um eine sehr grundlegende Forderung, die universalen Ansprüchen genügen soll, zum anderen lässt sich kaum näher bestimmen, wann dieses Recht erfüllt ist. Allerdings lässt sich eindeutig sagen, dass im Falle von Armut dieses Recht 151
Vgl. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Art. 25; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Art. 11.
94
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
in keiner Weise erfüllt ist, sondern in mehrfacher Hinsicht verletzt wird. Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard beschreibt einerseits ein Mindestmaß, welches zu einem menschenwürdigen Leben notwendig ist, bleibt aber andererseits in seiner Ausgestaltung unterbestimmt. Was ein angemessener Lebensstandard ist, kann nur in den jeweiligen Gesellschaften bestimmt werden. Da wir jedoch heute nicht mehr in völlig abgetrennten Gesellschaften leben, bleibt auch die Frage offen, wie dieser Standard relational zwischen den Gesellschaften bestimmt werden kann. Denn nur weil ein Land bisher arm war und seine Bewohner sich an bescheidenere Lebensumstände gewöhnt haben, gibt es keinen Anspruch wohlstandsverwöhnter Kulturen, auf ihrem unrechtmäßig erworbenen Ressourcenverbrauch zu bestehen. Hier besteht die Gefahr des Relativismus des Lebensstandards, der ein allgemeines Recht auf einen angemessenen Standard ad absurdum enschenwürdige 152 sein. Zu den Subsistenzrechten gehören auch die Rechte auf Gesundheit und Wohnen. Auch hier ergeben sich die Verletzungen der Rechte bereits aus der definitorischen Bestimmung der Armut selbst. Menschen, die von schwerer Armut betroffen sind, haben keine ausreichenden Mittel, um sich ein sicheres, festes Wohnumfeld zu schaffen, das ihnen ein Leben mit privatem Rückzug und einem Mindestmaß an Sicherheit ermöglicht. Die genauere Bestimmung dieses Rechts ist allerdings ebenfalls eine Herausforderung, da gerade Wohnformen partikuläre Unterschiede zeigen. Während es in einigen Kulturen normal ist, mit mehreren Menschen auf engem Raum zu leben, stellt es in anderen 152
Schmitz, Subsistenzrechte: Angemessener Lebensstandard, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 241.
3.3 Armut und Menschenrechte
95
Kulturen eine Einschränkung der Freiheit dar. Eine objektive Bestimmung ist nicht möglich. Hier besteht die Gefahr der Überstrapazierung und Überforderung der Pflichtenträger. Die genannten Rechte sind notwendigerweise unterbestimmt und die Beurteilung als Menschenrechtsverletzung bietet keine hinreichenden Kriterien für eine genauere Bestimmung an. Der fehlende Zugang zu medizinischer Versorgung, der Armut ebenfalls kennzeichnet, berührt das Menschenrecht auf Gesundheit. Gesundheit ist ein hohes Gut, das nur bedingt durch Ressourcen hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Das Recht auf Gesundheit meint zunächst einmal eine grundlegende gesundheitliche Versorgung. Auch hier ist es schwierig, eine Grenze zu ziehen zwischen dem, was medizinisch möglich und dem, was notwendig ist. Neben der Gruppe der Subsistenzrechte sind auch die Freiheitsrechte fundamental geschützt. Ein Leben in Armut verstößt auf unterschiedliche Art gegen die Freiheitsrechte. Die Sklaverei stellt einen menschenrechtlichen Verstoß gegen fundamentale Freiheitsrechte dar. Die Sklaverei stellt heute ein international geächtetes Beziehungsverhältnis dar. Die Ausbeutung eines Menschen durch dessen rechtlosen Status ist nach dem Völkerrecht heute verboten. Jedoch zeigen Erhebungen, dass noch immer Millionen von Menschen in sklavenähnlichen Verhältnissen leben. Moderne Formen der Sklaverei sind in der Regel Konsequenzen aus einem Leben in bitterer Armut und Schutzlosigkeit.153 Dazu gehört der Menschenhandel, der Menschen für die Sexindustrie, als Haussklaven oder als Kindersoldaten rekrutiert. Die in diesem Zusammenhang relevanten Menschenrechtsverletzungen können durch die Verletzung des Sklavereiverbotes eindeutig festgestellt werden.
153
Vgl. The Global Slavery Index, The Global Slavery Index 2016.
96
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Staatliche Institutionen versagen jedoch in der Aufgabe, die Versklavung durch Dritte zu unterbinden und können arme Menschen nicht ausreichend vor diesen Behandlungen schützen.154 Ein weiteres Freiheitsrecht, das durch Armut bedroht wird, ist das Recht auf Freizügigkeit. Dieses Recht besteht darin, seinen Wohnort innerhalb eines Landes frei wählen zu können, sowie darin, das eigene Land verlassen zu können. Bedroht wird dieses Recht zum Beispiel, wenn Menschen von ihrem Land vertrieben werden, so wie es im Fall von Landraub155 geschieht. Hier werden insbesondere die Rechte von Kleinbauern und Menschen, die Subsistenzwirtschaft betreiben, massiv durch Kapitalinstitutionen verletzt.156 Staaten verfehlen hier ihre Aufgabe, die Menschenrechte der Betroffenen vor Angriffen Dritter zu schützen. Ein besonderer Fall von bedrohten Menschenrechten ergibt sich aus der großen Zahl an Menschen, die aus Armutsgründen zur Migration gezwungen werden und als Flüchtlinge einen besonders verletzlichen Status haben. Ihr menschenrechtlicher Schutz ist nicht gewährleistet, da mit dem Recht, das eigene Land zu verlassen, keine umfassende Pflicht korrespondiert, dass andere Staaten Menschen den Zugang zu ihren Gemeinschaften garantieren. Sogenannte Armutsbzw. Wirtschaftsflüchtlinge genießen nach der Genfer Flüchtlingskonvention keinen Anspruch auf Asyl bzw. Bleibemöglich-
154
155 156
Vgl. The Global Slavery Index, The Global Slavery Index 2016; Deile/ Hutter, Jahrbuch Menschenrechte. Vgl. Weingärtner/Trentmann, Handbuch Welternährung, S. 78 80. Vgl. Paasch, Armin, Weltagrarhandel und Menschenrechte: Fallstudien zu Verletzungen des Rechts auf Nahrung von Kleinbauern, in Zeitschrift für Menschenrechte 2, Nr. 2 (2008), S. 100 116, S. 106 f.
3.3 Armut und Menschenrechte
97
keiten in wohlhabenden Staaten.157 Das Recht auf Freizügigkeit ist eng mit politischen Teilhaberechten verbunden, die sich mit der Zugehörigkeit zu Staaten ergeben, wie Staatsangehörigkeit und Bürgerrechte. Das Phänomen der modernen Lager, in denen ein Großteil der Flüchtlinge weltweit leben muss, stellt ein sichtbares Symbol des modernen Ausschlusses dar. Die Ghettorisierung armer Menschen sowie die Landflucht der armen Bevölkerung zeigen, dass die Möglichkeiten einer freien Wohnortwahl nicht nur begrenzt sind, sondern dass Marktmechanismen, nach denen sich der Erwerb von Land und Immobilien richtet, die Verwirklichung dieses Rechts massiv einschränken. Weitere Rechte, die durch ein Leben in Armut gefährdet sind, sind die Rechte auf Schutz des Eigentums sowie des Privatlebens. Prekäre Lebensumstände machen arme Menschen besonders verletzbar für den Verlust von Eigentum. Sie besitzen nur wenig und das, was sie besitzen, können sie kaum vor dem Zugriff anderer schützen. Die wirtschaftlichen und sozialen Rechte sind in ihren Ausgestaltungen umstrittener als die Subsistenz- und Freiheitsrechte. Verstanden als Teilhaberechte am gesellschaftlichen Leben, d.h. sowohl an wirtschaftlichen als auch anderen sozialen Interaktionen der Gesellschaft, werden diese Rechte systematisch bedroht. Die Garantie dieser Rechte findet für arme Menschen nicht oder nur sehr eingeschränkt statt. Ihre Situation ist häufig gekennzeichnet durch Arbeitslosigkeit oder aber durch Arbeitsbedingungen, die mit Ausbeutung und Zwang verbunden sind. 157
Genfer Flüchtlingskonvention (GFK): Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 regelt den Rechtstatus von Flüchtlingen, die aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung verfolgt werden. Vgl. UN Conference of Plenipotentiaries on the Status of Refugees and Stateless Persons, Final Act of the United Nations Conference of Plenipotentiaries on the Status of Refugees and Stateless Persons, 25 July 1951, A/CONF.2/108/Rev.1.
98
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Der Lohn für diese Arbeit reicht nicht, um damit einen angemessenen Lebensstandard zu bestreiten. Das Recht auf Arbeit und gerechte Arbeitsbedingungen gehört zu den früh formulierten sozialen menschenrechtlichen Ansprüchen aus der sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit dieser Forderung ist groß. Gerade arme Menschen sind in ihrer Lohnabhängigkeit und Verletzlichkeit besonders häufig ungerechten, von äußeren Zwängen bestimmten Arbeiten und Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Sie arbeiten unter gesundheitlich gefährlichen, mitunter lebensgefährlichen Bedingungen. Ihre prekäre Situation wird ausgenutzt, insofern die Sicherung ihres Überlebens vom Lohneinkommen abhängig ist. Durch die globale Organisation der Wirtschaft und der weltweiten Produktion von Gütern sind auch wohlhabende Staaten und ihre Bürger in die Ausbeutung armer Menschen verstrickt. Die Verletzung der relevanten Menschenrechte wird damit auch durch uns als Konsumenten und durch unsere Staaten, die solche Produktionsbedingungen nicht nur billigen, sondern sogar forcieren, unterstützt.158 Das Fehlen sozialer Sicherheitsnetze, wie sie in einigen Wohlfahrtsstaaten vorgesehen und weltweit von einigen wenigen Staaten umgesetzt sind, erschwert die Situation armer Menschen. Die Sicherung eines Existenzminimums ist vielfach nicht garantiert. Diejenigen Personen, die nicht in der Lage sind, ein ausreichendes Einkommen für sich und ihre Familien zu generieren, müssten, wenn soziale Menschenrechte erfüllt sind, vor einem Leben in Armut geschützt sein. Das bedeutet aus menschenrechtlicher Perspektive, dass ein minimaler Lebensstandard gefordert ist, der das Überleben sichert und der jeweiligen Gesellschaft angemessen ist.
158
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 248 f.
3.3 Armut und Menschenrechte
99
Eine relativ junge Kategorie von Menschenrechten besteht in den sogenannten Menschenrechten der dritten Generation. In dieser Gruppe werden erstmals Menschenrechte formuliert, deren Rechtssubjekte Kollektive sind. In Bezug auf das Armutsproblem sind das Recht auf Entwicklung und das Recht auf Umwelt von Bedeutung. Die Forderung nach einem Recht auf Entwicklung umfasst die Verwirklichung der Menschenrechte auch in bisher nicht oder wenig entwickelten Ländern. Ein Großteil der weltweit ärmsten Menschen lebt in Ländern, die Verlierer der bisherigen Industrialisierungsentwicklung und der globalen Weltwirtschaft sind. Im Interesse einer faireren Gestaltung des internationalen Austausches zielt diese Forderung darauf ab, die Weltwirtschaftsordnung gerechter zu gestalten. Auch das Recht auf Umwelt ist ein neugefordertes Recht, das ein Leben in einer gesunden und sauberen Umwelt für alle Menschen beansprucht. Dieses Menschenrecht betrifft arme Menschen insofern besonders, als sie in stärkerer Weise von den negativen Folgen der Umweltverschmutzung betroffen sind. Der Raubbau an der Natur, wie die fortschreitende Zerstörung der Regenwälder oder auch die Folgen des menschengemachten Klimawandels sind Beispiele für Verletzungen dieses Rechts. Die Bewohner der Länder, die von diesen Folgen am stärksten betroffen sind, haben nicht von den damit verbundenen Wertschöpfungsprozessen profitiert, müssen aber die Last der Konsequenzen tragen. In diesem Punkt nimmt der Kompensationsdiskurs in der Umweltethik eine wichtige Rolle ein.159
159
Vgl. Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2010, S. 1 41; Baatz, Christian/ Braun, Florian, Klimaverantwortung, in Handbuch Verantwortung, (Hg.) Heidbrink/ Langbehn/ Loh, Wiesbaden: 2017, S. 855 886, S. 876; Gardiner, Stephen M. et al.(Hg.), Climate ethics: Essential readings, New York, Oxford: 2010.
100
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Insgesamt ist ein Leben in Armut dadurch gekennzeichnet, dass diverse Menschenrechte nicht geachtet, nicht geschützt und nicht erfüllt werden. Die moralische Verantwortung in menschenrechtlicher Perspek160 . Die zentrale Frage dabei ist, welche Pflichtenträger es im Feld der weltweiten Armut gibt, wer die Rechtssubjekte sind, was der Inhalt der Pflichten ist und aus welchen Gründen diese Pflicht besteht. Diese vielfache Unterbestimmtheit macht es unmöglich, alle Facetten des moralischen Problems der Weltarmut und des Welthungers einzufangen, was bedeutet, dass die Erfassung von Armut als Menschenrechtsverletzung in normativer Hinsicht nicht ausreicht. Die notwendige Interpretation der Menschenrechte und der Diskurs um ihren tatsächlichen Gehalt zeigen deutlich, dass ein weiter Spielraum für die normative Bewertung besteht. Außerdem geht mit der Einordnung von Armut als Menschenrechtsverletzung auch der Einwand einher, dass eine übermäßige Ausdehnung der Menschenrechte zu einer Überfrachtung des Begriffs führt und dessen Umfang letztlich zu weit wird. Wenn mit Menschenrechten alles gefordert werden kann, verlieren sie damit aus moralphilosophischer Sicht ihre Funktion, ein normatives Fundament zu begründen. Die Menschenrechte sind geschaffen worden, um allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Doch reichen sie ohne den Bezug zur Menschenwürde herzustellen nicht alleinig aus, um den genauen Gehalt des Rechts näher zu bestimmen. Daher wird das Verhältnis von Menschenrechten und Menschenwürde im weiteren Verlauf noch genauer an einem Beispiel im dritten Teil betrachtet werden. Die präzise Ana
160
Pollmann, Armut, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 433 ff.
3.4 Armut und das Gute Leben: der Capability-Approach
101
lyse, inwiefern ein Leben in schwerer Armut entwürdigend ist, wird dabei helfen zu klären, wie die menschenrechtliche Ansprüche ausformuliert werden können.161 3.4 Armut und das Gute Leben: der Capability-Approach In einem alternativen Ansatz zur Beschreibung und Bewertung der Weltarmut und des Welthungers stehen nicht Rechte, sondern Fähigkeiten im Zentrum der Überlegungen. Der sogenannte Fähigkeitenansatz oder Capability-Approach wurde von Amartya Sen und Martha Nussbaum als Instrument entwickelt, um Armut zu erfassen und die damit verbundenen moralischen Implikationen zu beurteilen. Bereits in den 1970er Jahren begann Sen, eine differenzierte Erfassung von Armut und Hunger voranzutreiben und war an der Entwicklung von Armutsindikatoren (UNHDI- UN Human Development Index) beteiligt. Als Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler entwickelte Sen Ansätze, in denen die Verwirklichung von Chancen und die damit verbundene Lebensqualität der Menschen entscheidend sind, statt den Blick auf die Fragen nach der Verteilung von Ressourcen und Reichtum zu beschränken. Dabei geht es in diesen Ansätzen einerseits um die differenzierte Erfassung von Armut als objektive Beurteilung und andererseits um die ethische Ergründung ihrer Implikationen, d.h. es werden in Sens Ansatz deskriptive und empirische Fragen mit ethischen Fragen verbunden. Ziel seiner Konzeption ist es, sagen zu können, wie ein gutes Leben für jeden Einzelnen ermöglicht werden kann, weshalb er sowohl das einzelne Individuum als auch das gute Leben zum Gegenstand seiner Überlegungen macht. Sens Verdienst war es, mit seiner Analyse vergangener Hungerkatastrophen einen neuen Blick auf das Phänomen des weltweiten Hungers und 161
Vgl. Pollmann, Armut, in Pollmann/ Lohmann, Menschenrechte, S. 436.
102
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
extremer Armut geschaffen zu haben. In den Untersuchungen zu den Hungersnöten des 20. Jahrhunderts in Indien, Bangladesh und im afrikanischen Sahel hat Sen in Poverty and Famines162 dargelegt, dass die Ursachen der Hungerkatastrophen nicht in der Knappheit von Ressourcen durch die Dürren lagen. Der klassische ökonomische Zugriff versucht, Hungersnöte als Mangel an Ressourcen oder monetären Gütern abzubilden. Daraus folgt die Annahme, dass Hungersnöte aus einer Knappheit an Nahrungsmitteln entstehen und nicht ausreichende Nahrungsmittel für alle Menschen zur Verfügung stehen. Diese Sicht wird abgelöst durch ein Verständnis von Hungersnöten und Armut als einem multifaktoriellen System.163 Sens Analysen164 haben gezeigt, dass auch zu den Zeiten großer Hungersnöte kein Mangel an Nahrungsmitteln bestand, sondern stattdessen den armen Menschen die Zugangsmöglichkeiten zu diesen Nahrungsmitteln fehlten. Außerdem kritisiert Sen den ökonomistisch geprägten Entwicklungsdiskurs, der Entwicklung anhand von Wachstum im Bruttosozialprodukt des Landes erfasst und spricht sich für einen Perspektivenwechsel aus, insofern man nicht nur danach fragen sollte, ob am Ende mehr wirtschaftliche Güter zur Verfügung stehen, sondern auch danach, inwiefern diese zu einer verbesserten Lebenssituation der betroffenen Menschen beitragen. Der Fähigkeitenansatz ist ein Konzept zur Bemessung von menschlicher Wohlfahrt und zur normativen Beurteilung von Gerechtigkeit und
162 163 164
Sen, Poverty and famines. Vgl. Sen, Poverty and famines, S. 185 ff. Vgl. ebd., S. 52 ff., 86 ff., 113 ff.
3.4 Armut und das gute Leben: der Capability-Approach
103
Ungerechtigkeit. Mit der Verknüpfung von empirischen und moralphilosophischen Untersuchungen ist durch die Entwicklung dieses Ansatzes ein eigenes Forschungsfeld entstanden.165 Die empirische Armutsforschung hat in vielerlei Hinsicht davon profitiert. Entwicklung wird nicht mehr nur als alleiniger Modernisierungs- und Kapitalisierungsrückstand verstanden, sondern sie bemisst sich daran, ob die Freiheiten der Menschen zugenommen haben.166 Außer diesem werden noch weitere Parameter in die Messung der Lebensqualität aufgenommen, was insgesamt für einen Fortschritt im Entwicklungsdiskurs sorgt. Fortan geht es auch um Fragen wie die, was Menschen von wirtschaftlichem Wachstum haben und was eigentlich das Ziel von Entwicklung ist. Damit hat Sen großen Einfluss auf die empirische Armutsforschung und der erweiterten Ausgestaltung von Grundgütern gehabt. Laut Sen kann die Verbesserung der Lebensqualität der Menschen durch die Beseitigung von Unfreiheiten erreicht werden. Unfreiheiten, die das menschliche Entwicklungspotenzial einschränken, sind für ihn Hungersnöte, aber auch systemischer Hunger, fehlende medizinische Versorgung sowie der fehlende Zugang zu sauberem Wasser und zu sanitären Einrichtungen. Mit diesen Unfreiheiten sind die Verkürzung der Lebensspanne und die Einschränkungen durch vermeidbare und behandelbare Krankheiten verbunden, die massive Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, aber auch die Vorenthaltung grundlegender politischer und bürgerlicher Rechte.167 Sen lenkt den Blick auf das menschliche Wohlergehen und verknüpft die ökonomische Frage danach, was ein Mensch hat und braucht, mit ethischen Fragen danach, was ein Mensch will, wozu er es braucht, und 165 166 167
Gründung der Human Development and Capability Association 2004. Vgl. Sen, Ökonomie für den Menschen, S. 15 f. Vgl. ebd., S. 33 ff.
104
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
worin der Zweck von ökonomischer Entwicklung besteht. Im Gerechtigkeitsdiskurs finden sich diese Fragen in der Diskussion um Equality of what? wieder.168 Welche Dinge sind es eigentlich, die aus der Perspektive der Gerechtigkeit gleich sein sollen? Der Blick auf das menschliche Wohlergehen lässt Sen zu dem Schluss kommen, dass es bei dem Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit darum geht, die menschliche Freiheit zu verwirklichen. Das Ideal seiner Überlegungen zur Freiheit ist eine positive Freiheit, die darin besteht, dass jedes Individuum das Leben leben kann, welches es aus guten Gründen gewählt hat. Gerechtigkeit lässt sich dann herstellen, wenn Unfreiheiten beseitigt werden. Armut stellt in dieser Sichtweise die Verhinderung von Freiheit und auch ihr Gegenteil, d. h. Zwang und Gewalt dar. Um ein gutes Leben führen zu können, muss der Mensch frei sein, insofern zielt die menschliche Entwicklung in erster Linie auf Freiheit und nicht auf ökonomischen Fortschritt. Die Freiheit der Menschen ist jedoch gleichzeitig die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich entwickeln können. Freiheit ist hier als ein gesellschaftlich umfassender Begriff zu verstehen: Es geht um politische, ökonomische Freiheiten sowie gleichermaßen um soziale Chancen und Sicherheit. Diese verschiedenen Bereiche der Freiheit bedingen sich gegenseitig und können nicht unabhängig voneinander gedacht oder verwirklicht werden. Freiheit stellt eine notwendige und hinreichende Bedingung dar, damit Menschen verantwortlich handeln können und sich selbst helfen können. Die Freiheit ist für Sen ein doppeltes Ideal: Einerseits bemisst sich die Entwicklung der Menschen an dem Maß der zur Verfügung stehenden Freiheit; andererseits ist Freiheit der Motor von menschlicher Entwicklung. Der Begriff der Freiheit ist hier weitreichend: Zur Freiheit gehört es, eigene 168
Vgl. Krebs, Angelika, Einleitung: Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, in Krebs, Angelika (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit: Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt am Main: 2000, S. 7.
3.4 Armut und das gute Leben: der Capability-Approach
105
Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Die Freiheit ist nicht als negative Freiheit unabhängig von anderen zu verstehen, sondern kann nur im sozialen Miteinander mit anderen Menschen verwirklicht werden.169 Um überhaupt Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen zu können, muss Freiheit vorausgesetzt sein. Sen zeigt mit diesen Überlegungen, dass die Entwicklung des Menschen von dessen Freiheit abhängig ist und nicht direkt auf ökonomische Ressourcen zurückgeführt werden kann. Besitz und Einkommen sind insofern nur ein Mittel unter anderen, um ein Leben in Freiheit zu führen.170 In diesem Sinne sollten Gerechtigkeitsforderungen nicht darauf zielen, die monetären Mittel der Ärmsten, sondern die Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen, weil erst dadurch menschliche Fähigkeiten verwirklicht werden können. Dies bedeutet eine qualitative Erweiterung ethischer Gerechtigkeitsforderungen, weil es nicht um eine gleich zu verteilende Anzahl von Grundgütern geht, die ein jeder Mensch zum Leben braucht, sondern um die Berücksichtigung unterschiedlicher menschlicher Bedürfnisse und Präferenzen, deren Befriedigung es zu ermöglichen gilt. Insofern steht Sens Perspektive Bedürfnisansätzen nicht fern, denn auch ihm geht es um die Grundversorgung für jeden Menschen. Allerdings unterscheidet sich sein Ansatz von anderen bedürfnisorientierten Ansätzen darin, dass es nicht um eine Sammlung von Grundgütern geht, sondern darum, Fähigkeiten, die abhängig vom jeweiligen Menschen sehr unterschiedlich sein können, zu ermöglichen. Ein Mensch beispielsweise, der abgeschieden auf dem Land wohnt, braucht andere Güter, um mobil zu sein, als jemand, der in der Stadt
169 170
Vgl. Sen, Ökonomie für den Menschen, S. 336 ff. Vgl. ebd., S. 24.
106
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
wohnt oder jemand, der im Rollstuhl sitzt. Diese unterschiedlichen Bedürfnisse sollen und können berücksichtigt werden, wenn es um die Frage geht, welche Unfreiheiten beseitigt werden müssen. Aus der klassischen ökonomischen Sicht steht Sens Herangehensweise auf dem Kopf, da wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlstand lediglich Nebeneffekte der Freiheit des Menschen sind. Je mehr Chancen Menschen haben, ihre Fähigkeiten zu verwirklichen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass soziale Entwicklung geschieht und dass der Wohlstand der Menschen sowie die wirtschaftliche Produktion positiv beeinflusst werden. Der Vorteil von Sens Überlegungen ist, dass wirtschaftliche Entwicklung und normative Werte darin verbunden gedacht werden. Insofern verbindet der Fähigkeitenansatz eine differenzierte Erfassung von Armut mit der Berücksichtigung der menschlichen Bedürfnisse und Befähigungen. Die zentralen Begriffe des Fähigkeitennsatzes sind das functioning (menschliches Tätigsein), die capabilites (Fähigkeiten) und die agency (Handlungsfähigkeit) der Menschen. Mit functionings werden diejenigen Fähigkeiten beschrieben, die ein Individuum aufgrund freier Wahl verwirklicht hat. Das Ziel ist es, dass jeder Mensch diejenigen functionings verwirklichen kann, die er selbst als die für sich besten erachtet. Sie stellen damit bedürfnisorientierte Grundgüter dar, die jedoch nicht universal festgelegt werden, sondern in der freien Wahl des Einzelnen stehen.171 Diese Grundgüter sind damit nicht die Voraussetzung für ein Leben in Freiheit, sondern es bedarf der Freiheit, um überhaupt die angemessenen Grundgüter empfangen zu können. Bei der Beurteilung und Bemessung von Armut geht es dementsprechend darum zu erkennen, wodurch Menschen daran gehindert werden, ein selbstbestimmtes
171
Vgl. Sen, Amartya, Die Idee der Gerechtigkeit, München: 2010, S. 259 f.
3.4 Armut und das gute Leben: der Capability-Approach
107
Leben zu führen und worin ihre Unfreiheiten liegen. Der Fähigkeitenansatz bezieht die Frage der Gerechtigkeit also nicht die auf die Verteilung von Nahrungsmitteln, sondern auf die Verwirklichung von menschlicher Freiheit, insofern die individuellen Bedürfnisse, Befähigungen und Entscheidungen eines Individuums berücksichtigt werden. In den functionings zeigen sich die Handlungen von freien Menschen, die aus einem Set bestehender Verwirklichungschancen ihre Wahl für ein gutes Leben getroffen haben. Dieses Set an bestehenden Verwirklichungschancen werden als capabilities bezeichnet und spiegeln die unterschiedlichen Lebensentwürfe wider, über die eine Person als Vermögen verfügt. Die Wahl eines Lebensentwurfs erfolgt nicht als unabhängiges Individuum, sondern im Kontext konkreter Lebensbedingungen, die von Umweltfaktoren und sozialen Bindungen geprägt sind. Die capabilities stellen also die Wahlmöglichkeiten für ein gelingendes Leben mit verwirklichter Freiheit dar. Dadurch, dass Menschen in Bezug auf einzelne Aspekte mehr oder weniger frei sein können, ist der Fähigkeitenansatz in der Lage, unterschiedliche Grade von Freiheit zu messen.172 Mit verfügbaren Verwirklichungschancen erhalten die Menschen ihre Handlungsmöglichkeiten. Die Gleichheit spielt bei Sen eine untergeordnete Rolle, da sie für ihn nur einen Aspekt unter vielen in Bezug auf die Gerechtigkeit ausmacht.173 Zwar spricht auch Sen von Fähigkeiten mit universellem Charakter, d.h. von Fähigkeiten, die jedem Menschen zur Verfügung stehen sollen, wie z.B. sich ausreichend ernähren zu können, über Bekleidung und Behausung zu verfügen, am gesellschaft-
172 173
Vgl. Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, S. 255 f. Vgl. ebd., S. 320 ff.
108
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
lichen Leben teilhaben zu können und sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zeigen zu können174. Diese sind jedoch nicht in Form von Gütern festlegbar, da sich die Ausprägungen dessen, was es heißt, über eine angemessene Bekleidung und Behausung zu verfügen, kulturell und auch historisch stark unterscheiden. Die Bewertung dessen, worüber ein Mensch in einer spezifischen Gemeinschaft verfügen sollte, soll nach Sen in einem demokratisch-partizipativen Prozess bestimmt werden. Eine theoretische Bestimmung hält er für falsch, da zur Verwirklichung der menschlichen Freiheit eben auch die Entscheidung gehört, welche Güter als wertvoll betrachtet werden. Die Vorschläge, die Sen hinsichtlich universeller Indikatoren macht, bleiben deswegen absichtlich unabgeschlossen. Im Gegensatz dazu arbeitet Nussbaum eine Liste aus, in der sie den Capability-Approach weiterentwickelt. Diese Liste beinhaltet konkrete, grundlegende Voraussetzungen, die Menschen eine Chance auf ein gutes Leben geben. Zwar bleibt auch diese Liste offen für demokratische Deliberation, sie erhebt aber trotzdem den Anspruch auf vorläufige Gültigkeit. Diese Liste von Befähigungen, die für ein gutes Leben gegeben sein müssen, ist das Ergebnis von Nussbaums Bestreben, die philosophische Perspektive des Fähigkeitenansatzes um eine anthropologisch-ethische Begründung zu erweitern. Dazu versucht sie, diejenigen Grundbedürfnisse zu identifizieren, die allen Menschen gemein sind, um daraus grundsätzliche moralische Forderung ableiten zu können. Nussbaum verbindet ihre Idee der Grundbedürfnisse mit der Menschenwürde. Eng verbunden mit den Grundbefähigungen, die alle Menschen teilen, ist für Nussbaum die Idee der
174
Vgl. Sen, Amartya, Inequality reexamined, New York, Oxford: 1992, S. 110; Sen, Ökonomie für den Menschen, S. 93.
3.4 Armut und das gute Leben: der Capability-Approach
109
menschlichen Würde.175 Die weitgeteilte Intuition, dass ein menschenwürdiges Leben nur unter der Bedingung bestimmter erfüllter Grundbedürfnisse möglich ist, zeigt sich laut Nussbaum in der Idee der menschlichen Würde. Diese Würde ergibt sich zunächst aus der Intuition und dann in der Formulierung der Grundbedürfnisse aus der historischen und empirischen Erfahrung über die Natur des Menschen. Als moralphilosophische Begründung dieser von allen geteilten Mindestansprüche weist Nussbaum eine kontraktualistische Begründung zurück. Die von ihr formulierten Rechte, die für alle Menschen gelten sollen, gelten nicht erst durch vertragliche Vereinbarungen. Vielmehr ist die Idee, dass allen Menschen die Berechtigung auf Grundfähigkeiten zukommt. Dies ist laut Nussbaum bereits in der Idee der menschlichen Würde inhärent enthalten und es bedarf keiner weiteren Rechtfertigung über eine vertragstheoretische Legitimierung.176 Ihr Ansatz beruht auf einem ethischen Individualismus, in dem jede einzelne Person berücksichtigt werden muss. Jeder einzelne Mensch ist jedoch in ein Netz von Beziehungen eingebunden, das seine capabilities beeinflusst. Die Befähigungen, die ein jeder Mensch braucht, ermöglichen erst ein gutes Leben, obwohl sie keine Garantie darstellen. Nussbaum formuliert minimale Gerechtigkeitsforderungen als Bedingungen für ein würdiges Leben. Mit ihrer Ausformulierung des Fähigkeitenansatzes beansprucht sie, die notwendigen Bedingungen für eine anständige und gerechte Gesellschaft zu formulieren. Diese Bedingungen sind als Liste von Berechtigungen zu verstehen, die allen Bürgern zukommen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der moralische und
175
176
Vgl. Nussbaum, Martha Craven, Frontiers of justice: Disability, nationality, species membership, Cambridge, Mass.: 2007, S. 7, 70. Vgl. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 54 ff.
110
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
soziale Mensch. Menschen kooperieren aus den verschiedensten Gründen miteinander, sie kümmern sich um Schwächere und Ärmere. Dieses menschliche Handeln orientiert sich am Guten, das sich nicht durch das Individuum definieren lässt oder auf es beschränkt, sondern immer schon in Abhängigkeit zu dem Guten der Anderen verhält. In diesem Sinne hat der Mensch beispielsweise körperliche Bedürfnisse, aber auch Fürsorge stellt ein menschliches Bedürfnis dar. Die verschiedenen Bedürfnisse sind Ausdruck der Rationalität und der Sozialität des Menschen.177 Nussbaums anthropologischen Grundannahmen beschreiben Menschen als kooperative, soziale, körperliche, rationale sowie am Guten orientierte Wesen. Die Idee der capabilities ist nicht, dass sie instrumentell für die Verwirklichung eines würdigen Lebens bereitstehen, sondern vielmehr, dass sie ein Weg ebendieser Realisierung sind. Bei Nussbaum ist die Idee der menschlichen Würde mit derjenigen der minimalen Gerechtigkeit deckungsgleich. Es ist die minimale Gerechtigkeit, die ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Die genannte Liste von Berechtigungen umfasst vor dem Hintergrund der anthropologischen Annahmen die notwendigen Bedingungen für ein gutes Leben. Das bedeutet, wenn die einzelnen Punkte dieser Liste erfüllt sind, dann ist ein human flourishing möglich. 178 Die von Nussbaum erstellte Liste notwendiger Güter für ein Leben in Würde umfasst zehn Punkte179, die auf moralischen Intuitionen und Urteilen über die menschliche Würde beruhen. Als Orientierungspunkt
177 178 179
Vgl. ebd., S. 158 f. Vgl. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 74 f., 182. Vgl. ebd., S. 76 f.
3.4 Armut und das gute Leben: der Capability-Approach
111
bezüglich der minimalen sozialen Gerechtigkeit dienen ihr dabei An180 . Ihre Liste umfasst die folnahmen über genden Punkte: (1) Leben, (2) körperliche Gesundheit, (3) körperliche Integrität, (4) Sinn, Vorstellungskraft und Denken, (5) Gefühle, (6) praktische Vernunft, (7) Zugehörigkeit, (8) andere Spezies, (9) Spiel, (10) Kontrolle über die eigene Umwelt.181 Der Mensch braucht all diese capabilities, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Die Liste ist irreduzibel: to a single measure. Human beings are characterized by what Marx reducible plural182
Für Nussbaum sind alle Punkte auf ihrer Liste fundamental, d.h. sie sind alle notwendig für ein würdiges Leben. Alle Menschen haben Berechtigung für alle capabilities. Wenn eine capability nicht erfüllt wird, ist das ein Verstoß gegen die minimale Gerechtigkeitsanforderung, egal in welchem Maße den anderen Punkten Genüge getan wird. Die einzelnen Punkte sind basale Bedürfnisse eines jeden Menschen, die untereinander nicht abgestuft werden. Nussbaum betont, dass die Liste als Vorschlag zu verstehen ist, sie also begründet um weitere universale Fähigkeiten erweitert werden kann. Weltarmut und Welthunger lassen sich nach Nussbaums Liste als Verletzung der menschlichen Würde beschreiben, weil der Anspruch auf ein Leben ohne frühzeitigen gewaltsamen Tod und der Anspruch auf körperliche Gesundheit, der einschließt, nicht hungern zu müssen und 180 181
182
Nussbaum, Frontiers of justice, S. 75. Vgl. Nussbaum, Martha C., Die Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin: 2014, S. 528 538. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 167.
112
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
eine adäquate Unterbringung zu haben, für sehr arme Menschen nicht gewährleistet ist. Auch die Fähigkeit zur Selbstachtung und die Fähigkeit, die Umwelt, in der die Menschen leben, zu beeinflussen, werden im Fall von schwerer Armut nicht ermöglicht. Insbesondere die Grenze zwischen einem menschenwürdigen und einem guten Leben ist in Nussbaums Überlegungen wichtig, da diese folgenreich für den Unterschied zwischen dem moralisch Geforderten und dem ethisch Offenen ist. Die minimale Gerechtigkeit, auf die jeder einen Anspruch hat, ist bei ihr die Voraussetzung, um ein Leben in menschlicher Würde führen zu können. Ihre Konzeption der menschlichen Würde ist eng mit dem Capabilities-Ansatz verwoben. that we begin with a conception of the dignity of the human being, 183 and of a life that is worthy of that dig
Die Verwirklichung der menschlichen Grundbedürfnisse, die sie in ihrer Liste der capabilties skizziert hat, stellt nach Nussbaum die Grundbedingung dar, damit Menschen überhaupt ein menschenwürdiges Leben führen können. Nur wenn alle Punkte der Liste ermöglicht sind, ist der Anspruch der Achtung menschlicher Würde erfüllt. Nussbaum vertritt die Ansicht, dass menschliche Würde als verletzbar und auf die Eigenschaften der Menschen bezogen verstanden werden muss. Dabei orientiert sie ihre ethische Theorie an einem aristotelischen Menschenbild. Der Mensch wird nicht als Gegenpart zum Tier dargestellt, sondern als ein politisches Tier, das über einen sozialen Sinn verfügt. 184 Weil Menschen Wesen sind, die streben und handeln und genau dies
183 184
Nussbaum, Frontiers of justice, S. 74. Vgl. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 159 f.
3.4 Armut und das gute Leben: der Capability-Approach
113
innerhalb einer sozialen Welt in Interaktion mit anderen Menschen tun, sind sie würdige Wesen.185 Dass Menschen ein Leben führen können, das diesen natürlichen Wesenheiten entspricht, ist die Grundlage für alle Anrechte der Menschen. Einige Berechtigungen sind notwendige Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben und deswegen muss eine Gesellschaft diese Bedingungen erfüllen, um minimal gerecht zu sein. An diese Idee der Menschenwürde schließt Nussbaum an, wenn sie auf die socialbility und dignity eines jeden menschlichen Lebens verweist. Die intuitive Idee der Menschenwürde enthält bei Nussbaum186 schon immer bestimmte Berechtigungen, eben die, die für ein Leben in menschlicher Würde unabdingbar sind. Diese Idee der menschlichen Würde verhält sich ambivalent zur prominenten Kantischen Konzeption der Würde.187 Auf der einen Seite lehnt Nussbaum eine Begründung der Würde aus der menschlichen Vernunft ab. Doch auf der anderen Seite orientiert sich auch ihr Ansatz am Konzept Autonomie und zielt darauf, dass alle Menschen über ein möglichst hohes Maß an selbstbestimmten Tätigkeiten verfügen können. Nussbaum betont deutlich, dass sie die Begründung menschlicher Würde mit der Fähigkeit zur Rationalität und damit verbunden auch zur Moralität, wie Kant es darstellt, ablehnt. Denn ihrer Ansicht nach kommt die intuitive Idee der Menschenwürde eben auch denjenigen Menschen zu, die nicht den Kriterien eines anspruchsvollen Personen-
185 186
187
Vgl. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 85, 87. Vgl. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 36 38; Claasen, Rutger, Human dignity in the capability approach, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 240 249, S. 244. Vgl. Hartlieb, Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, S. 144, 161 f.
114
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
begriffs entsprechen. Auch die strikte Abgrenzung des Menschen gegenüber dem Tier weist sie zurück. Ihr Einbezug nicht-rationaler Akteure in die Idee der Würde, wie beispielsweise Menschen mit bestimmten Behinderungen oder auch Tiere bis zu einem gewissen Grad, ist ihrer Ansicht nach nicht mit einer rationalistischen Begründung möglich. Eine Gegenüberstellung von Rationalität und Animalität lehnt Nussbaum unter dem Verweis ab, dass auch die Menschen an diese Animalität, an die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse gebunden sind. Sie bezieht sich dabei auf den frühen Marx, der die materielle Bedürftigkeit und Abhängigkeit des Menschen beschreibt. Die Entfaltung und Ermöglichung eines menschlichen Lebens ist danach an bestimmte Bedingungen und Kontexte geknüpft. that we begin with a conception of the dignity of the human being, and of a life that is worthy of that dignity- a life that has avialable in it man being as a b and the approach also takes its bearing from this idea, insisting that the capabilities to which all citizens are entitled are many and not one, and 188 are opportunities for activity, not simply quantitie
Damit macht sie den wichtigen Punkt stark, dass menschliches Leben nicht voraussetzungslos ist und gerade in der Armut deutlich wird, dass Rahmenbedingungen und fehlende Voraussetzungen ein menschliches Leben verunmöglichen können. Jedoch wird auch deutlich, dass der Gehalt des human flourishing anspruchsvoll ist. Das Set an Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben fordert das Freisein von Hunger genauso wie die Möglichkeit zu spielen. Da es sich bei beidem um grund-
188
Nussbaum, Frontiers of justice, S. 74.
3.4 Armut und das gute Leben: der Capability-Approach
115
legende menschliche Bedürfnisse handelt, können sie nicht gegeneinander abgewogen werden. Dagegen lässt sich einwenden, dass nicht alle aufgeführten Punkte gleichermaßen universalisierbar sind, sondern aus einer partikularen Vorstellung des guten Lebens hervorgehen.189 Mit dem Fähigkeitenansatz von Sen und Nussbaum wurde eine grundlegend neue Sicht auf das Armutsproblem geschaffen. Insbesondere die normative Verbindung von ökonomischen und normativen Fragen der Armutsbemessung und -beschreibung ermöglicht, Menschen als bedürftige Wesen in den Blick zu nehmen. Durch die Auflistung menschlicher Grundbedürfnisse wird der Mensch in seiner Sozialität und Vulnerabilität differenziert beschrieben. Mit der Rückbindung an die menschliche Würde schafft Nussbaum eine Verknüpfung ebendieser mit dem Ideal der Gerechtigkeit. Dieser Verweis auf die menschliche Würde erfasst allerdings die Facetten der menschlichen Würde nicht hinreichend. Um das zu zeigen, widme ich mich im nächsten Kapitel einer genaueren Untersuchung der Begriffsbedeutungen von menschlicher Würde, bevor ich Nussbaums Beschreibung der Sozialität und der Vulnerabilität im zweiten Teil der Arbeit wieder aufnehme. Die in diesem Kapitel dargestellten unterschiedlichen Herangehensweisen an das moralische Problem des Welthungers und der Weltarmut beschreiben dieses in erster Linie als einen Verstoß gegen Gerechtigkeitsprinzipien. Armut und Hunger werden demnach als Ungerechtigkeiten und Missachtung universal geltender Ansprüche verstanden. Die menschliche Würde als fundamentales normatives Prinzip bleibt in den verschiedenen Theorien eine implizite Hintergrundannahme und wird entweder nicht näher bestimmt oder spielt zumindest keine zentrale
189
Vgl. Claasen, Rutger, Human dignity in the capability approach, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 245.
116
3 Weltarmut als Gerechtigkeitsproblem
Rolle bei der ethischen Beurteilung. Doch auch wenn die Gerechtigkeitsansätze keine hinreichende Antwort darauf geben können, worin genau die moralische Herausforderung von Armut und Hunger besteht, bieten sie hilfreiche Anknüpfungspunkte, die ich im Weiteren nutzen möchte. Die in der Lifeboat Ethics angesprochene Dringlichkeit, die die Frage des Welthungers und der Weltarmut als eine Frage nach Leben oder Sterben formuliert, ermöglicht, die ethische Fundamentalität des Problems herauszustellen. Armut und Hunger vor dem Hintergrund der universellen Geltung von Gerechtigkeitsprinzipien zu beschreiben sowie die Verbindung zwischen Menschenrechten und Menschenwürde, macht die globale Reichweite des moralischen Problems deutlich. Im Capabilities-Ansatz werden schließlich einerseits wichtige menschliche Eigenschaften und Bedürfnisse in das Verständnis eines menschenwürdigen Lebens aufgenommen, während andererseits der Begriff der Würde keine metaphysischen Annahmen voraussetzt, sondern induktiv aus den Merkmalen verletzter Würde abgeleitet wird. Diese Aspekte der Beschreibung von Armut und Hunger als Gerechtigkeitsproblem spielen eine wichtige Rolle für die Beurteilung der moralphilosophischen Herausforderung. Insofern wird die hier vertretene These, dass Weltarmut und -hunger Verletzungen der Würde bedeuten, als eine Erweiterung der gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen verstanden und nicht als eine Entgegnung auf diese.
4
Menschliche Würde als normative Grundlage
In diesem Kapitel geht es darum darzulegen, warum es interessant und inwiefern es hilfreich ist, die Debatte um Weltarmut auf die Frage nach der menschlichen Würde zu beziehen. Dazu werde ich zunächst zeigen, warum es überhaupt sinnvoll ist, die Frage nach der Würde zu stellen. Im Anschluss werde ich kurz auf die verschiedenen Verständnisse von menschlicher Würde und Menschenwürde eingehen, um dann in einem letzten Schritt zu klären, mit welchem Verständnis von Würde ich einen Blick auf ein Leben in Armut werfen werde. Das Vorgehen ist induktiv und negativ. Das bedeutet, dass durch die Betrachtung des Einzelphänomens, das sich durch die Negation der Würde auszeichnet, etwas über die menschliche Würde gesagt werden kann. Nach der Analyse des Würdebegriffs und der Negation der Würde durch Armut folgt ein Anwendungsteil, der die spezifische Auswirkung auf das Menschenrecht auf Nahrung im Kontext der Würdeverletzung analysieren soll. Insofern hoffe ich, aus der Negation der Würde etwas ableiten zu können, was zu einem normativ gehaltvollen Verständnis spezifischer Menschenrechte etwas beitragen kann. 4.1 Menschenwürde als normativer Bezugspunkt Menschenwürde gilt als anspruchsvoller normativer Begriff, auf den zwar häufig in Wertdebatten verwiesen wird, dem aber eine Unbestimmtheit oder Unklarheit innewohnt. Die philosophische Armutsdiskussion rekurriert in erster Linie auf den Begriff der Gerechtigkeit. In der bisherigen Auseinandersetzung hat sich jedoch gezeigt, dass der Rekurs auf die Gerechtigkeit die moralische Herausforderung nicht abschließend beschreiben kann. In diesem Abschnitt wird es darum gehen, warum es überhaupt interessant ist, die Frage nach der Würde zu
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_4
118
4 Menschenwürde als normative Grundlage
stellen. Reicht es nicht aus, auf die Gerechtigkeit als moralisches Prinzip zu verweisen? Wie bereits im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, enthält das Verständnis von Gerechtigkeit implizite Verweise auf die menschliche Würde, jedoch steht das Verständnis von Würde nicht im Fokus. Durch den Würdebezug werde ich deutlich machen, wie fundamental das moralische Problem ist und die besondere Qualität der Verletzung durch die Würde aufzeigen. Die breite Diskussion zu den moralischen Fragen, die sich ergeben, verstehen Armut in erster Linie als Gerechtigkeitsproblem190 oder als Verhinderung eines guten Lebens191. Einige Autoren haben den Armutsdiskurs um die Frage nach verletzter menschlicher Würde erweitert.192 Um zu erklären, warum hier die Würde im Fokus stehen soll, werde ich darlegen, welche Aspekte bei dem Fokus auf andere moralische Prinzipien oder Kategorien nicht berücksichtigt werden können und weshalb es eben deswegen interessant ist, die Perspektive der Würde näher zu beleuchten. Die Lebenssituation armer Menschen in Hinblick auf den moralischen Anspruch menschlicher Würde zu untersuchen, bringt eine neue Dimension des moralischen Problems zutage. Auf diese Weise erhalten wir Auskunft darüber, inwiefern die Würde der betroffenen Menschen von Armut und Hunger bedroht oder gar verletzt wird. Neben den ersten Hinweisen, dass ein Leben in
190
191
192
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte; Gosepath, Stefan, Ein menschenrechtlicher Anspruch auf Grundsicherung, in Zeitschrift für Menschenrechte, Menschenrechte und Armut, Jg. 2, Nr. 2, S. 26 39; Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik. Vgl. Sen, Ökonomie für den Menschen; Nussbaum, Martha Craven, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt am Main: 2009; Nussbaum/Sen, The quality of life. Vgl. Neuhäuser, Zwei Formen der Entwürdigung: Relative und absolute Armut; Schaber, Peter, Globale Hilfspflichten, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik, S. 139 151; Schaber, Peter, Absolute Poverty: Human Dignity, Self-Respect, and Dependency, in Kaufmann/ Kuch/ Neuhaeuser/ Webster, Humiliation, Degradation, Dehumanization; S. 151 158; Nussbaum, Frontiers of justice.
4.1 Menschenwürde als normativer Bezugspunkt
119
Armut möglicherweise Gefahren für ein menschenwürdiges Leben mit sich bringt, sind es scheinbar moralisch paradoxe Situationen, denen Betroffene ausgesetzt sind, die eine Klärung entwürdigender Elemente notwendig machen. Was macht Armut zu einer Entwürdigung? Da der Begriff der Menschenwürde zum einen eine Begründungsfunktion abgeleiteter moralischer Normen besitzt und zum anderen selbst als eine moralische Norm (unter anderen) verstanden wird, ist zu klären, welche Rolle das Verständnis von Würde im Hintergrund anderer moralischer Kategorien spielt. Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass der Bezug auf die Würde nicht nur legitim ist, sondern auch gewinnbringend für die Erfassung des moralischen Problems, das sich durch Armut und Hunger ergibt. Die Würde spielte bisher nur eine nebengeordnete Rolle in dem moralischen Diskurs über Armut. Dennoch tauchen Verweise auf die Würde immer wieder auf und deuten darauf hin, dass bestimmte Situationen die Würde nicht unbeschadet lassen oder mit einem Leben in Würde nicht vereinbar sind. So wird in zahlreichen entwicklungspolitischen Kontexten auf die Menschenwürde verwiesen. Schon bevor of life so degrading as to 193 bestimmte, taucht die Würde immer wieder auf, wenn es um den Schutz von Menschen vor großer Armut ging. In der Weimarer Verfassung von 1919 wurde in Artikel 151 festgeschrie[d]ie Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen ben
193
McNamara, Address to the Board Governors, World Bank.
120
4 Menschenwürde als normative Grundlage
der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschen194
Auch wenn in den sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts der Begriff der Würde keine zentrale Rolle spielte, waren die politischen Anliegen mit Forderungen verbunden, Abhängigkeiten, Demütigungen, Ausbeutung und Knechtschaft zu überwinden. Wird der Begriff der Würde in politischen und zivilgesellschaftlichen Kontexten gebraucht, bleibt der Gehalt zumindest unterbestimmt. Auch in philosophischen Debatten wird auf die Würde verwiesen, ohne dass die Würde näher thematisiert wird. So wird in der Debatte zur Gleichheit und Gerechtigkeit an einigen Stellen auf menschenwürdiges Leben verwiesen, jedoch ohne den Verweis näher zu erörtern.195 Ohne auch schon eine genaue Vorstellung davon zu haben, was der Begriff der Würde alles beinhaltet und wie er philosophisch begründet wird, scheint es zunächst intuitiv einleuchtend, dass ein Leben in großer Armut eine Gefahr für die menschliche Würde darstellt. Wir sprechen von unwürdigen Lebensbedingungen in Gefangenen- oder Flüchtlingslagern, wir beschreiben es als unwürdig, wenn Menschen aufgrund ihrer Armut gezwungen sind zu betteln und es erscheint uns schwierig vorstellbar, wie ein Leben mit weniger als einem Dollar Kaufkraftparität würdevoll gestaltet werden kann. Diese Intuitionen haben häufig selbstevidenten Charakter. Wer nicht versteht, dass es men-
194
195
WRV, Art. 151, 1; Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Art. 151,1, aus: Hildebrandt, Horst(Hg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts: Verfassungen des 19. Jahrhunderts; vollständige Texte, einschließlich aller außer Kraft gesetzten Artikel und Textfassungen 58, Paderborn [u.a.]: 1992, S. 69. Vgl. Krebs, Angelika (Hg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit: Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt am Main: 2000, S. 18.
4.1 Menschenwürde als normativer Bezugspunkt
121
schenunwürdig ist, wenn Kinder sich ihr Essen auf einer Müllkippe zusammensuchen müssen, dem wissen wir häufig im ersten Moment nichts zu entgegnen. So verbreitet die geteilte Intuition auch ist, dass ein Leben in großer Armut menschenunwürdige Lebensbedingungen verursacht, es lässt sich auf diese Weise nicht überzeugend zeigen, was das moralische Problem ausmacht. Diese Intuition soll ernst genommen und als Ausgangspunkt meiner Fragen dienen. So kann expliziert und ergründet werden, worin die Gefahren für ein menschenwürdiges Leben liegen. Inwiefern ist das Gefühl berechtigt, dass es grundlegend falsch ist, jemanden verhungern oder in elenden Bedingungen leben zu lassen? Können die partiellen Verweise auf eine gefährdete Würde und eine geteilte Intuition hinsichtlich der Gefahren für ein würdiges Leben begründen, inwiefern es philosophisch interessant ist, die menschliche Würde als moralischen Bezugspunkt anzuführen? Schließlich lassen sich viele Gegenbeispiele finden. So ist es auffällig, dass in der gesamten Auseinandersetzung mit der sozialen Frage und der Entstehung der sozialen Bewegung in Europa die Menschenwürde nicht zum zentralen Begriff geworden ist. Außerdem ist es fraglich, wie weit die Intuition tatsächlich trägt. Gerade wenn es darum geht, etwas gegen die massiven Herausforderungen der globalen Armut zu unternehmen, wenden wir uns von dem Problem ab. D.h. möglicherweise ist die Intuition, dass die Würde gefährdet wird, nur eine emotionale Reaktion darauf, wenn wir hungernde Kinder im Fernsehen oder in der Zeitung sehen. Nicht aber veranlasst die Armut breite Massen, sie als moralisches Problem ernst zu nehmen und es zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen.
122
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Ein Einwand könnte sein, dass diese partiellen und unsystematischen Anrufungen tatsächlich nur sprachliche Ungenauigkeiten oder Verlegenheiten sind, die keinen eigentlichen Aussagewert haben. Sie könnten entweder nur rhetorisch geschickte Formulierungen sein, um einer Position oder einem Argument zusätzlichen Pathos zu verleihen oder als unhintergehbare Begründung verwendet werden. In diesem Fall würden die Vorbehalte gegen den Würdebegriff Recht behalten, die der Auffassung sind, dass menschliche Würde als moralische Kategorie nicht brauchbar oder sogar gefährlich ist. Ob ein Leben in Armut tatsächlich eine Gefahr für die menschliche Würde darstellt, lässt sich an dieser Stelle noch nicht beantworten; jedoch lässt sich die Frage danach legitimieren. Die Hoffnung ist, mit dieser Frage eine spezifische Sichtweise auf das moralische Problem herauszuarbeiten, die zu einem angemesseneren und umfassenderen Verständnis desselben beiträgt. Insofern soll meine Perspektive eben nicht Analysen ersetzen, die darauf abzielen zu klären, was an Armut ungerecht ist, oder inwiefern Menschenrechte verletzt werden, sondern um das Verständnis minimaler Anforderungen für ein menschenwürdiges Leben ergänzen. Ein weiterer Grund, die Würde einzubeziehen, ergibt sich aus Widersprüchen, denen sich die praktische Arbeit im Umgang mit Armut ausgesetzt sieht. Es gibt Berichte darüber, dass armen Menschen aus moralisch guten Gründen geholfen werden sollte, allerdings andere moralische Probleme erst durch die Hilfe aufgeworfen wurden. Das Problem moralischer Zielkonflikte spielt in der Bekämpfung von Armut eine nicht zu vernachlässigende Rolle. So werden immer wieder Vorwürfe laut, dass Hilfsmaßnahmen bestimmte Menschen diskriminieren, unfair behandeln oder aber sogar selbst dazu führen, dass die Menschen ihre Freiheit verlieren, Ungleichheiten verstärken oder
4.1 Menschenwürde als normativer Bezugspunkt
123
schaffen. Die Geschichte der Nothilfe, aber auch der Entwicklungszusammenarbeit stellt insofern einen Lernprozess dar, indem immer wieder nichtintendierte, aber indizierte moralische Konflikte auftauchen, mit denen umgegangen werden muss. Angesichts dieser Probleme ist es unabdingbar, es nicht nur bei einem intuitiven Gebrauch des Würdebegriffs zu belassen, sondern systematisch etwas über den Bereich möglicher entwürdigender Praktiken oder Verhältnisse aussagen zu können. Schließlich wäre es kontraproduktiv, wenn sich die einzelnen moralischen Anforderungen gegenseitig ausschließen würden und es zu einer Abkehr vom eigentlichen Problem käme, da zu viele moralische Unwägbarkeiten im Wege stehen. Zumindest besteht die Hoffnung, dass es sich in den praktischen Fällen nicht ausschließlich um Fälle echter moralischer Dilemmata handelt, sondern in vielen Fällen ein klares Verständnis der moralisch komplexen Situation zu einer Auflösung des Konfliktes führen kann. Allerdings ließe sich auch in Fällen, in denen es sich um ein echtes moralisches Dilemma handelt, ein angemessenerer Umgang damit finden, als schlicht etwas Unmoralisches zu ignorieren. Diese paradoxen Situationen dürfen nicht dazu führen, dass sie zu einer Überforderung (im moralischen Urteilen) oder Untätigkeit in Situationen führen, in denen anderen Menschen geholfen werden muss. Insofern ist es dringend geboten, dass ein größeres Maß an moralischer Klarheit dem verantwortlichen Handeln eine größere Legitimität verleiht. Ein weiterer Grund, warum es sinnvoll ist, die Perspektive der Würde näher zu untersuchen ist, dass der Begriff der Würde im Sinne einer grundlegenden moralischen Norm verstanden wird. Denn Würde wird nicht nur als eine Norm unter anderen angesehen, sondern stellt einen besonderen und besonders grundlegenden moralischen Anspruch dar. Inwiefern der Würde ein besonderer Status unter den moralischen
124
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Normen zukommt, wird im nächsten Abschnitt über die verschiedenen Konzeptionen der Würde noch zu klären sein. Wenn der moralische Anspruch, dass die menschliche Würde eines jeden geachtet werden soll, als grundlegendend für die Geltung von Menschenrechten, die Forderung nach Gerechtigkeit oder als Ermöglichung irgendeines guten Lebens, anzusehen ist, dann sind auch Verletzungen der Würde keine gewöhnlichen Verstöße gegen die Moral. Wenn der Würde eine so grundlegende moralische Bedeutung in unserem normativen Verständnis zukommt, gilt es besonders zu verstehen, was es bedeutet, wenn die menschliche Würde gefährdet wird. Gerade wenn wir der Würde fundamentale moralische Bedeutung zuschreiben, wäre es fatal, den Umgang mit dieser Würde nicht moralisch zu beurteilen. Da es sich bei der Forderung nach einem menschenwürdigen Leben einerseits um eine fundamentale Forderung und anderseits um ein spezifisches moralisches Problem handelt, das nicht durch andere moralischen Kategorien substituiert werden kann, ist es unabdingbar, potenzielle Verletzungen von Würde zu untersuchen und gegebenenfalls zu identifizieren. 4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel Der Begriff der menschlichen Würde oder der Menschenwürde hat eine umfangreiche Geschichte. Eine kurze kritische Betrachtung der Begriffsgeschichte verdeutlicht die systematischen Schwächen in der Interpretation von Würde. Daran schließt sich ein Vorverständnis von Würde an, welches der weiteren Betrachtung zugrunde gelegt wird. Die Ideengeschichte der menschlichen Würde ist denkbar lang und vielfältig. Die Bedeutung des Begriffs hat sich immer wieder verändert und ist unterschiedlich interpretiert worden, so dass es viele Antworten
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
125
auf die Fragen gibt, was die menschliche Würde fordert, worin sie besteht, und wem sie zukommt. Zunächst wurde Würde als Zuschreibung eines besonderen Wertes von Menschen verstanden, aus dem normative Ideale für das Verhalten und Leben abgeleitet wurden. Erst mit Immanuel Kant wurde das Verständnis von menschlicher Würde grundlegend verändert und nunmehr als moralischer Anspruch verstanden. Eine Erweiterung hat der Würdebegriff dann mit der Aufnahme in das Recht im 20. Jahrhundert erfahren. Anhand dieser drei Linien sollen wichtige Aspekte der Bedeutung von Würde verstanden und nachvollzogen werden.
Den Begriff der Würde als ein normatives Ideal zu interpretieren, bedeutet, dass einigen Menschen eine besondere Würde zuerkannt wird, die auf Leistung beruht. Menschliche Würde als normatives Ideal beinhaltet einerseits, die Träger von Würde auszuweisen und zu begründen, worin ihre Würdigkeit besteht. Andererseits ergeben sich aus dieser Würde wiederum Normen und Ideale, wie ein Wesen, das würdeverleihende Eigenschaften besitzt, sich angemessen verhalten soll. Auch das heutige Verständnis von menschlicher Würde wurzelt in einer Konzeption von Würde, die keineswegs allen Menschen Würde zuspricht. Die antike Vorstellung einer sozialen Würde (dignitas)196 entsprach gerade nicht der heute etablierten Sicht, dass jedem Menschen eine gleiche Würde zukommt. Die Achtung einer besonderen Würde leitet sich bei Cicero aus bestimmten gesellschaftlichen Funktionen und Ämtern ab.
196
Vgl. Kondylis, Panajotis, Würde, in Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Vol. 7, (Hg.) Brunner, Otto/ Conze, Werner/ Koselleck, Stuttgart: 2004, S. 637 677, S. 637; Pöschl, Viktor, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, Heidelberg: 1990, S. 13 f.
126
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Wer Würde besaß, gehörte nicht nur der gesellschaftlichen Schicht der Nobilität an, sondern musste sich durch persönliche Leistungen als solcher würdig erweisen. Diese Würde ist an die Erfüllung von Aufgaben und das Erbringen von Leistungen gebunden. So sollte ein Richter sich würdevoll verhalten, aber er kann auch, wenn er der Würde seines ihm verliehenen Amtes nicht gerecht wird, dem Vorwurf ausgesetzt sein, sich würdelos zu verhalten, wenn er sich z.B. von einer Partei kaufen lässt. Die Würde, die mit dignitas gemeint ist, kann also sowohl erworben werden (durch bestimmte Leistungen), als auch verloren gehen, wenn Leistungen gemäß der gestellten Anforderungen nicht erbracht werden. Die Würde des Menschen wird schon hier auf die Begabung zur Vernunft des Menschen zurückgeführt, jedoch derart verstanden, dass sich der Mensch dieser Begabung entsprechend als würdig erweisen muss. Das heißt, nur wer gemäß eines normativen Ideals lebt und sich verhält, wird seiner Fähigkeit zur Vernunft gerecht und hat damit Würde. Cicero entwirft ein antihedonistisches Lebensideal, in dem sich der Mensch seiner selbst würdig erweist. Die Fähigkeit zur Vernunft und zur Selbstdistanzierung muss genutzt werden, um ein Leben in Würde zu führen.197 Wer dies nicht tut und sich seiner tierischen Natur unterwirft, hat auch keine Würde. Da sich die Würde der Menschen in diesem Verständnis daran bemisst, was ein Mensch aus seiner Vernunft macht, ist die Würde auch nicht gleich unter den Menschen verteilt. Dieses Verständnis von Würde ist eng mit dem heutigen Verständnis von Ehre verknüpft. Dass jemand aufgrund besonderer Leistungen Respekt erfährt und besonders hoch geachtet wird, entspricht auch heute noch wertschätzender Praxis. Im Gegensatz zu grundlegender Achtung meint dieses Verständnis von (sozialer) Würde eine Hochachtung entsprechend herausragender Leistungen. Insofern ist die soziale 197
Vgl. Cicero, De officiis I, 105, 153, Cicero, Marcus Tullius, De officiis: Lateinisch und deutsch = Vom pflichtgemäßen Handeln, Stuttgart: 2010, S. 93 95, 135.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
127
Würde notwendig hierarchisch verteilt. Zwar erfordert die Würde einiger hochstehender Personen, dass ich mich ihnen gegenüber auch entsprechend verhalte, allerdings ist dies nicht als eine moralische Pflicht zu interpretieren. Vielmehr stellt es eine Forderung an gesellschaftliche Verhaltensnormen dar.198 Diese Vorstellung von Würde ist insofern kontingent, als sich die Vorstellungen darüber, wie ein würdevolles Verhalten vernunftbegabter Wesen aussieht, verändern können. Ebenso spielt der expressive Charakter eine wichtige Rolle, denn es geht darum, der Würde auch Ausdruck zu verleihen. Ein würdiges Auftreten ist für besonders geachtete Personen wichtig, damit sie ihrer Würde auch gerecht werden. Aber auch der aufrechte Gang des Menschen im Gegensatz zur kriechenden, tierischen Natur findet schon Erwähnung, weil er augenscheinlich dieses würdevolle Wesen hervorhebt.199 Auch wenn sich der Begriff im weiteren Verlauf der Ideengeschichte grundlegend geändert hat, bleiben Elemente dieser dignitas bedeutsam für den Würdebegriff.200 Die besondere Wertschätzung und Hochachtung, die in der sozialen Würde zum Vorschein kommt, geht auch mit den Bedeutungsveränderungen nicht verloren. Zwar ist Cicero auch der erste, der auf eine universale Würde verweist, die er allen Menschen zuschreibt, allerdings kann diese bei ihm nur als eine Residualwürde
198
199 200
Vgl. Hartlieb, Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, S. 208 f. Vgl. Cicero, De officiis I, 105 107, S. 93 95; Kondylis, Würde, S. 643 f. Vgl. Stoecker, Ralf, Three Crucial Turns on the Road to an Adequate Understanding of Human Dignity, in Kaufmann/ Kuch/ Neuhaeuser/ Webster, Humiliation, Degradation, Dehumanization, S. 7 17, S. 14.
128
4 Menschenwürde als normative Grundlage
verstanden werden, aus der sich keinerlei Schutzpflichten ableiten lassen.201 Insofern hat die bei Cicero erwähnte universale Würde nicht viel mit unserem heutigen normativen Gebot gemein, das sich aus der menschlichen Würde ergibt. Eine Umdeutung des Begriffs der Würde erfolgt im Kontext einer christlich/religiösen Interpretation. Der Ausdruck Würde bzw. Menschenwürde kommt in der Bibel nicht vor, aber Beschreibungen des Menschen werden später mit diesen Ausdrücken verknüpft.202 Die Würde wird als Mitgift Gottes verstanden und aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen abgeleitet. Denn in der christlichen Lehre wurden die Menschen durch Gott erschaffen und nur durch ihn konnten die Menschen Erhabenheit und Herrlichkeit erhalten. Zentral ist hierfür die Schöpfungsgeschichte der christlichen Bibel: gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Men203
Der Kreis der Träger von Würde wird auf alle Menschen ausgeweitet, denn die Würde kommt ihnen als Kindern Gottes zu. Die Ordnung der Welt und der in dieser befindlichen Dinge werden als hierarchisches Stufenkonzept entworfen, in dem der Mensch die Krone der 201
202 203
Vgl. Stoecker, Ralf, Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde und wie sie sich vielleicht auflösen lassen, in ZiF Mitteilungen, Nr. 01 (2010), S. 19 30, S. 21. Vgl. Wetz, Franz J.(Hg.), Texte zur Menschenwürde, Stuttgart: 2011, S. 38. Genesis 1, 26 27, zitiert nach: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Nach dem 1912 vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß genehmigten Text. Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
129
Schöpfung darstellt.204 Aber auch hier wird die menschliche Würde als etwas verstanden, das ein auf bestimmte Weise gelebtes Leben erfordert. Zwar kann die Würde nicht verloren gehen, da sie von Gott verliehen wurde, aber wer nicht entsprechend der göttlichen Gebote lebt, lebt ein würdeloses Leben. Weil die Würde von Gott verliehen ist, stellt die Würde eine Mitgift dar. Darüber hinaus wird zumeist der Besitz an Würde auf zweierlei Weise verstanden. Zum einen stellt die Würde ein Wesensmerkmal aller Menschen dar, weil alle Menschen von Gott geschaffen wurden und alle über die von ihm verliehene Wesenheit verfügen. Zum anderen ist mit diesem Wesensmerkmal eine Idee verbunden, wie das Leben gestaltet werden soll. Es klingt schon an, dass die menschliche Würde im Sinne einer Würde der Person verstanden werden muss. Die Vorstellung einer vernunftbegabten Person als Träger von Würde, die an die Menschwerdung Gottes anknüpft bzw. nach seinem Bild entstanden ist, entwirft im Mittelalter Thomas von Aquin. Die Menschenwürde ist hier ein Wesensmerkmal der Menschen als Ebenbild Gottes und zugleich Gestaltungsauftrag. 205 Für die Entwicklung des Verständnisses von menschlicher Würde ist der Gedanke der Universalisierung wichtig. Allen Menschen kommt eine besondere Würde zu. Es liegt in ihrem Menschsein begründet, dass sie als Träger von Würde gelten. Diese normativen Bestimmungen umfassen in erster Linie moralische Pflichten, die sich auf das eigene Verhalten und die eigene Lebensgestaltung beziehen. Wenn wir darin scheitern, ein würdiges Leben zu führen, werden wir unserer verliehenen Würde nicht gerecht. Das bedeutet, dass ein menschenwürdiges Leben nur haben kann, wer nach den Geboten Gottes lebt, und sich
204 205
Vgl. Hartlieb, Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, S. 193. Vgl. Wetz, Texte zur Menschenwürde, S. 68.
130
4 Menschenwürde als normative Grundlage
an ein striktes religiöses Konzept hält. Auffällig ist, dass mit der Zuschreibung von Würde häufig nicht, wie später in der Zeit der Renaissance und des Humanismus, auf die besonders wertvollen Eigenschaften der Menschen verwiesen wird, sondern vielmehr das menschliche Elend und das sündige Leben der Menschen im Mittelpunkt steht. Um der göttlich verliehenen Würde zu entsprechen, muss das angeprangerte, würdelose Leben überwunden werden und im Sinne einer kirchlichen Disziplinierung durch eine religiöse Lebensführung ersetzt werden.206 Zwar kann ein religiöses Verständnis von menschlicher Würde nicht als Grundlage für ein universalistisches Konzept der Würde dienen, dennoch sind in dieser Tradition einige Elemente enthalten, die zu berücksichtigen sind. Zum einen ist es die Überlegung, dass allen Menschen eine spezifische menschliche Würde zugeschrieben wird, d.h. Würde zu einer universalen menschlichen Eigenschaft wird. Zum anderen wird die Würde zu einer Würde, die jedem Menschen gegeben ist, d.h. sie kann als potenziell inhärente Würde verstanden werden. Auch wenn im rechtlichen Bereich bewusst auf religiöse Bezüge verzichtet wird207, sind verschiedene religiöse Bilder menschlicher Würde weiterhin relevant. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, insofern diese Bilder sich nicht im Widerspruch zu einem minimalistischen und universellen Verständnis menschlicher Würde stehen. Dennoch darf die Vereinnahmung des Würdebegriffs durch religiöse Positionen nicht dazu führen, dass er von der philosophischen Ethik aufgeben wird.
206
207
Vgl. Hartlieb, Die Menschenwürde und ihre Verletzung durch extreme Armut, S. 194, 216; Sedmak, Clemens(Hg.), Option für die Armen: Die Entmarginalisierung des Armutsbegriffs in den Wissenschaften, Freiburg im Breisgau: 2005. Vgl. Jaber, Dunja, Über den mehrfachen Sinn von Menschenwürde-Garantien: Mit besonderer Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, Frankfurt am Main: 2003, S. 182.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
131
Vielmehr gilt es, menschliche Würde unabhängig von Glaubenszugehörigkeit und Glaubensinterpretationen als moralphilosophisches Konzept zu erfassen. Im weiteren Verlauf der ideengeschichtlichen Genese von menschlicher Würde rückt immer mehr die Freiheit des Menschen in den Mittelpunkt. In der Renaissance beginnt die Tradition, die Würde über die menschlichen Eigenschaften der Vernunft und der Fähigkeit, das Leben frei zu gestalten, zu begründen. Der Mensch wird in dieser Zeit als besonders edles und wertvolles Wesen darstellt. In Abgrenzung zum mittelalterlichen Bild menschlicher Sündhaftigkeit werden Bilder des Menschen beschrieben, die besonders auf den hohen Wert und die Schönheit menschlichen Lebens verweisen.208 Für die Geschichte des Würdebegriffs sind an dieser Stelle zwei Werke der Renaissance prägend. In Manettis Werk Über die Würde und Erhabenheit des Menschen209 wird der Mensch in seinen körperlichen und geistigen Eigenschaften beschrieben. Die menschliche Würde ergibt sich aus seiner Beschaffenheit: kurz wie möglich zu sagen, erscheint denen, die sie betrachten, so klar als die edelste von allen, daß dies überhaupt nicht bezweifelt oder bestritten werden kann. Denn sie ist in einer Weise aufgerichtet und hoch, daß offenbar zu Recht der Mensch über all die übrigen Lebewesen, die zur Erde geneigt und zum Boden gedrückt sind, gleichsam als ihrer aller alleiniger Herr, König und Kaiser im ganzen Erdkreis 210
208 209
210
Vgl. Wetz, Texte zur Menschenwürde, S. 73 ff. Manetti, Giannozzo, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen: De dignitate et excellentia hominis, Hamburg: 1990. Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, Erstes Buch, 36, S. 25.
132
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Besonders aufmerksam beschreibt Manetti den menschlichen Körper und sieht in seinem Aufbau, seiner Gestaltung und seinen Funktionen den Ausdruck der Würde des Menschen. Diese besondere Stellung des Menschen im Kosmos wird in der Renaissance mit der Idee der Würde verbunden. In Pico della Mirandolas Rede über die Würde des Menschen211 ergibt sich die menschliche Würde aus der Freiheit des Menschen, sich selbst und sein Leben zu gestalten. Mit dieser Freiheit ausgestattet, kommt den Menschen eine herausragende Stellung in der Welt der Schöpfung zu. Nicht weil er von Gott geschaffen ist, sondern wie der Mensch geschaffen ist, stellt den Grund der Würde dar. Auf der Suche nach einer geeigneteren Antwort, warum nichts würdiger erscheine als der Mensch, gibt Pico die Erklärung, dass die besondere Eigenart des Menschen darin besteht, dass er nicht auf ein bestimmtes Leben festgelegt ist, sondern es nach seinem eigenen Willen gestalten kann: Gebildes ohne besondere Eigenart, stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und redete ihn so an: Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und die alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. 212
Diese menschliche Fähigkeit liegt darin, sich selbst zu entwerfen und dabei nicht eine Wahl nach bestimmten normativen Vorgaben zu treffen. Der freie Wille verleiht allen Menschen Würde. Weil es in dieser
211
212
Della Pico Mirandola, Giovanni, Oratio de hominis dignitate: Lateinisch-deutsch = Rede über die Würde des Menschen, Stuttgart: 1997. Vgl. Della Pico Mirandola, Oratio de hominis dignitate S. 7, 9.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
133
Schilderung nicht mehr darauf ankommt, ein normatives Ideal zu erfüllen, kann Picos Würde als eine inhärente Würde interpretiert werden, die ihr Träger nicht mehr verwirken oder verlieren kann. Zwar werden auch Hinweise auf den besseren Gebrauch213 gegeben, so wird ihr Träger dennoch nicht würdelos, wenn er nicht gemäß dieser Empfehlung handelt. Es lässt sich aus der Würde ein Gestaltungsauftrag ableiten, aber nicht in der tatsächlichen Gestaltung, sondern in der Möglichkeit dazu liegt die menschliche Würde begründet. In der Neuzeit schließen die Beschreibungen menschlicher Würde an traditionelle Bestimmungen an, erfahren aber mit dem Naturrecht eine neue Wendung. Bei Pufendorf214 kommt den Menschen eine natürliche Würde zu. Weil ihnen allen gemeinsam diese Würde zukommt, entwirft Pufendorf die Idee der Gleichheit aller Menschen. Hier werden zum ersten Mal nicht nur die Würde in Bezug auf das eigene Leben thematisiert, sondern auch die Konsequenzen für das gemeinsame Leben der Menschen als gleiche Würdeträger. Es gilt, nicht im Sinne der eigenen Würde bestimmte Pflichten zu erfüllen, sondern weil allen Menschen die gleiche Würde zukommt, wird zum ersten Mal ein normativer Anspruch an das Verhalten anderer Menschen formuliert. Demnach haben nicht nur alle Menschen eine Würde, sondern es soll die natürliche Gleichheit der Menschen anerkannt werden. So leitet Pufendorf die aß jeder jeden anderen Menschen als jemanden, der ihm von Natur aus gleich ist und in gleicher Weise Mensch ist, ansieht und 215 . Pufendorf leitet aus einem Gefühl der Selbstachtung ab, 213 214
215
Vgl. Della Pico Mirandola, Oratio de hominis dignitate, S. 13. Vgl. Pufendorf, Samuel von, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Frankfurt am Main: 1994. Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, S. 78, §1.
134
4 Menschenwürde als normative Grundlage
dass jeder Mensch ebenfalls Achtung verdient.216 Die Idee einer menschlichen Würde, die allen Menschen zukommt, wird nun auch mit dem Gedanken verknüpft, dass sich aus dieser Würde Ansprüche gegenüber anderen Menschen ableiten lassen. Der Einbezug des Anderen beginnt hier, für das Verständnis menschlicher Würde relevant zu werden. Gemein ist dem Verständnis der Würde bis dahin, dass sie etwas von besonderem Wert auszeichnet. Ob Leistung, gesellschaftliche Stellung, Stellung der Menschen in der göttlichen Ordnung oder des Kosmos, der Fähigkeit zur Vernunft, die Würde zeichnet den Menschen aus. Es handelt sich um ein Ideal, das in der Welt mit entsprechendem Verhaltens- und Handlungsnormen verbunden ist. Die Würde erscheint in dieser Perspektive wie eine menschliche Pflicht, deren Erfüllung einigen Menschen vorbehalten bleibt.
Eine grundlegende Wendung nahm die Interpretation der Würde mit der Universalisierung. Würde wird zu einer moralischen Kategorie. Menschliche Würde ist in Kontexten relevant, in denen es um moralische Beziehungen und Handlungen geht. Dort beschreibt die Würde die Grenze des moralischen Umgangs miteinander, die nicht überschritten werden darf. Dabei richtet sich das moderne Verständnis von Würde gerade nicht darauf, wie der Einzelne sein Leben gestalten soll, wie es in den Vorgaben der antiken und mittelalterlichen Würdekonzeptionen war, sondern darauf, wie wir als Menschen miteinander umgehen sollen und dürfen. Die ideengeschichtliche Revolution des Würdebegriffs beginnt mit Immanuel Kant. Seine Konzeption hat
216
Vgl. ebd.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
135
maßgeblich die weitere Entwicklung des Verständnisses von Würde geprägt. Das moderne Verständnis von menschlicher Würde ist ohne den Rekurs auf Kant nicht nachvollziehbar. Besonders im modernen deutschen Rechtsdiskurs spielt das kantische Würdeverständnis eine nachhaltige Rolle. Kant etabliert die menschliche Würde als zentralen Begriff in einer Moral der gleichen Achtung.217 Die Begründung der Würde bei Kant erfolgt nicht durch metaphysische Entität (Gott) verliehene Wesenshaftigkeit oder Eigenschaften. Vielmehr ist es die Eigenschaft des Menschen selbst, aus der sich seine besondere Würde ergibt. Weil der Mensch ein Vernunftwesen und insofern fähig ist, sich seine moralischen Gesetze selbst zu geben, kommt ihm laut Kant eine besondere Würde zu.218 Theoretisch ist die Würde keine spezifisch menschliche Eigenschaft, sondern kommt allen Vernunftwesen zu. Aber die menschliche Fähigkeit zur Vernunft, die die menschliche Autonomie ausmacht, verleiht den Menschen die besondere Würde. ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen 219 Die Autonomie des Menschen stellt also den Grund seiner Würde dar. Autonomie ist also diejenige Eigenschaft, die den Menschen besonders auszeichnet. Die Fähigkeit, sich von Begierden frei zu machen und nach (anderen und besseren) Gründen zu handeln, eröffnet die Möglichkeit des Menschen, sich als moralisches Wesen zu verstehen und nach moralischen Gründen zu handeln. Um was für eine Würde handelt es sich bei Kant? Er beschreibt sie im Sinne eines absoluten Werts einer jeden Person. Dieser Wert muss
217 218 219
Vgl. Kant, MS, AA (VI): 462, 18 32. Vgl. Kant, GMS, AA (IV): 436, 1 7. Kant, GMS, AA (IV): 436, 6 7.
136
4 Menschenwürde als normative Grundlage
nicht erst durch Leistungen erworben werden, sondern er kommt jedem Menschen als Vernunftwesen zu. Dieser absolute Wert kann nicht gegen andere Werte abgewogen oder diesen gegenübergestellt werden. Auch kann der Mensch seine Würde nicht mehr durch ehedem sogenanntes unwürdiges Leben verlieren. Die Würde ist unveräußerlich und unverlierbar. Zwar kann ein unwürdiges Leben dazu führen, dass man weniger geachtet wird, aber seinen Anspruch auf Achtung als Mensch kann man nicht verlieren. Um die Würde des Menschen zu achten, ist das menschliche Handeln moralisch begrenzt. Der Mensch hat Pflichten gegen sich selbst, d.h. er muss seine eigene Würde achten, aber insbesondere werden Pflichten gegenüber allen anderen Menschen etabliert. 220 Weil die Würde nichts anderes heißt, als dass jeder Mensch einen absoluten Wert hat, muss diese Würde von allen Menschen auch geachtet werden. Was es bedeuteten soll, einen anderen Menschen in seiner Würde zu achten, wird mit der sogenannten Selbstzweckformel beschrieben: Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Hand221
Kant bezieht dieses Verständnis des Menschen in Hinblick auf die geMenschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden an222
220 221 222
Vgl. Schaber, Peter, Menschenwürde, S. 46; Kant, GMS, AA (IV): 429, 10 13. Vgl. Kant, GMS, AA (IV): 428, 8 12. Vgl. Kant, GMS, AA (IV): 429, 10 12.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
137
Zwar ist es legitim, andere Menschen für die eigenen Zwecke zu nutzen, sonst würde die Dienstleistungsgesellschaft in große Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer moralischen Legitimität kommen. Jedoch darf niemand derart herabgewürdigt werden, dass er nur noch ein Mittel, und eben damit keinen Selbstzweck für andere mehr darstellt. Was es bedeutet, jemanden nur als ein Mittel zu behandeln, wird meist in der Verbindung mit den kategorischen Imperativen erfasst. Es muss einer Behandlung vernünftigerweise zugestimmt werden können.223 Wenn dies nicht der Fall ist, dann ist der moralische Anspruch auf Achtung der Würde verletzt. Es gilt außerdem für alle Personen die Pflicht, die eigene Würde zu achten. Auch sich selbst darf niemand so behandeln, dass die innewohnende Würde missachtet wird. Das Gebot, Personen nicht zu instrumentalisieren, gilt für die eigene Person genauso wie für alle anderen. Durch welches Handeln die eigene Würde verletzt wird, beschreibt Kant anhand einiger Beispiele. Demnach sind die Lüge, Kriecherei und auch der Suizid nicht erlaubt, weil sie der menschlichen Würde widersprechen.224 Da Kant auch eine Gefahr für die Würde sieht, wenn die Menschen sich ihren Bedürfnissen hingeben, wie bei Völlerei oder Selbstbefriedigung, bleibt unklar, ob immer die inhärente Würde gemeint ist oder aber ob auch Kant hier von einem schwächeren Verständnis spricht. Außerdem ist umstritten, inwiefern Pflichten gegen sich selbst überhaupt überzeugend sind, da der Pflichtträger und der Pflichtempfänger ein und dieselbe Person sind und sich insofern keine Pflicht auferlegen können, die sie brechen könnten.225
223
224 225
Vgl. Schaber, Peter, Instrumentalisierung und Würde, Paderborn: 2010, S. 28 f.; Schaber, Menschenwürde, S. 42. Vgl. Kant, MS, AA (VI): 422 437. Vgl. Schaber, Instrumentalisierung und Würde, S. 70.
138
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Das grundlegende Würdeverständnis von Kant prägt die philosophische Interpretation der Würde. In diesen Würdekonzeptionen spielt das Instrumentalisierungsverbot des Menschen eine zentrale Rolle. Die starke Tradition, die menschliche Würde mit Kants Selbstzweckformel, die menschliche Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung und seinen kategorischen Imperativen zu verstehen, stellt eine nach wie vor verbreitete Interpretation von Würde dar. Daran schließt sich die Frage an, ob ein derartiges Würdeverständnis alle Facetten des Würdebegriffs zufriedenstellend einfängt oder ob nicht auch andere Verständnisse der menschliche Würde überzeugender sind. Zumal keine Einigkeit darüber besteht, wie Kant an den Stellen, an denen er sich zu der Würde des Menschen äußert, zu interpretieren ist. Kant verweist innerhalb seiner Schriften an unterschiedlichen Stellen auf die Würde und es ist keineswegs klar, dass der Begriff der Würde bei ihm überhaupt kohärent gebraucht wird.226 Ein Einwand, der gegen das kantische Verständnis von Würde vorgebracht wird, ist, dass diese Würde nicht für alle Menschen gelten kann, da die Würde aus der Fähigkeit zur Vernunft folgt und nicht alle Menschen diese Fähigkeit haben.227 Insofern handelte es sich bei Kant nicht um eine inhärente Würde, die allen Menschen qua ihres Menschseins zukommt, sondern vielmehr um eine Würde, die diejenigen Menschen haben, die über Vernunft verfügen. Ein weiterer Kritikpunkt am Kantischen Verständnis der Würde liegt darin, dass mit ihm Würdeverletzungen nicht angemessen erfasst werden können. Das, was wir gemeinhin als Würdeverletzungen beschreiben, wären nach Kant keine 226
227
Vgl. Kerstein, Samuel J., Kantian dignity: a critique, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 222 229; Höffe, Otfried, Menschenwürde als ethisches Prinzip, in Höffe, Otfried (Hg.), Gentechnik und Menschenwürde: An den Grenzen von Ethik und Recht, Köln: 2002, S. 111 141. Vgl. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 132, 159, 177.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
139
Verletzungen der Würde, und wir müssten moralische Vergehen wie das Lügen als eine Verletzung menschlicher Würde verstehen, wenn wir Kant folgen wollen. Zu guter Letzt schließen sich Zweifel darüber an, inwiefern die Begründung der Würde bei Kant überhaupt überzeugen kann. Denn dass sich aus der menschlichen Fähigkeit zur Vernunft, der Anspruch einer gleichen Achtung ableiten ließe, ist nicht überzeugend.228 Zwar kann mithilfe eines Mindestmaßes dieser Fähigkeiten eine Grundlage formuliert werden, allerdings bleiben immer Menschen ausgeschlossen und es bleibt außerdem unklar, warum nun dieser kleinste gemeinsame Nenner moralische Relevanz besitzen soll und nicht gerade aus dieser Tatsache eine Begründung für eine Achtung und Verteilung der Würde gemäß einer Verteilung der Vernunftfähigkeit erwachsen soll.
Die größte Verschiebung des Würdebegriffs in seiner Genese hat stattgefunden, als seine Bedeutung von äußeren Erscheinungsformen zu einem inneren, unverfügbaren Wert wurde. Die menschliche Würde wird als eine inhärente Würde verstanden. Kant entwarf als Erster die Würde als inhärent und damit unverlierbar und bis heute ist dies eine der fundamentalen Grundnahmen, die dieser Begriff notwendig beinhaltet. Eine inhärente Würde zu haben, meint, dass allen Menschen eine innewohnende Würde zukommt, die sie sich nicht erst verdienen müssen, die nicht an individuelle Eigenschaften oder Talente gebunden ist und auch nicht durch ein unwürdiges Leben beschädigt werden kann. Sie
228
Vgl. Schaber, Instrumentalisierung und Würde, S. 89; Jaber, Über den mehrfachen Sinn von Menschenwürde-Garantien, S. 86.
140
4 Menschenwürde als normative Grundlage
ist von fundamentaler und axiomatischer Bedeutung für die Moralverständnisse, in denen jeder Mensch die gleiche moralische Berücksichtigung findet. Die inhärente Würde, von der auch in den juristischen Deklarationen wie der AEMR und dem deutschen Grundgesetz gesprochen wird, begründet einen grundlegenden normativen Anspruch an alle Menschen. Dazu gehört, dass diese Würde reziprok ist und absolut von allen Menschen anerkannt wird. Denn auch wenn eine Person diesen normativen Anspruch anderer Menschen negiert, verliert sie damit nicht den Anspruch, dass ihre menschliche Würde anerkannt wird. Die philosophischen Streitfragen, die sich aus der Behauptung einer inhärenten Würde aller Menschen ergeben, beziehen sich auf die Trägerschaft und die relevanten Eigenschaften, die diese besondere Würde begründen sollen. Die Frage der Trägerschaft stellt nur für Grenzfälle eine Herausforderung dar. Denn die Behauptung ist gerade, dass allen Menschen diese Würde zukommt. Problematisch wird es erst dann, wenn es darum geht, etwas darüber zu sagen, ob vorgeburtlichem menschlichen Leben diese Würde auch zukommt oder ob gestorbenen Menschen, die noch in moralische Kontexte eingebunden sind, ebenso diese inhärente Würde zugeschrieben werden. In beiden Fällen stellt sich die Frage nach der zeitlichen Trennlinie, nämlich wann einem Menschen Würde zukommt und wie lange auch noch Verstorbene als Träger von menschlicher Würde anzusehen sind. Obwohl diese Streitfragen spannend und wichtig sind, spielen sie keine Rolle für meine Untersuchung. Die Fragen nach den materiellen Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens sind nur nach der Geburt und bis zum Tod des jeweiligen Menschen von Interesse. Mit der Konzentration auf alle lebenden Menschen werden die philosophischen Streitfragen zur Trägerschaft nicht näher thematisiert und im Interesse der eigenen Frage-
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
141
stellung ausgeblendet. Die zweite Streitfrage, die sich an die erste anschließt, ist die Frage, welche besonderen Eigenschaften des Menschen die Würde begründen. Die Probleme und Streitfragen ergeben sich, weil es kaum eine Eigenschaft gibt, die allen Menschen gleichermaßen zukommt wie Vernunftfähigkeiten, oder aber weil eben die Eigenschaften nicht nur Menschen, sondern auch anderen nichtmenschlichen Wesen, wie Tieren die Leidensfähigkeit, zukommen. Die allgemeine Aussage, dass eben allen Menschen eine besondere Würde zukommt, stellt zwar ein zentrales Charakteristikum des modernen Würdeverständnisses dar, muss sich aber gegen den Vorwurf des Speziesismus wehren. Zwar ließe sich die biologische Kategorie des Menschseins anführen, aber wie sich daraus immanent ein moralischer Status oder Anspruch rechtfertigen ließe, scheint unklar. Auch das Faktum, von menschlichen Eltern geboren worden zu sein229, erklärt nicht, warum sich daraus eine inhärente Würde ableitet, genauso wenig wie die ikonische Darstellung des Menschen230 als letzter Beweis dienen kann. Dennoch glaube ich, dass die Behauptung, allen Menschen komme qua Menschsein eine inhärente Würde zu, ausreichend verständlich gemacht werden kann. Zwar mögen die Einwände gegen speziesistische Überzeugungen dazu dienen, unseren Umgang mit nichtmenschlichen Lebewesen zu hinterfragen, jedoch nicht dazu, die moralische Anerkennung im Umgang von Menschen mit Menschen zu delegitimieren. Neben der philosophischen Diskussion um die Frage, wer zu den Trägern einer menschlichen Würde gehört, ist die große Herausforderung zu klären, was eigentlich mit dieser Zuschreibung einhergeht, d.h. was
229 230
Vgl. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 188. Vgl. Margalit, Avishai, Menschenwürde zwischen Kitsch und Vergötterung, in Neumaier, Otto/ Sedmak, Clemens/ Zichy, Michael, (Hg.), Gerechtigkeit: Auf der Suche nach einem Gleichgewicht, 2005, S. 30 f.
142
4 Menschenwürde als normative Grundlage
es eigentlich bedeutet, eine menschliche Würde zu haben und welche moralischen Konsequenzen sich aus ihr ergeben. Neuere Konzepte, die Würde mit einem Instrumentalisierungsverbot sowie den würdeverleihenden Eigenschaften Autonomie und Handlungsfähigkeit verbinden, knüpfen mehr oder weniger an Vorstellungen über die menschliche Würde an, wie sie Kant zugeschrieben werden.231 So stellt die menschliche Fähigkeit zur Autonomie weiterhin den Grund dar, warum die Würde des Menschen geachtet werden muss. Menschen haben überhaupt nur Würde, weil sie autonom sind, d.h. als freie Akteure handeln können und ihr Handeln durch (gute oder schlechte) Gründe leiten lassen können. Diese Fähigkeit muss in jedem Menschen geachtet werden.232 Auch wenn Würde über das Instrumentalisierungsverbot verstanden wird, geht es darum, diese menschliche Fähigkeit in Form der Selbstzweckhaftigkeit und Selbstgesetzgebung zu achten. Weil die Menschen über diese Eigenschaften verfügen, dürfen sie nicht instrumentalisiert werden, d.h. so behandelt werden, als wenn sie diese Fähigkeiten nicht hätten. Gewirth versteht die Würde als Grund für die sinnvolle Zuschreibung von Rechten. Wir haben Würde, weil wir handlungsfähige Wesen sind und uns wertvolle Zwecke in unserem Leben geben können. Überhaupt nur deswegen ist es sinnvoll, Menschen als Träger von Rechten zu verstehen.233
231
232 233
Vgl. Düwell, Marcus, Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte, in Zeitschrift für Menschenrechte 4, Nr. 1 (2010), S. 64 79; Düwell, Marcus, Human dignity: concepts, discussions, philosophical perspectives, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 23 49; Schaber, Instrumentalisierung und Würde; Gewirth, Alan, Human Rights: Essays on justification and applications, Chicago, London: 1985, S. 197 217; Schaber, Menschenwürde, S. 60 63. Vgl. Schaber, Menschenwürde, S. 61. Vgl. Gewirth, Human Rights, S. 197 217.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
143
Mit einer inhärenten Würde wird allen Menschen ein besonderer moralischer Status zugeschrieben. Die Menschen sind darin als moralische Subjekte zu berücksichtigen, weil sie Würde haben. Allerdings versuchen diese Statustheorien nicht, eine inhärente Würde aller Menschen zu begründen, sondern explizieren Versuche zu klären, worin die Würde der Menschen besteht. Nach Feinberg234 entspricht der Achtung der Würde, dass wir andere Menschen als Inhaber von Rechten verstehen und anerkennen. Die Zuschreibung von Würde beinhaltet, den anderen als ein zu Ansprüchen berechtigtes Subjekt zu verstehen. Aus der menschlichen Würde werden nicht spezifische (Menschen)Rechte abgeleitet, sondern damit wird anerkannt, dass wir Menschen überhaupt als Rechtssubjekte verstehen. Wir erkennen an, dass andere Menschen prinzipiell dazu berechtigt sind, Ansprüche an uns und unser Verhalten zu stellen. Dieser moralische Status kann in der Autorität von Personen verortet werden, d.h. darin, dass es eine menschliche Autorität gibt, überhaupt Ansprüche an andere Menschen zu stellen.235 Oder aber dieser normativ weiter gefasste moralische Status ist als einer zu verstehen, in dem wir, weil wir diese Fähigkeit besitzen, anderen Menschen Rechtfertigungen für das, was wir mit ihnen tun, schulden. Dass es eine menschliche Würde gibt, bedeutet dann, dass alle Menschen ein Recht auf Rechtfertigung haben. 236 Des Weiteren kann der moralische Status im Sinne einer unhintergehbaren Prämisse interpretiert werden, die vor jeder weiteren moralischen Überlegung und dem Nachdenken über die menschliche Würde steht. So sieht 234
235
236
Vgl. Feinberg, Joel, The Nature and Value of Rights, in Rights, Justice and the Bounds of Liberty, Feinberg, Joel (Hg.), Princeton, NJ: 1980, S. 151. Vgl. Darwall, Stephen L., The second-person standpoint: Morality, respect, and accountability, Cambridge, Mass.: 2006, S. 14. Vgl. Forst, Rainer, Die Würde des Menschen und das Recht auf Rechtfertigung, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, Nr. 4 (2005), S. 591.
144
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Bielefeldt den grundlegenden und axiomatischen Charakter der menschlichen Würde darin begründet, dass wir die Menschen als normative Verantwortungssubjekte verstehen müssen.237 Verletzt wird die Würde im Sinne dieser Statustheorien, wenn Menschen der moralische Status als zu berücksichtigende Subjekte abgesprochen wird. Wenn sich Taten und Behandlungen nicht im Sinne einer zweitpersonalen Perspektive begründen oder vor anderen Personen rechtfertigen lassen, dürfen sie normativ nicht geschehen bzw. sind sie als Verstöße gegen die menschliche Würde zu verurteilen. Die Annahme einer menschlichen Würde lässt sich nicht verstehen, ohne dass damit ein besonderer moralischer Status des Menschen ausgedrückt wird. Allerdings kann allein mit diesen Statustheorien wenig zum Inhalt eines menschenwürdigen Lebens gesagt werden. Diese Theorien bilden ein Fundament, das den axiomatischen Charakter des Begriffs der Würde für unsere Moral unterstreicht. Eine davon abweichende Interpretation des Begriffs der Würde besteht in Vorstellungen, dass das menschliche Leben einen absoluten Wert besitzt und als etwas Heiliges und Unantastbares verstanden werden muss.238 Dieser absolute Schutz des Lebens und der Unverfügbarkeit darüber ist eng mit religiösen Motiven der Würdeinterpretation verknüpft. Genealogisch kann die menschliche Würde so verstanden werden, dass die Person, und insbesondere ihr Körper, immer mehr willkürliche Macht entzogen wurde und damit dem Individuum ein 237
238
Vgl. Bielefeldt, Heiner, Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen, Freiburg im Breisgau: 2011, S. 90. Vgl. Spaemann, Robert, Über den Begriff der Menschenwürde, in Böckenförde, Ernst-Wolfgang / Spaemann, Robert (Hg.) Menschenrechte und Menschenwürde: Historische Voraussetzungen, säkulare Gestalt, christliches Verständnis, Stuttgart: 1987, S. 302, 313; Schaber, Menschenwürde, S. 58.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
145
sakrales Moment zugeschrieben wurde.239 Allerdings ist es normativ fragwürdig, ob sich ein guter Begriff der Würde in einem absoluten Schutz auf Leben erschöpfen kann. Schließlich könnten dann nur Tötungshandlungen oder Unterlassungen mit Todesfolge als Gefahren für die Würde gelten. Der ganze Bereich entwürdigender Praktiken kann mit einem solchen Ansatz nicht eingefangen werden.240 Eine weitere Möglichkeit die Würde zu verstehen, ist nicht das menschliche Leben als absoluten Wert zu betrachten, sondern wesentliche Eigenschaften eines jeden menschlichen Lebens als unabdingbar für ein menschenwürdiges Leben zu betrachten. Wie schon im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, versucht Nussbaum die wesentlichen menschlichen Belange als Fähigkeiten zu erfassen, die die Würde ausmachen. Dieser Ansatz ist insofern anthropologisch, als Nussbaum diejenigen Eigenschaften benennt, die wesentlich für jedes menschliche Leben sind, unabhängig davon, was die spezifischen pluralen Vorstellungen eines guten Lebens sind. Dabei ist es nicht eine menschliche Eigenschaft, die die Würde begründet (wie die Vernunft), sondern es ist eine induktiv zu verstehende und nicht als abgeschlossen geltende Liste von menschlichen Fähigkeiten, auf denen die Würde beruht.241 Die Achtung der Würde meint dann, dass alle Menschen einen Anspruch darauf haben, dass sie diese grundlegenden Fähigkeiten auch ausüben können.242 Dieser Ansatz, der im Sinne der Armutsfrage schon eine zentrale Rolle gespielt hat, ist deswegen attraktiv, weil er nicht nur auf eine menschliche Eigenschaft zutrifft, die manchen Menschen nicht zukommt, sondern alle Menschen einschließen kann, wenn sie überhaupt 239
240 241 242
Vgl. Joas, Hans, Die Sakralität der Person: Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: 2011, S. 84 f. Vgl. Spaemann, Robert, Über den Begriff der Menschenwürde, S. 297 306. Vgl. Nussbaum, Frontiers of justice, S. 75 f. Vgl. Schaber, Menschenwürde, S. 60.
146
4 Menschenwürde als normative Grundlage
über irgendeine menschliche Fähigkeit verfügen. Und dieser Ansatz fasst den Blick auf mögliche Verletzungen der menschlichen Würde breiter und kann so mehr Fälle erfassen, als andere Verständnisse es können. Allerdings liegt darin auch die Schwäche dieses Ansatzes. Möglicherweise wird zu vieles als würdeverletzend kategorisiert, so dass es zu einer Abschwächung des eigentlichen moralischen Vorwurfs kommen muss. Zu den Streitpunkten gehört, inwiefern Nussbaums Liste schon zu viele essentielle menschliche Fähigkeiten oder aber noch zu wenige enthält. Außerdem scheint die nominelle Gleichberechtigung der einzelnen Punkte nicht unbedingt überzeugend. Auch wenn man annimmt, dass es einen Anspruch darauf gibt, frei von Hunger zu sein, ist es zumindest fragwürdig, dass dieser Anspruch auf der gleichen Stufe steht, wie der Anspruch, die Möglichkeit zu haben, frei spielen zu können. Trotz alledem ermöglicht dieser Ansatz eine Perspektive auf die menschliche Würde, die grundlegende menschliche Bedürfnisse berücksichtigen kann, ohne materialistisch zu argumentieren. Eine weitere Interpretation der Menschenwürde versucht ebenfalls einen besonders schützenwerten Kern menschlicher Ansprüche zu identifizieren. In dieser Interpretation wird Menschenwürde im Paket mit einigen besonders grundlegenden Rechten verstanden. Der Begriff der Würde begründet nicht die Rechte oder bestimmt ihren Inhalt, sondern ist eine andere Ausdrucksweise für diesen Kernbereich an Grundrechten, die unter keinen Umständen verletzt werden dürfen. Birnbacher schlägt vor, dass mit Menschenwürde nichts anderes gemeint sein kann, als vier Grundrechte. Diese unhintergehbaren moralischen Ansprüche sind das Grundrecht auf ein Existenzminimum, ein Grundrecht auf Freisein von starken dauerhaften Schmerzen, ein Recht auf
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
147
minimale Freiheit und ein Recht auf minimale Selbstachtung.243 Diese Grundrechte haben einen Vorrang vor allen anderen Ansprüchen. Auch andere Menschenrechte müssen diesen Rechten nachgeordnet sein. Die paradigmatischen Fälle von Würdeverletzungen können in dieser Perspektive erfasst werden, allerdings besitzt der Ausdruck Würde keinen eigenständigen Gehalt. Es könnte auf diesen Ausdruck verzichtet werden und nur noch von diesen grundlegenden Rechten gesprochen werden. Der Preis dafür wäre, den Begriff menschlicher Würde für den Bereich der Ethik aufzugeben und ihn als leere Hülle beliebiger Verwendungen preiszugeben. Zwar würden auch bei Birnbacher schwere Armut und Hunger als Verletzung der Würde gelten, da das Grundrecht auf ein Existenzminimum verletzt wird. Aber es ließe sich nichts weiter über dieses moralische Problem sagen und der Begriff Würde hätte seinen breiteren semantischen Anwendungsbereich verloren. Der Begriff der Würde wird wiederholt kritisiert, weil er von verschiedenen Positionen in Anspruch genommen und mitunter für gegenteilige Positionen verwendet wird. Diese Kritik richtet sich gegen einen inflationären und widersprüchlichen Gebrauch des Begriffs der Würde. Damit wird behauptet, dass es sich um keinen hilfreichen Begriff in einer ethischen Streitfrage handelt, sondern dieser lediglich willkürlich interpretiert wird. Dies ist besonders gefährlich, wenn auf diese Weise bestimmte Werte mit diesem Begriff ausgezeichnet werden, um letztlich keine Diskussion mehr zuzulassen. Dieser Vorwurf umfasst zweierlei. Zum einen ist der Vorwurf, dass der Verweis auf die Menschenwürde dort eingesetzt wird, wo kein weiteres Argument in der
243
Vgl. Birnbacher, Dieter, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde, in Aufklärung und Kritik 1 (1995), S. 6.
148
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Auseinandersetzung vorgebracht werden kann und zum anderen, dass mit ebendiesem Verweis die Diskussion abgebrochen wird.244 Vor dem Hintergrund dieser Vorwürfe müssen gute Gründe angebracht werden, warum es auch heute sinnvoll ist, von der menschlichen Würde zu sprechen und sie als normative Idee ernst zu nehmen. Warum ist es trotz der Einwände sinnvoll, in einer moralphilosophischen Diskussion nach der menschlichen Würde zu fragen? Die Vorwürfe der Beliebigkeit sowie der Streit um den Inhalt der Menschenwürde machen deutlich, dass es sich bei dem Begriff der Menschenwürde nicht um ein analytisch klares Konzept handelt, über dessen Bedeutung Konsens herrscht. Dennoch wäre es voreilig, daraus zu schließen, dass die Rede von Menschenwürde oder menschlicher Würde überflüssig ist. Dass sich die Idee nicht auf eine einfache Bedeutung reduzieren lässt, spricht für eine vertiefte Auseinandersetzung darüber, was es sinnvoller Weise in spezifischen Kontexten bedeuten kann.
Der heutige Begriff der Würde ist untrennbar mit der Idee unveräußerlicher Menschenrechte verbunden. Nach dem Gattungsbruch, für den Auschwitz zum Sinnbild geworden ist, tauchte die Würde als Referenz in allen wichtigen rechtlichen Deklarationen der Nachkriegszeit auf, zu denen die Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 1949 gehören. Auf diese Weise ist die
244
Vgl. Pinker, Steven, The Stupidity of Dignity, accessed February 1, 2010, [http://richarddawkins.net/article,2567,The-Stupidity-of-Dognity,StevenPinker]; Birnbacher, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde, S. 3; Schaber, Menschenwürde, S. 84 f.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
149
Würde zu einem zentralen juristischen Begriff, zumindest in Deutschland und Europa, geworden. So wie die Idee einer menschlichen Würde Eingang in das Recht gefunden hat, so untrennbar sind heute die Diskussionen um Würde mit damit einhergehenden Rechten verbunden. Der Zusammenhang von Würde und Rechten kann dabei auf verschiedene Weisen verstanden werden. Mit einer näheren Untersuchung dieses Zusammenhangs werde ich mich im letzten Teil meiner Untersuchung anhand eines Beispiels, nämlich des Rechts auf Nahrung als Menschenrecht und der verletzten Würde durch Hunger, befassen. Während die Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts ohne den Verweis auf die menschliche Würde auskamen245, nimmt die Würde in den Deklarationen des 20. Jahrhunderts eine prominente Stellung ein. In der Präambel der Charta der Vereinten Nationen bekennt sich die Staatengemeinschaft zur Würde Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen 246 Persönlichkeit . Auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird auf die menschliche Würde als schützenswertes Gut erwähnt. In den beiden Internationalen Pakten, die eine Konkretisierung der Erklärung der Menschenrechte darstellen, wird betont, dass sich die formulierten Rechte aus der inhärenten Würde aller Menschen herleiten. Heute werden Menschenrechte und Menschenwürde zusammen gedacht. Eine Möglichkeit, diese untrennbare Verknüpfung zu denken, ist, der Erwähnung von Würde im Zusammenhang mit grundlegenden Rechten keinen eigenen Aussagewert zuzuschreiben. Diese Positionen
245 246
Vgl. Jaber, Über den mehrfachen Sinn von Menschenwürde-Garantien, S. 139. Charta der Vereinten Nationen, Vereinte Nationen vom 26. Juni 1945, Präambel.
150
4 Menschenwürde als normative Grundlage
behaupten, dass Würde letztlich nichts anderes meint, als dass bestimmte grundlegende Rechte des Menschen geachtet werden müssen.247 Diese Positionen können als Einwand gegen einen ethischen Begriff der menschlichen Würde verstanden werden, denn dieser stellt keine eigene normative Kategorie dar, sondern ist redundant angesichts der normativen Kategorie von Menschenrechten. Eine weitere Verbindung von Würde und Rechten besteht in der Interpretation des Würdebegriffs als einen, der den Status des Rechtssubjektes beschreibt. Demnach liegt die inhärente Würde darin, dass jeder Mensch als Subjekt von Rechten verstanden wird. Entsprechend gebieten die Achtung der Würde und ihr Schutz, dass die Rechtssubjektivität geachtet wird. Wenn einem Menschen sein gleicher Rechtstatus abgesprochen wird, dann wird damit seine Würde verletzt. Arendt lässt es in ihren Aporien der Menschenrechte schon anklingen, dass, wenn die Rede von einer menschlichen Würde überhaupt sinnvoll sein soll und es überhaupt irgendein Menschenrecht gibt, dann kann es nur das Recht eines jeden Menschen sein, überhaupt Rechte zu haben.248 Ihre Erkenntnis deutet auf einen moralischen Widerspruch hin. Wir können nicht behaupten, dass allen Menschen eine inhärente Würde zukommt, wenn es gleichzeitig Menschen gibt, die nicht dazu berechtigt sind, überhaupt irgendwelche Ansprüche zu stellen. Natürlich dürfen moralische Ansprüche nicht mit politischen Rechten verwechselt oder gleichgesetzt werden. Aber die Grundidee einer Verknüpfung des Gedankens der Würde und des Status des Rechtsträgers wird hier politisch
247
248
Vgl. Birnbacher, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde; Pollmann, Menschenwürde nach der Barbarei, S. 39. Vgl. Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München: 1996, S. 614.
4.2 Der Begriff der menschlichen Würde im Wandel
151
verstanden und nicht allein naturalistisch stehen gelassen.249 Allerdings kann der Verweis auf eine allen Menschen inhärente Würde in Rechtskontexten auch so verstanden werden, dass sie der Grund ist, warum wir allen Menschen grundlegende Rechte zuschreiben. Der Begriff der Würde enthält dann mehr, als in den festgeschriebenen Rechten verankert ist. Aus dem moralischen Überschuss der Würde generieren sich in spezifischen historischen Kontexten neue Menschenrechte.250 Die Menschenwürde stellt demnach die Quelle moralischer Rechte dar, die dann in positives (Menschen-)Recht umgesetzt werden müssen. Insofern müssen die Menschenrechte dann auch als nicht abgeschlossenes Projekt verstanden werden, das notwendigerweise immer wieder aktualisiert werden muss.251 Eine weitere Interpretation des Zusammenhanges von Würde und Rechten ist, die Rechte als einen Schutz für ein menschenwürdiges Leben zu verstehen. Grundlegende Rechte sind demnach dazu da, jedem Menschen ein Leben mit Würde zu ermöglichen. Hier generiert weder ein Vorverständnis von Würde die unveräußerlichen Rechte, noch ergibt sich ein würdiges Leben allein aus der Achtung der Rechte. Die Würde ist kein Ableitungsgrund der Rechte, stellt aber das Worumwillen dieser Menschenrechte dar. In diesem Kontext leitet Pollmann ein Recht auf Schutz der Würde ab, welches die Ermöglichungsbedingungen für ein menschenwürdiges Leben garantieren soll.252 Mit diesem
249
250
251 252
Vgl. Menke, Christoph, Subjektive Rechte und Menschenwürde, in Droits subjectifs et droits de l , Nr. 3 (2009), S. 2 6, S. 4; Menke, Christoph, Dignity as the right to have rights: human dignity in Hannah Arendt, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 332 342, S. 338 f. Vgl. Habermas, Jürgen, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58, Nr. 3 (2010), S. 346. Vgl. Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, S. 86. Vgl. Pollmann, Menschenwürde nach der Barbarei, S. 41.
152
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Zusammenhang von Menschenwürde und Menschenrechten werde ich mich im dritten Teil dieser Arbeit weiter beschäftigen. 4.3 Menschliche Würde aus ihrer Negation verstehen Die vorherige Betrachtung hat gezeigt, dass es keinen Konsens darüber gibt, worin die menschliche Würde besteht. Im Folgenden soll das Würdekonzept vorgestellt werden, welches dieser Arbeit zugrunde liegen soll und erläutert werden, worin die Attraktivität dieses Würdeverständnisses besteht. Das Verständnis der menschlichen Würde schließt an Margalit253 an, der menschliche Würde über ihre Negation verstehen will. Dabei geht es gerade nicht darum, positiv zu bestimmen, worin die Menschenwürde besteht, sondern zu verstehen, was die menschliche Würde verletzt. Meine Vorgehensweise orientiert sich an dem Vorschlag von Ralf Stoecker die menschliche Würde über einen negativen Zugang und eine induktive Strategie zu verstehen. 254 Wie schon skizziert, ergeben sich die moralischen Fragen zum Verständnis menschlicher Würde aus der Trägerschaft, ihrer Begründung und den abgeleiteten Konsequenzen. Die Frage nach der Trägerschaft werde ich, wie schon angedeutet, vernachlässigen können, da es sich im Fall der Armen und Hungernden nicht um problematische Grenzfälle handelt. Die Frage, worin die Würde der Menschen besteht, soll auf einem negativen Weg beantwortet werden. Das heißt, es gilt danach zu fragen, worin die Verletzungen von Würde eigentlich bestehen und nicht, würdeverleihende Eigenschaften aller Menschen zu identifizieren. Aus dieser negativen Explikation soll extrahiert werden, welche
253 254
Margalit, Politik der Würde. Vgl. Stoecker, Ralf, Three Crucial Turns on the Road to an Adequate Understanding of Human Dignity, S. 10 13; Stoecker, Ralf, Theorie und Praxis der Menschenwürde, Paderborn: 2019, S. 15.
4.3 Menschliche Würde aus ihrer Negation verstehen
153
moralischen Implikationen bestehen. Was dürfen wir im Sinne der Achtung der menschlichen Würde tun oder eben nicht? Zu den paradigmatischen Fällen von Verletzungen menschlicher Würde zählen gemeinhin die Akte der Barbarei des Zweiten Weltkrieges, Fälle von Folter oder wohl alltäglicher Vergewaltigungen. In jüngster Zeit wird mitunter auch das Leben in großer Armut als ein paradigmatischer Fall genannt. Inwiefern dies tatsächlich angemessen ist, soll im Weiteren näher untersucht werden. Die Verletzungen von Würde unterscheiden sich von anderen moralischen Verstößen. Sie sind besonders fundamental, weil den Opfern jede Menschlichkeit versagt wird. Zum anderen lassen sich die Verletzungen von Würde nicht durch den Verstoß gegen andere moralische Kategorien erklären. Sie bezeichnen eine besondere Art und Weise (Qualität) des moralischen Übels. So ist die Shoa mehr als die Summe der Entrechtung und Ermordung von Millionen europäischer Juden, wie sich auch die Folter nicht auf schwere Körperverletzungen reduzieren ließe255. Um zu verstehen, was es überhaupt bedeutet, wenn menschliche Würde verletzt wird, soll an den von Margalit vorgeschlagenen Ansatz, menschliche Würde aus ihrer Verletzung heraus zu verstehen, angeknüpft werden. Aus der negativen Erfahrung, der Verletzung von Würde, soll ein Zugang zur moralischen Bedeutung dieser normativen Grundlage gefunden werden. Margalit identifiziert Situationen der Entwürdigung und Demütigung, um deutlich zu machen, was eine Gesellschaft braucht, um die menschliche Würde nicht zu verletzten, d.h. minimal anständig zu sein. Die 255
Vgl. Améry, Jean, Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart: 2004, S. 64.
154
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Forderung einer minimal anständigen Gesellschaft ist derjenigen nach einer gerechten Gesellschaft vorgeordnet. Eine Gesellschaft erfüllt den Anspruch, anständig zu sein, wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen. Margalit versteht seinen Ansatz als ein makroethisches Konzept256, bei dem es darum geht, Verhaltensweisen und Regeln auszuschließen, die einzelne Menschen herabsetzen und ihre Würde nicht achten. Begründet wird das Konzept auf der einfachen, wie unumstrittenen Annahme, dass Grausamkeiten gegenüber anderen Menschen vermieden werden müssen. Demütigungen bzw. Entwürdigungen werden als Grausamkeit verstanden, deren Vermeidung ein moralisches Gebot darstellt.257 Die Frage, die sich hier notwendigerweise anschließt, ist, was es überhaupt bedeutet, dass jemand gedemümen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, 258 . Selbstachtung wird sich in ihrer Selbstachtung hier als eine normative Kategorie verstanden, d.h. es ist nicht wesentlich für die Beurteilung einer Situation, ob sich jemand in seinem Selbstwertgefühl verletzt sieht oder nicht. Wer hochmütig scheitert und sich bloßgestellt fühlt, hat keinen Grund, sich tatsächlich in seiner Selbstachtung verletzt zu sehen. Es geht bei Demütigungen nicht um singuläre Interaktionen zwischen Individuen, sondern um die Einbettung dieser Interaktionen in eine Gesellschaft. So stellt eine einzelne rassistische Beleidigung noch keinen Verstoß gegen die Würde dar, allerdings darf eine anständige Gesellschaft derartige Beleidigungen nicht bagatellisieren oder tolerieren. Es müssen institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen eine solche Beleidigung als unvereinbar mit der gesellschaftlichen Ordnung betrachtet werden. Da es um 256 257 258
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 13. Vgl. ebd., S. 92. Margalit, Politik der Würde, S. 21.
4.3 Menschliche Würde aus ihrer Negation verstehen
155
die gesellschaftlichen Verhältnisse und Normen geht, fallen auch die Lebensbedingungen der Menschen in den Bereich möglicher Demütigungen; allerdings mit der Einschränkung, dass diese Bedingungen nur dann moralisch relevant sind, wenn sie von menschlichen Handlungen beeinflussbar sind.259 Margalit beschreibt Verletzungen der menschlichen Würde auf dreierlei Weise. Menschen zu entwürdigen bedeutet, sie unmenschlich zu behandeln, sie aus der Menschengemeinschaft auszuschließen oder ihnen die Kontrolle über sich selbst und ihr Leben zu nehmen.260 Die erste Gefahr für die menschliche Würde besteht darin, dass Menschen behandelt werden, als ob sie keine Menschen, sondern Maschinen, Tiere oder Untermenschen wären. Dabei betont Margalit, dass es einer bewussten oder unbewussten Negierung bedarf, um Menschen nicht als solche zu erkennen und sie stattdessen wie Nicht-Menschen zu behandeln. Wer menschenblind261 ist, kann im anderen Menschen die Menschlichkeit nicht erkennen. Diese evidente Menschlichkeit wird missachtet, wenn so getan wird, als ob jemand menschenblind wäre und andere Menschen so behandelt, als wären sie etwas anderes als Menschen.262 Wer die Menschlichkeit seiner Opfer bestreitet, muss vorher schon implizit erkannt haben, dass es sich um Menschen handelt, sonst wäre die Feststellung absurd. 263 In diesen Fällen besteht die Demütigung darin, dass Menschen aufgrund moralisch kontingenter Merkmale, Eigenschaften oder Gruppenzugehörigkeiten aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen werden. 259 260 261 262 263
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 21 f. Vgl. ebd., S. 149. Vgl. ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 117.
156
4 Menschenwürde als normative Grundlage
Ein besonderes Problem, das sich im Kontext von Verletzungen der Würde ergibt, ist das Paradox der Entwürdigung.264 Es beschreibt, wie die Situation für jemanden, der aus der Menschengemeinschaft ausgeschlossen wird, aussieht. Das Opfer, das gedemütigt wird, verliert die Kontrollfähigkeit über sich und seine wesentlichen Belange.265 Insofern ist eine Entwürdigung im Sinne einer Einschränkung der menschlichen Freiheit zu verstehen. Das Paradox entsteht, wenn man danach fragt, warum nun jemand, der von anderen gedemütigt wird, tatsächlich einen rationalen Grund hat, sich in seinem Menschsein gekränkt zu fühlen. Schließlich liegt das moralische Versagen nicht beim Opfer, sondern bei den Tätern. Inwiefern kann dann die Würde der Opfer verletzt werden, ohne dass sie etwas falsch gemacht hätten. Mit diesem Blick auf die Würde werden nicht nur Handlungen einzelner Menschen erfasst, sondern insbesondere institutionelle und strukturelle Demütigungen angemessen berücksichtigt. So werden auch entwürdigende Bedingungen einbezogen, die nicht auf unmoralische Handlungen einzelner Akteure zurückzuführen sind. Darüber hinaus ist es hilfreich für einen moralisch verstandenen Würdebegriff, gerade die Beziehungen zwischen den Menschen zu erfassen und sich nicht auf menschliche Eigenschaften zu berufen, gegen deren vermeintliche Natur verstoßen wird. Durch den Einbezug der Würde als relevante normative Grundlage in das Themenfeld von globaler Armut und Hunger erhoffe ich, das Unbefriedigende der bisher skizzierten Entwürfe und deren Lücken mini-
264
265
Vgl. ebd., S. 121; Stoecker, Ralf, Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung, in Stoecker, Ralf (Hg.), Menschenwürde: Annäherung an einen Begriff, Wien: 2003, S. 133 151, S. 140. Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 127.
4.3 Menschliche Würde aus ihrer Negation verstehen
157
mieren zu können. Damit möchte ich die Fragen beantworten, aus welchen Gründen es sich bei globaler Armut um ein moralisches Problem handelt, inwiefern menschliche Interaktionen hier zu berücksichtigen sind und welcher Vorwurf erwächst, wenn das Phänomen (als moralisches) ignoriert wird. Während es Margalit darum geht, die Bedingungen einer anständigen Gesellschaft zu erfassen, geht es in meiner Untersuchung um moralische Probleme, die insbesondere jenseits von gesellschaftlichen Grenzen virulent sind. Insofern geht es in dieser Arbeit um eine minimal anständige Welt, in der auch jenseits von einzelnen Gesellschaften moralische Erwägungen eine Rolle spielen. Ich erhoffe mir eine klarere Perspektive auf das moralische Problem von globaler Armut in dreierlei Hinsicht. Durch die Frage nach verletzter menschlicher Würde wird die Art des moralischen Problems genauer untersucht. Schließlich gehört es zur philosophischen Analyse, nicht nur ein moralisches Problem zu identifizieren, sondern auch, dies auf der Basis der richtigen Gründe zu tun. Des Weiteren kann die Frage nach der moralischen Herausforderung besser gestellt werden, da die Beziehungen zwischen den Menschen im Fokus stehen. Menschliche Würde betrifft immer den Bereich zwischen den Menschen und ihren Handlungen mit- und umeinander. Letztlich scheint die Perspektive der Würde das moralische Problem auf einer fundamentaleren Ebene zu erfassen. Im Gegensatz zu den anderen Entwürfen erhoffe ich mir, die Schwere des moralischen Problems angemessen berücksichtigen zu können. Denn der Vorwurf einer Verletzung der Würde ist nicht nur fundamentaler als der Vorwurf nicht erfüllter Gerechtigkeit oder Gleichheit, sondern die moralischen Implikationen, die aus der Situation erwachsen, sind auch in ihrer spezifischen Art zu berücksichtigen. Damit trägt dieser Ansatz die menschliche Würde aus ihrer Negation zu verstehen dazu bei, die Grenzen eines menschenwürdigen Lebens besser zu verstehen.
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4 Menschenwürde als normative Grundlage
Die historische Genese des Begriffs hat die unterschiedlichen Bedeutungskomponenten, wie die Zuschreibung einer inhärenten Würde, die Unbedingtheit des moralischen Anspruchs auf gleiche Achtung, aber auch den Umgang mit Menschen als Subjekten verdeutlicht. Die Negationen menschlicher Würde, um die es im nächsten Teil gehen wird, können nur vor dem Hintergrund dieser Genese plausibel werden.
Teil II Armut als Gefahr für die menschliche Würde In diesem Teil soll es darum gehen, die Negation der menschlichen Würde durch ein Leben in Armut aufzuzeigen. Dazu werden zwei Dimensionen der Würdeverletzungen expliziert, die nicht unabhängig voneinander sind, sondern sich vielmehr gegenseitig bedingen, aber jeweils spezifische Charakteristika der Würdeverletzung verdeutlichen. Dazu werden im fünften Kapitel die durch Armut entstehenden Unfreiheiten der betroffenen Menschen untersucht und es wird geprüft, inwiefern es zu moralisch relevanten Einschränkungen und Negationen der Freiheit es kommt, die eine potentielle Gefahr für die Würde darstellen. Im sechsten Kapitel wird dann der Einfluss von Armut auf die Gleichheit der Menschen im Fokus stehen. Hier wird der moralische, universale Status der Egalität untersucht, der der menschlichen Würde zugeschrieben wird. Und geprüft, ob dieser durch das Leben in Armut unterminiert wird.
5
Armut und entwürdigende Abhängigkeit die Freiheit, frei zu sein, zuallererst bedeutet[e], nicht nur von Furcht, 266 sondern auch von Not
Das Verständnis menschlicher Würde ist eng an den Begriff der menschlichen Freiheit gebunden. Die Freiheit gilt als zentraler Begriff eines ethischen Humanismus.267 Die spezifisch menschliche Würde ist mit der spezifischen Eigenschaft des Menschen, freie Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln, verknüpft. Wie im vorherigen Kapitel dargelegt wurde, begründet die prominente Position Kants die menschliche Würde mit der Autonomie als einer Wesenseigenschaft des Menschen. Auch in Margalits Ausführungen wird die Freiheit als Grund für die menschliche Würde angebracht. Auch wenn der Begriff der Freiheit jeweils unterschiedlich verstanden wird, teilen die verschiedenen Konzepte den Gedanken, dass die Freiheit des Menschen eine besondere moralische Achtung verlangt. Ein Urteil darüber, was ein Mensch in seinem Leben bereits getan hat, erlaubt kein Urteil darüber, was diese Person in Zukunft tun wird. Die besondere Freiheit des Menschen liegt darin, eigene Entscheidungen zu treffen. Dass es jedem Menschen möglich ist, sich von grausamen Handlungen der Vergangenheit abzuwenden und Gutes zu tun, ist die radikale Freiheit, die nur der Mensch hat. er sein Leben tatsächlich zu ändern vermag, sondern allein für die Möglichkeit der Veränderung. Achtung vor dem Menschen bedeutet daher auch, niemals jemanden aufzugeben, da alle Menschen fähig
266 267
Arendt, Hannah, Die Freiheit, frei zu sein, München: 2018, S. 24. Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Über menschliche Freiheit, Stuttgart: 2005, S. 127, 154.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_5
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
162
sind, ihrem Leben eine entscheidende Wendung zum Besseren zu ge268
Diese Form von moralischer Achtung zielt nicht auf besondere Leistungen, die eine Person vollbracht hat oder vollbringen könnte. Es geht vielmehr darum, dass die Tatsache, dass Menschen frei und selbstbestimmt handeln können, die Voraussetzung dafür ist, dass wir uns in einer moralischen Gemeinschaft befinden. Freiheit ist demnach eine Voraussetzung dafür, dass moralisches Handeln zwischen Menschen überhaupt möglich ist und insofern besteht eine Verbindung zwischen Freiheit, menschlicher Würde und ihrer Achtung.269 In der Freiheit liegt die Besonderheit des mitmenschlichen Handelns, was bedeutet, dass Menschen die Möglichkeit haben, Gründe abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen, die sie dann zu verantworten haben. Weil wir aus Gründen handeln können und die Möglichkeit haben, uns auch anders zu entscheiden, schreiben wir einander Verantwortung für unser Handeln zu. Das bedeutet, dass ohne eine grundsätzliche Wahlmöglichkeit keine Verantwortung zugeschrieben werden kann. Dieser Freiheitsbegriff ist eng mit dem Verständnis eines besonderen moralischen Status des Menschen verbunden. Diese Freiheit unterscheidet die Menschen 270 von allen anderen Tieren: Dieses grundlegende Verständnis der Freiheit als Voraussetzung allen moralischen Handelns reicht nicht aus, um die Unfreiheiten, die durch Armut entsteht, zu erfassen, denn die prinzipielle Möglichkeit der Freiheit besteht unabhängig von den realen Gegebenheiten, in denen Menschen leben. Auch sehr arme Menschen scheinen zumindest auf den
268 269 270
Margalit, Politik der Würde, S. 79. Vgl. Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, S. 156. Margalit, Politik der Würde, S. 80.
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
163
ersten Blick in diesem Sinne frei zu sein, insofern sie aus Gründen handeln können und gewisse Wahlmöglichkeiten besitzen. Auf der anderen Seite scheint es offensichtlich zu sein, dass Armut die betroffenen Menschen massiv einschränkt und unfrei macht. Der Begriff der Freiheit muss dementsprechend noch genauer differenziert werden, um herauszufinden, ob Menschen durch Armut tatsächlich unfrei werden. Dabei wird es im Folgenden um ein praktisches Verständnis von Freiheit gehen, um schließlich zu prüfen, welche Bedeutung eine solche Freiheit für ein würdiges Leben hat. Die Frage an dieser Stelle, ob Armut tatsächlich zu Unfreiheiten und Abhängigkeiten führt, die entwürdigend sind, wird mit Blick auf einige paradigmatische Fälle von Verletzungen menschlicher Würde positiv beantwortet. So werden und wurden in der Sklaverei Menschen dauerhaft und umfassend an freien Entscheidungen und freiem Handeln gehindert. Kern der Würdeverletzung ist hier eine Verweigerung von Freiheit, die darauf beruht, dass Menschen als Besitztümer anderer Menschen angesehen werden und aus diesem Grund in keiner Hinsicht ein selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Leben führen können. Doch auch im Kontext des legalisierten Freiheitsentzuges durch Haftstrafen wird die menschenwürdige Behandlung thematisiert, denn auch in dieser Situation ist die Würde der Betroffenen besonders fragil und gefährdet.271 Dieser Zusammenhang zwischen Freiheit und der menschlichen Würde wird nun daraufhin untersucht, inwiefern die Freiheit armer Menschen auf entwürdige Weise unterminiert wird. Dazu gilt es herauszufinden, in welcher Hinsicht Armut tatsächlich die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Menschen einschränkt
271
Vgl. Luban, David, Treatment of prisoners and torture, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 446 453, S. 448.
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
164
oder sogar unterbindet und ob die erkennbaren Freiheitsverluste zu einer Gefahr für die Selbstachtung dieser Menschen werden. Außerdem wird die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit der menschlichen Freiheit erfasst und die Gefahren der paradoxen Situation von nomineller Freiheit und praktischer Abhängigkeit werden aufgezeigt. Auf diese Weise wird der Zusammenhang zwischen armutsbedingten unwürdigen Lebensbedingungen und negierter Freiheit verdeutlicht. Armut nimmt meiner Untersuchung zufolge den Menschen in relevanter Hinsicht ihre Freiheit, ohne die ein würdevolles Leben nicht mehr möglich ist. Um dies zu zeigen, gehe ich von der These aus, dass armen Menschen die Möglichkeit genommen wird, als Akteure ihr Leben zu gestalten. Menschliche Würde hängt eng mit dem zusammen, was wir als moralische Wesen tun können. Bei armen Menschen sind die Handlungsmöglichkeiten derart eingeschränkt, dass ihre Selbstachtung gefährdet wird. 5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut Die größte Gefahr, die von einem Leben in schwerer Armut für die Menschenwürde ausgeht, besteht darin, dass der Mensch armutsbedingt stirbt und damit das individuelle Subjekt der Würde verschwindet. Wenn Armut die Handlungsfähigkeit der Menschen bedroht und einschränkt, dann ist diese im armutsbedingten Sterben vollständig negiert. Die Würde der betroffenen Personen wird verletzt, weil aufgrund der Armut der Träger der Würde verschwindet. Vor diesem Hintergrund bedeuten die eingangs erwähnten 18 Millionen armutsbedingten Todesopfer jährlich ebenso viele Verletzungen der Menschenwürde. Wenn man davon ausgeht, dass der armutsbedingte Tod deshalb als Würdeverletzung betrachtet werden kann, weil die Armut zum Verschwinden des Subjekts führt, ist damit noch nicht klar, inwiefern das
5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut
165
Leben in Armut ebenfalls eine Verletzung der menschlichen Würde bedeutet. Doch nicht nur der Tod, sondern bereits das Leben in Armut ist durch massive Einschränkungen der grundsätzlichen Handlungsfähigkeit des Menschen bestimmt. Menschen, die in extremer Armut leben, können nicht selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihr Leben gestalten. Die Strukturen, die zu einem Leben in Armut führen, verhindern, dass die betroffenen Personen ihr Potenzial, autonom und weitestgehend unabhängig leben. Eine abgeschwächte Version dieser Interpretation vertritt auch Onora Neill. Welthunger lässt sich Neill als ethisches Problem fassen, weil die Autonomie der betroffenen Menschen massiv eingeschränkt wird und damit die würdebegründende Eigenschaft der Menschen unterminiert wird. Gerade in Bezug auf die physischen kognitiven Schäden, die eine chronische Unterernährung sowie Mangelernährung mit sich bringen, lassen sich diese dauerhaften Einschränkungen für die Betroffenen als Verlust der Kapazitäten, freie Entscheidungen zu treffen, werten. Allerdings verleiht ja nicht die tatsächliche Fähigkeit der Menschen zur Autonomie ihnen die besondere Würde, sondern die wesensspezifische Möglichkeit. Die Gefahr, die von Hunger und Armut ausgeht, wären die Deprivationen der Handlungsfähigkeit, weil kognitive Kapazitäten zerstört werden.272 But it is clear enough that partial autonomy of human beings is undermined by life-threatening and destroying circumstances, such as hunger and destitution. Hence a fundamental Kantian commitment must be to preserve life in two senses. First, others must not be deprived of life. The dead (as well as the moribund, the gravely ill, and lives must be prethe famine-stric served in forms that offer them sufficient physical energy, psychological space, and social security for action. Partial autonomy is vulnerable 272
Vgl. O'Neill, Faces of hunger, S. 32 ff.
166
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
autonomy, and in human life psychological and social as well as material needs must be met if any but the most meager possibility of autonomous action is to be preserved. 273
, die für arme Menschen besteht, in Bezug auf deren Autonomieverluste. Die Freiheitsverluste beziehen sich auf das handelnde Individuum. Jedoch greift ein solches Verständnis der Würdeverletzung durch Armut zu kurz. Um zu verstehen, in welcher Weise menschliche Freiheit negiert wird und auf welche Weise dies die Würde bedroht, braucht es ein erweitertes Freiheitsverständnis. Es geht nicht nur um die Abwesenheit von Zwang, sondern um die Möglichkeiten des freien Entscheidens und Handelns in der Interaktion mit anderen Menschen. Der Fokus liegt somit auf einer Freiheit, die in einem Netz von Beziehungen zu anderen Menschen entstehen kann, aber eben auch verweigert und negiert wird. Es soll darum gehen herauszufinden, ob schwere Armut und Hunger dazu führen, dass Menschen in ihrer Handlungsfreiheit wesentlich beschränkt werden und inwiefern ihnen wesentliche Freiheiten als Akteure fehlen. Wer arm ist, ist offensichtlich in vielerlei Hinsicht in seinen Möglichkeiten beschränkt. Einige Menschen sind zu arm, um sich ein neues Auto zu kaufen, andere sind zu arm, um ihren Kindern eine Ausbildung zu finanzieren und nicht wenige Menschen sind eben zu arm, um sich ihr tägliches Brot kaufen zu können. Hier ergibt sich erst die Frage: Nahezu alle Menschen sind in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt. Vielleicht stellt es noch kein Problem dar, wenn sich jemand kein Auto leisten kann, aber warum ist es dann ein Problem, wenn sich jemand nicht genügend zu essen kaufen kann? Es geht also nicht um unendliche Möglichkeiten und Freiheiten, sondern um relevante Freiheiten. D.h., es geht um die bedingte Freiheit der Menschen, die miteinander 273
O'Neill, Onora, Ending World Hunger, in Aiken/ LaFollette, World hunger and morality, S. 105.
5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut
167
eine Lebenswelt teilen und sich gegenseitig den Anspruch auf Freiheit ermöglichen. Da nicht jedes Mehr oder Weniger an Freiheit als Problem für die Würde verstanden werden kann, ohne den Anspruch auf Achtung der Würde normativ zu überfrachten und damit bedeutungslos zu machen, muss klar werden, warum Armut zu Freiheitsverlusten führt, die entwürdigend sind. Es geht darum, die armutsbedingte Unfreiheit innerhalb menschlicher Interaktionen zu identifizieren und in Bezug auf ihr würdeverletzendes Potenzial zu beleuchten. Hier geht es um Fälle, in denen nicht erst das Subjekt der Würde verschwunden sein muss, sondern um die Frage, ob mangelnde Freiheit in den tatsächlichen Lebenskontexten als entwürdigend bezeichnet werden kann. Im Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen ist schon deutlich geworden, dass ihm ein breiterer substantieller Freiheitsbegriff zugrunde liegt. Darin geht es um die Verwirklichung substantieller menschlicher Freiheit, lung die eng mit der Idee der Entwi läß 274 Jedes Individuum soll seine menschliche Freiheit in einer Gesellschaft entfalten können. Im Gegenteil der Armut wird deut tums liegt in den Dingen, die er uns zu tun ermöglicht, in der substan275 Armut wird als Situation der Unfreiheit beschrieben und ihre Überwindung dient in erster Linie dem Ziel, dass Menschen ein freies, selbstbestimmtes Leben führen können. Sens Konzept der ökonomischen Entwicklung schließt daran an:
274 275
Sen, Ökonomie für den Menschen, S. 13. Ebd., S. 25.
168
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
begreifen beeinflusst stark unser Verständnis des Entwicklungsprozesses, aber auch die Mittel und Wege, ihn zu fördern. Für die Evaluation folgt daraus, daß wir die Beseitigung von Unfreiheiten, unter denen die Angehörigen einer Gesellschaft möglichweise leiden, als notwendige Voraussetzung für Entwicklung erkennen müssen. Nach dieser Auffassung ist der Entwicklungsprozeß im wesentlichen identisch mit der 276
Auch wenn es Sen wesentlich um menschliche Freiheiten geht, sieht er in der Armut ein Phänomen, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass es die Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten der betroffenen Menschen massiv einschränkt. Die Beseitigung von Unfreiheiten ist Sens erklärtes Ziel. Der Entwicklungsbegriff meint insofern nicht, wie in den angeführten Modernisierungstheorien, den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts, des Handelsvolumens oder Einkommenssteigerungen, sondern diese können, wenn überhaupt, nur Mittel sein, um die Freiheit der Menschen in der Gesellschaft zu vergrößern. Für Sen ist Armut ein Mangel an menschlichen Freiheiten. Um jedoch besser verstehen zu können, wie unfrei arme Menschen sind, soll ein genauerer Blick darauf geworfen werden, inwieweit arme Menschen in ihren Entscheidungen, ihrem Handeln und in ihren Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, unfrei sind. Denn wenn es um bedrohte oder verletzte Würde geht, muss deutlich werden, wie dies mit den angeführten Unfreiheiten zusammenhängt. Die vielfältigen Einschränkungen, denen arme Menschen ausgesetzt sind, führen im Bereich der menschlichen Interaktionen zu größer werdender Abhängigkeit der Betroffenen von anderen Menschen. Wer nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, gerät in Situationen und
276
Ebd., S. 47.
5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut
169
Strukturen, in denen Menschen maßgeblich das Leben anderer bestimmen und denen sich die armen Menschen nicht entziehen können. Allerdings ist nicht jede Abhängigkeit von anderen Menschen als Gefahr für ein Leben in Würde zu verstehen. Sonst würde uns die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern, der Kranken von ihren Ärzten oder allen Menschen, die von anderen in ihrem Alltag auf Unterstützung angewiesen sind, in große Schwierigkeiten bringen. Wir verstehen diese Form des aufeinander Angewiesenseins als einen nicht unwesentlichen Bestandteil unseres menschlichen Miteinanders und würden diese Abhängigkeiten nicht als entwürdigend beschreiben. Zwischen totaler Abhängigkeit, zum Beispiel durch Sklaverei und Schuldknechtschaft, und moralisch unbedenklichen Formen der menschlichen Interaktionen, in denen Menschen aufeinander angewiesen sind, erstreckt sich eine weite Bandbreite möglicher Abhängigkeitsbeziehungen. Wer in Armut lebt, ist in größerem Maße von Abhängigkeiten betroffen. Die armutsbedingten Einschränkungen der Freiheit reichen von einem nahezu völligen Freiheitsentzug in Formen der Sklaverei277 bis zu geringfügig erscheinenden Benachteiligungen in der alltäglichen Praxis. Weil das Überleben der armen Menschen nicht gesichert ist, sind sie in vielerlei Hinsicht von Zwängen und einer Negation ihrer Freiheit bedroht. Diese spezifischen armutsbedingten Unfreiheiten werden im Folgenden näher betrachtet.
Arm zu sein bezieht sich in erster Linie auf fehlende ökonomische Mittel, die auch mit einem Verlust an Zugangsrechten und politischer Macht und Marginalisierung einhergehen. Der Markt reguliert die 277
Vgl. Deile /Hutter, Jahrbuch Menschenrechte; The Global Slavery Index, The Global Slavery Index 2016; International Labour Organization, Global estimates of modern slavery: Forced labour and forced marriage, Geneva: 2017.
170
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
Handlungsmöglichkeiten. Alle oder zumindest die allermeisten Menschen haben in ihm einen begrenzten Spielraum. Nicht jeder kann in Harvard studieren, dies muss aber kein Problem sein. Schließlich ist es armen Menschen nicht verboten am Wohlstand oder Luxus teilzuhaben. Was armen Menschen fehlt, ist nicht die formelle Erlaubnis, an diesen Gütern teilzuhaben, sondern sind die Mittel, die ihnen Zugang zu diesen Gütern gewähren. Im negativen Sinn besitzen sie, wie alle anderen auch, die gleichen Möglichkeiten und Freiheiten, den Spielraum des Marktes zu nutzen. Insofern ist die Freiheit armer Menschen nicht formal eingeschränkt. Woran es armen Menschen fehlt, lässt sich leicht bei der Betrachtung von positiven Freiheiten erkennen. Armen Menschen fehlt in sehr umfassendem Maße die Möglichkeit, für ihre Gesundheit Sorge zu tragen, sich zu bilden und zur Schule zu gehen, ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen oder auch, ihre Zukunft zu planen. Ihr Spielraum ist wesentlich begrenzter, wenn es darum geht, Dinge zu tun, die sie für wünschenswert erachten. Dabei ist es nicht entscheidend, ob sie tatsächlich gesünder wären, wenn sie Zugang zu Gesundheitsgütern hätten, sondern, dass sie die Wahl hätten, sich zwischen Lebensstilen zu entscheiden. Wer sich in einem wohlhabenden europäischen Land mit gesetzlicher Krankenversorgung nicht medizinisch behandeln lässt, kann genauso krank werden und leiden, wie eine mittellose Bäuerin im subsaharischen Afrika. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied. Ersterer handelt aufgrund einer persönlichen, wie auch immer begründete Entscheidung, sich nicht durch Ärzte behandeln zu lassen, während für die kranke Frau überhaupt nicht die Wahl besteht, ob sie sich helfen lassen will. Wenn kein Arzt erreichbar ist, er nicht bezahlt werden kann, es kein Solidarsystem für diese Leistungen gibt, dann hat die arme Frau schlicht nicht die Freiheit, sich für eine medizinische Behandlung ihrer Krankheit entschei-
5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut
171
den zu können. Dieses Beispiel erklärt aber noch nicht, inwiefern Armut dazu führt, dass arme Menschen wichtiger Handlungs-möglichkeiten beraubt sind, was potenziell eine Gefahr für ein würdiges Leben ist. In welchen Bereichen werden die Freiheiten armer Menschen eingeschränkt, weil sie arm sind? Faktisch versperrt der Mangel an Mitteln, worin sich die Armut manifestiert, den Zugang zu vielen Möglichkeiten der menschlichen Praxis. Für die menschliche Praxis wichtige Felder, wie Bildung und Gesundheit, aber auch das Rechtssystem und der politische Einfluss sind in die Wirkungsweisen des Marktes eingebunden. Das bedeutet nicht, dass politische Entscheidungen käuflich oder die juristischen Instanzen bestechlich sein müssen, sondern dass arme Menschen viel weniger Möglichkeiten haben, an diesen teilzuhaben, weil ihre Ressourcen in viel umfassenderem Maße auf unmittelbare Bedürfnisse ausgerichtet sind. D.h. sie können sich die eigene Bildung und die ihrer Kinder nicht nur nicht leisten, weil dafür zusätzliche Geldmittel nötig wären, die sie nicht haben, sondern außerdem, weil die Kinder dann nicht mehr zum Familieneinkommen beitragen können und somit eine noch prekärere Situation gefürchtet wird.278 Im Fall des Rechts stellt sich das Problem für sehr arme Menschen ähnlich dar. Es fehlen nicht unbedingt wichtige Gesetze zum Schutz gefährdeter Menschen, sondern die Mittel und Möglichkeiten, als Träger von Rechten aufzutreten und zu handeln. So zeichnet sich Indien zum Beispiel als einer der fortschrittlichsten Staaten in Bezug auf die verankerten Gesetze zum Recht auf Nahrung aus; dennoch ist Indien eines der Länder mit der höchsten Zahl hungernder
278
Vgl. Alejo Vázquez Pimentel, Diego, Reward work, not wealth, 2018, S. 13, 44; International Labour Organization, Global estimates of child labour: Results and trends, 2012 2016, Geneva: 2017.
172
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
Menschen.279 Die betroffenen Menschen können ihre Rechte nicht einfordern oder einklagen, weil ihnen die Mittel für Prozesse fehlen und das Gefälle an Handlungsmöglichkeiten und Machtfülle zwischen den Rechtsbrechern und den Beschädigten so groß ist, dass ihre Erfolgsaussichten begrenzt sind. Arm zu sein bedeutet dann, nicht nur wenige oder zu wenige Mittel am Markt zu haben, sondern entsprechend keinen Zugang zu wichtigen Bereichen zu haben, die für ein würdiges Leben notwendig sind. Wenn arme Menschen aus so wichtigen Bereichen ausgeschlossen werden, sind ihre Handlungsmöglichkeiten in massiver Weise eingeschränkt und ihre positiven Freiheiten minimal oder faktisch nicht vorhanden. Allerdings ließe sich einwenden, dass Armut zwar die Freiheiten von Produzenten und Konsumenten, aber gerade nicht die von Akteuren einschränkt. Denn schließlich können die Parameter des Marktes und Bereiche, die von ihm beeinflusst werden (z.B. Gesundheit), nicht auf die gesamte menschliche Lebenswelt übertragen werden. Gegen diesen Einwand lässt sich sagen, dass Armut jedoch dazu führt, dass andere Lebensbereiche, wie z.B. die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen oder politischen Partizipation, stark eingeschränkt sind oder fehlen. Als Konsumenten sind arme Menschen im Marktgeschehen benachteiligt, weil die vorausgesetzten Parameter der Marktlogik auf sie nicht mehr
279
Etwa 200 Millionen Menschen leiden in Indien Hunger. Das Recht auf Nahrung ist in der Indischen Verfassung (Constitution of India 1949) unter Artikel 21 als Teil der Rechte auf Freiheit mit dem Schutz des Lebens und der persönlichen Freiheit gefasst. Mit dem National Food Security Act von 2013 sollen Nahrungsmittel für die Hungernden bereitgestellt werden. Vgl. Deutsche Welthungerhilfe e.V./ Concern worldwide, Country Case Studies: Working to zero hunger. Burundi, India and Malawi, in Global Hunger Index 2016, (Hg.) Deutsche Welthungerhilfe e.V. / Concern worldwide (2016), S. 13.
5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut
173
zutreffen. Auf vielfältige Weise fallen arme Menschen aus den Bereichen des eingehegten Marktes heraus. Die große Bedeutung informeller Märkte, die ohne gesetzlichen Rahmen und Schutz, aber dennoch nach Regeln funktionieren, zeigt den Schatten des Ausschlusses großer Gruppen von Menschen aus diesem Gefüge.280 Da die Teilnahme an ökonomischen Prozessen kein Zwang darstellt, könnte man einwenden, dass arme Menschen nicht gezwungen sind, sich in ihrer Situation von anderen übervorteilen zu lassen. Jedem ist es schließlich selbst überlassen, mit wem er welche Geschäfte macht. Diese behauptete Freiwilligkeit kann aber nur eingegrenzt gelten, da ein völliger Austritt aus diesem Gefüge nur bedeuten könnte, dass jemand sich gänzlich eigenständig mit allen nötigen Mitteln fürs Leben versorgt. Angesichts des großen Anteils der Subsistenzbauern unter den extrem armen Menschen, überzeugt die Behauptung potentieller Selbstgenügsamkeit nicht. Diese Bauern sind auch in die globale Ökonomie einbezogen und leiden unter deren Nachteilen.281 Während es für Konsumenten und Produzenten auf dem ökonomischen Markt dazu gehört, dass Mittel ungleich verteilt sind, sind Akteure unbedingt als gleichberechtigt und mit den gleichen Handlungsfreiheiten ausgestattet anzusehen. Ihre Möglichkeiten zu handeln werden dadurch untergraben, dass sie in immer weniger Bereichen tatsächlich als Akteure auftreten können, sondern in immer mehr Kontexten zu Konsumenten bzw. Produzenten werden.
280 281
Vgl. Alejo Vázquez Pimentel, Reward work, not wealth, S. 42. Vgl. Kommer, Steffen, Menschenrechte wider den Hunger: Das Recht auf Nahrung zwischen Wissenschaft, Politik und globalen Märkten, Baden-Baden: 2016, S. 236; Die Kleinbauern und Kleinbäuerinnen leiden unter den Preisschwankungen des Weltmarktes. Sie können Preisverfall, Preisschwankungen und Billigimporte aus subventionierten Agrarproduktionen nicht ausgleichen.
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5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
Arme Menschen verfügen mitunter über viel weniger Möglichkeiten, freie Entscheidungen zu treffen als Menschen, die nicht von Armut betroffen sind. Entwürdigende Situationen entstehen, da sich von Armut Betroffene oftmals nur zu den gegebenen Umständen verhalten können, aber ihre eigenen Entscheidungen aber keine Relevanz haben. Doch was heißt es, in seinen Entscheidungen begrenzt zu sein? Um eine Entscheidung treffen zu können, muss der Akteur (X) eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen (X1, X2, X3 n) haben. Die Wahl zwischen den Optionen darf nicht willkürlich erfolgen, sondern Gründe müssen angeführt werden können, warum sich jemand für X1 oder eben für X4 entschieden hat. Diese Gründe sollten in minimaler Hinsicht nachvollziehbare Gründe sein. Um eine freie Entscheidung treffen zu können, ist es darüber hinaus notwendig, dass die zur Wahl stehenden Optionen wünschenswerte oder zumindest annehmbare Optionen für das Handeln darstellen. Sind diese drei Kriterien erfüllt, lässt sich von freien Entscheidungen sprechen. Diese sind insofern von moralischer Relevanz, als dass nur unter der Voraussetzung, dass Menschen frei zwischen Optionen wählen können, freies und verantwortbares menschliches Handeln ermöglicht wird. Wo diese Freiheit nicht vorhanden ist und nur Zwang herrscht, ist menschliches Handeln nicht mehr möglich. Dies ist für alle Entscheidungen relevant, die von dem Umstand der Armut beeinflusst sind. Die Abwesenheit von Zwang mag nicht alle Lebensbereiche umfassen, betrifft aber zumindest mittelbar viele Aspekte eines als würdig verstandenen menschlichen Lebens. Dazu gehören die Entscheidungen darüber, was und unter welchen Bedingungen jemand arbeiten möchte, welche Nahrung er konsumiert, welche politischen Positionen eine Person bezieht, mit wem das Leben verbracht
5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut
175
wird und wie die jeweilige Person ihr Leben führen möchte. Da die Ressourcen der Menschen in Armut massiv eingeschränkt sind, wirkt sich dies negativ auf ihre Entscheidungsfreiheit aus. Diese Personen können sich nicht für gesündere Lebensmittel entscheiden, weil diese teurer sind und keine Ressourcen erübrigt werden können. Auch können sie es sich nicht leisten, auf einen besser bezahlten Job zu warten, wenn die nötigen Überlebensmittel unmittelbar gebraucht werden und keine Möglichkeit des Aufschubes besteht. Es geht also um Entscheidungen, die das alltägliche Leben und seine Gestaltung betreffen. Allerdings ist nicht nur eine unmittelbare kurzfristige Perspektive gemeint, sondern es geht ebenso um Entscheidungen, die das ganze Leben betreffen. Damit sind die Freiheiten gemeint, die es ermöglichen, sich für eine langjährige Schulausbildung zu entscheiden, um nach erfolgreichem Abschluss eine anspruchsvolle und befriedigende Tätigkeit ausüben zu können oder aber die Freiheit, eine Ehe nicht aus ökonomischer Notwendigkeit282, sondern aus anderen, möglicherweise besseren Gründen einzugehen. Angesichts der unmittelbar prekären Situation von Menschen in Armut fehlt es ihnen an Spielraum, freie Entscheidungen zu treffen. Aber inwiefern sind sie darin unfreier als anderen Menschen, die ja auch nur innerhalb eines gewissen Spielraums entscheiden können? Wenn ihnen die Mittel fehlen, um sich auf anderem Wege Nahrung zu verschaffen, dann bleibt ihnen die Möglichkeit, sich von Abfällen zu ernähren. Niemand würde auf die Idee kommen zu behaupten, dass dies ihre freie Entscheidung ist. Da sich Armut nicht nur im Fehlen
282
Vgl. Alejo Vázquez Pimentel, Reward work, not wealth, S. 43; Ter-Nedden, Corinna, Zwangsverheiratung als moderne Form der Sklaverei, in Deile / Hutter (Hg.), Jahrbuch Menschenrechte: Schwerpunkt: Sklaverei heute, Frankfurt a.M.: 2007; International Labour Organization, Global estimates of modern slavery, 2017.
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5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
von Mitteln manifestiert, schränkt auch der fehlende Zugang zu Möglichkeiten die Wahloptionen massiv ein. Wer aus strukturellen Gründen keinen Zugang zu Bildung hat, kann schlicht nicht aus einem Bildungsangebot wählen. Der erste Einwand an dieser Stelle ist, dass es nur sehr wenige Situationen gibt, in denen tatsächlich keine Wahlmöglichkeiten bestehen und es nur eine Handlungsoption gibt. Nur wer kurz vor dem Verhungern steht, muss auch essen, was andere Leute wegwerfen. Dieser Einwand beruht auf minimalistischen Ansprüchen in Bezug auf die menschliche Entscheidungsfreiheit. Jedoch ist fraglich, ob wir diese minimale Form als ausreichend ansehen, wenn wir uns als Menschen mit einem würdigen Leben verstehen. Wenn eine arme Person bei der Wahl ihrer Arbeit vor verschiedenen Optionen steht und sich für einen Job entscheidet, der sklavenähnliche Bedingungen mit sich bringt, würden wir die angeführten Gründe als nicht annehmbare Gründe ablehnen. Die mangelnde Entscheidungsfreiheit zeigt sich darin, dass keine tatsächliche Wahl mehr besteht, sondern äußerer Zwang dazu führt, dass sich die armen Menschen nur noch zu den Gegebenheiten verhalten können, ohne sie maßgeblich beeinflussen zu können. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht in der Lage sind, die grundlegenden Bedürfnisse für ein Überleben und ein würdiges Leben zu erfüllen. Da sie sich von bestimmten nicht-substituierbaren Bedürfnissen nicht befreien können, haben sie nicht die Möglichkeit, sich wie ein rationaler Akteur, z.B. am Markt, zu verhalten. Sie können ihre Güter nicht für den höchsten Preis verkaufen, sondern sie sind aufgrund ihrer prekären Situation gezwungen, sich auch für schlechte Preise ihre Waren abnehmen zu lassen.
5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut
177
Ein weiterer Bereich, in dem arme Menschen Freiheit einbüßen müssen, ist ihre Freiheit, sich zu bewegen. Was ist mit dieser Freiheit gemeint? Mit Bewegungsfreiheit bezeichne ich diejenige Freiheit, selbst über den eigenen Aufenthaltsort entscheiden zu können, sich frei bewegen zu können und nicht von Orten ausgeschlossen zu werden. Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob arme Menschen systematisch diskriminiert werden und ihre Bewegungsfreiheit derart negiert wird, dass ihnen Unrecht geschieht und diese Einschränkung ihr würdiges Leben gefährdet. Der Zugang zu den meisten Orten dieser Welt ist auf bestimmte Weise geregelt. Ob Staatsgrenzen, Privateigentum oder Eintritt zu Veranstaltungen und Freizeitclubs: Menschen benötigen gültige Pässe, Aufenthaltsgenehmigungen, die Duldung des Hausbesitzers, oder eben finanzielle Mittel, um den Eintritt zu bezahlen, um an die jeweiligen Orte zu gelangen. Allerdings bedarf es für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen mehr oder weniger gute Gründe zumindest aber Legitimationen. Die größte aller möglichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Menschen ist der Freiheitsentzug, wenn Menschen in Strafvollzuganstalten eingesperrt werden, die aber auch des größten Aufwandes (ein ordentliches Gerichtsverfahren) bedarf. Wenn arme Menschen auf signifikante Weise in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, muss überprüft werden, ob es hinreichende Gründe oder Legitimationen für diese Einschränkungen gibt. Die Befürchtung ist, dass ihre fehlende Bewegungsfreiheit entwürdigend sein könnte, weil sie strukturell einer Gefangenschaft (Freiheitsentzug) ähneln, für die es keine hinreichende Legitimation gibt. Arme Menschen werden in verschiedener Hinsicht räumlich ausgeschlossen und damit in ihrer
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5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt. Zum Beispiel zeigt der verweigerte Zugang zu Gebieten, in denen Menschen leben und arbeiten können, ihre mangelnde Bewegungsfreiheit auf. Die Einschränkung von Bewegungsfreiheit armer Menschen nimmt besondere Ausmaße im Bereich der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft ein. Das Thema Landgrabbing ist eines der umstrittensten politischen Themen in der Debatte um Hunger.283 Wenn reiche Menschen aus Nordamerika und Europa große Landflächen in Ländern erwerben, in denen ein hoher Anteil der Menschen sehr arm ist und die Menschen hungern, wird damit den armen Menschen der so wichtige Zugang zu Land (als wichtigste Voraussetzung, der Armut zu entkommen) verwehrt. Durch die Neustrukturierung der Eigentumsverhältnisse wird den betroffenen Menschen in kleinbäuerlichen Strukturen die Nutzung von wichtigen Räumen verwehrt. Die Verdrängung aus bestimmten Räumen führt zu einer immer größeren Landflucht armer Menschen, die dann in den wachsenden Städten die Slums bevölkern und dort ebenso schwerlich ein würdevolles Leben führen können. Außerdem zeigen sich ihre eingeschränkten Möglichkeiten darin, wie arme Menschen sich im öffentlichen Raum bewegen können. Das Problem, das sich in Bezug auf die fehlende Bewegungsfreiheit armer Menschen ergibt, ist die Tatsache, dass Armut aus der Öffentlichkeit verdrängt wird und arme Menschen immer weniger die Möglichkeit haben, an einer echten Öffentlichkeit teilzunehmen. Die Orte, die rein öffentlichen Charakter haben, werden immer weniger. Nahezu das gesamte kulturelle Leben spielt sich im kommerziellen Rahmen ab, d.h. es sind Mittel und Ressourcen nötig, um am kulturellen Leben teilzu-
283
Vgl. Kommer, Menschenrechte wider den Hunger, S. 253; Weingärtner/Trentmann, Handbuch Welternährung; S. 78 f.
5.1 Fehlende Freiheit durch ein Leben in schwerer Armut
179
nehmen. Selbst ehemals öffentliche Orte wie Bahnhöfe oder öffentliche Plätze sind nicht mehr allen Menschen zugänglich und sehr arme Menschen, wie z.B. Obdachlose werden in reichen Gesellschaften nicht geduldet. Der Aufenthalt ist stark an soziale und finanzielle Vorgaben geknüpft; wer diese nicht erfüllen kann, erhält Platzverweise. Arme Menschen haben zudem große Schwierigkeiten, ihr Erscheinungsbild von der Armut nicht zeichnen zu lassen. So wird es für sie immer schwieriger, ohne Scham in der Öffentlichkeit aufzutreten.284 Mit dieser Verdrängung gehen Marginalisierungsprozesse einher, die weit über den ökonomischen Bereich hinausgehen, und somit kumulierende Effekte haben hinsichtlich der schwindenden Handlungs- und Bewegungsfreiheit armer Menschen. Wenn der Zugang zu Orten, Gebieten oder überhaupt zu Land (im Sinne eines legitimen Aufenthaltsortes) über finanzielle Macht geregelt wird, sind die Armen strukturell und systematisch von einer Teilhabe ausgeschlossen. Dies ist insofern demütigend, als dass ihnen nicht nur nicht die gleiche Freiheit wie anderen Menschen zusteht. Ohne dass arme Menschen etwas moralisch Falsches getan hätten, werden sie aufgrund ihrer Armut ausgeschlossen.
Bis hierher ging es um fehlende individuelle Freiheiten bzw. darum, inwiefern die Möglichkeiten, freie Entscheidungen zu treffen, frei zu handeln und sich frei zu bewegen durch den Umstand der Armut eingeschränkt werden. Hier richtet sich die Frage auf eingeschränkte Freiheit in den Beziehungen zu anderen Menschen und ob Menschen aufgrund ihrer Armut von anderen Menschen abhängig werden und diese 284
Vgl. Sen, Ökonomie für den Menschen, S. 94; Sen verweist an dieser Stelle auf Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen, Bd. 2, 5. Buch, Kapitel 2.
180
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
Abhängigkeit ihre Handlungs- und Gestaltungsfreiheit in zu großem Maße einschränkt. Armut und insbesondere Hunger führen dazu, dass die betroffenen Menschen abhängig von anderen Menschen werden. Sie sind nicht mehr als gleichberechtigte Akteure innerhalb eines Gemeinwesens unterwegs, sondern sind auf entwürdigende Weise abhängig. Inwiefern sich die Abhängigkeit von normalen menschlichen Kooperationen unterscheidet, muss gezeigt werden und anhand dessen überprüft werden, worin der Unterschied besteht. Wie verhält es sich mit der Kooperation mit anderen Menschen und der Abhängigkeit von anderen Menschen bei Armut? Alle Menschen sind in menschliche Beziehungen eingebunden und nicht als autonome unabhängige Wesen zu verstehen. Nicht nur Kinder oder alte Menschen sind auf die Zusammenarbeit mit anderen Menschen angewiesen, auch jede gesunde, erwachsene, für sich selbst sorgende Person ist auf das Handeln anderer Menschen angewiesen. Wenn die Busfahrer oder Bäcker streiken, wird schnell deutlich, dass wir alle in einem funktionierenden Gemeinwesen darauf angewiesen sind, miteinander zu kooperieren. Prinzipiell stellt diese Form der Kooperation und der Abhängigkeit von anderen Menschen kein moralisches Problem dar. Auch Kranke und alte und junge Menschen sind auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Zwar kann auch diese Abhängigkeit potenziell die Würde der Abhängigen gefährden, so handelt es sich aber in der Regel um die sehr nahen und starken moralischen Verpflichtungen, uns um unsere Kinder, unsere alten Eltern und Großeltern oder um kranke Freunde oder Angehörige zu kümmern. Wir können diese Abhängigkeiten akzeptieren und sie stellen kein moralisches Problem dar. Für die Akzeptanz dieser abhängigen Situation sor-
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181
gen drei Aspekte. Der wichtigste Aspekt ist der Grund der Abhängigkeit. Wenn es um anerkannte Gründe geht, auf andere Menschen angewiesen zu sein, stellt es auch kein Problem dar, in dieser Abhängigkeitsbeziehung zu stehen. In den Fällen dieser gemeinhin anerkannten Gründe sichern reziproke Verpflichtungen, dass in der Situation z.B. von Krankheit Fürsorgepflichten übernommen werden. Dass besondere Aufmerksamkeit auch in diesen Situationen der Abhängigkeit bestehen muss, liegt in der besonders verletzlichen Situation der auf Hilfe Angewiesenen. Sie können sich häufig nicht gegen einen Missbrauch oder eine unangemessene Behandlung wehren. Ein weiterer Aspekt, warum die Situation der Abhängigkeit bei anerkannten Gründen nicht als würdegefährdend angesehen wird, ist, dass wir Institutionen schaffen, die in der prekären Situation helfen und diese Hilfe nicht als supererogatorische Handlungen erfragt werden müssen. Die Institutionen, die dafür sorgen, dass Menschen in besonderen Situationen geholfen wird, stellen einen wichtigen Schritt der Anerkennung dar. Ein letzter Aspekt, warum Abhängigkeit in manchen Kontexten akzeptiert werden kann, ist der der Zeit. Die Abhängigkeiten als Kind wie im Alter stellen einen begrenzten Zeitraum dar, in dem es Aussicht gibt, dass sich die betroffene Person aus der Abhängigkeit wieder lösen kann und ihre gleiche Freiheit in der Kooperation mit anderen Menschen zurückerhält. Zwar gibt es auch Menschen, die zeitlebens auf die Hilfe anderer angewiesen sind, jedoch sind auch sie einer aus dieser Abhängigkeit entstehenden Bedrohung ihrer Würde ausgesetzt. Auch hier ist es erforderlich, dass aus der Hilfsbedürftigkeit keine negativen normativen Beurteilungen erfolgen. Auch wenn dies hier nicht näher thematisiert werden soll, bergen auch diese Abhängigkeitssituationen das Potenzial der Würdeverletzungen und besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit sind geboten. Die Abhängigkeit von anderen Men-
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5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
schen wird dann ein Problem, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreitet. Hier spielt es eine Rolle, wie lange man abhängig ist, was der Grund für die Abhängigkeit ist und wie man in ein Netz eingebunden ist, d.h. auch welche anerkannten sozialen Institutionen es gibt, die Hilfe bereitstellen. Die Freiheit in ihrem Handeln büßen die Betroffenen dann ein, wenn ihr Handlungsspielraum so klein und die Abhängigkeit von anderen Menschen so groß wird, dass sie sich selbst nicht mehr als eigenständige Akteure verstehen können. Die große Gefahr der Abhängigkeit besteht darin, dass es entwürdigend sein kann, wenn die eigene Handlungsmacht kaum noch erfahrbar ist.
Armut und insbesondere ein Leben, in dem chronischer oder wiederkehrender Hunger zum Lebensalltag gehört, schränken die Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten, stark ein. Wer all seine Kräfte auf das kurzfristige Überleben richten muss, verfügt über keine Kapazitäten, mittel- oder langfristige Pläne für sein Leben zu machen. Arme Menschen sind in viel größerem Maße darin beschränkt, von Tag zu Tag ihr Leben zu meistern. Die These ist, dass Menschen durch Armut daran gehindert werden, ihr eigenes Leben zu planen und zu gestalten und ihnen damit eine grundlegende menschliche Freiheit genommen ist. Dazu soll zunächst nachvollzogen werden, inwiefern es schwierig bis unmöglich wird, eine eigene Biographie zu entwerfen, wenn armutsbedingt kaum Kontrolle über das eigene Leben besteht. Jedes menschliche Leben kann als eine Geschichte erzählt werden. Diese Geschichten werden meist retrospektiv erzählt und erscheinen so als eine stimmige Erzählung. Wenn es aber um das eigene Leben geht, haben wir nicht erst am Ende unseres Lebens ein Bild zusammen, sondern wir entwerfen auch prospektiv, wie wir leben wollen und entscheiden uns für gewählte Lebenswege. Zwar sind diese nicht immer
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gradlinig, ohne Brüche oder frei von Rückschlägen, doch erscheint es plausibel, das eigene Leben und dessen Vollzug als etwas sehr Wertvolles zu verstehen. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, sein Leben so zu gestalten, dass eine annehmbare Biographie verwirklicht oder zumindest möglich ist. Arme Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Nicht einmal für das Existenzminimum sorgen zu können, macht es schwierig bis unmöglich, über einen längeren Zeitraum zu planen und diese Pläne dann auch zu verfolgen. Um nicht nur fremdgesteuert oder unter Zwang zu leben, gehört es dazu, Pläne für das eigene Leben zu machen und diese auch verfolgen zu können. Dazu gehört nicht, dass man einen bestimmten Lebensplan macht und dass dieser dann auch erfolgreich eintritt, sondern vielmehr, dass es überhaupt sinnvoll ist, davon zu sprechen, Pläne zu haben und zu versuchen, sie zu verwirklichen. Dazu gehört auch notwendigerweise das Scheitern von Plänen, das Eintreten unvorhersehbarer Ereignisse, Krisen und Glücksfälle. Gescheiterte Pläne oder Unglücksfälle gehören zu einer persönlichen Biographie dazu. Darin unterscheidet sich das Leben wohlhabender Menschen nicht von dem armer Menschen. Alle Menschen entwerfen ihr Leben in die Zukunft und wollen diese Zukunft mitgestalten. Was ist nun die besondere Situation armer Menschen? Warum ist es ihnen so schwer möglich, eine eigene Biographie zu entwerfen? Arme Menschen sind um ein Vielfaches verletzbarer und haben zu wenige Ressourcen, um mit unvorhergesehen Ereignissen, Krankheiten oder sonstigen Krisen umzugehen. Ihre Vulnerabilität und Krisenanfälligkeit erschweren es, überhaupt Pläne zu machen, die eine Chance auf Verwirklichung haben.285 Die Situation in Armut bedeutet, dass keine Re-
285
Vgl. Der Ausblick auf die Folgen des Klimawandels ist insbesondere für arme Menschen schlecht: vgl. Collier, Paul, Die unterste Milliarde: Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann, München: 2008, S. 7, 99 ff.
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5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
serven bestehen, wenn unvorhersehbare Ereignisse eintreffen. Es besteht häufig kaum die Möglichkeit, weit in die Zukunft planen zu können, weil gerade das Überleben der nächsten Zeit alle mögliche Kapazität einnimmt. Zu ihrer größeren Verletzbarkeit kommt hinzu, dass sie schon in besonders unsicheren Verhältnissen leben. Um den Schutz ihrer geringen Ressourcen ist es weitaus schlechter gestellt, als um das durch Versicherungen abgesicherte Eigentum wohlhabender Bürger. Zu ihrem erhöhten Risiko, das durch schlechte Wohnsituationen, schlechte Ausbildung, schlechte Böden oder große Rechtsunsicherheit bedingt ist, akkumuliert sich, dass sie kaum Abfederungsmöglichkeiten besitzen, um mit Krisensituationen fertig zu werden. Wenn eine Ernte ausfällt, kann ein fragiles Nahrungssystem schon zusammenbrechen und die Saatvorräte für die nächste Aussaat müssen verzehrt werden, um das unmittelbare Überleben zu sichern. Ihre dauerhaft bedrohte biologische Existenz macht es umso schwieriger, langfristige Pläne zu verfolgen. Wer nicht weiß, was er am nächsten Tag essen soll und täglich um sein Überleben kämpft, der hat keine Ressourcen, um Planungen für die Zukunft zu machen, die einen Wirklichkeitsbezug haben. Den Menschen fehlt es durch ihre Armut an elementarer Sicherheit, die jeden Lebensentwurf obsolet werden lässt. Die Situation, in der sie sich befinden, lässt keine Freiheit zu, die es erlauben würde, nachhaltig einen den täglichen Bedürfnissen übergeordneten Plan zu verfolgen. Selbst wenn es ihnen einmal möglich ist, über einen gewissen Zeitraum nicht unter Zwang ihr Leben zu führen, ist spätestens mit einer Krise (Krankheit einer Arbeitskraft in der Familie, Dürreperiode o.ä.) wieder der Lebensplan hinfällig. Allerdings werden auch die Biographien wohlhabender Menschen von derartigen Krisen geprägt und beeinflusst. So kann auch hier vorübergehende Arbeitslosigkeit oder eine schwere Krankheit dazu führen, dass die Biographie ungewünschte und unangenehme Wendungen nimmt. Der Unterschied
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zwischen diesen Krisen besteht in der Sinnhaftigkeit von Lebensentwürfen. Wo es keine Ausnahme ist, sondern die Regel, dass Menschen in Notsituationen geraten, dass ihre Pläne utopisch im Sinne struktureller Widerstände sind, dort kann nicht mehr sinnvoll davon gesprochen werden, dass diese Menschen eine ernsthafte Chance auf die Verwirklichung einer selbstentworfenen Biographie haben. Entsprechend gibt es auch keinen Entwurf, um aus der Armut zu entkommen. Alle möglichen Biographien stellen keine wünschenswerte oder auch nur annehmbare Version des eigenen Lebens zur Verfügung. Es zeigt sich, dass trotz der Prämisse menschlicher Freiheit eine erhebliche Diskrepanz zur Verwirklichung einer praktischen Freiheit, wie Sen sie fordert, vorhanden ist. Diese praktische Unfreiheit betrifft umfassende Lebensbereiche, wie die Befriedigung von grundlegenden Bedürfnissen, die Art und Weise der veräußerten Lohnarbeit, die möglichen Bildungschancen sowie die Aufenthalts- und Bewegungsmöglichkeiten armer Menschen. Die Lücke zwischen postulierter Freiheit und besonderer, würdebegründender Wesenseigenschaft und faktischen Abhängigkeiten wirft zumindest die Frage danach auf, inwieweit diese Abhängigkeiten die menschliche Würde als Selbstachtung bedrohen. Es stellt sich die Frage, ob diese durch Armut negierten Freiheiten nicht so unabdingbar für ein menschliches Leben sind, dass diese Unfreiheiten in einem Widerspruch zu der postulierten radikalen Freiheit stehen. Die Lebenssituation armer Menschen zeichnet sich in vielerlei Hinsicht dadurch aus, dass sie nicht frei über zentrale Lebensbereiche entscheiden können. Außerdem haben sie nicht die Unabhängigkeit, sich ohne fremde Hilfe ausreichend vor Ausbeutung und Zwang zu schützen. Die armutsbedingten Freiheitsverluste führen in erheblichem Maße zum Verlust der Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene
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5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
Leben, sei es durch Unter- und Mangelernährung, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Zwangsprostitution, fehlende medizinische Versorgung oder fehlenden Schutz vor Gewalt. Das Leben in Armut grenzt die Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten massiv ein. Die radikale Freiheit des Menschen286, über das eigene Handeln zu entscheiden, bleibt zwar auch in der Not bestehen. Allerdings ist die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, durch die Armut unmöglich. Die Verletzungen der Freiheit bestehen in vielen Beschränkungen und Zwängen, die selbstbestimmte Entscheidungen unmöglich machen. Weil sich die Armut auf umfassende Bereiche des menschlichen Lebens auswirkt, können die betroffenen Menschen nicht unabhängig von der Armut entscheiden und handeln. 5.2 Gefährdete Selbstachtung Die fehlende Freiheit in schwerer Armut zeigt die Herausforderung für die menschliche Würde auf. Die sich nun stellende Frage zielt darauf ab zu klären, ob die eingeschränkte Freiheit zu einer Bedrohung oder gar Verletzung der menschlichen Würde führt. Insbesondere soll untersucht werden, ob die Diskrepanz von nomineller Freiheit und faktischen Zwängen dazu führt, dass die Selbstachtung armer Menschen verletzt wird. Dazu werde ich zunächst auf den Verlust der Kontrollfähigkeit eingehen. Daran anschließend wird die Negation von Achtung als Subjekt untersucht. Abschließend zeige ich auf, wie die menschliche Würde durch die Negation von Freiheit bedroht und verletzt wird.
286
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 79.
5.2 Gefährdete Selbstachtung
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Die beschriebenen Abhängigkeiten, in denen sehr arme Menschen leben müssen, führen zu einem Verlust an Kontrolle über das eigene Leben. Arme Menschen sind nicht frei in ihren Entscheidungen, weil die Not ihre Möglichkeiten massiv beschränkt. Diese Beschränkungen betreffen wesentliche und umfassende Lebensbereiche. Den Verlust der Kontrollfähigkeit führt Margalit als einen Aspekt an, wie Menschen gedemütigt werden.287 In der Situation der Armut bedeutet es, dass sie nicht durch Gewalt gezwungen werden, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen, sondern die Bedingungen, unter denen sie leben, zwingen sie dazu, alles zu tun, um ein Überleben möglich zu machen. Sie leben in Zwängen und sind abhängig von anderen Menschen. Dass die Ursachen für den Kontrollverlust struktureller Art sind, heißt nicht, dass sie nicht zu verantworten sind. Ein Verständnis von Freiheit muss berücksichtigen, dass der Mensch als handelndes Subjekt nicht permanent in seinem Überleben bedroht ist. Besteht das Problem der Weltarmut aus strukturellen Gründen dauerhaft, versagen die Institutionen, einen gemeinsamen Lebensraum für alle Menschen mit minimaler Freiheit zu gestalten. Von Armut betroffene Menschen sind in einem hohen Maße fremdbestimmt, weil ihre Armut ihre Gestaltungsspielräume massiv einschränkt. Diese Zwänge sind als Kontrollverlust über das eigene Leben zu interpretieren. Wer nicht entscheiden kann, wann er das nächste Mal etwas essen möchte, weil er hungrig ist, oder nicht entscheiden kann, wie er sein Geld verdienen möchte, dem fehlt es an der grundlegenden Freiheit überhaupt, ein annehmbares Leben zu führen. Arme Menschen haben in relevanter Hinsicht die Kontrolle über ihr eigenes Leben verloren. Sie können ihr eigenes Leben nicht dauerhaft sichern und das Leben ist durch enorme Verletzlichkeit und Kontingenz aus-
287
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 97.
188
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
gezeichnet. Sie können ihr Überleben aus eigener Kraft nicht sicherstellen, womit ein zusätzlicher Verlust der Selbstkontrolle einhergeht. Die Abhängigkeiten und der Zwang, die durch die Armut bestehen, führen nicht nur zu Fremdbestimmung in umfassenden Lebensbereichen, sondern auch zu der Erkenntnis, dass die Sorge um das eigene Selbst nicht möglich ist. Die Menschen sind gezwungen, sich entwürdigenden Situationen, Strukturen und Beziehungen auszusetzten (wie z.B. der Prostitution). Sich selbst vor diesen Demütigungen schützen zu können, ist wesentlicher Bestandteil eines menschenwürdigen Lebens. Wenn sich das Leben in Armut so darstellt, dass, egal wie sich der arme Mensch verhält, er keine Chance hat, an der Situation der Armut etwas zu ändern, sind die Amen mit dem Phänomen struktureller Gewalt288 konfrontiert. Diese Strukturen, die Armut verursachen, nehmen den Menschen die Möglichkeit, die Kontrolle über ihr Leben zu haben und die Institutionen schützen oder schaffen sogar diese Strukturen. Neben dem Verlust der Kontrollfähigkeit ist auch die Selbstkontrolle durch ein Leben in Armut bedroht. Arme Menschen verlieren die Fähigkeit, für sich und ihr eigenes Leben Sorge zu tragen. Sie scheitern darin und sind auf Hilfe durch andere angewiesen. Der Unterschied zu anderen Gruppen, die nicht selbst für sich sorgen können, liegt darin, dass sie eigentlich dazu in der Lage wären (unter anderen Bedingungen), jedoch versperren ihnen die Regeln des Marktes, die Strukturen und etablierte Institutionen diesen Weg. Die Beschreibung von Armut erfasst wesentliche Punkte des Verlustes der Selbstkontrolle. Die Verfügung über den eigenen Körper ist durch 288
Vgl. Galtung, Johan, Violence, Peace, and Peace Research, in Journal of Peace Research 6, Nr. 3 (1969), S. 167 191. Galtung entwickelte das Konzept zur strukturellen Gewalt als Teil der Friedens- und Konfliktforschung. Er beschreibt damit gewaltsame Zustände, die nicht durch einzelne Täter sondern durch gesellschaftliche Regeln, Institutionen und Strukturen wirken.
5.2 Gefährdete Selbstachtung
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Unterernährung oder Mangelernährung nicht möglich. Fehlende medizinische Versorgung im Krankheitsfall macht eine angemessene Sorge um den eigenen Körper unmöglich. Die Notwendigkeiten der Aufrechterhaltung des eigenen Lebens zwingt die betroffenen Menschen dazu, gesundheitsschädliche Arbeiten (z.B. im Steinbruch) oder erniedrigende Arbeiten (wie Prostitution) zu verrichten. Sie verlieren eine wesentliche Freiheit, über ihr Leben zu bestimmen und haben wenig bis keine Kontrolle darüber, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen. Außerdem reichen die Löhne auch nicht, um das eigene Überleben zu sichern, d.h. sie befinden sich in einem dauerhaften Zustand des Kontrollverlustes in Bezug auf das eigene Überleben. Der Kontrollverlust in Bezug auf mangelnde Freiheit zeigt sich auch darin, dass eine eigene Lebensplanung nicht möglich ist, weil einerseits die Ressourcen fehlen, um sinnvolle Pläne zu machen, wie zum Beispiel für den Schulbesuch und weiterführende Bildung, um der Armut eines Tages zu entkommen, und weil andererseits die Verletzlichkeit so groß ist, dass es keinen Sinn ergibt, Pläne für eine Zukunft zu machen, von der man noch nicht einmal weiß, ob man sie erleben wird. Die große Anfälligkeit für Krisen sowie die Unmöglichkeit, diese abzufangen oder zu kompensieren, nimmt ihnen die für ein menschliches Leben wesentliche Freiheit, Pläne für die Zukunft zu machen. Der Kontrollverlust und die mangelnde Selbstverfügung manifestieren sich auch in den fehlenden Chancen auf soziale Mobilität. Der Verlust der Kontrolle über das eigene Handeln und Leben beschädigt die Achtung armer Menschen, weil sie als Subjekte ihres Handelns nicht mehr in Erscheinung treten können. Mit der faktisch negierten Freiheit wird die Achtung der armen Menschen unterminiert. Arme Menschen verlieren die Achtung anderer Menschen, weil das handelnde Subjekt an der Achtung der Würde hängt. Damit die Achtung
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sinnvoll gedacht werden kann, darf sie nicht nur an einen transzendentalen Freiheitsbegriff geknüpft sein, sondern es bedarf eines substantiellen Freiheitsbegriffes, der Freiheitsnegationen berücksichtigen kann. In einem Leben in Armut kumulieren die Missachtungserfahrungen in wirtschaftlicher, politischer, sozialer und öffentlicher Hinsicht. Es bleibt den betroffenen Menschen lediglich die Achtung innerhalb eines rein privaten Kontextes. Dies ist aber keine Achtung im Sinne der menschlichen Würde, sondern eine persönliche Wertschätzung. Arme Menschen verlieren die Achtung der anderen Menschen, weil sie einerseits keine Leistung, die vertikale Achtung mit sich bringen würde, vorzeigen können, aber auch, weil sie als Subjekte ihres Handelns den Anderen nicht mehr auf horizontaler Ebene begegnen können. Wer keine Handlungsalternativen mehr hat, dem kann man auch nicht mehr begegnen, als ob er aus freier Entscheidung einen bestimmten (erniedrigenden) Job nachkommt. Die kumulativen Missachtungserfahrungen, denen arme Menschen ausgesetzt sind, sei es in wirtschaftlicher, sozialer, politischer oder öffentlicher Hinsicht, lassen keinen privaten Menschen mit Selbstachtung und Würde mehr übrig. Wenn arme Menschen behandelt werden, als ob sie Dinge oder Gegenstände wären, die keinen Hunger haben, deren Körper nicht schmerzen und deren Geist die Demütigung des Bettelns nicht spürt, werden sie nicht mehr wie Menschen behandelt und ihre Würde als solche wird missachtet. Ein sinnvoller Begriff von Freiheit muss berücksichtigen, dass das menschliche Leben nicht körperlos und unabhängig ist, sondern immer schon eingebunden in ein Netz von Menschen. Die Ermöglichungsbedingungen eines menschenwürdigen Lebens brauchen einen Begriff von Freiheit, der berücksichtigen kann, dass Menschen als solche gesehen werden und nicht ihrer Kontrolle beraubt werden, ein menschliches Leben führen zu können. Dabei geht es nicht darum, dass arme Menschen
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keine Menschen sind, sondern darum, dass sie auch als solche behandelt werden. In vielen Kontexten jedoch wird ihnen eine menschliche Behandlung verweigert. Bei menschlicher Freiheit geht es immer um die Ermöglichung dieser in den sozialen Kontexten. Freiheit darf nicht als eine Eigenschaft des Individuums verstanden werden, sondern muss als Raum innerhalb von menschlichen Interaktionen verstanden werden. Es geht nicht darum, von anderen Menschen unabhängig zu werden, sondern darum, dass keine entwürdigende Abhängigkeit entsteht. Diese entsteht aber, wenn einige Interaktionspartner über keine wirklichen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten verfügen. Das normative Selbstverständnis als Mensch beruht auf der Annahme minimaler Freiheit, die eng mit der Würde des Subjektes verbunden ist. Zu diesem Selbstverständnis gehört nicht nur eine theoretische (transzendentale Freiheit), sondern auch die Möglichkeit der Verwirklichung substantieller Freiheit. Wenn das Leben keinen Spielraum für eigene Entscheidungen und selbstbestimmte Handlungen lässt, dann ist auch das Verständnis als freier Mensch nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wird die Achtung armen Menschen nicht entgegengebracht, haben sie gute Gründe, um sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen. Dass sie in ihrer Lebenssituation vielfältigen Zwängen ausgeliefert sind, führt zu Zwang, auch Dinge zu ertragen oder zu tun, bei denen die Selbstachtung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Die Armut führt zu einer erzwungenen Missachtung des Selbst. Die Abhängigkeiten armer Menschen sind deswegen entwürdigend, weil sie keinen ausreichenden Handlungs- und Entscheidungsspielraum für wichtige Lebensbereiche zulassen. Die Negierung von Freiheit in diversen Kontexten führt zu der Erfahrung, die kumuliert die Situation von Zwang erzeugt, in der sich die betroffene Person nicht mehr als Akteur in seinem eigenen Leben wahrnehmen kann. Wenn Armut dazu führt, dass sich die Be-
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troffenen, um das Subjekt der Würde zur erhalten (das eigene Überleben zu sichern), nicht mehr zur Aufrechterhaltung der Selbstachtung betragen zu können, dann liegt es in der Verantwortung der Umwelt, ebendiese vulnerable Situation nicht auszunutzen, sondern für den Erhalt der Selbstachtung durch Achtung zu sorgen. Zu behaupten, arme Menschen besäßen alle Freiheiten wie alle anderen Akteure am Markt, bedeutet, dass die Prämissen einer fairen Tauschbeziehung (Informationen, Freiwilligkeit, Preise) nicht erfüllt sind, weil Armut ebengerade dazu führt, dass von einer freiwilligen Interaktion nicht mehr gesprochen werden kann. Ein von schwerer Armut Betroffener kann nicht wählen, wann er seine Nahrungsmittel kauft, da ihm körperliche Notwendigkeiten diesen Spielraum nicht lassen. So zu tun, als ob arme Menschen gleichermaßen ihre Freiheit in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Belangen nutzen können, verkennt die Situation, in der sich die armen Menschen befinden. Es ist demütigend, einen hungernden Menschen auf seine Entscheidungsfreiheit zu verweisen, sein Geld für seine Nahrungsmittel zu sparen, um zu einem späteren Zeitpunkt zu günstigeren Preisen einzukaufen, weil dann das Subjekt der Freiheit und der Würde, der Mensch als Individuum, nicht mehr vorhanden wäre. Dieses Dilemma von behaupteter Freiheit und faktischer Unfreiheit stellt sich den armen Menschen, denn die Option, sich frei gegen die Abhängigkeiten zu stellen, ist widersprüchlich. Denn damit wird das betroffene menschliche Leben zur Disposition gestellt, welches die Voraussetzung für das Subjekt der Freiheit ist. In einem Leben in Armut wird die Würde so auf verschiedene Weise bedroht. Es wird deutlich, dass die Idee des handelnden Subjektes eng verwoben ist mit unserem Verständnis menschlicher Würde. Wer nicht frei ist in den meisten Entscheidungen, die sein Leben betreffen, handelt nicht mehr als selbstbestimmtes Subjekt. Armut bedeutet für die Betroffenen ein Zurückgeworfensein auf die eigene Verletzlichkeit des
5.2 Gefährdete Selbstachtung
193
menschlich-körperlichen Lebens und fehlender Raum zur Entfaltung der eigenen Freiheit. Die Behauptung von nomineller Freiheit bei praktischer, kontextueller Abhängigkeit bedeutet eine Demütigung der Betroffenen, da ihre Situation der Unfreiheit nicht als moralisch problematisch anerkannt wird. Die Gefahr besteht in einer behaupteten Freiheit und dem nicht eingelösten Versprechen, dass diese auch verwirklicht werden kann. Es bedarf mehr als einer theoretischen radikalen Freiheit, die die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns ist, sondern es braucht ein Verständnis dessen, was substantielle Freiheit und wie wesentlich diese für ein menschenwürdiges Leben ist. Dabei kann Freiheit nicht auf das Individuum beschränkt gedacht werden, sondern muss soziale Kontexte immer schon mit einbeziehen. Die Verwirklichung substantieller Freiheit ist immer in ein Netz von vielen Menschen eingebunden. Insofern gibt es einen Zusammenhang zwischen Freiheit und Würde, der nicht auf die transzendentale Freiheit abzielt, sondern auf ein menschenwürdiges Leben, welches nur geführt werden kann, wenn es vor substantiellen Unfreiheiten geschützt ist. Die Dissonanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit muss ernst genommen werden und dazu dienen, die Missachtungen der Freiheitsansprüche und die daraus resultierenden Gefahren für die Würde zu artikulieren. Der normative Anspruch muss entsprechend der Lebenswirklichkeit der verweigerten Freiheit angepasst werden. Mit der Negation des moralischen Problems wird es jedoch umso schwieriger, Ansprüche, die aus der Situation erwachsen, durchzusetzen oder auch Gegenwehr gegen dieses Problem zu bilden. Die Zurückweisung substantieller Freiheitsansprüche aufgrund von nomineller Freiheit führt dazu, dass die Problematisierung der Würdeverletzungen delegitimiert wird. Letztlich geht es bei einem menschenwürdigen Leben nicht darum, frei von Bezügen in menschlichen Kontexten zu sein,
194
5 Armut und entwürdigende Abhängigkeit
sondern gerade darum, als freier Akteur in ebendiesen Kontexten anerkannt und so behandelt zu werden.
6
Armut und entwürdigende Ungleichheit chen sind frei und gleich an Würde und Rechten gebo289
Demütigungen erfolgen, wenn Menschen nicht als Menschen behandelt werden. Der Begriff der Menschenwürde und der moralphilosophische, normative Begriff von Gleichheit sind eng miteinander verbunden. So enthält die Menschenwürde den grundlegenden Anspruch auf eine prinzipielle Gleichheit aller Menschen. Es handelt sich um eine inhärente Würde, die jedem Menschen gleichermaßen qua Menschsein zukommt. Den Ausgangspunkt bildet also der gleiche normative Status aller Menschen. Die Lebenswelten der Menschen sind jedoch auf sehr unterschiedliche Weise ausgestaltet. In Bezug auf die menschliche Würde kann es keinen Unterschied zwischen einem armen Menschen und einem reichen König geben. Niemandem wird aufgrund von Herkunft, Geburt, Zugehörigkeit oder sonstigen Eigenschaften ein niedrigerer moralischer Status zugeschrieben. Der Frage, die in diesem Abschnitt gestellt werden soll, ist, inwieweit ein Leben in Armut dazu führt, dass diese geforderte und behauptete Gleichheit in Bezug auf den moralischen Status unterminiert wird. Dabei geht es nicht um die Frage, ob Menschen in Bezug auf ihre materielle Ausstattung alle gleichgestellt werden sollten, sondern vielmehr darum, ob Menschenwürde verletzt wird, wenn Menschen in schwerer Armut leben. Der normative Anspruch menschlicher Würde enthält die Annahme prinzipieller Gleichheit aller Menschen. Ob nun Armut als Ungleichheit eine Gefahr für die menschliche Würde darstellt, gilt es zu untersuchen. Es wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern Armut den Anspruch auf Achtung der Würde bedroht. Kommt es durch Armut zu 289
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 1.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_6
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6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
entwürdigenden Ungleichheiten? Die Hypothese dazu ist, dass ein Leben in Armut erhebliche Gefahren der Marginalisierung und Deprivation birgt, die mit dem gleichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben nicht vereinbar sind. Der Zusammenhang von armutsbedingten Ungleichheiten und Entwürdigungen wird dargestellt und die Bedrohung von zu großer Ungleichheit für den egalitären Status einer gleichen Würde beschrieben. In einem ersten Schritt gilt es zu überprüfen, ob der egalitäre Status des Menschen durch die Asymmetrien, die durch Armut entstehen, gefährdet werden kann. Entstehen Hierarchien, die eine Begegnung auf Augenhöhe verhindern? Wirken sich die armutsbedingten Asymmetrien und Hierarchien auf die gleiche Achtung der menschlichen Würde aus? Um diesen Fragen nachzugehen, wird das Verhältnis von egalitärem Status, reziproken Rechten und Pflichten und einer horizontalen Achtung näher betrachtet. In einem zweiten Schritt möchte ich dem Problem nachgehen, dass die Weltarmut als moralisches Problem zwar beschrieben wird, aber aus dieser Beschreibung keine Handlungsaufforderungen für alle Menschen folgen. Steckt in der Ignoranz und Irrelevanz der negierten Bedürfnisse und der fehlenden moralischen Berücksichtigung eine Entwürdigung? Dazu werde ich beschreiben, inwiefern arme Menschen isoliert und aus der Gemeinschaft aller Menschen ausgeschlossen werden. Außerdem wird die besondere Situation der Hilflosigkeit der Betroffenen thematisiert. Es geht darum zu erfassen, ob Armut zu derart tiefgreifenden Ungleichheiten führt, so dass Beziehungen der Hilfe nicht mehr als würdig erfahren werden können, sondern die Hilfe selbst zu einem potentiell entwürdigenden Akt wird. Mit einer Problematisierung von entwürdigenden Hilfen, die u.a. auch durch extreme und persistente Ungleichheiten entstehen, wird der Rückschluss auf die Bedeutung von Egalität für das Verständnis von Würde gezogen. Letztlich soll ein Verständnis von Würde als Achtung
6. 1. Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
197
von Gleichen unter Gleichen ausformuliert werden, das sowohl die horizontale Achtung herausstellt als auch den gleichzeitig hohen Rang dieser Gleichen betont.290 Damit wird ein weiteres Element der These eingeführt, dass Armut Ungleichheiten zwischen den Menschen schafft, die eine Gefahr für eine menschliche Würde gleicher Achtung sind. Die menschliche Würde wird negiert, wenn der grundlegende Anspruch jedes Menschen auf einen gleichen moralischen Status unberücksichtigt bleibt. Menschen dürfen nicht durch Ignoranz oder moralische Marginalisierung diesen Status als Gleichberechtigte verlieren. 6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut Dem Begriff menschlicher Würde ist inhärent, dass sie allen Menschen gleichermaßen zugeschrieben wird. Die menschliche Würde geht von einem gleichen moralischen Status eines jeden Menschen aus und expliziert darin den gleichen moralischen Status der Menschen. Kein Mensch und keine Menschengruppe ist von höherem oder niedrigerem Stand, Rang oder Wert als alle anderen. Demnach dürfte auch die Ungleichheit, die durch Armut entsteht, keinen Einfluss auf den moralischen Status und die menschliche Würde haben. Wie im dritten Kapitel ausgeführt wurde, dient der Begriff der Gleichheit als normative Referenz für die Grundlegung von moralischen Rechten und ist eine der Prämissen universalistischer Moralphilosophie. Der Diskurs darüber, in welcher Hinsicht Menschen gleich sind, und auf welche Prädikate sich die Gleichheit beziehen kann, wird an dieser Stelle wieder relevant.
290
Vgl. Waldron, Jeremy/ Dan-Cohen, Meir, Dignity, rank, and rights, New York: 2012, S. 34 36; Neuhäuser, Christian/ Stoecker, Ralf, Human dignity as universal nobility, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 298 309, S. 302, 306 f.
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6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Die extreme Armut und der existenzielle Mangel, unter denen ca. eine Milliarde Menschen weltweit leiden, sind nicht auf einen generellen Mangel an Ressourcen zurückzuführen. Sie sind Ausdruck einer extrem ungleichen Verteilung an Gütern, Zugängen zu lebensnotwendigen Gütern und Entscheidungsmacht. Die Armut der Menschen manifestiert sich in ungleichen Lebensbedingungen. Der Reichtum des reichsten Prozents der Weltbevölkerung ist größer als der Reichtum den 99 Prozent der Weltbevölkerung zusammen besitzen.291 Die enorme Ungleichheit des Wohlstandes zeigt sich in den Aufwendungen für Grundgüter: Während Menschen in absoluter Armut einen Großteil ihres Einkommens für Grundgüter aufwenden müssen, geben Europäer durchschnittlich nur ca. 22 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. In Deutschland sind es sogar weniger als 14 Prozent des Einkommens.292 Die Unterschiede zeigen sich auch in den unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Menschen. Während die reichsten Menschen kaum für die Vermehrung ihres Reichtums arbeiten müssen und die Rahmenbedingungen eigenständig gestalten können, leiden Millionen von Arbeitern weltweit unter ungesunden Arbeitsbedingungen, unzureichendem Arbeitsschutz, unzureichender Bezahlung und unsicherer Beschäftigung.293 Diese Umstände haben erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und auf die Lebenserwartung armer Menschen. Während Menschen in Japan oder der Schweiz eine Lebenserwartung von
291 292
293
Vgl. Alejo Vázquez Pimentel, Reward work, not wealth, S. 19. Vgl. Statistisches Bundesamt (destatis) 2019: Laufende Wirtschaftsrechnung. Basistabelle Konsumausgaben privater Haushalte: Nahrungsmittel. Vgl. Alejo Vázquez Pimentel, Reward work, not wealth, S. 32 f.; Jacobs, Didier, Extreme wealth is not merited, Oxfam International: 2015.
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
199
ungefähr 83 Jahren haben, beträgt diese in den Ländern mit den niedrigsten Entwicklungsindizes und dem größten Anteil sehr armer Menschen nur gut 50 Jahre.294 All diese Unterschiede bewirken, dass arme Menschen über eine deutlich schlechtere Lebensqualität verfügen, die sich in der Wohnsituation der Betroffenen, dem gesundheitlichen Zustand, ihrer Absicherung und ihrer Selbstbestimmung zeigt. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass jede Ungleichheit in Einkommen, Lebensqualität, Lebensdauer eine Gefahr für die menschliche Würde darstellt, ist herauszuarbeiten, warum diese Ungleichheiten entwürdigend sein sollen. Dabei ist hier lediglich von Interesse, welche Ungleichheiten und daraus folgende Implikationen zu einer Gefährdung menschlicher Würde führen. Wenn der gleiche moralische Status durch armutsbedingte Ungleichheiten untergraben wird, wäre ein Leben in Armut, das vermeidbar ist, nicht mit dem Anspruch einer gleichen menschlichen Würde zu vereinen. Die armutsbedingten Ungleichheiten würden sich als entwürdigend erweisen. Dazu wird nicht versucht, ein Set an gleichen Grundgütern auszuweisen, die aus Gründen der Gleichheit und Gerechtigkeit gefordert werden können, sondern Gefährdungen für die Interaktion auf Augenhöhe und die Achtung als Gleiche unter Gleichen zu identifizieren. Die Frage des egalitären Status und der Interaktion zwischen den Menschen ist insofern schwierig, als es nicht um die Frage direkter enger moralischer Pflichten geht. Die Situation ist eine andere, wenn es um die Frage nach der Überlebenshilfe für ein Familienmitglied oder einen Freund geht. Hier steht allerdings die Frage im Fokus, inwieweit das Überleben und das mit dem nötigsten ausgestattete Leben eine Rolle spielen, wenn keine Interaktion im engeren Sinne vorliegt und es nur 294
U.a. Nigeria, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Somalia: Vgl. World Population Prospects: The 2017 Revision: World Population 2017 Wallchart.
200
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
um die Tatsache geht, dass wir alle als Menschen einen gleichen fundamentalen moralischen Status haben. Was folgt an moralischem Urteil aus dieser fundamentalen Egalität? Wird der egalitäre moralische Status durch armutsbedingte Asymmetrien und Hierarchien untergraben? Wenn wir den moralisch gleichen Status der Menschen anschauen, der sich aus der menschlichen Würde ergibt und dies vor dem Hintergrund der Situation armer Menschen betrachten, dann sind wir mit einem komplexen Verhältnis von Asymmetrien und Hierarchien einerseits und Egalität und Reziprozität andererseits konfrontiert. Der moralisch gleiche Minimalstatus aller Menschen, die menschliche Würde, ist Prämisse und normatives Postulat zugleich. Mit der Behauptung einer gleichen, inhärenten Menschenwürde wird gleichzeitig eine normative Forderung verbunden. Der kapitalistische Markt setzt als Prämisse, dass sich am Markt gleichberechtigte handlungsfähige Personen einig über einen Tausch von Gütern, Waren oder Dienstleistungen werden. Dabei beruhen die Entscheidungen auf Freiheit. Jedoch zeigt das Phänomen der Armut, dass diese Freiheit in den Entscheidungen der armen Menschen nicht gegeben ist. Durch die Globalisierung sind alle Menschen über einen gemeinsamen, globalen Markt miteinander verbunden. Ökonomische Verflechtungen führen zu einer geteilten Lebenswelt, die über die Produktion von Gütern und deren Konsum miteinander verbunden ist. Insofern kann zumindest eine vollständige Zurückweisung von Verantwortung in der Berufung auf die Distanz zwischen armen und reichen Menschen kaum mehr überzeugen. Auf dem Markt der Nahrungsmittelproduktion zeigen sich die Asymmetrien, die durch Armut entstehen. Für die Nahrungsmittelproduktion sind Ressourcen in Form von Land, Wasser, Energie sowie Saatgut, Dünger, Lagerkapazitäten, Transportmittel und Marktzugängen
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
201
erforderlich. Die Nutzungs- und Eigentumsrechte von Land sind vielerorts umkämpft. Mit der Einhegung von Land und der Kapitalisierung des Bodens wurde der Grundstein für eine ungleiche Verteilung von Land gelegt. Heute gefährden Konflikte um Land die Existenz von armen Kleinbauern. Gerade in Entwicklungsländern, in denen es traditionelle Landnutzungsrechte ohne formelle Eigentumsrechte gibt, führt dies häufig dazu, dass das Land für arme Menschen nicht mehr nutzbar ist und sie vertrieben werden. Ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt, bleibt ihnen häufig nur die Möglichkeit der Migration oder der Arbeit auf ehemals von ihnen genutzten, nun aber von anderen aufgekauften Ländereien, von deren Lohn ein Leben ohne Armut nicht möglich ist. In Landkonflikten geht es neben der Nutzung des Landes um die Nutzung von Ressourcen, die für die Produktion von Nahrungsmitteln notwendig sind. Der Aufkauf von Land in den Entwicklungsländern durch multinationale Unternehmen, die an einer ökonomisch-lohnenden Ausbeutung des Landes interessiert sind, bedroht nicht nur die Einkommensgrundlage der Kleinbauern, sondern darüber hinaus auch ihre Ernährungssouveränität. Die Ausrichtung des Nahrungsmittelanbaus an lukrativen internationalen Märkten sorgt für einen Export von landwirtschaftlichen Gütern aus den Entwicklungsländern. Die Landflächen werden der Nahrungsmittelproduktion der armen Kleinbauern entzogen und verschärfen auf diese Weise die Ernährungssituation vor Ort. Der hohe Ressourcenverbrauch bei der Produktion trägt zur Deprivation der Lebenssituation der Menschen
202
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
vor Ort bei. Die negativen Umweltauswirkungen eines konsumistischen Lebensstils in den reichen Ländern tragen diejenigen, die am wenigsten von der Ausbeutung ökologischer Ressourcen profitieren. 295 Armut fordert durch die marktverstärkenden Mechanismen der Ungleichheit die Prämisse der Gleichheit heraus. Die Schwächergestellten können sich nicht erlauben, wie freie Akteure am Markt zu agieren, da sie dazu keine Kapazitäten zur Verfügung haben. Zu diesen Freiheiten gehören Informationen (über die Tauschbedingungen), Mobilität (um an anderen Orten Waren zu kaufen oder zu verkaufen) und Handlungsalternativen. Die Prämisse des Marktes von gleichen Tauschbeziehungen trifft nicht zu. Der Markt generiert also keine gleichen Chancen, setzt diese aber als Prämisse weiter voraus, wodurch es zu einer Verstärkung des Problems ungleicher Verteilung kommt, wie die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 20 Jahre gezeigt hat.296 Gerade das Phänomen der strukturellen Armut zeigt, dass sich Asymmetrien in der ökonomischen Lage gerade durch sogenannte Systemzwänge verstärken. Die Schuldenproblematik der ärmsten Länder zeigt, wie sich die Schuldenlast der Vergangenheit auswirkt und die asymmetrischen Verhandlungsstandpunkte zu einem Fortbestehen der Armut beitragen. Pogge hat gezeigt, dass die Legitimität der historischen Schuldenlast 295
296
Vgl. Albrecht, Stephan, Weltagrarbericht: Synthesebericht, Hamburg: 2009, S. 175 ff.; Braun, Almuth, Agrarwirtschaft für die Entwicklung, Düsseldorf: 2008, S. 162 173; Weingärtner/Trentmann, Handbuch Welternährung, S. 76 ff.; Insbesondere der Entzug der Ressource Wasser für Produkte des internationalen Marktes stellen ein großes Problem dar: vgl. Windfuhr, Wasser als Ware oder Menschenrecht auf Wasser?, S.30 f.; Dobner, Petra, Wasserpolitik: Zur politischen Theorie, Praxis und Kritik globaler Governance, Berlin: 2016, S. 71 ff. Vgl. Stiglitz, Joseph, Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, München: 2014, ab S. 118 ff. Haben und Nichthaben: Eine kurze Geschichte der Ungleichheit, Darmstadt: 2017, S. 125 ff.; Hardoon, An economy for the 99 %.
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
203
zumindest zweifelhaft ist.297 Armut als Begriff beinhaltet schon die Asymmetrie in wirtschaftlicher Hinsicht. Durch diese asymmetrischen Beziehungen entstehen gesellschaftliche Hierarchien. Welches Entwürdigungspotenzial bergen armutsbedingte Hierarchien? Eine Vermutung wäre, dass Hierarchien dann entwürdigend sind, wenn sie den egalitären Status der Menschen unterminieren. Nicht alle Hierarchien sind eine Gefahr für die Würde, jedoch sollten diejenigen genauer in den Blick genommen werden, die bestimmte Gruppen von Menschen systematisch benachteiligen, die umfassend sind und nicht nur einzelne Lebensbereiche betreffen sowie diejenigen Hierarchien, die weder legitimiert noch veränderbar sind. Die Gefahr der Hierarchien besteht darin, dass Menschen einander nicht mehr als Gleiche ansehen, sondern die Schwächeren wie Nicht-Ebenbürtige behandelt werden (durch Vorgesetzte, Institutionen oder Organisationen). Sowohl Armut wie auch Reichtum haben kumulative Effekte in Bezug auf Macht, Freiheit und die Gestaltung des eigenen Lebens. Wer reich ist, kann sich alle notwendigen und hinreichenden Güter am Markt sichern, ist weitestgehend unabhängig von preislichen Schwankungen, kann Einfluss auf Entscheidungen nehmen, gewinnt Macht und kann Krisensymptome kompensieren. Wer in schwerer Armut lebt, kann all dies nicht. Insofern verschiebt sich das vorausgesetzte Beziehungsgeflecht zwischen gleichen Akteuren zuungunsten der armen Menschen. Diejenigen, die nicht in Not leben, erhalten somit eine nicht gerechtfertigte Entscheidungsmacht über das Leben der Armen.
297
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S.195 f.; Schefczyk, Michael, Verantwortung für historisches Unrecht: Eine philosophische Untersuchung, Berlin, New York: 2012.
204
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Die Situationen, die durch Armut entstehen, untergraben den gleichen moralischen Status aller Menschen und ihren Umgang als Gleiche miteinander. Es ist entwürdigend, in der Praxis auf Hilfen angewiesen zu sein, weil die strukturellen Gegebenheiten ein gleiches Handeln verhindern. Hier muss klar werden, dass es nicht darum geht, dass jede Ungleichheit entwürdigend ist, aber dass bestimmte Ungleichheiten eine Gefahr für den Anspruch der Achtung gleicher Würde darstellen. Die Herabsetzungen armer Menschen aufgrund von ungleichen Ausgangsbedingungen sind in der Regel nicht intendiert. Jedoch geschehen Entwürdigungen, ohne als solche beabsichtigt zu sein. Gerade deswegen müssen die Konsequenzen bestimmter Konsumerscheinungen eben auch dazu führen, dass eine solche Praxis unterbunden wird. Niemand kauft billige Produkte, weil es in ihrer Produktion zur Würdeverletzungen der Mitarbeiter kommt. Sie werden gekauft, obwohl es zu diesen Verletzungen kommt. Die Achtung der armen Menschen wird durch Strukturen gefährdet, weil die zwischenmenschlichen Handlungen entpersonalisiert werden. Wenn aber die Gleichheit der Menschen durch sehr ungleiche Lebensbedingungen und Umstände unterminiert wird, dann ist dies eine akkumulierte Ungleichheit, die zwar zumindest theoretisch immer noch von einer Gleichwertigkeit des moralischen Status ausgehen kann, aber dennoch eine Diskrepanz im tatsächlichen moralischen Handeln aufweist. Wenn wir von der normativen Prämisse ausgehen, müssen wir auch moralisch daraufhin wirken, dass das enthaltene normative Postulat erfüllt wird. Wenn wir aber Kenntnis davon haben, dass Menschen so arm sind, dass ihre Lage als bedrohlich, als verletzlich und verwundbar bezeichnet werden muss, dann dürfen wir nicht so tun, als würden sich die Parteien auf Augenhöhe treffen. Eine Entscheidung
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
205
über die Löhne von Arbeitern darf sich nicht auf die freiwillige Zustimmung berufen, wenn ein Überleben durch das Einkommen der Arbeiter nicht gewährleistet ist. Nur wer selbst anerkennt, dass sein Gegenüber wirklich auf Augenhöhe mit ihm in eine Tauschbeziehung tritt, der kann sich sicher sein, dass keine Verletzung der menschlichen Würde vorliegt. Da wir häufig nicht direkt mit allen Beteiligten der Produktion und des Vertriebes in Kontakt treten, müssen wir uns jedoch sicher sein können, dass die jeweiligen Interaktionsparteien diesen Grundsatz anerkennen. Mit Margalit ließe sich andernfalls sagen, dass diese Situation demütigend ist, weil die Menschen nicht mehr auf Augenhöhe miteinander interagieren können. Armut ist eine Situation mit massiv ungleicher vertikaler Achtung. Vertikale Achtung beschreibt die Anerkennung und Achtung aufgrund von Besitz von mehr Reichtum, Leistung, Privilegien oder Verdiensten. Vertikale Achtung ist genuin ungleich verteilt und stützt sich auf ein Bewertungssystem. Horizontale Achtung hingegen beruht auf der Anerkennung als Gleiche, weil man zu einer Gruppe, wie zum Beispiel der Gruppe Mensch angehört. Die horizontale Achtung ist gleichwertig und bezeichnet diejenige Achtung, die Menschen gleichermaßen zukommt und eben nicht durch Verdienst erworben oder durch Misserfolg verloren gehen kann. Menschen mit Reichtum unterstellen wir, dass sie aufgrund von Leistung und Verdienst zu diesen Privilegien gekommen sind und die soziale Ehre und die vertikale Achtung entsprechend besonders hoch sind. Diese vertikale Achtung stellt jedoch eine Gefahr für die horizontale Achtung dar, wenn einer Gruppe von Menschen die Möglichkeit sozialer Ehre genommen wird. Es besteht die Gefahr, dass es durch die besondere Wertschätzung auf einer Seite und der Geringschätzung auf der anderen Seite zu einem Verlust der gemeinsamen Grundlage für die gleiche Achtung kommt.
206
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Die Gefahr der vertikalen Achtung besteht darin, dass sie einigen Menschen eine besondere Form der Wertschätzung entgegenbringt, die aufgrund von kontingenten Eigenschaften zugesprochen wird, z.B. wegen besonderer Leistungen, besonderer Schönheit oder der Eigenschaft, über viel Geld und damit auch Machtmittel zu verfügen. Bei horizontaler Achtung geht es um die Anerkennung als moralisch gleichberechtigte Wesen. Wenn arme Menschen geringgeschätzt werden, besteht die Gefahr, dass die Kombination von Abhängigkeit und Hierarchien ihren gleichen moralischen Status gefährdet. Dass ist insofern entwürdigend, als dass eine möglicherweise gleiche Interaktion auf Augenhöhe immer schwieriger wird. In den heutigen ökonomischen Tauschbeziehungen kommt es zu einer Entpersonalisierung ökonomischer Interaktion. Damit werden auch demütigende Aspekte nicht sichtbar: Dort wo die Ärmsten in die globale Ökonomie eingebunden sind, stehen wir doch nicht in direktem Austausch mit ihnen. Die Distanz zu den Produzenten, ihre Unsichtbarkeit, ihre politische Marginalisierung aber auch die Eigenverantwortungsthese sind Faktoren, die eine entpersonalisierte Interaktion vereinfachen. Daher muss das Regelwerk des kapitalistischen Systems bei solchen entfernten Interaktionsbeziehungen auf die Gewährleistung und Einhaltung von moralischen Ansprüchen und Rechten bestehen, damit keine entwürdigenden Praktiken geduldet werden. Sonst entsteht ein moralischer Raum außerhalb menschlicher Interaktionsbeziehungen, in dem nicht mehr alle Menschen als Gleiche geachtet werden, sondern wo es eine Ordnung gibt, die entwürdigende Praktiken billigend in Kauf nimmt und damit die armen Menschen als Menschen zweiter Klasse behandelt. Eine große Gefahr für die Entwürdigung von Menschen gerade im ökonomischen Bereich sind strukturelle und institutionelle Verbindungen, die zwar die Vorteile der Kooperation ausnutzen, aber nicht bereit sind, diese Vorteile auch gewinnbringend unter allen
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
207
Beteiligten aufzuteilen. Die Anonymisierung der Produktionsstätten, aber auch des Kapitals bergen diese Gefahr. Auf diese Weise werden die Lebensumstände von Millionen von Menschen, deren Armut nicht aus dem Mangel an Grundnahrungsmitteln, an grundlegenden Gütern hervorgeht, sondern aus der ungleichen Verteilung der zur Verfügung stehenden Güter bzw. deren ungleicher Aneignung, missachtet. Die Bestimmung der Legitimität dieser Aneignungstechniken erfolgt durch diejenigen, die am meisten profitieren. Im Margalitschen Sinne wäre dies der Fall, wenn die horizontale Achtung zwischen den Menschen aufgrund der Armut nicht mehr gegeben ist. Wenn Menschen nicht mehr als Menschen gesehen oder behandelt werden, dann wird ihre gleiche Achtung negiert. Diese Negation mag in der zwischenmenschlichen Interaktion noch der seltenere Fall sein, jedoch ist sie auf der institutionellen Ebene und der strukturellen Ebene durchaus der Fall. Die Tendenz der Entpersonalisierung ist in der Bürokratie angelegt und hat sie deswegen zu einem effizienten Instrument der Organisation auch von Gesellschaften gemacht.298 Vertikale Achtung und Handlungsmacht sowie Entscheidungsgewalt, wie sie durch Geld im kapitalistischen System vorhanden sind, unterminieren die horizontale Achtung, insofern mit der Zunahme an unterschiedlicher Gewichtung die Schwelle an minimaler gleicher Achtung immer kleiner wird. Die Schwächsten haben bei großer vertikaler Achtungsdivergenz weniger Möglichkeiten, auf die Missachtung der Grenze durch Höhergestellte zu verweisen bzw. deren Einhaltung einzufordern. Für arme Menschen sind zwischenmenschliche Hierarchien und Asymmetrien Tatsachen. Der Kontrollverlust über die eigene Lebensgestaltung sowie die benachteiligte Ausgangslage in zwischenmenschlichen Interaktionen, die mit der marktförmigen Struktur und 298
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 211 215.
208
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
unterstellter Unabhängigkeit verbunden ist, kann zu Erfahrungen führen, in denen die armen Menschen marginalisiert werden und es zu wiederholten Missachtungserfahrungen kommt. Gerade wenn die eigene Verletzlichkeit so groß ist, dass das eigene Überleben auf dem Spiel steht, müssen diese nachteiligen Interaktionen als missachtend empfunden werden. Armut zeichnet sich hier durch die Situation aus, dass keine Interaktion auf Augenhöhe stattfindet, die eine gleiche Berücksichtigung von menschlichen Interessen unmöglich macht. Als Beispiele können hier die ungleichen Tauschbeziehungen am Markt (Informationsdefizit, fehlende alternative Handlungsmöglichkeiten) oder auch die Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Institutionen oder die politische Marginalisierung und fehlende Interessenvertretung angeführt werden. Diese Akkumulation von Missachtungserfahrungen armer Menschen verletzt die Würde der Betroffenen, weil den betroffenen Menschen die horizontale Achtung versagt wird. Verweise und Forderungen nach einer Auflösung armutsbedingter entwürdigender Ungleichheiten gab es auf innergesellschaftlicher Ebene schon im 19. Jahrhundert Europas. Obwohl der Begriff der Menschenwürde keine bedeutende Rolle gespielt hat, gab es gerade im Bereich der sozialen Forderungen immer wieder Verweise auf das Elend der armen Bevölkerung und Forderungen, auch dem 4. Stand in der Gesellschaft ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.299 Auch wenn der Begriff der Menschenwürde es nicht in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution von 1789 geschafft hat, spielte der 4. Stand eine wesentliche Rolle bei der Durchsetzung der revolutionären Ziele - dazu gehörte auch die Forderung,
299
Vgl. Lohmann, Georg, Human Dignity and socialism, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 126 134, S. 127.
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
209
dass alle Bürger einen Anspruch auf menschenwürdige Lebensbedingungen besitzen. Soziale Forderungen wurden im 19. Jahrhundert zu zentralen Bestandteilen der politischen Entwicklung. So wurde nach der Abschaffung der Sklaverei und der Leibeigenschaft auch die Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung durch die wachsende Industrialisierung angeprangert. So verweist Lohmann auf die Forderungen nach sozialen Rechten, die in der Idee eines menschenwürdigen Lebens begründet sind und sieht trotz begrifflicher Distanz die Idee der Menschenwürde als hintergründiges normatives Konzept in der Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem enthalten.300 Marx problematisiert, so später auch Margalit, die Bedingungen unter denen Menschen nicht als achtungswürdige Gleiche, sondern wie Tiere behandelt werden. Habermas sieht in den formulierten Ansprüchen diejenigen Entwürdigungserfahrungen zum Ausdruck kommen, die einen besonderen Schutz durch Menschenrechte erst notwendig machen.301 deckerfunktion angesichts unerträglicher sozialer Lebensverhältnisse 302 verbindet seines Erachtens die erfahrenen Entwürdigungen mit den formulierten Menschenrechten. Aus den negativen Erfahrungen erwachsen die fundamentalen Ansprüche, die für alle Menschen geschützt sein sollen. In das Bild dieser historischen Forderungen passt ein Verständnis der menschlichen Würde, welches den Aspekt des menschenwürdigen Daseins aufnimmt. Dieser Vorschlag versteht die Idee der Würde als egalisierten Adel im Anschluss an Waldron und Vlastos.303 Bei dieser Interpretation ist die menschliche Würde durch Gleichheit einerseits und Nobilität andererseits geprägt. Hier ist die Idee einer allen Menschen 300 301 302 303
Vgl. ebd., S. 127 129. Vgl. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde, S. 344, 353. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde, S. 346. Vgl. Waldron/Dan-Cohen, Dignity, rank, and rights, S. 34.
210
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
gemeinsamen Würde mit der Egalisierung ehemals adeliger Privilegien und Rechte verbunden. Dieser Blick auf die menschliche Würde erinnert an die besondere Auszeichnung des Menschen, die mit seinem exklusiven Status einhergeht, wie es im Naturrecht oder im christlichen 304
Diese Interpretation der Würde, die eine Bedeutungskontinuität der sozialen Würde im modernen universalen Würdebegriff behauptet, ermöglicht es, besondere Verletzungen der menschlichen Würde abzubilden.305 Die Zuschreibung von Würde, Rang und hohem Ansehen, die vormals nur Adeligen zukam, wird auf e moderne Gesellschaft nicht als eine Gesellschaft ohne den Adelsstand, sondern als eine Gesellschaft, in der alle Menschen dem Adel mit den verbundenen Privilegien angehören. Die Idee einer gleichen, aber mit hohem Rang versehenen Würde versteht diese als unabhängig von Herkunft oder Leistung. Das Leben armer Menschen ist mit der Idee eines hohen Ranges nicht vereinbar. Für arme Menschen bleibt der moralische Anspruch auf dieses menschenwürdige Leben unerfüllt. Die Ungleichheit, die bedeutet, dass eine große Gruppe von Menschen in großer Not leben muss, negiert beide Aspekte dieser Forderung. Der egalitäre Status, der untrennbar mit dem universalen Anspruch der menschlichen Würde verbunden ist, wird durch die armutsbedingte Ungleichheit zumindest gefährdet. Die Asymmetrien und daraus folgende Hierarchien haben das Potenzial aufgezeigt, das zur Minderung der horizontalen Achtung führt. Eine naheliegende Option wäre es, die bestehenden Ungleichheiten durch Hilfe für die Armen zu kompensieren, wie es auch von Singer 304 305
Vgl. Waldron/Dan-Cohen, Dignity, rank, and rights, S. 22. Vgl. Neuhäuser/ Stoecker, Human dignity as universal nobility, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 306 f.
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
211
vorgeschlagen wird. Margalit diskutiert mit dem Paradox der Wohltätigkeit die besondere Gefahr, die aus der Hilfe für arme Menschen entsteht. Hier ist interessant, ob Hilfe auch Entwürdigungspotenzial besitzt und inwieweit die skizzierte Ungleichheit mit ihren Asymmetrien eine Gefahr für die menschliche Würde darstellt. Die Beziehung zwi306
. Im Unterschied zu den starken Hilfspflichten in anderen Notfällen, wie sie von Singer, Unger etc. konstruiert werden, handelt es sich nicht um eine punktuelle, lebensbedrohliche Situation, die durch einmaliges Eingreifen zu beheben ist wie bei der Rettung eines ertrinkenden Kindes. Hier wird die Hilfe, die auch dem einzelnen Kosten verursachen kann, deswegen gefordert, weil diese Hilfspflichten auf ein reziprokes Verhältnis zurückzuführen sind. Wer in einer solchen Situation Hilfe braucht und wer Hilfe leistet, ist kontingent. Jeder könnte in die Situation geraten, Hilfe zu benötigen (Unglück), und jeder könnte unmittelbar in die Situation geraten, diese Hilfspflichten zu haben (zufällige Anwesenheit). Im Fall von schwerer Armut lässt sich diese Form der gegenseitigen Hilfe nicht so einfach konstruieren, da es sich nicht um punktuelle Ereignisse handelt und eine Umkehr der Beteiligten in ihrer Rolle sehr unwahrscheinlich ist. Dass diejenigen in eine Situation menschenunwürdiger Lebensbedingungen geraten, die heute wohlhabend sind und in den Industrienationen leben, ist vergleichsweise unwahrscheinlich. Die Hilfe kann also nicht in einem reziproken Gleichbehandlungskonzept konstruiert und begründet werden.
306
Horster, Detlef, Einleitung. Weltarmut als moralisches Problem, in Horster, Welthunger durch Weltwirtschaft, S. 11.
212
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Margalit diskutiert die Wohlfahrtsgesellschaft und die Wohltätigkeitsgesellschaft als mögliche Varianten einer anständigen Gesellschaft. Inwieweit wäre es möglich, den genannten bestehenden Asymmetrien und Hierarchien durch internationale Hilfe zu begegnen? Auf globaler Ebene, auf der ich das Problem von Armut und Hunger betrachte, gibt es keine Wohlfahrtsgesellschaft. Es gibt keinen Wohlfahrtsstaat mit verbrieften sozialen Rechten jenseits nationaler Grenzen. Die internationale Hilfe, die auf die Kompensation und Bekämpfung von globaler Armut abzielt, fällt in Margalits Kategorie der Wohltätigkeit. Die humanitäre Hilfe und auch die Entwicklungszusammenarbeit beruhen auf der Freiwilligkeit der Geber. Diese identifizieren Leid und entscheiden über mögliche Hilfen aus egoistischen Interessen (z.B. zur sogenannten Gefahrenabwehr, aus eigenen wirtschaftlichen Motiven oder politischen Interessen) oder auch aus altruistischen Motiven wie Barmherzigkeit (als rhetorisch beliebtes Motiv in christlichen Kontexten). Diejenigen, die Geld und Güter empfangen, können an die reichen Staaten appellieren, die vorgesehenen Etats der Entwicklungszusammenarbeit für ihre Belange und die Armutsminderung in ihren Staaten zu verwenden, jedoch haben sie keine Grundlage, um diese Hilfen auch einzufordern. Der formulierte Anspruch der Gleichheit und das existierende Bestreben, Armut einzudämmen, haben in den letzten siebzig Jahren zur Etablierung des Politikfeldes der internationalen Hilfen geführt. Die Kritik an den internationalen Hilfen zur Armutsbekämpfung beschäftigt sich mit der Effektivität von eingesetzten Hilfen und auch mit produzierter Abhängigkeit und manifestierter Ungleichheit.307 Die Bedingungen der internationalen Hilfen können entwürdigend sein, zum 307
Insbesondere Nahrungsmittelhilfen stehen seit langer Zeit in der Kritik. Vgl. Nuscheler, Entwicklungspolitik, S. 272 275; Erler, Tödliche Hilfe; Datta, Armutszeugnis: Warum heute mehr Menschen hungern als vor 20 Jahren, S.135 144; Collier, Die unterste Milliarde, S. 131 160.
6.1 Würde und egalitärer Status: Asymmetrien durch Armut
213
Beispiel, wenn arme Menschen sich als hilfsbedürftig zeigen müssen, um erst Hilfe zu erhalten. Der Nachweis der Bedürftigkeit und die gezeigte Hilflosigkeit können die Betroffenen demütigen. So wie das Betteln deswegen entwürdigend ist, weil die Bedürftigen Mitleid erzeugen müssen, um an Hilfe zu kommen. Wenn das eigene Leid zur Schau gestellt werden muss, dann ist dies notwendigerweise eine Herabwürdigung des Bettelnden. Neben dem Zweifel, ob Hilfen durch Spenden tatsächlich dazu führen können, dass schwere Armut überwunden wird, ist fraglich, ob es nicht ein grundlegender Widerspruch ist. Armutsbedingte Ungleichheiten könnten durch Spendenhilfen sogar verstärkt werden, was diese Form der Unterstützung widersprüchlich machen würde. Dazu muss einerseits das Paradox der Wohltätigkeit308 nachvollzogen werden. Andererseits muss erwogen werden, unter welchen Umständen Hilfe entwürdigend ist. Das Paradox der Wohltätigkeit besteht darin, dass es von den Motiven der Helfenden unabhängig ist, ob Hilfe entwürdigend ist oder nicht. Hilfe kann aus egoistischen Motiven oder aus altruistischen Motiven geleistet werden. Egal, ob aus Eigeninteresse oder aus Barmherzigkeit geholfen wird, weil das Konzept der Hilfe im Fall der Armut die bestehende Asymmetrie zwischen den Menschen noch verstärkt, kann Hilfe für arme Menschen nicht frei von Entwürdigung sein. Wenn Hilfe geleistet wird, ist diese Hilfe ein Ausdruck menschlicher Zuwendung mit moralischer Bedeutsamkeit. Jedoch haben arme Menschen an dieser Stelle ein Problem, da sie aufgrund ihrer Situation ihrer Dankbarkeit keinen Ausdruck verleihen können und sich der nicht reziproken Beziehung bewusst sind. Denn die Hilfe für arme Menschen ist gerade
308
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 232.
214
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
nicht reziprok, da die Geber nicht erwarten müssen, dass sie gleichermaßen auf die Hilfe der anderen zu einem anderen Zeitpunkt angewiesen sein werden. Gerade weil Wohltätigkeit das asymmetrische Verhältnis aufrechterhält, ist das grundlegende Prinzip der Reziprozität aufgehoben. Wenn nun die Ungleichheit dazu führt, dass das reziproke Verhältnis von moralischen Rechten und Pflichten unterminiert wird, lässt sich die Situation, in der man auf Hilfe angewiesen ist, als entwürdigend charakterisieren. Insofern manifestiert die Hilfe in asymmetrischen, nicht-reziproken Beziehungen die Ungleichheit, anstatt dazu beizutragen, die Ungleichheit zu überwinden.309 Die Feststellung und der Nachweis der Hilfsbedürftigkeit machen die Menschen zusätzlich verletzlich, weil sie gezwungen sind, ihre Hilflosigkeit zur Schau zu stellen. Damit manifestiert sich auch im Konzept der Hilfe die entwürdigende Ungleichheit, weil die betroffenen Personen ihre Selbstkontrolle verlieren, nicht selbst für sich sorgen können, um Hilfe bitten müssen, sich nicht selbst hinreichend schützen und verteidigen können. Damit zeigt Margalit, warum das Problem entwürdigender Ungleichheit nicht durch die Idee der Hilfe aufgelöst werden kann. Zwar erfordert die Not der Menschen eigentlich unmittelbare humanitäre Hilfe, jedoch lässt sich damit die ethische Herausforderung der armutsbedingten Ungleichheit nicht bewältigen.
309
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 236 f.
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
215
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde ntischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezichtigen? Mit solchen Fragen wird oft versucht, die Diskussion ad absurdum zu führen - sie soll nicht fortgeführt, sondern abgebrochen werden. Die Fragenden gehen davon aus, dass die moralischen Urteile von Einzelpersonen, kleinen Gruppen, Soziopathen und Pädophilen schrecklich falsch sein können; dass aber wir, die zivilisierten Menschen des entwickelten Westens, uns alle so fundamental irren könnten, erscheint ihnen unvorstellbar. Warum erscheint ihnen das unvorstellbar? Die Anzahl der armutsbedingten Todesfälle reicht allemal für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Alle sieben Monate sterben so viele Menschen armutsbedingt, wie in 310
In dem folgenden Abschnitt geht es darum zu erfassen, worin eine Entwürdigung armer Menschen bestehen kann, wenn der egalitäre moralische Status der Menschen negiert wird. Ich werde mich dem besonderen Umstand widmen, dass es sich bei schwerer Armut um ein vermeidbares Ergebnis menschlicher Handlungen handelt: Das moralische Urteil wird weitestgehend geteilt, aber aus diesem Urteil werden keine entsprechenden Handlungen abgeleitet und somit besteht das Weltarmutsproblem seit Jahrzehnten fort. Dazu möchte ich der Frage nachgehen, was es für die Würde bedeutet, dass das Problem in erheblichem Ausmaß ignoriert wird. Was diese Ignoranz auszeichnet, inwiefern sie moralisch relevant ist und warum sie eine Gefahr für die menschliche Würde darstellt, möchte ich in drei Schritten nachzeichnen. Im ersten Schritt zeige ich, inwiefern unser Urteil über die Weltarmutssituation folgenlos bleibt und welche Gefahren in rationalisierenden Beschreibungen des Phänomens bestehen, die eine Verantwortung für das Leid der Menschen negieren. In einem zweiten 310
Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 39.
216
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Schritt gehe ich der Ignoranz nach und erfasse, warum diese Ignoranz eine Demütigung darstellt. In einem letzten Abschnitt untersuche ich die Implikationen dieser Ignoranz und lege die Gefahren des Ausschlusses von armen Menschen dar. Jemanden oder etwas zu ignorieren, bedeutet im Sinne der Wortherkunft311, in Unkenntnis über diese Person oder den Gegenstand zu sein. Echte Ignoranz kann sich also darauf berufen, dass schlicht kein Wissen über ein Leid oder ein Unrecht vorliegt. Ich möchte hier nicht erörtern, ob aus echter Unkenntnis schon eine Demütigung erwächst, sondern vielmehr ein starkes Verständnis von Ignoranz im margalitschen Sinne zugrunde legen, um es auf die Situation des Weltarmutsproblems anzuwenden. Die Situation, dass rund eine Milliarde Menschen auf diesem Planeten hungert und unter so ärmlichen Bedingungen lebt, dass sie ihre Existenz nicht sichern können, ist weder ein Geheimnis, noch erfordert es spezifisches Fachwissen, dies zu erkennen. Die meisten Bürger zivilisierter Staaten wissen in groben Zügen von dieser Situation. Kaum einer würde oder könnte sich ernsthaft auf den Standpunkt berufen, dass er keine Kenntnis von dem Problem der Weltarmut gehabt hat. Die meisten der nicht betroffenen Menschen müssten sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie zwar abstrakte Kenntnis von diesen Fakten haben, aber wegschauen, wenn sie damit konfrontiert sind und sich nicht für dieses Problem interessieren. Die von Armut betroffenen und die Hunger leidenden Menschen sind nicht wirklich unsichtbar für uns, sondern indem wir dem, was wir sehen, keine Bedeutung bemessen,
311
Vgl. Pfeifer, Wolfgang, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München: 1997, S. 571 f.
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
217
handeln wir so, als sei ihr Leid unsichtbar. Auf eine Mehrheit der Bewohner der wohlhabenden Welt trifft der Vorwurf der Ignoranz wahrscheinlich zu. Inwiefern ist dies nun ein moralisches Problem? Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die große Diskrepanz zwischen dem moralischen Urteil und den Handlungen in Bezug auf die Weltarmut. Es zeigt sich der Widerspruch von geteilter Intuition über menschenunwürdige Lebensbedingungen und ungeteilter Positionen über die Verpflichtungen und Verantwortungen, die sich daraus ergeben. Die Dissonanz, die sich zwischen moralischem Urteil und Handlungsgründen zeigt, kann unterschiedliche Ursachen haben. Die erste Feststellung kann sein, dass die Intuition falsch und somit das moralische Urteil nicht richtig ist. Wir würden uns irren, wenn wir annehmen, dass ein Leben in extremer Armut mit der menschlichen Würde nicht vereinbar ist und diese durch solche Lebensumstände verletzt wird. Ich werde Gründe aufzeigen, warum das moralische Urteil gerechtfertigt ist. Außerdem möchte ich weitere Gründe zurückweisen, die versuchen, diese Dissonanz zwischen Intuition und Handlungen gegen die Armut zu verteidigen. Ein klassischer Verweis im Diskurs über Armut ist die Zurückweisung als moralisches Problem. Das Problem wird zwar anerkannt, aber als eine Frage der technischen Umsetzung behandelt. Mit diesem Verweis geht das Überforderungsargument einher, das behauptet, dass die Armut deswegen nicht zu überwinden sei, weil das Problem zu groß ist und verfügbare Ressourcen überschreitet.312 Das Argument, die Weltarmut sei zu groß, als dass sie behoben werden könnte, zielt auf die Angst vor Wohlstandsverlusten ab. Die Befürchtung ist, dass alle Menschen arm würden, wenn die Not der Vielen gelindert werden muss. 312
Vgl. Bleisch/ Schaber, Einleitung, in Bleisch/ Schaber, Weltarmut und Ethik, S. 15.
218
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Wahr an diesem Einwand ist, dass es nicht einen großen Masterplan zur Lösung der Weltarmut gibt, sondern eine Vielzahl an Ansätzen, die mitunter unterschiedliche Strategien verfolgen. Diese Pluralität der Ansätze bedeutet aber nicht, dass es keine besseren Alternativen zur bestehenden Weltordnung gibt. Das Argument kann somit dahingehend zurückgewiesen werden, dass vieles im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten läge, um die Situation der armen Menschen zu verbessern. Das Überforderungsproblem betrifft auch in erster Linie die Konzeption des Weltarmutsproblems als eine Fragestellung der zu leistenden Hilfe. Dabei wird eine Beschreibung des Problems als strukturelles Phänomen vernachlässigt. Die Zurückweisung von Verantwortung für die Weltarmut und den Welthunger erfolgt mit dem Verweis auf Unwissenheit, der Negierung von Einflussmöglichkeiten, der Überforderung hinsichtlich des richtigen Handelns oder mit dem Ausdruck von Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen. Diese Verweise dienen als Einwände gegenüber einer als zu weitreichend empfundenen Verantwortungszuschreibung. Häufig wird globale Armut als nichtmoralisches313 oder nur als Phänomen mit schwachen moralischen Implikationen beschrieben. Die Ursachen werden als schicksalhafte Ereignisse aufgefasst, wobei menschliches Handeln weder im Sinne des Hervorbingens oder des Kompensierens eine große Rolle spielt. Diese in der Annahme historischer Notwendigkeit verwurzelte Überzeugung zeigt sich in verschiedener Weise in der Beschreibung des Problems. Die Rationalisierung von extremer Armut als historischer Notwendigkeit oder als Folge von Naturkatastrophen ermöglichen es, die armutsbedingten Leiden, wie Hunger als Schicksale
313
Vgl. Bittner, Rüdiger, Morality and World Hunger, in Metaphilosophy 32, 1/2 (2001), S. 25 33, S. 32.
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
219
zu beschreiben. Über diese Schicksalsbeschreibungen können moralische Bezüge ausgeblendet werden. Die Fehleinschätzung liegt darin, das Weltarmuts- und Welthungerproblem als Ergebnis natürlicher Ursachen zu verstehen. In diesem Denken entstehen Hungersnöte aus Naturkatastrophen, wie zum Beispiel Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben oder sonstigen tragischen, aber nicht zu beeinflussenden Ereignissen. Die Tatsache, dass so viele Menschen so arm sind, kann dann über eine allgemeine Annahme knapper Ressourcen oder als Konsequenz mangelnder Produktivität erklärt werden. Die moralische Dimension wird so entweder negiert oder stark verengt, da angenommen wird, dass es sich um Unglücke handele, die außerhalb menschlicher Handlungs- und Steuerungsmöglichkeiten liegen. Insofern stellt das reine Faktum, dass Menschen sehr arm sind und Hunger leiden in dieser Perspektive noch kein moralisches Problem dar. Wie im zweiten Kapitel dargelegt wurde, soll auch bei Naturkatastrophen Hilfen geleistet werden, jedoch sind diese Hilfspflichten weitaus enger gefasst. Als Legitimation der Ignoranz können diese Schicksalsbeschreibungen in moralischer Hinsicht jedoch nicht dienen, da sie weder akkurat noch mit einem universalistischen Moralverständnis überzeugend vereinbar sind. Ebenfalls verantwortungsminimierend ist die Annahme, dass es sich bei diesem Phänomen um sozusagen Kollateralschäden unserer Wirtschaftsordnung handelt. Sie sind nicht natürlich, aber bisher konnte es keine Wirtschaftsform schaffen, Armut und Hunger zu beseitigen. Die armen Menschen gelten als Verlierer der Ordnung, werden als Opfer akzeptiert. Auch in anderen Bereichen kennen wir diese Form der Beurteilung von Schäden. Menschen, die im Straßenverkehr zu Schaden oder zu Tode kommen, sind zwar zu bedauern; die Tatsache, dass sie
220
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
zu Schaden oder zu Tode kommen, lässt aber nicht an der Praxis des Straßenverkehrs zweifeln.314 Außerdem lässt sich die Verantwortung für das Weltarmutsproblem zurückzuweisen, indem die Verantwortung allein den Betroffenen selbst zugeschrieben wird. Die Armen sind dann entweder schuld an ihrer Armut, zumindest aber wird ihnen damit zugeschrieben, in der Lage zu sein, sich selbst aus dieser Situation zu befreien. Diese Zuschreibung der Schuld muss zurückgewiesen werden. Zum einen, da ein Großteil der Betroffenen Kinder sind und damit in die extreme Armut hineingeboren werden. Das Los qua Geburt in eine Lebensrealität mit oder ohne Armut zu geraten, gleicht eher den Unterschieden einer Welt mit nicht zu legitimierenden Privilegien von Adligen im Gegensatz zu Standeslosen. Zum anderen wirft diese Zuschreibung der Verantwortung die Frage auf, ob die Tatsache, dass sie ihre Situation selbst verschuldet haben, moralisch einen entscheidenden Unterschied machen würde. Hat man es verdient unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben, weil man falsche Entscheidungen getroffen hat? Die moralische Ignoranz wird an dieser Stelle damit erklärt, dass keine Verantwortung für das Leben anderer Menschen besteht, auch wenn jenes durch elende Lebensumstände gekennzeichnet ist. Diese Zurückweisung von Verantwortung führt dazu, dass die Belange, Interessen und Bedürfnisse armer Menschen marginalisiert werden. Die betroffenen Menschen werden an den Rand gedrängt und ihre Not wird nicht ausreichend beachtet. Diese Formen der Missachtung führen zur Marginalisierung der Menschen, die in schwerer Armut leben
314
Pogge, Thomas, Lebensstandards im Kontext der Gerechtigkeitslehre, in Zeitschrift für philosophische Forschung 51, Nr. 1 (1997), S. 11.
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
221
müssen. Damit werden sie aus sozialen Strukturen herausgedrängt und der Ausschluss aus gesellschaftlichen Strukturen wird verstärkt.315 Die Marginalisierung der von Armut betroffenen Menschen und der moralischen Herausforderung, die durch Weltarmut entsteht, bilden den Ausgangspunkt für den Ausschluss von Menschen. Ich erläutere im Folgenden, inwiefern es für von großer Armut und Hunger betroffene Menschen demütigend ist, wenn ihr Leid ignoriert wird und sie aus der moralischen Gemeinschaft aller Menschen ausgeschlossen werden. Die These ist, dass die moralische Ignoranz von armen Menschen eine Demütigung ist. Die Menschen werden entwürdigt, weil Ihr Leid zwar gesehen, aber nicht anerkannt wird. Durch das Wegsehen und die fehlende Aufmerksamkeit geschieht etwas Unrechtes. Ihre Würde wird missachtet, indem die Situation als moralisch nachgeordnet, nicht dringlich, oder irrelevant erachtet wird. Meine Überlegungen schließen an Margalits Gedanken zur Menschenblindheit an. Dort fragt Margalit, was es bedeutet, wenn Menschen nicht als Menschen gesehen werden. Er geht davon aus, dass wir nicht anders können, als das Menschliche in anderen Menschen zu erkennen. Das bedeutet, dass auch wenn wir Menschen wie Tiere oder Objekte behandeln, wir nicht wirklich in der Lage sind, sie als Tier oder als Objekt zu sehen. Vielmehr werden Menschen in Akten der Demütigung oder Erniedrigung so behandelt, als ob sie Tiere oder Objekte wären. Wenn bei Menschen keine pathologische Störung vorliegt, können sie nicht anders, als in anderen Menschen auch das Menschliche zu erkennen.316 Wie das, was wir sehen, von uns gedeutet wird, stellt Margalit
315
316
Vgl. Young, Iris Marion, Justice and the Politics of Difference, Princeton: 2011, S. 55. Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 105.
222
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
als einen willentlichen Akt dar. Wenn nun Menschen oder ganze Menschengruppen ignoriert werden, bedeutet dies, dass sie nicht wirklich als Menschen mit all ihren menschlichen Belangen gesehen werden, sondern, dass diese nicht beachtet und damit negiert werden. Das bedeutet nicht, dass wir tatsächlich davon ausgehen, dass die Menschen nicht unter der Situation leiden, sondern, dass wir bewusst über dieses Leid hinweg schauen. Menschen, deren Menschlichkeit nicht beachtet wird, werden zu Objekten degradiert. Das heißt, dass diese Menschen berechtigte Gründen haben, sich in ihrer Würde verletzt zu fühlen. Die historisch und kulturell geprägten Sehgewohnheiten führen dazu, dass Missstände unbeachtet bleiben, weil sie Teil einer Normalität sind, die moralisch zwar falsch ist, aber als gewöhnlich angesehen wird. Die Sklaverei war lange eine akzeptierte soziale Institution, obwohl sie den normativen Anspruch der Menschenwürde missachtete. Die Vermutung ist, dass diejenigen Fälle ignoriert werden, bei denen schon Zweifel an der moralischen Legitimität bzw. eine moralische Intuition für das Unrecht besteht. Damit diese Fälle nicht als falsch anerkannt werden müssen und das Handeln entsprechend verändert werden muss, werden die Menschen und ihre moralische Situation ignoriert. Dass in solchen Situationen nicht genau hingesehen wird, sondern wir Menschen uns abwenden, degradiert die betroffenen Menschen zu Objekten. Die Aufforderung, die bei Margalit damit verbunden ist, fordert den Zweifel an unseren kollektiv geprägten Sehgewohnheiten.317 Die Herausforderung ist, in allen Menschen das Menschliche zu sehen und keine Menschen aufgrund von kontingenten Eigenschaften zu ignorieren und damit ihre menschliche Seite zu missachten. Für Margalit liegt in der Ignoranz die 317
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 112.
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
223
Gefahr, dass Menschen so behandelt werden, als ob sie keine Menschen sind, was sie demütigen würde und als Geste des Ausschließens 318 verstanden werden müsste. Ich folge Margalits Gedanken und behaupte, dass diese Anforderungen nicht nur innerhalb von Gesellschaften gelten, sondern auch auf die globale Ebene übertragen werden müssen. Zwar befasst Margalit sich ausdrücklich mit der Frage nach einer anständigen Gesellschaft, aber seine Sorge um die menschliche Würde beinhaltet immer schon eine universale Perspektive. Ignoranz bedeutet in diesem Kontext nicht Unwissenheit, sondern, dass das Wissen zwar vorhanden ist, aber die moralische Dimension als solche nicht anerkannt wird. Darin, jemanden zu ignorieren und das Problem auszublenden, steckt ein normatives Urteil. Denn die Unsichtbarkeit der armen Menschen ist keine Eigenschaft, sondern eine soziale Zuschreibung. Dem Problem wird kein entscheidender Wert zugesprochen, der das eigene Handeln beeinflusst. Für die von Armut Betroffenen ist diese Ignoranz eine Erfahrung, die ihnen verdeutlicht, dass ihre Leiden irrelevant sind. Diese Erfahrung muss nicht im Konflikt mit eigenen Urteilen stehen. Jedoch werden die Menschen auch gedemütigt, ohne dass das Opfer die Täter identifizieren oder die Demütigung klar benannt werden kann. Im Sinne der Menschenblindheit wird das Leid der Menschen gesehen, aber nicht anerkannt. Die Indifferenz gegenüber diesem Leid offenbart sich auch darin, dass dieses Unterlassen ohne ein Gefühl von Schuld auskommt. Die Negation der Würde besteht darin, dass die Gruppe armer Menschen mit ihren Belangen, ihren Interessen und ihren moralischen Ansprüchen irrelevant ist. Sie werden
318
Margalit, Politik der Würde, S. 113.
224
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
als moralisch relevante Subjekte degradiert, indem sie nicht wie gleichwertige Menschen behandelt werden. Denjenigen, die bei Grausamkeiten wegsehen, kommt nicht die Verantwortung von Tätern zu. Die Ignoranz stellt auch keine Mittäterschaft im eigentlichen Sinn dar. Dennoch haben sie sich moralisch etwas vorzuwerfen. Das Wegsehen wird zu einer Art Akzeptanz oder auch nur Toleranz des Status Quo. Es wird ein moralisches Unrecht nicht als solches identifiziert und dagegen angegangen, sondern die Praxis des Ignorierens ermöglicht, mit verübtem Unrecht zu leben, ohne das eigene Handeln in Frage stellen zu müssen. In der Ignoranz eines moralischen Problems, ob eines Verbrechens oder einer systemisch verursachten chronischen Notsituation für viele Millionen Menschen, liegt das Vergehen, die Opfer moralisch nicht zu berücksichtigen und ihr Leid zu negieren. Auch wenn die Handlungsmöglichkeiten beschränkt sind und möglicherweise individuelle Nachteile mit sich bringen, entschuldigt dies nicht, das moralische Unrecht als solches zu ignorieren und damit die betroffenen Menschen in ihrem Anspruch auf eine gleiche Würde zu missachten. Die moralisch falsche Handlung liegt hierbei nicht in der Beteiligung an unmoralischen Handlungen, sondern darin, dass durch die Ignoranz eine Situation aufrechterhalten wird, die grundlegende moralische Ansprüche verletzt. In der Aufarbeitung der Geschichte des Nazi-Regimes ist häufig angeführt worden, dass keine Kenntnis über die grausamen Verbrechen in den Konzentrationslagern bei der allgemeinen Bevölkerung vorhanden gewesen ist. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt konnte diese Entschuldigung geltend gemacht werden, aber spätestens ab dem Tag, an dem die Menschen von der Existenz von Auschwitz erfuhren, konnte sich niemand mehr mit Unkenntnis herausreden, sondern war entweder zur
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
225
Anerkennung des massiven Unrechts gezwungen oder dazu, es zu ignorieren. Die Ignoranten machten sich zu diesem Zeitpunkt schuldig, eine Welt hinzunehmen, in der einer Gruppe von Menschen das Existenzrecht und alle moralischen Ansprüche abgesprochen wurden. Natürlich geht das Unrecht in erster Linie von denjenigen aus, die die Verbrechen unmittelbar verübten. Insofern lässt sich die Situation nicht auf das Weltarmutsproblem übertragen. Aber dass dies unter den Augen der Bevölkerung und dann der Welt geschah, kann nur als besonders demütigend für die Betroffenen beschrieben werden.319 Ein erkanntes Unrecht bleibt zwar ein Unrecht, aber das Opfer kann sich darauf verlassen, dass dieses Unrecht nicht ohne Folgen für die Verursacher geschieht. Ein Unrecht, welches unter den Augen Dritter geschieht, die es nicht anklagen oder sich dagegen einsetzen, wird als solches nicht anerkannt und bedeutet letztlich, dass derjenige, zu dessen Last es verübt wird, moralisch nicht von Bedeutung ist. Die Ignoranz drückt Gleichgültigkeit gegenüber den Betroffenen aus. Diese befinden sich in chronischer Not und können sich eines würdigen Lebens nicht sicher sein. Der entscheidende Unterschied liegt nicht darin, dass wir gleichgültig gegenüber einer Sache sind. Der Liebeskummer aller Menschen in der Welt kümmert uns auch nicht unmittelbar. Es kann schließlich jeden treffen und gehört zu einem gewöhnlichen Leben dazu. Moralisch problematisch wird die Gleichgültigkeit dort, wo wir zwar das Leid als solches eigentlich sehen und als menschenunwürdig und grausam bezeichnen würden, wir aber gleichgültig sind, weil dieses Unrecht nicht uns oder unserer Familie widerfährt. Wir machen einen Graben zwischen uns und unseresgleichen und den anderen auf, was wiederum nicht vereinbar mit den gleichen grundlegenden An-
319
Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 612.
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6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
sprüchen eines jeden Menschen auf ein Leben in Würde ist. Die betroffenen Menschen sind berechtigt, sich in ihrer Achtung verletzt zu sehen, denn in der Ignoranz und ihrer ausgedrückten Gleichgültigkeit wird deutlich, dass in ihnen das Menschliche übersehen wird. Im Falle der Weltarmut entzerrt die Distanz die Situation zwischen denjenigen, die betroffen sind und denjenigen, die ignorieren. Wenn ich auch nicht jegliche Bedeutung der Nähe bzw. Distanz leugnen will, wäre es dennoch deutlicher, wenn wir uns vor Augen führen würden, was die Nichtbeachtung bedeutet. Befänden wir uns auf einem sommerlichen Fest und würden ein ansprechendes Buffet an Speisen und Getränken genießen, wäre es absurd, wenn die eine Hälfte der Gäste nichts davon abhaben dürfte, weil ihr Jahreseinkommen nicht ausreicht, um die eigene Existenz zu sichern. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid armer Menschen zeigt, dass ihre Bedürfnisse nicht zählen. Der Anspruch eines egalitären Moralverständnisses muss sein, die Regeln des Handelns so zu gestalten, dass eine hinreichend gleiche Berücksichtigung stattfindet. Wo diese prinzipielle Gleichheit behauptet wird, muss auch dafür gesorgt werden, dass sie überhaupt Relevanz besitzt und dass normative Konsequenzen aus diesem Prinzip folgen. Ist dies nicht der Fall, müssen die formulierten Ansprüche als leer entlarvt werden. Wir können es also entweder ernst meinen mit dem Anspruch auf eine so gestaltete Welt, in der alle Menschen mit Würde leben können, was bedeuten würde, dass aus der Feststellung von menschenunwürdigen Lebensbedingungen auch etwas folgt, oder aber wir müssen die moralische Forderung eines Lebens in Würde schlichtweg (zumindest für einen nicht unerheblichen Teil der Menschen) aufgeben. Unter verweigerter Achtung leidet auch die Selbstachtung der armen Menschen. Die betroffenen Menschen sind berechtigt, sich in ihrer
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
227
Selbstachtung verletzt zu sehen, da ihr Leid nicht als moralisch relevant anerkannt wird. Der Ausschluss aus der Menschengemeinschaft erfolgt als erfahrene Irrelevanz. Ihre moralische Irrelevanz isoliert diese Menschen in ihrem zwischenmenschlichen Handeln und ihnen droht der Verlust der gemeinsam gestalteten Welt, und damit die Weltlosigkeit. Diese Weltlosigkeit bezeichnet, angelehnt an Arendt, das bedeutungslose Leben als ein Mensch, der nicht auf Augenhöhe mit anderen Menschen sprechen und handeln kann.320 Inwieweit ist der Ausschluss aus gleichberechtigten ökonomischen Beziehungen als ein Ausschluss aus der Menschengemeinschaft zu werten? Zwar erscheint der Ausschluss nur den ökonomischen Teil des Lebens zu beeinflussen, jedoch wirkt sich die Armut auf das gesamte Leben der betroffenen Menschen aus. Arme Menschen sind aus ökonomischen, sozialen und kulturellen Interaktionen ausgeschlossen. Arme Menschen werden aus legalen und formellen Marktstrukturen verdrängt. Aus diversen Bereichen des Marktes sind sie aufgrund mangelnder Zugangsmöglichkeiten, wie Eigentum oder Einkommen ausgeschlossen. Alle Bereiche, die ihren Zugang marktförmig organisieren, sind aufgrund der Armut nicht zugänglich. Wie Sen schon gezeigt hat, zeichnet sich die Situation der Armut nicht durch einen Mangel an Gütern wie Lebensmitteln aus, sondern in den fehlenden Zugangsrechten von Gruppen von Menschen.321 Arme Menschen sind jedoch nicht vollständig aus dem ökonomischen Markt ausgeschlossen. Auch wenn arme Menschen kaum Mittel haben, um am Markt partizipieren zu können, ist ihr tägliches Überleben doch notwendigerweise in ökonomische Tauschbeziehungen eingebunden. 320
321
Vgl. Arendt, Hannah, Vita activa: Oder Vom tätigen Leben, München: 1967, S. 250; Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 615, 624. Vgl. Sen, Poverty and famines, S. 4.
228
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Ihre Ausgangssituation ist wesentlich schlechter, da es ein Machtgefälle zu den anderen Akteuren gibt und sie nicht mehr als Gleiche gegenüber anderen auftreten können. Sie verdienen weniger, sie müssen höhere Preise zahlen, sie haben schlechteren Zugang zu den Voraussetzungen wirtschaftlichen Erfolgs (wie z.B. Gesundheit und Bildung). Jedoch ist ihre Benachteiligung in der ökonomischen Sphäre kein Ausschluss aus der Menschengemeinschaft, sondern vielmehr ein partieller Einschluss unter unwürdigen Bedingungen, aber ein moralischer Ausschluss in Form einer Objektivierung. Wir benutzten diese armen Menschen, um ihre Arbeitskraft auszubeuten, enthalten ihnen Privilegien vor (z.B. der Mitbestimmung), verletzen ihre Rechte, enteignen ihr Land und lassen sie die Kosten unseres Wohlstandes tragen. Das bedeutet, dass sie in den Markt eingebunden sind, aber nicht unter den gleichen Bedingungen, die für angemessen und anständig erachtet werden. Im Fall von extremer Armut werden Menschen partiell aus dem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gefüge ausgeschlossen. Was nun die Verletzung menschlicher Würde ausmacht, ist, dass der Ausschluss sich akkumulierend aus den verschiedenen Teilen der Interaktion und Partizipation ergibt. Der Einschluss dieser Menschen, der sich in den Verflechtungen zeigt, die wir in der globalen Ökonomie haben, widerspricht diesem Ausschluss nicht. Dieser Ausschluss ist zwar nicht intendiert, denn wir sprechen armen Menschen nicht das grundlegende Recht ab, an gleichberechtigten ökonomischen Transaktionen teilzunehmen, jedoch sind sie faktisch ausgeschlossen, weil ihnen als Gruppe die akzeptierten Mittel zur Teilhabe verwehrt bleiben. Die ausschließenden und entwürdigenden Situationen wirken sich für die betroffenen Menschen spürbar aus. Sie werden durch ihre Armut
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229
ständig darin bedroht, ein gleichberechtigter Teil der Gemeinschaft zu sein. In dem drohenden Ausschluss liegen Gefahren für die menschliche Würde, weil die betroffenen Menschen vorgeführt bekommen, dass sie wirtschaftlich bedeutungslos sind, überflüssig werden und die geteilte gemeinsame Welt mit ihren Mitmenschen beschränkt wird oder gar verloren geht. Diesen Aspekten der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit, den überflüssigen Menschen und dem Weltverlust, gehe ich abschließend noch nach. menschlicher Überflüssigkeit wird. Menschen, die als wirtschaftlich bedeutungslos gelten, werden zu menschlichem Ausschuss, wie streunende Hunde, die man in Schach halten und bekämpfen muss, die je322
Die von Margalit angesprochene wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit ist eine Bedrohung für die menschliche Würde, weil die Gefahr besteht, dass eine Gruppe von Menschen überflüssig gemacht wird, indem sie ökonomisch derart an den Rand gedrängt werden, dass sie als wirtschaftliche Akteure bedeutungslos werden. Sie werden aus gesellschaftlichen Interaktionen herausgedrängt. Dass Menschen zu menschlichem Ausschuss werden, wie Margalit es beschreibt, bedroht die armen Menschen massiv. Diese Menschen verlieren den gleichen, respektablen Status unter Menschen und sie werden behandelt, als ob sie keine Menschen, sondern etwa streunende Hunde wären. Sie werden nicht gebraucht, weggescheucht, Zutritt zu öffentlichen Orten wird ihnen verwehrt oder sie werden vertrieben. Ihr Leid wird als unbedeutend bewertet. Die Implikation, auf die Margalit hier verweist, zeigt deutlich die Gefahren für die Gruppe armer Menschen. Der Zusammenhang
322
Margalit, Politik der Würde, S. 28.
230
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
von wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit und menschlicher Überflüssigkeit scheint in Hinblick auf die verletzliche Würde relevant zu sein. Was kann diese menschliche Überflüssigkeit bedeuten? Überflüssig zu sein bedeutet nach der gängigen Verwendung, dass etwas zu viel, nicht nötig, entbehrlich, unnötig, nutzlos, und zwecklos ist. Der Begriff wird verwendet, wenn etwas oder jemand in Hinblick auf ein bestimmtes Ziel oder einen Zweck nicht gebraucht wird. Die bezeichnete Überflüssigkeit sagt also nicht etwas über den einzelnen Menschen aus, sondern über seine Beziehung zu anderen Menschen und zur Gesellschaft. Das bedeutet, dass menschliche Überflüssigkeit immer etwas über zwischenmenschliche Beziehungen und deren Strukturen sagt. Mit den armen Menschen ist eine Gruppe geschaffen, die Gefahr läuft, zu einer ausgeschlossenen Gruppe von Menschen zu werden, deren Mitgliedern der inhärente Achtungsanspruch verloren geht. Diese Menschen drohen in einem auf Nutzen ausgerichteten kapitalistischen System als überflüssig identifiziert zu werden. In seiner Beschreibung wählt Baumann die drastische Metapher des menschlichen Abfalls, die einerseits auf die Rolle innerhalb des Organisationssystems des Marktes verweist und andererseits auf die elenden Lebensumstände armer Menschen abzielt. des wirtschaftlichen Fortschritts und trägt alle Kennzeichen eines unAusschluß von Menschen mögen verschieden sein, doch für diejenigen, die ihn hinzunehmen haben, fallen die Ergebnisse jeweils ziemlich ähnlich aus. Diese Menschen stehen vor der schwierigen Aufgabe, die Mittel für ihr physisches Überleben zu sichern, während ihnen zugleich das Selbstvertrauen und die Selbstachtung genommen wurden,
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die für das soziale Überleben nötig sind. Sie haben keinen Anlaß, feinsinnig Unterscheidungen zwischen intendiertem Leid und selbstver323
Baumann beschreibt das Phänomen überflüssiger Menschen als Produktion menschlichen Abfalls, die als Begleiterscheinung der Modernisierung zwangsläufig in Erscheinung tritt. Dieser von ihm sogenannte menschliche Abfall meint diejenigen Menschen, die nutzlos und überflüssig in der Gesellschaft sind, weil sie nicht als gleichberechtigte Akteure eingebunden sind. In der Existenz einer solchen Gruppe stecken besondere Gefahren, weil die Behandlung der Mitglieder dieser Gruppe der Idee der menschlichen Würde diametral entgegengesetzt ist. Die armen Menschen erfahren, dass ihr Leid keine Relevanz besitzt und ihr Handeln und Verhalten keine Rolle mehr spielt. Sie erfahren keine gesellschaftliche Wertzuschreibung, werden austauschbar und verlieren sogar ihre funktionale Einbindung, über die sie eine Sicherung des Überlebens herstellen könnten. Diese Gruppe von Menschen ist besonderen Gefahren ausgesetzt. Hannah Arendt verweist in ihrer Analyse der Shoa auf den Ausschluss von Menschen aus politischen Gemeinschaften und das ÜberflüssigMachen bestimmter Menschengruppen, die dann letztlich getötet und vernichtet werden können, weil sie als Menschen keinerlei Wert mehr besitzen.324 Die Gefahr, die für die menschliche Würde besteht, ist, was Hannah Arendt als Weltverlust beschreibt. Sie hat damit auf die besondere Situation der Menschen in den Konzentrationslagern verwiesen, deren Leben dadurch gekennzeichnet war, dass sie überflüssig gemacht wurden, womit die Rechtfertigung für ihre Vernichtung innerhalb der faschistischen Logik geschaffen wurde. Sie sind ohnmächtig in ihrem 323
324
Bauman, Zygmunt, Verworfenes Leben: Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg: 2005, S. 59. Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 938 ff.
232
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Handeln, haben keine Kontrolle über wichtige Lebensbereiche, verlieren die Achtung durch andere und sich selbst. Das Handeln der betroffenen Menschen hat innerhalb dieses Systems jegliche Relevanz verloren. Menschliches Handeln im Arendtschen Sinne war nicht mehr möglich, weil es keinen Zwischenraum mehr zwischen den Menschen gab, der ein gemeinsames Handeln ermöglicht hätte. Der Handlungsbegriff bei Arendt ist normativ anspruchsvoll. Er kennzeichnet eine normative Forderung zur Herstellung von Menschlichkeit im gemeinsamen Handeln und erzeugt Macht, die sich klar vom Raum des nicht gleichberechtigten Handelns (wie der Familie) und dem der Gewalt abgrenzt. Den Weltverlust der internierten Menschen in den Konzentrationslagern und ihre Entmenschlichung beschreibt Arendt als die Möglichkeit, Räume zu schaffen, in denen menschliches Handeln seinen Sinn verliert und unmöglich wird. Die Vernichtung der Menschen ist systematisch angelegt, aber das Leben in den Lagern von Kontingenz geprägt. Ob sie getötet werden, sterben oder weiterleben, ist nicht absehbar. In den Lagern befinden sich die Menschen außerhalb der Welt, wo es Regeln und Ordnungen gibt, die Handlungsräume ermöglichen und Handlungskonsequenzen in sinnhaften Beziehungen zueinanderstehen.325 Sie befinden sich wie Agambens homo sacer326 jenseits dieser von Menschen geteilten Lebenswelt. Außerhalb der Welt entstehen dann neue Phänomene, wie die Narrenfreiheit. Weil sie sich sowieso nicht mehr in einem sinnhaften Raum befinden, in dem es eine Grenze zwischen Leben und Tod gibt, können sie sich auch verhalten wie Narren: Es macht keinen Unterschied mehr. Die Narrenfreiheit stellt das Gegenstück zur menschlichen Freiheit dar. Arendt und Baumann ver-
325 326
Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 942. Vgl. Agamben, Giorgio, Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: 2002, S. 91 94, 175, 177.
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
233
weisen mit ihren Beschreibungen auf einen fragilen Punkt der moralischen Achtungsbeziehungen: Soziale Beziehungen durchdringen alle zwischenmenschlichen Interaktionen und ein grundlegend gleicher moralischer Status ist die Voraussetzung für alle menschlichen Interaktionen. Das Leben armer Menschen ist nur bedingt mit dem Leben in Konzentrationslagern zu vergleichen. Sie sind nicht Opfer des Verbrechens einer gezielten Internierung, jedoch treffen einige Aspekte des Ausschlusses auch auf die Situation armer Menschen zu. Sie werden auch aus der Welt des gemeinsamen menschlichen Handelns ausgeschlossen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auch keine Verfügungsgewalt darüber haben, wie sie leben müssen, keine Handlungsalternativen haben und auch letztlich nicht darüber entscheidenden Einfluss haben, ob sie überleben oder nicht. Im Rahmen des Marktes sind sie aus einigen Formen der Interaktion als Gleiche ausgeschlossen oder werden nicht auf Augenhöhe behandelt. Es ließe sich einwenden, dass diese Form der Ungleichheit nicht umfassend ist und es noch ausreichend Raum für die Betroffenen gibt, mit Menschen als Gleiche zu interagieren. Zumindest die armen Menschen untereinander haben ja keinen Grund, sich aufgrund ihrer Armut einen geringen Wert zuzuschreiben oder auch nur an der Würde des anderen zu zweifeln. Wenn diese schwere Armut etwa ein Drittel aller lebenden Menschen betrifft, dann scheint es unwirklich, von einer so umfassenden Menschenwürdeverletzung zu sprechen. Wenn sie innerhalb des Kreises als Arme auf Augenhöhe interagieren, jedoch nicht darüber hinaus, dann ist die Schaffung dieses Subsystems per se schon ein Problem. Pogge spricht an dieser Stelle von moralischen Schlupflöchern, die genutzt werden, um moralische Verantwortung zurückzuweisen.327 Auf struktureller Ebene wird diese 327
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 104 f.
234
6 Armut und entwürdigende Ungleichheit
Bedeutungslosigkeit der menschenunwürdigen Lebensbedingungen spürbar. Sie sind formal nicht auf politischer und rechtlicher Ebene ausgeschlossen, jedoch in ökonomischer Hinsicht. Zwar nehmen sie auch an marktförmigen Aktivitäten Anteil, jedoch eben nicht als gleichberechtigte Akteure. Sie sind die Schwächeren in einem System, das diese Nachteile eben nicht kompensiert, sondern im Gegenteil verstärkt. Die armen Menschen leiden unter einem partiellen Weltverlust, denn ihr Sterben hat keine Relevanz für die Gestaltung der Regeln des ökonomischen Handelns. In diesen asymmetrischen ökonomischen Beziehungen stehen sich keine gleichberechtigten Subjekte gegenüber. Die Schwächeren werden so behandelt, als ob sie keine Menschen mit grundlegenden Bedürfnissen wären, sondern lediglich als Produzenten oder Konsumenten, die sich von der existenziellen Notwendigkeit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse befreien könnten. Der Ausschluss armer Menschen ist insofern auch ein moralischer Ausschluss und führt zu einer Verletzung der menschlichen Würde durch die erfahrene Irrelevanz der armen Menschen. Die betroffenen Menschen werden gedemütigt, weil sie so behandelt werden, als seien sie moralisch irrelevant. Der Ausschluss armer Menschen stellt eine Gefahr für deren Würde da, weil ein sozialer Ausschluss kumulative Effekte auf die ganze Person haben kann. Arme Menschen werden damit aus zwischenmenschlichen Interaktionen ausgeschlossen und erleiden einen Weltverlust, was heißen soll, dass ihr Handeln und Sprechen keine Relevanz mehr hat. Auch die Rationalisierungen von Armut über Schicksalsbeschreibungen ist Ausdruck der eigentlichen Ignoranz gegenüber dem Problem. Damit ist es ein faktischer Ausschluss armer Menschen aus der Gruppe derjenigen, die einen besonderen moralischen Status haben. Die Verletzung der menschlichen Würde liegt in der Negation dieses gleichen morali-
6.2 Moralische Ignoranz und Irrelevanz als Verletzung menschlicher Würde
235
schen Status. Die erfahrene Irrelevanz stellt eine Entwürdigung der Betroffenen dar und untergräbt den normativen Wert der menschlichen Würde für alle Menschen. Der Blick auf grundlegende Komponenten der menschlichen Würde, nämlich die Freiheit und die Gleichheit, haben gezeigt, dass in einem Leben in schwerer Armut die Würde der betroffenen Menschen massiv bedroht wird. Die Möglichkeiten des Handelns sind bei armen Menschen derart eingeschränkt, dass eine Aufrechterhaltung der Selbstachtung kaum möglich ist. In der entwürdigenden Ungleichheit zeigt sich ein zentraler Punkt der verletzten menschlichen Würde durch Armut. Menschen werden in ihrem armutsbedingten Leid ignoriert und ausgeschlossen. Der grundlegende Anspruch aller Menschen auf ein Leben in Würde wird durch die Akzeptanz der Armut negiert.
Teil III
Globaler Hunger als Folge der schweren Armut
Im dritten Teil dieser Untersuchung setze ich mich noch genauer mit dem Phänomen des Welthungers auseinander. Am Welthunger als einem Teil des Weltarmutsproblems können die spezifischen Aspekte der moralischen Situation aufgezeigt werden, so dass ich meine Untersuchung in diesem Teil auf den globalen Hunger als Folge schwerer Armut beschränke. Dafür werde ich in den folgenden drei Kapiteln der Frage nachgehen, inwieweit globaler Hunger eine Verletzung der menschlichen Würde darstellt. Im siebten Kapitel werde ich dazu die Merkmale eines von Hunger gezeichneten Lebens untersuchen und fragen, inwieweit ein Leben unterhalb der Überlebensgrenze notwendigerweise mit entwürdigenden Lebensbedingungen verbunden ist. Hierzu wird auch die Relevanz körperlicher Grundbedürfnisse in den Blick genommen. Im achten Kapitel wende ich mich dem Menschenrecht auf Nahrung als normativem Rahmen zu, mit dem versucht wird, aus einem moralischen Recht einen juristischen Minimalanspruch zu entwickeln. Dazu wird noch einmal auf das besondere Verhältnis von Menschenrechten und menschlicher Würde eingegangen. Mit einer Ausführung zur Genese dieses spezifischen Rechts werden die Anforderungen bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Menschenrechts in den Blick genommen. Im neunten Kapitel werden die Ergebnisse in einer Synthese und in Hinblick auf die aus ihrer Negation heraus verstandenen menschlichen Würde zusammengeführt. Dieser Würdebegriff, der um eine allen Menschen gleichermaßen zukommende Nobilität328 erweitert wird, fasst am besten die Notwendigkeit menschenwürdiger Lebensbedingungen zusammen. Abschließend 328
Vgl. Waldron/Dan-Cohen, Dignity, rank, and rights.
238
Teil III Globaler Hunger als Folge der schweren Armut
wird der moralische Vorwurf der globalen Apartheid in Hinblick auf das Welthungerproblem überprüft. Durch diese Überlegungen lässt sich zeigen, dass das moralische Problem des Welthungers gerechtfertigt als Würdeverletzung beschrieben und eine moralische Minimalforderung für eine anständige Weltgesellschaft formuliert werden kann.
7
Überleben am Existenzminimum
In diesem Kapitel geht es um die besonderen Eigenschaften eines Lebens unterhalb des gesicherten Überlebens. Dazu werde ich auf die menschliche Verletzlichkeit in der Situation des Hungers und die moralische Relevanz von Grundbedürfnissen eingehen, um im Anschluss die würdeverletzende Dimension durch entwürdigende Lebensbedingungen aufzuzeigen. Das menschliche Leben geht mit grundlegenden körperlichen Bedürfnissen einher, die in ihrer Bedeutung für Entwürdigungen oft nicht hinreichend beachtet werden. Dabei ist in Situationen des Hungerns vor dem Hintergrund globaler Armut der menschliche Körper der Ort dieser Würdeverletzungen. Während auf der individuellen Ebene die existenzielle Not mit ihren Auswirkungen auf den leidenden Körper und das nackte Überleben die menschliche Würde bedrohen, geht es auf der Ebene der gemeinschaftlichen Lebensbedingungen um institutionelle und strukturelle Formen der Entwürdigung. 7.1 Verletzbares Leben und menschliche Grundbedürfnisse einen dauerhaften, wenn auch maskierten 329
Arme Menschen, die den üblichen Armutsgrenzen entsprechend zu wenig haben, um sich ausreichend ernähren zu können, leiden chronischen Hunger. Das bedeutet, dass sie zu wenig Nahrung und zu schlechte Nahrung zur Verfügung haben, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Die Unter- und Mangelernährung, die insbesondere bei Kindern nachhaltige Auswirkungen hat, bestimmt das gesamte Leben. Der Alltag dieser Menschen wird von der Notwendigkeit dominiert, jeden 329
Ziegler, Wir lassen sie verhungern, S. 110.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_7
240
7 Überleben am Existenzminimum
Tag aufs Neue ausreichend Nahrung zu organisieren. Die notwendigen körperlichen Bedürfnisse lassen sich nicht aufschieben oder anderweitig befriedigen und es dauert ohne entsprechende Nahrung nur wenige Wochen, bis ein Mensch verhungert. Dementsprechend müssen alle anderen Ziele, Wünsche oder Handlungen dem primären Ziel des Überlebens nachgeordnet werden. Menschen, die chronisch Hunger leiden, sind anfällig für eine Vielzahl von Krankheiten, verlieren ihre Leistungsfähigkeit, werden immer schwächer und sterben früher oder später an den armutsbedingten Folgen ihres Hungers. Der Körper wird zum sichtbaren Ort der entwürdigenden Situation, sich selbst nicht am Leben halten zu können. Im körperlichen Verfall manifestiert sich die eigene Verletzlichkeit und macht es schließlich unmöglich, für sich selbst zu sorgen. In der aktuellen Situation leben hunderte Millionen Menschen von ihrer körperlichen Substanz, die ein langsames Verhungern darstellt. Ihr elendes Leben ist bestimmt von ihrer geschwächten und verletzten Physis, von Krankheit und geringer Lebenserwartung. Der Überlebenskampf und das Sterben dieser Menschen ist absurd und zwar nicht deshalb, weil sie aufgrund zu geringer Nahrungsmittel und Ressourcen hungern müssten, sondern weil die Regeln des ökonomischen Systems ihnen den Zugang zu den ausreichend vorhandenen Lebensmitteln verwehren. Menschen in dieser Situation sind zurückgeworfen auf das uns allen gemeinsame Bedürfnis nach Aufnahme von Nahrung. Die Nicht-Substituierbarkeit des Essens macht das menschliche Grundbedürfnis zu einem unabdingbaren Anspruch. Die Bedingtheit des menschlichen Lebens macht aber aus, dass dieser Bereich gerade nicht Teil vormoralischer Annahmen sein kann. Gerade weil kein Mensch sich von diesen
7.1 Verletzbares Leben und menschliche Grundbedürfnisse
241
Bedürfnissen distanzieren kann, müssen sie zwischen Menschen verantwortet und moralisch beurteilt werden. Die menschlichen Grundbedürfnisse sind relevant in der moralischen Beurteilung, weil sonst die moralischen Subjekte mit allen ihren Bedürfnissen aus der moralischen Welt ausgeklammert würden. Eine Moral, die erst diejenigen Fälle moralisch beurteilen will, in denen dieses Grundbedürfnis ausgeklammert wird, schließt all diejenigen aus dem Status egalitärer universaler Ansprüche aus, deren Grundbedürfnisse nicht gedeckt sind. Wenn universale Grundbedürfnisse, wie Nahrung, Wasser, Obdach und Kleidung nicht erfüllt sind, dann nimmt der Körper des betroffenen Individuums Schaden. Wer so arm ist, dass er hungern muss, lebt in einem Zustand, in dem alle anderen moralischen Entscheidungen der Befriedigung der elementaren Notwendigkeiten nachgeordnet werden müssen. Entsprechend sind diese Menschen so gefährdet, Opfer weiterer moralischer Grausamkeiten, wie Ausbeutung und Sklaverei zu werden, wenn diese ihnen eine Chance bieten, den Hunger zu stillen. An ihren Körpern zeigen sich der armutsbedingte Verfall und gleichzeitig auch die enorme Verletzlichkeit. Das Leid und die extreme Bedürftigkeit dieser Menschen entstehen durch menschliches Handeln und Interagieren. Da der zu diesem Leid führende Hunger vermeidbare ist, besteht eine moralische Verantwortung gegenüber diesen Menschen sowie die moralische Pflicht, ihr Leid zu verhindern. Wie lässt sich nun der armutsbedingte, körperliche Verfall mit der menschlichen Würde zusammen denken? Der Diskurs um die Menschenwürde zeichnet sich dadurch aus, dass der menschliche Körper weitestgehend ausgeklammert wird. Ein verbreitetes Verständnis der menschlichen Würde zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf Eigenschaften des Menschen rekurriert, die gerade nicht körperliche Stärke, Gesundheit oder das Erscheinungsbild betreffen. Vielmehr wird die
242
7 Überleben am Existenzminimum
menschliche Würde häufig an das Vermögen zur Vernunft geknüpft, das sich besonders dadurch auszeichnet, über die körperlichen Eigenschaften hinauszugehen. Jedoch spielt der menschliche Körper eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei vielen Verletzungen der Würde. Die systematischen Massenvernichtungen von Menschen in der Shoa, Folter oder Vergewaltigungen sind Verletzungen der menschlichen Würde, die auch darin bestehen, den menschlichen Körper zu verletzen oder zu zerstören. Natürlich lassen sich diese Grausamkeiten nicht auf physische Verletzungen oder den Tod reduzieren, doch das bedeutet nicht, dass der verletzte Körper gar keine Rolle bei der Entwürdigung spielt. Es muss vielmehr berücksichtig werden, dass der Körper der Ort ist, an dem und mit dem die Entwürdigung erfahren wird. Die körperlichen Schäden zeigen eine dauerhafte Manifestation der Entwürdigung. Der Verlust eines weitestgehend intakten körperlichen Erscheinungsbildes (bei Hunger) zeigt die permanente Hilflosigkeit der betroffenen Menschen und stellt ein äußeres Zeichen der erfahrenen Stigmatisierung dar. Der gepeinigte Körper ist bei solchen Formen der Würdeverletzung nicht nebensächlich, sondern von symbolischer Bedeutung. Es gibt verschiedene Arten von Würdeverletzungen bei denen physische Schäden solch eine entscheidende, symbolische Rolle spielen. Wenn Menschen in Hinblick auf ihre Fähigkeit, sich selbst zu versorgen, beeinträchtigt sind (z.B. aufgrund einer Krankheit), sind andere Menschen dazu verpflichtet, sie dabei zu unterstützen, ihre Selbstachtung aufrechtzuerhalten. Bei Menschen, die in extremer Armut leben, ist es nicht nur so, dass diese Unterstützung ausbleibt, sondern diese Menschen sind in einer so prekären Situation, weil andere Menschen dafür verantwortlich sind. In der Situation des Hungers ist die menschliche Würde im Sinne einer
7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen
243
notwendigerweise verkörperten Selbstachtung330 daher massiv bedroht. Die individuelle Selbstsorge der betroffenen Menschen kann in der Situation des Hungers nicht erfolgen, weil sie sich nicht vor der Welt und anderen Menschen schützen können. Zwar gelingt es einigen Akteuren, den Schein einer Würde nach außen zu bewahren, trotz alledem bedrohen die Armut und der Hunger die Würde auf nicht gerechtfertigte Weise. Die Verletzlichkeit des menschlichen Lebens wird hier in besonderer Weise deutlich: Menschen brauchen würdige Lebensbedingungen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen.331 7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen Die Lebensbedingungen hungernder Menschen werden durch institutionelle und strukturelle Faktoren bestimmt, die potenziell entwürdigend sein können. Die Explikation dessen, was ein Leben in Armut entwürdigend macht, hat aufgezeigt, dass die Situation der Armut für die betroffenen Menschen ein großes Maß an verweigerter Freiheit und entwürdigenden Abhängigkeiten mit sich bringt, insofern die permanente und vergebliche Anstrengung, das Grundbedürfnis nach Nahrung zu befriedigen, alle weiteren Handlungs- und Lebensmöglichkeiten unterminiert. Dieser Zustand ist auf der individuellen Ebene würdeverletzend, weil der einzelne Mensch nicht in seinem Bestreben, sich selbst zu versorgen, unterstützt wird. Zugleich wird die Würde auf der gemeinschaftlichen Ebene bedroht und verletzt, da Menschen aufgrund institutioneller und struktureller Bedingungen in extremer Armut leben. Auf dieser Ebene wird der für die Würde so wichtige moralische Anspruch von Gleichheit missachtet. Die körperliche 330
331
Vgl. Pollmann, Arnd, Embodied Self-Respect and the Fragility of Human Diginity: A Human Rights Approach, in Kaufmann/ Kuch/ Neuhaeuser/ Webster, Humiliation, Degradation, Dehumanization, S. 243 261. Vgl. ebd., S. 255.
244
7 Überleben am Existenzminimum
Deprivation, die mit Hunger einhergeht, wurde als würderelevant identifiziert und die Notwendigkeit, dies moralisch zu berücksichtigen, damit verdeutlicht. Bisher ist klar geworden, dass körperliche Bedürfnisse eines menschlichen Lebens moralisch nicht außer Acht gelassen werden dürfen, denn die Missachtung materieller und physischer Bedürfnisse bedeutet eine massive Demütigung für die hungernden Menschen. Diese Beschreibung impliziert, dass diese entwürdigenden Lebensbedingungen durch Institutionen zu verantworten sind. Wenn es stimmt, dass Menschen aufgrund institutioneller und struktureller Gegebenheiten derart massiv in ihrer Würde verletzt werden, dann sind wir in einem starken Maße verpflichtet, diese Gegebenheiten zu verändern und eine Welt zu schaffen, in der niemand so leben muss. Die Frage, die in diesem Abschnitt beantwortet werden soll, ist demzufolge, inwieweit die armutsbedingten körperlichen Deprivationen institutionelle und strukturelle Demütigungen sind. Es gilt, das Verhältnis von menschlichen Körperbedürfnissen, konkreten Lebensbedingungen und institutioneller Verantwortung zu klären. Ob es sich wirklich um entwürdigende Lebensbedingungen im verantwortbaren Sinn handelt, zeigt die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen institutionellen Aufgaben und Funktionen und den negierten Bedürfnissen armer Menschen. Unter Rückgriff auf Margalits Verständnis von Demütigungen argumentiere ich dafür, dass arme Menschen sehr wohl systematisch durch Institutionen gedemütigt werden können und die Struktur unserer Institutionen nicht geeignet ist, dem moralisch gerechtfertigten Anspruch von Menschen in extremer Armut zu begegnen. Um die Situation betroffener Menschen im institutionellen Gefüge sowie die Entstehung entwürdigender Verhältnisse besser zu verstehen, soll noch einmal das Paradox der Entwürdigung herangezogen werden. Letztlich muss die institutionelle Ordnung daraufhin befragt werden, ob der Anspruch auf ein Leben in Würde für alle möglich
7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen
245
ist und ob eine Negation der Würde durch die institutionelle Missachtung von Bedürfnissen vorliegt. Wenn ein solcher gleichberechtigter Anspruch möglich ist und bestimmte menschliche Bedürfnisse auf institutioneller Ebene missachtet werden, dann spricht dies eindeutig dafür, dass wir die Verantwortung dafür tragen, die Institutionen und damit die Lebensbedingungen armer Menschen zu verändern. Andernfalls handelt es sich bei diesen elenden Lebensbedingungen lediglich um bedauernswerte Zustände, die zwar Mitleid erregen, aber keinerlei moralische Verantwortung nach sich ziehen. Margalits Annahme ist, dass eine Gesellschaft dann eine anständige Gesellschaft ist, wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen. Die Aufgabe von Institutionen ist es, das menschliche Leben in Gesellschaften zu organisieren und zu regeln. Sie schaffen die Rahmenbedingungen für alle Menschen, in die ein jeder hineingeboren wird. Dazu gehören staatliche Institutionen, politische Strukturen, ökonomische Strukturen, kulturelle Praktiken sowie soziale und gesellschaftliche Normen, Regeln und Konventionen. Diese können sowohl abstrakt sein, in Form von Gesetzen und Regeln, aber auch konkret, im Sinne von Verhaltensweisen.332 Laut Margalit dürfen Institutionen keinen Menschen demütigen, der unter ihren Machtbereich fällt.333 Offensichtlich liegt der Fokus hier auf Gesellschaften, die als Staaten verfasst sind. facto das Gewaltmonopol. Daher besitzt der Staat ein besonders großes Potential zur institutionellen Demütigung. 334 Diese Konzentration auf die Verantwortung staatlicher Institutionen darf allerdings nicht missinterpretiert werden. Wenn es darum gehen 332 333 334
Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 21. Vgl. ebd., S. 22. Ebd., S. 16.
246
7 Überleben am Existenzminimum
soll, einen moralischen Minimalstandard zu bestimmen, müssen die Auswirkungen von Institutionen auf alle Menschen von Bedeutung sein. Gerade in Bezug auf die Gültigkeit minimaler moralischer Standards scheint die Verhaftung in einem traditionellen innerstaatlichen Verständnis von Legitimation nicht ausreichend. Staaten dürfen Nichtmitglieder diskriminieren, sie dürfen sie aber nicht demütigen. Ebenso wenig dürfen Institutionen, die sich nicht nur auf einzelne Gesellschaften beziehen, wie etwa alle überstaatlichen und zwischenstaatlichen Institutionen, Menschen demütigen, auch diejenigen nicht, die in andere Machtbereiche fallen. Die Minimalansprüche an alle Arten von Institutionen müssen global gelten, ebenso wie der Anspruch der Würde ein universalistischer ist und nicht gerechtfertigt auf eine Gesellschaft beschränkt werden könnte. Diese Annahme bedeutet, dass wir uns nicht mit dem Argument entschuldigen können, unsere Institutionen trügen keine Verantwortung, weil lediglich die staatlichen Institutionen derjenigen Länder verantwortlich seien, in denen extreme Armut vorkommt.335 Wie schon am Diskurs über globale Gerechtigkeit erörtert, ist die Begrenzung auf einzelne Staaten und die Orientierung am politischen status quo für die moralische Beurteilung nicht überzeugend. Wie verhalten sich nun Institutionen und die missachteten Bedürfnisse hungernder Menschen zueinander? Schaut man sich genauer an, wie Menschen durch Institutionen behandelt werden, wird schnell deutlich, dass ihr grundlegendes Überlebensinteresse wenig berücksichtigt wird. Die Institutionen des Rechts haben mit den Menschenrechten einen formulierten und positivierten Minimalstandard, der die Menschen unter anderem vor Hunger schützen soll. Die in Bezug auf den Hunger 335
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 177.
7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen
247
formulierten Ansprüche sozialer und wirtschaftlicher Rechte haben jedoch eine schwache Position innerhalb der Institutionenhierarchie. Die Möglichkeit, soziale Menschenrechte wie das Menschenrecht auf Nahrung einzuklagen, besteht zwar theoretisch, spielt tatsächlich aber für die betroffenen Menschen nur eine geringe Rolle. Diese Menschenrechte werden als Anspruchsrechte verstanden, deren korrespondierenden Pflichten unterbestimmt sind. Und die Verletzungen sozialer Rechte sind auch nur dann justiziabel, wenn weitere Rechtsverstöße involviert sind, wie z.B. Landraub, Enteignung oder Diebstahl. Im heutigen Rechtsverständnis ist die besonders verletzliche Situation hungernder Menschen zwar berücksichtigt, jedoch nicht hinreichend durchgesetzt. Inwieweit die Institutionen des Rechts Menschen vor der Verletzung der Würde durch Hunger schützen können, werde ich im nächsten Kapitel näher ausführen. Die weitreichenden Institutionen der Ökonomie und des Marktes sind von besonderer Bedeutung für die konkreten Lebensbedingungen hungernder Menschen. Die Institutionen des kapitalistischen Marktes schützen in keiner Weise vor Entwürdigungen, sondern produzieren diese vielmehr, indem sie die Freiheit und den egalitären Status der Menschen unterminieren.336 Zwar schließt der Markt arme Menschen nicht dezidiert aus, doch ein faires Tauschgeschäft setzt voraus, dass potentielle Marktakteure ein Minimum an Entscheidungsfreiheit besitzen müssen, um das Tauschgeschäft ohne Zwang einzugehen, und eben diese Voraussetzung wird von armen Menschen häufig nicht erfüllt, da ihre Lebensbedingungen sie in ihrer Entscheidungsfreiheit massiv einschränken. Die Möglichkeiten, das eigene Überleben zu sichern, sind stark limitiert und umfassen häufig Handlungsoptionen,
336
Vgl. Sen, Ökonomie für den Menschen, S. 136.
248
7 Überleben am Existenzminimum
von denen keine mit der Aufrechterhaltung von Achtung und Selbstachtung vereinbar ist. Das geltende Gleichheitspostulat des Marktes stellt bei der existierenden Ungleichheit zwischen hungernden und nicht-armen Akteuren eine Negation der besonders bedrohlichen Situation dar und führt schließlich dazu, dass die existenziellen Bedürfnisse der Betroffenen nicht berücksichtigt, sondern missachtet werden. Hier wird deutlich, inwiefern ökonomische Institutionen einen beträchtlichen Beitrag zum Erhalt der existenziellen Notlage leisten. Für die Betroffenen ist diese Konfrontation mit den institutionellen Rahmenbedingungen insofern demütigend, als sie wie Marktteilnehmer behandelt werden, die die gleichen Voraussetzungen zur Teilnahme haben wie diejenigen, die tatsächlich Wahlmöglichkeiten und Handlungsspielräume haben. Sie werden behandelt, als ob sie Menschen ohne Hunger wären. Diese vermeintliche Gleichbehandlung führt dazu, dass das Überlebensinteresse der Hungernden anscheinend keine Rolle spielt, letztlich aber instrumentalisiert wird. Wer unterstellt, dass der andere freiwillig handelt, kann diesem Angebote machen, die moralisch unanständig sind, ohne die volle Verantwortung dafür zu übernehmen. Schließlich hätte der freie Tauschpartner das Angebot auch ablehnen und ein anderes wählen können. Die ökonomische Interaktion ruht damit auf einer entpersonifizierten Beziehung, weil es bloß prinzipiell möglich sein muss, wie eine freie Person handeln zu können, faktisch jedoch nicht. Es handelt sich hierbei nicht um intentionale Demütigungen und Entwürdigungen durch Akteure, sondern darum, dass Menschen systematisch die Möglichkeiten einer anständigen Bedürfnisbefriedigung genommen wird. Wenn einzelne Personen andere intentional demütigen, geht es gerade um diesen Akt der absichtlichen Herabsetzung, der die Demütigung schmerzhaft und moralisch verwerflich macht. In der prekären Situation hungernder Menschen ist das aber nicht das Problem:
7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen
249
Es ist die der Demütigung innewohnende existenzielle Bedrohung, die ernst genommen werden muss, nicht die Demütigung als solche. Das Opfer hat nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass es ihm an menschlichem Wert mangelt; sehr wohl aber muss es um Leib und 337
.
Margalit verweist damit darauf, dass mit der Missachtung der lebensbedrohlichen Situation der Existenz des Interaktionspartners keine moralische Relevanz beigemessen wird. Jenseits ihrer Funktion als Tauschpartner haben Menschen aus einer rein ökonomischen Sicht keinen eigenen Wert. Die Institutionen des Marktes sehen dementsprechend keine besondere, zum Überleben entscheidende Berücksichtigung materieller Minimalbedürfnisse vor, sondern menschenwürdige Lebensbedingungen werden stillschweigend vorausgesetzt. Der Fall, dass dies nicht gegeben ist, lässt sich innerhalb dieses Institutionengefüges weder abbilden, noch beheben. Das bedeutet, dass die fehlende Berücksichtigung und der nicht vorhandene Schutz von armen Menschen dazu führt, dass ihnen zwar nicht auf ontologischer Ebene das Menschsein abgesprochen wird, sie jedoch in konkreten menschlichen Beziehungen behandelt werden, als ob sie keine gleichberechtigten Menschen wären.338 Die verschiedenen bestehenden Institutionen erkennen die materielle Bedürftigkeit und die damit einhergehende körperliche Deprivation hungernder Menschen auf unterschiedliche Weise nicht an. Insbesondere auf der globalen Ebene erfolgt keine der Situation angemessene Berücksichtigung. Zwar streben politische Institutionen die Überwindung von Armut und Hunger an, aber es scheint eher ein Ideal zu sein, als ein unbedingt und grundlegend zu verwirklichender Minimalanspruch. Wir unterlassen es damit, eine globale Ordnung zu schaffen, 337 338
Margalit, Politik der Würde, S. 128. Vgl. Margalit, Politik der Würde, S. 97 f.
250
7 Überleben am Existenzminimum
die jedem Menschen ein würdiges Leben ermöglicht. Pogge behauptet gar, dass wir ein Institutionensystem geschaffen haben, das armen Menschen direkt schadet und damit nicht nur bei dem Anspruch versagt, würdige Lebensbedingungen nicht zu zerstören und Schutz zu bieten, sondern vielmehr aktiv diese würdigen Lebensbedingungen verhindert und den Anspruch darauf negiert.339 Dieses institutionelle Versagen wird überall dort sichtbar, wo sich auch für die nicht betroffenen Menschen die Not resultierend aus Hunger und extremer Armut offenbart: an den Außengrenzen der reichen Staatenverbünde, wo Wirtschaftsflüchtlinge die Hoffnung auf ein besseres Leben häufig mit dem Tod bezahlen; in den Flüchtlingscamps überall auf der Welt, wo Menschen, die aus den verschiedensten Gründen alles verloren haben, was für ein eigenes Leben an materiellen Werten von Bedeutung ist oder in den Elendsvierteln der Megacitys weltweit. Auch wenn Teile des Welthungerproblems sichtbar sind und nicht wie der chronische Hunger übersehen werden, hat die jetzige institutionelle Ordnung auf globaler Ebene keine hinreichenden Vorkehrungen getroffen, diese Missstände zu vermeiden und zu beheben. Wenn armutsbedingte, körperliche Deprivation kein ernstzunehmendes, moralisch grundlegendes Problem für die Institutionen darstellt, schließt sich die Frage an, wie diese Institutionen sich überhaupt legitimieren lassen. Herrschende Institutionen setzen das menschenwürdige Leben voraus und bieten zu wenig, um es überhaupt erst zu ermöglichen. Institutionen, die würdige Lebensbedingungen nicht schaffen und damit die entwürdigenden Lebensbedingungen armer Menschen mit zu verantworten haben, verwirken ihre Geltungs- und Existenzberechtigung.
339
Vgl. Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 26, 27, 31.
7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen
251
Wenn auch ein Großteil der Institutionen nicht in der Lage ist, den Bedürfnissen sehr armer Menschen zu begegnen, gibt es eine Reihe von Institutionen, deren Aufgabe darin besteht, bedürftigen Menschen zu helfen. Diese Institutionen und Organisationen haben das Ziel, Armut und damit einhergehendes Elend zu überwinden oder zumindest zu mildern. Die institutionellen Bemühungen, Menschen zu helfen, bringen groteske Situationen hervor. Denn arme Menschen befinden sich unverschuldet in ihrer Situation, müssen aber dennoch die Verantwortung für ihre Armut auf sich nehmen und andere um Hilfe bitten, um das eigene Überleben zu sichern. Sie befinden sich also in einer Position, in der sie wiederum auf ihre Abhängigkeit und Ohnmacht verwiesen werden, die jedoch andere Menschen als sie selbst zu verursacht haben. Aus dieser Falle kommen auch diejenigen Organisationen nicht heraus, die darum bemüht sind, das institutionelle Grunddefizit auszugleichen und armen Menschen zu helfen. Es gibt Institutionen, die die Armen nicht ignorieren, sondern sich ihrer besonderen Situation annehmen und ihnen helfen wollen. Zum einen sind dies wohltätige Organisationen, wie Essenstafeln oder humanitäre Hilfsorganisationen, die mitunter auch armen Menschen in weiter Ferne helfen, zum anderen sind dies fest verankerte Institutionen, wie moderne Wohlfahrtsstaaten, die die sozialen Rechte sichern und für ein Existenzminimum sorgen. Die vielen Hilfsorganisationen schaffen ein riesiges Angebot an Maßnahmen, die darauf ausgelegt sind, das Leid armer Menschen zu lindern. Von der supranationalen Ebene der Vereinten Nationen mit ihren Hilfsprogrammen, über staatliche Entwicklungshilfeprogramme bis zu gesellschaftlichem und privatem Engagement gegen den Hunger, gibt es vielfältige Bemühungen, den Bedürfnissen der armen Menschen gerecht zu werden. Die große Anzahl dieser Unternehmungen und die vielfältigen staatlichen und gesellschaftlichen Hilfen könnten auf einen breit getragenen moralischen
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7 Überleben am Existenzminimum
Konsens hinsichtlich der Anerkennung von extremer Armut hindeuten. Angesichts des Ausmaßes des Welthungers ist die Hilfe, die von diesen Organisationen ausgeht, unverzichtbar. Leider bleibt der Hunger trotz dieser Bemühungen als persistentes Phänomen und moralisches Problem bestehen. Die besondere Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit armer Menschen kann nicht hinreichend mit dem Konzept der Hilfe aufgefangen werden. Die besondere Vulnerabilität der betroffenen Menschen zeichnet sich durch den Verlust der Möglichkeit von Selbstsorge und besonderer Schutzlosigkeit aus. In dieser prekären Lage haben die Betroffenen keine andere Wahl, als sich an helfende Institutionen zu wenden, wenn sie überleben wollen. Aber damit müssen sich die Betroffenen in eine Situation begeben, in der sie ihre Bedürftigkeit zur Schau stellen und andere bitten müssen, ihnen in dieser prekären Situation zu helfen. Sie müssen zu erkennen geben, dass sie nicht in der Lage sind, selbst für sich zu sorgen. Und diese Charakterisierung impliziert schon, dass hungernden Menschen versagt wird, für sich selbst sorgen zu können. Damit sind sie in einer Situation, die eine besondere Herausforderung dafür darstellt, auf die eigene Selbstachtung achten und sie erhalten zu können. Die Situation des Hungers erscheint den betroffenen Menschen alternativlos und ist weder gewählt noch verschuldet. Insofern stellt sie sich wie eine Naturgewalt dar, weil eben auch niemand sonst die Verantwortung dafür übernimmt, ihre Lage grundlegend und nachhaltig zu verändern. Hungernde Menschen werden nicht wie viele andere Hilfsbedürftige durch Institutionen geschützt, sondern sie sind gezwungen, sich Hilfe zu suchen, um überleben zu können. Dadurch sind arme Menschen in einer extremen Weise der Macht der Institutionen ausgeliefert.
7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen
253
Margalit sagt: Zur Demütigung gehört eine existenzielle Bedrohung, weil der Täter insbesondere wenn es sich dabei um eine Institution handelt über sein Opfer Macht ausübt. Ein wesentlicher Bestandteil der Demütigung ist, daß der Täter seinem Opfer das Gefühl totalen Ausgeliefertseins vermittelt. Die Hilf- und Wehrlosigkeit des Opfers manifestiert sich in der Angst, nicht mehr für die eigenen lebenswichtigen Interes340
Diese Situationen können auch durch Hilfe nicht aufgelöst werden. Die Hilfe stellt nämlich keine Überwindung der Notsituation dar, sondern besteht gerade nur so lange, wie eine unmittelbare Not herrscht. Es bedarf auch in anderen Kontexten der Hilfe eines besonderen Aufwands, um die Selbstachtung der Betroffenen aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund ist auch in den uns vertrauteren Notsituationen beispielsweise wenn Menschen durch Krankheit, Behinderung oder ein großes Unglück auf Unterstützung angewiesen sind, besondere Rücksicht im würdevollen Umgang mit den Hilfebedürftigen gefordert. In diesem Zusammenhang erscheint es erstrebenswert, einerseits rücksichtsvoll Unterstützung zu geben, andererseits aber auch hilfsbedürftige Menschen zu ermutigen, ihre Bedürfnisse zu formulieren. Schließlich sind wir letztlich alle mal in der einen und mal in der anderen Situation. Wenn aber die Notsituation strukturell bedingt ist, ist es für die gleiche und wechselseitige Achtung ein Problem, um Hilfe zu bitten. Denn das mit der strukturell manifestierten Notlage einhergehende Defizit der Betroffenen bedeutet eben auch eine strukturell bedingte Einseitigkeit von Angewiesenheit und Hilfe. Stark asymmetrische Beziehungen gehen mit der Herausforderung einher, dass die wechselseitige Achtung einerseits und der Erhalt der Selbstachtung andererseits stark bedroht sind. Auf diese Weise besteht die Gefahr, dass sich in der 340
Margalit, Politik der Würde, S. 127.
254
7 Überleben am Existenzminimum
Hilfe für arme Menschen Demütigungen ereignen. Die Betroffenen sind darauf angewiesen, sich in ihrer Bedürftigkeit zu offenbaren und prüfen zu lassen, das heißt, sie müssen das, was ohnehin ihre Würde und Selbstachtung bedroht, anderen Menschen explizit zeigen, um deren Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Die ständige Bedrohung des eigenen Lebens bedeutet nicht nur die damit verbundene Anstrengung, um zu überleben, sondern darüber hinaus auch den existenziellen Kampf um ein Leben mit gleicher Würde in einer gemeinschaftlich strukturierten Welt von Menschen. Der Kontrollverlust der armen Menschen, der sowohl die Sorge um das Selbst als auch um die eigenen Kinder und die Familie einschließt, ist so umfassend, dass er als entwürdigend beschrieben werden muss. Auch die geleistete Hilfe in unserem Institutionengefüge kann diese entwürdigende Situation nicht aufheben. Denn auch wenn diese Hilfe es unter Umständen schafft, die unmittelbare Not zu lindern, ist eine Überwindung der Armut im Sinne eines Lebens mit Selbstachtung durch diese Hilfeleistungen nicht möglich. Es entstehen in den bestehenden Institutionen somit ambivalente Ziele. Einerseits wird das Elend sehr armer Menschen als etwas, das nicht sein soll, normativ anerkannt, andererseits vermögen es die globalen Institutionen nicht, die Hungernden ausreichend zu berücksichtigen und ihre Lebenssituation zu verbessern. Es versagen Institutionen auf regionaler, staatlicher und auf globaler Ebene bei der Aufgabe, die Grausamkeiten des Hungers zu verhindern. In der Situation des Welthungers liegt entsprechend ein Institutionenversagen vor, in welchem die Opfer lediglich als Kollateralschäden im institutionellen Gefüge erfasst werden. Denn auch, wenn es keine unmittelbaren Täter gibt, die für die Würdeverletzungen der armen Menschen verantwortlich sind, besteht eine Weltordnung, deren Institutionen derart beschaffen sind,
7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen
255
dass würdige Lebensbedingungen systematisch nicht für alle Menschen ermöglicht werden. Vielmehr gelten die Lebensbedingungen als etwas natürlich Gegebenes und dementsprechend entscheidet allein das Glück, wo und von wem man geboren wird, darüber, ob man eine Chance auf würdige Lebensbedingungen hat. Dadurch, dass es sich nicht um einzelne Täter handelt, die unmittelbar Würdeverletzungen an ihren Opfern verüben, bleibt dasjenige, was konkret zu tun ist, unklarer und die Zuständigkeit zur Überwindung dieser Zustände unterbestimmt. Auch die Hilfsinstitutionen können dieses Problem im Rahmen der institutionellen Ordnung nicht lösen. behandelt werden, sind daher solche, in denen nur so getan wird, "als ob". Das unmenschliche Verhalten streitet dem Opfer nicht auf einer ontologischen Ebene das Menschsein ab; vielmehr leugnet der Peiniger die Freiheit des anderen auf der Ebene ihrer konkreten Beziehungen. Wenn man die Freiheit eines anderen beschneidet und ihm mit entsprechenden Gesten deutlich macht, dass er die Kontrolle über sich weitestgehend verloren hat, kann dies bedeuten, seine Menschlichkeit zu leugnen. Ebendarin besteht der Zusammenhang zwischen Demütigung als Exklusion und Demütigung als Verlust der Kontrollfähig341
Wie Margalit beschreibt, fehlt es den hungernden Menschen daran, in Interaktionsbeziehungen zu anderen Menschen Kontrolle über die eigenen Entscheidungen und Handlungen zu behalten. Ihre Situation determiniert ihr Handeln. Sie werden aus der Gemeinschaft der gleichen Menschen ausgeschlossen, indem in konkreten Beziehungen deutlich wird, dass sie nicht die Freiheit haben, wie ein Mensch zu handeln. Die Konsequenz für die betroffenen Menschen ist ein Leben unter unwürdigen Bedingungen, dessen moralischer Wert im institutionellen Ge-
341
Margalit, Politik der Würde, S. 124.
256
7 Überleben am Existenzminimum
füge nicht hinreichend berücksichtigt wird. Ihr Leben und ihr Überleben spielen weder auf der institutionellen noch auf der Ebene konkreter Beziehungen eine Rolle. Damit wird das Leben der armen Menschen weder in seiner Existenz, noch mit seinem Anspruch, einen moralisch gleichwertigen Status wie alle anderen auch zu haben, ernst genommen. Konkret bedeutet dieses Leben unter elenden Zuständen nicht nur großes Leid, sondern auch in der demütigenden Situation zu sein, niemanden als moralisch verantwortlich identifizieren zu können, weil in den gegebenen Institutionen eine Klassifikation als moralisches Übel nicht vorgesehen ist. Arme Menschen werden so behandelt, als ob sie Menschen zweiter Klasse sind, deren existenziellen Interessen von nachgeordneter Bedeutung sind. Eine zentrale Schlussfolgerung dieser Überlegungen ist, dass die Vermeidung moralischer Grausamkeiten Priorität haben muss.342 Nicht notwendiger Hunger und das damit einhergehende Leid sind Formen von nicht zu begründender Grausamkeit. Auch eine Weltgemeinschaft, in der die Institutionen so strukturiert sind, dass Menschen institutionell gedemütigt werden, ist defizitär und wird dem Anspruch auf Schutz der menschlichen Würde nicht gerecht. Sind diese Institutionen nicht in der Lage, arme Menschen vor dieser Art von Entwürdigungen zu schützen, erfüllen sie ihren eigenen grundlegenden Anspruch nicht. Damit hungernde Menschen nicht mehr gezwungen sind, sich entwürdigenden Situationen auszusetzen, sollen moralische Minimalgebote gelten. Derartige Gebote beziehen sich auf alle Institutionen und stellen Minimalansprüche einer anständigen Gemeinschaft aller Menschen dar, das heißt, sie gelten universal. Sie fordern, dass keine Institution derart beschaffen sein darf, dass die von ihren Strukturen und Hand-
342
Vgl. ebd., S. 91 ff.
7.2 Entwürdigende Lebensbedingungen
257
lungen betroffenen Menschen in ihrem Anspruch auf ein würdiges Leben mit seinen physischen Notwendigkeiten beschnitten werden. Die Legitimitätsgrundlage, die eine Voraussetzung für das Bestehen einer Institution sein soll, besteht nur dann, wenn sie keine menschenunwürdigen Lebensbedingungen hervorbringt. Die derzeit bestehenden globalen Institutionen werden diesen Ansprüchen nicht gerecht. Insofern findet die moralische Grausamkeit des Hungers institutionell keine angemessene Anerkennung. In der derzeitigen strukturellen Verfasstheit des institutionellen Rahmengefüges ist es nicht möglich, den Anspruch auf Achtung der menschlichen Würde einzulösen. Damit stellen die versagten menschenwürdigen Lebensbedingungen, die sich für hungernde Menschen ergeben, ohne dass sie sie selbst zu verantworten haben, faktisch eine Negation der Würde dieser Menschen dar.
8
Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
Aus der bisherigen Beschreibung ist hervorgegangen, dass nicht nur die Freiheitsbeschränkungen und die Unterminierung der menschlichen Gleichheit zu Würdeverletzungen bei hungernden Menschen führen können, sondern auch, dass nicht-substituierbare Grundbedürfnisse, wie das Grundbedürfnis zu essen, durch die institutionelle Ordnung ignoriert werden. Die damit einhergehenden körperlichen Deprivationen sind als moralische Grausamkeiten benannt worden. Ein menschenwürdiges Leben ist unter diesen Bedingungen für die Menschen nicht möglich, weil sie ihr körperliches Überleben und damit das Leben als moralisches Subjekt nicht hinreichend sichern können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Schutzes vor ebensolchen Lebensbedingungen. Im aktuellen institutionellen System ist der Anspruch auf ein Leben in Würde, wie gezeigt wurde, nicht hinreichend gewährleistet. Inwiefern auf diese Bedrohung der menschlichen Würde mit der Ausformulierung eines Menschenrechts gegen den Hunger angemessen reagiert werden kann, wird im Folgenden untersucht. Um mich dieser Frage zu nähern, werde ich zunächst erneut auf das Verhältnis von menschlicher Würde und Menschenrechten zu sprechen kommen. Ich lege dar, wie diese beiden normativen Elemente zueinanderstehen und welche Interpretation des Verhältnisses zu einer fruchtbaren Lösung in der Frage des Welthungers beitragen kann. Im Anschluss daran gehe ich auf die Bemühungen und Herausforderungen ein, die mit der Bestimmung eines Menschenrechts, das vor Hunger schützt, einhergehen. Dazu gehe ich auf die historische Genese des Rechts mit seinen bis heute andauernden politischen Kämpfen ein und benenne die Herausforderung der defizitären politischen Anerkennung sowie die moralphilosophische Begründung des menschenrechtlichen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_8
260
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
Anspruchs. Auf diese Weise zeige ich, welche Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen und Gefahren in einer menschenrechtlichen Einhegung des Welthungerproblems bestehen. Da das Menschenrecht auf Nahrung daraufhin untersucht wird, inwieweit sein Gehalt ein Leben ohne Hunger und mit Würde ermöglicht, wird damit aufgezeigt, worin die moralische Herausforderung konkret besteht und wie bisherige Schwachstellen der menschenrechtlichen Ansprüche dezimiert werden könnten. 8.1 Das Verhältnis von menschlicher Würde und Menschenrechten Wie die Genese des Verständnisses der menschlichen Würde gezeigt hat, ist die ideengeschichtliche Verbindung von menschlicher Würde und Menschenrechten keineswegs notwendiger Art. Vor 1945 waren die Begriffe der Menschenwürde und der Menschenrechte zwei getrennt voneinander diskutierte Konzepte. Die ideengeschichtliche Tradition der menschlichen Würde war nicht an die rechtshistorische Entwicklung und den Diskurs zur Etablierung der Menschenrechte geknüpft. Mit dem Gattungsbruch 1945, der mit der Entrechtung von ganzen Gruppen von Menschen einherging, wurde der Zusammenhang von Menschenwürde und Menschenrechten neu gedacht. Eine grundlegend neue Verbindung beider Aspekte wurde von da an als zwei Facetten des gleichen Anliegens betrachtet. Die Verbrechen der faschistischen Systeme brachten zum Vorschein, dass Menschen als Individuen innerhalb eines rechtsförmigen Unrechtsstaates zu Opfern der Entmenschlichung und Entrechtung werden konnten. Sowohl das Vorführen der menschlichen Verletzlichkeit und die Zerstörbarkeit humanitärer Grenzen als auch die systematische Vernichtung von Menschen zeigten die notwendige überstaatliche Verankerung von moralischen Rechten, die es juristisch zu positivieren galt. Bis zu diesem
8.1 Das Verhältnis von menschlicher Würde und Menschenrechten
261
Zeitpunkt lässt sich eine konzeptionelle Verknüpfung der Menschenrechte mit der Würde und mit Fragen nach menschenwürdigen Lebensbedingungen historisch nur an einzelnen Stellen nachweisen, wo im Rahmen der sozialen Bewegung auf die menschliche Würde bzw. menschenunwürdige Lebensbedingungen durch Armut rekurriert wurde. Mit der Wende zu überstaatlichen Menschenrechten, die sich nicht auf die Positivierung als Bürgerrechte beschränken, hat der normative Anspruch auf einen universalen moralischen Status aller Menschen eine grundlegendere Bedeutung bekommen. Hier verschmilzt die Idee einer Würde, die dem Menschen zukommt und ihn mit einem besonderen Status auszeichnet, mit der Idee, dass alle Menschen Träger der gleichen, grundlegenden und unverlierbaren Rechte sind. Gemeinsam ist beiden Ideen, dass ein Mensch weder Bedingungen erfüllen muss, um die menschliche Würde zu erlangen, noch um Subjekt elementarer und unverlierbarer Rechte zu werden. Diese Ideen sind keineswegs selbstverständlich, wenn man auf die historische Genese der beiden Konzepte blickt. Würde bedeutete in der Regel, aufgrund einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle, etwa weil man zum Adel gehört, besondere Privilegien zu genießen. Ebenso setzte es die Zugehörigkeit zu einem Staat oder einer Bevölkerungsgruppe voraus, das Subjekt bestimmter positiver Rechte zu sein. Die Idee der Menschenwürde behauptet nun, dass alle Menschen in einer bestimmten Hinsicht eine Nobilität teilen, die nicht durch rollenspezifische Leistungen verdient werden muss, sondern allein im Menschsein gründet. Die Idee der Menschenrechte hängt mit dieser Vorstellung von Würde insofern untrennbar zusammen, als dass allen Menschen bestimmte positive Recht unbedingt zukommen. Die untrennbare Verbindung von Menschenwürde und Menschenrechten kann auf unterschiedliche Weise beschrieben werden. Wenn
262
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
die beiden Ideen einerseits untrennbar zueinander gehören, andererseits jedem Begriff eine eigenständige Bedeutung zukommt, muss ihr Verhältnis zueinander näher bestimmt und gezeigt werden, in welcher Hinsicht die Konzepte nicht deckungsgleich sind. Verschiedene Varianten der Interpretation verstehen die Menschenwürde als Summe der Menschenrechte, Begründungs- oder Ableitungsgrund der Menschenrechte, einen Teilaspekt der Menschenrechte oder als ein Erläuterungsverhältnis. Der Vorschlag, dass es sich bei der Menschenwürde um die Summe aller Menschenrechte handelt und die Begriffe somit einen identischen Inhalt haben, ist unter dem Namen Identifikationsthese bekannt. Diese These besagt, dass, wenn die Menschenrechte erfüllt sind, dann auch die Menschenwürde garantiert ist, was darauf hinausläuft, dass der Begriff der Würde letztliche überflüssig oder leer ist. Für die Zurückweisung dieses Gedankens habe ich im vierten Kapitel argumentiert. Die dominanteste Interpretation des Verhältnisses von Menschenwürde und Menschenrechten ist die Begründungs- bzw. Ableitungsgrundthese. Diese, insbesondere rechtsphilosophisch dominante Interpretation, sieht in der Menschenwürde die normative Fundierung der Menschenrechte. Das bedeutet, dass die Menschenwürde den Menschenrechten vorgelagert ist und die normative Geltung von Menschenrechten begründet. Dementsprechend lassen sich aus der Würde die Rechte, die jedem Menschen zukommen, ableiten und ihr imperativer, notwendiger Gehalt auf das Konzept der menschlichen Würde zurückführen. In dieser Weise wird Menschenwürde gängiger Weise im deutschen Grundgesetz ausgelegt, deren Gehalt in der Objektformel,
8.1 Das Verhältnis von menschlicher Würde und Menschenrechten
263
also dem Instrumentalisierungsverbot des Menschen in kantischer Tradition besteht.343 In diesem Begründungsverhältnis bleibt jedoch unklar, wie sich genau die einzelnen Menschenrechte aus der Menschenwürde ergeben. Die Menschenwürde bildet zwar das Fundament der Menschenrechte, so dass diese sich zwingend aus der Würde ergeben, doch wie genau diese Genese erfolgt, bleibt letztlich unklar. Die Interpretation des Verhältnisses von Menschenwürde als einen besonders schützenswerten Kernbestand der Menschenrechte beschreibt die menschliche Würde wiederum als einen Teilaspekt von Menschenrechten.344 Besonders fundamentale Menschenrechtsverletzungen werden mit dem Verweis auf die Menschenwürde normativ verurteilt. Worin nun aber die wesentlichen und grundlegenden Menschenrechte bestehen, lässt sich nicht bestimmen, ohne dass eine inhaltliche Bestimmung des Gehalts des Würdebegriffs vorgenommen wird.345 Die Herausforderung ist, ein Verständnis des Verhältnisses zu entwickeln, das weder darin mündet, dass eines der beiden Elemente überflüssig wird, noch dass die Inhalte untergraben werden. Pollmann hat vor diesem Hintergrund ein Konzept entwickelt, in dem wichtige Aspekte beider Begriffe miteinander verbunden werden können. Pollmann zufolge ist die Menschenwürde der entscheidende normative Referenzpunkt für die Menschenechte. Die Menschenrechte wären begrifflich zwar auch ohne Würde denkbar, sind aber durch die historische Erfahrung nach 1945 untrennbar miteinander verknüpft worden. Pollmann behauptet, dass die Aufgabe der Menschenrechte darin besteht, die Menschenwürde zu schützen, dass diese also das Worumwillen oder Ziel der Menschenrechte ist. Es ist für Pollmann zwar ein 343 344 345
Vgl. Düwell, Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte, S. 65. Vgl. ebd., S. 71. Vgl. Düwell, Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte, S. 71.
264
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
historisch kontingenter Umstand, der die beiden Konzepte miteinander verbindet, doch gleichzeitig sind es diese historischen Erfahrungen, die einen inhaltlichen Wandel der Konzepte bewirken und gewissermaßen auch begründen: und Unmenschlichkeit führen zu einem Wandel inhaltlicher Interpretationen beider Begriffskonzepte. Und es scheint sich zu bewahrheiten: Erst wenn man dem Menschen wichtige moralische Grundgüter nimmt, weiß er, was genau ihm nun346
Man könnte auch sagen, erst in dem Moment, in dem man dem Ausmaß der geschehenen Unmenschlichkeit und Entrechtung gewahr wurde, hatte man eine Idee davon, wovor Menschen geschützt werden müssen; erst durch die geschehenen Grausamkeiten ist sichtbar geworden, was es für Menschen heißt, in Würde zu leben. Die Menschenwürde als Grund der Menschenrechte wird dann so verstanden, dass 347 ist. Gerade weil nicht alle Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können, brauchen sie die Menschenrechte, um die Möglichkeit eines würdigen Lebens zu haben. Die menschliche Würde muss in diesem Sinne als verletzbares Gut verstanden werden, welches es zu schützen gilt. Dementsprechend versteht Pollmann die Menschenrechte als Rechte, die dem Schutz der Würde348 dienen. Die Formulierung der einzelnen Menschenrechte kann in diesem Verständnis aus der Negation von Würde erfolgen, weil die Würde auch
346 347 348
Vgl. Pollmann, Menschenwürde nach der Barbarei, S. 32. Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 41.
8.1 Das Verhältnis von menschlicher Würde und Menschenrechten
265
als verletzbares Gut verstanden wird. Habermas schreibt den Entwürdigungserfahrungen historisch eine katalysatorische Funktion zu.349 350 in Bezug auf die Menschenwürde ermöglicht die Formulierung von Menschenrechten. Erst aus den Unrechtserfahrungen erwachsen gewissermaßen die Gegenstände, die durch das Menschenrecht geschützt werden müssen. Der Blick auf das, was Menschen angetan und wie ihr menschenwürdiges Leben verhindert wird, spielt eine zentrale Rolle bei der Neuformulierung bzw. der Interpretation dessen, was der Gehalt einzelner Menschenrechte sein muss. In diesen Rechten formuliert sich, dass Unrecht, Ungerechtigkeit und Demütigungen als solche anerkannt sowie moralisch und rechtlich berücksichtigt werden sollen. Die Menschenwürde hat innerhalb des Menschenrechtsdiskurses die Funktion, auf negierte Selbstachtung, Demütigungen und Würdeverletzungen zu verweisen sowie auf die Frage, ob die formulierten menschenrechtlichen Ansprüche hinreichend vor diesen Gefahren schützen. Damit bietet der Begriff der Würde einen kritischen Referenzrahmen für notwendige Rechtsansprüche und ermöglicht, dass moralische Ansprüche in Rechte übersetzt werden können. Insofern misst Habermas den Erniedrigungserfahrungen und Demütigungen eine wesentliche Bedeutung in der historischen Entstehung positivierter Menschenrechte zu. Menschenwürde und Menschenrechte sind diesen Überlegungen zufolge also in ihren unterschiedlichen Funktionen inkommensurabel, zugleich aber untrennbar aufeinander bezogen. Ausgehend von diesem Verhältnis zwischen Menschenwürde und Menschenrechten ist die Beschreibung der Würdeverletzungen durch Armut und Hunger von wesentlicher Bedeutung. Wenn Weltarmut und 349 350
Vgl. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde, S. 345. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde, S. 345.
266
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
Welthunger ein menschenwürdiges Leben für einen Großteil der lebenden Menschen unmöglich machen, begründet sich darin die Formulierung menschenrechtlicher Ansprüche darauf, dass ebendieser Zustand überwunden wird. Im Folgenden wird diese Verbindung von menschlicher Würde und Menschenrechten auf ein für die Armut grundlegendes Recht angewandt, nämlich das Menschenrecht auf Nahrung bzw. auf Ernährung. Mit diesem Fokus wird die spezifische Rolle der menschlichen Würde für die Weltarmut und den Welthunger herausgearbeitet. Das Worumwillen der Menschenrechte, die menschliche Würde, ist dabei der Prüfstein: Menschenrechte müssen sich daran messen lassen, ob sie in der Ausgestaltung das Ziel, die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens, erreichen. Dafür ist entscheidend, wie der Gehalt der Menschenrechte in Bezug auf Armut und Hunger bestimmt wird. 8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung Nachdem das Verhältnis von Menschenrechten und Würde betrachtet worden ist, möchte ich das spezifische Recht auf Nahrung in den Fokus meiner Betrachtung rücken. Diese Betrachtung soll helfen zu verstehen, ob wir mit dem Recht auf Nahrung schon ein ausreichendes Instrument haben, um die moralischen Ansprüche der von Hunger und Armut betroffenen Menschen zu benennen und zu schützen. Dabei wird es um die Frage der rechtlichen Verankerung dieses Anspruches und seinen Inhalt gehen sowie um den politischen Kampf für die Umsetzung dieses Rechts. Außerdem schließt sich die Frage nach der moralischen Begründung eines solchen Rechts an, um im Anschluss die vielfach vorliegenden Verletzungen dieses Rechts kategorisieren zu können.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
267
In der historischen Genese eines menschenrechtlichen Schutzes vor Hunger zeigen sich die besonderen Herausforderungen, die mit diesen Menschenrechten verbunden sind. Ein Menschenrecht auf Nahrung oder Ernährung bietet heute die Grundlage, um Menschen vor Hunger zu schützen. Erst mit der Festschreibung durch die überstaatlichen Institutionen der Vereinten Nationen in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Recht auf Nahrung in einem globalen Rahmen formuliert. Der Prozess der Formulierung und Bestimmung bewegt sich seitdem zwischen einem Recht auf Freisein von Hunger, das sich auf Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bezieht und einem Recht auf angemessene Ernährung. 351 In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) wird festgeschrieben: eder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete 352
Das Recht auf Nahrung wird hier als ein Bestandteil des Rechts auf einen minimalen Lebensstandard gefasst und mit anderen Gütern, die durch Armut gefährdet sind, wie z.B. Gesundheit, verbunden. Das scheinbar plötzliche Auftauchen dieses Rechtes im Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen mit derart weitreichenden Ansprüchen 351
352
Vgl. United Nations. High Commissioner For Human Rights. CESCR General Comment No. 12: The Right to Adequate Food (Art. 11). May 12, 1999. In E/C.12/1999/5; Food and Agriculture Organization of the United Nations. Voluntary guidelines to support the progressive realization of the right to adequate food in the context of national food security: Adopted by the 127th session of the FAO Council, November 2004. Rome: Food and Agriculture Organization of the United Nations, 2005. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 25, Abs. 1.
268
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
war zunächst jedoch gewissermaßen harmlos, da die AEMR keinerlei rechtliche Verbindlichkeit besaß. Erst mit den internationalen Pakten, in denen menschenrechtliche Ansprüche aufgegriffen wurden, entstanden Pflichten für die unterzeichnenden Staaten und damit positives Recht. Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) wurde 1966 festgeschrieben: messenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, [...] (2) In Anerkennung des grundlegenden Rechts eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein, werden die Vertragsstaaten einzeln und im Wege internationaler Zusammenarbeit die erforderlichen Maßnahmen, einschließlich besonderer Programme, durchführen a) zur Verbesserung der Methoden der Erzeugung und Haltbarmachung und Verteilung von Nahrungsmitteln durch volle Nutzung der technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse [...], b) zur Sicherung einer dem Bedarf entsprechenden gerechten Verteilung der Nahrungsmittelvorräte der Welt unter Berücksichtigung der Prob353
Damit einigt sich die Staatengemeinschaft auf einen minimalen Konsens, der allen Menschen ein Leben ohne Hunger ermöglichen kann. Der weltweite Hunger wird damit als menschenrechtliche Herausforderung benannt und das politische Anliegen formuliert, diesen zu bekämpfen. Der Prozess der inhaltlichen Bestimmung und Ausgestaltung des Rechts auf Nahrung findet seitdem in den mannigfaltigen Organisationsformen der internationalen Institutionen statt. Der erste World Food Congress der FAO fand bereits 1963 statt und damals waren die Beteiligten zuversichtlich, die globalen Herausforderungen des Hun-
353
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Art. 11, Abs.1,2.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
269
gers mit Steigerungen in der Produktion von Nahrungsmitteln bald bewältigen zu können. Die Überzeugung, dass es sich bei dem globalen Hungerproblem in erster Linie um ein technisch zu lösendes produktionsbedingtes Knappheitsproblem handle, schlägt sich auch in der Formulierung des menschenrechtlichen Anspruchs im ICESCR nieder. Auf dem World Food Congress 1970 wurde dann ausdrücklich der Bezug auf das Menschenrecht auf Nahrung hergestellt und betont, dass es nicht darum gehen könne, die armen Menschen der Welt nur zu füttern.354 Auf der World Food Conference 1974 konnten sich zwar die beteiligten Staaten auf eine Absichtserklärung zur Überwindung des Hungers einigen, diese blieb aber in ihren Ziele und Maßnahmen so unkonkret, dass sie kaum praktische Folgen nach sich ziehen konnte.355 Es erfolgte eine formale Bestätigung des Rechts auf Freisein vor Hunger und der Pflicht, diesen zu bekämpfen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Recht auf Nahrung blieb bis in die 1990er Jahre auf Situationen akuter Hungersnöte wie 1972-75 und 1984-85 beschränkt und damit auch auf den moralischen Anspruch, nicht zu verhungern. Erst mit dem Welternährungsgipfel 1996 begann der Prozess der normativ gehaltvolleren inhaltlichen Ausgestaltung dieses Menschenrechts auf internationaler Ebene. Hier wurde der erste abgestimmte Plan erarbeitet, dessen Ziel es war, den Hunger weltweit zu bekämpfen und das proklamierte Menschenrecht umzusetzen. Ein Ergebnis dieses
354
355
Vgl. Food and Agriculture Organization of the United Nations. Report of the Second World Food Congress: The Hague, Netherlands, 16 30 June 1970. Rome, 1970, S. 61. Vgl. United Nations, Report of the World Food Conference: Rome, 5 16 November 1974 (E/CONF.65/20), New York: 1975.
270
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
Treffens war das mit der Rom-Deklaration zur Welternährungssicherheit erklärte Ziel, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren. 356 Mit dem Folgetreffen fünf Jahre später wurden 2002 die Ziele aus der Rom Deklaration wieder aufgenommen und nochmals bestärkt, um ihre politische Wirkung zu unterstützen. Der Handlungsplan von 1996 entspricht den sogenannten Millenium Development Goals (MDGs), deren Erfüllung 2015 vorgesehen war, deren Erfolg jedoch umstritten ist. 357 Das nächste Ziel der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen ist nun die vollständige Abschaffung des globalen Hungers.358 Kritiker werfen den UN-Organisationen vor, die vermeintlichen Erfolge in der Verfolgung der Milleniumsziele in Bezug auf die Armen und Hungernden seien nur durch Taschenspielertricks in der Berechnung zustande gekommen.359 Eine ausführliche inhaltliche Interpretation des Rechts auf Nahrung erfolgt durch den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Hier wird ein anspruchsvolles Verständnis des Rechts auf Nahrung formuliert:
356
357
358
359
Vgl. Food and Agriculture Organization of the United Nations, World Food Summit: 13 17 November 1996, Rome, Italy. Rome: Food and Agriculture Organization of the United Nations, 1996, Ziègler, Jean, The fight for the right to food: Lessons learned, Basingstoke: 2011, S. 5. Vgl. World Food Summit, World Food Summit; Milleniums-Erklärung der Vereinten Nationen; Pogge, Thomas/ Nida-Rümelin, Julian, Gerechtigkeit in der Einen Welt, Essen: 2009, S. 21 25. Vgl. UN, Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development, S. 15 f. Vgl. Pogge, Zum Menschenrecht auf Nahrung, S. 33.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
271
dass das Recht auf angemessene Nahrung unteilbar mit der naturgegebenen Würde der menschlichen Person verbunden und für die Verwirklichung anderer in der internationalen Menschenrechtscharta verankerter Menschenrechte unerlässlich ist. 360
361
ist, das heißt, dass es als grundlegendes Menschenrecht verstanden werden muss. Zum anderen wird thematisiert, dass die Ursachen von Hunger nicht in der Knappheit von Nahrungsmitteln begründet sind, sondern in der Armut der Menschen. Der normative Inhalt des Menschenrechts wird in diesem Kommentar weitreichend bestimmt, insofern das Menschenrecht dann als verwirklicht angesehen wird, wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind jederzeit physisch und wirtschaftlich Zugang zu angemessener Nahrung oder Mitteln zu ihrer Beschaffung hat; es bestimmt ebenso, dass die Nachhaltigkeit der Nahrungsmittel und die kulturelle Angemessenheit sowie die individuellen physiologischen Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen.362 Diese Interpretation des Rechts weist eine Festsetzung von Nährwerten oder Kalorien zurück, denn die Angemessenheit ergibt sich aus nicht festsetzbaren Teilen. Zudem wird auch der Anspruch formuliert, sich aus eigener Kraft ernähren zu können oder aber am Verteilungs- und Marktsystemen teilhaben zu können. Das ursprüngliche Recht auf Nahrung rekurriert mit diesem Gehalt nicht mehr lediglich auf das Vorhandensein von Nahrung, sondern auf die Möglichkeit der Ernährung. Im Prozess der inhaltlichen Ausgestaltung und der damit einhergehenden politischen Kämpfe kommt
360 361 362
UN, CESCR General Comment No. 12: The Right to Adequate Food (Art. 11), S. 4. Vgl. ebd., S. 3 5. Vgl. UN, CESCR General Comment No. 12: The Right to Adequate Food (Art. 11), S. 6.
272
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
dieser Bedeutungsverschiebung gerade auch in Bezug auf den Würdeaspekt eine wichtige Bedeutung zu. Die mit dem Menschenrecht auf Ernährung einhergehenden Verpflichtungen werden dahingehend spezifiziert, dass die Staaten dafür verantwortlich sind, auf die volle Verwirklichung des Rechts hinzuwirken, und zwar auf den genannten drei Ebenen der Achtungspflicht, Schutzpflicht und Gewährleistungspflicht (diese umfasst auch eine Förderpflicht und eine Bereitstellungspflicht). Das Recht auf Ernährung beinhaltet entsprechend die Forderung nach Respekt vor der Freiheit eines jeden Menschen, die auch darin besteht, die eigene Nahrung selbst zu produzieren oder Nahrungsmittel am Markt zu tauschen. Außerdem gilt die Pflicht, dass der Staat die Menschen vor den Eingriffen Dritter, die dieses Recht gefährden oder behindern, schützen muss und schließlich muss der Staat dafür sorgen, dass die Menschen Zugang zu Nahrung haben bzw. aktiv darauf hinwirken, die Menschen dabei zu unterstützten. Wenn Menschen aus Gründen, auf die sie keinen Einfluss haben, nicht in der Lage, 363
. Das Recht auf angemessene Nahrung wird im Kommentar dahingehend interpretiert, dass die Staaten auf einzelstaatlicher Ebene verpflichtet sind, alles Notwendige zu tun, damit niemand Hunger leidet und für jeden sobald wie möglich dieses Recht verwirklicht wird.364 Hier wird klar, dass die Interpretation des Rechts auf Nahrung immer in zwei Richtungen geht. Zum einen wird versucht, auf den grundlegenden Anspruch zu verweisen, zum anderen wird darauf gedrängt, diesen Anspruch möglichst bald für alle zu erfüllen. Letzteres wird in dem Bewusstsein formuliert, dass die Realität noch weit davon entfernt ist, diesen Anspruch verwirklicht zu haben.
363 364
Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 7, 21.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
273
Seit 2004 hat nicht nur das World Food Programm (WFP) der FAO wieder das Recht auf Nahrung mit der Resolution on the rights based approach to hunger365 zu einem strategischen Ziel gemacht, sondern es wurden ebenfalls freiwillige Leitlinien, Voluntary Guidelines to support the progressive realization of the right to adequate food366, im Rahmen der nationalen Ernährungssicherheit als Handlungsempfehlungen verabschiedet. Diese bilden einen Versuch, das Recht auf Nahrung zu konkretisieren. Hier umfasst die Ernährungssicherheit die Verfügbarkeit von Nahrung, eine Versorgungstabilität, den Zugang aller Menschen zu Nahrung und die Landnutzung. Die Leitlinien sind das Ergebnis eines langen politischen Aushandlungsprozesses mit vielen beteiligten Akteuren. Sie bedeuten eine umfassende Konkretisierung und Ausgestaltung eines bisher unterbestimmten Rechts und dienen damit einerseits zur Bestimmung von Maßnahmen, die die mit dem Recht Nahrung korrespondierenden Pflichten benennen sollen. Andererseits wird ein Instrument des Berichtswesens geschaffen, das zwar freiwillig bleibt, aber dennoch eine Kontrollinstanz schafft. Auf diese Weise hat sich über die Jahrzehnte die inhaltliche Bestimmung dieses Menschenrechts im internationalen Recht entwickelt und der normative Gehalt hat sich sukzessiv erhöht. Die Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts, in dem Hunger innerhalb von bewaffneten Konflikten ein häufig eingesetztes Mittel der Kriegsführung ist, wurde hier bewusst außen vor gelassen, da es sich um einen Sonderfall in juristischer wie in moralischer Hinsicht handelt.367 Heute wird das Menschenrecht auf Nahrung in erster Linie durch das Amt des Sonderberichterstatters für das Recht 365 366
367
Vgl. Ziegler, Wir lassen sie verhungern, S. 189. Vgl. Food and Agriculture Organization of the United Nations, Voluntary guidelines to support the progressive realization of the right to adequate food in the context of national food security. Vgl. Kent, George, Freedom from want: The human right to adequate food, Washington, D.C: 2005, S. 26 ff., 49 f.
274
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
auf Nahrung auf der internationalen Bühne vertreten. In diesem Amt wird das Recht auf Nahrung als normativ anspruchsvolles Recht verstanden. Die Bestimmung des Rechts bezieht sich konkret auf die Bedingungen eines würdevollen Lebens: stricted access, either directly or by means of financial purchases, to quantitatively and qualitatively adequate and sufficient food corresponding to cultural traditions of the people to which the consumer belongs, and which ensures a physical and mental, individual and collective, fulfilling and dignified li 368
Dass der Anspruch eines jeden Menschen, sich zu ernähren, immer auch in konkrete Lebensbedingungen eingebunden ist und eng mit der Frage eines würdevollen Lebens verbunden ist, wird in dieser Bestimmung deutlich. In diesem normativ gehaltvollen Recht lassen sich dann die Ansprüche auf ein würdiges Leben integrieren und mögliche Verletzungen der Würde durch extreme Armut und Hunger erfassen. In der politischen Auseinandersetzung wird deutlich, dass es sich beim Recht auf Nahrung um ein vielfach umstrittenes und umkämpftes Recht handelt, welches keineswegs als gesicherter Bestandteil derjenigen Rechte gilt, zu denen die Menschen Zugang haben, die sie einfordern können oder deren Gut hohe Priorität besitzt.369 Der politische Kampf wird von vielen Akteuren geführt und ist durch eine Vielzahl von Interessens- und Konfliktlinien gezeichnet. Während gerade diejenigen, deren Rechte nicht erfüllt sind, häufig nicht für diese politisch kämpfen können, weil sie all ihre Ressourcen dem Überlebenskampf widmen müssen, gibt es viele Nichtregierungsorganisationen, die im Sinne einer advocacy policy als Interessenvertretung dieser marginalisierter 368 369
Ziègler, The fight for the right to food, S. 15. Vgl. Kommer, Menschenrechte wider den Hunger, S. 29.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
275
Gruppen versuchen, das Recht auf Nahrung zu schützen bzw. für ein wirksames Menschenrecht eintreten. Neben verschiedenen politischen Interessen spielen wirtschaftliche Interessen eine erhebliche Rolle im Kampf um die Bestimmung des Rechts. Der gesamte Markt um die Produktion, den Handel und den Konsum von Nahrungsmitteln ist einer der größten und wichtigsten der Welt. Die Einschränkungen wirtschaftlicher Freiheit aus menschenrechtlichen Gesichtspunkten scheinen eine Bedrohung für die wenigen Konzerne zu sein, die den Nahrungsmittelmarkt kontrollieren. Daher wollen diese Konzerne menschenrechtliche Verpflichtungen in der Regel vermeiden oder möglichst klein halten. Moralisch begründete starke Regulationen des globalen Marktsystems zur Umsetzung dieses Menschenrechts sind aufgrund der Interessenvertretung dieser Institutionen bisher nicht möglich gewesen. Das heißt, ein normativ starkes Recht auf Nahrung wird aus der ökonomischen Perspektive eines liberalen Marktsystems abgelehnt. Diese Konfliktlinie prägt den Kampf um Geltung und Umsetzung des Rechts auf Nahrung maßgeblich. Das Verhältnis von moralischen und ökonomischen Gründen stellt dabei einen wiederkehrenden Streitpunkt dar. Diese Fragen tangieren eine Vielzahl aufgeworfener, spezifischer Aspekte, die in der politischen Auseinandersetzung thematisiert werden, wie zum Beispiel die Frage nach der Anrüchigkeit von Finanzmarktspekulationen auf Nahrungsmittel und natürliche Ressourcen wie Land und Wasser 370 sowie nach der Patentierung von Saatgut oder der gentechnischen Veränderung von Lebensmitteln.371 Dementsprechend rankt sich der Kampf um das Recht auf 370
371
Vgl. Bergstreser, Michael (Hg.), Globale Hungerkrise: Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung, Hamburg: 2009; Schutter, Hunger im Überfluss; Weingärtner/Trentmann, Handbuch Welternährung. Vgl. Shiva, Vandana, Geraubte Ernte: Biodiversität und Ernährungspolitik, Zürich: 2004, Shiva, Vandana/ Petrini, Carlo, Manifestos on the future of food & seed, Cambridge, Mass.: 2007.
276
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
Nahrung und gegen den Hunger um die Liberalisierung des Weltmarktes für Nahrungsmittel, die Spekulation am Finanzmarkt auf Nahrungsmittel sowie die fortschreitende Industrialisierung der Landwirtschaft mit der Ausbeutung von Land und Wasserressourcen und der Vertreibung und Zerstörung kleinbäuerlicher Strukturen. Besondere Kritik erfolgt dabei an den Strukturanpassungsprogrammen und den Organisationen WTO, IWF und der Weltbank.372 Der politische Kampf um das Recht auf Nahrung ist nicht nur einer um Anerkennung dieses Rechts, sondern auch um die Deutungshoheit dessen, was es bedeuten kann und soll. Dabei geht es vielfach auch um die Frage, worin die Ursachen des Hungers, insbesondere des strukturellen und chronischen Hungers, gesehen werden und auf welche Weise sich diese in Zukunft verhindern ließen. Während die eine Seite behauptet, dass nur der Weg agroindustrieller Landwirtschaft das Problem des Hungers wird lösen können, sehen Gegner dieser Produktionsweise gerade in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft die einzig mögliche Chance, langfristig nachhaltige Nahrungsmittelproduktion und eine faire Verteilung der Güter sicherzustellen. Während die Seite der Konzerne als Gegner eines starken Rechts auf Nahrung eingeschätzt werden, gibt es auf der Seite der Befürworter eines gehaltvollen Rechts durchaus auch unterschiedliche Meinungen, auf welche Art es auszugestalten ist. Auf der internationalen Ebene wird insbesondere das Konzept der Ernährungssicherheit diskutiert und vorangetrieben. Demgegenüber stehen Ansätze, die als Konzepte zur Ernährungssouveränität kategorisiert werden können und insbesondere von Bewegungen betroffener Bevölkerungsgruppen vertreten werden. Erstgenannter Ansatz wird daher auch als Top-downStrategie und letztgenannte als Bottom-up-Ansätze bezeichnet. Im Sinne der Ernährungssicherheit gilt das Recht auf Nahrung als erfüllt, wenn 372
Vgl. Shiva, Geraubte Ernte, Shiva/Petrini, Manifestos on the future of food & seed ; Ziègler, The fight for the right to food; Schutter, Hunger im Überfluss.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
277
genug Nahrungsmittel für alle produziert werden und in von Hunger betroffenen Ländern sicherer Zugang für alle Bevölkerungsgruppen zu Nahrungsmitteln besteht. Diese Herangehensweise ist durchaus mit verschiedenen Formen der Landwirtschaft vereinbar, beansprucht aber den Einbezug vormals Exkludierter aus dem Zugangs- und Bezugssystem. Das Recht auf Nahrung wird, so wie es derzeit auf internationaler Ebene verfasst ist, in erster Linie als nationale und territoriale Aufgabe verstanden. Das birgt jedoch die Gefahr der massiven Ungleichverteilung innerhalb der Staaten, da die Ernährungssicherheit erfüllt ist, wenn rechnerisch ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Damit rückt der Fokus des Rechts auf Nahrung auf die Bemühungen um ausreichende Produktion und Verteilung und weg von Fragen nach der eigenständigen Erzeugung von Nahrung oder Beteiligung am Handel. Im Gegensatz dazu beinhalten Konzepte der Ernährungssouveränität weitreichendere Forderungen, wie die Selbstbestimmung und die Autonomie in Produktion von Nahrungsmitteln.373 Dieses Recht würde dann nicht nur den Anspruch auf sicheren Zugang zu angemessener Nahrung enthalten, sondern auch auf Selbstbestimmung darüber, wie die Menschen ihre Nahrungsmittel erhalten, wie durch eigenen Anbau gemäß kultureller Traditionen oder durch die Partizipation am Markt. Die Forderung nach Souveränität ist dabei zentral, insofern die Entscheidungen bezüglich der Ressourcennutzung, Verteilung und der Bewahrung kulturellen Wissens auf gemeinschaftlicher Basis gefällt werden und nicht von ökonomischen Prinzipien überstimmt werden. In den Bottom-up-Ansätzen ist daher eine starke systemkritische Komponente enthalten, die bestimmten Werten 373
Das Konzept der Ernährungssouveräntität steht im Mittelpunkt in der Erklärung von Nyéléni am 27. Februar 2007. Die Erklärung ist das Ergebnis eines politischen Forums zur Ernährungssouveräntität an dem politische VertreterInnen und politische Organisationen teilgenommen haben.
278
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
wie Selbstbestimmung, Nachhaltigkeit und dem Erhalt kulturellen Wissens Priorität gegenüber rein ökonomischen Argumenten einräumen würde. Dementsprechend fordern diese Ansätze umfangreiche Landreformen zur gerechteren Verteilung von Landressourcen und das Recht der Gemeinschaften, auf nachhaltige Weise zu produzieren. Sie sprechen sich gegen die Patentierung von Nahrungsmitteln, Pflanzen, Züchtungen etc. aus und erweitern die Forderung des Rechts auf Nahrung zu einem Recht auf gute Nahrung.374 Häufig wird hier eine starke Verbundenheit mit den natürlichen Ressourcen und der Lebensumwelt betont und Umweltschutz sowie nachhaltige Landwirtschaft haben als integrale Bestandteile der Nahrungsmittelproduktion einen großen Stellenwert im Rahmen der Ernährungssouveränität, auch in Hinblick auf die Rechte zukünftiger Generationen.375 Die Kritik an der aktuellen Situation der Produktion und des Marktes gibt Hinweise auf die enormen Probleme, die insbesondere für die armen Menschen durch das aktuelle System entstehen, wie zum Beispiel durch die Luxusgüterproduktion für die erste Welt, bei der Ressourcen (Land, Wasser, Energie) für die Grundgüterversorgung in von strukturellem Hunger betroffenen Ländern abgeschöpft werden. Durch die Produktion von Luxusgütern wie Blumen, Obst oder Fleisch, die für den Export bestimmt sind, fehlen Kapazitäten zur Grundversorgung der betroffenen Länder. Viele Aspekte aus den Konzepten der Ernährungssouveränität haben bereits Eingang in ein Verständnis von angemessener Nahrung gefunden. Die Berücksichtigung nicht nur bedürfnisorientierter Kalorienund Nährwertbestimmung, sondern auch die Berücksichtigung kultureller Gewohnheiten bei der Nahrung und bei Herstellungs- und Zubereitungsformen haben hier ihren Ausgangspunkt. Es wird damit 374 375
Vgl. Shiva/Petrini, Manifestos on the future of food & seed, S. 61. Vgl. Shiva, Geraubte Ernte; Shiva/Petrini, Manifestos on the future of food & seed.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
279
deutlich, dass es sich bei dem Recht auf Nahrung nicht mehr nur um die Sicherung eines reinen Überlebens handeln kann, sondern komplexe Zusammenhänge der Lebenswelt berücksichtigt werden müssen. Dazu zählt die Berücksichtigung der kulturellen Identität, der Geschichte und des Anspruchs auf Selbstbestimmung der Menschen. Wesentlich an der Diskursverschiebung ist, dass es sich offensichtlich nicht mehr um ein vermeintlich technisch zu lösendes Problem handelt, sondern dass es um grundlegende politische und moralische Fragen geht. Der Kampf um das Recht auf Nahrung macht immer wieder die umstrittene Anerkennung dieses Rechts deutlich. Der Vorwurf der Begründungsschwäche geht davon aus, dass sich die sogenannten Abwehrrechte von den Anspruchsrechten in einer wesentlichen Hinsicht unterscheiden. Gemeinsam mit weiteren Anspruchsrechten gehört das Recht auf Nahrung zu der Gruppe von sozialen Menschenrechten, die häufig als Menschenrechte der zweiten Generation kategorisiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Kategorisierung lautet der erste Einwand, dass die als positive Rechte verstandenen Menschenrechte mit zu starken Forderungen belastet sind und für diese zugleich keine korrespondierenden Pflichtenträger bestimmt sind. Entsprechend dürfte es kein Menschenrecht auf Nahrung geben, weil nicht alle Menschen einen universalen und egalitären Anspruch auf seinen Inhalt haben, sondern dieses Recht nur sinnvoll innerhalb von Gemeinschaften aufgehoben sein kann. Soziale Rechte als Anspruchsrechte zu kategorisieren, für die es in stärkerem Maße Pflichtenträger geben muss, als es bei Abwehrrechten der Fall ist, fällt mit der Auffassung zusammen, die (negative) Abwehrrechte als moralisch grundlegender ansieht und die (positiven) Anspruchsrechte als nachgeordnet. Dieser Lesart zufolge sind Rechte wie zum Beispiel das Recht auf Nahrung unter Umständen schwächer begründet als Menschenrechte der ersten Generation, die
280
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
als klassische Abwehrrechte gelten, wie etwa das Recht, nicht gefoltert zu werden. Die beschriebenen Anerkennungsdefizite, die im politischen Kampf zu Tage treten, scheinen genau dies häufig zu suggerieren. Außerdem bringt die Kritik eine weitere Herausforderung zum Vorschein, die für das Recht auf Nahrung besteht, nämlich die Frage danach, wie viel ein solches Recht eigentlich beinhalten kann und darf. Wird das Recht auf Nahrung genutzt, um inhaltlich zu weitgehende Ansprüche durchzusetzen? Während sich der Herausbildungsprozess dieses Rechts genau um diese Fragen dreht und auch nicht abgeschlossen ist, bleibt der Vorwurf der vermeintlichen Begründungsschwäche bestehen und soll im Folgenden entkräftet werden. Das Menschenrecht auf Nahrung lässt sich auf unterschiedliche Weise begründen. Dabei konkurrieren die Begründungen nicht miteinander um die alleinige Geltung, sondern ergänzen einander, indem sie spezifische Elemente der Verwirklichung des Menschenrechts in den Blick nehmen. Die Ansprüche lassen sich einerseits mit elementarem Schutz von Leib und Leben und anderseits als Ermächtigung zu einem freien Leben verstehen. Diese beiden Elemente bilden die Grundlage für ein Subsistenzrecht, welches nur als elementarer menschenrechtlicher Anspruch verstanden werden kann. Der Vorwurf der Begründungsschwäche kann mit der Zurückweisung der grundlegenden Unterscheidung von negativen und positiven Rechten durch Shues Konzept der Basic Rights entkräftet werden.376 Das Konzept der Basic Rights nimmt an, dass es grundlegende Rechte eines jeden Menschen gibt, die ihn vor anderen schützen. Shue geht von einem viel minimaleren Ansatz als dem Menschenrechtskatalog aus und erfasst mit seinen Grundrechten lediglich diejenigen Rechte eines jeden 376
Vgl. Shue, Basic rights.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
281
Menschen, die unabdingbar sind. 377 minimum reasonable demands u Sie sind nicht nur in dem Sinne grundlegend, dass ein jeder Mensch auf sie angewiesen ist, sondern auch insofern es sich um derart basale Rechte handelt, dass erst mit ihnen weitere Rechte sinnvoll genutzt werden können. Sie stellen somit eine Voraussetzung für alle weiteren Rechte dar. enjoyment of them is essential to the enjoyment of all other rights. This 378 Zu diesen grundlegenden Rechten gehören bei Shue die Sicherheitsrechte, die die Menschen vor Übergriffen durch andere schützen und die Subsistenzrechte, die das eigene Überleben sichern. Die Subsistenzrechte gewähren eine miminale Sicherheit, derer das menschliche (Übermal economic security, or subsistence, I mean unpolluted air, unpolluted water, adequate food, adequate clothing, adequate shelter, and 379 Hier findet sich das Recht auf Nahrung als Teil eines elementaren Subsistenzrechts wieder, das zu demjenigen engen Kreis an Rechten gehört, ohne die jegliche weitere Rechte wertlos werden. Um die Einwände, dass solche Anspruchsrechte zu fordernd seien, zu entkräften, analysiert Shue, inwiefern überhaupt sinnvoll die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Rechten gemacht werden kann. Kann eine solche Unterscheidung überhaupt trennscharf erfolgen und besitzt sie tatsächlich moralische Relevanz? Shues Analyse zeigt detailliert, dass die Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen von Rechten nicht haltbar ist. Denn keineswegs erfordern negative Rechte als Abwehrrechte nur Unterlassungen seitens der staatlichen Gewalt. Zwar beinhalten sie, dass der Staat 377 378 379
Ebd, S. 19. Ebd. Ebd., S. 23.
282
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
den Menschen Freiheitsrechte einzuräumen hat, aber er muss diese auch wirksam schützen. Dieser Schutz von Sicherheit erfordert in erheblichem Umfang Handlungen, die als Pflichten diesen Rechten zugeordnet sind. Der Schutz negativer Rechte, das heißt der Abwehrrechte, erfordert daher ebenso aktive Maßnahmen wie es im Falle der positiven Rechte, also der Anspruchsrechte, ist. Auf der anderen Seite gibt es viele Elemente der Subsistenzrechte, die durch Unterlassungen gesichert werden können. Es zeigt sich deutlich, dass die Unterscheidung von negativen und positiven Rechten gerade in Hinblick auf die Zumessung ihrer moralischen Signifikanz wenig überzeugend ist. In seinem Verständnis der Basic Rights verzichtet Shue auf eine derartige Unterscheidung. Allerdings hält Shue es für zentral, die zugehörigen Pflichten zu differenzieren und zu konkretisieren. a right is not the fulfilment of a right, any more than an airplane sched380 Mit der Formulierung eines Rechts ist moralisch noch nichts gewonnen, da zur Verwirklichung die Bestimmung der korrespondierenden Pflichten notwendig ist. Diese Bestimmung muss dann differenziert erfolgen. Shue zufolge ist es also durchaus wichtig, Unterscheidungen zu machen, doch diese beziehen sich nicht auf verschiedene Arten von Rechten. Stattdessen erachtet er es als sinnvoller, die mit den Rechten einhergehenden Pflichten differenziert zu beschreiben, denn es ist nicht so, dass einfach jedem Recht genau eine Pflicht entspricht. Ein bestimmtes Recht vollständig zu verwirklichen, bedeutet vielmehr, dass eine Vielzahl von Pflichten erfüllt wird. The useful distinctions are among duties, and there are no one-to-one pairings between kinds of duties and kinds of rights. The complete
380
Shue, Basic rights, S. 14.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
283
fulfilment of each kind of right involves the performance of multiple 381
Shue entwirft ein Konzept von Pflichten, welches demjenigen ähnelt, das sich heute in den ausformulierten Leitlinien zum Recht auf Nahrung wiederfindet. Er differenziert drei Typen von Pflichten, die alle erfüllt werden müssen, um ein grundlegendes Recht zu verwirklichen. Jedoch müssen diese verschiedenen Typen von Pflichten nicht von einzelnen Personen oder Institutionen erbracht werden. Shue unterscheidet diese drei Pflichttypen zur Verwirklichung grundlegender Rechte als Pflicht, Deprivation zu verhindern, als Pflicht, vor Deprivation zu schützen und als Pflicht, denjenigen zu helfen, die unter Deprivation leiden.382 Entsprechend der Subsistenzrechte spezifiziert sind diese Pflichtstufen:
I. subsistence
duties to avoid depriving.
II.
Duties to protect people against deprivation of the only available means of subsistence by other people duties to protect from deprivation.
III.
Duties to provide for the subsistence of those unable to pro383 vide for their own
Die Pflichten umfassen eine weite Spanne und machen deutlich, dass es sich nicht entweder um ein schwaches Recht, nicht zu verhungern oder ein starkes Recht auf kulturell angemessene Ernährung mit großen Ansprüchen an staatliche Unterstützung handelt, sondern dass das Recht nur den Kerngehalt definiert und die Pflichten entsprechend der 381 382 383
Ebd., S. 52. Vgl. Shue, Basic rights, S. 52 f. Ebd., S. 52 f.
284
8 Globaler Hunger und Menschenrechte gegen den Hunger
jeweiligen Notwendigkeit entstehen. Das Recht auf Nahrung ist damit im Kontext von Shues Grundrechten begründet. Der fundamentale Anspruch wird dabei auf einen positiven Freiheitsbegriff zurückgeführt, der die vermeintliche Nachrangigkeit der sogenannten Anspruchsrechte obsolet werden lässt. Die Plausibilität von Shues Ansatz wird im Falle des Menschenrechts auf Nahrung besonders deutlich. Es hat sich bereits gezeigt, dass hungernden Menschen nicht einfach dadurch geholfen werden kann, dass man sie mit genügend Essen versorgt. Stattdessen geht es darum, dass diese Menschen unter Bedingungen leben können, unter denen sie frei dazu sind, sich eigenständig zu ernähren und zu versorgen. Die positive Freiheit, die mit Shues Basic Rights verbunden ist, hat sich in dieser Untersuchung bereits als eine elementare Voraussetzung erwiesen, um angemessen auf die moralischen Herausforderungen der globalen Armut und des Welthungers reagieren zu können. Das fragile Menschenrecht auf Nahrung bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen einem der grundlegendsten Ansprüche überhaupt und der Befürchtung, die Verwirklichung der damit verbundenen Ansprüche durch moralische Überforderung bzw. Überfrachtung zu schwächen. Dies schlägt sich im Prozess der Ausgestaltung und im politischen Kampf um ebendieses Menschenrecht nieder. Die Herausforderung ist, den fundamentalen Anspruch auf ein Leben ohne Hunger derart zu gestalten, dass er sich mit den Forderungen nach Selbstbestimmung, Souveränität und Würde vereinbaren lässt, ohne die korrespondierenden moralischen Pflichten zu überfrachten. Diese Spannung bedeutet eine besondere Herausforderung für die philosophische Begründung moralischer Rechte und Pflichten, der ich mich bisher hauptsächlich gewidmet habe.
8.2 Menschenrechte gegen den Hunger: die Entwicklung des Rechts auf Nahrung
285
Wenn es um die Verantwortung und die Pflichten geht, die mit begründeten moralischen Ansprüchen einhergehen, ist es jedoch ebenfalls wichtig zu überlegen, wie Verstöße gegen diese Pflichten beschrieben werden können. Mit dieser Frage beschäftige ich mich nun im letzten Schritt meiner Untersuchung. Das Menschenrecht auf Nahrung ist also ein zentrales Instrument für den Kampf gegen den globalen Hunger. Wo nicht-substituierbare Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden können und daraus menschenunwürdige Lebensbedingungen entstehen, sind diese Deprivationen als Anstoß für eine nähere Bestimmung des menschenrechtlichen Anspruchs zu verstehen. Die Konkretisierungen des spezifischen Rechts stellen dabei keine institutionelle Überfrachtung dar, sondern können dazu beitragen die Institutionen weiterzuentwickeln. Auf diese Weise kann versucht werden die Bedingungen der Möglichkeiten zu schaffen in dessen Rahmen die politischen und ökonomischen Systeme ein Leben ohne Hunger tatsächlich verwirklicht werden kann.
9
Verletzungen der menschlichen Würde durch Hunger kann die Vernichtung seinesgleichen durch den Hunger dulden, ohne 384
In diesem Abschnitt sollen die Ergebnisse aus den bisherigen Kapiteln zu einer Synthese zusammengefasst und eine abschließende Einschätzung zur Verletzung der menschlichen Würde durch Hunger vorgenommen werden. Dazu wird der Versuch unternommen, eine Kategorisierung der beschriebenen Entwürdigungserfahrungen als moralische Übel vorzunehmen. Neben dem missachteten, marginalisierten normativen Minimalanspruch wird das in dieser Arbeit entwickelte weiterreichende Verständnis von menschlicher Würde vorausgesetzt, um zu einer Interpretation der Würde zu kommen, die die innewohnende Gleichheit des moralischen Status aller Menschen näher bestimmt. Abschließend werde ich die weitreichenden Thesen der globalen Apartheid bzw. eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Bezug auf ihr moralisches Urteil prüfen. Damit komme ich zu einer Einschätzung, wie die moralische Herausforderung des Problems des Welthungers angemessen kategorisiert werden kann. Wie die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, wird der Minimalanspruch, dass jeder Mensch in Würde leben kann, nicht gewährt. Ein Leben in schwerer Armut und mit Hunger ist mit entwürdigenden Entbehrungen verbunden, die durch fehlende Freiheit, unterminierte Gleichheit und missachtete körperliche Grundbedürfnisse entstehen. Der Schutz der Subsistenzrechte ist für arme Menschen nicht verwirk-
384
Ziegler, Wir lassen sie verhungern, S. 103 f.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_9
288
9 Verletzungen der menschlichen Würde durch Hunger
licht. Durch die Situation der Armut und des Hungers tritt die menschliche Verletzlichkeit besonders zutage, unter anderem weil Menschen entwürdigende Dinge tun müssen, um zu überleben. Das bedeutet, dass man sich selbst in dieser Situation vor Entwürdigung nicht schützen kann, wenn man überleben will. Hunger- und armutsbedingte Todesfälle zeigen das Versagen des wirtschaftlichen Miteinanders in moralischer Hinsicht, da weder Hunger noch Armut notwendig oder unvermeidbar sind. Derzeit ist der menschenrechtliche Anspruch auf ein Leben ohne Hunger für über 800 Millionen Menschen nicht eingelöst. Das bedeutet, selbst wenn man den moralischen Anspruch der Menschen unabhängig von der Frage nach einem würdigen Leben lediglich als ein elementares Subsistenzrecht versteht, dass diesen Menschen das Recht und die Möglichkeiten verwehrt werden, sich Zugang zu Nahrung zu verschaffen, die ihr Überleben sichert. Die selbstgesetzten Minimalansprüche einer universalistischen Moral, auf der auch minimale Gerechtigkeitsstandards gründen, werden dementsprechend auf globaler Ebene nicht erreicht. Insofern steht in Frage, ob die gegenwärtige institutionelle globale Ordnung gemäß ihrer eigenen Ansprüche legitim ist. Die Ansprüche einer minimal anständigen Weltgemeinschaft kann sie nicht erfüllen. Mit der Aufrechterhaltung dieser globalen Ordnung tragen insbesondere diejenigen zu den Verletzungen menschlicher Würde bei, die nicht auf eine Veränderung hinsichtlich eines Schutzes aller Menschen vor ebendiesen Entwürdigungen hinwirken.
9.1 Würde als gleicher und nobler Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben
289
9.1 Würde als gleicher und nobler Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben Prozentsatz der Menschheit durch die Jahrhunderte
385
Neben der grundlegenden Anerkennung der Verantwortung für die Beseitigung von würdeverletzenden Lebensbedingungen zeigt sich, dass die Achtung der Würde nicht nur in der Abwesenheit von systematischen würdeverletzenden Handlungen liegt. Die menschliche Würde ist ein grundlegender normativer Wert, der allen Menschen gleichermaßen zugeschrieben wird, und darin steckt die Forderung nach einem universaler Konsens darüber, was für ein menschliches Leben von essentieller Bedeutung ist. Dies erschöpft sich nicht im reinen Überleben, sondern dazu gehört, dass Menschen ein würdiges Leben führen können. Demnach bedarf es für ein menschenwürdiges Leben mehr als der reinen Sicherung von ausreichender Kalorienzufuhr. Würde ist nach einem solchen Verständnis nicht nur mit dem Konzept der Egalität verbunden, sondern darüber hinaus auch mit dem der Nobilität, wie es u.a. Stoecker386 und Waldron387 vorschlagen. Diese Idee versteht die menschliche Würde als eine Art universalisierten menschlichen Adel.388
385 386
387
388
Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, S. 26. Vgl. Stoecker, Ralf, Die Pflicht, dem Menschen seine Würde zu erhalten, in Zeitschrift für Menschenrechte, Nr. 1 (2010), S.98 116; Neuhäuser/ Stoecker, Human dignity as universal nobility, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 298 309. Vgl. Waldron/Dan-Cohen, Dignity, rank, and rights; Vlastos, Gregory, Justice and Equality, in Brandt, Richard (Hg.), Social Justice, Englewood Cliffs, N.J.: 1962, S. 21 72. Vgl. Stoecker, Die Pflicht, dem Menschen seine Würde zu erhalten, S. 109; Neuhäuser/ Stoecker, Human dignity as universal nobility, in Düwell, The Cambridge Handbook of Human Dignity, S. 307 f.; Waldron/Dan-Cohen, Dignity, rank, and rights, S. 34 f.
290
9 Verletzungen der menschlichen Würde durch Hunger
Würde, so der Gedanke, kommt allen gleichermaßen zu und als Menschen tragen wir eine besondere Würde, die mit einem besonders hohen moralischen Status verbunden ist. Dazu gehört, nicht elend, unter äußeren Zwängen oder als Sklave äußerer Rahmenbedingungen zu leben. Der Anspruch eines menschenwürdigen Lebens umfasst die Freiheit von Not und Grausamkeiten sowie nicht der Möglichkeit beraubt zu werden, ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen. Insofern gehen mit der menschlichen Würde bestimmte Privilegien einher, die wir uns qua Gattungszugehörigkeit zuschreiben. Menschen, die in Armut und Hunger leben, werden in ihrem moralischen Status nicht geachtet und erfahren dadurch eine Verletzung ihrer Würde. Aus der Negation der Würde erfahren wir, dass die Lebensbedingungen, in denen arme Menschen leben müssen, nicht den moralischen Minimalansprüchen gerecht werden. Damit geschieht ein nicht legitimer Ausschluss, von dem Menschen qua Geburt kontigenterweise betroffen sind und aufgrund dessen sie nicht die Möglichkeit haben, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Die Rede von einem menschenwürdigen Leben gewinnt durch die Idee der allen Menschen zukommenden Nobilität eine besondere Bedeutung, insofern eben auch elende und notgeplagte Lebensumstände damit nicht vereinbar sind. Der moralische Anspruch auf ein würdiges Leben geht über die reine Forderung nach Egalität hinaus. Das heißt, Menschen sollen nicht nur den gleichen moralischen Status haben, sondern auch in einer bestimmten Weise leben können. Menschliche Würde zu achten, bedeutet in dieser Interpretation, Menschen als etwas besonders Wertvolles anzuerkennen, denn nur ihnen kommt dieser besondere Status zu. Das bedeutet, wenn Menschen unter würdigen Bedingungen leben sollen und diese Bedingungen nicht gegeben sind, ist es aus ethischer Sicht nicht hinreichend, wenn die Verantwortlichen nicht aktiv an der Verletzung der menschlichen Würde beteiligt sind. Es reicht also nicht, der Pflicht nachzukommen,
9.1 Würde als gleicher und nobler Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben
291
anderen keinen Schaden zuzufügen. Vielmehr geht die Verantwortung gegenüber Menschen mit positiven Pflichten einher, die es erfordern, die menschliche Würde aktiv zu schützen und allen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, bedarf es einer Antwort auf die Frage, auf welche Weise ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird bzw. die Zerstörung menschenwürdiger Lebensbedingungen verhindert werden kann. Wenn wir den Anspruch auf Würde als moralisch grundlegend verstehen wollen, müssen aus der Beschreibung der Entwürdigung Konsequenzen für moralische Pflichten und Rechte folgen. Um den Anspruch der Würde zu achten, muss die Gestaltung der Strukturen dahingehend modifiziert werden, dass es nicht mehr zu solchen Verletzungen der Würde kommt. Die Würde der Betroffenen muss solange geschützt werden, wie unsere gesellschaftlichen Ordnungen es ihnen nicht ermöglichen, ein Leben in Würde zu führen. Verletzungen der Würde können nicht nivelliert werden, sollten aber durch größtmöglichen Schutz der Gefährdeten möglichst verhindert werden. Die Anschlussfragen an die These der Würdeverletzung sind die nach den grundlegenden moralischen Pflichten, die in Bezug auf die Achtung der Würde erfolgen müssen. Mit der Achtung der menschlichen Würde geht die Pflicht einher, die institutionelle Grundordnung derart zu gestalten, dass in den zwischenmenschlichen Interaktionen keine entwürdigenden Situationen geschehen. Es besteht die Pflicht eines jeden Menschen, die menschliche Würde seiner Mitmenschen zu wahren. Das bedeutet zum einen, seine Würde nicht zu bedrohen oder zu verletzen, zum anderen umfasst es auch den Schutz vor entwürdigenden Zuständen und Situationen, in die ein Mensch geraten kann.389 Diese Pflicht ist nicht nur eine positive Hilfspflicht, wie etwa die Hilfe 389
Vgl. Stoecker, Die Pflicht, dem Menschen seine Würde zu erhalten, S. 112.
292
9 Verletzungen der menschlichen Würde durch Hunger
in Not, die u.a. im dritten Kapitel diskutiert worden ist, sondern stellt eine grundlegende Pflicht dar, die menschliche Würde aller Menschen zu achten. Wenn Menschen unter derart schlechten Bedingungen leben, dass ihre Würde dadurch verletzt wird, ist es meiner Argumentation zufolge moralisch nicht hinreichend, diese Menschen nicht zusätzlich zu schädigen oder ihnen unter speziellen Bedingungen das Leben zu retten. Es besteht darüber hinaus eine mit dem Worumwillen der Menschenrechte, der menschlichen Würde, korrespondierende Verpflichtung aller Menschen, in ihren Handlungen und Interaktionen die Würde anderer nicht zu beschädigen und an der Verwirklichung von Institutionen mitzuwirken, die Entwürdigen nicht als kollaterale Schäden hervorbringen. 9.2 Die Einordnung des Welthungers Abschließend wird noch einmal die Frage aufgegriffen, welcher Art das moralische Übel der globalen Armut und des Hungers ist und welche Bedeutung dieses moralische Urteil für unser Handeln haben muss. Die Betrachtung der unterschiedlichen Entwürdigungsebenen hat gezeigt, dass verschiedene Gefahren für die Würde derjenigen Menschen drohen, die von Armut betroffen sind. Hier gilt es nun noch einmal, den fundamentalen Charakter dieses Urteils zu überprüfen und eine Einordnung in Hinblick auf die ethische Verantwortung vorzunehmen. Dazu werde ich die Bezeichnung von globaler Armut als Verbrechen gegen die Menschheit und den Vorwurf der globalen Apartheid in Bezug auf das Problem des Welthungers hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft prüfen. 390
390
Vgl. Blunt, Gwilym D., Is global poverty a crime against humanity?, in International Theory 7, Nr. 03 (2015), S. 539 571; Pogge, Weltarmut und Menschenrechte, S. 39.
9.2 Die Einordnung des Welthungers
293
Armut ist, wie wir gesehen haben, heute ein ethisches Problem, weil sie nicht auf Knappheit und allgemeinen Mangel zurückgeführt werden kann. Die Debatte um Armut und Hunger konzentriert sich weitestgehend einseitig auf Fragen der Gerechtigkeit, die die moralische Dimension der Würdeverletzungen außer Acht lassen. Für die Betrachtung der Armut ist die menschliche Würde als ethisch grundlegende Kategorie zu verstehen, die jedem Menschen den unbedingten Anspruch auf ein Leben in Würde zuschreibt. Diese Würde ist nicht unverletzbar, sondern eben deswegen ein so hohes Gut, weil sie so fundamental missachtet werden kann. Ein Leben in Armut verletzt in vielerlei Hinsicht die Würde der Betroffenen, insofern diese nicht mehr für sich selbst sorgen können, aus der Gemeinschaft gleicher Menschen ausgeschlossen werden und in entwürdigende Abhängigkeitsverhältnisse geraten. Aus den Beschreibungen dieser Phänomene als Würdeverletzung folgt, dass wir verpflichtet sind, diese Würdeverletzungen zu verhindern oder abzustellen. Dementsprechend muss bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Menschenrechts auf Nahrung bzw. gegen den Hunger die Dimension der Entwürdigung Berücksichtigung finden. Von einigen Vertretern wird die These proklamiert, dass es sich bei Weltarmut und Welthunger um massive Verbrechen gegenüber den betroffenen Menschen handelt. Wer die globale Armut nicht nur akzeptiert, sondern auch von ihr profitiert, begeht ein Verbrechen und macht sich schuldig. Dieser Vorwurf lehnt sich an den völkerrechtlichen Straftatbestand an, der in Reaktion auf die Verbrechen des NS-Regimes in Deutschland nach 1945 geschaffen wurde, um die Massenvernichtung der europäischen Juden zu erfassen: die Klassifizierung als Verbrechen
294
9 Verletzungen der menschlichen Würde durch Hunger
gegen die Menschlichkeit. Blunt stellt einen Vergleich an zu den im internationalen Recht anerkannten Verbrechen gegen die Menschheit391, wie beispielsweise Sklaverei und Apartheid und zeigt hinreichende Parallelen auf, die es rechtfertigen, auch globale Armut als ein solches Verbrechen zu kategorisieren. Demnach leben die Armen unter Zwang, weil sie keine realistische Alternative zu einem Leben in sklavenähnlichen Verhältnissen und Beziehungen haben. Blunt folgt dabei weitestgehend Pogges Argumentation, die die Ursachen von globaler Armut im internationalen System ausmacht. Blunt gesteht schließlich zwar zu, dass von einem wissentlichen Begehen des Verbrechens im Fall von Armut nicht ausgegangen werden kann und unterscheidet es damit von anderen Verbrechen gegen die Menschheit, aber er schließt die globale Armut trotzdem nicht aus dieser Kategorie aus.392 Für die Kategorisierung der Armut als Verbrechen gegen die Menschheit spricht, ebenso wie für die Beschreibung als Würdeverletzung, dass damit die Schwere des moralischen Übels in einer Weise aufgezeigt werden kann, wie es die Charakterisierung als Ungerechtigkeit nicht f moral urgency vermag393 394 Mit dieser Einordnung lässt sich die besondere Schwere und Fundamentalität der Negation von menschlicher Würde aufzeigen. Die Kategorisierung des Welthungers und der globalen Armut als Verbrechen gegen die Menschheit gibt dem Problem eine größere Dringlichkeit. Der Unterscheid zu einer systematischen Massenvernichtung 391
392 393 394
Siehe Fußnote 132; Vgl. Segesser, Daniel M., Die historischen Wurzeln des Begriffs "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", in Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 2007/8, S. 75 101. Vgl. Blunt, Is global poverty a crime against humanity?, S. 20. Vgl. ebd., S. 28. Ebd., S. 28.
9.2 Die Einordnung des Welthungers
295
einer Gruppe von Menschen bleibt aber bestehen, da im Falle des Welthungers nicht von Vorsätzlichkeit gesprochen werden kann. Die Verbindung mit dieser Einordnung zeigt zweierlei: Wir haben es mit einem moralischen Problem der millionenfachen Entwürdigung zu tun und zudem verlieren jedes Jahr Millionen Menschen aufgrund der Armut ihr Leben. Die Verantwortung für die Rahmenbedingungen, die die Bedingung der Möglichkeit eines würdigen Lebens sind, muss getragen werden, wenn der gerechtfertigte Anspruch auf Achtung der Würde aller Menschen erfüllt sein soll. Wenn wir die menschliche Würde für schützenswert halten, muss uns die Situation der Weltarmut und des Welthungers zum Handeln motivieren. Die tatsächliche mangelnde Verantwortungsübernahme wird von Brunkhorst395 und Pogge als Ausdruck globaler Apartheid beschrieben und meint den Ausschluss bestimmter sozialer Gruppen aus der globalen Gemeinschaft, in diesem Fall die der armen Menschen. Pogge verweist im Zusammenhang mit einem Gedankenexperiment zur Apartheidpolitik auf das moralische Schlupfloch hin, das in der Aberkennung von moralischen Minimalstandards besteht. Zwar handelt es sich bei der Inkaufnahme der Armut nicht um positivierte Normen, die eine Segregation und den Ausschluss einer Gruppe von Menschen vorschreiben, von einer de jure gültigen Segregation kann also nicht gesprochen werden. Allerdings haben viele Regeln des kapitalistischen Marktes ähnliche Auswirkungen auf die Betroffenen. Wie deutlich wurde, sind die Bewegungs-, Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten armer Menschen massiv eingeschränkt, so dass sie auf ähnliche Weise exkludierend wirken. Jedoch mahnt der Vergleich zwischen einer de jure gültigen Segregation und dem Ausschluss durch Hunger und Armut den Missstand an, dass die
395
Vgl. Brunkhorst, Hauke, Solidarität: Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt am Main: 2002, S. 18.
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9 Verletzungen der menschlichen Würde durch Hunger
ökonomische Marginalisierung in der Regel mit einer politischen Marginalisierung einher geht und die Interessen der großen Gruppe der sehr armen Menschen auf globaler Ebene kaum vertreten werden. Wie bereits im sechsten Kapitel dargelegt wurde, tragen Ignoranz und Irrelevanz ihrerseits zur Entwürdigung der betroffenen Menschen bei. Wie ich gezeigt habe, manifestiert sich der Ausschluss aus der moralischen Menschengemeinschaft in asymmetrischen Beziehungen, die mit moralisch nicht vertretbaren Abhängigkeitsverhältnissen einhergehen und damit auf der Ebene der zwischenmenschlichen Interaktion. Auf diese Weise erfahren die hungernden Menschen, dass ihr Leid, trotz des formulierten gleichwertigen moralischen Status, für das Handeln der anderen Menschen irrelevant ist. Auf der Ebene der konkreten Handlungen zeigt sich dementsprechend der Ausschluss aus der Gruppe derjenigen, die aufgrund ihres moralischen Status Anspruch auf eine bestimmte Behandlung haben. Der Vorwurf der globalen Apartheid trifft auf dieser Ebene also zu. Die Dissonanz zwischen dem formulierten normativen Anspruch und der faktischen globalen Situation ebenso wie die Marginalisierung des Problems zeigen, dass gegenüber der globalen Hungersituation seitens der Verantwortlichen eine Haltung der Apathie herrscht. Der Welthunger ist als strukturelles, chronisches und vermeidbares Phänomen ein Verbrechen gegen die Menschheit. Das Urteil über den Umgang mit der ethischen Herausforderung des Welthungers und der Weltarmut kann angesichts des entwürdigenden Ausschlusses aus der Gemeinschaft der Menschen und der Ignoranz des menschlichen Leids nur negativ ausfallen. Im Sinne eines Ausschlusses von armen Menschen von würdigen Lebensbedingungen verstoßen die ökonomischen Regeln unserer Weltgemeinschaft gegen den normativen Anspruch auf ein Leben in Würde für alle Menschen. Die Würde von Menschen wird massiv verletzt und gleichzeitig wird diese Grausamkeit nicht hinreichend beachtet. Dieser
9.2 Die Einordnung des Welthungers
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Ausdruck mangelnder Solidarität stellt ein Versagen der globalen Gemeinschaft aller Menschen dar, die der ethischen Forderung, minimal anständig zu sein, damit nicht gerecht wird. Hinreichend anerkannt, muss die mit dem Welthunger und der Armut einhergehende Negation der menschlichen Würde dazu führen, die armutsbedingten Grausamkeiten zu verhindern.
10 Schluss Der Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage, ob extreme Armut und globaler Hunger eine Verletzung der menschlichen Würde darstellen. Die Zusammenführung der menschlichen Würde als normativen Begriff und Armut und Hunger als moralische Herausforderungen zeigte, wie gewinnbringend diese Perspektive ist: Die menschliche Würde wird durch ein Leben in Armut und Hunger bedroht und verletzt. Mit dem Begriff der menschlichen Würde können wir das moralische Problem von extremer Armut und Hunger umfassender beschreiben. Die Ausgangsfrage ergab sich aus der Intuition über die menschenunwürdigen Zustände, denen Menschen in extremer Armut und unter Hunger ausgesetzt sind: Lässt sich das Problem der extremen Armut und des Hungers als Verletzung menschlicher Würde verstehen? Dafür mussten zwei Bereiche abgeglichen werden: die reale Situation armer und hungernder Menschen mit dem Anspruch, dass jeder Mensch ein Recht auf ein Leben in Würde hat. Für die Untersuchung, ob Armut eine Würdeverletzung darstellt, wurde die normative Dimension des Problems im ersten Teil herausgearbeitet und der Begriff der menschlichen Würde problematisiert. Von diesem Ausgangspunkt aus konnte ich dann die Verletzung der menschlichen Würde im Kontext von extremer Armut und Hunger näher betrachten. Dabei ergab sich in Bezug auf die Ausgangsfrage zweierlei: zum einen, was es bedeutet in extremer Armut zu leben und welche Konsequenzen es für das Zusammenleben mit anderen Menschen hat und zum anderen, warum es gerechtfertigt ist, ein Leben unter solchen Bedingungen als Verletzung der menschlichen Würde einzuordnen.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Müller, Globaler Hunger als Verletzung der menschlichen Würde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62575-0_10
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10 Schluss
Die Würde als relevante normative Grundlage in das Themenfeld von globaler Armut und Hunger einzubeziehen, ermöglichte es, die Fundamentalität des moralischen Versagens festzustellen. Dabei ging es darum, die Bedingungen einer minimal anständigen Welt zu erfassen. In der Analyse im zweiten Teil hat sich gezeigt, dass die These der besonderen Bedrohung der menschlichen Würde durch extreme Armut und Hunger untermauert werden kann. Das normative Gebot der Achtung der menschlichen Würde wird für die Gruppe der betroffenen Menschen missachtet. In einer Gemeinschaft von Menschen zu leben, bedeutet, die Lebensbedingungen zu gestalten und zu verändern mit dem Ziel für jeden Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Durch die Entstehung von dauerhafter, struktureller Armut, wird die Möglichkeit eines würdigen Lebens der betroffenen Menschen jedoch zerstört. Aus dieser Negation entsteht die moralische Forderung, dass der Anspruch auf Achtung der menschlichen Würde ernst genommen und konsequent verurteilt wird. Die Würdeverletzungen durch schwere Armut werden anhand grundlegender Freiheitsverluste, zerstörter Gleichheit und dem damit einhergehenden Ausschluss aus der Menschengemeinschaft sowie im dritten Teil für den Hunger durch die verweigerten würdigen Lebensbedingungen, auf die jeder Mensch als soziales und bedürftiges Wesen angewiesen ist, expliziert. Es zeigte sich, dass die Würde auf verschiedene Weise bedroht werden kann und die unterschiedlichen Bedrohungen sich akkumulieren können. Sie bestehen in massiven Bedrohungen oder gar dem Verlust der Selbstachtung (Negation der Freiheit), in dem Ausschluss aus der moralischen Gemeinschaft (Negation menschlicher Sozialität und moralischer Egalität). Am Beispiel des Welthungers zeigt sich außerdem, dass die Würde verletzt wird, wenn die Bedürftigkeit der betroffenen Menschen vernachlässigt wird (Negation menschlicher Bedürftigkeit). Anhand dieser
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drei Negationen konnte gezeigt werden, dass der fundamentale Vorwurf der Würdeverletzung begründet ist, und auch die spezifischen Implikationen des Problems können differenzierter aufgezeigt werden. Die Schwierigkeit, dass es bei Armut und Hunger nicht um intendierte Demütigungen, sondern um negative Nebeneffekte unseres Handelns geht, bleibt allerdings bestehen. Die Entwürdigungen sind jedoch in die gestaltbaren Rahmenbedingungen unserer menschlichen Interaktion eingewoben, so dass sie nicht als unglückliches Los hingenommen werden müssen. Im zweiten Teil wurde zunächst die eingeschränkte Freiheit von Menschen, die in extremer Armut leben, diskutiert. Die Armut führt zu entwürdigender Abhängigkeit, die menschliche Würde bedroht. Die Freiheiten von Menschen, die in extremer Armut leben und Hunger leiden, sind massiv eingeschränkt. Die betroffenen Menschen müssen sich in Zwänge und Abhängigkeiten begeben. Auch wenn den betroffenen Menschen theoretisch ihr Akteursstatus nicht abgesprochen werden kann, sind sie faktisch in ihren Handlungen, Entscheidungen und Bewegungen so stark eingeschränkt, dass sie ihre menschliche Freiheit nicht verwirklichen können. Die Freiheitseinschränkungen betreffen fehlende Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten im ökonomischen und sozialen Handeln, die so weit gehen können, dass keine Chance auf die Verwirklichung eines Lebensplans besteht. Die bedrohte biologische Existenz führt dazu, dass wesentliche Handlungsfreiheiten verschwinden. Die entstehenden Abhängigkeiten stellen eine Gefahr für die Selbstachtung der Betroffenen dar, weil in der Interaktion die Menschen degradiert werden. Die Armut zeigt sich nicht nur als Mangel an Gütern, sondern als ein Mangel an Handlungsmöglichkeiten und manifestiert sich in Situationen entwürdigender Abhängigkeiten. Die Menschen verlieren die Möglichkeit, ihr Leben zu kontrollieren und eigene Entscheidungen in relevanter Hinsicht zu treffen. Dieser Verlust
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der Kontrollfähigkeit trägt dazu bei, dass die Selbstachtung beschädigt wird. Von extremer Armut betroffene Menschen sind in der paradoxen Situation, dass sie formal die gleiche Freiheit besitzen wie alle anderen Menschen, aber in der sozialen Praxis keine Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten übrig bleiben. Dieser Widerspruch zwischen dem Postulat der Freiheit und ihrer faktischen Negation birgt die Gefahr, die Verletzungen der Würde nicht hinreichend ernst zu nehmen. Wenn behauptet wird, arme Menschen hätten die Freiheit, sich entwürdigenden Situationen oder entwürdigenden Behandlungen durch andere Menschen zu entziehen, werden zum einen die nicht substituierbaren Grundbedürfnisse menschlichen Überlebens vernachlässigt und außerdem menschliche Freiheit auf die Abwesenheit von Einschränkungen durch andere Menschen reduziert. Es konnte dargelegt werden, dass die durch Armut entstehenden Abhängigkeiten eine Gefahr für die menschliche Würde darstellen und akkumulierte Unfreiheiten dazu führen, dass die betroffenen Menschen in ihrer Selbstachtung verletzt werden. Im sechsten Kapitel wurde untersucht, wie Armut die Gleichheit der betroffenen Menschen unterminiert. Armut als Ausdruck von Ungleichheit führt auch zu demütigender Ungleichheit, die das Postulat des gleichen egalitären moralischen Status untergräbt. Arme Menschen drohen durch die Armut zu einer Gruppe von Menschen zu werden, die nicht mehr als Gleiche geachtet werden. Dies zeigt sich daran, dass armutsbedingte Ungleichheit zu einer Hierarchisierung führt, die die horizontale Achtung erschwert. Die durch Armut entstehenden Asymmetrien sind deswegen relevant, weil die Menschen in menschlichen Interaktionen benachteiligt oder gar von ihnen ausgeschlossen werden. Eine gleichberechtige Teilhabe ist für arme und hungernde Menschen nicht möglich. Die Armut führt zu Deprivationen und zu einer Margi-
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nalisierung für die Betroffenen, in der diese ihr Elend und Leid als irrelevant erfahren. Der Ausschluss der Menschen aus der Menschengemeinschaft besteht in der Ignoranz und Irrelevanz ihres Leids. Denn der Feststellung von menschenunwürdigen Lebensbedingungen folgen keine Handlungen der Menschengemeinschaft, die an dem Problem etwas ändern. Die entwürdigende Erfahrung besteht also darin, dass einerseits zwar anerkannt wird, dass kein Mensch so leben sollte, aber anderseits ihr Leid billigend in Kauf genommen wird. Insofern werden die armen Menschen aus der Gruppe der moralisch zu berücksichtigenden Personen ausgeschlossen. Sie werden ignoriert und zu Objekten degradiert. In der Ignoranz gegenüber dem moralischen Problem, ob es sich nun um ein Verbrechen handelt oder um eine systemisch verursachte chronische Notsituation für viele Millionen Menschen, liegt das Vergehen, die Opfer moralisch nicht zu berücksichtigen und ihr Leid zu negieren. Die falsche Handlung liegt hierbei nicht in der Beteiligung an unmoralischen Handlungen, sondern darin, dass durch die Ignoranz eine Situation aufrechterhalten wird, die grundlegende moralische Ansprüche verletzt. In dieser Ignoranz liegt eine Menschenblindheit, die so tut, als ob es sich bei den Betroffenen nicht um moralisch relevante Menschen handelt. Die räumliche Distanz erleichtert es, die Menschen nicht als gleichberechtigte Akteure wahrzunehmen. Die betroffenen Menschen sind berechtigt, sich in ihrer Achtung verletzt zu sehen, denn in der Ignoranz und der darin zum Ausdruck gebrachten Gleichgültigkeit wird deutlich, dass ihr Leid keine Bedeutung hat. Mit der Konkretisierung im dritten Teil der Arbeit wurde die existenzielle Bedrohung verdeutlicht. Im siebten Kapitel habe ich dargelegt, wie Hunger die Menschen bedroht, weil ihre körperlichen Grundbedürfnisse nicht berücksichtigt werden. Der Hunger führt zum frühzeitigen Tod der Menschen. Die Menschen sind als moralische Subjekte in ihrer individuellen Existenz bedroht. Die körperliche Deprivation, die durch
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Hunger verursacht wird, ist entwürdigend. Hunger führt notwendigerweise zu körperlichem Verfall, zu Krankheit, Invalidität oder zu frühzeitigem Tod. Diese durch äußeren Zwang entstehenden Deprivationen sind äußere Merkmale der menschlichen Entwürdigung und zeigen den Betroffenen die Nachordnung ihres körperlichen und leiblichen Wohls sowie ihrer biologischen Existenz. Die Negation physischer Bedürfnisse in der Lebenswelt der Hungernden hat demütigende Auswirkungen auf die Menschen als Subjekte menschlicher Würde. Das Versagen liegt darin keine globale Ordnung zu schaffen, die jedem Menschen ein würdiges Leben ermöglicht. Die bestehenden Institutionen erkennen die materielle Bedürftigkeit und damit einhergehende körperliche Deprivation der armen Menschen nicht an. Die defizitäre Berücksichtigung und der fehlende Schutz von hungernden Menschen führen dazu, dass sie in konkreten menschlichen Beziehungen behandelt werden, als ob sie keine Menschen wären. Die Institutionen des Marktes berücksichtigen die zum Überleben entscheidenden materiellen Minimalbedürfnisse von Menschen nicht. Im Fall des Hungers liegt daher ein schweres institutionelles Versagen vor, welches zu verletzter Menschenwürde führt. Weil extreme Armut und Hunger nicht naturgegebene Notwendigkeiten darstellen, sondern Produkte menschlichen Handelns sind, stellt die Vermeidbarkeit dieser moralisch problematischen Lebensbedingungen den Ausgangspunkt für die Legitimität von Institutionen, Strukturen und Rahmenbedingungen dar. Alle Institutionen und Strukturen, die Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen haben, müssen hinsichtlich ihres Bedrohungspotenzials für die menschliche Würde untersucht und legitimiert werden. Insofern sind die Probleme der Armut und des Hungers keine technischen Fragen, welche lediglich die Machbarkeiten klären müssen, sondern Fragen, wie Verantwortung im Sinne des normativen Wertes Menschenwürde übernommen werden kann.
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Die Verletzungen der menschlichen Würde müssen auch als massive Menschenrechtsverletzung eingeordnet werden. Mit dem Blick auf ein Menschenrecht gegen den Hunger im achten Kapitel konnte gezeigt werden, dass sich Würdeverletzungen auf das Verständnis von Menschenrechten auswirken. Die formulierten Menschenrechte müssen als Instrumente verstanden werden, um die moralischen Rechte der marginalisierten und deprivierten Menschen zu deklarieren. Diese Rechte müssen als Werkzeug verstanden werden, um allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Wenn der Anspruch auf Würde als moralisch grundlegend verstanden wird, müssen aus dieser Beschreibung der Entwürdigung Konsequenzen folgen. Verletzungen der Würde sollten durch größtmöglichen Schutz der Gefährdeten möglichst verhindert werden. Neben der grundlegenden Anerkennung der Verantwortung für die Beseitigung von würdeverletzenden Lebensbedingungen zeigt die Analyse auch, dass die Achtung der Würde nicht nur in der Abwesenheit von systematisch würdeverletzenden Handlungen liegt. Die Menschenwürde ist derjenige grundlegende normative Wert, der allen Menschen gleichermaßen zugeschrieben wird, und darin steckt ein universaler Konsens darüber, was für ein menschliches Leben von essentieller Bedeutung ist. Darin steckt nicht nur der Anspruch auf ein reines Überleben, sondern auf ein Leben, welches Entwürdigendes ausschließt. Damit geht mit der Egalität der Würde auch eine Nobilität einher, wie im letzten Kapitel ausgeführt wurde. Die Würde kommt allen gleichermaßen zu, aber als Menschen tragen wir eine besondere Würde, die den moralischen Status auszeichnet. Dazu gehört auch, nicht elend zu leben oder unter äußeren Zwängen oder als Sklave äußerer Rahmenbedingungen. Insofern gehen mit der menschlichen Würde zugeschriebene Privilegien einher, die wir qua Gattungszugehörigkeit zuschreiben. Die
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Negation der Würde verdeutlicht, dass die Lebensbedingungen, die allen Menschen zustehen, in der Armut verweigert werden. Diese Verweigerung stellt einen nicht legitimen Ausschluss dar, der kontigenterweise qua Geburt über die Möglichkeiten entscheidet ein menschenwürdiges Leben leben zu können. Als Ergebnis wurde im letzten Kapitel darlegt, dass chronischer Hunger als Phänomen, welches durch strukturelle Armut entsteht, eine Verletzung menschlicher Würde ist. Die Ignoranz des Phänomens stellt einen faktischen Ausschluss der betroffenen Menschen aus der globalen Menschengemeinschaft dar. Damit wird gegen den normativen Anspruch, die Würde eines jeden Menschen zu achten und zu schützen, verstoßen. Um an der normativen Grundlage eines universalistischen Moralverständnisses, der Menschenwürde, festzuhalten, müssen diese armutsbedingten Verletzungen der menschlichen Würde beseitigt werden. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war der Impuls verstehen zu wollen, warum in einer global vernetzten Welt, in der es keine echte Ressourcenknappheit hinsichtlich basaler Grundgüter gibt, trotzdem so viele Menschen immer noch an Hunger sterben müssen. Dies steht im Widerspruch zum universalen Anspruch, dass alle Menschen den gleichen Anspruch auf Würde haben. Dieser Zustand, der aus menschlichen Handlungen, politischen und ökonomischen Entscheidungen erwächst, ist keineswegs unser Schicksal, sondern es bedarf einer globalen Verantwortungsübernahme, um die Dissonanz zwischen unseren moralischen Ansprüchen und unseren Handlungsweisen in der Welt zu überwinden.
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