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German Pages 316 Year 2014
Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien
Für Ingrid und Sepp, Edith und Heinz.
Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.)
Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort der Herausgeber | 7 Möbel als Medien: Prothesen, Passformen, Menschenbildner Zur theoretischen Relevanz Alter Medien Walter Seitter | 19 Thronen als Denken und Meditieren Die Medialität von Thron und Stuhl Hajo Eickhoff | 33 Können Möbel Medien sein? Überlegungen zu den italienischen Hochzeitstruhen der Renaissance Bettina Uppenkamp | 47 Der Kabinettschrank und seine Bedeutung für die Kunst- und Wunderkammer des 17. Jahrhunderts Virginie Spenlé | 69 Geschlossene und transparente Ordnungen Sammlungsmöbel und ihre Wahrnehmung in der Aufklärungszeit Anke te Heesen | 85 Gebrauch und Form von Sitzmöbeln bei Hof Hans Ottomeyer | 103 Das Chefzimmer Herbert Lachmayer | 123 Wie Frauen Zimmer wurden Zur Wohnkultur im 18. und 19. Jahrhundert Anne-Katrin Rossberg | 143 Der therapeutische Innenraum Christian Witt-Dörring | 155
Tische, Stühle und andere Maschinen zum Denken Mark Kingwell | 161 Schreibtischporträts Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge Sabine Mainberger | 177 Der Tisch Francis Ponge | 199 Lehne und Geländer Hannes Böhringer | 229 »Form Follows Motion«: Stühle in Bewegung Sebastian Hackenschmidt | 233 Der »Popometer« oder Die Botschaft der Geschwindigkeit Klaus Engelhorn | 257 Das »Resopal«-Möbel oder Die Sinne nehmen nicht einfach die Dinge auf, sondern in ihnen auch eine Form an: Jedes gegenständliche Design ist immer auch ein Design der Sinnlichkeit Friedrich W. Heubach | 263 Die Psychoanalyse im Museum Gruppenanalytische Werkbetrachtungen August Ruhs | 273 Das Bett Vilém Flusser | 289 Autorinnen und Autoren | 305 Abbildungsnachweise | 311
Vorwort der Herausgeber
Die verschiedensten Gegenstände und Gerätschaften des Alltags sind bereits als Medien verhandelt worden – von Geld, Papier und Kleidung über Schreibmaschine, Grammophon und Auto bis zu elektronischen Massenkommunikationsmitteln wie Radio, Fernseher und Computer. Doch trotz einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Medialität der Dinge – die mit dem Erscheinen von Marshall McLuhans Buch »Understanding Media« Mitte der 1960er Jahre eingesetzt hat1 – sind Möbel bislang eher selten in ihrer Rolle als Medien verhandelt worden und in den Fokus der Medienanalyse geraten. Auch in jüngerer Zeit hat sich der überwiegende Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Möbeln im Bereich der Kunstgeschichte meist auf entwicklungs- und stilgeschichtliche Darstellungen, epochenspezifische oder monographische Abhandlungen sowie lokale, regionale, nationale oder kontinentale Zuordnungen beschränkt. So mag der Titel des vorliegenden Bandes – »Möbel als Medien« – einigen Lesern vielleicht modisch erscheinen, gewissermaßen im Windschatten der inzwischen fast unzähligen Publikationen, die sich vor allem den sogenannten Neuen Medien widmen. Durch die Medienwissenschaften, die sich in den vergangenen etwa dreißig Jahren im Zuge der globalen Ausweitung der elektronischen Massenmedien und der zunehmenden Digitalisierung medialer Techniken konstituiert haben, ist jedoch ein Diskurs in Gang gesetzt worden, der keineswegs nur auf die Oberflächen der Computer- und Fernsehbildschirme fokussiert, sondern durchaus auch vormoderne Kommunikationsmittel und Informationssysteme – also »alte« Medien – neu beleuchtet und der Beschäftigung mit Möbeln ebenfalls wichtige Aspekte hinzufügt. Möbel sind zunächst Gebrauchsobjekte, die sich vor allem über ihre Funktionalität definieren: Sie dienen meist entweder dem menschlichen Körper – etwa als Sitzgelegenheit oder Schlafstätte – oder der Aufbewahrung und Präsentation von Objekten. Sie erleichtern den Aufenthalt in Räumen und ermöglichen eine Vielzahl von Handlungen, sie bilden Arbeitsplätze oder bieten die Möglichkeit zu Geselligkeit und Entspannung, sie fungieren als Behälter für die menschlichen Besitztümer und Ge1 | Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964; dt.: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«, Düsseldorf, Wien 1968.
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rätschaften und halten diese verfügbar. Über ihren praktischen Zweck hinaus dienen Möbel jedoch auch der zwischenmenschlichen Kommunikation und können eine ganze Reihe von Sachverhalten vermitteln. Der Begriff »Medium« bedeutet Mitte, Mittel, Mittler und Vermittlung; er verweist auf einen Zwischenbereich, in dem etwas zur Erscheinung kommt, um wahrgenommen zu werden.2 In diesem Sinn können Möbel sicherlich auch den Anspruch stellen, Medien zu sein – eben alte Medien, vergleichbar mit Tafelbild oder Holzschnitt, Flugblatt oder Buch, die zu den klassischen Bild-, Kommunikations- und Speichermedien zählen. Jenseits ihres direkten – unmittelbaren – Verwendungszwecks als Sitzoder Liegemöglichkeit für den menschlichen Körper beziehungsweise als Ablage oder Behälter für Objekte, können Möbel ihren Benutzern oder Betrachtern Informationen mitteilen und die verschiedensten Botschaften vermitteln. Wir möchten dafür bereits an dieser Stelle ein kurzes Beispiel geben: Die in der frühen Neuzeit auf Reisen mitgeführten mobilen Behälter erschöpften sich keineswegs in ihrer Funktion als Transportmittel; anders als die heute weltweit verbreiteten, standardisierten Container, mit denen sich von Lebensmitteln und Kleidern über Waffen, Elektrogeräten, Turnschuhen und Plastikstühlen bis zu Altpapier und Guano alle möglichen Dinge verschicken lassen, machten viele dieser »Transportkisten« den Wert ihrer Fracht äußerlich anschaulich und erfreuten sich großer Wertschätzung. In den bereits damals weltumspannenden Handelsbeziehungen des 16. und 17. Jahrhunderts dienten repräsentative Möbel-Gepäckstücke als Medien des kulturellen Austauschs; sie stellten die angemessene Verpackung dar, in der teuer gehandelte Waren wie Seidenstoffe und Porzellan transportiert und offeriert werden konnten. Über ihre Rolle als prunkvolle Reisebehälter hinaus waren sie zudem selbst wichtige Handelswaren und miteinander konkurrierende Luxusgüter: Als beispielsweise in Spanien die einheimischen Vargueños (Abb. 1), die als charakteristische Schreibmöbel und mobile Aktenschränke3 für Dokumente und Wertsachen für reisende Kaufleute und Diplomaten unentbehrlich waren, durch Nürnberger Kabinettschränke vom Markt verdrängt zu werden drohten, sah sich der spanische König zu Beginn des 17. Jahrhunderts gezwungen, den Import der süddeutschen Produkte zu untersagen.4
2 | Mit dieser provisorischen Definition soll keineswegs die Komplexität des neuen Medienbegriffs reduziert werden, wie er zum Teil in den diversen Medien- und Kommunikationstheorien entwickelt worden ist. Vgl. etwa Claus Pias u.a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999; Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M. 2008. 3 | Diese Funktion haben heute wohl weitgehend die Computer übernommen. 4 | Vgl. Simon Jervis: »A Tortoiseshell Cabinet and its Precursors«, in: V&A Bulletin Nr. 4 (Oktober 1968), S. 133-143, hier S. 134.
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Nicht zuletzt unter diesem großen Konkurrenzdruck entwickelte sich der Abbildung 1: Typus des Kabinettschranks um 1600 zu einem Statussymbol, an dem sich Vargueno, Spanien, 2. Viertel 16. Jahrdie wandelnden Material- und Dekormoden nachvollziehen lassen: hundert. Nussholz, »Die neuesten, kostbarsten und einfallsreichsten Materialien und Techniken wer- Einlagen aus Metall, den zuerst an ihm verarbeitet und ausprobiert. Materialien (Lack, Ebenholz, Schild- Knochenmehl und patt usw.) und Handwerks- bzw. Verarbeitungstechniken (Marketerie, Perlmutter- hellem Holz, 62 x inkrustinationen, Treib- und Tauschierarbeit, Pietra dura usw.), die bis dahin noch 99 x 46 cm. MAK, nicht im Möbelbau angewandt werden, manifestieren sich zuerst an diesem inter- Wien nationalen Luxusprodukt.« 5 Entscheidende Neuerungen kamen dabei aus den asiatischen Ländern: Die europäischen Handlungsreisenden und Kolonisten fanden in Asien überwiegend unmöblierte Räume vor und instruierten lokale Handwerker zwischen Indien und Japan, Möbel nach westlichem Vorbild sowohl für den eigenen Bedarf vor Ort als auch für den Export herzustellen. Unter europäischem Patronat setzte sich auf diese Weise ein stilistischer Austausch in Gang, der zu einer weiten Verbreitung spezieller künstlerischer Techniken und Materialien führte: Das für den indischen Gujarati-Stil typische Material Perlmutt wurde beispielsweise in Japan für Nanban-Produkte verwendet und wirkte sich stark auf die Ästhetik der japanischen Lackarbeiten aus (Abb. 2); in Indien dienten europäische Ornamentstiche als Vorlage für geschnitzte Elfenbeinplatten, die zusammen mit charakteristischen MogulSchnitzereien für Kabinettschränkchen nach westlicher Machart verwendet wurden (Abb. 3).6
5 | Christian Witt-Dörring: »Ein spanischer Kabinettschrank aus der Ambraser Kunst- und Wunderkammer Erzherzog Ferdinands II.«, in: Kunst und Antiquitäten H. 3 (1992), S. 34-38, hier S. 37. 6 | Vgl. Amin Jaffer: »Asia in Europe: Furniture for the West«, in: Ausst.-Kat. Encounters. The Meeting of Asia and Europe, 1500-1800, Victoria and Albert Museum, London 2004, S. 252-261, hier S. 253ff. Vgl. auch Amin Jaffer: Luxury Goods from India. The Art of the Indian Cabinet-Maker, London 2002.
Abbildung 2: Kabinettkasten, Japan, um 1620. Holzkörper, Goldlackmalerei, Perlmutt, Schwarzlack, 25 x 52 x 35 cm. MAK, Wien
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Abbildung 3: Kästchen, Sri Lanka, Ende des 17. Jahrhunderts. Holz, Elfenbein (geschnitzt), Silber, 26 x 47 x 35 cm. MAK, Wien
Abbildung 4: Kabinettschrank, Venedig, um 1580. Fichtenholz, Lackmalerei, Steineinlagen, Perlmutt (bemalt), 54 x 60 x 39 cm. MAK, Wien
In Europa wurden Einflüsse aus Asien vor allem in den Handelszentren aufgegriffen: So entstanden in Venedig, dem wichtigsten Importhafen für den Handel mit dem nahen Orient, vermehrt Schmuckschatullen und Kabinette, deren architektonische Gliederung im Inneren sich zwar eng an zeitgenössische europäische Prunkfassaden anlehnte, deren Oberfläche aber fast vollständig von Lackmalerei nach persischem Vorbild überzogen war (Abb. 4). Aufgrund ihres großen Prestigewertes wurden mit kostbaren Materialien und raffinierten Ornamenten geschmückte Kassetten und Schmuckschatullen sowie repräsentative Schreibmöbel und Kabinettschränke häufig zusammen mit den enthaltenen Kleinodien als diplomatische Geschenke überreicht. Die exquisiten Gaben verdeutlichen zugleich, dass der kulturelle Transfer in der frühen Epoche des globalen Handels stark von Gesten, Ritualen und symbolischen Handlungen geprägt war und viele der Transportmittel und -möbel über ihre Funktion als mobile Behälter hinaus unterschiedliche repräsentative Aufgaben zu erfüllen hatten.
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Ebenso wie die materielle Beschaffenheit und Herstellungstechnik dieser Artefakte wesentlicher Bestandteil ihrer Botschaft waren, spielte auch der »performative Kontext«7 beziehungsweise der »zeremonielle Zweck«8 eine Rolle, für den diese Objekte gefertigt wurden oder in dem sie zum Einsatz kamen. Als feierlich überreichte Donationen fanden aufwendige Kästen und Schatullen schließlich auch Eingang in die Schatzkammern und Kunst- und Raritätenkabinette des 16. und 17. Jahrhunderts, deren Sammlungen sich zum Teil bis heute erhalten haben.9 In der Verbindung von höchster Handwerkskunst mit den ungewöhnlichen, erlesenen Produkten der Natur sowie als Repräsentationsobjekte der eigenen wie der fremden Kultur stellten sie eine kompakte Miniaturausgabe der fürstlichen Kunstund Wunderkammer selbst dar – deren symbolische Aufgabe es war, einen globalen Herrschaftsanspruch zum Ausdruck zu bringen. So dienten die exotischen und kostspieligen Behälter nicht nur der Aufbewahrung anderer Kostbarkeiten, Raritäten und Reliquien, die bei feierlichen Anlässen gerne vorgeführt wurden, sondern konnten auch als Mittler einer Weltordnung geschätzt werden. Im Unterschied zu diesen Kabinetten, Kisten und Kästchen ist zwar der genormte Container der Gegenwart – der freilich in seinen Dimensionen und Funktionsweisen auch nicht unbedingt zu den Möbeln gezählt werden kann (Abb. 5) – kein Gefäß mehr, »das die Welt erfasst und den Menschen verkörpert«, sondern, dem Philosophen Hannes Böhringer zufolge, »ein nichtssagender Behälter, dem entfällt, was er behält«10. Aber auch er fungiert gewissermaßen als Mittler einer Weltordnung: »Da die Lade- und Entladezeit reduziert und das globale Frachtverkehrsvolumen beträchtlich erhöht wird, stellt die Containerisierung eine neuartige Verbindung zwischen den Peripherien und den Zentren dar und ermöglicht es Industrien, die in früheren Jahren an die Zentren angebunden waren, auf ihrer Suche nach billigen Arbeitskräften unstet und nomadisch zu werden.«11
So hat die Containerisierung Arbeitsweisen und Arbeitsplätze verändert und die Arbeit, die nun »anderswo« stattfindet, in gewisser Weise unsichtbar gemacht – der Container ist damit »zu einem Sinnbild des industrialisierten und höchst undurchsichtigen Welthandels geworden, der den Anweisungen der internetgesteuerten Welt folgt, die ihn um den ganzen Erdball herum oder auch nur in die nächste Stadt zu dirigieren vermag«12 . 7 | Vgl. den Beitrag von Bettina Uppenkamp in diesem Band, S. 63. 8 | Hans Huth: »A Venetian Renaissance Casket«, in: Papers on Objects in the Collections of the City Art Museum (= Museum Monographs Bd. I), Saint Louis 1968, S. 42-50, hier S. 47. 9 | Vgl. dazu den Beitrag von Virginie Spenlé in diesem Band. 10 | Hannes Böhringer: Orgel und Container, Berlin 1993, S. 21. 11 | Alan Sekula: Seemannsgarn, Düsseldorf 2002, S. 49. 12 | Konrad Köstlin: »Das Maß aller Dinge«, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur H. 2: Container. Das Prinzip Globalisierung (Februar 2003), S. 42-45 u. 84, hier S. 42.
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Abbildung 5: Container im Hamburger Hafen, Ende des 20. Jahrhunderts
Mehr noch als der Computer bringt somit wohl der Container die weltweiten Handelsverflechtungen zum Ausdruck, die ja nicht zuletzt auf dem konkreten Verkehr der Waren beruhen.13 Das Beispiel der mobilen Behälter aus der Frühzeit der Globalisierung verdeutlicht, dass Möbel die verschiedensten medialen Aspekte in sich vereinigen und Medien in vielerlei Hinsicht sein können: Über ihren praktischen Zweck hinaus – der Erfüllung ihrer Funktion als Transportmittel sowie der besonderen Aufgaben, die sie als Behältnismöbel zu erfüllen haben (Dinge zu verschließen und zu bewahren, zu ordnen und zu präsentieren) – verkörpern und verbreiten diese Schreib- und Kabinettschränke, Kassetten, Truhen und Schatullen zugleich bestimmte Informationen. Selbstverständlich sind Möbel immer auch Medien der verschiedenen Stile, die sich an ihnen manifestieren – seien sie nun zeitlich bedingt und einer bestimmten Epoche eigen oder an gewisse Zentren oder Regionen der Fertigung gebunden, in denen man über eine besondere künstlerische Meisterschaft, innovative Verarbeitungstechniken oder gewisse Materialien verfügt –, und sicherlich hat der weltweite Handel in der frühen Epoche des Welthandels auf seine Weise die Entwicklung der Stile befördert und
13 | Unter welchen Umständen diese Behälter dabei vermehrt auch als provisorische Aufenthaltsräume für die Ware Mensch dienen, hat der Theater-Regisseur Christoph Schlingensief im Jahr 2000 mit seiner Container-Show »Ausländer raus« in Wien eindringlich vor Augen geführt. Vgl. Matthias Lilienthal/Claus Philipp (Hg.): Schlingensiefs »Ausländer raus!« Bitte liebt Österreich, Dokumentation, Frankfurt a.M. 2000.
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geprägt.14 Vor allem aber übernahmen die Möbelstücke dabei die Rolle von Kommunikationsinstrumenten, die nicht allein als »Bote« Handelsgegenstände und Informationen überbrachten, sondern selbst auch eine »Botschaft« darstellten: Als Vermittelndes und Vermitteltes zugleich »vermittelten« sie zwischen weit entlegenen Sendern und Empfängern. In seinem Buch »Understanding Media« hat Marshall McLuhan daran erinnert, »daß in seiner Funktion und praktischen Anwendung das Medium die Botschaft ist«15 – und dies gilt selbstverständlich auch für den Gebrauch von Möbeln: Möbel sind Informationsträger und Mittel von Repräsentation und Distinktion; sie tragen zur Atmosphäre von Räumen bei und kreieren einen »Stimmungswert«16 oder »szenischen Wert«17, der je nach Kontext und Situation unterschiedliche ästhetische und repräsentative Aufgaben erfüllen kann. Sie beeinflussen unsere räumliche Wahrnehmung und konditionieren unser Verhalten in Innenräumen; sie prägen und konditionieren ihre Benützer durch interaktives Design. Auch in diesem Sinn übermitteln Möbel Nachrichten – eben Botschaften oder Befehle, »›nach‹ denen Personen sich zu ›richten‹ haben«18. McLuhan sah unsere Lebensgewohnheiten gar in so hohem Maße durch Medien determiniert, dass er die Ansicht vertrat, es komme dabei zu einer »Ausweitung« des menschlichen Zentralnervensystems, die sich auf das ganze psychische und soziale Gefüge des Menschen auswirke.19 Möbel stellen somit nicht nur gegenständliche Maximen und Handlungsmodi im Sinne einer »Dingpsychologie«20 dar, sondern können im Rahmen einer »Dingpolitik«21 auch als »Aktanten« aufgefasst werden, die – wie viele andere Medien und Dinge – mit menschlichen Individuen und sozialen Positionen interagieren. Wenn in diesem Band also Möbel als Medien verhandelt werden, so weniger im Unterschied als vielmehr in Erweiterung und Ergänzung zu ihrer primären Funktion als Gebrauchsgegenstände. Entsprechend stehen hier auch nicht stilgeschichtliche Ansätze oder formanalytische Untersuchungen von Möbeln im Mittelpunkt, sondern unterschiedliche mediale
14 | Vgl. dazu den Ausst.-Kat. Global Lab. Kunst als Botschaft. Asien und Europa 1500-1700, Österreichisches Museum für Angewandte Kunst/Gegenwartskunst, Wien 2009. 15 | McLuhan 1968 (wie Anm. 1), S. 13. 16 | Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen (1968), Frankfurt a.M., New York 1991, S. 50ff. 17 | Gernot Böhme: Atmosphäre, Frankfurt a.M. 1995, S. 46. 18 | Friedrich Kittler: »Geschichte der Kommunikationsmedien«, in: Jörg Huber/ Alois Martin Müller (Hg.): Raum und Verfahren (= Interventionen Bd. 2), Zürich 1993, S. 169-188, hier S. 170. 19 | Vgl. McLuhan 1968 (wie Anm. 1), S. 9ff. 20 | Vgl. dazu Ludger Lütkehaus: Unterwegs zu einer Dingpsychologie. Für einen Paradigmenwechsel in der Psychologie, Gießen 2002. 21 | Vgl. dazu Bruno Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik. Wie man Dinge öffentlich macht, Berlin 2005.
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Aspekte, die sich aus ihrem praktischen Gebrauch beziehungsweise ihrem Gebrauchskontext ergeben. Keine der hier versammelten Positionen kann unbedingt den Anspruch stellen, das Phänomen der Medialität von Möbeln umfassend zu klären oder zur Darstellung zu bringen; stattdessen versucht dieser Band ein breites Spektrum aufzuzeigen, innerhalb dessen die Auseinandersetzung mit Möbeln als Medien lohnend erscheint. Wenn einige der Autoren dabei in ihren Beiträgen auch gänzlich ohne die Verwendung des Begriffs »Medium« auskommen, so verweisen ihre Untersuchungen doch sämtlich auf einen bestimmten medialen Aspekt von Möbeln. Gleichwohl sollen ihre Texte sich nicht zu einem Theorieband fügen, sondern eher eine Art Lesebuch bilden, in dem das Phänomen und Thema »Möbel als Medien« von vielen unterschiedlichen Perspektiven her beleuchtet wird – seien dies nun philosophische, anthropologische, kunsthistorische, soziologische, literarische, literaturwissenschaftliche oder psychologische Perspektiven. Am Anfang steht ein Aufsatz von Walter Seitter mit dem für dieses Buch programmatischen Titel »Möbel als Medien«: Im Rahmen seiner philosophischen »Physik der Medien« bettet Seitter Möbel in verschiedene medientheoretische Überlegungen ein; Tisch, Stuhl und Bett fasst er als »Mittelkörper« auf, die den Menschen auf je spezifische Weise präsentieren und präsent halten – und somit als »Radikal« von Information und Kommunikation fungieren. Hajo Eickhoff beschreibt in seiner kulturanthropologischen Untersuchung der »Medialität von Thron und Stuhl«, wie sich im Königsthron der alten Ägypter Pharao und Thron zu einem bildlichen Medium zusammenfügten, das die Verbindung zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre herstellte und die Gemeinschaft gleichermaßen begründete wie verkörperte: Die Macht des Pharaos war an den Thron gebunden und wurde durch seine sitzende Position auf ihm zur Anschauung gebracht. Bettina Uppenkamp widmet sich den italienischen Hochzeitstruhen des 15. Jahrhunderts, die als materieller Bestandteil der Familiengeschichte nicht nur an den Gründungsakt der Ehegemeinschaft erinnerten, sondern in den komplexen Heiratsriten des frühneuzeitlichen Italiens eine zentrale Rolle spielten: Sie fungierten als Medien zur Kommunikation gesellschaftlicher Ansprüche, Werte und Normen – und standen nicht zuletzt auch bei der Etablierung der Geschlechterordnung im Brennpunkt der sozialen Aushandlungsprozesse. Virginie Spenlé untersucht in ihrem Aufsatz, wie der Kabinettschrank und sein vielfältiger Inhalt in den Kunst- und Wunderkammern des 17. Jahrhunderts »die Stellung des Menschen in der göttlichen Ordnung« demonstrierte: Als Mikrokosmos, den es sukzessive zu entdecken und zu erforschen galt, spiegelte er dabei die Mannigfaltigkeit des Makrokosmos wider. Zeitlich daran anknüpfend beleuchtet Anke te Heesens Beitrag die sich wandelnden Präsentationsmodi der Naturalienschränke des 18. Jahrhunderts: Als »Instrument der visuellen und haptischen Aneignung der Na-
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tur« vollziehen diese Sammlungsmöbel der Aufklärungszeit den Übergang von der akkumulierenden Sammlung zu einer systematisch-klassifizierenden Anordnung der Natur und dienten dabei als »Aggregat« für die sich konstituierenden Naturwissenschaften. Hans Ottomeyers Text rekonstruiert den Verwendungskontext von Sitzmöbeln bei Hof und zeigt, wie die Möbel und ihr Einsatz das differenzierte höfische Machtgefüge zum Ausdruck brachten: Der Gebrauch bestimmter Möbel – ebenso wie der Zutritt zu gewissen Räumen – war je nach Kontext ein Privileg, das die gesellschaftliche Stellung einer Person erkennen ließ. Um die Repräsentation von Macht geht es auch bei Herbert Lachmayer, der das »Chefzimmer« als den Ort von Selbstdarstellung und beruflicher Hierarchie analysiert: Möbel, Ausstattung und Raumgestaltung sollen den Erfolg und die Sicherheit des Chefs sowie die Prosperität und Seriosität des Unternehmens bezeugen; sie dienen dazu, gleichermaßen Geschäftspartner und abhängige Mitarbeiter zu beeindrucken und einzuschüchtern. Ist das Chefzimmer bis heute ein zumeist männlich dominierter Ort, so geht Anne-Katrin Rossberg der Frage nach, wie sich Weiblichkeit im Interieur des 18. und 19. Jahrhunderts manifestierte: Neben bestimmten »weiblich« gedachten Grundformen und Materialien trug nicht zuletzt auch eine enge »Verknüpfung von Frau und Möbel« zu der geschlechtsspezifischen Konnotation bei, die in den »Frauenzimmern« gegenständlich wurde. Auch Christian Witt-Dörrings Beitrag widmet sich dem Interieur und veranschaulicht das grundlegend neue ästhetische Raumerlebnis des zwischen 1904 und 1906 nach Entwürfen von Josef Hoffmann und Koloman Moser eingerichteten Sanatoriums Purkersdorf bei Wien: Die spezielle, auf Heilung abzielende Atmosphäre des Sanatoriums, die bis in die Möblierung hinein von möglichen Assoziationen mit der Alltagssphäre weitgehend frei gehalten war, stellte einen deutlichen Bruch mit der belastenden, krankmachenden Realität seiner Gäste dar und sollte auf diese Weise eine befreiende Wirkung entfalten. Mark Kingwell stellt in seinem Essay die Frage, warum Möbel von der Philosophie so lange vernachlässigt worden sind, obwohl sie doch grundlegend auf das Denken und das Ausformulieren der Gedanken einwirken: Aus ironisch-selbstkritischer Perspektive und unter Berücksichtigung ihrer haptischen, stilistischen, funktionalen, ästhetischen, politischen und poetischen Implikationen charakterisiert er Möbel als »Maschinen zum Denken«. Durch ihre unterschiedlichen Ausprägungen erzielen Möbel jeweils verschiedene Stimmungswerte und Befindlichkeiten, durch die sie großen Anteil an der Hervorbringung von Ideen haben – beziehungsweise, so Kingwells These, bestimmte Gedanken überhaupt erst möglich machen. Sabine Mainberger untersucht, wie die Schreibtische von vier Schriftstellern – Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge – zur Voraussetzung und zum Gegenstand ihres Schreibens werden: In den untersuchten Texten ist der Schreibtisch für diese Autoren materielle Grundlage und Identifikationsobjekt zugleich und dient solchermaßen als Medium für ihre literarische – und dabei ebenso autobiographische wie fiktionale, poetische wie essayistische – Produktion.
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Als einer der vier von Mainberger studierten Schriftsteller umkreist Francis Ponge in seinem Textkonvolut »La Table«, aus dem hier Auszüge in deutscher Übersetzung vorgelegt werden, in immer neuen Versuchen seinen »Tisch«: Ponge beschreibt den Tisch, an den er sich setzt, um schreiben zu können; die Beschreibung der physischen Grundlage des Schreibens und die Reflexion über das Beschreiben dieses Gegenstandes sowie die Sprache, in der dies alles stattfindet, bilden Ponges »Tisch«. Hannes Böhringer beschäftigt sich mit einem vernachlässigten Detail von Architektur und Design; er beobachtet, wie Lehne und Geländer dem Anlehnungs- und Sicherheitsbedürfnis des Menschen entsprechen: So wie das Geländer an der Treppe, verhindert auch die Lehne am Stuhl, dass der Mensch ins Haltlose abstürzt, und vermittelt ihm das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen. Sebastian Hackenschmidt koppelt in seinem Beitrag über »Stühle in Bewegung« die Entwicklung des Freischwingers an die Zunahme und Perfektionierung moderner Verkehrsmittel in den 1920er Jahren: Als eine Art Trainingsgerät für den modernen – dynamischen und flexiblen – Menschen übermittelt der Freischwinger die Notwendigkeit, mit den technischen Entwicklungen der Industrienationen und der gesteigerten Geschwindigkeit des Alltagslebens Schritt zu halten. Um die »Botschaft der Geschwindigkeit« geht es auch bei Klaus Engelhorn, der die von Paul Virilio aufgestellte These des »rasenden Stillstands« befragt und aus der Perspektive eines – inzwischen ehemaligen – Rennfahrers beschreibt, wie sich ihm das Tempo über den Sitz seines Wagens übertrug und welche Anstrengungen er aufbringen musste, um den Kräften der Geschwindigkeit gegenzusteuern. Wenn Marshall McLuhan sein berühmtes Diktum »The Medium is the Message« angesichts entleerter Medieninhalte ironisch zu »The Medium is the Massage« umdeutete, so verspricht der Rennsitz als besonders »mobiles« Möbel jedenfalls eine »Massage« jenseits der üblichen Schwingungsbelastung des Autofahrens. Mit seinem Aufsatz über das vor allem für Kücheneinrichtungen verwendete Kunststoffmaterial Resopal leistet Friedrich W. Heubach einen Beitrag zur Psychologie des Alltags: Er untersucht das den »Resopal-Möbeln« implizite »Sinnlichkeitsdesign«, und zeigt, wie durch die spezifischen Eigenschaften dieses Materials eine Modellierung des Psychischen erfolgt. August Ruhs analysiert Möbel als Museumsobjekte, an denen oft bemängelt wird, dass sie aus ihrem lebendigen Gebrauchskontext herausgelöst und stillgestellt worden sind – als ehemalige Alltagsgegenstände seien Möbel im Museum »tot«. Ruhs nähert sich den musealisierten Möbeln als »Semiophoren« im Sinne Krzystof Pomians22 – als Objekten, deren Bedeutung im Wesentlichen darin besteht, mit Bedeutung versehen zu sein. Aus (gruppen-)psychologischer Perspektive wird nun der Versuch unternommen, Möbeln in ihrer Funktion als Bedeutungsträger nachzuspüren und dabei hinter »unbewusste« Bedeutungsschichten zu gelangen: Wie 22 | Vgl. Krzystof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1993.
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vermitteln uns diese Medien-Möbel eine unbewusste subjektive Begehrensdimension – und welche? Und wie groß ist dabei das Begehren, Bedeutung zu sehen? Vilém Flusser schließlich beendet diesen Band mit seinen Betrachtungen zum Bett: Wenn Flusser dabei weniger an den dinghaften Eigenschaften des Bettes, als vielmehr an den menschlichen Tätigkeiten und Ereignissen interessiert ist, die sich in ihm vollziehen, so erscheint das Bett doch als Folie, vor deren Hintergrund sich ein gewichtiger Teil des Lebens von der Geburt über das Lesen, Lieben, Schlafen und Kranksein bis zum Tod vollzieht. Und so kann auch für das Bett – wie für alle Möbel – der Satz Flussers gelten: »Die Dinge in meiner Umgebung sind meine Bedingung.«23 Die in diesem Band veröffentlichten Aufsätze und Essays sind fast sämtlich bereits andernorts publiziert worden; in vielen Fällen wurden sie allerdings für diesen Band nochmals aktualisiert. Zudem wurden die Texte formal einander angeglichen und der neuen deutschen Rechtschreibung unterworfen. Wir möchten den Autoren nochmals für die Überarbeitung ihrer Texte und die Genehmigung des Wiederabdrucks danken sowie den Éditions Gallimard, Paris und dem Carl Hanser Verlag, München für die Abdruckerlaubnis der Texte von Francis Ponge und Vilém Flusser. Hannes Böhringer sei ganz herzlich für seinen Beitrag gedankt, den er für diesen Band geschrieben hat. Karoline Ruhdorfer sei für die Übersetzung des Textes von Mark Kingwell gedankt und Walter Seitter für die des Ponge-Textes. Kerstin Flasche und Tanja Erben gebührt Dank für die Betreuung und formale Vereinheitlichung der Texte, Birgit Klöpfer und Johanna Tönsing vom transcript Verlag dafür, dass sie sich dieses Bandes angenommen haben. Dank auch an das MAK in Wien – und wie eigentlich immer Dietmar Rübel für so vieles!
23 | Vilém Flusser: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München, Wien 1993, S. 9.
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Im Folgenden gebe ich einen knappen Einblick in die von mir initiierte »Physik der Medien« – die den Begriff »Medium« vom Begriff des »Körpers« her denkt. Allerdings nicht etwa vom modern-anthropozentrischen Körperbegriff, sondern vom antik-kosmologischen Körperbegriff her, der indessen den menschlichen Körper – oder Leib – nicht ausschließt. Mein physikalischer Medienbegriff hat drei »Stufen«: Zwischenstoff, Mittelkörper, Übermittlungstechnik. Diese dritte Stufe deutet auch schon an, von welcher Funktion her Körper oder Techniken als Medien bezeichnet werden können. Ich werde diese Funktion allerdings noch radikaler bestimmen. Die zentrale Stufe meines physikalischen Begriffs bildet »Mittelkörper«. Ich möchte jetzt nicht der Frage nachgehen, ob etwa corpus medium den etymologischen Ursprung unseres Begriffs »Medium« bildet. Semantisch stehen aber sowohl der aristotelische Medienbegriff, der bestimmte Körper als notwendige Leitstoffe zwischen Wahrnehmendem und Wahrzunehmendem einsetzt, wie auch der frühneuzeitlich-lateinische Medienbegriff, der in der Physik (und zwar bis heute) eine Rolle spielt und der die an einen Körper grenzende Umgebung als Medium bezeichnet, dem corpus medium nahe. Bei dem zuletzt genannten Medienbegriff könnte man allerdings statt des Substantivs corpus auch an locus denken. Der französische Ausdruck milieu, der ein direkter Abkömmling oder Vertreter dieses Medienbegriffs ist, leitet sich von medius locus her. Im Jahre 1926 – also einige Jahrzehnte vor dem aktuellen Boom des Medienbegriffs – hat Fritz Heider in »der losen Koppelung von Elementen« das Kriterium dafür gesehen, welche physischen Erscheinungen eher auf die Seite des Mediums als auf die des Objekts tendieren, wobei er in Anlehnung an Aristoteles die Medialität hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung thematisiert hat.1 Er geht aber auch zur aktiven Steue1 | Fritz Heider: »Ding und Medium«, in: Symposion. Zeitschrift für Forschung und Aussprache Jg. 1, H. 2 (1926), S. 109-157. Es ist ein bleibendes Verdienst von
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rung über – und zwar am Beispiel des Mediums der Hand, deren innere lose Koppelung wortwörtlich als »Digitalität«, das heißt »Fingerigkeit«, erscheint. Andererseits passt die Hand genau unter den Begriff »Mittelkörper«, da sie als »angewachsener und mobiler Außenkörper« zwischen einem selber und der Außenwelt vermittelt. Die seit der Philosophischen Anthropologie als menschliche Besonderheit identifizierte »Auge-HandZone« bildet den Ausgang zu dem ersten Medium, das ich besprechen will.
I. D ER TISCH Der Tisch ist eine feste horizontale Platte, die einen Boden für die AugeHand-Zone bildet. Sobald der Mensch nicht liegt oder hockt, sondern eine vertikalere Körperposition einnimmt, befindet sich seine Auge-Hand-Zone so weit weg vom Boden, dass diese keine direkte Basis mehr hat. Für viele Verrichtungen ist es günstig, wenn die manipulierten Stoffe oder Geräte abgestellt werden können, so dass sie innerhalb des Arbeitsbereiches griffbereit bleiben. Für diese Nahehaltung in der gehobenen Auge-Hand-Zone ist die Verwendung eines »Zweitbodens« nützlich, der seinerseits gegenüber dem Erstboden angehoben ist – und zwar über einem Segment des Erst- oder Erdbodens. Was aber rechtfertigt es, den Tisch, der ein seit langem bekanntes mobiles oder auch immobiles »Möbel« ist, als »Medium« zu bezeichnen? Leistet er etwa das, was man heutzutage von einem Medium verlangt – nämlich Speicherung, Verarbeitung, Übertragung von Information?2 Nein und ja. Seine Leistung geht in diese Richtung – aber sie ist noch radikaler oder elementarer. Der Tisch trägt dazu bei, solche Dinge, die Menschen in einer bestimmten Nähe oder Präsenz haben wollen, in dieser Nähe oder Präsenz zu halten. Seine Leistung liegt in Präsentierung – verstanden als Präsentmachung oder vielmehr Präsenthaltung. Und diese Präsentierung ist sozusagen ein Radikal von Information, von Kommunikation. Nahrungsmittel und Essgeräte, Informationsgeräte wie Papier oder Computer, Körperteile wie Hände und Unterarme werden auf dem Tisch deponiert, können dort wieder gruppiert und verschoben werden. Alle diese Präsentierungen von Dingen (zu denen kleinere und größere Absentierungen gehören) werden von den Tischen nicht eigenmächtig durchgeführt, aber sie leisten erhebliche Beiträge dazu: Die Festigkeit der Platte verhindert, dass die Dinge versinken oder hinunterfallen, ihre glatte Oberfläche ermöglicht leichten Schubverkehr. Ein theoretisches Verdienst des Tisches liegt vielleicht überhaupt darin, dass er den Begriff »Verkehr« wieder nahelegt. Wobei neben dem Schubverkehr der Luftverkehr die wichtigste Verkehrsart in Sachen Tisch ist. Niklas Luhmann, die zeitgenössische Fachwelt auf diesen alten und vergessenen Text aufmerksam gemacht zu haben. 2 | Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 8.
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Damit rühre ich an das heidersche Kriterium für Medialität: Wie steht es mit der losen Koppelung beim Tisch? Dabei geht es nicht darum, ob der Tisch im Verhältnis zum Erdboden gänzlich oder nur relativ stabil ist. Dieses muss er sicher sein: Die feste Platte muss tatsächlich so fest sein, dass sie vom Manipulieren mit ihren zeitweiligen Bewohnern nicht aus der Ruhe gebracht wird. Gehorcht der Tisch dem heiderschen Kriterium nicht, so ist entweder dieses Kriterium nicht stichhaltig – oder der Tisch ist kein Medium? Nun – das heidersche Kriterium hat sogar den Vorzug, dass es uns veranlasst, die Implikationen von »fester Platte« genauer ins Auge zu fassen: »feste Platte« bedeutet, dass ein ruhiger und harter Körper oben eben und glatt aufhört – und darüber ein Luftraum beginnt! Und der gehört unbedingt zum Tisch dazu: Denn er ermöglicht den Sichtverkehr über dem Tisch, den Flugverkehr von Tisch und zu Tisch und den Schubverkehr auf dem Tisch! Ein Tisch ist also ein komplexes Gebilde, das aus mindestens zwei sehr heterogenen Schichten besteht: einer angehobenen und stabilen horizontalen festen Platte und einem Leerraum darüber. Zur Erkenntnisgeschichte des Tisches nur die Anmerkung, dass es bei den Philosophen jahrtausendelang nur ein paar leere Ankündigungen etwa bei Platon und Husserl gab.3 Erst in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts nach Christus kam es bei einigen Dichtern und Gelehrten in Paris, Berlin und Wien – unabhängig voneinander – zu ersten Wesensbestimmungen.4 Diese haben die hier getroffenen Charakterisierungen ermöglicht, welche sich so zusammenfassen lassen: Ein Tisch ist eine kleine Hochebene zu einer bestimmten Präsentierung von Dingen. Und zwar für Menschen – so dass Tische aufgrund der Attraktivität von Dingen dann sekundär auch Medien zu bestimmten Präsentierungen von Menschen sind: Stehtische, Sitztische.
3 | Vgl. Platon: Politeia, in: Ders: Gesammelte Werke, 8 Bde., Darmstadt 1990, Bd. 6, S. 596ff.; Edmund Husserl: Husserliana, Bd. XI: Analysen zur passiven Synthesis, Den Haag 1968, S. 4. 4 | Vgl. Francis Ponge: La Table, Paris 1991 (vgl. dazu auch die für diesen Band übersetzten Textauszüge aus La Table); Hajo Eickhoff: »Stehen«, in: Dietmar Spielmann/Richard Kampfmann (Hg.): SitzLast StehLust. Plädoyer für das Arbeiten im Stehen, Berlin 1993, S. 79; Ausst.-Kat. Philosophen:Tische. Eva Afuhs, Heiko Bressnik, Waltraud Palme, Wolfgang Reichmann, Richtex, Galerie station 3, Wien 1995. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Gilles Deleuze und Félix Guattari mit ihren »Tausend Hochebenen« der Wesenserkenntnis des Tisches vorgearbeitet haben. Vgl.: Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille plateaux, Paris 1980. Ebenso ist hier Vilém Flusser zu nennen, der um 1990 die Tradition der den Tisch bloß als Beispiel nennenden Betrachtungen sehr ausführlich weitergeführt hat. Wobei seine Problematisierung auf einen Abschied vom Tisch und derartigen Dingen hinausläuft. Vgl. Vilém Flusser: Medienkultur, Frankfurt a.M. 1997, S. 185-201.
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II. D ER S TUHL Im Unterschied zum Tisch ist der Stuhl primär ein Gerät zu einer bestimmten Präsentierung von jeweils einem Menschen. Unter dem Stuhl verstehe ich mit Hajo Eickhoff eine kleine Bodenerhebung, die so hoch ist wie der menschliche Unterschenkel und dem Menschen ein Sitzen gestattet beziehungsweise aufzwingt, bei dem er seinem Körper zwei rechtwinklige Knickungen antut: Zwischen vertikalen Unterschenkeln und vertikalem Oberkörper liegen die Oberschenkel horizontal auf der kleinen Hochebene, die das zentrale Stück des Stuhls ist.5 Gewöhnlich versteht man unter einem Stuhl eine dermaßen erhöhte Sitzanlage, die auch noch eine Rückenlehne enthält, mit der sie die Vertikalisierung des Oberkörpers vorgibt und erleichtert. Ein Stuhl ist ein Festkörper, der an seiner »Vorderseite« eine horizontale Fläche zwischen zwei vertikalen Flächen aufweist und der diese seine zweifache Knickung dem Menschenkörper zur Nachahmung und Anschmiegung nahelegt. Ein Stuhl ist also ein Körper, der ungefähr oder fast so lang ist wie der Menschenkörper, diese Länge aber mit einer ganz bestimmten geometrischen Form verbindet, welche den Ansatz zur Treppenform übernimmt und den Stuhl – zwischen »vorn« und »hinten« – asymmetrisch macht. Der Stuhl ist eine Passform für den Menschen und daher rührt seine Asymmetrie, denn er nimmt den Menschen selber wesentlich asymmetrisch auf. Der Mensch ist zwischen »links« und »rechts« symmetrisch gebaut, zwischen »vorn« und »hinten« aber essentiell asymmetrisch. Der Stuhl nimmt mit seiner Vorderseite nur die Hinterseite des Menschen auf: Somit agiert er »hinterhältig« und damit gerät er ins Zentrum der Medienproblematik, die von der Medientheorie thematisiert wird beziehungsweise diese überhaupt erst provoziert: Die Medientheorie will ja die versteckten Medienwirkungen ans Licht heben.6 Wie der Tisch ist der Stuhl ein radikalmediales, im Unterschied zum Tisch ist er ein radikalhumanes Gerät. Wie für den Tisch trifft auch für den Stuhl der Begriff »Mittelkörper« zu, insofern er zwischen dem tiefen Boden und der Höhe des Menschen vermittelt und dem Menschen eine Mittelposition ermöglicht. Der Stuhl ist folglich ein elementarmediales, radikalmediales und radikalhumanes Gerät. 5 | Vgl. Eickhoff 1993 (wie Anm. 4), S. 73. Ich zitiere hier nur diesen Aufsatz von Eickhoff, verweise aber auf sein Buch Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München, Wien 1993. Vgl. auch den Beitrag von Hajo Eickhoff in diesem Band. 6 | Die vom Stuhl verstärkte Ausrichtung nach vorn verschiebt alles, was nicht vorn ist oder als solches gilt, um so mehr nach hinten: so etwa die festkörperliche Leibesausscheidung – die vom Deutschen in einer sprachlichen Vermeidungsstrategie metonymisch Stuhl genannt wird. Auf diese Weise muss »Stuhl« auch das bezeichnen, wovon die Orientierungsstrategie des Sitzgerätes gerade ablenken will: nämlich das, was hinten und unten aus der Welt geschafft wird. Diese Ausscheidungsvorgänge gehören zu den vom Stuhl gestützten Verkehren.
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Im Einzelnen lassen sich folgende Aspekte der Medienfunktion des Stuhls unterscheiden: a) Beugung des Menschenkörpers: Einführung von zwei rechtwinkligen Knickungen in den aufrechten Körper, der zu zwei Dritteln aufrecht bleibt: »Der Stuhl […] schneidet […] in die Physis«7 ein; im Vergleich zum Liegen oder Hocken eine erhebliche Erhöhung des Menschen; im Vergleich zum Stehen eine Absenkung – aus der man sich jedoch relativ leicht zum Stehen und Gehen erheben kann. b) Fixierung des Menschenkörpers: Ein Stuhl ist zwar ein Möbel, das – heute jedenfalls – relativ leicht zu verschieben oder wegzutragen ist: Aber wenn man sich einmal draufsetzt, wird der Stuhl durch den Sitzenden erheblich beschwert und damit wird auch der Sitzende relativ stark immobilisiert: Speicherung. »Der Stuhl faßt den Sitzenden ein […]«8: Menschengefäß, Menschenfassung; Zweitkörper, Prothese.9 c) Platzierung des Menschen: Aufgrund von b) weist der Stuhl dem Sitzenden für die Sitzzeit einen ziemlich festen Platz in einem Raum und im Verhältnis zu anderen von Menschen besetzten oder unbesetzten Plätzen zu: Gruppierung oder Ordnung. d) Isolierung: Da man unter »Stuhl« »ein begrenztes Territorium«10, eine kleine Hochebene für nur eine Person versteht, isoliert er die sitzende Person sehr stark – selbst von benachbarten Stuhlsitzern. e) Orientierung: Das Stuhlsitzen verstärkt die oben erwähnte HintenVorn-Asymmetrie des Menschen und stabilisiert eine Blick- und Hörrichtung; Frontalunterricht, Konzertsaal, Fernsehen, Autositz nutzen diese Orientierungsleistung aus, in der die mediale, das heißt Präsentationsfunktion des Stuhls in eine andere Dimension umschlägt: Der Stuhl präsentiert dem Sitzenden das, was sich vor ihm befindet oder abspielt, und folglich wirkt er an der Wirksamkeit anderer Medien mit, die dem Sitzenden etwas »vorführen«: Tisch, Katheder-Lehrer-Tafel, Bühne-Künstler, Fernsehen, Windschutzscheibe, Computer. Der Stuhl
7 | Eickhoff 1993 (wie Anm. 4), S. 73. An dieser Stelle ist nachzutragen, dass auch vom Tisch eine Schneidewirkung ausgeht: Am Tisch stehende oder sitzende Menschen erscheinen optisch – von der anderen Seite des Tisches aus gesehen – so »abgeschnitten«, dass ihr Unterkörper (Bauch, Becken) verschwindet. Für diesen Hinweis danke ich Irmgard Zepf. 8 | Vgl. ebd. 9 | Die Begriffe »Menschenfassung« und »Zweitkörper« habe ich für die Schilde geprägt: Vgl. Walter Seitter: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, München 1985. Den Begriff »Prothese« suggeriert Hajo Eickhoffs kritische Perspektive, wonach der Stuhl die von ihm induzierte Körperschwäche – des Erstkörpers – zu kompensieren hat. Vgl. dazu auch Eva Horn: »Prothesen. Der Mensch im Lichte des Maschinenbaus«, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 193-209. 10 | Eickhoff 1993 (wie Anm. 4), S. 76.
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wird Teil eines Medienverbundes, der den Menschen von hinten und von vorn »informiert«. Dabei übernimmt der Stuhl den Part des »hinteren« und deswegen auch weniger bemerkten, in gewissem Sinn des »hinterhältigen« Faktors, der den Menschen steuert, ohne ihm bewusst zu werden. Und damit rückt der Stuhl in eine zentrale Position der Medientheorie ein, die sich ja gern aufdeckend-kritisch mit unbemerkten Medieneffekten beschäftigt. Die Medienaufdeckung verzweigt sich einerseits zur Medienkritik, andererseits zur Medientheorie. Die mit den eben genannten Begriffen angedeuteten Tätigkeiten verstärken die Bestimmung des Stuhls als »Verkehrsstation«: Zum einen sind Stühle Stationen zwischen verschiedenen Ortsveränderungen, zum anderen sind sie Stationen, in denen »stationär« Verkehre verschiedenster Art geleistet werden. Das Ernstnehmen des Mediums Stuhl legt es nahe, das Wort »Verkehr« wieder in den wissenschaftlichen »Verkehr« einzuführen und damit dem Begriff »Kommunikation« Konkurrenz zu machen.
III. D AS B E T T Auch das Bett ist eine kleine Hochebene, die der Menschenpräsentierung dient. Ihre Oberfläche entspricht ungefähr der des Stuhls – doch erstreckt sie sich ungefaltet in der Horizontalen, da sie dem Menschen das Liegen »nahelegen« will. Es ist bekannt, zu welchen Zwecken, zu welchen Zuständen oder Tätigkeiten die Menschen das Bett aufsuchen. Vilém Flusser hat diesen Bett-Tätigkeiten eindringliche Charakterisierungen gewidmet.11 Ich greife jetzt nur den Schlaf heraus, dem ja quantitativ und auch metaphorisch die größte Bedeutung zukommt. Wo man schläft, da wohnt man. Insofern kann das Bett als Medium nicht nur eines ganz bestimmten, sondern eines weittragenden und auch identitätsstiftenden Präsentseins gelten. Noch stärker als der Stuhl fixiert und isoliert das Bett seinen Einwohner: Denn es wirkt mit dem Schlaf zusammen und der fixiert ihn stundenlang: Er bewirkt Präsenz von 23 Uhr bis 8 Uhr (beispielsweise). Aber was ist das für eine Präsenz? Es ist eine Präsenz der totalen Isolation: Der Schlaf isoliert den Schlafenden von der Außenwelt. Aber nicht nur von der, sondern auch von ihm selber. Im Schlaf schlägt die Präsenz des Menschen in Absenz um. Das ist eine Verkehrung, die aus dem Bett eine Station dramatischen Verkehrs macht – wenn je ein solcher ist.12 Das heißt: Das Bett agiert als Doppelagent: Medium und Kontermedium der Menschenpräsentierung beziehungsweise Menschenabsentierung. Das Traumwesen fügt dem noch andere Verkehrsrichtungen an. So komplex ist das Verkehrsgeschehen, welches die Verkehrsstation Bett dem Schlafenden eröffnet. Dass 11 | Vgl. den Beitrag von Vilém Flusser über »Das Bett« in diesem Band. 12 | Vgl. dazu Walter Seitter: Geschichte der Nacht, Berlin, Bodenheim 1999, S. 201ff.
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es den Kranken und den Liebenden und dem Sterbenden weitere Verkehre ermöglicht, ist bekannt. Der medialen Multifunktionalität des Bettes kommt seine komplexe Medienphysik entgegen. Die Zweischichtigkeit, die es grundsätzlich mit dem Tisch und dem Stuhl teilt – ein Luftraum über einem mehr oder weniger harten Festkörper – ist bei ihm anders gestaltet als beim Tisch. Schon beim Stuhl kann der Stuhlkörper vor allem an der Sitzfläche eine Weichheit oder Elastizität annehmen, die sich gewissermaßen der partiellen Weichheit des Menschenkörpers anpasst. Beim Bett kommen auch noch mehrere weiche Körper (weiche Körper sind Festkörper, die in sich relativ lose gekoppelt sind) dazu, die mit dem Hauptkörper des Bettes mehr oder weniger lose und miteinander ziemlich lose gekoppelt sind. Zwischen die ziemlich feste Koppelung des Bettkörpers und die sehr lose Koppelung des Luftraums darüber ist eine vermittelnde Schicht halbloser Koppelung konvexer Elemente eingeschaltet, die in ihrem Zusammenspiel Konkavitäten ergeben, in die der Menschenkörper sich oder Teile seiner selber hineinstecken kann, so dass er zugedeckt oder eingegraben ist. Eine derartige Konkavität hat in gewissem Maße bereits den Stuhl gekennzeichnet, sofern einer seiner beiden rechtwinkligen Knicke konkav ist. Der Hauptkörper des Bettes weist konkave Knicke auf, sofern die Liegefläche von vertikalen Wänden umgeben ist und zu einer hohlen Truhe gemacht wird. Selbst wenn das nicht der Fall ist, bilden die weichen Zusatzkörper Konkavitäten, welche die vom Bett ermöglichte Menschenpräsentierung schon vor dem Schlaf und seiner radikalen, allerdings nur bewusstseinsmäßigen Menschenabsentierung in Richtung visueller Menschenverbergung durch Zudeckung (Selbstzudeckung) verschieben.13 Mit anderen Worten: Die Unterscheidung von Hardware und Software findet sich beim Bett schon seit jeher. Umso mehr fällt auf, dass Vilém Flusser in seinem genannten Aufsatz über das Bett der Gestalt und der Körperlichkeit des Bettes keine Zeile gewidmet hat. Während er am beliebig gewählten Beispiel des Tisches die Historizität und die Obsoleszenz aller Dinglichkeit darzutun versucht, verweigert er dem von ihm doch ernster genommenen Bett die physikalische Betrachtung, ohne seine Verweigerung im Geringsten zu thematisieren. Mit diesen beiden Aphysikalisierungstaktiken schließt sich Flusser einer heute beliebten Denkströmung an und kann doch ihre Inkonsistenz nicht verbergen.
IV. Z UR THEORE TISCHEN R ELE VANZ A LTER M EDIEN Die Medien, von denen ich eben gesprochen habe, sind Körper: Sie fallen unter die Kategorie der »Mittelkörper« und erheischen deswegen auch Körperanalyse beziehungsweise Physik. »Physik der Medien« ist eine Be13 | Die spezielle Physik des Bettes legt nicht nur den Gedanken an das Medium Kleidung, sondern auch an das Medium Verpackung nahe: Auch sie ein Medium von größter Tragweite, das von der Medientheorie gern ignoriert wird.
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trachtungsweise, die sich vom Gegenstand her nahelegt. In der bisherigen wissenschaftlichen Erkundung der Medien tritt sie denn auch an entscheidenden Punkten auf. So bei Aristoteles von Stageira im 4. Jahrhundert vor Christus, der die Materialität der Wahrnehmungsmedien auf die vier Elemente bezieht. Und bei Fritz Heider im 20. Jahrhundert nach Christus, dessen bereits genanntes Kriterium für die Materialität der Medien sachlich sehr wohl mit der antiken Elementenlehre verbunden ist: Denn die Elemente Erde, Wasser, Luft, Feuer (die man heute als Aggregatzustände bezeichnen würde) unterscheiden sich voneinander durch zunehmende lose Koppelung. Zunehmend lose Koppelung: Das ist in jenem 20. Jahrhundert, das vor allem in der Bildenden Kunst mit fanatischer Antimaterialismus-Rhetorik eingesetzt hat, allzu leicht mit Entmaterialisierung verwechselt worden. Meine kleine Physik des Bettes sollte zeigen, dass die Schichtung von Hartkörper und Weichkörper und Luftraum kein Aufstieg zum »Immateriellen« ist. Nun ist die Medienkunde erst seit wenigen Jahrzehnten ein wohl etabliertes und definiertes Gebiet. Den entscheidenden Anstoß dazu hat Marshall McLuhan gegeben. Bei ihm findet der physische Aspekt der Medien durchaus Beachtung – so etwa, wenn er die tragende Rolle der Elektrizität für die Elektronik betont.14 Wenn allerdings die Funktion der Medien als Menschenausdehnung bestimmt wird, wird die Physik der Physiologie untergeordnet. McLuhan schwankt so zwischen Sachlichkeit und Humannarzissmus. Aber er zeichnet diesem Schwanken dann damit eine Tendenz zur Sachlichkeit ein, dass er auf dem Studium sogenannter Alter Medien insistiert und damit der Neigung zum Aktualnarzissmus (Modernismus) ein Schnippchen schlägt. In seinen Ausführungen über die Straße – dass er die Straße als Medium behandelt, zeigt, dass meine Darlegungen über Tisch, Stuhl und Bett nicht völlig abseitig sind: Denn die Gemeinsamkeiten dieser Medien mit der Straße springen in die Augen – in seinen Ausführungen über die Straße also sagt McLuhan: »Wenn wir unsere älteren Medien – wie Straße oder Schrift – verstünden und wenn wir ihre menschlichen Wirkungen richtig einschätzten, dann könnten wir den elektronischen Faktor in unserem Leben reduzieren oder ihn gar daraus eliminieren.«15
Hier scheint McLuhan dem Verstehen alter – und immer noch aktueller – Medien eine geradezu revolutionäre oder vielmehr konterrevolutionäre Wirkung zusprechen zu wollen: das Überflüssigwerden oder das Vermeidenkönnen all der sogenannten Neuen Medien – als ob das anzustreben wäre. Sieht man etwas genauer zu, so kann man McLuhan kaum unter14 | Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extension of Man (1964), Cambridge/Mass., London 1994, S. 349. 15 | Ebd., S. 93.
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stellen, er wolle eigentlich als Verhinderer der Neuen Medien auftreten. Allerdings kann man ihn auch nicht einfach auf die Rolle des Propagandisten des Neuen festlegen, obwohl er auch mit dieser Rolle öfter spielt – und damit das Rollenverständnis so manchen cleveren Medienpropagandisten vorgebildet hat. Das rätselhaft-überschwängliche Plädoyer für das Studium Alter Medien zielt in die Richtung, die vom Haupttitel des Buches offen ausgesprochen wird: »Understanding Media«. Es richtet sich nicht gegen die Ankunft Neuer Medien, schon gar nicht will es eine gemütliche Welt, die nur aus Alten Medien besteht, wiederherstellen: Es ist nur ein Plädoyer für problematisierendes Verstehen.16 Dieses aber ist nicht möglich, wenn man sich bloß für irgendetwas – und seien es die Neuen Medien – begeistert und dafür Propaganda macht. Damit das Verstehen der Medien, dem strukturelle hermeneutische oder wenn man will psychische Hindernisse entgegenstehen, möglich wird, muss man verschiedene Wege einschlagen: Der von McLuhan eingeschlagene besteht in einer Komparatistik sehr unterschiedlicher und unterschiedlich alter Medien. Die Perspektive der Multimedialität wird von McLuhan auch noch auf andere Weise eingenommen. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Medien ist so eng, dass McLuhan bei der Behandlung des Geldes sagen kann: »Die wirkliche Aufgabe des Studiums dieses einen Mediums ist identisch mit derjenigen des Studiums aller Medien« – weil bestimmte Informationsübermittlungsfunktionen des Geldes inzwischen an Medien wie die Automatisierung oder die Wissenschaft übergegangen seien.17 Also intermediale Beziehungen der Ablösung. Eine andere von McLuhan hervorgehobene Form intermedialer Verbindungen auch zwischen Alten und Neuen Medien besteht darin, dass die einen Medien die anderen »enthalten«: »Der Inhalt der Schrift ist die Sprache, so wie die Schrift der Inhalt des Drucks ist, und der Druck ist der Inhalt des Telegrafen.«18 So viel zu den Druckwerken über die Abschaffung des Buches. Die Tisch-Stuhl-Komplementarität ist ein Beispiel für einen Medienverbund, den man – ebenso wie ähnliche und andere – speziell mit dem physikalischen Blick, der sich auf Körper richtet, erfasst. Wiederum andere Typen von Medienverbünden sind hierarchisch aus Medium und Submedium gebildete: etwa Haus-TürSchlüssel oder Kaufhaus-Verkäuferin-Geld. Meine »Physik der Medien« erweitert McLuhans Ansatz zur Erfassung von Multimedialitäten. Sie reduziert die Bedeutung der Physiologie und würde ihre Betrachtungsweise als Phänomenologie bezeichnen – wenn sie bei den klassischen Phänomenologen mehr exemplarische Vorbilder 16 | Damit ist allerdings nicht gesagt, dass es bei McLuhan nicht doch merkwürdige und noch weiter gehende Tendenzen zum Archaismus gibt – die aber durch solche zum Futurismus dynamisch kompensiert werden. Vgl. dazu Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen, Wien 1997, S. 193ff. 17 | Vgl. McLuhan 1994 (wie Anm. 14), S. 142. 18 | Ebd., S. 8.
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für ihre Untersuchungen fände. Vielleicht hat Niklas Luhmann, der den Medienphysiker Fritz Heider entdeckt hat, geahnt, wieso die Phänomenologie doch keine hinreichende methodische Herangehensweise definiert. Er nimmt an, dass auch das, was faktisch und ubiquitär der Fall ist, doch unwahrscheinlich sei: So auch das Funktionieren solcher Medien wie der genannten. Zu seiner Erfassung gehöre daher auch eine »contra-phänomenologische Anstrengung«19 . Bezieht man diese sogar auf die Phänomene, das heißt fasst man sogar die Phänomene als Probleme auf, so macht man Physik. Allerdings nur, solange die Problematisierung sich nicht – wie bei Flusser – zur Konsequenz der Annullierung hinreißen lässt. Die »Medienphysik« hält sich in einer zitternden und sozusagen inkonsequenten Spannung zwischen Betrachtung und Verfremdung. Diese Erkenntniseinstellung teilt sie mit der anderen deskriptiven Richtung der Medienkunde: der »Mediengeschichte«.20
V. M EDIENPHYSIK , M EDIENANTHROPOLOGIE UND B EGRIFFSPOLITIK Mein Plädoyer für das Ernstnehmen Alter Medien geht von einer Medienphysik aus, die gegenüber physiologischen, psychologischen, diskurstheoretischen und konstruktivistischen Ansätzen eine gewisse Skepsis walten lässt, sofern darin die Denkhaltung einer humanistischen Allmachtsphantasie zum Ausdruck kommt, welche den Medien keinerlei autonomes Sein und Wirken zugesteht. Wie sich diese Denkhaltung konkret auswirkt und zu welchen Erkenntnisausfällen sie führt, lässt sich gelegentlich bei McLuhan und noch viel häufiger und frappanter bei Flusser wahrnehmen. Etwa wenn dieser, wie schon angedeutet, in einem eigentlich dem Bett gewidmeten Text dem »Bett an sich« jede Aufmerksamkeit verweigert, sondern sofort zu den menschlichen – teils angenehmen, teils unangenehmen – Tätigkeiten und Zuständen, die wir im Bett zubringen, übergeht. Dabei handelt es sich unter anderem auch um hochbedeutsame oder hochdramatische Aktvitäten wie das Lieben oder das Sterben. Und von da aus erscheint es verständlich, wenn so ein niedriges und ruhiges Ding wie das Bett, das da immer nur »darunterliegt«, völlig vergessen wird. Verständlich ist es. Aber die Medientheorie ist gerade dazu da, derartige Verständlichkeiten und Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Sie ist dazu da, aus der Selbstverständlichkeit der menschlichen Selbstverliebt19 | Vgl. Niklas Luhmann: »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation«, in: Claus Pias u.a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 55-66, hier S. 56. Zu meinem Konzept von Physik sowie zur Analyse einiger Medien wie des Buches, des Weinglases und der Autobahn siehe Seitter 1997 (wie Anm. 16). 20 | So ein Zittern hatte Michel Foucault in der Archäologie des Wissens als Erkenntnishaltung der Diskursbeschreibung im Auge. Vgl. dazu Michel Foucault/ Walter Seitter: Das Spektrum der Genealogie, Bodenheim 1996, S. 90f., S. 105f.
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heit auszubrechen und die Aufmerksamkeit einmal anderen Dingen zuzuwenden. Zum Beispiel solchen stillen Dingen, wie es nun einmal Alte Medien sind. Es ist das eine Problematik, die weit über Medientheorie oder Medienwissenschaft hinausgeht. Wenn sich die menschlich-allzumenschlichen Selbstverliebtheiten auch in diesen Disziplinen niederschlagen und breitmachen, dann ist das allerdings besonders grotesk, weil sie sich da direkt als Erkenntnishindernisse auswirken. Diese Problematik ließe sich anhand einer philosophischen Frontstellung in Bezug auf den Stellenwert der Dinge klarmachen, wo auf der einen Seite die Kritiker der »Verdinglichung« und auf der anderen Seite nicht nur Martin Heidegger, sondern vor allem auch Helmuth Plessner ihre Plätze hätten. Sie ließe sich erörtern, indem man nachschauen würde, aus welchen Motiven heraus und mit welchen Erkenntniseffekten Michel Foucault seine »Humanismuskritik« formuliert hat. Sie lässt sich andeuten, indem man die Leitbegriffe unter die Lupe nimmt, mit denen die Medientheorie die »Medienfunktionen« bezeichnet. Auch wenn man unter Medien mehr oder weniger dingliche Realitäten – Zwischenstoffe, Mittelkörper – fasst, so qualifizieren die sich doch erst durch bestimmte Funktionen als Medien. Heute werden vor allem Information und Kommunikation als die Grundfunktionen der Medien angesehen. Der Begriff »Information« hat in einer rein theoretisch-physikalischen Bedeutung (Information als Gegenbegriff zu Entropie) zu den Auslösern der modernen Medientechnik gehört und ist zunächst deswegen zu einem Hauptbegriff der Medientheorie geworden. Allerdings konnte er in diese Rolle nur einrücken, weil er in der Alltagssprache auch eine andere Bedeutung hat, welche durch das Presse- und Funkwesen technisch perfektioniert und massenhaft wirksam geworden ist. In dieser Bedeutung heißt »jemanden informieren«: jemandem eine Wahrheit mitteilen, die für ihn nützlich ist. Das Substantiv »Information« bezeichnet eine Aussage oder eine Mitteilung, die erstens garantiert wahr ist und die zweitens von ihrem Adressaten grundsätzlich gebraucht oder gewünscht wird. Damit vereinigen sich in dem anscheinend nüchternen, um nicht zu sagen coolen Begriff mehrere hochrangige und hochwertige Leistungen beziehungsweise Ansprüche: das Informieren als eine philanthropische Leistung des Gebens, Helfens, Rettens; die Information als eine garantiert wahre Mitteilung (ist sie nämlich doch nicht wahr, so ist sie eben keine Information mehr) und schließlich eine supponierte Bedürfnis- oder Wunschsituation bei den Adressaten der Information. Die Konjunktur des Informationsbegriffs beruht auf einer raffinierten Begriffsstruktur, die hinter Bescheidenheit und Nüchternheit hochgesteckte Erwartungen und Verheißungen aufbaut. Bereits im 17. Jahrhundert sind ganz ausdrücklich hochgesteckte Ansprüche unter dem Begriff »Information« propagiert und durchgesetzt worden. Herzog Ernst der Fromme richtete in Sachsen-Gotha das sogenannte »Informationswerk« ein, in dessen Zuge die erwachsene Bevölkerung sonntags nachmittags in die Kirchen getrieben wurde, um dort Katechismus-Unterricht zu bekommen. Das war die Information, mit der die Leute beglückt werden sollten. Damit dieses Informationsunternehmen
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tatsächlich sichergestellt war, musste allerdings auch eine gegenläufige Informationsrichtung installiert werden: nämlich eine Berichterstattung über die erfolgreiche Teilnahme der einzelnen Menschen an diesem Unterricht. Der Begriff »Information« blieb allerdings derjenigen Unterrichtung vorbehalten, in der die Leute mit den für sie nützlichen Wahrheiten eingedeckt wurden.21 Gewissermaßen umgekehrt verlief die Karriere des Begriffs »Kommunikation«. Im 17. Jahrhundert bezeichnete man damit so nüchterne Sachverhalte wie das Straßen- und Kanal- und Postsystem. Mit dem Presse- und Funkwesen stiegen die technischen Leistungen, die Zahl und die Dichte der sogenannten »Massenkommunikation«. Heute assoziiert man mit dem Begriff die Erwartung höchster und unabsehbarer technologischer Fortschritte auf dem Gebiet des Transport- und Nachrichtenwesens. Und gleichzeitig verbindet man mit ihm eine vage aber tiefe Sehnsucht nach unmittelbarer emotionaler Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft: erotische bis religiöse Wünsche und Wunscherfüllungen. Der Begriff »Kommunikation« schließt fugenlos an die Erwartungen, die vom Begriff »Information« geweckt werden, an und steigert sie sowohl in Richtung Hightech wie auch in Richtung Liebe. Die Politik, die mit dieser begrifflichen Doppelstrategie gemacht wird, ist eine Politik der Faszination und der Irreführung. Es werden Allmachtsphantasien kultiviert und Allwissenheitsverheißungen verkündet – etwa mit der Rede von der Informations- oder Wissensgesellschaft. Vor allem mit der Kommunikation wird auch das anthropologische Bedürfnis abgedeckt: eine Anthropologie der Kommunikationsverheißung, des Kommunikationszwanges – und der Exkommunikation. Denn: Wer bei unserer Kommunikation nicht mitmacht, wer sich unserem kommunikativen Fortschritt verweigert, bleibt hinten, bleibt draußen.22 Die Medienphysik versucht eine andere Begriffspolitik, indem sie die Funktionen der Medien konsequent nüchtern und sachlich und vielleicht sogar trivial benennt. Als Leistungen des Transports, des Verkehrs, des Präsentierens in allen seinen Versionen – allerdings auch als Leistungen, in die unvermeidlicherweise Verstellungen, Verdeckungen und Absentierungen eingehen. Ihre Funktionsanalysen verbindet sie mit der Beschreibung der mehr oder weniger dinglichen Medien. Trotzdem und gerade damit will die Medienphysik auch Medienanthropologie sein, will sie anthropologische Aussagen machen. Denn sie ist ja keine Physik, der es um die Natur als solche geht. Sie ist eine Physik von Stoffen und Dingen, die für die Men21 | Vgl. dazu Seitter 1985 (wie Anm. 9), S. 104ff. 22 | In der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas ist die Drohung der Exkommunikation deutlich spürbar. Bei kleineren Lichtern der sogenannten Kommunikationstheorie steht exkommunikatives Agieren auf der Tagesordnung. Allerdings möchte ich mit diesen Bemerkungen die Begriffe Kommunikation und Information nicht ein für alle Mal ausschließen. Es geht mir hier um den Hinweis auf fragwürdige Tendenzen, die zum Profil dieser Begriffe gehören. Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1981.
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schen bestimmte Leistungen beziehungsweise Hilfestellung für bestimmte Leistungen erbringen. Deswegen greift sie direkt in die Anthropologie ein, wobei sie die Anthropologie zwingt, auch extrahumane Faktoren – sei es naturhafter, sei es artifizieller Art – einzubeziehen. Anstatt Allmachtsphantasien zu stützen, wird die Anthropologie, die in der Medienphysik liegt, Machtsteigerungen, aber auch Machtteilungen thematisieren.
VI. M EDIOLOGIE , M EDIOGR APHIE Meine Behauptung, dass eine Medienanthropologie, welche die Medienphysik in sich aufnimmt beziehungsweise sich von ihr beeindrucken lässt, eine andere ist als eine Medienanthropologie, die sich von Faszinationsbegriffen wie »Information« oder »Kommunikation« führen lässt, möchte ich schließlich noch dadurch verständlicher zu machen suchen, indem ich eine andere, eine rein methodische Unterscheidung einführe. Ich habe oben gesagt, dass die Medienphysik und die Mediengeschichte deskriptive Betrachtungsweisen sind: Sie beschreiben und vergleichen und erzählen. Damit analysieren sie – und zu theoretischen Aussagen im eigentlichen Sinn schwingen sie sich nur vorsichtig und gelegentlich auf. Indem sie so vorgehen, stellen sie einen Gemeinplatz in Frage, wonach Wissenschaft immer mit theoretischen Vorgaben und Voraussetzungen anhebt. In gewissem Sinn trifft dies zwar zu. Man muss aber nicht die Schlussfolgerung daraus ziehen, dass man daher munter »drauflostheoretisieren« dürfe oder gar müsse, das heißt eindrucksvolle und faszinierende Gesamterklärungen vorlegen müsse. Wohl soll man die eigenen theoretischen Voraussetzungen formulieren und diskutieren. Aber die Hauptarbeit der Wissenschaft sollte wohl doch darin bestehen, auch noch andere Tatsachen als diese Voraussetzungen zu formulieren. Nämlich solche Tatsachen, die direkt mit den Sachen zu tun haben: Wahrnehmungen der Sachen. Solche Tatsachen formulieren heißt zuvörderst beschreiben. Beschreiben heißt: sagen, was man sieht. In den meisten Wissenschaftsbereichen gibt es beschreibende Disziplinen oder Subdisziplinen. Und seit alters her gibt es in der Wissenschafts-Nomenklatur ein Suffix, das die mehr theoretische Ausrichtung bezeichnet, und ein Suffix, das die mehr empirische oder deskriptive Ausrichtung bezeichnet. Derjenige, der für die Medienkunde überhaupt einen Ausdruck erfunden hat, welcher das für theoretische Ausrichtung bezeichnende Suffix verwendet – nämlich »Mediologie«, hat alsbald auch die Bezeichnung »Mediographie« erfunden, die die empirische oder deskriptive Vorgehensweise anzeigt. Und zwar deswegen, weil sein Wissenschaftsprogramm von vornherein vom Vorrang des Deskriptiven geprägt war. Régis Debray: »Man sollte von Mediographie sprechen – um exakt zu sein.«23 23 | Régis Debray: Cours de médiologie générale, Paris 1991, S. 21. Vgl. auch Yves Jeanneret: »La médiographie à la croisée des chemins«, in: Les cahiers de médiologie, Nr. 6: Pourquoi des médiologues?, Paris 1998, S. 93-104.
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Bei dieser Rede von »Mediographie« handelt es sich nicht bloß um ein Postulat oder ein Programm. Die »Cahiers de médiologie« haben bereits ausführliche mediographische Sammelbände zu solchen – zum Teil bisher völlig vernachlässigten – Medien wie zur Straße, zum Papier, zum Fahrrad, zum Monument herausgebracht.24 Es ist das eine Forschungslinie, die sich ungefähr gleichzeitig mit meiner »Physik der Medien« formiert hat – so dass diese nicht ganz allein bleibt.
Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: Anette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien – Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 177-192 und fasst Teile von Walter Seitters Buch Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar 2002 zusammen.
24 | Les cahiers de médiologie, Nr. 2: Qu’est-ce qu’une route?, Paris 1996; Les cahiers de médiologie, Nr. 4: Pouvoirs du papier, Paris 1997; Les cahiers de médiologie, Nr. 5: La bicyclette, Paris 1998; Les cahiers de médiologie, Nr. 6: L’abus monumental, Paris 1998.
Thronen als Denken und Meditieren Die Medialität von Thron und Stuhl Hajo Eickhoff
I. D ER K ÖNIG AUF DEM THRON ALS M EDIUM Der König ist eine archaische Gestalt, die einer Gemeinschaft Struktur gibt – Mitte, Richtung und Wert. Er gilt als unantastbar und ist mächtig und Einheit stiftend. Er kann der geistige Führer einer Gemeinschaft – eines Stammes, eines Reichs oder einer Nation – sein oder ein religiöses Oberhaupt, ein politischer Herrscher oder Heerführer. Der Thron ist ein archaisches Objekt, das Struktur schafft. Ein Gestell, das den König an einen Ort bindet. Eine Besonderheit bietet der Thron der Sesshaften: Er hat eine unterschenkelhohe Sitzebene, die den Thronenden in eine aufrechte Sitzhaltung zwingt. Der Thron wird somit ein wichtiges Kommunikationselement einer Gemeinschaft. Er macht eine Hierarchie anschaulich – eine heilige Ordnung von oben und unten, von göttlich und menschlich, von Ohnmacht und Macht. König und Thron repräsentieren jeder für sich Struktur und Einheit. Doch erst ihre Kombination zum König auf dem Thron entfaltet den ganzen Reichtum an Wirkungen und Bedeutungen – der König auf dem Thron ist ein Zeichen für Erhabenheit und Autorität sowie ein Symbol, das Himmel und Erde verbindet. Zugleich ist der Thron ein Werkzeug, das den Thronenden geistig und leiblich prägt. In der aufrechten Haltung des Sitzens und der begrenzten Physis bildet der König geistige Fähigkeiten aus, die er für die Gemeinschaft zu nutzen hat. Das macht den Thron mit unterschenkelhoher Sitzebene zum Medium, das zugleich die ordnenden Fertigkeiten prägt, die es repräsentiert. Daher gründen die Attribute des Königs nicht allein in seiner Macht und Stärke, sondern gleichermaßen in seiner Ohnmacht. Denn er setzt sich nicht freiwillig, sondern wird gesetzt. Zur physischen Einschränkung kommen verletzende Thronriten hinzu, die aus nahezu allen Weltgegenden überliefert sind. Am Vorabend der Inthronisation wird er beschimpft und geschlagen, gedemütigt, gequält und verletzt, so dass er nicht selten verkrüppelt auf den Thron kommt oder seinen Verletzungen erliegt. Es gibt Könige, die unbewegt, wie versteinert, auf dem Thron sitzen müssen, während andere den Thron überhaupt nicht verlassen dürfen. Im Bengalen des 15. Jahrhunderts ist derjenige König, der auf dem Thron sitzt. Gleichgül-
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tig, wer er ist, woher er kommt und wie er auf den Thron gelangt. Die Assyrer halten oft einen Ersatzmann bereit für den König, der für Handlungen der Untertanen mit dem Tod bestraft werden kann. Im Falle des Todes folgt der Ersatzmann auf den Thron, hinter dem wieder ein Ersatzmann wartet. Immer dann, wenn das reibungslose Funktionieren einer Gemeinschaft im Vordergrund steht, darf der König getötet werden. Bei einigen Stämmen Äquatorial-Afrikas war es Brauch, den gewählten König auf dem Thron zu fesseln, den Thron in den Busch zu schleppen und mit einem Fußtritt umzustoßen. In der Position regiert der König seine Gemeinschaft. Begriffe für den König beziehen sich ungeachtet dessen auf Merkmale von Macht, Größe und einer Position in der Höhe. Er heißt Hoheit und Herrscher, Gebieter, Häuptling und Potentat, Machthaber, Oberhaupt und Souverän, ebenso Mikado (großes Tor), Tenno (himmlischer Herrscher), Majestät (Erhabenster), Monarch (Alleinherrscher), Kaiser und Zar (Cäsar) und Pharao (großes Haus). Doch erst mit der dunklen Seite des Throns, dem Opfer, erhält die Bedeutung des thronenden Königs eine Richtung – Medium zu sein, das den Thronenden geistige Fertigkeiten einschreibt und Menschen und Götter verbindet. Medium bedeutet nicht nur Vermittlung, sondern durch den Bezug zu seinem Grundwort Mal auch abmessen und einüben, wägen und nachdenken als erwägen. Mal geht auf med zurück, von dem sich die lateinischen Worte metiri (abmessen) und meditari (einüben, meditieren, nachdenken) herleiten. Der Medikus (Arzt) ist der weise, abwägende Ratgeber. Abmessen und abgemessener Ort, Denken und das sinnende Betrachten als Meditieren sind zentrale Bedeutungen von Medium.
II. THRONGRÜNDE Der König auf dem Thron bildet ein zweiteiliges Medium. Er moderiert, kommuniziert, tritt dazwischen, korrigiert und macht anschaulich. Er prägt und wird selbst geprägt. Der thronende König ist die Imitation einer Skulptur: Sie stammt aus dem südanatolischen Çatal Hüyük aus der Zeit um 5750 vor Christus, wurde in einem Getreidesilo gefunden und ist die Thronskulptur einer weiblichen Gottheit, die in Hockhaltung gebärt und von zwei Löwen flankiert wird (Abb. 1). Die Schweife der Tiere sind von hinten über die Schultern der Göttin gelegt. Die Gottheit hockt, erscheint aber als Sitzende, da die Fülle ihrer Beckenpartie den Raum zwischen den Löwen bis zum Boden ausfüllt. Ihre aufrechte Haltung ist zum Vorbild von Königen geworden (Abb. 2) – zum Thronen mit waagerechten Oberschenkeln, aufgerichtetem Rumpf und vertikal gestellten Unterschenkeln. Die altägyptischen Thronsessel weisen genau diese Elemente auf: Die Löwenbeine dienen als Thronbeine, Löwenkopf und Löwenrücken als Armlehnen, die über die Schultern gelegten Schweife als Rückenlehne, Schenkel und Schoß der Göttin als Sitzbrett (Abb. 3). Dieses Bild leiblichen Gebärens durch eine starke Frau wird zum Vorbild für die spezielle Art einer geistigrationalen Schöpferkraft.
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Abbildung 1: Statuette der gebärenden Gottheit aus Çatal Hüyük (heutige Türkei), 5750 v. Chr. (Nachbau). Terrakotta, Höhe 16,5 cm. Museum für Anatolische Zivilisationen, Ankara
Abbildung 2: Statuette des sitzenden Goudea von Lagasch (im heutigen Irak), 2120 v. Chr. Diorit, 23 x 47 x 32 cm. Louvre, Paris
Der Thron selbst geht aus dem Opferstein hervor. Dem zentralen Abschnitt eines geweihten Bezirks, auf dem archaische Gemeinschaften zur Besänftigung himmlischer Mächte Menschen opferten. Mit der Idee, anstelle des Menschen ein Tier zu töten, zerfällt der Opferstein in zwei Elemente: in den Opferstuhl und in den Opfertisch. Erhöht (alta) wird der Tisch (ara) zum Altar, die Basis für das Opfertier, der Opferstuhl wird der Thron. Auf dem Thron bleibt der auf dem Opferstein einst dem Tod Geweihte am Leben – sein Opfer liegt in der Begrenzung und Untätigkeit infolge des Sitzens. Der Gewinn, den eine Gemeinschaft aus der Tötung eines Menschen zieht, währt nur eine begrenzte Zeit, doch im thronenden König, dem die Ruhigstellung und Sitzhaltung spirituelle Fähigkeiten verleiht, verfügt eine Gemeinschaft über ein permanentes Opfer. Der mit aufrechtem Rücken thronende König ist ein Kultur schaffendes Medium, eine vermittelnde Instanz zwischen Menschen und Göttern, die in der Zeit der Sesshaftwerdung, der Domestikation, erdacht wird. Domestikation ist die Bindung an das Haus, den Domus, und bedeutet Ackerbau und Bezähmung von Tier und Mensch. Mit dem Hausbau trennt der Mensch einen Teil aus dem Kosmos heraus und separiert sich von den himmlischen Mächten, indem er einen eigenen kleinen Kosmos schafft, der ihm ein Stück Autonomie gibt. Um den damit verbundenen Frevel zu mildern, wird der Thron mit unterschenkelhoher Sitzebene erfunden, denn die Gemeinschaft ahnt, dass der gesetzte König nur überleben kann, wenn er sich nach innen wendet und in sich eine geistige Landschaft ausbildet, in die hinein er seine Energie verausgaben kann, denn im Thronen wird über die Musku-
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latur und die Atmung eine Vergeistigung eingeleitet, die der Gemeinschaft den Zugang zum Himmel öffnet, den Dach und Wände des Hauses mit der Sesshaftwerdung verschlossen haben. So wird der thronende König zum spirituellen, geistigen Oberhaupt und zum Medium infolge der Sedierung oder kulturellen Formung infolge des Sitzens. In der Setzung wird er zum Wissenden, da er um die eigenen inneren Regungen und Motive weiß und einfühlend auch um die der anderen Stammesmitglieder, was ihn zu einem Weisen und frühen Psychologen und Therapeuten macht. Die dreifach gegliederte Thronentstehung aus Opferstein, Skulptur und Hausbau ist ein einziger Vorgang, der auf die Ambivalenz von Thron und Thronendem verweist: Sie sind gefährlich und mythenbildend, unberührbar und konstruktiv. Als beispielhaft für die Bedeutung von Thron und König erweisen sich altägyptische Könige – die Pharaonen.
III. D IE P HAR AONEN Die Ägypter zählen zu den Hockvölkern, ihre Herrscher aber ruhten in Sitzhaltung auf dem Thron. Aus dieser Differenz thronender Herrscher und hockender Untertanen haben Ethnologen eine falsche, aber aufschlussreiche Folgerung gezogen. Da die Ägypter hocken, hätte auch ihren Herrschern das Hocken vertraut und angenehm sein müssen. Da sie aber saßen, seien sie Angehörige eines fremden Volkes gewesen. Tatsächlich waren Pharaonen Ägypter, aber die falsche Folgerung macht auf die Besonderheit der Sitzhaltung des Thronens aufmerksam und wirft die Frage auf, warum Herrscher, denen das Sitzen weder natürlich noch bequem war, überhaupt thronten. Was bei ägyptischen Herrschern sichtbar wird, sind sowohl Luxus und Machtfülle als auch ein streng und diszipliniert geführtes Leben. Die Fülle ihrer Macht erhalten sie mit der Einsetzung in den Thron, in dem sie auch ihre Ohnmacht erfahren müssen. Ebenso wird deutlich, wie tief König und Thron in die Weltentstehungs-Mythen und die Prinzipien der Entstehung der Gemeinschaft eingebunden sind. Für seine thronende Herrschaft bedarf der Thronerbe einer zweifachen Legitimation. Er muss den Nachweis erbringen, dass er einem Königshaus entstammt und dass eine Gottheit ihn in sein Amt berufen wird. Erst dann wird er mit der mythischen Legitimationsformel »Ich habe dir den Doppelthron deines Vaters Osiris gegeben« auf den Thron gesetzt. Dabei wird er zweifach gesetzt, denn er gilt als der zweifache Sohn seines Vorgängers: Er ist der leibliche Sohn des verstorbenen, königlichen Vaters, und wird zugleich dadurch, dass der Vater durch den Tod zum allmächtigen Gott Osiris wird, auch zum Sohn dieses Gottes, zu Horus – dem Herrschergott auf Erden in Gestalt eines Falken. In dieser Weise verbindet der Thron des Pharao das irdische Königtum mit dem Göttlichen. Der thronende Pharao selbst ist das verkörperte Bindeglied zwischen Gegenwart und dem Uranfang aller Schöpfung. Indem das Königtum an legitime Nachfolger weitergegeben wird, zeigt sich in der dynastischen Verbindungslinie vom Ursprung der Welt durch den Schöpfergott und die Fortsetzung der Schöpfung in der Throneinsetzung
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das Mediale thronender Pharaonen. Die Vorbereitung auf die Krönung ist ein langer und beschwerlicher Weg der Initiation. Zunächst muss er durch das Land ziehen und auf hohen Festen und bei Mysterienspielen von den Gaufürsten und Gottheiten des Landes die Zustimmung einholen, Pharao werden zu dürfen. Zum Abschluss des Initiationsweges nimmt er in Memphis, der Stadt zwischen Ober- und Unterägypten, mit einem Lauf um die Tempelmauer symbolisch beide Länder in Besitz und vereinigt sie sinnbildlich zu einem Reich, indem er sich auf zwei Thronsesseln niederlässt, dem Thron für Oberägypten und dem Thron für das untere Ägypten. Am Vorabend seiner Krönung richtet er mit Hilfe von Priestern einen Pfeiler auf. Dieser Djed genannte, schlanke, etwa fünf Meter hohe Pfosten ist ein Symbol für den Totengott Osiris und seine Beständigkeit, und die Aufrichtung des Djed ein Gleichnis für die Auferstehung des Osiris aus dem Totenreich. Am Tag der Krönung wird der Thronerbe – in einer Sänfte thronend – in einer Prozession zum Amun-Tempel getragen. Als Verkörperung der Götter tragen die Priester eindrucksvolle, bedrohlich wirkende Kopfmasken und führen den künftigen Herrscher an den heiligsten Ort im Innern des Tempels. Die Weihe erfolgt, indem der als Gott Amun verkleidete Priester seine Arme wie die Armlehnen des Throns oder die Schwingen des Falken Horus vom Rücken her an die Schultern des Thronfolgers anlegt und ihn von hinten in sein Amt beruft. Danach wird er eingekleidet und erhält Krummstab und Königsgeißel. Dann wird ihm die Doppelkrone aufgesetzt – die rote Krone für das untere, die weiße für das obere Ägypten. Den Glanzpunkt der Zeremonie bildet die Einsetzung in den Doppelthron – die Inthronisierung. Der Thronerbe setzt sich auf den Thron und empfängt alle Insignien der Macht, die ihn zum rechtmäßigen König Ägyptens machen, zum neuen Pharao. Nach dem feierlichen Geloben, die göttlich geschaffene Ordnung zu wahren, geleiten Hofstaat und Volk den nun mächtigen Herrscher in einer glanzvollen Prozession mit Tanz und Musik und unter dem Jubel und nicht endenden Lobeshymnen zurück in den Königspalast. Auf dem Weg muss er einen ersten Beweis seiner Diszipliniertheit geben: Inmitten der Erregung, der tosenden Fröhlichkeit, der rhythmischen Musik und der großen Bewegtheit muss er seine mediale Aufgabe antreten und unbewegt – wie versteinert – auf dem Thron sitzen und wie Osiris die Hände mit Zepter und Geißel gekreuzt vor der Brust fest gegeneinandergepresst halten. Dieses erste Zeugnis seiner inneren Beherrschung ist der Beginn seines Kampfes gegen das Chaos und gegen die Verlockung der Sinne, und ein Bild, das offenbaren soll, dass der neue Pharao die Kraft hat, Sinneslust und alltägliche Gewohnheiten in sich zu unterdrücken. Wie mit dem täglichen Aufgehen der Sonne die Welt in ihre Schöpfung gesetzt wird, so sehen die Ägypter in der Einsetzung des Pharao in den Thron eine Staatsgründung. Von Amenophis II. heißt es, dass er im Moment des Sonnenaufgangs zum ersten Mal den Thron besteigt und die Einweihungsriten vollziehen lässt. Dagegen bricht mit der täglich im Westen untergehenden Sonne das Chaos in die Welt, als wäre ein Pharao gestorben und sein Thron verwaist. Fehlt das Medium »Thron«, drohen der Welt Instabilität und Chaos.
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IV. P HAR AONENTHRONE Die Pharaonen sitzen auf Löwenthron-Sesseln – auf Imitationen der Skulptur der gebärenden Gottheit, vierbeinigen Stühlen mit Armlehnen, deren Seitenansicht das Bild eines Löwen wiedergibt. Die als Löwenbeine gestalteten Thronbeine stehen auf kleinen Holzstümpfen, den Darstellungen des Benben-Steins oder Schöpfungshügels. Da die Ägypter die Entstehung der Welt mit der periodisch wiederkehrenden Nilüberschwemmung mythisch gleichsetzen, wird der Pharao, der auf dem imaginären Benben-Stein thront, zum Zeugen der Urschöpfung und zum Bild des Schöpfers selbst. Die in die Seitenkonstruktion des Sitzes eingearbeiteten Löwen sind Begleiter des Königs und verweisen auf die Parallele von Tier- und Menschenwelt, von Natur und Kultur sowie irdischer und himmlischer Welt. Im Alten Reich, vereinzelt auch später, gibt es Throne mit acht Beinen, die den Eindruck verstärken, dass zwei mächtige Tiere neben dem Thron stehen oder gehen. Der Löwe ist schnell, ausdauernd und stark, eben der König der Tiere: Vom Pharao, dem König der Menschen, soll man dasselbe sagen können. Es kommt dabei nicht auf seine individuellen Qualitäten an – er muss nicht über leibliche Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit verfügen –, es genügt, das Bild dieser Qualitäten zu sein. Vom Moment der Urschöpfung an bis in die Gegenwart sitzt das Geschlecht der Pharaonen auf dem Löwenthron-Sessel, der Erinnerungen an die Vergangenheit wachruft und mit der Gegenwart des herrschenden und regierenden Pharao verbindet. Er ist das Bild staatlicher Gewalt und Herrschaft, gibt seinen Untertanen aber auch Gesetze und Regeln, nach denen sie sich in der Gemeinschaft zu verhalten haben. Der Löwenthron-Sessel ist ein Medium des Politischen. Drei Ausnahmen erfährt die Gestaltung des Löwenthron-Sessels: In der Zeit der politischen Schwächung des Königtums gibt es neben dem Löwenthron-Sessel auch Löwenthron-Stühle – Sitze ohne Armlehnen und Löwenköpfe. Trotz ihres Namens sind sie keine Throne, da es ihnen an dem mächtigen Zeichen des Löwenkopfes fehlt und sie den Schrecken vermissen lassen. Für kurze Zeit gelten sie als Amtssymbol. Wenn eine Pharaonin regiert, kann der Thron anstelle der Löwenköpfe mit den Porträtköpfen der Königin gestaltet sein, so dass sie sich, auf dem Thron sitzend, in Gestalt von Sphingen selbst flankiert. Pharaoninnen gelangen auf den Thron, wenn der männliche Nachfolger nicht feststeht oder unmündig ist – wie im Fall von Nofrusobek, Hatschepsut und Tausret. Unter den mehr als dreihundert Pharaonen gibt es weniger als zehn Frauen. Während Hatschepsut dargestellt wird wie ein männlicher Herrscher, etwa indem sie mit Ritualbart abgebildet wird, ist Tausret die erste Pharaonin, die ihr Geschlecht zum Ausdruck bringt. Amenophis IV. (Echnaton) hat in seiner Regierungszeit die Tradition der Thronform verlassen. Mit einer neuen Religion führt er auch einen neuen Thron ein: einen armlehnlosen, einfachen Thronhocker mit einem Kissen auf niederer Sitzebene. Eine zweite Thronart der Ägypter ist der Blockthron (Abb. 4). Ein reales und doch imaginäres Objekt, das nicht dazu bestimmt ist, einem Pharao als Sitz zu dienen, sondern Götter in Form von Sitzstatuen abzubilden. Ein
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einfacher Steinblock, auf dem ein menschengestaltiges Wesen in aufrechter Haltung ruht. Diese Throne sind als würfelförmige Kästen gedacht und stehen auf einem Sockel, vergleichbar den Holzstümpfen unter dem Löwenthron-Sessel, dem Verweis auf den Benben-Stein. Blockthrone unterscheiden sich voneinander durch die Gestaltung der Seitenflächen, die in der Regel ein Quadrat bilden, in das ein Vereinigungszeichen oder eine Tempelfassade eingeschrieben ist. Das Vereinigungszeichen bezieht sich auf die Vereinigung von Ober- und Unterägypten zu einem Reich und soll aus dem zeitlichen Ereignis der Staatsgründung ein überzeitliches, mythisches Geschehen machen. Die ägyptischen Worte für den Blockthron bedeuten Heiliger Bezirk und Tempel. Da Pharaonen nach dem Tode zum Gott Osiris werden, ist jede Gestalt auf einem Blockthron entweder ein ägyptischer Gott oder ein zu Osiris gewordener – verstorbener – Pharao.
Abbildung 3: Thronsessel des Pharao Tutanchamun, 1347-1338 v. Chr. Holz (vergoldet), Einlagen aus Silber, Halbedelsteinen und Glaspaste. Ägyptisches Museum, Kairo
Abbildung 4: Blockthron des Sesostris III., 1850 v. Chr. Schwarzer Granit, Höhe 55 cm. Brooklyn Museum, New York
Der Thronsockel als Bild des Benben-Steins, das Vereinigungszeichen als Zeichen der durch Götter geweihten Staatsgründung und die Tempelfassade als Symbol des Gottes Horus heben den Blockthron in den Rang eines heiligen Zeichens und machen die Skulptur zu einem Götterthron, dessen Gestalt und Bedeutung eng an den Nil und seine jährliche Überschwemmung sowie an die Kosmogonie gebunden sind. Der Blockthron ist ein Medium des Religiösen. Die jährliche Nilüberschwemmung hat die Anschauungen der Ägypter vom Ursprung der Welt und vom Königtum geprägt. Wie nach einer Überschwemmung das zurückweichende Wasser inselartig erste Landflecken freigibt, so taucht am Anfang aller Dinge die Welt allmäh-
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lich und inselartig aus dem noch nicht geschiedenen Urgewässer auf. Der erste sichtbar werdende Hügel ist der Urhügel, der Benben, der den ersten Flecken betretbarer Erde bedeutet. Er symbolisiert den Weltanfang, von dem aus der Schöpfergott Atum auf dem Thron sitzend die Welt vollendet. Dagegen ist der thronende Osiris zwar das Bild der Urschöpfung, vor allem aber das Bild vom zyklischen Vergehen, von Wandlung und Zerrissenheit, von Tod und Geburt. Das Medium, das den Kreislauf des kosmischen Werdens und Vergehens mit dem weltlichen Leben und Sterben synchronisiert. Er muss sterben, um mit erhöhter Lebenskraft aufzuerstehen. Er stirbt mit der welkenden Natur in den Fluten des ansteigenden Nils und wird dem Mythos zufolge liegend mumifiziert. Wenn er aufersteht, setzt er sich, in Mumienbinden gehüllt, auf den Götterthron. Er hält Gericht über die Toten und lässt die Natur neu erblühen. Mit ihm verbanden die Ägypter Ordnung und Disziplin, und in ihm wollten sie anschaulich erfahren, dass die Kraft seines Thronens immer wirksam werden kann an der Grenze von Chaos und Ordnung und im Übergang von der Nilüberschwemmung zur Fruchtbarkeit des Landes, denn er gilt als derjenige, der die Wildheit Ägyptens zähmte, die Ägypter sesshaft machte, ihnen den Pflug, Feldarbeit und Gesetze gab und sie zur Gesittung führte. Löwenthron-Sessel und Blockthron bilden eine komplementäre Struktur: Gemeinsam stecken sie die Räume des Politischen und Religiösen ab – die Fundamente einer jeden Gemeinschaft und Kultur. Die Throne der Ägypter sind Insignien der Macht, politische und religiöse Ideale – nicht individuelle und private Privilegien und Allüren. Das Bewahren der religiösen Thronriten sowie die Regelung der staatlichen Gewalt obliegen der Kaste der Priester, die die Pharaonen legitimieren und sie in den Thron einsetzen. Wird durch den Tod eines Pharao die göttliche Stellvertretung auf Erden aufgehoben, bricht das Chaos in die Welt. Deshalb lassen die Priester nach der Krönung des neuen Pharao Tauben auffliegen, die der Welt verkünden sollen, dass in Ägypten wieder ein Horus auf dem Thron der Lebenden sitzt, der dem Land Ordnung und Stabilität gibt.
V. D IE MEDIALE W ENDUNG DES THRONS ZUM S TUHL Im Alltag der Antike spielen Stühle keine Rolle. Heutige Stühle sind Alltagsstühle, die sich vom Löwenthron-Sessel der Ägypter herleiten. Aus Griechenland sind Sitze von der Vasenmalerei bekannt, erhalten jedoch sind nur Theaterbänke aus Stein. Im antiken Rom gibt es Senatorensitze und den Kaiserthron, die Sella curulis, den die Christen dann zum Heiligen Stuhl, dem Papstthron oder Sancta sedes machen (Abb. 5 u. 6). Zuerst also thronen Pharaonen und andere Könige. Später auch Vertreter des Hochadels wie Fürsten und Heerführer. Mit der institutionellen Trennung der politischen und religiösen Aufgaben im Rahmen der Christenheit erhalten klerikale Vertreter wie Päpste, Kardinäle und Bischöfe einen Thron. Im 10. Jahrhundert übernehmen Mönche die geweihte Haltung des Thronens und entwickeln das Chorgestühl, denn nach der Ordensregel des Benedikt sol-
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len sie an einem begrenzten Ort knien, stehen, sitzen und stehsitzen. Nach der quantitativen Ausweitung des Thronens durch die Klöster erhalten Vorsteher der Zünfte und Gilden, wohlhabende Kaufleute und einflussreiche Regierungsherren der Rathäuser Anrecht auf einen Sitz innerhalb des Kirchenraumes, das den Übergang vom Thron zum Stuhl einleitet.
Abbildung 5: Sella Curulis, Frankreich, Ende 14. Jahrhundert. Kathedrale von Bayeux
Abbildung 6: Sitzender Christus, 350-375. Marmor, Höhe 72 cm, Museo Nazionale Romano – Palazzo Massimo alle Terme, Rom
Das Stuhlsitzen im Alltag ist eine Erfindung Europas: Das europäische Bürgertum des 15. Jahrhunderts wandelt den geweihten Königsthron in ein nicht geweihtes, profanes Objekt – in den Alltagsstuhl. Zuerst ist er ein Objekt der bürgerlichen Oberschicht, doch nach und nach erkämpfen alle sozialen Schichten das Sitzrecht, bis in einer dreihundert Jahre währenden Auseinandersetzung jeder Bürger das Recht auf einen Stuhl erhält: Das Sitzprivileg fällt in der Französischen Revolution. Die Entwicklung vom Königsthron über den Papstthron und das Chorgestühl zum bürgerlichen Alltagsstuhl ist die Demokratisierung eines Königsprinzips. Der Stuhl behält dabei die mediale Funktion des Throns. Der Clou bürgerlichen Sitzens ist die Kombination des Stuhls mit dem Tisch. Gemeinsam mit dem Sitzenden bilden sie eine Einheit (Abb. 7) – eine hocheffiziente Arbeitsbasis und mächtige Produktivkraft, die den Tisch zum Mittelpunkt des Hauses, der Familie und der beruflichen Tätigkeit macht. Der Tisch ist die fruchtbare Ebene, der moderne Acker und das Zentrum der bürgerlichen Kommunikation. Auf ihm streuen die Bürger die Saat von Wissen und Technik, von Können und Technologie aus und machen den Tisch zum Knotenpunkt eines umfassenden Netzes. Um die in Tischen und Stühen liegende Kraft zu optimieren, wird das Sitzen am Tisch früh eingeübt – eine Aufgabe, der sich die Schule widmet, damit Kinder allmählich in den Stuhl hineinwachsen und lernen, sich zu begrenzen, indem sie das Ausblen-
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den der Sinnesreize trainieren, die Lernprozesse stören, bis sie den Umgang mit abstrakten Gedanken und logischen Operationen beherrschen. Seit der Neuzeit bilden Tisch und Stuhl – wie beim archaischen Opferstein – wieder eine zupackende Einheit, die sich in die Körper einschreibt. Gesucht wird infolge der gesellschaftlichen Akzeptanz des Sitzens und seines symbolischen Gehalts zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach einem Sitz, der jedem Bürger ermöglicht, einen Stuhl zu erwerben. Bis dahin sind Stühle Luxusobjekte: Imitationen meist antiker Throne, gefertigt aus edlen Materialien in hochwertiger Handarbeit. Finden wird diesen Sitz schließlich der rheinländische Kunsttischler Michael Thonet, der nach aufwendigen Experimenten ein neues Fertigungsverfahren, die Bugholztechnik – das Biegen von Buchenholz – entwickelt und im Jahr 1859 mit dem Verfahren einen Stuhl für die Serienfertigung freigibt: den Wiener Kaffeehaus-Stuhl; ein Massenprodukt, von dem in den folgenden 60 Jahren 50 Millionen Exemplare produziert und in alle Welt versendet werden. Der Thonet-Stuhl ist leicht, schlicht und vielen erschwinglich; vor allem aber erinnert er nicht an antike und adlige Vorbilder, sondern ist ein reiner Bürgerstuhl, entwickelt von einem bürgerlichen Handwerker und geschaffen für Bürger. Der Wiener Stuhl bringt die Kaffeehaus-Kultur zur Blüte, die den Bürgern einen speziellen Sitz-Ort für die politische Diskussion im öffentlichen Raum gibt. Der Wiener Stuhl (Abb. 8) wird zu einem Massenprodukt, das beginnt, den Bürger zum Homo sedens zu formen. Ging es zur Zeit Thonets darum, jedem Bürger den Besitz eines Stuhls zu ermöglichen, stehen dem modernen Menschen durchschnittlich mehr als drei Dutzend Sitze zur potenziellen Nutzung zur Verfügung: Stühle stehen in Sitzgesellschaften überall herum und harren der Besetzung.
Abbildung 7: Schulbank mit Geradehalter. Illustration, 19. Jahrhundert
Abbildung 8: Gebrüder Thonet: Modell Nr. 14, 1859. 41 x 89 x 49 cm, Sitzhöhe 44 cm
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Mit der Entwicklung der Industrie werden Stühle immer häufiger bei der Fabrikarbeit und bei der Arbeit im Büro verwendet – daher auch das Bemühen, sie wissenschaftlich zu analysieren: Das Medium soll der menschlichen Tätigkeit angepasst werden, da sich der Stuhl rasch als Objekt erweist, das die Sitzenden belastet. Das erste Produkt der Untersuchungen ist der Staffelstuhl aus dem Jahr 1884. Die Ergonomen experimentieren entweder mit der Sitzebene oder mit der Rückenlehne, bis hundert Jahre später Sitzebene und Rückenlehne als Einheit erkannt und aufeinander bezogen werden. Heute sind Berufsstühle meist Hightech-Equipment mit Hebeln, Schaltern, Knöpfen und Motoren, gesteuert von internen, computergestützten Mechaniken. Parallel zu den Hightech-Produkten wird seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem Wiener Stuhl ein zweiter Welteroberungsversuch durch das Sitzen unternommen – mit dem Gartenstuhl aus Plastik, dem Monoblock (Abb. 9). Er wird nicht millionenfach in einigen Jahrzehnten produziert wie der Kaffeehaus-Stuhl, sondern milliardenfach in wenigen Jahren. Er wird aus einem einzigen Block hergestellt. Polypropylen und andere Kunststoffe werden im Spritzgussverfahren unter Druck und bei 220 Grad Celsius in ihre Form gegossen, gepresst. Ein einfaches Verfahren, ein einziges Material, federleicht, stapelbar und so teuer wie zwei Brote – das macht ihn zum globalen Stuhl par excellence. Deshalb findet man ihn heute überall: in Straßencafés und privaten Räumen, in Gartenrestaurants, auf Großveranstaltungen wie Konzerten oder auf Kirchentagen, aufgestellt zu zehn- und hunderttausenden. Auch in Wüsten, Hochgebirgen oder Urwäldern ist er längst heimisch geworden.
Abbildung 9: Monoblock, 1990er Jahre. Plastik. Privatbesitz
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VI. D IE D EMOKR ATISIERUNG EINES M EDIUMS Moderne Gesellschaften sind Sitzgesellschaften und ein Großteil ihres Fortschritts ist an das Sitzen gebunden. In der Sitzgesellschaft treten Thronen und Sitzen sowie König und Bürger vielfältig in ein Verhältnis von Identität und Differenz. In der aufrechten Sitzhaltung meditieren Könige für die Gemeinschaft und halten als politische Mitte die Gemeinschaft symbolisch, spirituell und praktisch zusammen. Dagegen sitzen Bürger für sich. Ihnen ist gleichgültig, wo, wie und mit wem sie sitzen. Sie sitzen angelehnt und formlos, physisch geschwächt und geistig gestärkt. Sie sitzen ohne Kontrolle, denn als Stuhlsitzende sind sie ihr eigener König und spiegeln sich gegenseitig als Herrschende wider. Die Mitte ist überall dort, wo ein Stuhl besetzt ist. Das Medium hat seine Mitte verschoben. Im Sitzen auf Stühlen ist die Achse von Himmel und Erde in die Horizontale umgelenkt und die Ausrichtung Mensch und Gott ist zu Mensch und Mensch geworden. Die mythische Verbindung der konträren Welten Himmel und Erde wird zur Immanenz, in der die Horizontale die Gesellschaft zusammenbindet. Das Medium hat seine Richtung gewechselt. Könige veranschaulichen Einzigartigkeit und Macht, Würde und Ohnmacht, während Bürger sich nicht als einzigartig erleben. Sie verbringen ihr Leben privat und beruflich routiniert auf dem Stuhl. Sie wollen und müssen überall sitzen, denn einerseits macht Dauersitzen sie vom Stuhl abhängig, andererseits richten Sitzgesellschaften nur wenige Orte ein, an denen sie stehen und alternative Haltungen zum Sitzen einnehmen können, wenn sie anhalten und ruhen wollen. Unter großer Belastung für Muskulatur und Atmung vernachlässigen Sitzende Körper und Geist, und in der Fixierung, Haltung und Begrenzung erfahren sie einen Formenwandel des Denkens und Fühlens, des Kommunizierens und Arbeitens. Das Medium hat seinen Wert gewandelt. Mit dem sitzenden Bürger entsteht ein Vernetzungspotenzial, das Tisch und Stuhl als Beschleuniger der Globalisierung ausweist. Wie Automobile, die nicht der persönlichen Mobilität dienen, sondern dem Bau von Straßen, um die Erde territorial zu erschließen und die Menschen global zu vernetzen. Mobiltelefon, Fax und Laptop verdichten dieses territoriale Netz. Tisch und Stuhl haben erheblich zur globalen Vernetzung der Menschen und ihrer Häuser beigetragen. Im Netz bildet die Einheit aus Tisch, Stuhl und Sitzendem mit Laptop und Mobiltelefon die Knotenpunkte des globalen Netzes. Das Medium ist global geworden. Allerdings macht das Medium den Menschen und seine Kommunikation auch anfällig, matt und nervös. Zwar führen Sedierung und Disziplinierung zugleich zur Konzentration, aber da wir auch wissen, welchen Stellenwert die Bewegung für die Entwicklung unserer geistigen Fähigkeiten hat, ist die Zeit reif dafür, dass sich der Homo sedens die Freiheit nimmt, so zu sitzen, wie es seinem Körper und seinem Geist, wie es seiner Arbeit und seiner Sozialität angemessen ist, und dass ihm gelingt, zwischen Stuhlsitzen und anderen Körperhaltungen ein dynamisches Wechselspiel zu eröffnen. Und wenn er sich setzt, es bewusst tut – wie einst Könige, Pharaonen und buddhistische Mönche in
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der Meditation –, und Sitzen als ein sinngebendes Ritual mit hohem sachlichen, moralischen, geistigen und ästhetischen Wert auffasst, dann würden sich andere Rituale wie das gemeinsame Gehen und Sporttreiben, wie die Teezeremonie, das Reisen und die Meditation als Medien aktualisieren.
Dieser Text basiert auf den Beiträgen »Kulturgeschichte des Sitzens« und »Die Ordnung des Königs«, in: Ausst.-Kat. sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft, hrsg. von Hajo Eickhoff, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, Frankfurt a.M. 1997, S. 12-35 u. 80-87; sie wurden für diesen Band fusioniert und überarbeitet.
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Können Möbel Medien sein? Überlegungen zu den italienischen Hochzeitstruhen der Renaissance Bettina Uppenkamp
Medien sollten, nach einer sehr allgemeinen Definition, als die Wirklichkeit mitkonstituierende Kulturen der Kommunikation betrachtet werden.1 Am Beispiel der italienischen Hochzeitstruhen des 15. Jahrhunderts, den sogenannten Cassoni, seien im Folgenden einige Überlegungen skizziert, wie diese Bilder-Möbel die Konstitution der Renaissancekultur mitgestalteten und was durch sie kommuniziert wurde. Truhen unterschiedlicher Art und Ausstattung gehörten zu den wichtigsten Möbelstücken des vormodernen Haushalts. Sie dienten zur Aufbewahrung von Wäsche, Kleidern und anderen wertvollen Dingen. Benutzt wurden sie als Reisekoffer und Sitzmöbel. Auf einer Miniatur im reich illuminierten Codex der »Aeneis« in der Florentiner Bibliotheca Riccardiana, datiert in die Mitte des 15. Jahrhunderts,2 die den Traum der Dido illustriert, sind solche unterschiedlichen Verwendungs- und Gestaltungsformen von Truhen zu sehen (Abb. 1). Vor dem Bett der Dido, die auf kostbaren Decken und gestützt in weiche Kissen von ihrem erschlagenen Ehemann Sicheus träumt – die Ermordung des Sicheus ist in der links benachbarten Szene dargestellt – befindet sich eine Betttruhe mit relativ schlichtem, mutmaßlich geschnitztem Dekor und flachem Deckel. Solche Truhen dienten in den italienischen Schlafräumen des 15. Jahrhunderts zur Verwahrung von in der Camera benötigten Gegenständen, als Stufe zum Schlaflager und als Sitzbank. Links vom Bett der Dido zeigt die Miniatur eine weitere, offenbar deutlich prächtigere Truhe mit gewölbtem und mit goldenen Ornamenten verziertem Deckel und bunt bemalter Seitenwand. Rechts neben dem Palast, in dessen Schlafgemach das Bild Einblick gewährt, ist in einer kleinen Szene die Verschiffung von Truhen als Reisekoffer zu erkennen. Diese wer1 | Wilhelm Voßkamp: »Kommunikation – Medien – Repräsentation – Archive«, in: Georg Stanitzek/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation, Köln 2001, S. 9-13, hier S. 9. 2 | Florenz, Bibliotheca Riccardiana, Ms. 492 et folio.
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Abbildung 1: Apollonio di Giovanni: Traum der Dido, Buchillustration zur Aeneis, Mitte 15. Jahrhundert. Bibliotheca Riccardiana, Florenz
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den gerade fest verschnürt, um dann von Trägern geschultert auf ein Schiff geschleppt zu werden. Die Funktionalität der Truhen als Behältnisse ist bei den beiden Exemplaren im Schlafzimmer der Dido dadurch unterstrichen, dass sie geöffnet sind. Der Mechanismus, durch den sich der Deckel mittels Verstrebungen aufgeklappt fixieren lässt, ist deutlich zu erkennen. Dass es unter Umständen Schätze sind, die in Truhen aufbewahrt werden, ist zudem verdeutlicht, wenn ein geöffneter Sack und eine Metallschale voll mit Goldstücken neben der Prunktruhe im Vordergrund der Miniatur den Reichtum der Dido anschaulich machen. Die Gegenüberstellung von verschlossenen und geöffneten Truhen korrespondiert mit den Orten, an denen sie gerade in Gebrauch sind: Draußen sind die Truhen fest verschlossen, schützen und verbergen ihren Inhalt, im Innenraum sind sie offen und geben preis, was sie enthalten. Eine geöffnete Truhe signalisiert Intimität, Öffentlichkeit hingegen fordert ihren Verschluss. Aber auch eine geschlossene Truhe kann von ihrem Schatz erzählen.
Die mit liebevoller Genauigkeit ausgeführte Charakterisierung unterschiedlicher Typen von Truhen in der Miniatur ist nicht zufällig. Denn der Künstler, der die Abschrift des Vergil’schen Epos mit Bildern schmückte, war Apollonio di Giovanni, der in Werkstattgemeinschaft mit Marco del Buono Mitte des 15. Jahrhunderts eine der produktivsten und innovativsten Werkstätten zur Bemalung luxuriöser Truhen in Florenz betrieb.3 3 | Das künstlerische Profil dieser Cassone-Werkstatt und das Apollonio di Giovanni zugeschriebene Werk sind schon seit einiger Zeit dank der grundlegenden Untersuchungen von Ellen Callmann gut erfasst. Ellen Callmann: Apollonio di Giovanni, Oxford 1974. Zum Codex Riccardiana vgl. insbesondere S. 7-24. Vgl. auch Ernst H. Gombrich: »Apollonio di Giovanni und ein humanistisches Zeugnis über eine Florentiner Cassonewerkstatt«, in: Ders.: Die Kunst der Renaissance, Bd. I: Norm und Form, Stuttgart 1985, S. 24-43. Allgemein zur Gattung der Cassoni grundlegend Paul Schubring: Cassoni, Truhen und
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Ein ungewöhnlich gut erhaltenes Prunkstück aus dieser Werkstatt, bei dem Möbelkorpus und Bildtafeln noch die ursprüngliche Einheit bilden und das Möbel nicht durch spätere Eingriffe und Überarbeitungen sein Aussehen verändert hat, befindet sich heute im Metropolitan Museum in New York (Abb. 2). Der mächtige Möbelkorpus ist mit Schnitzereien, ausladenden Voluten mit Akantusmotiven, geschmückt, die an den Dekor römischer Sarkophage angelehnt sind. Dieses mit Blattgold belegte Schnitzwerk sowie ebenfalls an klassischen Ornamentformen orientierte vergoldete Stuckreliefs rahmen das in die Front eingelassene Gemälde und die mit ursprünglich versilberten heraldischen Greifvögeln versehenen Seitentafeln. Der Falke mit ausgebreiteten Schwingen ist das Wappentier der Florentiner Familie Strozzi, der vermutlich der Auftraggeber für die Truhe angehörte. Die Fronttafel zeigt eine Schlacht am Ufer des Bosporus zwischen zum Teil orientalisch, zum Teil griechisch gekleideten Kämpfern vor der Kulisse zweier Städte, die sich als kompilierte Ansichten von Konstantinopel und Trapezunt erkennen lassen.
Truhenbilder der italienischen Frührenaissance, 2 Bde., Leipzig 21923; Graham Hughes: Renaissance Cassoni. Masterpieces of Early Italian Art: Painted Marriage Chests 1400-1500, Sussex, London 1997; Jerzy Miziołek: Soggetti classici sui cassoni fiorentini alla vigilia del Rinascimento, Warschau 1996; mit spezifisch genderhistorischer und -theoretischer Fragestellung Cristelle L. Baskins: Cassone Painting, Humanism, and Gender in Early Modern Italy, Cambridge 1998.
49 Abbildung 2: Apollonio di Giovanni: Die Eroberung von Trapezunt (?), Cassone, nach 1461. Truhe: Obstbaumholz (vergoldet), 100 x 206 x 84 cm; Fronttafel: Tempera auf Holz, 39 x 125 cm; Seitentafeln: Tempera und Silber auf Holz, 39 x 41 cm. Metropolitan Museum, New York
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Abbildung 3: Stefano d’Antonio di Giovanni di Guido: Apollo und Daphne, Cassonefront, um 1430. Tempera auf Holz, 48 x 168 cm. The Courtauld Gallery, London
Solche mit aufwändigen Bildprogrammen geschmückte Truhen entstanden seit dem späten 14. Jahrhundert bis in das frühe 16. Jahrhundert in großer Zahl in der Toskana mit den Zentren Florenz und Siena sowie in Oberitalien. Es handelte sich dabei um Schatztruhen besonderer Art: Sie dienten als Behältnis für den Brautschatz. In Auftrag gegeben wurden sie anlässlich von Hochzeiten und für jenen Teil der Mitgift, den die Braut als Aussteuer in die Ehe einbrachte. Die Bilderzählungen, oft von zahlreichen Figürchen bestritten, sind meist profanen Inhalts. Biblische Themen kommen nur vereinzelt vor. Dargestellt wurden literarische Stoffe im 15. Jahrhundert populärer Schriftsteller wie Boccaccio oder Petrarca, beziehungsweise ihre volkstümlichen Bearbeitungen; geschildert wurden festliche Ereignisse und Turniere. Eine zentrale Rolle spielten griechische Mythologie und römische Geschichte. Was Giorgio Vasari über den Inhalt der Bilder, mit denen diese Möbel geschmückt sein konnten, in der Mitte des 16. Jahrhunderts aus der Rückschau zu sagen hat, als die bemalten Truhen bereits aus der Mode gekommen waren, legt eine große Freiheit für persönliche Vorlieben nahe: »Die Bilder an der vorderen Seite stellten gewöhnlich Fabeln aus Ovid und anderen Dichtern dar, Erzählungen aus lateinischen und griechischen Schriftstellern, oder sonst nur Jagden, Lustgefechte, Liebesabenteuer und ähnliche Dinge, was einem Jeden gerade am besten gefiel.« 4
Diese Aufzählung entspricht recht genau dem, was auf den überlieferten Cassoni zu sehen ist. Gerade für die Aneignung der antiken Themenkreise in der Malerei der Renaissance sind die Cassone-Bilder eine zentrale, häufig unterschätzte Gattung. Die in den Bildern auf den Truhen erzählten Mythen und antiken Legenden handeln oft von Macht und Gewalt der erotischen Liebe, von ihren 4 | Giorgio Vasari: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister, Stuttgart, Tübingen 1837, Bd. II.1, S. 53.
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Freuden, aber auch von dem Schmerz und den Gefahren, die mit der Liebe verbunden sind, und nicht weniger gern erzählen sie von tugendhafter Entsagung. Eine Cassone-Tafel aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigt zum Beispiel, wie Apoll, vom Liebespfeil des Eros getroffen, der keuschen Nymphe Daphne nachstellt, und als er sie erreicht nur noch einen Lorbeerbaum umarmen kann, von dem er sich dann klagend abwendet (Abb. 3), eine Geschichte, die dem 1. Buch der »Metamorphosen« des Ovid entnommen ist. Das Bild wurde Stefano d’Antonio di Giovanni di Guido zugeschrieben und stellt ein für die Cassone-Malerei in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts typisches Exemplar dar.5 Wie den verliebten Gott hat der Künstler die Nymphe Daphne mit einem Gewand seiner Zeit verkleidet. Der eingeführte kunsthistorische Terminus für diese Möbel, Cassone, heißt nichts anderes als großer Kasten. Er geht ebenfalls auf Vasaris Beschreibung in den Künstlerviten zurück;6 die Quellen des 15. Jahrhunderts sprechen in der Regel von Forziere, wenn bemalte große Truhen gemeint sind. Heute sind die Cassoni nur noch selten als Möbel erhalten. Oft wurden die bemalten Front- und Seitentafeln aus ihrem funktionalen und ästhetischen Zusammenhang der Truhe entfernt, um als Tafelbild die Wände von Museen oder Privatsammlungen zu schmücken – eine Dekontextualisierung, die einem Medienwechsel gleichkommt und ihr angemessenes historisches Verständnis erschwert (Abb. 3 und 4). Nur wenige der heute erhaltenen Stücke zeigen noch einen Abglanz des erheblichen visuellen Reichtums, in dem zahlreiche Truhen sich den Betrachterinnen und Betrachtern des 15. Jahrhunderts dargestellt haben müssen. In der Regel hat man es mit Ruinen zu tun, am radikalsten da, wo die Bildtafel der Truhenfront nicht nur aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang des Möbels herausgelöst wurde, sondern auch noch in Tei5 | Ausst.-Kat. The Triumph of Marriage. Painted Cassoni of the Renaissance, Isabella Steward and Gardner Museum, Boston 2009, S. 106. 6 | Vasari 1837 (wie Anm. 4), S. 53.
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Abbildung 4: Francesco di Giorgio: Triumph der Keuschheit, Cassonefront, um 1464. Tempera auf Holz, 37 x 121 cm. J. Paul Getty Museum, Los Angeles
le zersägt, um mehrere kleine Gemälde aus dem 15. Jahrhundert für den Kunstmarkt zu gewinnen, auf dem im Zuge der präraffaelitischen Begeisterung für die vorakademische Malerei der frühen Renaissance vor allem im späten 19. Jahrhundert eine große Nachfrage nach Bildern dieser Epoche herrschte. Häufig ist nicht nur der Möbelkorpus verloren, sondern auch die vergoldete Stuckeinfassung der Bildtafeln, die mit den goldenen Elementen und den Architekturformen auf den Bildern selbst korrespondierte, wie bei einem Stück aus dem J. Paul Getty Museum in Los Angeles noch zu sehen (Abb. 4). Diese Francesco di Giorgio zugeschriebene Cassone-Tafel, die in Anlehnung an die literarischen »Trionfi« Petrarcas den Triumph der Keuschheit über die fleischliche Liebe zeigt, ist zwar aus dem Möbelstück, das sie einmal schmückte, herausgelöst, erhalten haben sich jedoch die das Bildfeld rahmenden blattvergoldeten Stuckdekorationen. Diese fassen in Korrespondenz mit der Architektur des Keuschheitstempels die Bildtafel mit korinthischen Pilastern ein und zeigen, von Schwänen gehalten, die Wappen der Sieneser Brautleute Gabbriello di Bartolomeo Gabbrielli und Portia di Francesco Luti.7 Die goldenen Elemente auf dem Gemälde selbst, die ehemals schimmernde Akzente gesetzt haben dürften, sind, wie auf den meisten Cassone-Tafeln, stark abgerieben, sodass etwa das im Tempel dargestellte Idol heute nicht mehr zu erkennen ist. Kenntlich hingegen ist, dass sich der Künstler für die Figur am Eingang des Keuschheitstempels an den antiken Rosse-Bändigern auf dem Quirinal in Rom orientiert hat und so noch einmal das Thema von der Fesselung blinder Leidenschaft durch die Keuschheit pointiert, eine Aufgabe, die in der Auffassung des 15. Jahrhunderts auch der Ehe zugetraut wurde. 7 | The Triumph of Marriage 2009 (wie Anm. 5), S. 112. Zur Rezeption der »Trionfi« Petrarcas in der Hochzeitsmalerei vgl. auch Alexandra Ortner: Petrarcas »Trionfi« in Malerei, Dichtung und Festkultur. Untersuchung zur Entstehung und Verbreitung eines florentinischen Bildmotivs auf cassoni und deschi da parto des 15. Jahrhunderts, Weimar 1998.
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Die Intaktheit des erhaltenen Cassone aus der Werkstatt von Apollonio di Giovanni und Marco del Buono im Besitz des Metropolitan Museums ist ebenfalls relativ, denn in der Regel wurden für eine Hochzeit zwei Truhen angefertigt, und die Darstellungen auf den Fronten eines Truhenpaares waren aufeinander bezogen. Nur wenige sind noch heute als das Paar erhalten, als welches sie einmal konzipiert waren. Der Verlust eines Teils kann im Einzelfall das Verständnis der Darstellung auf den Bilderfronten nahezu unmöglich machen, erschwert jedenfalls ihre angemessene Interpretation. Dies gilt etwa auch für die New Yorker Truhe, für die in der Forschung nach wie vor umstritten ist, was für ein Ereignis auf ihrer Front dargestellt ist.8 Ob jeweils eine Truhe für die Frau und eine für den Gebrauch des Mannes bestimmt war, lässt sich anhand überlieferter Quellen nicht nachvollziehen, wohl aber liegt die Vermutung nahe, die Zweizahl selbst spiele auf das junge Ehepaar an. Ist die Truhe verloren, gibt es meistens keinen Hinweis mehr, um welches Ehepaar es sich handelte. In der Regel waren die Familienwappen der an der Heirat beteiligten Familien als Zeichen der neugeschaffenen Allianz am Truhenkorpus angebracht oder in die das Frontgemälde 8 | Aufgrund der verhältnismäßig genauen Darstellung der Stadtkulisse von Trapezunt war man lange der Auffassung, es müsse sich um die Eroberung dieser letzten Bastion des byzantinischen Reiches durch Mehmet II. im Jahr 1461 handeln. Allerdings ist einer der Kämpfer durch einen Schriftzug als Tamerlan gekennzeichnet, der dem osmanischen Reich im Jahr 1402 in einer Schlacht bei Ankara eine vernichtende Niederlage beibringen konnte. Vgl. Patricia Lurati: »Il trionfo di Tamerlano. Una nuova lettura iconografica di un cassone del Metropolitan Museum of Art«, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Bd. XLIX, H. 1/2 (2005), S. 101-118. Vgl. auch John Pope-Hennessy und Keith Christiansen: »Secular Painting in 15 th-Century Tuscany: Birth Trays, Cassone Panels, and Portraits«, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin Bd. 38, H. 1 (1980/81), S. 17-19.
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Abbildung 5: Marradi-Meister: Der Raub der Sabinerinnen, Cassonefront, um 1480. Tempera auf Holz, 174 x 45 cm. Harewood House Trust, Yorkshire
rahmenden Dekorationen integriert. Als Körperzeichen in heraldischer Abstraktion, welche nicht ein Individuum, sondern den Träger einer familialen oder territorialen Genealogie auszeichnen, also einen Standeskörper definieren, unterstrichen sie die genealogische Bedeutung von Eheschließungen.9 Giorgio Vasaris ausführliche und in vielen Aspekten historisch genaue Beschreibung der Cassoni lässt sonderbarerweise den Kontext der Hochzeiten außer Acht. Die bemalten Truhen müssen jedoch in engem Zusammenhang mit diesen in der frühneuzeitlichen italienischen Gesellschaft sehr wichtigen und wichtig genommenen sozialen Ereignissen gesehen werden. Die Ehe war eine der zentralen Institutionen dieser Gesellschaft, und die Familie ihre grundlegende Einheit. Familienbindungen hatten eine hohe soziale Verbindlichkeit und waren der Ursprung materieller und sozialer Sicherheit. Heiraten hatten entsprechend sowohl in persönlich-biographischer Hinsicht wie auch als gesellschaftlich relevante Begebenheit eine große Bedeutung. Levi Strauss hat in seiner strukturalen Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen über das Heiraten festgestellt: »[D]ie sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau sind nur ein Aspekt der totalen Leistungen, für welche die Heirat sowohl ein Beispiel liefert als auch den Anlass bietet. Diese totalen Leistungen beziehen sich […] auf materielle Güter, soziale Werte wie Privilegien, Rechte und Pflichten, sowie auf die Frauen. Die globale Tauschbeziehung, welche die Heirat bildet, stellt sich nicht zwischen einem Mann und einer Frau her, die beide etwas schulden und etwas erhalten, sondern zwischen zwei Gruppen von Männern, und die Frau spielt dabei die Rolle eines der Tauschobjekte und nicht die eines der Partner, zwischen denen der Tausch stattfindet. […] das Band der Gegenseitigkeit, das die Heirat knüpft, besteht nicht 9 | Hans Belting: »Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpers«, in: Martin Büchsel/Peter Schmidt (Hg.): Das Porträt vor Erfindung des Porträts, Mainz 2003, S. 89-100, hier S. 89.
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zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen Männern mittels Frauen, die lediglich den Hauptanlass dieser Beziehung bilden.«10
Eheschließungen dienten der Festigung und Erweiterung verwandtschaftlicher Beziehungen, waren nicht die Angelegenheit einzelner Individuen, sondern betrafen jeweils den gesamten Familienverband. Sie schufen Allianzen, an die sich vor allem in den privilegierten Schichten gegenseitige Hoffnungen auf einen Zuwachs von Reichtum, sozialem Prestige, Macht und Einfluss knüpften. Verbunden waren mit Heiraten nicht nur der Transfer von Besitz, sondern auch die Um- oder Neufiguration sozialer und politischer Konstellationen. Mit einer der angesehenen und mächtigen Familien, wie in Florenz den Familien der Strozzi, Rucellai oder Medici, verbunden zu sein, bedeutete Ehre und soziales Prestige, möglicherweise einen Zuwachs an gesellschaftlichem Einfluss, und damit wiederum auch verknüpft verbesserte Chancen, den Wohlstand der eigenen Familie zu mehren und für nachfolgende Generationen vorzusorgen. Durch Ehen konnten Konkurrenzen zwischen Familien ausgetragen und verschärft, aber auch Feindschaften beigelegt werden. In seinem Traktat über das Hauswesen – »Della famiglia« – lässt Leon Battista Alberti den alten Lionardo vier Hauptregeln für das Familienglück erläutern: »Die Zahl der Köpfe der Familie soll nicht abnehmen, sondern sich vervielfachen; das Vermögen soll nicht schwinden, sondern zunehmen, jede Schädigung des Rufes soll man vermeiden, den guten Namen lieben und ihm nachtrachten, Hass, Neid und Feindschaft soll man fliehen, Bekanntschaften, Neigung und Freundschaft erwerben, steigern und bewahren. […] die Familie wird volkreich nicht anders, als Städte es werden, Provinzen und die ganze Welt. […] Und um Kinder 10 | Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (1949/ 1967), Frankfurt a.M. 1993, S. 189.
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Abbildung 6: Marradi-Meister: Die Versöhnung zwischen Römern und Sabinern, Cassonefront, um 1480. Tempera auf Holz, 173 x 45 cm. Harewood House Trust, Yorkshire
zu zeugen – daran kann niemand zweifeln – brauchte der Mann das Weib. […] In dieser Weise, meine ich, wird offenbar, dass die Natur und die Vernunft der Menschen sie lehrte, dass die Gemeinschaft der Ehe unter ihnen notwendig ist, wie um das Menschengeschlecht zu vermehren und fortzupflanzen, so auch um die bereits geborenen Kinder ernähren und erhalten zu können.«11
Zudem hielt man die Ehe auch für ein Remedium gegen Ausschweifung und Promiskuität. Zwei Truhenbilder, die sich heute im Besitz des Harewood House Trust in Yorkshire befinden und einem anonymen Künstler zugeschrieben sind, der den Notnamen Marradi-Meister trägt, reflektieren den in Albertis Traktat entwickelten Vernunftzusammenhang, in dem er die Ehe sieht (Abb. 5 und 6). Thema dieser beiden Truhenbilder ist der Raub der Sabinerinnen und die durch die sabinischen Frauen herbeigeführte Versöhnung zwischen Römern und Sabinern. Die Geschichte vom Raub der Sabinerinnen gehört zu den populärsten Sagen der römischen Frühzeit und wird von mehreren antiken Autoren berichtet, deren Schriften im 15. Jahrhundert bekannt waren: von Livius in seiner Geschichte Roms, in Ovids »Fasten« und von Plutarch in der Vita des Romulus. Um den für die Römer ehrenrührigen Frauenraub zu rechtfertigen, bietet Livius in der Geschichte Roms zunächst eine ausführliche Begründung, wie es zu der Gewalttat kommen konnte oder sogar musste.12 Die Römer befinden sich kurz nach der Stadtgründung in einer schwierigen Situation, fehlen ihnen doch Frauen, um sich fortpflanzen und die Stadt bevölkern zu können. Livius schildert die Bemühungen einer fried11 | Leon Battista Alberti: Vom Hauswesen, München 1986, S. 131-133. 12 | Zur Schilderung des Raubs der Sabinerinnen und der anschließenden Versöhnung zwischen Römern und Sabinern bei Livius siehe Barbara Kowalewski: Frauengestalten im Geschichtswerk des T. Livius, München, Leipzig 2002, S. 17-33.
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lichen Brautwerbung bei den Sabinern, die Zurückweisung und damit verbundene Kränkung der männlichen Jugend Roms. Niemand ist bereit, den Römern seine Töchter zur Frau zu geben, denn alle Nachbarn fürchten deren Macht. In dieser Situation greift der Stadtgründer und König Roms zu einer List. Er lädt die Sabiner mitsamt ihren Frauen und Töchtern zu einem Fest ein. Auf ein vereinbartes Signal hin greifen sich die Römer die sabinischen Frauen und verschleppen sie. Die Sabiner können ihre Frauen nicht verteidigen. Nach anfänglicher Gegenwehr schicken sich die Sabinerinnen schließlich in ihr Los und tun das, weswegen die Römer sie geraubt haben: Sie bekommen Kinder und verhelfen so Rom zu Prosperität. Nach einiger Zeit entschließen sich die Sabiner zur Rache und greifen die Römer an, um ihre Töchter zurückzuholen. In diesen Kampf greifen die Sabinerinnen, die sich mit ihren römischen Ehemännern arrangiert haben, ein. Die Intervention der Frauen ist bei Livius in einer dramatischen Szene gestaltet, die zur Peripetie des Geschehens führt. Todesmutig stellen die Sabinerinnen sich der natürlichen Angst trotzend, die den weiblichen Geschlechtscharakter nach Livius normalerweise bestimmt, zwischen die verfeindeten Männer und trennen die Linien. Die sie treibende Verzweiflung wird von Livius anschaulich geschildert, wenn er die aufgelösten Haare und zerrissenen Gewänder beschreibt. Durch ihr Flehen an Väter und Ehemänner, doch nicht sich gegenseitig als Schwiegerväter und -söhne mit frevelhaftem Blut zu beflecken und die Nachkommen durch den Verwandtenmord zu belasten, gelingt es den Frauen, die Männer zu beschwichtigen und Frieden zu stiften. Das Argument der Verwandtschaft und der Verantwortung für Kinder und Enkel ist hierbei ausschlaggebend. Die entscheidende Rolle kommt in diesem Prozess Hersilia, der Frau des Romulus, zu. Auf den Hochzeitstruhen des 15. Jahrhunderts gehörte diese Geschichte zu den konventionellen Themen. Auf der ersten der beiden hier gezeigten Cassone-Tafeln wird die rechte Bildhälfte von der Schilderung eines Festes eingenommen. Vornehm gekleidete Damen sitzen teils unter einem Baldachin am Rand eines Platzes, auf dem Kinder akrobatische Kunststückchen zur Unterhal-
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tung der Festgesellschaft aufführen. Einige Damen flanieren, offenbar in Unterhaltung mit jungen Männern. Ganz rechts im Bild sitzt ein Mann erhöht auf einem provisorisch errichteten Thron. Dass hier jedoch kein friedliches Fest gezeigt ist, wird deutlich durch die umgeworfene Bank links von zwei kleinen Musikern. Auch die verrenkten Körper der kleinen Akrobaten lassen sich als Hinweis auf Außerordentliches und Unangemessenes verstehen. Neben der Bank im Zentrum des Bildes greifen mehrere Soldaten Frauen an. Eine von ihnen ist auf die Knie gefallen und hat die Arme hochgerissen. Weitere Frauen werden verfolgt und ergriffen. Links von dieser Szene befindet sich eine Stadtmauer, durch deren Tor ebenfalls Soldaten ausrücken, die von einer zweiten Truppe bekämpft werden. Zwei Gefallene liegen bereits am Boden. Auch die zugehörige Tafel zeigt auf der rechten Seite ein Fest. Dieses hat aber einen ganz anderen Charakter. Hier gibt es keine Rad schlagenden und auf dem Kopf stehenden Körper, sondern ein gesitteter Schreittanz wird aufgeführt. Auf dem nun deutlich solider wirkenden Thron sitzt jetzt ein Paar, und vor einem Palast ist prunkvolles Tafelgerät zur Schau gestellt. Es handelt sich um ein Hochzeitsfest, das von Romulus mit der Sabinerin Hersilia. Auf der linken Bildseite ist zu sehen, wie diese Heirat geschlossen wird (Abb. 7). Ein älterer Mann, vermutlich der Brautvater, führt die Hände von Romulus und Hersilia zusammen. Romulus steht im Begriff, seiner Braut einen Ring an den Finger zu stecken. In dieser Art und Weise wurden seit dem 14. Jahrhundert Heiratszeremonien, profane wie sakrale, im Bild dargestellt und so ähnlich hat man sich die Ringzeremonie als einen der vielen im 15. Jahrhundert in Italien zu absolvierenden rituellen Schritte in die Ehe auch tatsächlich vorzustellen. Links von dieser Szene ist Hersilia an ihrem roten Kleid ein weiteres Mal zu erkennen. Es handelt sich hier um ihre Intervention zur Versöhnung der Sabiner mit den Römern. Vom Pathos aufgelöster Haare und aus Verzweiflung zerrissener Gewänder ist nichts zu sehen. Alles spielt sich in geordneten Bahnen ab. Wohl aber ist der Grund für die vorausgegangene Gewalttat ins Bild gesetzt, der nun den Anlass für den Frieden gibt. Hersilia weist mit bürgerlichen Matronen angemessen verhaltener Gestik ihre bewaffnet anrückenden Verwandten auf das kleine Kind hin, das eine andere Frau auf dem Arm hält. Der enge räumliche Zusammenhang zu der Verheiratungsszene macht so deutlich, worin der Zweck einer Eheschließung liegt. Sie schafft geordnete Verhältnisse und damit die Voraussetzung für legitime Nachkommenschaft. Die Reflexe zeitgenössischer Wirklichkeit des 15. Jahrhunderts finden sich nicht nur in der Schilderung von Ringzeremonie und Hochzeitsfest, sondern auch auf diesen Tafeln in der Bekleidung der antiken Protagonisten, die in die Gewänder des 15. Jahrhunderts geschlüpft sind. Für Aby Warburgs kulturgeschichtlich orientiertes Interesse an der Cassone-Malerei war es »nicht der Kunstwert an sich, auch nicht das ›romantische‹ Stoffgebiet«, das ihn anzog, »vielmehr im Gegenteil die energisch ausströmende Freude an der eigenen festlich bewegten und prunkenden Existenz, die antike Schlachten und dichterische Triumphe als Stichwort zum Auftreten ungeduldig erwar-
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tet […]«13 . Zwar darf man die Darstellungen auf den Hochzeitstruhen des 15. Jahrhunderts nicht allzu wörtlich als Schilderungen lebensweltlicher Realitäten verstehen. Sie sind keine gemalten Dokumente der frühneuzeitlichen Festkultur oder gar Reportagen jener Zeremonien, an denen sie Anteil hatten. Dennoch lässt sich in den Bildtafeln der Cassoni unter mythologischer oder novellistischer Verkleidung vielfach die »Resonanz«, um einen Begriff von Stephen Greenblatt zu bemühen,14 jener Praktiken vernehmen, in die sie eingebunden waren.
Abbildung 7: Detail aus Abb. 6
Lang andauernd und kompliziert waren im 15. Jahrhundert die Verhandlungen, in denen Heiratsbeziehungen in der Oberschicht angebahnt wurden. Einer der wichtigsten Verhandlungspunkte betraf die Mitgift. Fast überall in Südeuropa hatte sich zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert ein Sys13 | Aby M. Warburg: »Flandrische Kunst und Florentinische Frührenaissance. Studien« (1902), in: Ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1980, S. 103-124, hier S. 104. 14 | Stephen Greenblatt: »Resonanz und Staunen«, in: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen den Weltbildern, Frankfurt a.M. 1991, S. 7-29.
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tem der direkten Mitgift in Anknüpfung an die Tradition des römisch-antiken Rechtes gegenüber dem älteren System des Brautpreises oder dem der indirekten Mitgift durchgesetzt.15 Eine Heirat ohne eine direkte Mitgift war in Italien, wie fast überall in Südeuropa, spätestens seit Mitte des 14. Jahrhunderts nahezu undenkbar geworden. Das System der Mitgift durchdrang hier die gesamte soziale, politische und mentale Struktur des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit.16 Die Höhe der Mitgiften war für Familien mit mehreren Töchtern eine starke finanzielle Belastung und wird in zahlreichen Quellen immer wieder beklagt. In das Florentiner Staatsgefüge wurde das Mitgiftsystem 1425 auch institutionell implementiert durch die Einrichtung des Monte delle doti, eine Art Mitgiftsparkasse, die von der Florentiner Kommune verwaltet wurde.17 Diese Einrichtung sollte die durch die Mitgiften entstehenden finanziellen Belastungen relativieren, attraktive Mitgiften garantieren und damit zur Heirat und Zeugung legitimer Nachkommen motivieren. Sie war also mit bevölkerungspolitischen Ambitionen verknüpft, denn nach den verheerenden Pestepidemien des 14. und frühen 15. Jahrhunderts hatte sich beispielsweise die Bewohnerschaft von Florenz auf weniger als die Hälfte reduziert.18 Die Cassoni waren im ausgehenden 14. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des 15. Jahrhunderts Bestandteil der Mitgift, für die der Brautvater die Verantwortung trug. Sie gehörten zu jenen Gütern und Gegenständen, welche die italienischen Bräute in die Ehe mitbrachten. Bei dem Umzug der jungen Frau von dem Haus ihres Vaters in das ihres neuen Ehemannes wurde sie von diesen Truhen, die einen großen Teil ihres Brautschatzes enthielten, begleitet. Anschließend fanden die Truhen Platz in der sogenannten Camera, dem gemeinsamen offiziellen Schlafzimmer des jungen Paares. In der Camera wurden auch Freunde und privilegierte Geschäftspartner empfangen, und sie war der Raum, in dem die Ehefrau nach der Niederkunft eines Kindes den Glückwunsch von Besuchern entgegennahm. 15 | Diane Owen Hughes: »From Brideprice to Dowry in Mediterranean Europe«, in: Journal of Family History Nr. 3 (1978), S. 263-296. 16 | Christiane Klapisch-Zuber: »Griselda. Mitgift und Morgengabe«, in: Dies.: Das Haus, der Name, der Brautschatz. Strategien und Rituale im gesellschaftlichen Leben der Renaissance, Frankfurt a.M. 1995, S. 52-80, hier S. 53. 17 | Grundlegend zum Monte delle doti Julius Kirshner/Anthony Molho: »The Dowry Fund and the Marriage Market in Early Quattrocento Florence«, in: Journal of Modern History Bd. 50 (1978), S. 403-438. 18 | Die Pest suchte Florenz beispielsweise in den Jahren 1400, 1417 und 1423 heim. Die Schätzungen der Bevölkerungszahlen für die toskanische Metropole liegen für die dreißiger Jahre des 14. Jahrhunderts, also für die Zeit unmittelbar vor dem Auftreten der Pest im Jahr 1348, zwischen 90.000 und 120.000 Einwohnern; der Kataster von 1427 macht deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt nur noch etwa 40.000 Menschen in Florenz lebten. Vgl. David Herlihy/Christiane KlapischZuber: Les Toscans et leurs familles. Une étude du catasto florentin de 1427, Paris 1978, sowie Anthony Molho: Marriage Alliance in Late Medieval Florence, Cambridge/Mass., London 1994, S. 27f.
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Der Umzug der Braut, die ostentative Zurschaustellung der jungen Frau und ihrer repräsentativen Habseligkeiten, war die Gelegenheit für die Brautfamilie, zu zeigen, dass sie ihrer Verantwortung zur kompetenten Verheiratung ihrer Töchter ehrenhaft nachgekommen war, und ihren sozialen Rang öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Die Ausstattung der Truhen ließ durch ihre Kostbarkeit Rückschlüsse auf den Wert der darin transportierten Güter zu, der Wert der Aussteuer wiederum auf die Höhe der gesamten Mitgift und damit auf den der Braut zugemessenen Wert. Die Truhen waren Teil des Gabentausches, der anlässlich einer Heirat in Gang gesetzt wurde. Mitgift und Aussteuer forderten Gegengaben von Seiten des Mannes, durch die sich der Rang seiner Familie dinglich repräsentieren ließ, forderten Geschenke an die Braut und ihre Familie. Die auf dem Cassone, der von der Hochzeit zwischen Romulus und Hersilia fabuliert, im Kontext des Festes ausgestellten Prunkgefäße verweisen auf solche Gegengaben des Bräutigams. Stellt man die Frage danach, wie sich die Geschlechterordnung in der Frühen Neuzeit mit einer Kultur des Visuellen verknüpfte, welche Rolle künstlerische Artefakte für die Herstellung und Kommunikation dieser Ordnung spielten und welche ästhetischen Strategien dazu aufgewendet wurden, stellen sich die Cassoni als materielles Zentrum unterschiedlicher sozialer und kultureller Aushandlungsprozesse und Praktiken dar. In Anlehnung an eine Poetik der Kultur, wie sie der New Historicism vertritt, lassen sie sich als eine Art Knoten im kulturellen Gewebe der frühen Renaissance auffassen. Dieses bedeutet, sie nicht in einem passiven Sinn als Ausdruck oder Zeichen von etwas anderem zu verstehen, das nicht Kunst ist, sondern sowohl als Produkt wie auch als produktiven Bestandteil jener Praktiken und Prozesse, in welche sie eingelassen waren. Kultur wird von Stephen Greenblatt unter anderem als »Netzwerk von Verhandlungen über den Austausch von materiellen Gütern, Vorstellungen und – durch Institutionen wie Sklaverei, Adoption oder Heirat – Menschen« bestimmt.19 Kunstwerke sind in diesem Netzwerk ein Vehikel und »einer der Wege, auf denen die Verhaltensrollen kommuniziert und von Generation zu Generation weitergegeben werden, nach denen Männer und Frauen ihr Leben strukturieren sollen«20. Die Hochzeitstruhen des 15. Jahrhunderts sind solche Vehikel, visuelle Medien zur Kommunikation von Werten, Normen und Ansprüchen im Kontext von Heirat und Familie. Kunstgeschichte ist immer schon auch eine Wissenschaft der Bildmedien gewesen. Unter dem Innovationsdruck von neuen, Bilder generierenden Medien, Medientheorie und Medienwissenschaft hat sie sich in den vergangenen Jahren jedoch verstärkt explizit dem Begriff des Mediums und Problemen der Medialität zugewandt, in jüngerer Zeit auch mit der Frage nach deren geschlechtsspezifischen Codierungen.21 Dennoch tut sich 19 | Stephen Greenblatt: »Kultur«, in: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1995, S. 48-59, hier S. 53. 20 | Ebd. 21 | Vgl. zusammenfassend hierzu Susanne von Falkenhausen in ihrer Einleitung zum Band der 7. Kunsthistorikerinnentagung 2002 in Berlin: Susanne von Falken-
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gerade die Geschichte der älteren Kunst mit dem Medienbegriff nach wie vor nicht immer leicht, während die aktuelle Medienwissenschaft dazu tendiert, die Geschichte der vormodernen künstlerischen Medien wenn nicht ganz und gar auszublenden, so doch allenfalls als Vorgeschichte der elektronischen Massenkommunikationsmittel zu betrachten.22 Verbreitet ist in der Kunstgeschichte ein produktionsorientierter Medienbegriff, in dem das Produktionsverfahren als Kriterium der Unterscheidung unterschiedlicher Medien dient. Demnach wäre zum Beispiel die Temperamalerei ein anderes Medium als das Fresko und führte andere Implikationen mit sich. Nach einem solchen produktionsorientierten Medienbegriff stellen die Cassoni einen relativ komplizierten Fall dar, sind in ihre Produktion doch unterschiedliche Verfahren eingegangen und waren an ihrer Herstellung verschiedene Spezialisten für diese Verfahren beteiligt: Schreiner, Maler, Stuckateure und Vergolder, die manchmal in einem Werkstattverbund organisiert waren, manchmal aber auch nicht. Entscheidend aber ist für die Cassoni, die nach einem solchen Medienbegriff als Kompositmedium beschrieben werden müssten, das Zusammenwirken der unterschiedlichen Komponenten. So ist das Ausmaß, in dem schimmerndes Blattgold oder teure Pigmente zur Dekoration einer Truhe aufgewendet wurden, ebenso Bestandteil der durch ein solches Stück kommunizierten Botschaft wie die Wahl eines bestimmten Themas, etwa der Raub der Sabinerinnen oder ein Tugendtriumph. Produktiv an einem produktionsorientierten Medienbegriff ist insbesondere die Erkenntnis, dass die konkrete materielle Verfasstheit eines Artefakts und die Technik, in der es hergestellt ist, Bestandteil seiner Botschaft sind. In einem der wichtigsten Lexika für die Kunstgeschichte, dem Dictionary of Art von 1996, lautet die Definition für Medium kurz und bündig: »Term to refer to the actual physical material chosen as a vehicle of expression for any work of art.«23 Und nach Niklas Luhmann ist davon auszugehen, dass Medien nur an der Kontingenz der Formbildungen erkennbar sind, die sie ermöglichen.24 Beide Definitionen zielen mit unterschiedlicher Akzentsetzung auf die notwendig materielle Verfasstheit eines Mediums, die immer als Form in Erscheinung treten muss, ohne allerdings sich als Zeichen darin zu erschöpfen:
hausen/Silke Förschler/Ingeborg Reichle/Bettina Uppenkamp (Hg.): Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code, Marburg 2004, S. 9-11; sowie allgemein Florian Weiland-Pollerberg: Amor und Psyche in der Renaissance. Medienspezifisches Erzählen im Bild, Petersberg 2004, S. 7-10. 22 | Vgl. Horst Bredekamp: »Bildmedien«, in: Hans Belting/Heinrich Dilly/Wolfgang Kemp/Willibald Sauerländer/Martin Warnke (Hg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, 6. überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2003, S. 355-378, hier S. 356. 23 | Jane Turner (Hg.): Dictionary of Art, New York, Grove, London 1996, Bd. 21, s.v. medium. 24 | Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 168.
K ÖNNEN M ÖBEL M EDIEN SEIN ? »Bildmedien [beruhen] auf geformten materiellen Trägern […], die über einen Überschuss verfügen, der den unmittelbaren Zeichencharakter unwiderstehlich übersteigt. Das Bildmedium umfasst sowohl die materiell gekoppelte Formbotschaft wie auch den mit ihr verbundenen, fluidalen, als Möglichkeit sich äußernden und unkontrollierbaren Überschuss.« 25
In diesen Überschuss geht nicht allein die Bedeutung ein, welche sich mit den Materialien und Techniken oder aber den auf den Hochzeitstruhen dargestellten Themen verknüpft, sondern auch ihre Bestimmung als Behältnis für die Aussteuer, auf die sie als Möbelstück nicht nur hinwiesen, sondern deren Teil sie bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts waren. Für die Frage nach der medialen Verfasstheit der Cassoni ist also entscheidend, dass es sich nicht um Tafelbilder, sondern um Möbel handelt, funktionale Gegenstände, die bewegt werden konnten und auch bewegt wurden, insbesondere dann, wenn die Braut durch die städtische Öffentlichkeit aus ihrem Vaterhaus in das Haus ihres zukünftigen Ehemannes umzog. Auch wenn heute der Möbelkorpus in der Regel verloren ist und die aus ihrem Zusammenhang herausgelösten Truhenfronten wie Tafelbilder an den Wänden der Museen hängen, sind für ihr angemessenes historisches Verständnis diese materiellen Kontexte zentral. Von Bedeutung für die Cassoni als Medien ist aber nicht allein, was in welcher Form zu sehen gegeben wird, sondern auch, in welchem performativen Kontext dies geschieht: Es sind also die unterschiedlich strukturierten Situationen zu bedenken, in denen die Cassoni sichtbar waren.26 Berücksichtigt man diese Zusammenhänge, bietet sich ein rezeptionsästhetisch erweiterter Medienbegriff für die Hochzeitstruhen des 15. Jahrhunderts an, wie er von Wolfgang Kemp vorgeschlagen wurde.27 Ein solcher Medienbegriff berücksichtigt den historisch zu rekonstruierenden Kontext, Kategorien der 25 | Bredekamp 2003 (wie Anm. 22), S. 357. 26 | Bei ihrem Transport im Umzug der Braut etwa wird eher der dekorative Gesamteindruck, die Kostbarkeit der Ausstattung wahrnehmbar und wichtig gewesen sein, während die oft kleinteiligen Bilderzählungen eine nahsichtige Betrachtung erforderten. Zu den Bedingungen ihrer Sichtbarkeit gehört auch, dass die Truhen in der Camera auf dem Fußboden standen, ihre Bilder sich also nicht auf Augenhöhe befanden. Vermutlich ist hier der Grund dafür zu suchen, dass die Cassone-Maler bei der Konzeption ihrer Bilder so gut wie nie eine der großen Errungenschaften der Kunst des 15. Jahrhunderts, die Zentralperspektive, zum Einsatz brachten, obwohl Cassone-Bilder auch in Werkstätten gefertigt wurden, die über diese Technik durchaus verfügten. 27 | Wolfgang Kemp: »Kunstwerk und Betrachter. Der rezeptionsästhetische Ansatz«, in: Hans Belting/Heinrich Dilly/Wolfgang Kemp/Willibald Sauerländer/Martin Warnke (Hg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, 6. überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2003, S. 247-265. Auch Florian Weiland-Pollerberg schlägt in seiner Untersuchung über die Darstellungen von Amor und Psyche in der Renaissance, ein Buch, das auch die überlieferten Cassoni dieses Themas ausführlich analysiert, einen solchen rezeptionsästhetischen Medienbegriff vor. »Medienspezifisches Er-
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Performanz, der Inszenierung und der kalkulierten Rezeptionsbedingungen, die Differenz zwischen Mobilität und Immobilität eines künstlerischen Artefaktes ebenso wie den Text, dem es sein Bildprogramm verdankt. An einem Beispiel sei abschließend noch einmal gezeigt, welche Konsequenzen eine Veränderung gerade der performativen Situationen für die konkrete Gestalt der Hochzeitstruhen und ihres Dekorationsschemas haben konnte, und wie diese Veränderungen der materiellen Erscheinung der Hochzeitstruhen zum Indikator von Verschiebungen im Gefüge jener Praktiken werden können, die die Anbahnung und den Vollzug einer Ehe im Florenz des 15. Jahrhunderts begleiteten. Die sogenannten »Morelli-Nerli-Cassoni« im Courtauld Institute in London sind ein ungewöhnlich vollständiges Ensemble aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Abb. 8 und 9).
Abbildung 8: Jacopo del Sellaio und Biagio d’Antonio: Camillus und der Schulmeister von Falerii, Cassone (Spalliera: Mucius Scaevola), 1472. Tempera auf Holz, Größe der Truhe mit Spalliera 206 x 193 cm. The Courtauld Gallery, London
Nicht nur sind hier noch beide Truhen mit allen ihren Bildtafeln, auch den Seitenwänden komplett erhalten, sondern ebenso die dem dekorativen Ensemble zugehörigen Wandbilder, die sogenannten Spalliere.28 zählen« meint bei ihm vor allem die Anpassung der Bilderzählung an die Funktion und die Form des Bildträgers. Vgl. Weiland-Pollerberg 2004 (wie Anm. 21). 28 | Die Malereien sind in gutem Zustand und sogar der Innendekor der Truhen lässt sich bei aufgeklappten Deckeln noch erkennen. Das Rahmenwerk der Truhen allerdings wurde mehrfach ergänzt und überarbeitet, die mächtigen Löwenfüße sind eine Zutat des 19. Jahrhunderts. Auch die Befestigung der Spalliere direkt an den Truhen
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Abbildung 9: Jacopo del Sellaio und Biagio d’Antonio: Camillus im Kampf gegen die Gallier, Cassone (Spalliera: Horatius Cocles verteidigt die Brücke gegen die Etrusker), 1472. Tempera auf Holz, Größe der Truhe mit Spalliera 206 x 193 cm. The Courtauld Gallery, London
Der Auftrag für diese Stücke ist ungewöhnlich gut dokumentiert. Aus ihm geht nicht nur hervor, dass Lorenzo di Matteo di Morelli die Bildtafeln für dieses Truhenpaar bei den Malern Jacopo del Sellaio und Biagio d’Antonio anlässlich seiner Verheiratung mit Vaggia di Tanai di Franceso di Nerli im Jahr 1472 in Auftrag gab. Zu erfahren ist auch, dass der Holzschnitzer, der die Möbel fertigte, Zanobi di Domenico hieß, und dass der Preis für Truhen samt den Spalliere 61 sogenannte große Florin betrug. Dieser Betrag stellt damit den bei weitem größten Posten für die neu angefertigte Einrichtung des jungen Paares und beläuft sich etwa auf den Gegenwert von zwei Jahreseinkommen eines gelernten Arbeiters im Florenz des 15. Jahrhunderts. Deutlich geht aus der Quelle hervor, dass es nicht der Brautvater war, der in diesem Fall für die Truhen gesorgt hatte, sondern dass der Bräutigam sie als Bestandteil der Schlafzimmerausstattung hatte anfertigen lassen. Das Ausmaß dieser Truhen mit ihrem schweren architektonisch geist nicht ursprünglich. Sie hätte den Gebrauch behindert. Zu denken sind sie als über den Cassoni auf Schulterhöhe an der Wand angebracht. Das Courtauld Institute hat diese Truhen vor kurzem mit einer eigenen Ausstellung gewürdigt. Vgl. Ausst.-Kat. Love and Marriage in Renaissance Florence. The Courtauld Wedding Chests, The Courtauld Gallery, London 2009. Der Begriff Spalliera verweist auf den Ort der Anbringung in Schulterhöhe an der Wand (spalla = Schulter).
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stalteten Rahmenwerk, aber auch ihre Verbindung zu der Wanddekoration schließen aus, dass diese Truhen noch als mobile Behälter für den Transfer des Brautschatzes hätten dienen können. Die Einrichtung des Schlafzimmers war schon immer Sache des Bräutigams gewesen. Denn die Heiraten in den italienischen Stadtrepubliken waren im 15. Jahrhundert strikt virilokal. Dass heißt, es war immer die Braut, die ihre Herkunftsfamilie verließ und umzog, um Mitglied eines neuen Familienverbandes zu werden. Mit ihren Hochzeitstruhen brachte sie jedoch ein materielles Zeichen ihrer Herkunftsfamilie in das Haus ihres Ehemannes, ein Zeichen, das zugleich dazu geeignet war, nicht nur dauerhaft an die Gründung der neuen Lebensgemeinschaft zu erinnern, sondern auch an den wichtigen Beitrag zum Familienvermögen, der mit ihr in den neuen Hausstand gekommen war. Als in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Zuständigkeit für die Truhen in die Verfügungsgewalt der Ehemänner überging und die Aussteuer in ephemeren Behältnissen transportiert wurde, in Körben und Tüchern, konnte die Pracht dieser Möbel zwar noch immer vom Stolz einer großen Mitgift künden, aber doch mit einer Verschiebung des Akzentes. Eine Truhe, die in der Camera auf die Braut schon wartet, erzählt von der Mitgift, die der Mann erhalten, und nicht mehr von der Mitgift, die die Braut mitgebracht hat. Eine solche Truhe betont die Einverleibung nicht nur der Mitgift in das Patrimonium des Ehemannes, sondern zugleich auch die Einverleibung der Frau in die neue Familie als Mutter zukünftiger Erben. Die auf dem Londoner Truhenensemble dargestellten Szenen sind den Büchern des Livius entnommen, einer reichen Quelle für die CassoneBilder vor allem in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Mit der Rezeption dieser Texte auch in der Hochzeitsmalerei verstärkt sich die Tendenz zur Verdrängung der im frühen 15. Jahrhundert beliebten amourösen Themen nach den Dichtungen Boccaccios wie auch der mythischen Verwandlungsgeschichten nach Ovid. Diese werden zunehmend abgelöst durch Bilder tugendhafter Weiblichkeit, militärischer Ereignisse und heroischer Männlichkeit. Die geschlechtsspezifische Zuweisung von Tugenden nimmt zum Teil rigide Züge an: Frauen erwerben Ehre durch Keuschheit, Männer hingegen Ruhm durch heroische Tatkraft. Die Bilder, mit denen die Truhen des Courtauld Institutes ausgestattet sind, sind für Letzteres charakteristische Beispiele. Thematische Leitfigur auf Truhenfronten und Spalliere ist dort die Figur des heldenhaften Römers, dessen Intelligenz, Mut und asketischer Selbstbeherrschung zu verdanken ist, dass die Stadt Rom aus schwerer Bedrängnis gerettet wird. Es stellt sich der Eindruck ein, Lorenzo di Matteo di Morelli habe, als er anlässlich seiner Heirat seine Camera ausstatten ließ, seiner Mannestugend ein markantes Denkmal im ehelichen Gemach setzen wollen. Die Bürger der Florentiner Stadtrepublik fühlten sich als die legitimen Erben des republikanischen Rom und dessen freiheitlichen Werten. Stellt man zudem die immense Bedeutung in Rechnung, die von ihnen der (patrilinearen) Deszendenz der Familien beigemessen wurde, drängt sich der Gedanke auf, nicht allein mannhafte Virtù habe hier für die Themenwahl eine Rolle gespielt, sondern der
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Anspruch, die eigene familiäre Linie zurückzuführen bis in jene heroischen Zeiten, da die Römer um den Bestand ihrer Republik erfolgreich fochten: Mucius Scaevola als imaginär-idealer Vorfahr in einer langen Reihe tugendhafter und tapferer Männer, die sich in der neuen Ehe fortpflanzen soll.
Dieser Text basiert auf dem Beitrag »Können Möbel Medien sein?« zum Workshop des Service-Zentrums zur Förderung von Frauen in Forschung und Lehre im Juni 2005 sowie auf der noch unveröffentlichten Habilitationsschrift über »Die italienischen Hochzeitstruhen des 15. Jahrhunderts« (Berlin 2008).
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Der Kabinettschrank und seine Bedeutung für die Kunst- und Wunderkammer des 17. Jahrhunderts Virginie Spenlé
Spricht man von Kabinettschränken, so sind kostbare Möbel gemeint, die zur Aufbewahrung wertvoller Sammlungsobjekte dienten. Der Bezug zur Sammlung ist bereits im Wort »Kabinett« enthalten, das aus dem Französischen stammt und seit dem 17. Jahrhundert den »Sammlungsraum« oder die »Sammlung« selbst bezeichnete: Mit dem Cabinet du Roi war beispielsweise die Gemälde- und Skulpturensammlung Ludwigs XIV. gemeint. Was wir heute jedoch »Kabinett« nennen, wurde im 16. und 17. Jahrhundert im deutschsprachigen Bereich gewöhnlich »Schreibtisch« genannt.1 Diese Bezeichnung deutet wiederum darauf hin, dass die untersuchten Möbelstücke ursprünglich Schreibmöbel waren: Die Frontklappe diente als Schreibunterlage, während die benötigten Utensilien und Unterlagen in dem kleinen Schrank aufbewahrt wurden, um bequem und sicher mit auf die Reise genommen zu werden. Die Kabinettschränke, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Augsburg und in anderen europäischen Hauptstädten hergestellt wurden, leiten sich typologisch von dem spanischen escritorio her: einem rechteckigen, kastenförmigen Reisemöbel mit tischartigem Untersatz, das im Inneren mehrere Fächer und Schubladen für Schreibgeräte, Papiere, Wertgegenstände und persönliche Habseligkeiten aufweist.2 Dieser Möbeltypus entwickelte sich am Ende des Mittelalters im Zuge der zunehmenden Schriftlichkeit und verdankte seinem ausgeprägten Symbolcharakter einen raschen Erfolg in höfischen Kreisen: Der escritorio wies seinen Besitzer als kultivierten Schriftkundigen aus. Nachdem Castiglione in seinem Traktat »Il Cortegiano« Gelehrtheit und Bildung zu den wichtigsten Attributen des Höflings erhoben hatte, erfüllte dieses Reisemöbel nicht ausschließlich praktische Zwecke, sondern diente vorrangig der sozialen Distinktion. Eine aufwendige Dekoration unter1 | Dieter Alfter: Die Geschichte des Augsburger Kabinettschranks (= Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen Bd. 15), Augsburg 1986, S. 10. 2 | Ebd., S. 18ff.
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V IRGINIE S PENLÉ strich meistens seinen repräsentativen Charakter, zumindest im Inneren des Kabinetts. Denn die äußere Erscheinung fiel angesichts seiner Bestimmung als Reisemöbel eher schlicht aus. Der Gegensatz zwischen schlichter Außengestaltung und Prunkentfaltung im Inneren kennzeichnete die meisten Kabinette bis ins 17. Jahrhundert hinein; auch die Tragegriffe an den Seiten blieben lange Zeit als Überrest erhalten. Bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts finden sich Zeugnisse dafür, dass das Kabinett nicht mehr nur als Reisemöbel genutzt wurde: Der französische Dichter Gilles Corrozet beschrieb es 1539 als Behälter, in dem »Königinnen und Herzoginnen« (»pour roynes ou pour duchesses«) ihre Juwelen aufbewahrten, aber auch Knöpfe, Spitzen, Handschuhe, Spiegel, Schreibzeug, Cremes, Pulver, Schminke und Parfüm – kurz: alles, was sie zu ihrem verfeinerten Lebensstil brauchten.3 Corrozet ordnete das Kabinett nicht nur der aristokratischen, sondern auch der weiblichen Welt zu. In der Tat wurden bis ins 18. Jahrhundert Kabinette und auch Kassetten (meistens mit Toilettennecessaire und Schreibzeug als Inhalt) Damen als Brautgaben geschenkt. Zugleich wies der Dichter auf eine andere Funktion des Kabinetts hin, die für seine Nutzung im 17. Jahrhundert ausschlaggebend war: Das Kabinett diene auch der Aufbewahrung von Medaillen, Bildern und antiken Stücken.4 Die Wandlung dieses Schreibmöbels zum Sammlerschrank hängt eindeutig mit der Wandlung des fürstlichen Arbeitszimmers zum Sammlungsraum zusammen. Bezeichnenderweise heißen das fürstliche Arbeitszimmer und das Kabinett im Italienischen beide scrittorio oder studiolo.5 Der Bezeichnung nach dienen beide dem Schreiben und dem Studium. Aber gegen Mitte des 16. Jahrhunderts wandelte sich das fürstliche Arbeitszimmer, das studiolo, zum Sammlungsraum. Als Beispiel dafür sei hier auf das studiolo verwiesen, das Francesco I. de’ Medici im Florentiner Regierungssitz, im Palazzo Vecchio, von 1570 bis 1573 einrichten ließ: Darin stellte der Regent wertvollste Sammlungsstücke als Spiegel seines enzyklopädisch ausgerichteten Wissenshorizontes auf.6 Etwa zur gleichen Zeit erschienen die ersten Sammlerschränke. Obgleich sie sich typologisch von dem escritorio herleiten, deutet eine entscheidende Neuerung auf ihre geänderte Nutzung als Sammlungsmöbel hin: Häufig ist vorn keine Schreibklappe mehr angebracht, sondern zwei Flügeltüren, hinter denen sich eine Schubladenfront mit sichtbaren und geheimen Fächern verbirgt. Der Verzicht auf die herunterklappbare Lade ist ein sichtbares Zeichen des Funktionswandels, den das Kabinett im dritten Viertel des 16. Jahrhunderts erfuhr (Abb. 1).
3 | Das Gedicht ist in voller Länge abgedruckt bei Monique Riccardi-Cubit: The Art of the Cabinet, London 1992, S. 6. 4 | Hierzu muss allerdings vermerkt werden, dass sich Corrozet mit der Bezeichnung cabinet wahrscheinlich eher auf den Sammlungsraum bezog als auf das Möbelstück. 5 | Alfter 1986 (wie Anm. 1), S. 18. 6 | Wolfgang Liebenwein: Studiolo. Storia e tipologia di uno spazio culturale, Modena 1992, S. 126ff.
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Etwa um dieselbe Zeit, zwischen 1550 und 1570, entstanden auch die ersten bedeutenden fürstlichen Kunstkammern im deutschsprachigen Gebiet, unter anderem in Wien, Dresden, Innsbruck, Kassel und München. In diesen Kunstkammern wurden die Objekte zum Teil auf Tischen und Regalen präsentiert, zum Teil in Kabinettschränken aufbewahrt. Diese Anordnung fand sich auch in bürgerlichen Sammlungen wieder, etwa in der Kunstkammer der Regensburger Großeisenhändler- und Gewerkenfamilie Dimpfel, die der Ulmer Maler Joseph Arnold 1668 in einem Aquarell (Abb. 2) darstellte: Auf drei langen Tischen, einem in der Mitte und zwei an Abbildung 1: Georg Bockschütz: Großer Kabinettschrank, Bad Tölz, den Längsseiten des Raumes, um 1560. Nadelholz (Konstruktion), verschiedene Hölzer (furniert), sind großformatige Objekte Eisenbeschläge, 52 x 94,5 x 46 cm. Kunstkammer Georg Laue, aufgestellt – Globen, Bücher, München Muscheln, Schädel, Plastiken, ein Kruzifix. Obwohl wissenschaftliche Instrumente, Kunstobjekte, antike Gegenstände und darunter auch Medaillen unverzichtbare Bestandteile einer Kunstkammer darstellen, sind hier kaum derartige Objekte zu sehen: Sie sind in den Kabinettschränken verstaut, die auf dem rechten Tisch und auf dem Boden stehen. In größeren, vor allem fürstlichen Sammlungen gab es wohl noch mehr hohe Schränke, Kabinette, Truhen und Futterale. Zumindest erwähnen die Kunstkammerinventare zahlreiche »Schreibtische«, von denen jedes Mal nur die enthaltenen Objekte beschrieben sind.7 Diese sollten vor Schmutz, Staub und Diebstahl geschützt werden. Doch erfüllte der Kabinettschrank nicht nur einen praktischen Zweck als Schutzbehälter für Kostbarkeiten. Welche Stellung diesem Möbelstück innerhalb der frühneuzeitlichen Kunstkammer zukam, wird anhand einer Zeichnung deutlich, auf der der Nürnberger Maler und Kupferstecher Michael Herr die Kunstkammer des Nürnberger Grafen Johann darstellte (Abb. 3). Herr inszenierte den Kabinettschrank als prominentes Stück der Sammlung, indem er ihn links im Vordergrund platzierte, eingerahmt von zwei Skulpturen eines Mannes und einer Frau, die den Schrank vorzustellen scheinen. Die geöffneten Flügeltüren geben den Blick frei auf die Schubladenfassade mit ihren zwei mittleren Fächern, in denen eine Kette und kleinere Gefäße dekorativ platziert sind. Darunter sind in zwei geöffneten Schubladen Münzen und Muscheln zu sehen. In einer Sammlung, die fast ausschließlich den bildenden Künsten gewidmet zu sein schien, entsprach das Kabinett mit seinem vielfältigen Inhalt dem, was die Kunst7 | Alfter 1986 (wie Anm. 1), S. 39.
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kammer um die Mitte des 17. Jahrhunderts war: eine Sammlung enzyklopädischen Charakters.
Abbildung 2: Joseph Arnold: Die Kunstkammer der Regensburger Großeisenhändler- und Gewerkenfamilie Dimpfel, Ulm, 1668. Deckfarbe mit Goldhöhung auf Pergament. Ulmer Museum, Ulm
Abbildung 3: Michael Herr: Die Kunstkammer des Johann Sept. Jörger, Mitte des 17. Jahrhunderts. Federzeichnung (aquarelliert). Graphische Sammlung der Universität, Erlangen
Spätestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts galt der Kabinettschrank als Kunstkammer per se: Wie die Kunstkammer unterlag er der Vorstellung eines selbstständigen Mikrokosmos, in dem sich die Mannigfaltigkeit des Makrokosmos, das heißt der göttlichen Schöpfung, widerspiegelte und der die Stellung des Menschen in der göttlichen Ordnung veranschaulichte. Mit Vorliebe wurden darin Objekte kleineren Formats präsentiert, sowohl Naturalien als auch Artificialien, die in ihrer Mannigfaltigkeit das Wissen um die Ordnung der Welt zusammenfassten. Bezeichnend für den symbolischen Vorrang des Kabinettschrankes in der Kunstkammer ist das sogenannte tempietto, ein Ebenholzmöbel, das seit Ende des 16. Jahrhunderts im Zentrum der Florentiner Uffizien, in der sogenannten tribuna, aufgestellt war und in dem Gemmen, Edelsteine, Münzen und Medaillen aufbewahrt wurden. Die tribuna war den besten Stücken der Medici-Sammlungen gewidmet, und als Herz der Florentiner Uffizien unterlag dieser überkuppelte Zentralraum einem ikonographischen Programm, dessen kosmologisches Gedankengut für die Gestaltung des Schrankes wieder aufgegriffen wurde.8 Das tempietto stand im Zentrum des Raumes und somit im Zentrum der Uffizien; es subsumierte außerdem durch Inhalt und Dekoration das Programm der tribuna als Herz der Medici-Sammlungen.
8 | Detlef Heikamp: »Zur Geschichte der Uffizien-Tribuna und der Kunstschränke in Florenz und Deutschland«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte Bd. 26 (1963), S. 193-268, hier S. 209ff.
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Die Übereinstimmung zwischen Kabinettschrank und Sammlung, zwischen Behälter und Inhalt, trieb der Augsburger Diplomat und Kunstagent Philipp Hainhofer (1578-1647) auf die Spitze, indem er einige große Kunstschränke in Augsburg in Auftrag gab, die sich durch die Komplexität ihres ikonographischen Programms, durch die Vielzahl der Geheimladen und durch die Zusammenstellung des mitgelieferten Inhalts auszeichnen.9 Der sogenannte Pommersche Kunstschrank, den er 1617 Philipp II. von Pommern-Stettin überbrachte, ist meines Wissens das erste Möbelstück, das den Ausgangspunkt zur Konzeption von neuen Sammlungsräumen bildete (Abb. 4). Nicht zufällig hatte Hainhofer Philipp II. noch vor der Fertigstellung des Schrankes einen Entwurf zur Einrichtung einer Kunstkammer geschickt, in deren Mitte der Schrank stehen sollte.10 Abbildung 4: Anton Mozart: Die Übergabe des Pommerschen Kunstschrankes, Augsburg, 1615/16. Öl auf Holz. Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Die monumentalen Kunstschränke, die Hainhofer im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts entstehen ließ, stellen jedoch eine Ausnahme in der Geschichte des Kabinettschrankes dar. Denn im Gegensatz zu ihnen fielen die meisten Sammlerschränke in Konzeption, Gestaltung und Format deut9 | Barbara Mundt: Der Pommersche Kunstschrank des Augsburger Unternehmers Philipp Hainhofer für den gelehrten Herzog Philipp II. von Pommern, München 2009, S. 135ff. 10 | Vgl. Philipp Hainhofer: »Bedenken vber Gebew zu Bibliothek, Kunst- vnd RustKammer«, in: Julius Lessing/Adolf Brüning (Hg.): Der Pommersche Kunstschrank, Berlin 1905, S. 8.
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lich bescheidener aus. Der Bezug zur Kunstkammer als Spiegel des Makrokosmos war jedoch auch bei schlichteren Kabinettschränken vorhanden, und zwar durch ihren Inhalt und durch ihre Ikonographie. Wenn beispielsweise die vier Elemente in Intarsien, Gravuren oder Gemälden an oder im Kabinett dargestellt sind, so darf man nicht vergessen, dass die vier Elemente in der frühneuzeitlichen Kunstkammer ein wesentliches Ordnungskriterium darstellten.11 Andere Themen wie die sieben Planeten (die meistens mit den vier Elementen assoziiert wurden), die vier Jahreszeiten, die zwölf Tierzeichen, die zwölf Monate, die Kontinente, die Artes liberales (die freien Künste) und Artes mechanicae (die praktischen Künste), die Tugenden und die Laster et cetera gehören zur Ikonographie sowohl der Kunstkammer als auch des Sammlerkabinetts, da Abbildung 5: Renaissance-Miniaturkästchen, Süddeutsch, sie die göttliche Ordnung widerum 1570. Fichte (Konstruktion), verschiedene Hölzer (furniert), spiegeln und die Stellung, die Perlmutt, Leder, Goldprägung, Eisenbeschläge, 16 x 19 x 15 cm. der Mensch darin einnimmt. Kunstkammer Georg Laue, München Auch abstrakte Ornamente wie jene stereometrischen Körper, die um 1570 als Intarsienarbeit bei einigen Sammlungsmöbeln auftauchen, nehmen Bezug auf die Geometrie als Königswissenschaft zur Untersuchung der göttlichen Ordnung (Abb. 5). Die Kunstkammer wie der Kabinettschrank fasste das Wissen um die Zusammensetzung des Universums zusammen. Für den wissbegierigen Besucher stellte die Kontemplation einen wichtigen Schritt des Erkenntnisprozesses dar. Hainhofer selbst setzte sich bei Kunstkammerbesuchen das Ziel, »in contemplatione wol ain tag mit [zuzubringen]«12 . Gleichermaßen betonte er die Rolle der Kontemplation in seiner Beschreibung des Kunstschrankes, den Erzherzog Leopold von Tirol als Geschenk für den Großherzog der Toskana von Hainhofer erwarb: »ain herr [solle] neben dem nutzen vnd dienst, schöne meditationes vnd contemplationes an disem schreibtisch haben.«13 Weil Kunstschränke und Kabinettschränke der Kontemplation dienten, wurden die meisten mit einem Pult oder einer Lade versehen, die der Kunstkammerbesucher herunterklappen oder herausziehen konnte 11 | Klaus Minges: Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung, Münster 1998, S. 37f. 12 | Zit. nach Heikamp 1963 (wie Anm. 8), S. 255f. 13 | Lessing/Brünning 1905 (wie Anm. 10), S. 10.
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und auf der er die Objekte ablegte, um sie zu begutachten, ja, um sie wie Reliquien zu bewundern. Der Kabinettschrank war, wie die Kunstkammer selbst, ein Sanktuarium göttlicher Schöpfung, das den Betrachter zur Meditation einlud. Dies erklärt, warum einige Kabinettschränke zugleich als Hausaltar gestaltet sind (Abb. 6).
Abbildung 6: Kabinettschrank mit Hausaltar, Augsburg, 1601. Malerei: Anton Mozart zugeschrieben. Sarah Campbell Blaffer Foundation, Houston
Wenngleich die Kontemplation einen wesentlichen Schritt zur Erkenntnis darstellte, setzte sie das Aktivwerden voraus: Der Betrachter musste erst den Schrank erforschen, um die Objekte nach und nach zu entdecken, die ihn zur Meditation über die Natur und den Rang des Menschen in der kosmischen Ordnung bewegen sollten. In der Kunstkammer, wo Wissensgewinn spielerisch durch Sehen, Assoziieren und Denken erzielt wurde,14 spielte die Überraschung eine große Rolle. Der Begriff »Kunst- und Wunderkammer« unterstreicht die Bedeutung des Wunderns und des Staunens als kognitives Prinzip. Dies galt umso mehr für den Kabinettschrank, in dem die verschiedensten Objekte kunstvoll und geschickt verschachtelt waren: Durch das Verbergen und Enthüllen konnte das Überraschungsmoment noch intensiver gestaltet werden. Hainhofers Kunstschränke haben in dieser Hinsicht Vorbildcharakter: Sah der Besucher den meistens kastenförmigen Schrank im geschlossenen Zustand, so konnte er nichts von dem Inhaltsreichtum und dessen Charakter als Wissenskompendium
14 | Horst Bredekamp: »Die Kunstkammer als Ort spielerischen Austauschs«, in: Thomas Gaehtgens: Künstlerischer Austausch, 3 Bde., Berlin 1993, Bd. 1, S. 6578, hier S. 65.
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ahnen.15 Er musste erst komplizierte Öffnungsmechanismen tätigen oder aber vorgeführt bekommen. Zum Beispiel verstecken sich unter der Platte des Arbeitstisches der sächsischen Kurfürstin Magdalena Sybilla Fächer, die nur Eingeweihte zu öffnen vermochten.16 Die Überraschung stand ebenso bei kleinen Kabinettschränken im Vordergrund, weswegen sie fast immer Geheimfächer und Schubladen aufweisen, welche die Neugierde des Betrachters erwecken und ihn in Staunen versetzen sollten (Abb. 7).
Abbildung 7: Verwandlungsmöbel, Augsburg, um 1620. Nadelholz, Ebenholz (furniert), Schubladen mit Seide ausgekleidet, 32 x 36,5 x 27,5 cm. Kunstkammer Georg Laue, München
Besuchte man die Kunstkammer im Rahmen einer Führung, wie üblich im 17. Jahrhundert, so nahm der Kunstkämmerer die Objekte aus dem Schrank und reichte sie dem Besucher. Dieses Ritual des »Entbergens«17 wurde in einigen Fällen durch das Öffnen eines prächtigen Futterals verstärkt. Bezeichnenderweise hatte Hainhofer Philipp II. von Pommern-Stettin empfohlen, den Pommerschen Kunstschrank im Zentrum der Kunstkammer auf einem Tisch zu präsentieren, und zwar »mit seine[m] Futteral bedeckt«18 . Als Christoph Angermair zwischen 1618 und 1624 einen kostbaren Münzschrein aus Elfenbein für Maximilian I. von Bayern herstellte, konzipierte er dazu ein ansehnliches Futteral-Möbel, eine Art kostbaren Umschlag, der es überhaupt ermöglichte, den eigentlichen Sammlerschrank zu enthüllen und das Staunen des Besuchers zu steigern.19 Kabinettschränke, ob klein oder groß, schlicht oder prächtig, stellten als Katalysator des Staunens einen unverzichtbaren Bestandteil von Kunstkammern dar –
15 | Heikamp 1963 (wie Anm. 8), S. 238. 16 | Thorsten Eichhorn: Die Kunstkammertische Philipp Hainhofers im Kunstgewerbemuseum zu Dresden, unveröffentlichte Magisterarbeit, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg 2004, S. 80ff. 17 | Anke te Heesen: »Geschlossene und transparente Ordnungen. Sammlungsmöbel und ihre Wahrnehmung in der Aufklärungszeit«, in diesem Band., S. 96. 18 | Lessing/Brüning 1905 (wie Anm. 10), S. 8. 19 | Georg Himmelheber: Kabinettschränke (= Bildführer Bayerisches Nationalmuseum München Bd. 4), München 1977, S. 34.
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insbesondere von fürstlichen Kunstkammern, in denen sie gezielt als Mittel fürstlicher Repräsentation eingesetzt werden konnten. In einer Gesellschaft, in welcher der Status eines jeden durch ein komplexes Zeichensystem festgelegt und definiert wurde, nahm jede Äußerung des Fürsten eine symbolische Bedeutung ein: Von der Praxis der Jagd bis hin zur Kunstliebhaberei zeugten seine Tätigkeiten und Vorlieben von seiner Berufung zur Machtausübung.20 Auch die Kunstkammer hatte symbolischen Charakter: Als Sinnbild fürstlicher Erziehung trug sie die verschiedenen Eigenschaften zur Schau, die den Fürsten zum Regieren beriefen und befähigten. Wenn etwa in der Dresdner Kunstkammer die Drehbank von Kurfürst August zusammen mit den Elfenbeinpokalen ausgestellt war, die der sächsische Herrscher eigenhändig gedrechselt hatte,21 so war die Aussage dieser Exponate in erster Linie symbolisch: Sie deuten auf die Fähigkeit des Fürsten hin, seine Umwelt als Princeps artifex zu formen, das heißt, die Gesellschaft unter seiner gerechten Führung zu modellieren.22 Welche Aussage ging nun von den Kabinettschränken aus? Wurden auch sie als Sinnbild des Regierens verstanden? Sicher ist, dass sie genauso wie gedrechselte Elfenbeinpokale Erzeugnisse eines technisch hochstehenden Handwerkes sind, nämlich der Kunsttischlerei. Tjark Hausmann hat in seiner Untersuchung zum Pommerschen Kunstschrank überzeugend dargestellt, dass Hainhofer den Pommerschen Kunstschrank als Sinnbild der freien Künste und der praktischen Künste konzipierte und damit auf die Tugenden anspielte, die von einem Fürsten erwartet wurden.23 Castiglione hatte Anfang des 16. Jahrhunderts in seinem Traktat »Il Cortegiano« festgehalten, der Fürst solle noch mehr als alle anderen Adligen ein universal gebildeter Mensch sein, ein Uomo universale: Er solle nicht nur im Fechten und in der Kriegskunst ausgebildet, sondern auch in Musik und in Künsten bewandert sein und darüber hinaus Mathematik und andere Wissenschaften beherrschen. Entgegen unserer modernen Vorstellung war der Fürst auch angehalten, sich mit den Artes mechanicae auseinanderzusetzen – also mit den verschiedenen Kunsthandwerken. Als der französische Schriftsteller Rabelais 1535 den idealen Fürsten in Gestalt des Riesen Gargantua erdichtete, sprach er dieser imaginären Figur nicht nur Kenntnisse in Mathematik, Astronomie und Musik, sondern auch Übung in zahlreichen 20 | Zum Hof als Zeichensystem vgl. die prägnant formulierten Thesen von PeterMichael Hahn/Ulrich Schütte: Thesen zur Rekonstruktion höfischer Zeichensysteme in der Frühen Neuzeit, www.rudolstaedter-arbeitskreis.de/thesen.doc (Juli 2005). 21 | Kristina Popova: »Rekonstruktion der Dresdner Kunstkammer auf der Grundlage des Inventars von 1640«, in: Barbara Marx (Hg.): Kunst und Repräsentation. Die Dresdner Hofkultur in Renaissance und Barock, München, Berlin 2005, S. 170-197, hier S. 174. 22 | Klaus Maurice: Der drechselnde Souverän. Materialien zu einer fürstlichen Maschinenkunst, Zürich 1985, S. 28. 23 | Tjark Hausmann: »Der Pommersche Kunstschrank. Das Problem seines inneren Aufbaus«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte Bd. 22 (1959), S. 337-352, hier S. 347f., auch für die folgenden Ausführungen.
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V IRGINIE S PENLÉ Handwerken zu, eben weil Gargantua die Gesellschaft als Princeps artifex zu einem kunstvollen Gefüge bilden sollte. Im Kontext der Kunstkammer bot sich also der Kabinettschrank wie die Drechselbank perfekt als Träger der Analogie zwischen gekonntem Handwerk und guter Regierung an. Ein Bericht von Hainhofer bestätigt dies: Als dieser 1628 den sogenannten Stipo tedesco zu Erzherzog Leopold nach Innsbruck brachte, begleitete ihn Ulrich Baumgartner, der die Tischlerarbeit am Möbel verrichtet hatte. Die Anwesenheit Baumgartners war insofern erforderlich, als der Schrank in Einzelteilen transportiert wurde und die Montage äußerst kompliziert war.24 Der Aufbau vor Ort dauerte lange, und dennoch blieb der Erzherzog die ganze Zeit dabei und schaute Baumgartner bei der Arbeit zu. Am Tag darauf beehrte er den Kunsttischler mit einem Besuch in seiner eigenen Drechselwerkstatt. Die Gleichstellung des Kunsttischlers mit dem drechselnden Fürsten ist ein deutlicher Anzeiger für die symbolische Funktion des Kabinettmöbels als Sinnbild der gerechten Regierung. Wichtig waren Kabinettmöbel in der Kunstkammer auch deswegen, weil sie dem Hausherrn Anlass gaben, mit seinem Gast über die enthaltenen Objekte zu sprechen und sein Wissen durch gekonntes Reden unter Beweis zu stellen. Wenn dem Kunstkammerbesuch politischer Charakter zukam,25 so ist dies auch darauf zurückzuführen, dass er dem Fürsten zur Selbstdarstellung als Gelehrter verhalf. In seinen Berichten bezog sich Philipp Hainhofer oft auf seine Kunstschränke als Anlass zum gelehrten Gespräch. So hatte er am 2. September 1617 Philipp II. von Pommern-Stettin und seinem Hof den Inhalt des Pommerschen Kunstschrankes einen ganzen Tag lang vorgeführt, worauf man sich abends zu Tisch begab und »über die Künstler und Künsten ob der Nacht-Mahlzeit viel Discurs gehabt«26 . Das Gespräch stellte auch ein wesentliches Moment dar, als Gustav II. Adolf Hainhofer im Jahre 1632 besuchte und den Kunstschrank studierte, den ihm die Stadt Augsburg etwas später schenken sollte: Der schwedische König habe über den Inhalt des Möbels »schönen discurs […] gehalten, gar viel dings und deren usum von selbsten gekannt und gewußt […], wie denn Ihre Maj. in omni scibili [in allen Sachen] wol versiert und ain magister omnium artium [Meister in allen Künsten] sein«27. Hainhofer selbst verfiel diesem Muster der Selbstdarstellung durch Redekunst, als er 1628 den stipo tedesco in Innsbruck ablieferte: Damals habe er »vber die invention, veber die historias vnd figuren allerhand gespräch in lateinischer, deutscher vnd italianischer Sprach«28 gehalten. Und als der Augsburger Maler Anton Mozart alle Künstler porträtierte, die an der 24 | Zit. nach Lessing/Brüning 1905 (wie Anm. 10), S. 17f.; auch für die folgenden Ausführungen. 25 | Von Rudolf II. ist beispielsweise bekannt, dass er ab und zu Diplomaten durch seine Kunstkammer führte, vgl. Thomas DaCosta Kaufmann: »Remarks on the Collections of Rudolf II: The Kunstkammer as a Form of Representation«, in: Art Journal Bd. 38 (1978), S. 22-28, hier S. 22. 26 | Zit. nach Lessing/Brüning 1905 (wie Anm. 10), S. 13. 27 | Zit. nach Hausmann 1959 (wie Anm. 23), S. 349. 28 | Zit. nach Lessing/Brünning 1905 (wie Anm. 10), S. 10.
D ER K ABINETTSCHRANK UND SEINE B EDEUTUNG FÜR DIE K UNST - UND W UNDERKAMMER Herstellung des Pommerschen Kunstschrankes mitgewirkt hatten, stellte er Hainhofer bewusst in dem Augenblick dar, in dem er den Inhalt des Schrankes präsentierte und besprach (Abb. 4). Der Redekunst kam am Hof eine besonders hohe Bedeutung zu, da sie als Distinktionsmerkmal galt. Als der Architekt und Sammlungstheoretiker Leonhard Christoph Sturm 1707 seine Anleitung zum Aufbau einer »Raritäten- und Naturalien-Kammer« verfasste, setzte er sich ausdrücklich zum Ziel, »einem verständigen Anschauer tausend Gelegenheit geben [zu] können/ seinen Verstand zu ergötzen/an Geschicklichkeit in angenehmen Discurs und Conversation zuzunehmen/und täglich reicher an guten Einfällen und Gedancken zu werden«29 . Dem Kabinettschrank kam genau dieselbe Funktion zu: Er sollte den Betrachter dazu animieren, sein Wissen im Gespräch überzeugend zu präsentieren und damit seinen gehobenen sozialen Status am Hof zu demonstrieren und zu festigen. Deswegen wurden Sammler im 17. Jahrhundert oft beim Sprechen dargestellt, wie beispielsweise auf einer Zeichnung von Jan Luyken: Dort stehen die Kenner vor dem Kabinettschrank, aus dem sie Objekte herausnehmen und besprechen (Abb. 8).
Abbildung 8: Jan Luyken: Das Kabinett, 1711. Tinte auf Papier. Historisch Museum, Amsterdam
29 | Leonhard Christoph Sturm: Die geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer […], Hamburg 1707, S. 1f.
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All diese Facetten des Kabinettschrankes erklären, warum dieser Möbeltypus in höfischen Kreisen besonders beliebt war. In seiner Korrespondenz betonte Hainhofer, dass die Augsburger Ebenholzmöbel »nicht für den gemeinen Mann, sondern durch Potentaten und herren angefrimbt und verschiekht«30 würden. In der Tat fanden sich die meisten Abnehmer für solche Arbeiten an den deutschen und auch an den anderen europäischen Höfen. Zwischen 1610 und 1655 bestellte der bayerische Hof eine große Zahl von »Appoteggen«, »Trüchsel«, Truhen, und Kabinettschränken aus kostbaren Materialien, exotischen Hölzern, Silber, Edelsteinen, Perlmutt, Schildpatt und Elfenbein.31 Diese waren offensichtlich nicht alle zur Aufstellung in der kurfürstlichen Kunstkammer bestimmt: Sie fanden auch ihren Platz in den Wohngemächern der kurfürstlichen Familie. Zwar war der Kabinettschrank in der Kunstkammer unverzichtbar, er war aber auch außerhalb des Sammlungsraumes aufgestellt und gehörte zum aristokratischen wie zum bürgerlichen Haushalt. Denn neben den aufwendigen Schränken Hainhofers wurden in Augsburg, Antwerpen, Paris, Florenz und Neapel auch eine Vielzahl erschwinglicher Kabinettmöbel seriell hergestellt. Diese dienten häufig nicht mehr als Sammlungsschrank: Insbesondere Miniaturmöbel verloren aufgrund der geringen Maße jegliche Funktionalität; sie galten in höfischen wie bürgerlichen Kreisen vielmehr als reine Statussymbole (Abb. 5). Selbst wenn sie nicht immer im Zusammenhang mit universalen Sammlungen gezeigt wurden, galten Kabinettmöbel um die Mitte des 17. Jahrhunderts weiterhin als Sinnbild des Sammelns und somit als Anzeiger von Kultiviertheit und Gelehrsamkeit. Dies wird an einem Bartolomeo Bettera zugeschriebenen Stillleben deutlich, in dem verschiedene Musikinstrumente zusammen mit einer Armillarsphäre, einem Buch und einem Schreibkasten süddeutscher oder tiroler Herkunft zu einem malerischen Ensemble zusammengestellt sind (Abb. 9). Die Musikinstrumente stehen, genauso wie die Armillarsphäre, für die Harmonie des Universums. Bei dem Buch handelt es sich um ein »Dello specchio di scientia universale« betiteltes Traktat des Bologneser Arztes und Alchemisten Leonardo Fioravanti: Es deutet zeichenhaft auf die Fähigkeit des Menschen hin, die Zusammensetzung der göttlichen Schöpfung zu analysieren und diese Erkenntnisse zur Gestaltung seiner Umwelt anzuwenden.32 Das kleine Kabinett steht wiederum als pars pro toto einer Kunstkammer, deren Ziel ebenfalls darin besteht, dem Betrachter die Schöpfung Gottes in ihrer Harmonie vor Augen zu führen und ihn auf den Weg der Erkenntnis zu geleiten. All diese Gegenstände verweisen somit auf die Bildung und Gelehrsamkeit des Besitzers, der mit ihrer Hilfe im Stande ist, die 30 | Zit. nach Alfter 1986 (wie Anm. 1), S. 30. 31 | Himmelheber 1975 (wie Anm. 19), S. 116ff. 32 | Dieses wissenschaftliche Kompendium, das sowohl pharmazeutischen, alchemistischen als auch gastronomischen Fragen gewidmet ist, erschien erstmals 1564 und wurde 1619 auf Deutsch unter dem Titel »Allgemeiner Kunst und Weltspiegel« veröffentlicht.
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Geheimnisse der göttlichen Schöpfung zu erforschen. Doch der Maler fügte in diese Darstellung ein kritisches Element ein, das die abgebildeten Objekte ihres symbolischen Gehaltes beraubt: Die Laute im Vordergrund ist so verstaubt, dass Fingerspuren darauf zu erkennen sind. Damit wird dem Betrachter klar, dass all die abgebildeten Objekte bloß für das Stillleben herangeholt und ansonsten nicht genutzt wurden. Diese ironische Zutat des Künstlers zeigt den Bedeutungsverlust von Kunstkammerobjekten an und im Allgemeinen den Bedeutungsverlust von Kunstkammern als wissenschaftliches Arbeitsmittel und Mittel sozialer Distinktion. Abbildung 9: Bartolomeo Bettera (zugeschrieben): Stilleben mit einem Schreibkabinett und Musikinstrumenten, 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Öl auf Leinwand. Privatsammlung
Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts unterlag die Kunstkammer einem merklichen strukturellen Wandel, der allmählich zur Trennung von Naturalia und Artificialia und zur Gründung spezialisierter Sammlungen führte. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse hatten die Genese moderner Klassifikationssysteme gefördert und die traditionelle Ordnung der Kunstkammer als Abbild des göttlichen und der menschlichen Schöpfung nach dem Prinzip der Analogie in Frage gestellt.33 Die neuen wissenschaftlichen Ordnungsmuster setzten zugleich eine Transparenz voraus, die dem Betrachter das Identifizieren eines Objektes auf Anhieb ermöglichte und ihm die Bedeutung der Exponate für die Naturgeschichte oder für die Geschichte der Kunst nahebrachte. Daher prangerte Leonhard Christoph Sturm die bisher übliche Praxis an, die besten Stücke einer Sammlung in verschlossenen Schränken aufzubewahren, wo
33 | Claudia Valter: »Kunst- und Naturalienkabinette in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Ausst.-Kat. 250 Jahre Museum. Von den fürstlichen Sammlungen zum Museum der Aufklärung, Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig 2004, S. 21-30, hier S. 23f.
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sie nicht sichtbar seien.34 Er schlug stattdessen die Einrichtung großer verglaster Schränke vor, in denen die Objekte sichtbar nach ihren Eigenschaften neu geordnet werden sollten. In der Kunstkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, die 1698 gegründet worden war, stellte man im Zuge der Neueinrichtung von 1736 sechzehn große Regalschränke auf, die Sturms Anforderungen entsprachen: Darin waren die Exponate je nach Gattungszugehörigkeit ausgestellt. Die Bekrönung jedes Schrankes zeigt heute noch eine gemalte Darstellung, welche die verschiedenen Ausstellungs- und Ordnungskategorien veranschaulicht: Ein Indianer steht über dem Schrank, in dem ethnographische Exponate zu sehen sind, gemalte Blumen sind über dem Schrank für Nüsse und Samen, ein Leopard über dem Schrank für Tierpräparate und so weiter (Abb. 10).35
Abbildung 10: Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 1698/1736. Blick in den restaurierten Sammlungsraum
Abbildung 11: François Ertinger: Die Kunstkammer der Klosterbibliothek von Sainte-Genevieve in Paris. Aus: Claude Du Molinet: Le Cabinet de la Bibliotheque de Sainte-Genevieve, Paris 1697. Bibliotheque Municipale, Versailles
34 | Christoph Becker: Vom Raritäten-Kabinett zur Sammlung als Institution. Sammeln und Ordnen im Zeitalter der Aufklärung, Egelsbach 1996, S. 29. 35 | Thomas Jakob Müller-Bahlke: Die Wunderkammer. Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle/Saale 1998, S. 32ff.
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Da die Ordnung der Objekte die moderne Taxonomie veranschaulichen und die erkennende Sicht auf die Natur und auf die Kunst im Raum ermöglichen sollte, war Transparenz zur wichtigsten Anforderung an den Sammlungsschrank geworden:36 Angesichts dieser neuen Anforderungen musste der Kabinettschrank mit seinem Wechselspiel von Verbergen und Enthüllen als hoffnungslos veraltetes Ordnungselement gelten. Typisch für den Niedergang des Kabinetts als Sammlungsmöbel ist die Entwicklung der Kunstkammer der Augustinerabtei Sainte-Geneviève in Paris. Im Jahre 1675 hatte der Pater Claude Du Molinet die enzyklopädische Sammlung der Abtei gegründet und in einem Raum neben der Bibliothek eingerichtet. Dort standen zwölf Kabinettschränke unterschiedlicher Größe, die zum größten Teil im Katalog der Sammlung abgebildet sind (Abb. 11).37 Während in den Schränken Medaillen und allerlei Antikes aufbewahrt wurden, ließ Du Molinet auf und unter diesen Kabinetten Präparate von seltenen Tieren sowie optische Instrumente aufstellen.38 Es war genau diese Art von Präsentation, die Leonhard Christoph Sturm in seinem Traktat zur »geöffneten Raritäten- und Naturalien-Kammer« als unzulänglich kritisierte.39 Stattdessen plädierte der Sammlungstheoretiker für große Schränke, die eine bessere Ordnung der Exponate und das Erfassen dieser Ordnung durch das Auge ermöglichten. Seine Ausstellungsdirektiven wurden spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Standard musealer Einrichtungen, auch in Frankreich. Deswegen war der kleinen Kunstkammer der Klosterbibliothek Sainte-Geneviève nur eine kurze Lebensdauer beschieden: Nachdem die Bibliothek vergrößert worden war, wurde die Sammlung 1753 in zwei Räumen neu eingerichtet. Artificialia und Naturalia wurden voneinander getrennt; die Kabinette schaffte man zugunsten von vier Meter hohen Schränken mit Glastüren ab, in denen die Objekte je nach Materialbeschaffenheit neu geordnet wurden.40 Die Einführung moderner Präsentationskriterien hatte somit nicht nur das Ende der Kunstkammer zur Folge, sondern auch das Ende des Kabinetts als Sammlerschrank.
Dieser Text wurde zuerst veröffentlich in: Georg Laue (Hg.): Möbel für die Kunstkammern Europas: Kabinettschränke und Prunkkassetten, München 2008, S. 10-23. Der Beitrag wurde für diese Ausgabe leicht überarbeitet und gekürzt.
36 | te Heesen (wie Anm. 17) in diesem Band, S. 100. 37 | Claude Du Molinet: Le Cabinet de la Bibliothèque de Sainte-Geneviève, Paris 1697, Vorwort (préface), unpaginiert. 38 | Ebd. 39 | Sturm 1707 (wie Anm. 29), S. 22f. 40 | Vgl. Ausst.-Kat. Le Cabinet de Curiosités de la Bibliothèque Sainte-Geneviève des Origines à nos jours, Bibliothek Sainte-Geneviève, Paris 1989, S. 23ff.
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Geschlossene und transparente Ordnungen Sammlungsmöbel und ihre Wahrnehmung in der Aufklärungszeit Anke te Heesen
E INLEITUNG In den letzten Jahren teilen Wissenschafts- und Sammlungsgeschichte ein gemeinsames Forschungsinteresse: das Interesse für Dinge, Lokalitäten und Werkzeuge der Wissensgewinnung. Die in diesem Umfeld entstandenen Studien zeigen, dass Wissenschaftsgeschichte über ein hermeneutisches Verständnis der Quellen hinausgehen und auch nach den Modalitäten von Wissen fragen kann: Wie entsteht Wissen und auf welchen Prämissen beruht es? Welche Faktoren bedingen eine Wissensgenerierung? Im Gefolge solcher Fragen spricht man heute von Wissensräumen und -orten, werden Instrumente und Praktiken zur Erklärung von Wissenschaft herangezogen und schenkt man der Wissenschaft im Machen, dem Experiment und seinen Bedingungen besondere Beachtung.1 Parallel dazu bringt im Gefolge der Schriften Krzystof Pomians die Renaissance der Sammlungsgeschichte zahlreiche Arbeiten über die aufbewahrten Objekte, das Anlegen der Inventare und die Räumlichkeiten der Sammlungen von Kunst, Kuriositäten und Naturalien hervor.2 1 | Vgl. etwa Bruno Latour: »Drawing Things Together«, in: Michael Lynch/Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge/Mass. 1990, S. 19-68; Adi Ophir/Steven Sharpin: »The Place of Knowledge. A Methodological Survey«, in: Science in Context Bd. 4 (1991), S. 3-21; Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997; Steven Shapin/Simon Schaffer: Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton 1985, und Heinz Otto Sibum: »Reworking the Mechanical Value of Heat: Instrumentes of Precision and Gestures of Accuracy in Early Victorian England«, in: Studies in the History and Philosophy of Science Bd. 26, H. 1 (1995), S. 73-106. 2 | Aus den zahlreichen Veröffentlichungen seien hier die Sammel- und Standardwerke genannt: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450-1800 (= Berliner Schriften zur
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Einige Studien verschränken Wissenschafts- und Sammlungsgeschichte und zeigen dabei, dass die klassische sammlungsgeschichtliche Frage nach den vorhandenen Objekten um die von der Anthropologie und neueren Wissenschaftsgeschichte angeregten Frage nach dem Umgang mit den Objekten und ihrer multifunktionalen Verwendbarkeit erweitert werden muss. Umgekehrt wird deutlich, dass die Sammlungsgeschichte neue Erkenntnisse etwa über frühneuzeitliche Wissenschaft und dem daran beteiligten Personenkreis erbringt.3 Doch in beiden Forschungsbereichen wird bisher nur selten der Aspekt der Präsentationsweisen und Speicherung der Objekte, und damit der Behältnisse einer Sammlung, behandelt.4 Gerade sie aber sind es, die eine materiale Praxis der Naturgeschichte aufzeigen und verdeutlichen, welche sensuell rezeptiven Zugänge auf die Dinge im Raum möglich waren.5 Denn der Sammlungsschrank war nicht nur schützendes Behältnis fragiler Ob-
Museumskunde Bd. 10), Opladen 1994; Oliver Impey/Arthur MacGregor (Hg.): The Origins of Museum. The Cabinet of Curiosities in Sixteenth- and Seventeenth-Century Europe, Oxford 1985; Giuseppe Olmi: »From the Marvellous to the Commonplace: Notes on Natural History Museums (16th-18th Centuries)«, in: Renato G. Mazzolini (Hg.): Non-Verbal Communication in Science prior to 1900 (= Biblioteca di Nuncius, Studi e Testi Bd. 11), Florenz 1993, S. 235-278; Krzystof Pomian: Collectors and Curiosities. Paris and Venice, 1500-1800, Cambridge 1990. 3 | Vgl. hierzu Debora J. Meijers: Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780 (= Schriften des Kunsthistorischen Museums Bd. 2), Wien, Mailand 1995; Paula Findlen: Possesing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley, Los Angeles, London 1994. 4 | Vgl. hier: Ausst.-Kat. De wereld binnen handbereik. Nederlands kunst- en rariteitenverzamelingen, 1585-1735, Historisches Museum, Amsterdam, Zwolle 1992, S. 70-91; Barbara Maria Stafford: Artful Science. Enlightenment, Entertainment and the Eclipse of Visual Education, Cambridge/Mass., London 1994, S. 217-279; dt.: Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung, Amsterdam, Dresden 1998, S. 239-287; in ihren Texten werden Ausstellungsträger für Naturalien beschrieben. Einen allgemeinen Überblick gibt der Ausst.-Kat. Schatzkästchen und Kabinettschrank. Möbel für Sammler, Kunstgewerbemuseum, Berlin 1989. Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes, München 1959 und Werner Muensterberger: Collecting. An unruly Passion, Princeton 1994 beschreiben die emotionale Bedeutung der Truhen, Schränke und Kästen; zu Kästen/Boxen und ihrer Bedeutung im 18. Jahrhundert vgl. Anke te Heesen: Der Weltkasten. Die Geschichte einer Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 141-191; zu aufzeichnenden und sammelnden Praktiken und Behältnissen eines Forschungsreisenden vgl. auch dies.: »Naturgeschichte in curru et via: die Aufzeichnungspraxis eines Forschungsreisenden im frühen 18. Jahrhundert«, in: NTM. Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, 8, 2000, S. 170-189. 5 | Vgl. Nicholas Jardine/Jim Secord/Emma Spary (Hg.): Cultures of Natural History, Cambridge 1996, S. 8.
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jekte, als materiale Grundlage eines Kabinetts war er zugleich auch Instrument der visuellen und haptischen Aneignung der Natur. Vor diesem Hintergrund widmet sich die folgende Studie dem Sammlungsschrank im Naturalienkabinett des 18. Jahrhunderts. Sie setzt dabei die Entwicklung der Naturgeschichte in Beziehung zur Präsentation der sich wandelnden und zugleich florierenden Naturaliensammlungen. Die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts zeichnete sich vor allem durch eine klassifizierende Naturbeschreibung aus. Man war bestrebt, eine Ordnung und möglichst vollständige Erfassung der Lebewesen herbeizuführen, die lückenlos in eine Ordnung der Klassen und Arten aufgehen sollte. Die Werke von Buffon und vor allem die »Systema Naturae« Carl von Linnés rückten die Naturgeschichte in das allgemeine, öffentliche Interesse. In erster Linie war es das Klassifikationssystem Linnés, welches den Eindruck erweckte, dass die bisher unbekannten und noch nicht beschriebenen Lebewesen nur noch auf einer bereits vorgezeichneten Karte eingesetzt werden mussten. Im Jahrhundert der Aufklärung erschien es nun auch Pfarrern, Lehrern und Kaufmännern möglich, ihren Teil zum specieshunting beizutragen.6 Der Theologe Johann Samuel Schröter, Prediger und Rektor einer Schule im Thüringischen, stellte fest, dass das »Studium der Natur in »unsern Tagen das Favoritenstudium der Gelehrten und Ungelehrten« sei.7 Indem er seinen Freund Ernst Immanuel Walch zitiert, beschreibt er das 18. Jahrhundert als ein »Kabinetseculum«: »Jedermann will ein Naturalienkabinet, es sey von dieser oder jener Art, und man macht eine gelehrte Galanterie daraus eines dergleichen zu haben oder anzulegen.«8 Die Anzahl der Kabinette war in den deutschsprachigen Staaten so groß, dass Friedrich Carl Gottlob Hirsching ab 1786 ein nach Orten alphabetisch angelegtes Kompendium zu bestehenden Sammlungen herausgab. Die Naturalien waren dabei der am häufigsten gesammelte Gegenstand. Gemälde- und Kupferstichsammlungen, Modell- und Maschinensammlungen und Münzen und Medaillen kamen nicht an die Häufigkeit der Naturaliensammlungen heran. Handelte es sich bei einem (Naturalien-)Kabinett während des 17. Jahrhunderts noch um einen Raum, der innerhalb der höfischen Kultur seinen Platz einnahm oder Gelehrten als Forschungsstätte diente, so besaßen gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch große Teile des 6 | Gunnar Broberg: »The Broken Circle«, in: Tore Frängsmyr/John L. Heilbron/ Robin E. Rider (Hg.): The Quantifying Spirit in the 18th Century, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1990, S. 45-71, hier S. 59. Dass sich diese Art der Naturgeschichte – anders als Broberg es beschreibt – nicht nur in die Beschreiber (nach Buffon) und die Taxonomisten (nach Linné) aufteilt, zeigen zahlreiche Zeitschriftenaufsätze, etwa der Aufsatz des Hofrat Friedrich Carl Günther über den Kreuzvogel in ders.: »Vorläufige Nachricht von dem sehr seltenen Nest und den Eyern des Kreuzvogels, oder des Krummschnabels«, in: Der Naturforscher (1774-1804) Bd. 2 (1774), S. 66-75. 7 | Johann Samuel Schröter: Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Naturgeschichte, 2 Bde., Halle 1776-77, Bd. 1, S. 48. 8 | Ebd.
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Mittelstandes ein Kabinett.9 Das »Favoritstudium« Schröters bestand darin, Spezimen zu sammeln, in eine der bestehenden Klassifikationen einzuordnen und eine genaue Beschreibung des Objektes durchzuführen. Der folgende Text wird sich der Kabinette dieser Sammler widmen, die Schröter als »jedermann« bezeichnete: Dabei werde ich vor allem auf solche Besitzer eingehen, die dem sogenannten Mittelstand angehören: Es handelt sich um Regierungs- und Geheimräte, um Apotheker, Prediger, Lehrer, Kaufmänner und Naturhistoriker, die sich der Regionalgeschichte widmeten. Es zeichnet die Aufklärung aus, dass für diesen Stand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Erziehung und Wissen zu den zentralsten Themen gehörte.10 Wissen war der säkulare Garant für eine erklärbare Welt, frei von Aberglauben und rational nachvollziehbar, und Natur die beste Erzieherin des Menschen. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Naturaliensammlungen, so sollten diese ein geordnetes Bild der neueren Naturforschung transportieren und zugleich zur Selbst- und Welterkennung einladen. Doch was in den Klassifikationen und Wissensbäumen der Zeit geordnet erschien, musste im Raum noch lange nicht den gleichen Eindruck erwecken. Wie wurde man der Fülle der Objekte gerecht? Sie sollten nicht wie Zierrat dargeboten, nicht wie Kuriositäten behandelt, zugleich aber auch nicht in beschrifteten Schachteln zusammengestaucht und so
9 | Überschaut man die ersten beiden Bände von Hirsching, so fällt die Häufigkeit der Berufe zugunsten der Regierungs-, Hof-, Kommerzien- und Geheimräte und Professoren aus (vgl. Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Nachrichten von sehenswürdigen Gemaelde- und Kupferstichsammlungen, Muenz- Gemmen- Kunst und Naturalienkabineten, Sammlungen von Modellen, Maschinen, physikalischen und mathematischen Instrumenten, anatomischen Praeparaten und botanischen Gaerten in Teutschland nach alphabetischer Ordnung der Staedte […], 6 Bde., Erlangen 1786-92). Auch bei Baring überwiegt der Anteil der Räte, also solcher Personengruppen, die innerhalb der Verwaltung der deutschen Kleinstaaten tätig waren (vgl. Daniel Eberhard Baring: Museographia Brunsvico-Luneburgica, oder Nachricht von Kunst- und Raritätenkammern, so curieusetteren in den Braunschweigischen Lüneburgischen Landen gesammelt haben, Lemgo 1744); vgl. auch Pomian 1990 (wie Anm. 2), S. 121. 10 | Vgl. Ulrich Hermann (Hg.): Die Bildung des Bürgers. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jahrhundert (= Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens in Deutschland Bd. 2), Weinheim, Basel 1982; ders.: Aufklärung und Erziehung. Studien zur Funktion der Erziehung im Konstitutionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim 1993. Zum Verhältnis von frühem Bürgertum und Sammlung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bisher nur Claudia Valter: Studien zu bürgerlichen Kunst- und Naturaliensammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Deutschland, Phil. Diss. Aachen 1995; Ausst.-Kat. Lust und Verlust. Kölner Sammler zwischen Trikilore und Preußenadler, Wallraf-Richartz-Museum in der Josef-Haubrich-Kunsthalle, Köln 1995; Ausst.-Kat. Bürgerliche Sammlungen in Frankfurt 1700-1830, Historisches Museum, Frankfurt a.M. 1998.
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dem Blick entzogen werden. Bei der Bezeichnung dieses Problems setzt die Geschichte des Naturalienschranks ein. In Hinsicht auf die theoretische Ausprägung der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts wurde ein so elementarer Gegenstand wie ein Naturalienschrank kaum diskutiert. Hier spielte das Tier-, Pflanzen- und Mineralreich und ihre Einordbarkeit in die Kette der Lebewesen, die Bestimmung ihrer Einzelmerkmale, seien sie auf die Morphologie der Organismen oder die vergleichende Anatomie gestützt, eine Rolle. Es waren die Verkaufsverzeichnisse und praxisorientierten, anleitenden Handbücher, die dann das Behältnis thematisierten: »Ein großer und schöner Schrank von Zuckerkisten Holz mit gläsernen Thüren und vielen Schiebzügen, zu der vorstehenden Sammlung besonders eingerichtet.«11 Der Schrank war von zentraler Bedeutung bei den täglichen, im Kabinett zu verrichtenden Tätigkeiten: »Nach unserer Ordnung kommen die Stücke von einer jeden Hauptclasse alle zusammen, und man ist vollkommen im Stande, augenblicklich ein Stück, das man zu sehen verlanget, weil eine sogenannte memoria localis vorhanden ist, zu finden.«12 Doch der Schrank war mehr als nur aufnehmendes Behältnis oder Erinnerungsgerüst für den Naturforscher. Mit ihm wurde deutlich, wie naturgeschichtliches Wissen rezipiert, verarbeitet und in einen alltäglichen Lebenszusammenhang überführt wurde. Interessant ist dabei, dass die haptische wie visuelle Tätigkeit am Schrank den ambitionierten, aber laienhaften Sammlern die Aufnahme dieses Wissens ermöglichte. In der Diskussion der führenden Naturforscher des 18. Jahrhunderts war eine solche Tätigkeit zwar anerkannt, doch eher eine notwendige Voraussetzung naturgeschichtlicher Deskription als Ziel der Beschäftigung: »Man wird finden, daß sie (die Naturalienkammer) weder Verdruß erwecket, noch auch unfruchtbar ist, wenn man mit der Arbeit der Hand die Aufmerksamkeit des Verstandes verbindet.«13 Für die Interessierten aber bot sich hier die Möglichkeit, anerkanntes Wissen und den eigenen (bescheidenden) Beitrag zu unerforschten Spezimen, Gottesglauben und Erziehung durch die Natur miteinander zu verbinden: »Es ist also unmöglich,
11 | Verzeichnis einer auserlesenen Sammlung seltener und wohl erhaltener Naturalien und Kunstsachen, worunter insbesondere eine auserlesene Folge von Schnecken, Muscheln, Fischen, und gypserne Abdrücke von Medaillen, nebst vielen andern Seltenheiten befindlich sind, welche den 31. März 1767 auf dem Börsen-Saale öffentlich an die Meistbiethenden sollen verkauft werden durch Mäckler Johann Döscher, Hamburg 1767, S. 29. 12 | Philipp Ludwig Statius Müller: »Vorrede«, in: Georg Wolfgang Knorr: Deliciae naturae selectae oder auserlesenes Naturalien Cabinet welches aus den drey Reichen der natur zeiget, was von curiösen Liebhabern aufbehalten und gesammlet zu werden verdient, 2 Bde., Nürnberg 1766-67, Bd. 2, S. viii. 13 | George-Louis Leclerc Comte de Buffon: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonderen Teilen abgehandelt, nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königs von Frankreich. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller […], 11 Bde., Hamburg, Leipzig 1750, Bd. 1, Teil 2, S. 7.
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die herrlichen Werke der Natur zu sehen, ohne einen heilsamen Einfluß auf den Geist daher zu empfinden.«14 Im Folgenden sollen anhand des Sammlungsschrankes bestimmte, für das Jahrhundert charakteristische Sammlungs- und Präsentationskonventionen gezeigt werden. Dazu werde ich mit Hilfe einer exemplarischen Auswahl von Kabinetten der ersten und zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Behandlung der Naturalien und ihre Darstellung im Schrank eingehen. Der Schrank erschien in diesem Zeitraum – so meine These – zunächst als ein geschlossenes Behältnis, dessen innenliegende Stücke nur mit Hilfe des visuellen und haptischen Sinns erreichbar waren, und später als ein transparentes Depot, dessen Objektordnungen durch eine überblickende Betrachtung erkannt werden konnten.
I. D ER N ATUR ALIENSCHR ANK Einen ersten Hinweis auf die Möblierung der Kabinette des 18. Jahrhunderts gaben die zahlreichen Verzeichnisse der Naturaliensammlungen. Bei ihnen handelte es sich um Listen der Naturalien und Kunstsachen, die als Übersicht für das zum Verkauf gestellte Kabinett dienten oder aber als Führer für einen Sammlungsraum bereitgehalten wurden.15 War eine Sammlung umfangreich, so konnten Interessenten das Verzeichnis als einen Leitfaden der Orientierung für die Erstellung einer eigenen Sammlung, als Grundlage für Korrespondenzen und als Anregung für einen Tausch von Doubletten benutzen. Gegen Ende dieser Listen fanden sich ein bis zwei Seiten, manchmal aber auch nur zwei kurze Anmerkungen über Schränke, Tische, Repositorien und Regale.16 Kästen aus Papier, Holz oder Blech bildeten die kleinste materielle Ordnungseinheit des Kabinetts. 14 | Johann Georg Sulzer: Unterredungen über die Schönheit der natur nebst desselben moralischen Betrachtungen über besondere Gegenstände der Naturlehre, Berlin 1770, S. 133; vgl. auch Jaques Roger: »The Living World«, in: George S. Rousseau/Roy Porter (Hg.): The Ferment of Knowledge. Studies in the Historiography of Eighteenth-Century Science, Cambridge 1980, S. 255-283, hier S. 261ff. 15 | Solche Verzeichnisse sind eine der wichtigsten Quellen für die naturgeschichtlichen Sammlungen des 18. Jahrhunderts, da Abbildungen entweder nicht vorhanden sind oder den Sammlungsraum in stark idealisierter Darstellung wiedergeben. Meist auf billiges Papier gedruckt, kann man die Verzeichnisse in den Buchhandlungen vor Ort erwerben. Ist ein Verzeichnis aufwendig ausgestattet, so enthält es einen oder mehrere Kupferstiche, auf denen ein Teil der Objekte abgebildet ist. Vgl. dazu ausführlicher Wilhelm Junk: Rara historico naturalia et mathematica. Editio stereotypa, praefatione tabulisque aucta, curante (1900-13), hrsg. von Friedrich Hermann Schwarz, Amsterdam 1979. 16 | Bei einem Repositorium handelte es sich um eine regalähnliche, aus Holz gearbeitete Abstellfläche, die sehr verschieden in Form und Bauweise ausfallen konnte. Ein Tisch war ohnehin unerlässlich und unverzichtbarer Bestandteil eines
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Das zentrale Möbelstück aber war der Schrank. »Scrinium elegantissimum« oder ein schöner Schrank »von Eichen Holz mit 36 Schubladen, worinnen die Curiosa der ersten Section sind«, registrierte das Verzeichnis des Museum Eeckhofianum 1732.17 Über vierzig Jahre später listete Georg Sebastian Dillner seine Behälter auf, »Vorstehende Sammlung befindet sich in nachstehenden Kästen«, von denen er einen wie folgt beschrieb: »Ein Aufsatzkasten, wovon der obere mit kleinen Muscheln ausgeziret und mit Stellen, der untere hingegen mit Schubladen versehen.«18 Eine typische Mobiliarausstattung enthielt ein Verzeichnis von 1778, an dessen Ende unter der Rubrik »Artefacta und Hausgeräthe« folgende Liste erschien: Zwei Anrichtbretter, ein Repositorium, ein »schwarzgebeizeter Schrank mit Schubladen«, zwei Tresortische, jeder unten mit einer Schublade, zwei Schränke, jeder mit 25 Schubladen, »zween dergl. jeder mit 21 Schubladen«, zwei mit 17 Schubladen und eine »lange Tafel auf zwey Böcken ruhend.«19 Manche Verzeichnisse erwähnten die spezielle Anfertigung der Schränke,20 oder ihre Behältnisse waren so reich verziert, dass sie unter die Kunstsachen eingeordnet und wie die Objekte selbst sorgfältig beschrieben wurden.21 Neben den Verzeichnissen erschienen auch Einrichtungsanleitungen, die sich dem Raum »Kabinett« und seiner Möblierung widmeten. In einer Schrift über Entwürfe und Kostenrechnungen zur Möblierung der Wohngebäude unterschied ein anonymer Autor 1783 mehrere gesellschaftliche Formen der Einrichtungen. Sie waren dem Besitz des jeweiligen Standes anzugleichen, und es wurde Wert darauf gelegt, Haus und Möbel nicht über den Stand hinaus zu verzieren.22 Für alle Klassen erwähnte der Autor die Raumbezeichnung »Kabinett«. Für die Klasse der »Gattinnen von adelichen Herren in Städten und auf dem Lande, die nicht nöthig haben, viel auf theure Verzierungen und Meublen zu wenden; wohin ich auch zugleich diejenigen charakterisirter bürgerlicher Männer und wohlhabender Handelsleute, auch derjenigen, die itzt genannten gleich kommen, rechKabinetts. Er diente – wie in dem bekannten Frontispiz des Neickelius (Caspar Friedrich Neickelius: Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Auslegung der Museorum oder Raritäten-Kammern, Leipzig, Breslau 1727) – als Schreib- und Arbeitstisch. 17 | Hermann Eeckhoff: Museum Eeckhofianum, Lübeck 1732, S. 64. 18 | Georg Sebastian Dillner: Verzeichniss der von Georg Sebast. Dillner etc. gesammelten Naturalien- und Kunstsachen, Regensburg 1777, S. 71f. 19 | Verzeichnis einer zahlreichen und auserlesenen Sammlung von Naturalien, besonders Conchylien und andern Seeprodukten, Erd-Stein- und Erzarten, auch Versteinerungen, dann einigen Artefactis und Schreinerzeug […], Erlangen 1778, S. 86. 20 | Vgl. Verzeichnis 1767 (wie Anm. 11), S. 29. 21 | Vgl. Dillner 1777 (wie Anm. 18), S. 72. 22 | Entwürfe und Kostenrechnungen zur Meublirung der Wohngebäude, für Hausmütter so wohl als Hausväter, von verschiedenen Ständen, Brandenburg 1783, Vorrede.
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ne«23 , waren die Schränke ein wichtiger Einrichtungsgegenstand. Das Kabinettzimmer bedeutete auch für den Bürger ein ausgesprochen privates Zimmer, oftmals zur gleichen Zeit als Schreibzimmer genutzt, lag es an entlegener Stelle des Hauses. Die Schränke der Kabinette standen entlang den Wänden des Raumes, und obwohl sie keinem direkten Sonnenlicht ausgesetzt werden durften, waren sie in der Nähe der Fenster platziert, um genügend Licht für die Betrachtung stellen zu können.24 An den standesgebundenen Prämissen änderte sich wenig, es waren vielmehr die Schränke selbst, die hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Ordnung im Verlauf des 18. Jahrhunderts unterschiedlich verwendet und gestaltet wurden. Im Folgenden werde ich den Schrank als ein naturgeschichtliches Möbel beschreiben und seine äußere Form sowie die in ihm lagernden Objekte miteinander in Beziehung setzen. Dabei soll die Wandlung des geschlossen-universellen Kabinetts vom Beginn des 18. Jahrhunderts hin zu seiner transparenten Gestaltung gegen Ende des Jahrhunderts beschrieben werden.
II. D AS GESCHLOSSEN - UNIVERSELLE N ATUR ALIENK ABINE T T Bei den Naturaliensammlungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts handelte es sich um universelle Kabinette, um noch nicht spezialisierte Sammlungen. Ihre Besitzer verfolgten in der Regel eine einfache Ordnung der gesammelten oder angekauften Objekte und beschränkten sich nicht auf Naturalien, sondern bezogen auch Kunstsachen, ethnographische, zuweilen kuriose und technische Dinge mit ein. Verschiedene Klassen von Tieren, Gesteinen und Pflanzen traten nebeneinander auf, ohne dass die Sammlung in einem der Gebiete zur Vollkommenheit streben musste. Auch wenn das universelle Kabinett keine Wunder mehr kannte, sondern nur noch Dinge, die wunderlich erschienen,25 so war in den Beschreibungen noch deutlich der Bezug zu einer Raritätenkammer auszumachen. Ein typisches Beispiel für das universelle Kabinett bot die Kundmann’sche Sammlung. Angeregt durch eine Reise in den Jahren 1708 und 1709 legte der Arzt und Naturforscher Johann Christian Kundmann eine Sammlung von Naturalien, einigen Kunstsachen und Münzen an. Von Breslau aus korrespondierte er mit Gelehrten wie Johann Jakob Scheuchzer in Zürich und tauschte oder kaufte Naturalien von Christian Maximilian Spener in Berlin oder Heinrich Linck in Leipzig.26 23 | Ebd., S. 5. 24 | Handbuch bey Anordnung und Unterhaltung natürlicher Körper so wohl in großen als kleinen Sammlungen in Naturalienkabinettern für die Liebhaber der Naturgeschichte, Leipzig 1784, S. 2ff. 25 | Vgl. Lorraine Daston: »Marvelous Facts and Miraculous Evidence in Early Modern Europe«, in: Critical Inquiry Bd. 18 (1991), S. 93-124. 26 | Christian Maximilian Spener: CATALOGUS zahlreicher, nützlicher, und sonderbarer Natur- und Kunst gebildeter Seltenheiten […], Berlin 1718; Alfred Sei-
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1725 machte er seine nun umfangreiche Sammlung zum ersten Mal in einer Zeitung bekannt.27 Ein Jahr später veröffentlichte er eine Art Sammlungsführer, dem auch im zweiten Teil die Beschreibung seiner eigenen Sammlung angefügt war:28 Münzen, Steine, geschnitzte Anatomiemodelle, Kupferstiche, Konchylien, Tabaksdosen und Siegelringe. Die Bereiche der Naturalien und Kunstsachen waren zwar voneinander getrennt, wurden aber zu einer Sammlung gezählt und in einem Raum aufbewahrt. Auch die in diesem Verzeichnis erscheinenden, von ihm gesammelten Bücher boten einen Querschnitt durch die typische Sammlungs- und Naturgeschichtsliteratur der Zeit. Folgende Objekte ordnete Kundmann in seine Schränke: »Ein Ey von einem Hahn, welches kaum die Größe einer Muskatnuß und in sich einen Klapperstein hat.«29 Oder: »Ein Stück sehr dicke Menschenhaut, oder Haut von einer betagten Jungfer.«30 Der Duktus der Beschreibung der einzelnen Stücke war noch ganz in dem Stile der Beschreibungen von Wunderdingen gehalten. Das Ei von der »Größe einer Muskatnuß« wurde nicht in einem Längenmaß wiedergegeben, sondern in einem Vergleich mit der getrockneten Samenkapsel. Um die sprachliche Fassung des Objektes zu ermöglichen, arbeiteten viele Verzeichnisautoren wie Kundmann mit Metaphern, Ähnlichkeiten und Analogien, ohne dabei eine einheitliche Form zu finden.31 Kundmanns universelles Kabinett hatte seinen Schwerpunkt bereits auf die Naturalien verlegt, doch war die Zugehörigkeit eines Objektes zu Artificalia oder Naturalia nicht immer klar zu bestimmen. Diese Sammlung erhielt für Kundmanns Zeitgenossen ihren besonderen Wert durch die Einzigartigkeit der Objekte, kuriose Einzelstücke, die mehr für sich standen, als dass sie sich in eine systematische Reihe setzen ließen. Die Schränke dieses Zeitraums waren prachtvolle Unterbringungsmöbel mit zahlreichen Schüben, kunstvollen Fächern und schützenden Türen. Der Architekt Leonhard Christoph Sturm beschwerte sich 1707, dass oft in den Kammern »eine Ordnung darnach gemacht worden, wie man gemeinet, daß dem Auge eine gute veue gemachet würde«32 . Um dem zu fert: Die Apotheker-Familie Linck in Leipzig und ihr Naturalien- und Kunstkabinett (1670-1840), hrsg. durch die Gesell. f. Gesch. d. Pharmazie, Mittenwald 1934. 27 | Vgl. Leipziger Zeitung Bd. 84 (1725), S. 803-810. 28 | Vgl. Johann Christian Kundmann: Rariora naturae et artis, Breslau, Leipzig 1737. 29 | Johann Christian Kundmann: Sammlung von natur- und künstlichen Sachen auch Münzen, Breslau 1753, S. 12. 30 | Ebd., S. 4. 31 | Vgl. Barbara Maria Stafford: »The Eighteenth-Century: Towards an Interdisciplinary Model«, in: The Art Bulletin Bd. 70 (1988), S. 6-24, hier S. 13. 32 | Leonhard Christoph Sturm: Die geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer, worinnen der galanten Jugend, andern Curieusen und Reisenden gewiesen wird, wie sie Galerien, Kunst- und Raritäten-Kammern mit Nutzen besehen und davon raisoniren sollen, wobey eine Anleitung, wie ein vollständiges Raritäten-Hauß an-
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begegnen, unterbreitete Sturm mehrere Vorschläge, welche Dinge wie zu disponieren seien. Bei den Ausstellungsarten unterschied er die Objekte, die man gut verwahren müsse, und andere, die man sehen sollte, aber so sicher aufzustellen habe, dass man sie nicht umstoßen könne.33 Für Schnecken, Medaillen, mathematische Instrumente und Landkarten, solche Dinge, die einer guten Verwahrung bedürften, sah er Schränke vor (Abb. 1). Abbildung 1: Kabinettentwürfe für Landkarten, Instrumente, Münzen und Muscheln. Aus: Leonhard Christoph Sturm: Die geöffnete Raritäten- und NaturalienKammer, Hamburg 1707
zuordnen und einzurichten sey. Samt angefügten sehr nützlichen Observationibus vor die Anfänger dieses Studij, Hamburg 1707, S. 22f. 33 | Ebd., S. 20.
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Etwas in die Länge gezogen und auf gedrechselten Beinen stehend präsentierten sie dem Betrachter das Modell eines klassischen Kabinett- oder Stollenschranks.34 Hinter den Türen verbargen sich zwei Reihen von Schüben, in denen die Naturalien gelagert und präsentiert wurden. Auf dem oberen pyramidalen Aufbau – so merkte Sturm an – könne man besonders schöne Stücke platzieren. In die Türen waren von der Innenseite her Hohlräume eingearbeitet, so dass auch diese Fläche, wie etwa bei dem Modell des Medaillenschranks, als Ausstellungsfläche diente. In seinen Beschreibungen zu diesem Stich bemerkte er, dass alles in »kleine Schränckgen verborgen« und so geschützt bleibe.35 Mit dem Schrank und seiner Einrichtung war ein soziales Gefüge verbunden. Sturm meinte, man brauche bei einem Kabinett einen guten Aufseher, der die Sachen hervorziehe und so dem Besucher ansichtig mache: »Selbst muß man nicht angreiffen, man empfange es denn aus des Raritäten-Kämmerers Händen.« Gleich einem Zeremonienmeister vermochte der Aufseher oder Besitzer die Türen zu öffnen und war der einzige, der die Schübe und zum Teil komplizierten Mechanismen im Innern des Schrankes bedienen durfte.36 Hatte er das Objekt aus dem Schrank genommen, konnte es der Besucher zur näheren Betrachtung – sofern er sich als
34 | Ein Kabinettschrank ist ein von zwei Türen verschlossener Kasten auf einem tischartigen Untergestell, das im 17. Jahrhundert zunehmend durch Schubladen ersetzt wurde. Für die Formenentwicklung und Handhabungsgeschichte des naturgeschichtlichen Schrankes sind Kabinettschrank, aber auch Buffet- und Apotheker- oder Warenschrank maßgebend. Vgl. Dieter Alfter: Die Geschichte des Augsburger Kabinettschranks (= Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen Bd. 15), Augsburg 1986; Michael Bohr: Die Entwicklung der Kabinettschränke in Florenz (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 28: Kunstgeschichte), Frankfurt a.M. u.a. 1993; Adolf Feulner: Kunstgeschichte des Möbels (1927) (= Propyläen Kunstgeschichte Sonderband II), Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980. 35 | Sturm 1707 (wie Anm. 32). Hier wird besonders deutlich, wie sehr der Schrank neben seiner Schutzfunktion immer noch an eine sakrale Nutzungsgeschichte angebunden war. Bereits die erste museumstheoretische Schrift von Quiccheberg zog den Vergleich des musealen Schrankes zu einem Altar (vgl. Alfter 1986 [wie Anm. 34], S. 40) und erläuterte dessen Einordnung in sakrale Zusammenhänge (vgl. auch Bohr 1993 [wie Anm. 34], S. 77). In neuerer Zeit verweist auf den Zusammenhang zwischen Reliquienschrein und Sammlungsbehälter Stephen Bann: »Shrines, Curiosities, and the Rhetoric of Display«, in: Lynn Cooke/ Peter Wollen (Hg.): Visual Display. Culture beyond Appearances, Seattle 1995, S. 14-29. 36 | Vgl. hierzu auch die Frontispizien bei Levinus Vincent: Wondertooneel der Nature, Amsterdam 1706 und Frederik Ruysch: Thesaurus animalium Primus. Het eerste Cabinet der Dieren, Amsterdam 1710. Dort wird jeweils ein Besucher von einem kundigen Aufseher mit der Geste des ausgestreckten Zeigefingers durch ein Kabinett geführt.
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geschickt genug erwies – in die eigenen Hände nehmen. Welche Bedeutung dieses Ritual des Herausnehmens und Weitergebens des Objekts hatte, verdeutlicht auch der 1744 erschienene Bericht Daniel Eberhard Barings. Er berichtete von dem Kunst- und Naturalienkabinett des Abts Gerhard von Loccum: Dieser »machte im Leben sich ein Vergnügen daraus, diesen seinen gesammleten Schatz […] curiösen vornehmen Herren zu zeigen. Es liebte dieser Prälat sehr die Reinlichkeit, und erschien er jedesmahl in vollem Staat, weisse Handschuh anhabend, und den Hut in der Hand.« Weiter berichtete er: »Und habe ich seine Curiose mehrmahlen gesehen, und einen Zuhörer mit abgeben, wenn er solche Fremden durch seinen Cammer-Diener zeigen lassen, wobey der seel. Abt einige Erläuterungen jedesmahl hin zu that.«37 Der geschlossene Schrank war zu Anfang des 15. Jahrhunderts noch Teil einer Zeremonie des Verborgenen. Er öffnete oder verschloss den Blick auf die Natur, und sein Aufbau machte eine mit ihm vertraute Person notwendig, um seine inneliegenden Schätze auszubreiten. Der Sehvorgang war hierbei an das Entbergen des Objektes gekoppelt. Die Stücke wurden einzeln hervorgeholt, individuell betrachtet, erklärt und mit Anekdoten angereichert. Die Verschiedenartigkeit der Objekte, die einen erhöhten Erklärungsbedarf aufwiesen, das für Sammlungen aller Art offene Kabinett, der verschlossene Kabinettschrank und die haptische und visuelle Wahrnehmung seines Inhaltes waren kennzeichnend für das geschlossen-universelle Kabinett.
III. D AS TR ANSPARENT - SPE ZIALISIERTE N ATUR ALIENK ABINE T T Gegen Ende des Jahrhunderts war nicht mehr der ein naturgeschichtlicher Sammler, der lange einem Schmetterling nachjagte und »nach mühsamen Rennen triumphirend seinem Kästchen übergiebt«38 . Nicht derjenige, der Schmetterlinge in Girlanden anordnete und in ihnen sein Kapital anlegen wollte. Der »richtige« Sammler brauchte eine »reelle Kenntniß seiner Sammlung« und musste seinen Stücken ein nützliches Nachforschen hinzufügen.39 Der richtige Sammler hatte sich auf ein bestimmtes Sammlungsgebiet verlegt; er brachte in der Hauptsache Insekten oder Mineralien oder Pflanzen zusammen. In einem solchen spezialisierten Naturalienkabinett traten nur noch vereinzelt Kunstgegenstände auf. Die Beschreibungen der Naturalien in diesen Verzeichnissen kennzeichnete nun eine vermehrte Detailgenauigkeit, eine zunehmende Standardisierung der sprachlichen Begriffe und eine Festschreibung der äußeren Merkmale des Objektes. Vergegenwärtigt man sich die Kundmann’sche Beschreibung der Naturdinge und hält die eines Johann Peter Meyer dagegen, so erkennt man einen deutlichen Unterschied: »Bulla volva, eine vortreffliche ächte Weberspuhl, 37 | Baring 1744 (wie Anm. 9), §1, unpaginiert. 38 | Hirsching 1786-92 (wie Anm. 9), S. XIV. 39 | Ebd.
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der Körper ist weiss mit zwey feinen Ribben, die Mündung blass, und die Spitzen hochgelb.«40 Wurde in den früheren Verzeichnissen vom Beginn des Jahrhunderts die Ordnung der Sammlung mit der Nennung der kanonischen Literatur wie Rumphius oder Worm legitimiert,41 fanden sich jetzt Angaben darüber, welches Klassifikationssystem man gewählt, oder dass man gar sein eigenes entworfen habe. Ein Beispiel eines solchen Sammlers gibt die Person und die Tätigkeit des Mineralogen Abraham Gottlob Werner. Werner studierte ab 1769 an der Berg-Akademie in Freiberg und wurde dort Inspektor und Lehrer für Mineralogie. Seine Sammlung enthielt – seinen Aussagen nach – schließlich mehr als 100.000 Stücke, war aber auf Mineralien beschränkt und lehnte ausdrücklich Bildsteine oder andere Kunstprodukte ab.42 Werner sammelte während seiner Tätigkeit in Freiberg, er bekam von ehemaligen Schülern ausländische Mineralien zugeschickt und führte einen eigenen Verkaufsund Eintauschhandel für Mineralien.43 Seine Kenntnisse umfassten vor allem die Gesteinsformationen Sachsens. Bei der Sammlung stand die Ordnung der Objekte nach anerkannten oder selbstgefügten Systematiken im Vordergrund, und es galt, das einmal gewählte Sammlungsgebiet mit einer gewissen Vollständigkeit zu repräsentieren. Im Gegensatz zu der Kundmann’schen Sammlung wurde eine Komplettierung verfolgt. Zwei Aspekte hatten sich nun in der Anlage einer Sammlung grundlegend geändert und wurden nicht nur bei Werner, sondern in allen Verzeichnissen und Beschreibungen unterstrichen: Zum einen war die Darstellung der Naturgeschichte des »Vaterlandes« in den Vordergrund gerückt und damit verbunden der Nutzen, den man aus den Naturalien zu ziehen hatte. Eine Sammlung sollte nun auch das Gemeine, also das, was in allernächster Nähe lag und woran man achtlos Jahr für Jahr vorbeigegangen war, in ihre Reihen einschließen; dieses Gemeine müsse man kennenlernen, sonst sei es aussichtslos, die Schätze – gemeint waren damit ungenutzte ökonomische Ressourcen – zu heben. »Und sollte nicht jeder Naturforscher vorzüglich die Produkte seines Vaterlandes untersuchen? Ist es rühmlich alles zu wissen, was ausser dem Hause geschieht,
40 | Johann Peter Meyer: Verzeichnis der Naturalien und Kunstsammlung […], Hamburg 1802, S. 35. 41 | Vgl. Georg Everhard Rumphius: D’Amboinische rariteitkamer, Amsterdam 1705, und das Verzeichnis Ole Worm: Museum Wormianum, Leiden, Amsterdam 1655. 42 | Vgl. Abraham Gottlob Werner: »Von den verschiednerley Mineraliensammlungen, aus denen ein vollständiges Mineralienkabinet bestehen soll«, in: Sammlungen zur Physik und Naturgeschichte von einigen Liebhabern dieser Wissenschaften, 4. Bde., Leipzig 1778ff., Bd. 1, St. 4 (1778), S. 387-420. 43 | Vgl. Abraham Gottlob Werner: Ausführliches und sistematisches Verzeichnis des Mineralien Kabinets des weiland kurfürstlich sächsischen Berghauptmans Herrn Karl Eugen Pabst von Ohaim […], Freiberg, Annaberg 1791-92, S. VI.
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A NKE TE H EESEN und dabey zu Hause ein Fremdling zu seyn? […] Für einen Naturforscher ist innländische Naturgeschichte Notwendigkeit; ausländische ist Pracht.« 44
Franz von Paula Schrank und mit ihm viele andere Naturforscher dachten an eine Art Kartierung oder Vernetzung der natürlichen Ressourcen, repräsentiert über die Naturalien der verschiedenen Gegenden. Sie waren überzeugt, dass jedes kleine Naturalienkabinett schon einen Beitrag zur Kenntnis des Landes erbringen könne, und forderten regelmäßige Nachrichten in Zeitungen über die Schätze der unmittelbaren Umgebung. Zum anderen war die bekannte Anzahl der Naturdinge angestiegen, und eine einzelne Person konnte nicht mehr ohne weiteres eine universelle, die drei Reiche der Natur umfassende Sammlung mit dem Attribut der Vollständigkeit anlegen. Deshalb rieten die Naturforscher, sich auf ein Gebiet zu beschränken. Schröter meinte, man solle sich auf einzelne Fächer der Naturgeschichte verlegen: »[H]ier sammle man mit angestrengten Kräften, dann werden wir das Vergnügen haben, etwas vollständiges nach und nach zu erhalten, ohne daß wir unsre häuslichen Umstände in sichtbaren Verfall stürzen würden.«45 Durch die ausgereifteren Klassifikationen gab es zum Ende des Jahrhunderts auch volle Reihen und »einen vorgezeichneten Plan zum Ganzen«46 und damit die Hoffnung, irgendwann einmal die Repräsentation der Natur im Raum zu komplettieren.47 Der Nutzen einer Naturalie, selbst eines gewöhnlichen Naturobjekts, und die Anlage zu einer vollen Reihe traten im Laufe des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund. Das Naturalienkabinett lieferte ein Identifizierungspotential für den eigenen Staat und es war kein Zufall, dass Vertreter des Mittelstandes wie Schröter auf die »vaterländischen«, in der Nahe des Wohnortes zu suchenden Naturalien verwiesen. Noch 1767 kritisierte Philipp Ludwig Statius Müller die Unterbringung der Objekte: »Es gefällt nemlich etlichen Sammlern, alle ihre Sachen in verschlossene Schachteln zu legen, und oben auf die Deckel die darinnen enthaltenen Sachen zu schreiben; allein es ist dieses eine Art der Einrichtung, wobey man viele Mühe und gar kein Vergnügen, oder Augenweide haben kan. Denn wem kan es angenehm seyn, soviele Schachteln, oder Dosen immer aufzumachen, und hernach wieder zu versperren? 44 | Franz von Paula Schrank: Allgemeine Anleitung, die Naturgeschichte zu studiren, München 1783, S. 85-87. 45 | Schröter 1776-77 (wie Anm. 7), S. 19. 46 | Friedrich Heinrich Wilhelm von Trebra: Mineralienkabinett gesammlet und beschrieben von dem Verfasser der Erfahrungen vom Innern der Gebirge, Clausthal 1795. 47 | Johann Peter Meyer etwa rühmt sich der Vollständigkeit seiner Sammlung, die er in den letzten 50 Jahren angelegt habe, »denn nach Gmelins 13te Ausgabe des Linnae konnten alle 33 Genera angeführt, und die vorzüglichsten Species benannt werden« (Meyer 1802 [wie Anm. 40], S. iii). Doch bald wurden die Hoffnungen auf eine komplette Erfassung der natürlichen Welt wieder aufgegeben und endeten vorerst in einer puren Registrierung der Fakten. Vgl. Broberg 1990 (wie Anm. 6), S. 66.
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Andere hingegen fallen auf einen diesem ganz entgegengesetzten Ausweg, und breiten alle ihre Sachen (auf) Tische oder Repositorien aus, damit sie in die Augen fallen sollen.« 48
So aber komme man nicht weiter, denn zum einen seien die Dinge zu sehr dem Staub und Dreck ausgesetzt und zum anderen sei es der entdeckenden Neugierde und dem Interesse des Besuchers nicht gerade zuträglich, wenn er alles auf einmal daliegen sehe. Müller schlug vor, entweder Kabinettschränke mit Schubladen (aber so, dass wenn man eine Lade herauszieht, alles übersehen werden kann und die Sachen in den Laden sich nicht »verkriechen«49) oder »Glasschränke mit breiten und schmalen Brettern«50 aufzustellen. Die Dinge sollten leichter erreichbar sein, sich auf einmal vor den Augen ausbreiten oder geradezu ins Auge springen können. Dies war auch das Ziel des folgenden Kabinetteigners. lm Jahre 1795 veröffentlichte der Berghauptmann Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra in Clausthal, Ort einer der berühmtesten Bergakademien des 18. Jahrhunderts, das Buch »Mineraliencabinett gesammlet und beschrieben von dem Verfasser der Erfahrungen vom Innern der Gebirge«. Der Autor bezeichnet sich darin als einen sowohl wissenschaftlichen als auch praktischen Bergmann. Nach einem einleitenden Kapitel zu Zweck und Anordnung des Kabinetts folgt die Beschreibung der Sammlung und damit der einzelnen Mineralien. Beigegeben war ein Kupferstich, der in seiner ganzen Breite einen mit Mineralien bzw. Gesteinsbrocken angefüllten Kabinettschrank zeigt (Abb. 2). Abbildung 2: Schrank mit Mineraliensammlung. Aus: Friedrich Heinrich Wilhelm von Trebra: Mineralienkabinett, Clausthal 1795
48 | Müller 1766-67 (wie Anm. 12), S. viii. 49 | Ebd., S. ix. 50 | Ebd., S. viii.
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Der dreiteilige Schrank ist mit großen Türen ausgestattet, die durch Sprossen unterteilt den Blick auf seinen Inhalt freigeben. Man erkennt einzelne Schübe, in denen die zuvorderst liegenden Steine querschnittartig sichtbar werden. Das einzelne Schrankelement gliedert sich in einen oberen, verglasten Teil und in ein Fundament aus jeweils drei Schubladen. Auf dem Schrank selbst lagern größere Gesteinsbrocken, und den Mittelteil des Hauptschrankes ziert eine Nachbildung eines Kopfes der Laokoongruppe.51 Keinerlei Verzierungen verstellen den Inhalt, wie noch in dem Verzeichnis von Dillner beschrieben, sondern die Mineralien erscheinen in eine klare Form gefasst. Von Trebra betonte, dass er Glas gewählt habe, weil es sich leichter für eine lehrreiche Demonstration öffne52 , und schließlich durch die »leicht herauszuziehenden Tafeln« die Mineralien und Fossilien »am besten in die Augen« gefasst werden könnten.53 Wichtig sei dabei, dass man schon im »Vorbeyspazieren« alle Mineralien nach »ihren Classen überblicken« könne. »Ich konnte mich auch ohne alle Schwierigkeit in flüchtigen Unterhaltungen mit meinen Freunden darüber lehrreich vernehmen, ohne nur einmal die Türen der Schränke zu öffnen.«54 Nicht das Öffnen und Schließen stand also im Vordergrund, als vielmehr eine lehrhafte Unterhaltung frei von begleitendem Auspacken und Präsentieren der Objekte. Die Transparenz der Glastüren, die in ihren quadratischen Sprossen die Klassen der vom Autor gewählten Systematik aufnahmen, gewährte den perfekten Einblick und unterstützte den Eindruck einer vollständigen Sammlung. Von Trebra empfahl, die Schübe nur mit dünnen Leisten einzufassen, damit man die vordere Reihe der Mineralien gut erkenne. Hier gab es keine von Müller kritisierten, verschwiegenen Stellen mehr. Hier fanden sich nicht, wie noch bei Sturm, komplizierte Schichtungsmechanismen im Innern der Schränke, sondern flache Schübe, die »so deutlich in die Augen fallen, wie eine Demonstration an der Tafel im Hörsale des Professors«55 . Der Schrank, seine Fächer und die Orte der Mineralien auf den Tafeln vermittelten einen Bezugsrahmen, in dem der Naturforscher sich zurechtfinden und mit dessen Hilfe er, ohne eine leitende Person, die einzelnen Klassen erinnern konnte. Die Ordnung der Dinge war transparent geworden und 51 | Auf den Laokoon-Kopf und seine Bedeutung kann hier nicht ausführlich eingegangen werden; der Kopf, Fragment einer 1506 ausgegrabenen Figurengruppe, lässt den Schrank eine »doppelte Historisierung« vollführen: verweisen die Mineralien auf die Geschichte des Erdinnern, so gibt Laokoon einen Hinweis auf die Geschichte des Menschen. Sowohl der Kopf als auch die Mineralien sind Bodenschätze und spiegeln deshalb die Polarität zwischen natürlicher Beschaffenheit der Dinge und menschlicher Prägung des gleichen Materials (vgl. dazu auch Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 19-26). 52 | Trebra 1795 (wie Anm. 46), S. 5. 53 | Ebd. 54 | Ebd., S. 6. 55 | Ebd., S. 5.
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es lag in der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters, aus den Rahmen, Laden und Steinen unmittelbar ein bestimmtes Klassifikationsschema zu erkennen. Es war der Überblick oder umfassende Blick, der die erkennende Sicht auf die Natur im Raum ermöglichte.56
S CHLUSS Anhand des Schrankes konnte die sich verändernde visuelle und haptische Wahrnehmung des Betrachters im Naturalienkabinett gezeigt werden. Mussten die Naturalien zu Beginn des Jahrhunderts noch aus dem Schrank gezogen und präsentiert werden, erschloss sich dem Betrachter zum Ende des »Kabinetseculums« sein Inhalt auf einen Blick. Zu Beginn des Jahrhunderts stand noch das einzelne Objekt und seine Schönheit im Vordergrund, in der zweiten Hälfte dagegen war man vom Nutzen der geordneten Reihe überzeugt. Ästhetische Gesichtspunkte wurden unwichtiger, weil mehr daran lag, »welche zween Körper sich am nächsten neben einander befinden, als welche zwo Kaffeeschaalen auf einer Kommode neben einander stehen«.57 Der gefüllte Schrank und seine Handhabung verwiesen auf eine Praxis des Naturforschers mit den Objekten der Natur, die sich von einem akkumulierenden, alles Interessante sammelnden zu einem ordnenden, vervollständigenden und auf einen Blick zu übersehenden Umgang wandelte. In den transparenten Depots gab es keine verschwiegenen Ecken mehr, und die Spezimen waren klar einem bestimmten Fach zuzuordnen. Im transparenten Naturalienschrank etablierte sich eine Präsentationskonvention, die auf die Ordnungsmethoden der Naturgeschichte verwies. Natur verdichtete sich zu einem funktionierenden, geordneten Gefüge, in dem jeder Stein und jede Pflanze ihren Platz besaßen. Im Gesamtanblick des Schrankes bot sich dem Betrachter ein vollendetes Bild der Ordnung. Das Naturalienkabinett und sein Sammlungsmöbel waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deshalb so erfolgreich, weil sie Zuwachs und Stabilität in sich vereinigten, weil die Taxonomie der Naturgelehrten hier in die des einfachen Naturforschers umgesetzt werden konnte. Im Jahrhundert der Aufklärung bildeten Schrank und Naturalie ein Aggregat der sich verbreitenden Naturgeschichte, das quantifizierenden Geist und gestaltende Ästhetik, Rationalität und Sensualität und die Aufmerksamkeit des Verstandes mit der Arbeit der Hand und des Auges in sich vereinigte. 56 | Dass dies nicht nur für eine Mineraliensammlung, sondern auch für andere Objekte galt, zeigt ein Hamburger Naturalienverzeichnis, das über die Entomologie bemerkte: »Der Überblick einer wohlgeordneten Zusammenstellung gewährt dem philosophischen Denker eine solche anschauliche Klarheit der Begriffe, welches niemals aus Büchern geschöpft werden kann […].« Verzeichnis von höchstseltenen, aus allen Welttheilen mit vieler Mühe und Kosten zusammen gebrachten […] Naturalien […], Hamburg 1796, Vorrede. 57 | Schrank 1783 (wie Anm. 44), S. 89.
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Erste Versionen des Textes wurden als Preprint Nr. 50 des MPI für Wissenschaftsgeschichte und als Tagungsbeitrag verschriftlicht; vgl. Anke te Heesen: »Die Schränke des Kabinettseculums. Das Naturalienkabinett und seine Repräsentation im 18. Jahrhundert«, in: Armin Geus u.a. (Hg.): Repräsentationsformen in den biologischen Wissenschaften (= Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie Bd. 3), Berlin 1999, S. 59-72. In der vorliegenden Version wurde der Text zuerst veröffentlicht in: Gabrielle Dürbeck u.a. (Hg): Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 19-34.
Gebrauch und Form von Sitzmöbeln bei Hof Hans Ottomeyer
In ihren Memoiren erinnert sich Hortense de Beauharnais (1783-1837), Stieftochter wie Schwägerin Napoleons und ehemals Königin von Holland, an eine Veränderung, die auf ihre Anregung zurückging. Sie schreibt: »Ich war die erste in Frankreich, die in ihrem Salon einen runden Tisch aufstellte, der für Handarbeiten oder abendliche Unterhaltungen genutzt wurde, wie es auf dem Lande üblich ist. Vorher arrangierte eine französische Gastgeberin Gruppen nahe dem Kamin. Alle Damen saßen im Kreis, während die Herren in der Mitte standen. In sprühender Unterhaltung versuchte ein jeder Witz zu zeigen. Dies war die einzige Beschäftigung des Abends.« Und: »Ich machte mir große Mühe, die Herren Offiziere dazu zu überreden, [bei Einladungen] nicht stehen zu bleiben, als ob sie Waffen trügen, sondern am fröhlichen Beisammensein teilzunehmen. Ich wünschte mein Zuhause wie bei einer Familienzusammenkunft […].«1 Diese Zeilen charakterisieren die kritische Zeit um 1800, in der aus politischem und gesellschaftlichem Wandel heraus die Grundmuster der Lebensformen entstanden, die bis heute gelten. Im Folgenden soll an einigen Prinzipien und Beispielen gezeigt werden, wie sich die Entwicklung des Zusammenlebens vollzog und wie sich die Bedeutung von Sitzmöbeln veränderte. Einschränkend muss gesagt werden, dass dieser tiefgreifende Wandel in der Verwendung nur bei der gesellschaftlich führenden Schicht untersucht wird, deren Ideen und Moden zeitlich verschoben zuerst das Bürgertum und später auch das Kleinbürgertum erreichten. Die sich nur langsam wandelnde Sphäre des einfachen und eingeschränkten Lebens in den Stuben der Dörfer und Vorstädte ist nicht geschildert, denn wo Not und Gewohnheit gebieten, lassen sich neue Formen nicht frei bestimmen, sondern bleiben auf lange Zeit festgelegt. Der Alltag an den Höfen und in den großen Häusern im 17. und 18. Jahrhundert ist in seinem Verlauf fast unbekannt und von Klischees 1 | Jean Hanoteau (Hg.): Mémoires de la Reine Hortense, 3 Bde., Paris 1927, Bd. 3, S. 271 (Übersetzung des Verfassers).
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entstellt. Durch die Kunstgeschichte wissen wir zwar viel von Architekten, Kunsthandwerkern und Stilen sowie über den formalen Aspekt einzelner hervorragender Möbelstücke, aber nur sehr wenig über den Gebrauch und die Abfolge der Räume, den eigentlichen und richtigen Standort der Möbel und deren Benutzung, und ebenso wenig darüber, auf welche Weise die Formen dies widerspiegeln. Die Einrichtung der Schlösser und Paläste heute ist fast immer irreführend. Durch die letzten Bewohner und eine halbherzige Ausstattung zum Museum ist meist ein Zustand geschaffen worden, der den historischen Zusammenhang von Räumen und Mobiliar aufgelöst und verwischt hat. Die richtige Zuordnung muss mühsam durch historische Beschreibungen, Protokolle, Inventare und alte Ansichten, welche die ursprünglichen Verhältnisse wiedergeben, rekonstruiert werden, wenn man die Innenarchitektur und ihre Funktion richtig interpretieren will. Folgt man den Vorstellungen, die sich von höfischem Leben und Palästen gebildet haben, so stellt sich das gesellschaftliche Leben jener Zeit etwa folgendermaßen dar: Die absolutistischen Fürsten lebten wie der Sonnenkönig Ludwig XIV.; die Paläste des 18. Jahrhunderts imitieren Versailles; ein barocker Hofstaat folgte streng dem Zeremoniell; der Herrscher empfing die Besucher im Thronsaal, auf einem Thron sitzend und mit den Kroninsignien angetan. Diese Bilder führen in die Irre. Um die Knoten in unserer Geschichtsvorstellung zu entwirren, empfiehlt es sich, mit der Betrachtung Versailles und dem dortigen Hofleben zu beginnen. Ludwig XIV. hatte eine unruhige und verwilderte Jugend durchlebt und Mühe, nach dem frühen Tod des Vaters seinen Anspruch als König von Frankreich gegen den übermächtigen Adel durchzusetzen. Daraus erklärt sich sein hohes Geltungs- und Repräsentationsbedürfnis ebenso wie die persönliche Unbekümmertheit gegenüber guten Manieren und Hofzeremoniell. Im Louvre – und später auch in Versailles – gab es weder einen Thronsaal noch einen bestimmten Thron. Ein Sessel, der dann als Thronsessel fungierte, wurde, wie auch in anderen europäischen Höfen, nur bei einigen seltenen Rechtshandlungen und gelegentlich beim Empfang von ausländischen Gesandten gebraucht. Der Thron vor dem Parlament hieß bezeichnenderweise Lit de justice (Bett der Justiz) und wurde aus fünf großen Kissen zusammengesetzt. Das Paradebett des Herrschers war das Möbel, welches am engsten mit dem Herrscherkult verbunden war. Es stand hinter einer Balustrade auf einem Podest und unter einem Baldachin (vgl. Abb. 1). Es wurde stets bewacht und musste gegrüßt werden. Die komplizierten Riten des Lever und Coucher fanden im Schlafzimmer, dem Paradezimmer, statt. Hier aß der König privat, und hier wurden Gesandte und Sprecher des Parlaments empfangen. Alle anderen Räume waren ihm zugeordnet. Davor lag der Wachsaal und das Vorzimmer, dahinter das Große und das Kleine Kabinett für Audienzen und Beratungen. Im Vorzimmer stand zwar ein Thronsessel unter einem Baldachin für den König, aber Ludwig XIV. benutzte ihn kaum; lieber saß er, wie es für einen Ball bezeugt ist, auf einem Kissen auf den Stufen des Podestes. Im Vorzimmer fand auch die öffentliche Tafel, das Grand Couvert statt, bei welchem der König
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allein oder mit seinen Verwandten speiste, wobei ihm seine Untertanen zusehen konnten. Wer in den Palast wollte, hatte ungehindert Zutritt. Man weiß aus den Berichten von schockierten ausländischen Würdenträgern, dass die Ärmsten der Armen, in Lumpen gekleidet, unkontrolliert die Räume von Versailles betraten und staunend herumgingen. Vor der Person des Königs galten alle Untertanen gleich. Von einem so oft vermuteten Sitzzeremoniell finden sich nur wenige Spuren. Nur nahe verwandte Prinzen und Prinzessinnen hatten das Recht, in Gegenwart des Königs oder der Königin auf Schemeln, sogenannten Tabourets, Platz zu nehmen. Komplizierter wurde es erst, wenn Gäste, die weitläufiger mit dem Königshaus verbunden waren, empfangen wurden. Man bot dem Hochadel Sessel an, höchsten Offizieren hingegen Stühle und Personen von Rang Tabourets. Die meisten offiziellen Handlungen fanden stehend statt, und selbst wenn der König oder die Königin saß, blieb der Hofstaat selbstverständlich stehen. Aus älterer Zeit ist bezeugt, dass die Damen bei einer Abendgesellschaft im Louvre, bei der die Königin auf einem Sessel saß, sich auf dem Boden niederließen. Deutsche Fürsten versuchten zwar eine gleiche Machtvollkommenheit gegenüber den Ständen zu erlangen, sie imitierten auch französische Mode und übten sich in französischer Lebensart, doch zu einer Übernahme von Hofzeremoniell oder von Palastanlagen und -ausstattungen kam es nicht. In Versailles lag das Appartement des Herrschers zuerst im Seitentrakt des Schlosses, dann, als er sein Paradeschlafzimmer in den ehemaligen Salon seines Vaters, in den Mittelsaal des Schlosses, verlegte, wurde das Appartement zur neuen Mitte hin ausgerichtet. Eine solche Anlage, mit dem Schlafzimmer des Herrschers im Zentrum des Schlosses, gab es in Deutschland – außer beim kurfürstlichen Schloss in Bonn – nicht. Auch war in Deutschland das Appartement nicht nur mit einem Vorzimmer versehen, sondern man versuchte, die Bedeutung eines Hofes durch eine möglichst große Zahl von Vorzimmern hervorzuheben. Dieser Unterschied erklärt sich durch die anders geartete Rolle des Schlafzimmers. Am kaiserlichen Hof in Wien und an den davon abhängigen deutschen Höfen blieb das Schlafzimmer ein privater Raum, zu dem der Zugang streng limitiert war. Teile des Hofes fanden sich hier nur zum Lever ein, und der Zutritt war auf die Minister, wirklichen Räte, höchsten Offiziere und die Vorstände der Hofstäbe beschränkt. Das Staatsbett wurde nicht benutzt, sondern gelegentlich ranghöherem fürstlichen Besuch zur Verfügung gestellt. Sitzgarnituren hatten im Paradeschlafzimmer verständli-
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Abbildung 1: Henri Testelin: Ludwig XIV. König von Frankreich als oberster Richter auf dem Lit de justice, um 1685. Öl auf Leinwand, 270 x 178 cm. Deutsches Historisches Museum, Berlin
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cherweise keinen Platz. Der Rest des Hofes und auswärtige Würdenträger wurden für die Morgenaudienz, nach Rang gestaffelt, in vier aufeinanderfolgende Wartezimmer eingewiesen. Nach der Treppe in die Beletage kam zuerst die Ritterstube, das heißt der Wachsaal, in dem auch die großen Zeremonien abgehalten wurden. Hier versammelten sich die Titularräte, Chorherren, Sekretäre und Oberbeamten. Die erste Anti-Camera war den Kammerherren, auswärtigen Ministern, hohen Offizieren, Äbten und Amtsvorständen zur Aufwartung vorbehalten. Im zweiten Vorzimmer fanden sich die Kavaliere im Hofdienst, die zweiten Ränge der Hofstäbe, des Militärs und des Klerus ein. Im darauffolgenden Audienzzimmer warteten Fürsten und Prinzen, Minister, geheime Räte und höchste Offiziere, von denen ja ein Teil Zugang zum Lever im Paradeschlafzimmer hatte. Die Möblierung solcher Räume war noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts äußerst sparsam. Die Ritterstube war unmöbliert, in den Vorzimmern standen Bänke und Tabourets, und nur, wenn hier die Hoftafel abgehalten wurde, stattete man sie auch mit Stühlen und Sesseln aus. Der Esstisch und abends die Spieltische wurden jeweils zum Gebrauch herbeigebracht. Gespeist wurde an mehreren Tafeln, die nach Rang besetzt und verschieden gut versorgt wurden. Sitzgelegenheiten wurden entsprechend dem Rang der Benutzer verwendet. So heißt es in einem Bericht vom Ansbacher Hof: »Die Tafel war auf elf Personen gedeckt und zwölf sammete, mit Gold bestickte Fauteuils gesetzt, jedoch mit der Distinction, dass die Bras der beiden Fauteuils für Ihre Hoheit und Serenissimo mit rotem Samt bezogen und galonieret waren, des Herrn Gesandten Armlehnen aber unbezogen gelassen worden.«
Ansonsten blieben die Polster an den Sesseln ganz weg. Die übrigen Tafelstühle waren »die ordinairen von spanischem Rohr geflochtenen Sessel«.2 Die Quelle zeigt, dass zur Rangunterscheidung der Sitzmöbel nicht nur die Form diente. Es bestand die Möglichkeit, durch Tabourets, Stühle, Sessel mit und ohne Polsterung und die Höhe der Rückenlehne die Distinction zu verdeutlichen. Darüber hinaus konnte man mit ungefasstem Holz, gestrichenen Möbeln – mit und ohne Teilvergoldung – und ganz vergoldeten Möbeln eine Abstufung erreichen. Das soll jedoch nicht heißen, dass ein bestimmter Rang stets einen bestimmten Sitzmöbeltyp zugewiesen bekam. Das wechselte nach Ort und Gelegenheit. Man gab jeweils die ausgearbeitetsten und prächtigsten Möbel den in der Rangordnung am höchsten stehenden Personen. Das Kostbarste an einem höfischen Sitzmöbel war nicht das mehr oder weniger aufwendige Holzgestell, sondern die sehr teure Bespannung von Brokat, Seidensamt oder Seidendamast, die mit Seidenbändern, vergoldeten Schnüren oder Nägeln verziert war. Das geht aus jedem Inventar hervor, in 2 | Zit. nach: Karin Plodeck: »Hofstruktur und Hofzeremoniell in BrandenburgAnsbach vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Zur Rolle des Herrschaftskultes im absolutistischen Gesellschafts- und Herrschaftssystem«, in: Jahrbuch des historischen Vereins für Mittelfranken Bd. 86 (1971/72), S. 1-257.
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dem die Sessel nur genannt werden, um zu einer ausführlichen Beschreibung der Tapezierarbeit überzugehen. Originale Bespannungen sind heute fast alle verloren und vereinfacht erneuert. Dadurch wird die Identifizierung historischer Möbel so schwierig, denn es heißt dann bloß im Inventar: »Sechs Cabriolets, vier Stühle, das Holz garniert mit Rosshaar und bezogen mit Gros de Tours mit weißem Fond und darauf gestickte Blumensträuße.«3 Form, Stil und Motive der Möbel, die uns heute so wichtig geworden sind, werden bis auf rare Fälle nicht mit einem Wort erwähnt, da sie als unerheblich, als rahmendes Beiwerk galten. Heute verhält es sich umgekehrt. Der Umfang und die Provenienz der oben zitierten Garnitur legt die Vermutung nahe, dass es sich dabei immerhin um gestempelte Möbel des Pariser Ebenisten Georges Jacob (1739-1814) handelte, deren konsequenter Aufbau und reiche Schnitzarbeit sehr wohl eine Beschreibung möglich gemacht hätten. Der Bezug bedeutete eine weitgehende Festlegung des einzelnen Sitzmöbels wie auch der ganzen Garnitur auf einen bestimmten Raum, in dem Möbelbezug, Vorhänge und Wandbespannung üblicherweise aus einem Stoff oder zumindest von gleicher Farbe oder Art zu sein hatten. Die Fassung des Sitzmöbelgestells war ebenfalls auf die Holzfarbe des Raumes abgestimmt, sei es als Rahmung für eine Seidenbespannung, sei es als Boiserie. Die Formen eines Stuhles, Sessels oder Sofas standen im Einklang mit den Linien und den Ornamenten der Wandvertäfelung. Diese vollkommene Einbindung in den Gesamtentwurf macht es daher möglich, vom erhaltenen Möbel Rückschlüsse auf die Art und Dekoration des Raumes, für den es gestaltet war, zu ziehen. Ein ungefasster Sessel gehört zu einer Boiserie à la Capucine, also in der braunen Naturfarbe des Holzes. Ein grau oder weiß gefasstes Möbel passt zu ebenso gestrichenen Paneelen. Vergoldete Möbel stehen im Einklang mit dem goldenen Zierrat einer geschnitzten Boiserie. Eine original erhaltene Bespannung aus geprägtem Leder, etwa aus Gobelin, Damast, Brokat oder Seide, lässt auf eine gleiche Tapete zurückschließen. Die Möbel gehörten so unmittelbar zum Raum, dass sie bei einem Besitzerwechsel als fester Bestandteil zur Raumausstattung gerechnet und mitgekauft wurden. Hierfür hat sich der aus alten Inventaren hergeleitete Begriff Meubles meublants geprägt, der die Bindung einer Garnitur an einen bestimmten Raum zum Ausdruck bringt. Diese enge Bindung manifestierte sich auch in der Aufstellung. Die Möbel standen symmetrisch geordnet entlang der Wände (vgl. Abb. 2), etwa in der Mitte der Raumachse ein dreisitziges Sofa, links und rechts vier Sessel. Auch an der Ausarbeitung von bestimmten Typen schwerer Sitzmöbel kann man leicht ablesen, dass sie unverrückbar vor der Wand standen. Die Rückseite zeigt dann bloß die notwendige Grundkonstruktion, ohne Ausführung von Ornamenten und Detailformen. Die Bespannung ist einfacher und besteht aus einem schlichten Stoff. 3 | Inventar der Residenz München von 1769, Bayerische Schlösserverwaltung Schloss Nymphenburg, abgedruckt in: Brigitte Langer/Hans Ottomeyer: Die Möbel der Münchner Residenz, Bd. 1: Die französischen Möbel des 18. Jahrhunderts, 3 Bde., München, New York 1995, S. 301-319.
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Abbildung 2: Salon des Hotel Nivernais in Paris mit Plan der Möblierung, um 1780. Feder, laviert Abbildung 3: Aubert Parent: Cahier de Meubles de Differentes formes […], 1788. Kupferstich, 30 x 23 cm. Privatbesitz, Berlin
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Diese strengen Prinzipien der Raumausstattung, bei der jedes Detail des Einzelstückes dem Gesamtentwurf zugeordnet war, muss heute mühsam rekonstruiert werden, sind doch die ehemaligen Garnituren häufig zerrissen und auf verschiedene Räume verteilt. Neue, unterschiedliche Bezüge machen das Erkennen schwer und die richtige Zuordnung unmöglich. Geänderte Vorstellungen vom Wohnen und von Innendekoration haben die meisten historischen Ensembles schon gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ihrer originalen Ausstattung beraubt. Bei der Wiedereinrichtung verfuhr man nicht nach den geschichtlichen Prinzipien und verfügbaren Kenntnissen, sondern nach Bequemlichkeit, neuer Gewohnheit und persönlichem Geschmack. Außer den Meubles meublants gab es sogenannte Meubles courants, das heißt »laufend« umgesetzte Möbel. Sie wurden dahin getragen, wo man sie eben benötigte. Es waren kleine Sessel, oft en cabriolet – benannt nach einem leichten, wendigen Wagentyp –, Stühle und Tabourets (vgl. Abb. 3). Man benützte sie zum Essen, an den Spieltischen und um kleine Runden zu bilden. Stiche mit Genreszenen und Gemälde mit Gesellschaftsszenen zeigen, dass die Sitzmöbel fast ausschließlich von den Damen benutzt wurden, wohingegen die degentragenden Kavaliere bei Einladungen und Empfängen gezwungenermaßen standen. Außer den Gesellschaftsräumen gab es eine Reihe kleinerer Zimmer, die hinter dem Paradeschlafzimmer lagen, in dem im Übrigen auch kleinere Essen gegeben wurden. Diese Kabinette waren in Zahl und Art nach Rang und Reichtum des Besitzers gestaltet und mit Nebengelassen, Garderoben, Retiraden und Gängen versehen. Es hatte niemand als der Inhaber des Appartements Zutritt. Im ersten Kabinett wurden kleine private Sammlungen aufbewahrt und hier stand der Schreibtisch. Ein anderes Kabinett diente der Toilette, dem Frisieren und Anpassen der Perücke sowie dem An- und Auskleiden oder dem Umkleiden, das mehrmals am Tag üblich war. Platz für eine Garnitur von Sitzmöbeln war gewöhnlich nicht, dafür aber für kost-
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bare Einzelmöbel, darunter auch Sessel, die – wie etwa Schreibtisch- und Frisiersessel – für einen bestimmten Zweck konstruiert waren. Meist sind es Sessel, bei denen Rücken- und Armlehne ineinanderlaufen. Die Rückenlehne eines niedrigen Frisiersessels ist weit nach hinten geneigt. Soweit zum Herkommen, den Prinzipien und Funktionen der Raumfolge eines Appartements und seiner Möblierung gegen Mitte des 18. Jahrhunderts. In der Folge soll am Beispiel einer bestimmten historischen Person und ihrer Familie veranschaulicht werden, wie sich Repräsentation und Wohnen zwischen 1780 und 1820 darstellten und änderten. Zur Demonstration dienen der Lebensstil und die Wohnungen Maximilian Josephs Pfalzgraf von Zweibrücken, ab 1797 Herzog von Zweibrücken, 1799 Kurfürst von Pfalz-Bayern und ab 1806 als Max I. Joseph König von Bayern. Er war als jüngerer Sohn eines nicht erbberechtigten Prinzen geboren und nach den Lehren der französischen Aufklärung erzogen worden. Da er nach aller Erwartung nicht für die Erbfolge in einem der Wittelsbacher Territorien in Frage kam, wurde er zum Offizier bestimmt. Er erhielt vom französischen König Ludwig XVI. ein Regiment, das in Straßburg stationiert war. 1785 stattete er sein dortiges Stadtpalais anlässlich seiner Heirat mit Prinzessin Auguste von Hessen-Darmstadt unter hohen Schulden neu aus. Aus dem folgenden Jahr 1786 blieb ein Inventar erhalten, das die Einrichtung des Zweibrückener Hofes detailliert schildert.4 Anhand dieser Beschreibung kann die Möblierung der Raumfolge genau nachvollzogen werden. Wie häufig bei Stadthäusern und Sommerpalais, so lagen auch hier die Appartements übereinander. Eine Anpassung der im Idealfall linear und symmetrisch nebeneinander geordneten Räume an ungewöhnliche Grundrisse des Grundstücks oder ältere Bauteile war für das Stadtpalais notwendig, ohne dass das Prinzip der Raumfolge aufgegeben wurde. Das Vorzimmer des Prinzen enthielt nichts als einige Spieltische. Das zweite Vorzimmer hatte eine Einrichtung als Speisesaal. Die Boiserien waren grau gefasst, mit vergoldeten Leisten. Fünf Konsoltische, grau oder vergoldet, standen entlang der Wände, so auch das Sofa, vierzehn Sessel und acht Stühle, welche mit rot-weiß gestreiftem Damast des Indes bezogen waren. Gegen Lichtausbleichung und Staub wurde der Seidenstoff mit rot gewürfelten Leinenüberzügen geschützt, die sich immer dann über den Möbeln befanden, wenn sie nicht benutzt wurden. Die Sitzmöbelgarnitur war vergoldet, der Bezugsstoff wiederholte sich bei den Vorhängen. Der folgende Salon – in nicht fürstlichen Häusern ersetzt er üblicherweise das Audienzzimmer – enthielt kein einziges Sitzmöbel. Das ist ungewöhnlich und kann wahrscheinlich damit erklärt werden, dass sich hier die Offiziere des Regiments Max Josephs versammelten. Das Schlafzimmer bot ebenfalls keine Sitzgelegenheit, was üblich war. Erst im Schreibkabinett fand sich ein lederbezogener Sessel vor dem Sekretär. Das Toilettenzimmer in der Passage enthielt vier gelb gestrichene Stühle mit Flechtpolstern und 4 | Inventar des Hôtel de Deux Ponts, Straßburg 1786 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München, Rappoltsteiner Akten 67, Annex Nr. IV).
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einen grau gestrichenen Frisierstuhl. Die Ausstattung der Suite mit Sitzmöbeln war sparsam gehalten, was jedoch nicht auf fehlende Mittel schließen lässt, denn im selben Inventar finden sich teure Vorhänge, Konsoltische, Feuerschirme, bronzene Kandelaber und Lüster beschrieben. Die Grundzüge einer Möblierung zeigen sich im Appartement der Pfalzgräfin in der Beletage. Im Vorzimmer standen fünf grau gefasste Sitzbänke. Der folgende Speisesaal hatte eine Garnitur von sechs Sesseln en cabriolet und zehn Stühlen, die mit Gobelins der Manufaktur Aubusson überzogen waren. Dieser Salon war mit einer Sitzmöbelgarnitur ausgestattet, und zwar mit zwölf Sesseln en cabriolet, acht großen Sesseln carré – deutlich Meubles meublants –, vier Stühlen en cabriolet und zwei zweisitzigen Sofas – »tous les sièges annoncés sont dorés et couvertes de pareil damas que la tapisserie«5. Im Schlafzimmer stand als einziges Sitzmöbel ein aus einem Sessel und einer Bank gebildetes Ruhebett. Das Kabinett, hier als petit salon de matin bezeichnet, besaß eine kleine Garnitur aus einem zweisitzigen Sofa, sechs Cabrioletsesseln und vier Stühlen.6 Im anschließenden Spiegelkabinett mit seinem Alkoven befanden sich vier weiß gefasste und vergoldete Stühle, die in ihrem Zierrat auf die reich geschnitzte gleichartige Boiserie hin abgestimmt waren.
Abbildung 4: Spiegelkabinett aus dem Hotel des Deux-Ponts in Straßburg, um 1785 (nach 1800 in der Residenz München montiert; Raum seit 1944 nicht mehr existent), Fotografie, 1931
5 | Ebd. 6 | Ebd.
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Wie in allen bisher beschriebenen Räumen fand sich auch hier, von den fest an die Wand montierten Konsoltischen abgesehen, kein Tisch im Raum (Abb. 4).7 Deutlich sieht man, wie jede Lebensfunktion an ein bestimmtes Zimmer gebunden war und in einer speziellen Möblierung ausgedrückt und festgelegt wurde. Die Appartements des Hôtel des Deux-Ponts, die als Beispiel für ein aristokratisches Palais des 18. Jahrhunderts gelten können, wurden bis 1790 bewohnt, dann floh Pfalzgraf Max Joseph vor der Französischen Revolution, bezog mit seiner Familie verschiedene ihm angewiesene Orte in der Pfalz und trat 1799, beim Tode seines Onkels Karl Theodor, die Erbfolge für Pfalz-Bayern in München an. Hier fand er eine riesige, seit dem Mittelalter ausgebaute Residenz vor, die er anfangs nicht bezog, weil für ihn, mit einer zahlreichen Familie, so paradox es klingt, darin kein Platz war. Die beiden letzten Herrscherpaare hatten darin kinderlos in den sogenannten Kurfürstenzimmern gelebt. Diese waren eine Folge von sparsam ausgestatteten Räumen, bei der die Appartements des Kurfürsten und der Kurfürstin, wie in der Residenz üblich, mit den Kabinetten aneinander stießen, die Treppenanlagen und Wartesäle aber außen lagen. Die Ausstattung der Kurfürstenzimmer als Wohnung von Max III. Joseph und seiner Gemahlin Maria Anna von Sachsen zeigen deren Rückzug aus dem Hofleben nach der Vermählung 1747. Wie eine Hofordnung gegen 1760 niederlegt, dürfen sie »ohne special gnädigste Erlaubnis« nicht mehr vom Hofstaat betreten werden.8 Die Hofränge hatten sich in den benachbarten älteren Räumen, den sogenannten Kaiser- oder Reichen-Zimmern, einzufinden. Deutlich werden Repräsentations- und Wohnfunktionen auseinanderdividiert. In einer weiteren Hofordnung von 1769, die den verzweifelten Versuch darstellt, das offensichtlich aus den Fugen geratene Hofleben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, verbittet sich der Kurfürst die Anwesenheit von Personen in seinen Wohnzimmern, wie etwa ihm auflauernde Bittsteller in Nebengelassen, Gängen und Retiraden, und untersagt, herumliegende Briefe zu lesen, Sekretäre und Kommoden zu durchsuchen, handgemeine Scherze sowie das Kartenspielen zum Zeitvertreib während der Audienz in den Vorzimmern. Auch beschwert er sich darüber, dass »in der schuldig respectvollen Bedienungsform alle Ordnung gänzlich abnehmen und außer Acht gesetzt zu werden anfangen«9 . Gleichzeitig schränkt Max III. Joseph das Hofzeremoniell ein und nimmt sich dabei ein Beispiel am Habsburger Kaiserhof zu Wien. Es werden die Galatage und Gratulationen an Festtagen abgeschafft, mit der 7 | Das Arbeitstischchen auf dem Foto des Spiegelkabinetts von 1931 ist eine Zutat des 19. Jahrhunderts. 8 | Ordnung, welche ihre Churfl. Durchlaut in Bajern etc. bey denen bey Hof vorfallenden Aufwartungen, wie auch sonsten durchgehends mit Besuchung der AntiKammern und Ritterstuben in Zukunft gehalten wissen Wollen, undatierter Druck (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München, Abteilung III, Geheimes Hausarchiv, Akte 1712 K II/1). 9 | Churbajerische Kammerordnung, Druck 02.01.1769 (Bayrisches Hauptstaatsarchiv, München, Abteilung III, Geheimes Hausarchiv, Akte 1712 K I/51).
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Begründung, dass dies wirtschaftlich belastend sei und man sich an der Hoftafel sowieso sehe.10 In diesen unsicher gewordenen und in der Folge vereinfachten Formen lebte auch der Nachfolger von Max III. Joseph, Kurfürst Karl Theodor, zwischen 1777 und 1799 in der Münchner Residenz. Kurfürst Max IV. Joseph (1756-1825), späterer König Max I. Joseph, wies die Kurfürstenzimmer dem Kurprinzen Ludwig zu, seinem ältesten Sohn, und bezog mit seiner zweiten Frau Karoline und den jüngeren Kindern einen Trakt, der in den größten Festsaal der Residenz, den Kaisersaal aus dem 17. Jahrhundert, neu eingebaut wurde. Wieder, wie in Straßburg, lagen die Appartements nicht auf einer Ebene, sondern übereinander. Gegen alle Konventionen wurde die Wohnung der Kurfürstin in die hohe Beletage des ersten Stockes gelegt, der Kurfürst selbst bewohnte das niedrige Mezzaningeschoss darüber, wo sonst Dienerwohnungen geplant werden. Abbildung 5: Franz Xaver Nachtmann: Salon der Königin Karoline in den Hofgartenzimmern der Münchner Residenz, 1843. Aquarell, 20,7 x 32,2 cm. Wittelsbacher Ausgleichsfonds, München
Das Appartement der Kurfürstin war nach dem üblichen Schema gegliedert. Das erste Vorzimmer blieb unmöbliert, das zweite diente als Abendspeisesaal und war dazu mit achtzehn gleichen Stühlen aus Kirschbaumholz ausgestattet. Der Salon war der größte Raum der Suite und wurde für Empfänge und Gesellschaften benützt. So wie in der Folge beschrieben, wurde er gegen 1810 fertiggestellt und in einem Aquarell von 1843 festgehalten (Abb. 5). In dem Raum stehen zwei Garnituren. Entlang der Wände die Meubles meublants mit zwei Sofas und dreißig geradlinigen Sesseln bilden die Grundausstattung und entsprechen mit ihren geraden Linien der Struktur der Paneaux. Zwölf leichte Sessel gehören zur anderen Garnitur und stehen vor den Kamin – sie bilden den Cercle. Der Zusammenhang mit dem Raum wird auch durch einen dunkelblauen, ster10 | Ob die Galatage abgeschafft werden sollen?, Druck von 1756 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München, Abteilung III, Geheimes Hausarchiv, Akte 1712 K II/1).
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nenübersäten Stoff erreicht, der für alle Sitzmöbel und die Vorhänge Verwendung findet. Sessel und Sofas wurden nur bei den abendlichen Einladungen gebraucht, denn die Empfänge fanden im Stehen statt. Dekoration und Ausstattung des Salons sind noch ganz in die Tradition des 18. Jahrhunderts eingebunden. Der repräsentativste Raum ist immer der konventionellste. Abbildung 6: Wilhelm von Rehlen: Thronsaal der Königin Karoline in den Hofgartenzimmern der Münchner Residenz, 1820. Aquarell, 17,7 x 26,7 cm. Wittelsbacher Ausgleichsfonds, München
Diesen eben beschriebenen Salon muss man als drittes Vorzimmer auffassen, denn auf ihn folgte das Audienzzimmer, nach 1806 als »Thronzimmer I. Majestät der Frau Königin« bezeichnet und 1811/12 dekoriert (Abb. 6). Kostbarster Bestandteil waren hier die in Lyon bestellten Brokatseiden für Tapisserie, Vorhänge, Baldachin und Möbelbezüge, die mit 15.647 Gulden auf die Außenhandelsbilanz schlugen. Die Möbel wurden in München angefertigt und kosteten ein Zwanzigstel der textilen Ausstattung, was die vielfach übersehene Tatsache belegt, dass Stoffe bei einer Raumgestaltung größten Vorrang vor Möbeln hatten. Die Behauptung, dass Sitzmöbel im höfischen Bereich nichts als Träger kostbarer Bespannungen waren, ist keine Übertreibung. Das ist heute vergessen, und Bezugstoffe werden nicht historisch richtig, sondern nach Geschmack und sogenanntem Stilgefühl erneuert – eine Entscheidungsbasis, welche für die gravierendsten Fehlentscheidungen im Bereich historischer Raumausstattungen verantwortlich gemacht werden kann und nahezu alle Schlosseinrichtungen falsch festgeschrieben, entstellt und verheert hat. Beim Thronzimmer kann man ein offizielles Mobiliar unterscheiden, das zusammen mit dem Raum und seiner Ausstattung geplant wurde. Es bestand aus dem Thronsessel, den Stühlen, die wohl Prinzen und Prinzessinnen vorbehalten waren, Feuerschirm und Konsoltischen. Saß die Königin auf ihrem Thron, mussten Hofstaat und Gäste stehen, also enthielt der Raum keine weiteren Sitzgelegenheiten. In unorthodoxer Weise hat die Königin ihren offiziellsten Raum in einen Musiksalon verwandelt, indem sie
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zwei Flügel hineinstellte. Ein Notenregal lässt auf wirklichen und häufigen Gebrauch schließen. Die alten äußeren Formen des Hofzeremoniells und eine dementsprechende Raumgestaltung wurden durch neue Ansprüche nach individueller Entfaltung persönlicher Liebhabereien ad absurdum geführt und aufgehoben. Noch deutlicher wird das im darauffolgenden Schlafzimmer. Hier unterrichtet ein altes Projekt des Tapissiers Charles-Pierre Puille (1731-1805), der schon 1785 für Max Joseph das Hôtel des Deux-Ponts in Straßburg eingerichtet hatte, über die ursprüngliche Planung des Raumensembles kurz nach 1800. Stilistisch verspätet rekapituliert er noch einmal das System des Ancien Regime. Die geplante Sitzmöbelgarnitur ist streng symmetrisch vor die in den Grundriss eingetragenen Achsen der Raumwände gestellt. Da, wo links vom Kamin einer der breiten Sessel fehlt, geschieht das, um die untere Zone der Vertäfelung einmal durchzuzeichnen, die sonst immer verstellt ist. Die Blumenbouquets auf den Lehnen der Sitzmöbel stehen im Einklang mit der Dekoration des Raumes durch Blumengirlanden und -gehänge. Auch die Linienführung der Möbel – rechtwinkliger Aufbau und kurvilineare Ornamente – entspricht der Boiserie, vor der sie stehen. Bei der späteren Realisierung wurden die Möbel allerdings anders als geplant ausgeführt, nicht mehr im altmodisch gewordenen Goût arabesque, sondern in einfachen klassizistischen Formen. Das Prinzip der vergoldeten Sitzmöbel aber bleibt gleich. Ein Ruhebett, acht Sessel und vier Stühle bilden eine repräsentative Garnitur, zu der sich Feuerschirm und Konsoltisch fügen. Die Königin hat diesen Raum zwischen 1812 und 1820 zu einem Wohnzimmer umgestaltet – das heißt zu einem Raum, in dem sich in zeitlicher Folge und nicht mehr in räumlicher Trennung verschiedenste tägliche Beschäftigungen mischen und sich in der Einrichtung ausdrücken (Abb. 7). Zum Arbeiten und Schreiben sind Sekretär und Schreibtisch da; Bücher zur Lektüre liegen auf dem runden Tisch in der Zimmermitte und auf dem Tisch vor dem Sofa. Eine kleine Sammlung von kostbarem Silber und Porzellan steht auf dem Konsoltisch und dem Regal. Für die Kinder sind Miniatursessel um einen winzigen Tisch gruppiert. Die Einbeziehung der Kinder in das tägliche Leben lässt sich in gleicher Weise auch für das Schlafzimmer im Schloss Nymphenburg nachweisen, wie die Kindergarnitur im Vordergrund zeigt (Abb. 8). Kinder wurden nicht, wie in konservativen und wohlhabenden Familien noch über die Jahrhundertwende hinaus üblich, von den Eltern getrennt erzogen, sondern lebten hier bereits früh im täglichen Umgang mit Vater und Mutter. Hinter dem Schlafzimmer der Königin in der Residenz waren die Kabinette angelegt, die, dicht mit Möbeln ausgestattet, nicht mehr die bis dahin übliche Trennung nach ihren verschiedenen Funktionen erkennen lassen, sondern alle Schreibkabinett, Toilettezimmer, Kunstkabinett, Ruheraum oder Boudoir in einem sind. Was aber beibehalten wurde und noch lange Grundprinzip einer erfolgreichen Innendekoration blieb, ist die Verwendung eines einzigen Stoffes oder zumindest eines gleichen Farbtons für Wände, Vorhänge und Möbelbezüge, also die Zuordnung der Sitzgarnitur zum Raumganzen.
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115 Abbildung 7: Wilhelm von Rehlen: Schlafzimmer der Königin in den Hofgartenzimmern der Münchner Residenz, 1820. Aquarell, 17,5 x 26,7 cm. Wittelsbacher Ausgleichsfonds, München
Im Appartement König Max Josephs war der Bruch mit dem alten System fürstlicher Repräsentation noch rigoroser vollzogen worden. Der Herrscher hatte sich souverän über alle Konventionen hinweggesetzt. Dies war ihm nur möglich, da er außerhalb und über jeder Rangordnung stand. Den Ansprüchen nach wohnte er wie ein wohlhabender Privatmann auf einer Etage mit seinen Kindern. Das enge Zusammenleben der Familie, hier neu und wohl Resultat der langen und eingeschränkten Jahre nach der Flucht, scheint das Grundmotiv der Entwicklung von der Repräsentation hin zum Wohnen zu sein. Abbildung 8: Friedrich Ziebland: Schlafzimmer der Königin Karoline im Schloss Nymphenburg, 1820. Aquarell, 17,8 x 26,8 cm. Wittelsbacher Ausgleichsfonds, München
Zeitgenossen haben dieses auffallende Sichzurückziehen mit Anerkennung, aber auch mit Spott kommentiert. Auf der einen Seite sah man mit Wohlgefallen den bürgerlichen Biedermann, den »guten Vater Max«,
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auf der anderen Seite war man erstaunt bis entsetzt, dass ein Fürst und Staatsoberhaupt so wenig auf würdevolle, seinen Rang bestätigende Formen gab. Die Räume waren allein über eine enge, nicht bewachte Stiege zugänglich. In den beiden schlichten und sparsam möblierten Vorzimmern konnte sich einfinden, wer wollte, und sein Anliegen vortragen. Der König sprach mit jedem, und die täglichen 1000 Taler waren an Bedürftige rasch verteilt. Personen von Rang wurden in den Salon gebeten, der mit einer Erlmaser-Garnitur mit weißer Seidenbespannung möbliert war. Das Schlafzimmer (Abb. 9) war mit einem Alkovenbett versehen, also in der herkömmlichen Auffassung gar kein Schlafzimmer, sondern ein Kabinett mit einer Ruhemöglichkeit. Die Gemäldesammlung und die Garnitur mit Sofa, vier Sesseln, zwei Stühlen und einem Schlafsessel unterstützen diese Interpretation. Ein Arrangement en Suite, ohne ein repräsentatives Schlafzimmer, ist Ausdruck des vollkommenen Bruchs mit dem Grundbestandteil des Hofzeremoniells, dem Lever, das in diesem beschränkten Rahmen unmöglich wurde. König Max I. Joseph (reg. 1806-1825) hat alles getan, um den Ritus um den Herrscher als Repräsentanten des Staates, der das Warten auf dessen Erscheinen nach Rängen und in einer Raumabfolge beinhaltete, unmöglich zu machen. Er stand um fünf Uhr auf, frühstückte um sechs Uhr und war so sicher, nicht vom Hof belästigt zu werden. Das reich mit Silber- und Goldstickerei verzierte Staatsbett seines Vorgängers wurde demontiert, und in dem Akt »Verwendung der gründamasten Bettstatt des höchstseeligen Churfürsten Carl Theodor betr. de Ao. 1803«11 ist nachzulesen, wie der Brokat in die Münze wanderte, um verbrannt zu werden. Das so gewonnene Edelmetall diente dann dazu, ein neues und bequemes Bett zu kaufen. Abbildung 9: Wilhelm von Rehlen: Schlafzimmer König Max Josephs von Bayern in den oberen Hofgartenzimmern der Münchner Residenz, 1820. Aquarell, 17,8 x 26,5 cm. Wittelsbacher Ausgleichsfonds, München
11 | Hofzahlamtsrechnung von 1803 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München).
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Es ist bezeichnend, dass gerade die Schlafzimmer, die ehemals wichtigsten Orte des Herrscherzeremoniells, den größten Änderungen unterworfen wurden. Damals richtete man sich noch im Stil seiner Zeit ein, also modern. Erst von 1850 an kommt es zu der bisher noch nicht dagewesenen Entwicklung, sich bewusst mit Möbeln der Vergangenheit zu umgeben, um damit Herkunft vorzutäuschen. Das Ankleide- und Schreibkabinett des Königs, ebenfalls klassizistisch möbliert, diente dazu, die umfangreiche Gemäldesammlung unterzubringen. Gleich nebenan befanden sich die Räume der Kinder – große, helle Säle, sparsam mit einfachen Biedermeiermöbeln ausgestattet, in denen viel Platz für Spiele und Bewegung blieb. Auch sie sind durch Interieuraquarelle überliefert. Bezeichnend ist wohl, dass man den Kindern keine Sofas und keine Sessel zur Verfügung stellte, sondern die Ausstattung auf Stühle beschränkte. Diese Erziehung zur Einfachheit kann auch an anderen Beispielen belegt werden. Ob damit auch eine Erziehung der Sitzhaltung gemeint ist, lässt sich vermuten, nicht aber beweisen. In den Nebenappartements der Residenz fanden familiäre Zusammenkünfte statt, welche bürgerlichen Verhältnissen entsprachen. So fand sich im Zimmer der Gouvernante der Prinzessinnen eine von Peter Heß skizzierte Gesellschaft zusammen, die den König im Kreis seiner jüngsten Töchter zeigt.12 Man sitzt des Abends im Gespräch um einen runden Tisch versammelt. Dem Vater – nicht dem König – ist der einzige Sessel reserviert, während die Kinder auf Stühlen Platz genommen haben. Gleichfalls von einem bürgerlichen Familiengespräch kaum unterscheidbar ist eine Szene mit dem Kronprinzen Maximilian und weiteren nur schwer zu identifizierenden Personen in einem Damenzimmer der Residenz.13 Auffallend auch hier, dass niemand beim Sitzen die Rückenlehne benutzte. Man saß nach guter Sitte frei und gerade. Das Mobiliar ist wie in allen Nebenräumen der Residenz einfaches, furniertes Biedermeiermobiliar von etwa 1815, welches das ganze 19. Jahrhundert hindurch als Gebrauchsmöbel par excellence in Benutzung blieb und auch heute noch in Büros der Schlösserverwaltung steht und verwendet wird. Man sieht, dass sich Lebensformen bei Hof und im Bürgerhaus weitgehend einander angenähert haben. Das betrifft jedoch nur das tägliche Leben, bei dem der Kult des Herrschers verschwindet. Die großen Hoffeste, Empfänge, Vertragsabschlüsse mussten nach wie vor geplant und in geordneten Formen abgewickelt werden. Dazu wurde die weiträumige Anlage der alten Kaiser- oder Reichen-Zimmer der Residenz benutzt. Gut dokumentiert ist die Heirat der ältesten Tochter König Max Josephs, Prinzessin Auguste, mit dem Stiefsohn Kaiser Napoleons, 12 | Peter Hess: König Max Joseph von Bayern im Kreise seiner Töchter, um 1820, Bleistiftzeichnung, Münchner Stadtmuseum. Vgl. Joseph Maillinger: Verzeichnis einer Sammlung von Erzeugnissen der graphischen Künste […], München 1876, S. 190, Nr. 1979, Abteilung VIII.D. 13 | Lorenzo Quaglio: Salon der Prinzession Mathilde in der Münchner Residenz, um 1843, Aquarell, in: Hans Ottomeyer (Hg.): Das Wittelsbacher-Album. Interieurs Königlicher Wohn- und Festräume 1799-1848, München 1979, Taf. 28.
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Eugène Beauharnais, im Januar 1806, zwei Wochen nach der Erhebung Bayerns zum souveränen Königreich. Die Szene der Ziviltrauung mit der Unterzeichnung des Heiratskontraktes ist in einem Gemälde festgehalten, das Napoleon in Auftrag gab (Abb. 10) sowie in einer Sitzordnung und einem Protokoll dokumentiert, die in München erhalten blieben.14 Abbildung 10: François Guillaume Menageot: Ziviltrauung zwischen Prinz Eugène de Beauharnais und Prinzessin Auguste Amalia von Bayern in der Grünen Galerie der Münchner Residenz am 13.01.1806, 1808. Öl auf Leinwand, 189 x 230 cm. Châteaux de Versailles, Versailles
Vor dem Kamin des Nordflügels der Grünen Galerie der Kaiserzimmer ist eine einstufige, mit einem Teppich bedeckte Estrade aufgeschlagen, die von einem Baldachin überspannt wird. Auf den vier vergoldeten Sesseln der vordersten Reihe sitzen die Majestäten Kaiser Napoleon, Kaiserin Josephine, König Max Joseph und Königin Karoline. In der zweiten Reihe sitzen – wohl auf Tabourets – die Hofdamen der Kaiserin und der Königin, rechts der Estrade erkennbar auf Tabourets Kronprinz Ludwig und Prinzessin Auguste, dahinter ihre zwei Hofdamen, links auf dem Tabouret Joachim Murat, dahinter weitere Hofdamen der Kaiserin. Ihnen gegenüber sitzt auf einem Sessel der höchste geistliche Würdenträger, der Fürstprimas und Kanzler des Rheinbundes, Karl Theodor von Dalberg. In erster Reihe, entlang der Wände der Galerie, finden die Damen des bayerischen Hofes einen Sitzplatz, dahinter stehen die Kavaliere. Wie sie, stehen auch alle anderen Teilnehmer an der Staatszeremonie, darunter so hochrangige Personen wie die ersten Minister Talleyrand und Montgelas, die höchsten Hofbeamten und französischen Marschälle. Das Prinzip der Sitzordnung berücksichtigt nur die königlichen und kaiserlichen Hoheiten und die Damen, von denen allen ein Platz eingeräumt wurde. Die komplizierte 14 | Hausurkunde 5420 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München, Abteilung III, Geheimes Hausarchiv).
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Hierarchie der Männer kommt in den ihnen angewiesenen Plätzen andeutungsweise zum Ausdruck, wird aber nicht durch besondere und gestaffelte Sitzgelegenheiten festgelegt. Dasselbe ließe sich auch für das Münchner Hoftheater belegen. Das Auseinanderfallen von nahezu bürgerlich gewordenem Wohnen und reiner Staatsrepräsentation nach außen kommt in Bayern noch einmal zum Stillstand. Der Nachfolger König Max Josephs, König Ludwig I. (reg. 1825-1848), zeigte eine ganz andere Auffassung seines Herrscheramtes. Selbstbewusst ergriff er das Regiment und ließ sich nicht mehr durch die Minister regieren. In dem von ihm neu errichteten Königsbau, der 1835 vollendet wurde, schuf er den Rahmen für die Repräsentation seiner Souveränität. Der Flügel im Stil der Renaissance, den er zur Stadt hin an die Residenz anbauen ließ, nahm in der ersten Etage äußerst offizielle Appartements für König und Königin auf. Sie setzten sich jeweils aus zwei Vorzimmern, einem Servicesalon, Audienzzimmer, Empfangssalon, Schlafzimmer, Schreibkabinett und Bibliothek zusammen. Das Audienzzimmer war mit einem gewaltigen Thronsessel ausgestattet. Max Joseph hatte seinen Thron an einem runden Tisch, an dem auch seine Räte saßen, im Staatsratszimmer der Residenz. Später baute Ludwig I. einen noch größeren Thronsaal in den Festsaalbau ein. Die für den Königsbau und den Festsaalbau neu entworfenen Möbel in verspäteten Empireformen wurden vom Architekten Leo von Klenze (1784-1864) der Raumfunktion und den Formen der Innendekoration entsprechend gestaltet. Die Vorzimmer hatten einfache Naturholzmöbel, die Audienzzimmer und der Empfangssalon ganz vergoldete Möbel und die restlichen Räume waren mit weiß gefassten Möbeln ausgestattet, bei denen lediglich die Ornamente vergoldet waren. Wie bei den Räumen fand sich also auch hier eine deutliche Hierarchisierung, deren einheitliches System keine Abweichung erlaubte. Der König selbst war der einzige, der sich in diesen Staatsgemächern wohlfühlte. Gemahlin Therese und Tochter Adelgunde Auguste lehnten die Ausstattung ab (vgl. Abb. 11): »Alles ist superb, aber nichts zum Wohnen, nichts Gemütliches«, schrieb die Prinzessin in ihr Tagebuch.15 Die Königin zog sich weitgehend in die rückwärtigen Räume, ein Toilettezimmer und einen Musiksalon, zurück, die sie sich als Wohnzimmer ausstattete. Nach dem Sturz Ludwigs I. 1848 wurde der Königsbau einer vollständigen Umordnung unterzogen. König Maximilian II. (reg. 1848-1864) und seine Gemahlin Marie verwandelten die Räume in eine Folge von Wohnzimmern mit Polstergarnituren und vielen kleinen Beistellmöbeln unter völliger Veränderung der Bestimmung der Räume. Ludwig I., der noch bis 1868 lebte, weigerte sich, seinen Königsbau je wieder zu betreten. Bequemlichkeit und persönliches Empfinden waren die Motive der Neugestaltung. Der Wohnstil der Jahrhundertmitte, anderswo als »viktorianisch« bezeichnet, bedeutete an den europäischen Höfen das Ende der Entwicklung fürst15 | Tagebuch von Prinzessin Adelgunde Auguste Charlotte von Bayern (18231914), zit. nach: Adalbert Prinz von Bayern: Als die Residenz noch Residenz war, München 1967.
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licher Repräsentation, die eine nicht verbale öffentliche und politische Sprache ist, hin zu zunehmend bürgerlichen Lebensformen des Adels. Die Auflösung des alten Systems des aristokratischen Appartements und seiner festgelegten Möblierung ist durch den Wunsch nach familiärem Zusammenleben und Rückzug in eine private und bequeme Atmosphäre vollzogen worden. Abbildung 11: Franz Xaver Nachtmann: Schreibkabinett der Königin Therese im Königsbau der Münchner Residenz, 1836 (nach einem Entwurf von Klenze von 1835). Aquarell, 21 x 28,5 cm. Wittelsbacher Ausgleichsfonds, München
Aus dem Chaos formloser Polster, heterokliter Stilzitate und aufgepfropfter sentimentaler oder exotischer Erinnerungsstücke haben sich Innenarchitektur und Möbelentwürfe erst ein halbes Jahrhundert später wieder lösen können und zu einem wohlbedacht gestalteten Stil in der Innenarchitektur zurückgefunden. Nicht zufällig griff man dabei auf die Formen des Klassizismus zurück, dem Archetypus bürgerlichen Wohnens. Dieser Stil versuchte sich zuerst in bewusster Formengebung und suchte einen Kompromiss zwischen Repräsentation nach außen und Bequemlichkeit nach innen. Der Wandel der Lebensgewohnheiten der tonangebenden Schicht ist bisher kaum dargestellt und erörtert worden. Untersuchungen blieben Anfänge und Versuche, ohne in einer Forschungsrichtung zu resultieren; eine Synthese steht aus. Lange wurde höfisches Zeremoniell nur als Beiwerk einer degenerierten Lebensform karikierend geschildert, aber nicht als Leitform alteuropäischer Kultur verstanden. Das Zeremoniell und seine Wandlung, ablesbar auch und vor allem in der Anordnung und Ausstattung der Herrschaftssitze, spricht eine deutliche Sprache und verrät viel über die Auffassung von Macht im Verhältnis zum Statthalter der Macht. Neuere Erkenntnisse sind dann zu erwarten, wenn man von der entstellenden Schablone des Absolutismusbegriffs abgeht, der als Globaltheorie
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das Verständnis der Entwicklung der Lebensformen des 17. und 18. Jahrhunderts unnötig beeinträchtigt. In der wachsenden Diskrepanz zwischen der Norm der Konvention und der Erfüllung im täglichen Leben liegt der zu überprüfende Freiraum, welcher die Entwicklung der Einrichtungen möglich machte. So lange und in dem Maße, in dem es auferlegte äußere Formen gibt, wird es auch die Flucht davor geben.
Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: Ausst.-Kat. Z.B. Stühle. Ein Streifzug durch die Kulturgeschichte des Sitzens (= Werkbund-Archiv Bd. 8), hrsg. vom Deutschen Werkbund e.V., Kunstverein, Karlsruhe u.a., Gießen 1982, S. 140-149. Der Text wurde für diese Ausgabe leicht überarbeitet und mit Fußnoten versehen; für die Überarbeitung des Textes sei Esther Sophia Sünderhauf gedankt. Nachträglich erschienen zum Sitzzeremoniell an der Tafel folgende Publikationen der Verfassers: Hans Ottomeyer: »Eine kurze Geschichte des Tafelzeremoniells in der Münchner Residenz«, in: Pracht und Zeremoniell – Die Möbel der Residenz München, hg. v. Brigitte Langer, München 2002, S. 67-77 sowie Die öffentliche Tafel – Tafelzeremoniell in Europa 1300-1900, Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museums im Kronprinzenpalais, Berlin, hg. v. Hans Ottomeyer/Michaela Völkel, Wolfratshausen 2002.
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Das Chefzimmer Herbert Lachmayer
V ORBEMERKUNG : »S TAGING W ORK« AT THE O FFICE In gewissem Sinne ist jeder Arbeitsplatz eine Art Arbeitsausstellung – will doch jede dort tätige Person den Kollegen/-innen, Vorgesetzten und Besuchern/-innen zeigen, dass mit ihrer Anwesenheit hinter dem Schreibtisch zumindest das Erscheinungsbild kompetenter Büroarbeit – in den Köpfen der Betrachter/-innen – erweckt wird. Zu derartiger »Performance« gehören auch die Stilisierungen des Zu- und Abgehens vom und zum Arbeitsplatz, des perfekten »Schwebens« durch den Raum, das Markieren von Entschlossenheit als gestische Metapher für Entscheidungsbereitschaft et cetera. Kurzum, das Büro, vom wechselnden Arbeitsplatz über Sekretariate bis hin zu den Chefetagen, ist rundum »Bühne«, auf der die Beschwörung von Organisations-Präsenz, Dynamik, erfolgreichen Geschäftsabschlüssen und zügiger Effizienzbildung stattfindet – ein durch Design erlebbar und greifbar gemachtes Optimierungsgehäuse, welches in seiner ästhetischen Ausdrucksform unterschiedlichen Parametern folgen kann: Mal war es die scheinbar autoritätsrelativierende Transparenz des Großraumbüros, welches in seiner offenen Gestaltung womöglich das Gegenteil bewirkt hat, indem die gegenseitige Kontrolle von Arbeitseinsatz und Konzentrationserwartung repressivere Konsequenzen erzeugt haben mochte. Zum anderen sollte das Design den Wunsch nach hierarchischer Überhöhung der einzelnen Funktionsschichten noch unterstreichen – eine pseudosakrale Ernsthaftigkeit der profanen Firmenphilosophie war vielleicht der Innenarchitektur des Bürokomplexes förmlich abzulesen, vielleicht nur deshalb, um einer suggerierten Kompetenz noch die Aura von geistiger »Coolness« dranzuheften (und anderes mehr). Eine Intention allerdings verbindet die Vielfalt an Umsetzungsformen der Arbeitsplatzinszenierungen im Bürobereich: Stets weist ein auch noch so minimalistisches Design weit über das Erscheinungsbild vorgeblicher Funktionalität hinaus und kalkuliert die atmosphärische Manipulation durch ästhetische Designinterventionen sorgsam mit ein. Und gerade dabei können sowohl der Unternehmer wie auch der Designer und PR-Profi als Regisseure der Firmenphilosophie in der Frage der Selbstrepräsentation
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des Unternehmens knapp danebengreifen, und damit ganz vorbei: Sofort ist die Gesamtinszenierung durchschaubar – und mit ihr das geheimnislose Profitstreben einer enttarnten Selbstdarstellung, die deshalb insgesamt skeptisch stimmen muss, zumal die suggerierte Kompetenz am verfehlten Erscheinungsbild erst recht infrage gestellt wird. Nichts Schlimmeres kann einem Chef in der Chefetage passieren, als dass er durch das Ambiente von sich mehr verrät, als er seinen Besuchern/-innen offenzulegen beabsichtigt. Am verfehlten Einsatz von Designmitteln wird deutlich, wie sehr ästhetische Ausdrucksformen in ihrem reflektierten Erscheinungsbild weit über das bloß Ornamental-Dekorative hinausweisen und als Vermittlungsmedium substanzieller Teil des contents sind, welcher die tragenden assets eines Unternehmens eben auch ausmacht. So geht es für Auftragnehmer, Auftraggeber, »PR-Spin-Doctors« und Designer/-innen um eine sophisticated »Geschmacksintelligenz«, die letztendlich gleichermaßen für das Resultat »Erfolg« maßgeblich bestimmend ist wie rationale Optimierungsstrategien auch. Kultur (ästhetischer Geschmack, Bildung) ist ein »Umweg«, der sich lohnt – gerade auch für das Business. Ein Manager, der glaubt, dass es reicht, bloß zwei Stunden am Tag »Geschmack« zu haben, hat eben gar keinen. Man sieht schon an der Bekleidung, vom straighten Anzug bis zur Casual Wear als Dresscodes und zugleich Indikator einer Unternehmensphilosophie, ob derjenige/diejenige im Grunde den Prestige-Zwängen des »Lifestyles« hinterherjagen (oder »hoppeln«), zur Entwicklung eigener kreativer »Lebens-Art« im Lebens- und Berufsalltag aber nicht fähig sind. Damit hängt allerdings (in Konsequenz bis zum Risiko des »sozialen Todes« durch unsouveränes Auftreten) die Frage des Individualismus zusammen, der in unserer beschleunigten Leistungsgesellschaft als Sehnsuchtsziel (auch für »coolste« Lebensentwürfe) immer noch hoch attraktiv ist, sozusagen als »Restspiritualität« in Prestigehierarchien der Konsumeitelkeit erhalten bleibt. Individualismus als Ziel der Selbstverwirklichung seit dem 18. Jahrhundert ist allerdings von einer Freiheitsobsession geprägt, welche sich dem aufgeklärten Absolutismus, seinen Fürsten und aristokratischen Dandys, dem Raffinement der Hofkünstler wie dem späteren Eskapismus des »romantischen Künstlergenies« (bis hin zum Bohemien und Flaneur) verdankt, ihren ungeschriebenen Regeln von »Geschmacksintelligenz« sowie den Varianten ihres radikal-avantgardistischen Überschreitens. Gemessen noch am Luxus des Fin de Siècles des 19. Jahrhunderts muten die heutigen Level ästhetischer Selbstdarstellung äußerst hausbacken, eben professionell »gestrickt« und facettenlos an: Ist doch die wichtigste Kategorie des Jetztzeit-Luxus das »Toppen«. Fast »archaisch-stumpf« im Vergleich zu Rokoko, Klassizismus, Jugendstil und dem funktionalistischen Design der modernen Avantgarde, nimmt sich der Steigerungsparameter dieses »Toppens« in Sachen ästhetischer Verfeinerung aus – gerade so als gäbe es in der »ästhetischen Urteilskraft« ein schlagendes Kriterium von Quantifizierung, wie im Erfolgs- oder Untergangskapitalismus eben auch. Statt Dandy und Flaneur von einst wetteifern heute Poseure und Parvenüs um das Label »Individualismus« – im Kulturbetrieb genauso wie in den Eitelkeitsperformances in Politik und Management.
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Nach dem Erscheinen der »Chefetage«, welche der Autor im Auftrag der Büromöbelfirma »Bene« Anfang der 1980er Jahre verfasst hatte, konnte er 1998 die Gelegenheit wahrnehmen, mit dem Titel »Work & Culture – Büro. Inszenierung von Arbeit« eine Ausstellung im oberösterreichischen Landesmuseum auszurichten. Dabei konnte der Ansatz der »Chefetage« auf die Gesamtinszenierung des Büroalltags hin erweitert, respektive auch fokussiert werden – unter dem zentralen Gesichtspunkt eines, offensichtlich auch heute noch nicht verblassten Entwicklungsparadigmas »Patchwork/Patchlife«. Waren doch die 1980er Jahre tendenziell immer noch an Berufsrollen und den Konzepten »monosequenzieller Lebenskarrieren« (Schule, Studium, Beruf, Karriere, Ruhestand) orientiert, begannen sich diese strukturellen Zukunftsentwürfe zur ausgehenden Jahrhundertwende hin aufzulösen. Es war schon die Zeit, in der Richard Sennetts Thesen von der Korrosion der Berufsrollen in der Arbeitswelt (Job versus Beruf) herauskamen1 – am Organisations- und Erscheinungsbild bereits deutlich sichtbar und ablesbar – und die Verfransung von »Privatem« mit dem »Arbeitsleben« Realität wurde. Seit der New Economy von Reagan und Thatcher wurde ein »Effizienzfieber«2 geradezu zum Gegenstand der Ästhetisierung, um dem »unsichtbaren Anteil« des Siegeszugs der neuen Technologien ein »interaktiv-praktikables Erscheinungsbild« zu verleihen: Als »ästhetische Umgebung« neuer Büroformen und als »sensualistisch-gestische Performance« der arbeitenden Akteure, vom freien Mitarbeiter bis zur Chefität mit »Leadership-Qualitäten«. Damit trat der Individualismus-Anspruch in der Arbeitswelt signifikanter hervor als früher – mussten doch mit den neuen, sich erst formierenden Arbeitsformaten in den Management-Berufen die noch fehlenden Identitätshülsen durch verstärkte Forderung nach Individualismus kompensiert werden. Persönlich geprägte Figuren als Träger des Engagements, des selbstverantwortlichen Handelns, vorbildlicher Entscheidungskraft et cetera standen plötzlich hoch im Kurs. Die verbindlichen Designeroutfits schufen im Bewusstsein der Akteure die »Bühne« gleichsam um sie herum – und damit entwickelte sich auch ein »Büro-Stehgreif-Libretto«, bestehend aus Small Talk, Management-Sprech, Chat-Routine, SMS-Kürzel und Kultwörtern (beispielsweise: »unaufgeregt«) und anderem mehr. Mit diesem Reprint der »Chefetage« reicht ein Themenbogen über das numerische Datum 1.1.2000 bis ins beginnende 21. Jahrhundert hinein, welches nunmehr Gestalt annimmt, wird die sozial-psychologische Deutungsmacht durch neue Formate des Arbeitens langsam anschaulich – obgleich diese Veränderungen in den 1980er Jahren ansatzweise, punktuell-marginal, sich schon abzuzeichnen begannen. Zum oft beschworenen Thema der »Kreativität« der Arbeitswelt darf man heute mehr denn je den Begriff ingenuity richtungsweisend hervorheben – war doch mit ingenium bereits im 16. und 17. Jahrhundert eine kontextualisierende Fähigkeit ge1 | Richard Sennett: Der flexible Mensch, Berlin 1998 (orig.: The Corrosion of Character, New York 1998). 2 | Ramon Reichert: Effizienzfieber. Zur Rationalisierung der Alltagskultur, Wien 1998.
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meint, welche im gleichzeitigen Verbindungsvermögen (heute »Vernetzung«) von Rhetorik, Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Diplomatie, Militärlogistik bestand. Der kreative Quell von Kunst und die Innovationskraft rationalitätsgeleiteter Wissenschaft war eben ingenium – lange vor der Spezialisierung von Geistes- und Naturwissenschaften, von Rationalität und Irrationalität im 19. Jahrhundert. Erst in diesem gelang es der bürgerlichen Gesellschaft, mit dem Kapitalismus auch die Industrialisierung als realgeschichtliches Fortschritts- und damit Realitätsprinzip zu etablieren; die Trennung von »privat« und »öffentlich« wurde sozialgeschichtlich wirklich, das Identitätsformat einer »Über-Ich«- und »Schuld-Gesellschaft« hat sich bis zur Notwendigkeit der Erkenntnisse Sigmund Freuds durchgesetzt. Das 18. Jahrhundert hingegen stand als ständische Adelsgesellschaft des aufgeklärten Absolutismus noch im Zeichen einer Psyche, welche fähig war, in unterschiedlichsten »Parallel-Welten« gleichzeitig zu existieren: Auch ein Hofkünstler wäre, mit dem Verweis auf die charakterliche Qualität einer durchgängigen Identitätsbildung, in den aristokratischen Salons als höchst langweilig empfunden worden – man hätte ihn sofort »entsorgt«. Die Aktualität dieses ausgehenden 18. Jahrhunderts für uns heute im beginnenden 21. Jahrhundert besteht nun im Neu-Entdecken eines Individualismus zeitgemäßer Prägung – experimentell allemal – wie er auch zum Ende des 18. Jahrhunderts neugierig und innovationsfrisch als Persönlichkeitskonzept der beginnenden Moderne (etwa in der Mozartzeit, in den Jahrzehnten vor und kurz nach 1889 in ganz Europa) entwickelt und praktiziert wurde. Mit diesem Aspekt einer »aktiven Dekadenz« jener Zeit muss man heute wieder »in der Gegenwart ankommen« können – im Heute bloß aufzuwachen ist zu wenig. Dekadenz wird im globalisierten Kleinbürgertum des heutigen »Management-Absolutismus«, der allerdings kein »aufgeklärter« ist, durchaus darwinistisch als Schwäche, als asozial und generell als Defizit interpretiert: Dabei wird völlig übersehen, dass die künstlerisch, wissenschaftlich, philosophisch und technisch so produktiven Jahrhundertwenden »Fin de Siècle« um 1900 und »Début de Siècle« um 1800 höchst »aktiv dekadent« waren. Die Kreativität im Arbeitsleben von heute wird durch die Wahrnehmung des »Operncharakters« unserer meist nur medial inszenierten Welt besser entwickelbar, wenn man die Akteure dieser Zwangsmaschinerie zumindest mit der Illusion von Freiheit belohnt, um ihren sozial notwendigen Narzissmus in der Deutungsvielfalt der jeweiligen Arbeitsrollen auch ausleben zu dürfen. Geht es doch auch in der sozialen Phantasie heute mehr denn je darum, die real virtuality unserer Einbildungskraft zu entwickeln – von der virtual reality der Technologie gibt es ohnehin genug.
D AS C HEF ZIMMER Der ästhetischen Gestalt der Arbeitswelt von Büros, ihrem Ambiente, ihren Gesten und Formen der Bekleidung stehen die Betroffenen oft mit Desinteresse, Unsicherheit, ja Hilflosigkeit gegenüber. Am ehesten im gezeich-
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neten Bürowitz findet die lebenslängliche Umgebung der Angestellten bisweilen zur Reflexion, meist aber zum wenig befreienden Lachen darüber (Abb. 1). Sogenannte »Humanisierung« der Arbeitswelt, Psychodesign abgemilderter Entfremdung führten uns die Bürogestaltung – von der Werbung bis zur psychosomatischen Erkrankung mitunter sogar als die exemplarische Alltagsproblematik – vor Augen: Szenarium verarmter Kommunikation, ent- Abbildung 1: Jack Ziegler: Karikatur für den New Yorker, 2009 falteter Hierarchien wie inszeniertem Stress. Dabei vergisst man jedoch – im Skandalisieren von Arbeitskobeln, Spannteppichtristess und Großraumbüroquälung fixiert (Abb. 2 und 3) – die signifikante Ästhetik jener Bürobereiche, die dem Chef vorbehalten sind. Auch in ihnen verrät sich das System. So mag es interessant erscheinen, dem Manager dorthin zu folgen, wo er als Führungsposition in Stellung geht, wo er institutionell ästhetische Gestalt annimmt, nämlich ins Chefbüro.
Abbildung 2: Playtime (Frankreich, Italien 1967, R: Jacques Tati)
Abbildung 3: Amerikanisches Schreibbüro. Fotografie, um 1900
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Der folgende Beitrag verweist darauf, in welch beredter Weise die räumliche Darstellung des Chefs in seinem Büro ihn und seine sozialpsychologische Funktion reflektieren lässt (Abb. 4 und 5).
Abbildung 4: Das Büro Benito Mussolinis im Palazzo Venezia in Rom. Fotografie, 1930er Jahre
Abbildung 5: Der Chef im Chefzimmer. Fotografie, 1980er Jahre
»Sein Privatbüro war in allem so, wie ein Privatbüro zu sein hat. Es war langgestreckt und dämmrig und still und vollklimatisiert, und die Fenster waren geschlossen und die grauen Jalousien halb heruntergelassen, um die Juliglut fernzuhalten. Graue Vorhänge paßten genau zu den grauen Möbeln. In einer Ecke stand ein großer Safe in Schwarz und Silber mit einer genau dazu passenden falschen Reihe von Aktenständern. An der Wand hing die gewaltige, kolorierte Fotografie eines älteren Kompagnons mit hartem Schnabel, Backenbart und Stehkragen… Kingsley stolzierte munter hinter seinen Chefschreibtisch, der mit seinem Preis von achthundert Dollar ungeniert protzte, und pflanzte sich in einen hohen Ledersessel. Er fischte sich eine Panatela-Zigarre aus einem kupferbeschlagenen Mahagoni-Kästchen, spitzte sie an und setzte sie mit einem wuchtigen Tischfeuerzeug aus Kupfer in Brand. Er ließ sich Zeit dabei. Um meine Zeit schien er sich kaum Sorgen zu machen.« 3
Von diesem Chefzimmer aus nehmen die Verwicklungen im Roman »Die Tote im See« von Raymond Chandler ihren Lauf. Der erste Eindruck des Umraums einer Person vermittelt mehr, als diese möglicherweise gerade von sich zeigen will. Oft noch bevor man ins Gespräch gekommen ist, teilen sich Stil und Lebensart innerhalb von wenigen Augenblicken mit. Sachliche Distanz, die das Gegenüber in seine Schranken verweist, und einladende Nähe, die durch ihre Freundlichkeit den Widerpart aus der Re3 | Raymond Chandler: Die Tote im See, Zürich 1972.
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serve locken möchte, mag verbunden sein mit einem bis in die ästhetische Verarmung gehenden Sachbezug oder mit einem Hang zur ornamentalen Verspieltheit. Die Räume, in denen wir uns meistens aufhalten, sind wie ein Bild unserer Persönlichkeit. Es geht um das Ambiente, in dem man sich wohlfühlen soll, aber auch Konzentration finden und arbeiten kann. Die Fragen des Geschmacks werden dabei oft unterschätzt. Mit der unkritischen Übernahme eines modischen Trends ist noch kein eigener Geschmack bewiesen. Fehlt dieser, wird das Moderne immer nur eine gekünstelte Zutat bleiben. Die ästhetische Gestaltung unserer Lebenswelt fordert die eigene Phantasie heraus. Guter Geschmack ist nicht bloß irrational und zufällig, sondern beredter und sichtbarer Ausdruck des Zeitgeistes. Als im frühen 19. Jahrhundert der Fortschritt der Zivilisation unaufhaltsam zu werden begann, der Aufbruch ins Zeitalter der Industrie überall spürbar wurde, blieb in der Folgezeit der Geschmack des Bürgertums vielfach weit hinter der Progressivität seines modernen Weltbildes zurück. Der Triumphzug der siegreichen Wissenschaft und Technik schritt oft einher im Mythologiekleid der Antike, in Gestalt gotischer Kathedralen, im Formkanon der Renaissance bis hin zur Kulisse romantischer Ritterburgen. Dieser erste Triumph moderner Rationalität drapierte sich mit unterschiedlichsten Versatzstücken vergangener Kulturepochen quer durch die Geschichte, in bunter Vielfalt nebeneinandergestellt. Die eklektizistische Stilfülle des Historismus wirkte darin bisweilen mehr exotisch, als dass es gelang, mit diesen Zitaten die gemeinten Traditionen zu mobilisieren: »Aus der unerschöpflichen Quelle des schlechten Geschmacks, Birmingham und Sheffield (Eisengüsse, Industrie), gehen Greuel von Haushaltsgegenständen hervor: Stufentürmchen als Tintenfässer, riesige Kreuze als Lampenschirme, an eine Türklinke gehängte Kreuzblumen, vier Portale und ein Säulenbündel zur Stütze einer französischen Lampe, während ein Paar von einem Bogen gekrönte Zinnen sich ›Kratzeisen nach gotischem Vorbild‹ nennt, und ein Schnörkelwerk aus Vierpaß und Fächer ›Gartenbank aus einer Abtei‹. Wer diese Greuel entwirft, hat kein Gefühl für Proportionen und Form, für Zweckmäßigkeit und Einheit des Stils.« 4
Die Legitimation des erfolgreichen Fortschritts verlangte jedoch einen eigenständigen Ausdruck, die Begeisterung am Neuen forderte einen »neuen Stil«, der diesem modernen Leben auch angemessen sein sollte. Technik und Mechanisierung hielten auch im urbanen Alltag ihren Einzug, und mit ihnen eine unkünstlerische Ästhetik. War die Arbeitswelt der Fabrik ohnehin weitgehend von der Ästhetik der Maschinen bestimmt, so konnte sich die technische Zweckhaftigkeit nicht selbstverständlich gegen den kulturellen Anspruch von künstlerischer Gestaltung im 19. Jahrhundert durchsetzen. Dennoch begann die Idee eines »neuen Stils«, der auf 4 | Augustus Welby Morthmore Pugin: »The True Principles of Christian Architecture« (1841), in: Ausst.-Kat. Die verborgene Vernunft. Funktionale Gestaltung im 19. Jahrhundert, Neue Sammlung: Staatliches Museum für angewandte Kunst, München 1971.
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das Sichtbarmachen von Funktionen aus war, an Bedeutung zu gewinnen. Vorerst aber gingen die technischen Neuerungen noch mit der herkömmlichen Anwendung von Stilen als Dekoration einher. So kam es, noch vor der Schwelle zum 20. Jahrhundert, zu einem Widerspruch einer Kunstästhetik von Stil – die als kulturell repräsentativ empfunden wurde und geschmacksbestimmend war – und der eigenständigen Qualität einer technischen Ästhetik. Kunstschönheit und technische Zweckorientierung stehen als zunächst unauflösbare Gegensätze bereits am Anfang der Entwicklung zu einer modernen Formgebung.
Abbildung 6: Johann Stephan Decker: Arbeitszimmer Kaiser Franz I., 1826. Ölgemälde. Österreichische Galerie im Belvedere, Wien
Der bürgerliche Unternehmer des späteren 19. Jahrhunderts war bei der Suche nach kultureller Identität auf feudale Vorbilder angewiesen (Abb. 6) und konnte nur in beschränktem Maße auf bürgerliche Traditionen – zum Beispiel holländisches Patriziertum, Biedermeier und andere mehr – zurückgreifen. Umso bedeutsamer und für das Selbstverständnis des Bürgers aufschlussreicher sind die Arbeitsräume des Fabrikanten, wo die Realität seines gesellschaftlichen Handelns mehr zum Tragen kam als im Privatbereich seines repräsentativen Wohnens. Der großbürgerliche Industrielle, Bankier und Reeder des 19. Jahrhunderts war in fast allen seinen Tätigkeiten vom ökonomischen Erfolg bestimmt, entgegen der feudalen Herrschaftsausübung des privilegierten Erbadels. Ökonomischer Erfolg war auch der Garant für die Freiheit bürgerlicher Individualität und die Entfaltung des zivilisatorischen Fortschritts. In seinem Arbeitsbereich musste der Fabrikant vor allem zwei Dinge verbinden: die Organisation seines Betriebes und Geschäftes voranzutreiben und sich als mächtig darzustellen. Nicht die Wappen adeliger Abstammung garantierten seine Existenzberechtigung, sondern die Embleme erfolgreicher Geschäfte.
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In seinem »Passagen-Werk« schreibt Walter Benjamin über das Interieur des bürgerlichen Geschäfts- und Privatmanns: »Unter Louis-Philippe [1830-1848] betritt der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz […]. Für den Privatmann tritt erstmals der Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte. Der erste konstituiert sich im Interieur. Das Kontor ist sein Komplement. Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden […]. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine Loge im Welttheater […]. Das Interieur ist nicht nur das Universum sondern auch das Etui des Privatmannes. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie betont. Man ersinnt Überzüge und Schoner, Futterals und Etuis in Fülle, in denen die Spuren der alltäglichsten Gebrauchsgegenstände sich abdrücken. Auch die Spuren des Wohnenden drücken sich im Interieur ab. Es entsteht die Detektivgeschichte, die diesen Spuren nachgeht. Die ›Philosophie des Mobiliars‹ sowie seine Detektivnovellen erweisen Poe als den ersten Physiognomen des Interieurs. Die Verbrecher der ersten Detektivromane sind weder Gentlemen noch Apachen sondern bürgerliche Privatleute.« 5
Die Darstellung des Erfolges, die zur Schau gestellte Seriosität des Geschäftes wie das Imponiergehabe der Macht, über die Wechselfälle der Zukunft potenziell verfügen zu können, waren als Kriterien der Raumgestaltung für das Chefzimmer von einst zugleich Dimensionen der Selbstinterpretation des Unternehmers. Nicht selten war der protzig aufs Revers geheftete Erfolg der einzige Ausdruck des Geschmacks oder was der Unternehmer dafür hielt. Von angemessener Repräsentation, die in den jeweiligen Epochen unumgänglich war – und ist, bis zur offensichtlichen Protzerei ist es oft nur ein kleiner Schritt. Die Figur des Fabriksherren im vorigen Jahrhundert ließ noch keine Trennung zwischen der funktional notwendigen Betriebsführung und der Gewichtigkeit des erforderlichen Selbstbewusstseins erkennen. Die objektive Rationalität in der Entscheidungsfähigkeit war eingebunden in die Einmaligkeit einer Führungspersönlichkeit, die sich und ihr Werk gegen die oft auch katastrophale Zufälligkeit des freien Kapitalismus behaupten konnte. Geschäftlicher Weitblick, organisatorische Klugheit, autoritäres Durchsetzungsvermögen und der Gestus sozialer Verantwortung verschmolzen in der Cheffigur der »guten alten Zeit« zu einem Monument eines schicksalserprobten Charakters. Vor allem ging es darum, die Repräsentation nach außen mit einem Szenarium der Einschüchterung Geschäftspartnern und Abhängigen gegenüber wirkungsvoll zu verbinden. Damit kam auch die unerbittliche Gesetzmäßigkeit einer Zeit zum Ausdruck, in der die Dauerhaftigkeit von Erfolg schon suggeriert werden musste, obwohl kaum mehr ein Wert – wie unter Adel 5 | Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk (1927-1940), in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt a.M. 1991, 2 Teilbde., Bd. V/1, S. 52f.
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und Kirche – sich durch die Illusion von Ewigkeit sichern ließ. Die Selbstdarstellung der Autonomie des erfolgreichen Kapitalisten brachte in die Ästhetik des Chefzimmers ein kultisches Moment der Machtbeschwörung. Es galt, die Einfluss- und Entscheidungsfülle an Symbolen festzumachen. Ein überdimensionaler Schreibtisch und der thronähnliche Stuhl dahinter, der in Ölgemälde erstarrte Blick des Firmengründers – ein Blick, in dem auch die künftige Prosperität des Unternehmens fixiert zu sein scheint –, die Staffage einer Bibliothek als Verweis auf Bildung, das modische Kunstwerk als Requisit von Mäzenatentum, all das sind quasi magische Versatzstücke der Demonstration von Mächtigkeit. In der doch fast alles beherrschenden Rationalität des Geschäftslebens bleibt ein mythologischer Rest nicht nur erhalten, sondern gewinnt geradezu die Bedeutung einer psychologischen Präformierung. Auch eine bloß dekorative Äußerlichkeit dringt in das Unbewusste ein und wirkt gleichsam hinter dem Rücken des Bewusstseins.
Abbildung 7: Metropolis (Deutschland 1927, R: Fritz Lang)
Entgegen einer im Grunde rational überblickbaren Berufsrealität und Geschäftsgebarung kommt damit ein irrationaler Aspekt ins Spiel. In der Ausstaffierung des Schreibtisches zu einem wahren Schlachtschiff symbolischer Machtdemonstration (Abb. 7), der prunkvollen Überfrachtung einer Vitrine zum Seitenaltar der Huldigung eigenen Erfolgs bis zur eindrucksvollen Wegstrecke, die der Eintretende zurücklegen muss, um dem Industriemagnaten nah zu sein, kommt ein magisches Motiv zur Geltung. Der Chef von damals wurde dadurch selbst auch auf Rituale festgelegt – jenseits der Pragmatik zweckrationalen Handelns. Als Herr über einen Industriebetrieb verlangt die Fülle seiner Macht eine ebenbürtige architektonische Umsetzung (Abb. 8). Darin dem feudalen Audienzsaal mehr verwandt als dem vergleichsweise bescheidenen Geschäftsraum eines Flo-
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rentiner Bankiers des frühen 15. Jahrhunderts, hat sich bei manchen Industriebossen der Gründerzeit die eigene Repräsentation bis ins Gebaren üppiger Selbstherrlichkeit gesteigert. In einem Exkurs über den Jugendstil notiert Walter Benjamin im »Passagen-Werk«: »Die Erschütterung des Interieurs vollzieht sich um die Jahrhundertwende im Jugendstil […]. Er stellt den letzten Ausfallsversuch der in ihrem elfenbeinernen Turm von der Technik belagerten Kunst dar. Er mobilisiert alle Reserven der Innerlichkeit. Sie finden ihren Ausdruck in der mediumistischen Liniensprache, in den Blumen als dem Sinnbild der nackten, vegetativen Natur, die der technisch armierten Umwelt entgegentritt. Die neuen Elemente des Eisenbaus, Trägerformen, beschäftigen den Jugendstil. Im Ornament bemüht er sich, diese Formen der Kunst zurückzugewinnen […]. Um diese Zeit verlagert der wirkliche Schwerpunkt des Lebensraums sich ins Büro.« 6
Abbildung 8: Frank Lloyd Wright: Große Arbeitshalle, 1936-1939. Verwaltungsgebäude der S.C. Johnson & Son Company, Racine/ Wisconsin 6 | Ebd.
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Die Realität der Arbeitswelt im Büro, gegen die illusionierte Pracht der bürgerlichen Wohnung dieser Zeit ausgespielt, entspricht diesem konkurrierenden Verhältnis von Technik gegen Kunst. Für Chefs von heute steht meist nicht mehr eine ganze Etage bereit. Optimale Organisation im Betrieb bestimmt das moderne Management nicht zuletzt am Ort des Geschehens. Den funktionalen Anforderungen entsprechend wird der räumliche Arbeitsplatz auch von Führungskräften dem Flächennutzungsplan von Büro und Betrieb untergeordnet. Die Sonderstellung des Chefzimmers flächenmäßig herauszukehren, scheint als Anspruch überholt. Funktionsgerechtheit und kommunikative Aufgeschlossenheit haben die Chefs aus der Isolation eines bloß repräsentationsfixierten und autoritären Führungsstils von einst herausgeholt. Der Chef als Monument, dem sein Büro als Sockel dient, überzeugt nicht mehr. Der unantastbare Boss hat als Cheffigur abgedankt. Gefragt ist vielmehr ein Chef als Mensch wie du und ich. Sich in Mächtigkeit zu isolieren verstünde man heute als Selbstbeschränkung, das heißt auch ein Verstecken hinter einem selbstherrlichen Führungsstil. Der große Einsame von gestern, der alle Fäden in den Händen hält, wirkt nicht mehr glaubwürdig. Der führende Manager von heute will für seine Mitarbeiter erreichbar sein.
Abbildung 9: Nicht hierarchischer Arbeitsplatz, um 1977. Werbeaufnahme der Firma R. Svoboda & Co. (Wien) für die »Initiative So. Arbeitsplatz 11« von Robert Maria Stieg, 1973-77
Rationalisierung und Humanisierung der Arbeitswelt finden auch dort zusammen, wo eine Schlüsselposition in der Entscheidungsstruktur eines Betriebes einerseits organisatorisch ein Zentrum bildet und andererseits allen Mitarbeitern als eine kollegiale Verantwortungsinstanz gegenwärtig ist. Bei aller Wahrung der repräsentativen Distanz scheint die Entwicklung dahin zu gehen, dass der Chef in eine persönliche Nähe zu den Angestellten rückt, nicht zuletzt, um diesen einen gewissen Einblick in seinen Arbeitsbereich von Planung, Risiko und Leistung zu gewähren (Abb. 9). Der Transparenz der Tätigkeit des Chefs für seine Mitarbeiter verdankt sich ein gutes Betriebsklima. Die Identifikation der Angestellten mit dem
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Sinn und letztlich dem Erfolg ihrer Arbeit für den Betrieb setzt ein positives Verhältnis zum Chef und die Anerkennung seiner Aufgabe voraus. Gerade die zunehmende Automatisierung, die als Grenzwert der Rationalisierung mitunter ein Schreckgespenst anonymer Perfektion geworden ist, verlangt als Gegengewicht, dass die oberste Entscheidungsposition verstehbar bleibt. Dies hat auch Konsequenzen für die räumliche Aufteilung und Gestaltung des Büros. Die besagte persönliche Nähe zum Chef ist auch eine räumliche im Sinne seiner potenziellen Erreichbarkeit, die zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Die Schwelle zu seinem Arbeitsraum soll nicht als hierarchische Stufe unüberwindlich erscheinen und den Angestellten den Zutritt zum Vorgesetzten bedrohlich machen. Auch präsentiert sich das Zimmer des modernen Chefs für den Gesprächspartner und den Besucher nicht mehr als Kabinett des Imponiergehabes und der Mächtigkeitsgesten.
Abbildung 10: Pierre Paulin: Arbeitszimmer für François Mitterand im Elysée Palast in Paris, 1988
Dass der Chef selbst nicht nur im Zugzwang eines übermächtigen Apparates und undurchschaubarer Notwendigkeiten erscheint, sondern als handelnder Unternehmer und umsichtiger Manager weithin in exemplarischer Selbständigkeit auftritt, verdankt sich auch der Gestaltung seines persönlichen Arbeitsplatzes. In der Verbindung von praktischer Sachlichkeit und der Aura seiner individuellen Note gelingt dem fortschrittlichen Manager von heute eine Atmosphäre des Vertrauens wie der Kompetenz. Seinen Aufgaben gewachsen zu sein, wird auch durch den Eindruck vermittelt, den sein Arbeitsplatz als Zentrum von Informationsfülle, Konzentrationsfähigkeit, Flexibilität und souveräner Entscheidung ausstrahlt (Abb. 10). Obgleich die Funktionalität bei der Raumgestaltung im Vordergrund stehen muss, sollte der Sinn für großzügige Behaglichkeit, die auch die Freude am Detail nicht verschmäht, mit eingebracht werden, um nicht dem Purismus einer strategischen Kommandozelle zu verfallen. Dominiert jedoch diese sogenannte per-
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sönliche Note das Chefzimmer völlig, wird Offenheit und Entgegenkommen anderen Personen gegenüber gewollt oder ungewollt infrage gestellt. Um Chef zu werden und einer zu bleiben, ist außer einer karrieristischen Dynamik ein Vermögen der Beharrung in dieser Rolle nötig; dazu schreibt Niklas Luhmann: »Es läßt sich ausmalen, daß die Festigung einer Einflußposition in zwei Richtungen unter diesen Bedingungen erhebliches Geschick, eine komplexe Moral und vor allem die Fähigkeit zu differenziertem, ja sogar widerspruchsvollen Verhalten erfordert. Dabei ist es eine Hauptschwierigkeit, das Anspruchsniveau der höheren Vorgesetzten und der Untergebenen konstant zu halten, mit anderen Worten: sie nicht zu verwöhnen.«7
Im Konfliktmanagement wird vom Chef Belastbarkeit verlangt, die von den anderen herangetragenen Widersprüche in sich völlig aufzunehmen und als seine individuelle Entscheidung zurückzugeben. Die Besprechung solch interner Konflikte wird er nicht vom Schreibtisch aus führen, sondern er wird zum klärenden Gespräch in der legeren Sitzecke einladen. Die Raumgestaltung sollte dem insofern entgegenkommen, als sie der Bewegung des Chefs vom Schreibtisch zur Sitzgruppe hin den Anschein des Herablassens nimmt: schließlich verlässt der Chef kein Podest, sondern seinen Arbeitstisch. Auch marginale Äußerungen des Chefs werden so in einem weiterreichenden Umfeld wirksam und fordern eine Deutungsbereitschaft seitens der Untergebenen geradezu heraus. »Dadurch erhalten alle Meinungsäußerungen des Vorgesetzten ein besonderes Gewicht als Indiz für eine etwaige Entscheidung, auch wenn informal und unverbindlich gehalten, ja selbst wenn sie überhaupt nicht so gemeint sind. Sein Gruß schon kann Ungewitter ankündigen, seine Fragen verraten lnteressensrichtungen und mögliche Probleme, auf die man sich lieber präpariert, um Überraschungen und üble Momente zu vermeiden. Man sucht gern und häufig persönlichen Kontakt zu seinem Chef, nicht nur um am Glanz seines hohen Status ein wenig teilzunehmen, sondern ganz nüchtern, um ihn auf Informationen und Stichworte für das eigene Meinungsbild abzutasten. Er ist immer interessant.« 8
Die Stilisierung der eignen Individualität zur persönlichen Note muss nicht unbedingt einen dekorativen Niederschlag finden. Vielmehr mag ein unprätentiös gestalteter Raum, der in diskreter Zurücknahme sich niemandem aufdrängt, ein Mehr an Verwendungsmöglichkeit und atmosphärischer Abwechslung zulassen. Diesen Trend scheint das moderne Management zu bevorzugen, etwa im Unterschied zu demjenigen, der durch Stilmöbel seinen Kunden ein zusätzliches Gefühl von Bonität und Gediegenheit nahebringen möchte. Im fließenden Übergang von sachlicher Entsprechung, praktischem Gebrauch, der Pointe im Detail, dem Auf7 | Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 213. 8 | Ebd., S. 215.
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blitzenlassen persönlichen Geschmacks variiert das Spektrum möglicher Akzentsetzung im Chefzimmer von heute. Das Direktionszimmer des Industriellen, wie es sich bis in die 1930er Jahre als ein Typus der individuellen Firmenrepräsentation aus dem 19. Jahrhundert erhalten hat (Abb. 11), zitiert damals gängige Formen konventioneller Innenraumgestaltung. War es einerseits das Herrenzimmer des englischen Hauses, das mit seiner diskreten Clubatmosphäre ansprechend wie einladend wirkte, so gibt es andererseits Analogien zum Rauchsalon und zur Bibliothek. Dabei wurde nicht immer auf die jeweilige Gesamtkonzeption zurückgegriffen, sondern vielmehr eine Kombination einzelner Elemente bevorzugt. Nicht umsonst verweist die Rede von »Industriekapitän« – als eine der Metaphern für den Chef von einst – auf das Schifffahrtswesen und damit auf die Einrichtung der Offiziersmesse an Bord. Das hindert nicht, den Innenraum einer Kapitänskajüte mit der Vitrine und dem Sekretär eines englischen drawing room auszustatten, bestückt mit Modellen aus der Firmenproduktion sowie stattlichen Ölgemälden der Industrieanlage oder des Firmengründers. Die Chefzimmer dieser Zeit waren in gewisser Weise ein Mikrokosmos, gleichsam das Herz des Betriebes. Darin fand die Allgegenwärtigkeit des Direktors als seine Kompetenz in allen Bereichen vielsagenden Ausdruck.
Abbildung 11: Jacques Emil Ruhlmann: Arbeitszimmer für Georges-Marie Haardt, den Generaldirektor der Firma Citroën in Paris, 1929
Der Chef von heute sieht sich einer Fülle von Klischees gegenüber, die sich in der Vergangenheit um seine Rolle gebildet und angesammelt haben. Um sie muss er wissen, mit ihnen muss er sich auseinandersetzen, wenn er seinem Anspruch, aufgeschlossen, modern und kritisch zu sein, gerecht werden will. Eingefahrene Verhaltensweisen und Reaktionsroutine gilt es zu durchbrechen, wenn man eine zeitgerechte Transparenz der Tä-
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tigkeit von Managern im Betrieb anstrebt: das heißt, sich in seinem persönlichen Arbeitsstil nicht von gängigen Klischees einschränken zu lassen. Die Pauschalvorstellungen von Chef und seinem Verhalten entstehen nicht zuletzt aus den Erwartungshaltungen der Angestellten und unmittelbaren Mitarbeitern. Eine Neubestimmung der Rolle des Chefs ist nicht nur für ihn die Frage der Selbstinterpretation in seiner Führungsrolle – im Zusammenhang mit seinen privaten Lebensvorstellungen –, sondern zugleich und vor allem der Versuch einer neuen Strukturierung von Betriebsklima und Arbeitssituation aller. Denn der Führungsstil des Chefs bestimmt mittelbar die Arbeitsatmosphäre des gesamten Betriebes mit. Da die zunehmende Betriebsrationalisierung in erster Linie organisationstechnische Faktoren berücksichtigt, ist es oft nicht einfach, dabei auch noch den Anspruch der Humanisierung der Arbeitswelt im Sinne einer bewussten Gestaltung des Betriebsklimas aufrechtzuerhalten. Im Primat von Sachzwängen stellt sich die Abhängigkeit von objektiven Gegebenheiten umso stärker auch als personelle Hierarchie dar. Die Verinnerlichung dieser hierarchischen Ordnung betrifft aber den Chef genauso wie seine Untergebenen. Deren Erwartungshaltungen – was denn ein Chef sei, was er zu tun habe – bestimmen seine Verhaltensmöglichkeiten mit und können ihn direkt auf gewisse Vorurteile und Klischees festlegen. Die Resistenz der Klischeevorstellungen darf nicht unterschätzt werden. Die Bereitschaft zu stereotypen Chefmustern stellt sich dem Bemühen einer individuellen Imagegestaltung oft entgegen. Die Identifikation des Chefs mit seinem Betrieb veranlasst ihn, diesen symbolisch in seinen Arbeitsraum mit hineinzunehmen. Attribute zur Warenproduktion, Modelle, Zertifikate für die Produkte finden an markanten Stellen ihren bedeutungsvollen Platz. Mitunter umgibt sie eine beinahe sakrale Aura. Solche Faszinationen des Chefs mögen ihm bisweilen den Schreibtisch zum Altar der Pflichterfüllung im Dienste der Produktion werden lassen. Manche Raumstrukturen legen in ihrer Architektonik solche Fetische aus sich heraus nahe. In der Zwischenkriegszeit noch war so ein Hang zu Symbolischem ziemlich verbreitet. Diese Vorstellung hat sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich gewandelt, als der funktionale Charakter der Tätigkeit des Chefs immer mehr herausgestellt wurde. Dies brachte eine entscheidende Änderung auch in der Gestaltung seines Arbeitsplatzes mit sich, die ihr Ideal in der entsprechenden Darstellung dieser Funktion fand. Zwar nahm diese Tendenz schon mit den ästhetischen Bemühungen des Werkbundes und später des Bauhauses sowie bei den Vertretern der Neuen Sachlichkeit zu Beginn des Jahrhunderts ihren Anfang, doch setzte sich erst in den letzten dreißig Jahren ein Wandel dieses führen funktionalen Designs zur Serienästhetik eines Massenstils durch. Doch die Absichten des Funktionalismus verhinderten in der Folgezeit nicht, dass die ursprünglich hohen ästhetischen Ansprüche der Gestaltung in einer nivellierenden Massenproduktion zunehmend untergingen, wobei man sich aber immer noch auf sie berief. Während für die Entwerfer der Neuen Sachlichkeit der Anspruch des ästhetischen Funktionalismus noch ein künstlerischer war, der in der Gesamtbewegung der klassischen Avantgarde sein Selbstverständnis hatte, verflüchtigte sich in der Folgezeit dieses
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künstlerische Moment weitgehend. Wohl geht es immer noch um Originalität, um Innovation, um den Einfall, der einen Trend setzt, doch wird der Anspruch einer allgemeingültigen und objektiven Lösung kaum noch gestellt. Damit ist man auch von all den ideologischen Manifesten und Beteuerungen abgerückt, die der Funktionalismus der Neuen Sachlichkeit für seine Lebensberechtigung noch aufbringen zu müssen glaubte. Der Funktionalismus als Dogma, als umstrittener und heftig diskutierter »Stein der Weisen« in der Formgebung, der um ein objektives menschliches Maßsystem rang, ist einer Pragmatik bequemer und praktischer Gestaltung gewichen. Dennoch darf man nicht vergessen, dass die Bemühungen am Beginn unseres Jahrhunderts, die historistische Stilfülle zu überwinden, sehr wohl auch dem Bedürfnis nach Repräsentation entsprochen haben. Denn im Understatement der Zurücknahme verbirgt sich eine Form der Selbstdarstellung, die mit der Wirkung der Distanziertheit rechnet. Die ästhetische Form eines zeitlosen Designs ist dennoch an Moden gebunden. Der Trend zum Einfachen, der Anspruch der schlichten Form führte nicht zu einer idealtypischen Formfindung, die über alle Neuerungen erhaben wäre. Auch die sogenannte Einfachheit unterliegt dem Wandel des Geschmacks. Keine letzte Reduktion kann dem extremen Anspruch eines absoluten Minimalismus genügen. Auch hinter einer ganz puristischen Ästhetik kann sich kein Chef in Unpersönlichkeit verstecken. Im persönlichen Fluidum seiner »Ausstrahlung« gehören Privatperson und seine berufliche Vorrangstellung zusammen. Das Flair des charmanten Chefs oder der coole Habitus andererseits schaffen sowohl Nähe als auch erwünschte Distanz zu seinen Mitarbeitern. Als seine sogenannte »rechte Hand«, gleichsam als integrierter Bestandteil seiner funktionalen Selbstdarstellung, fungiert die Chefsekretärin. Im Bereich des Vorzimmers tritt das Verhältnis von Chef und Sekretärin für viele doch einsehbar zutage und vermittelt exemplarisch Grundhaltungen seiner beruflichen Persönlichkeit. Im Oszillieren von Privatheit, Jovialität, sachbezogener Zurücknahme, souveräner Führungseigenschaft, dem Moment einer nicht-schlüpfrigen Intimität gewinnt die personality des Chefs den Charakter von Überzeugungskraft und psychologischer Effektivität. Chef und Sekretärin sind beliebter Gemeinplatz schablonenhafter Denkmuster und bieten oft Anlass zum Abreagieren subalterner Frustration in Witz und Karikatur. Zweifellos repräsentieren Chef und Sekretärin einen gängigen Typ von Geschlechtsverhältnis, auch dann, wenn etwa der Chef eine Frau ist und einen jungen Sekretär im Vorzimmer sitzen lässt. Jedenfalls darf das Vorzimmer der Chefsekretärin keine falsche Bescheidenheit ausdrücken, die spätestens beim Betreten des Chefzimmers Lügen gestraft wird. Solches Understatement verkehrt sich ins Gegenteil seiner Absicht und lässt den Chef als selbstherrlichen Boss erscheinen, der er gerade vielleicht nicht sein will. Homogenität in der ästhetischen Konzeption muss alle Bereiche des Chefbüros durchgängig bestimmen, das Vorzimmer genauso wie die Sitzecke für kleine Besprechungen im Chefzimmer selbst, als auch den Konferenzraum nebenan miteinbeziehen. Der Konferenzraum ist die Versammlungsstätte, die die Führungsöffentlichkeit eines Betriebes repräsentiert. Während im Chefzimmer noch
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der Gestus der persönlichen Note dominieren mag, soll der Konferenzraum in seiner Unaufdringlichkeit – ohne deshalb unpersönlich zu wirken – den Teilnehmern von Arbeitssitzungen Raum geben (Abb. 12). Versammlungsstätten, wo wesentliche Entscheidungen getroffen wurden, hatten seit jeher Symbolwert, der sich auch in der Geometrie der Sitzordnungen ausdrückte. Die gleichsam magische Symmetrie in Hinordnung auf den Thronsessel des Herrschers ist etwa bei Bruderschaften durch eine Rundanordnung ersetzt, wo der Vorsitzende als primus inter pares lediglich durch einen auffälligeren Stuhl erkennbar war. Heute mag die Arbeitssituation auch Ausdruck finden in einer zwanglosen Sitzordnung, in der zugunsten des Sacharguments hierarchische Momente in den Hintergrund treten. Damit unterstützt schon das Interieur eine freie und offene Meinungsäußerung und garantiert dadurch auch die erwünschte Meinungsvielfalt. Weder soll der Konferenzraum eine bloße Expansion des Chefzimmers darstellen, noch der Anonymität einer Bahnhofshalle anheimfallen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gestaltung des Chefbereichs für den führenden Manager von heute zum Prüfstein werden kann: sei es, dass sich dadurch Persönlichkeit und Effektivität oder Pseudopersönlichkeit und Scheineffektivität herausstellen. Die Gestaltung des Chefzimmers und seines Umfeldes ist eine Herausforderung an kreative Selbstinterpretation einerseits, die sich nicht zuletzt in der Verbindlichkeit und dem Grad der Erreichung des gemeinsamen Ordnungszieles niederschlägt. Ob der zeitgemäße Chef sich als beziehungslos zu seinem Arbeitsraum – die ausschließliche Priorität seiner Arbeitsfunktionen demonstrierend – präsentiert oder in der Gestaltung desselben einen Anspruch sieht, seinem Engagement für die Sache eine emotionale Sichtbarkeit zu verleihen, ist keineswegs bloß Stilfrage. Passt das verpasste Design auch noch so gut zum Outfit der sozialen Rolle, garantiert dies allein noch nicht den Anschein von Individualität und Persönlichkeit (Abb. 13). Überspannte Erwartungen in das Design können in Designgläubigkeit ausarten. Dann wird der Chef zur Marionette seines Interieurs,
Abbildung 12: Peter Behrens: Sitzungssaal, 1911/1920. Verwaltungsgebäude der Continental-Caoutchouc- und Gutta-Percha Compagnie, Hannover
Abbildung 13: Chefzimmer, um 1990. Werbeaufnahme der Firma Airborne (Mérignac) für den Schreibtisch »Kvadrat« von Jean Louis Berthet und Gérard Sammut, 1988
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die angenommene Souveränität der Bewegungsfreiheit erstarrt zur zwanghaften Grimasse des Leger-sein-Müssens. Die Diskrepanz von sophisticated design und einer eher biederen Chefpersönlichkeit führt unweigerlich zur sozusagen ästhetischen Eskamotierung dieses Chefs; keine Form ironischen Überspielens kann dann über den Zynismus dieser Tatsache hinwegtäuschen. Ähnliches gilt auch für den Irrtum, der gleichsam von der Zauberkraft des Designs eine ästhetische Lösung realer innerbetrieblicher Organisations- wie Kommunikationsprobleme erhofft. Diese Attitüde des Ästhetisierens, assistiert von der Gestik des coolen und smarten Machers, lässt die willkürliche wie unwillkürliche Verdrängung deutlich werden. Die Vorliebe fürs glatte Design – an dem niemand anecken soll – entspricht nicht immer dem Wunsch, eine gesteuerte Vereinnahmung aller Betroffenen zu vermeiden, sondern dokumentiert oft die gezielte Absicht, Unverbindlichkeit, Beliebigkeit sowie Beziehungslosigkeit wirkungsvoll herzustellen oder zumindest ästhetisch zu suggerieren. Dahinter verbirgt sich Macht, die in ihrer Anonymität keiner persönlichen Attribute mehr bedarf. Mag sich der Manager von morgen auch als Opfer des ästhetischen und sozialen Designs fühlen, so darf er sich dennoch nicht als solches zu erkennen geben: So ein Selbstzeugnis würde als Schwäche empfunden werden, die im krassen Widerspruch zur sozialen Rollenerwartung stünde. Bei aller gestylten Zurücknahme sind die Chefs von heute immerhin ihrem generellen Selbstverständnis nach »Macher«. Dies darf man auch dann nicht aus dem Auge verlieren, wenn die szenischen und persönlichen Darstellungsweisen einem hierarchisch entschärften, kollegial verbindlichen sowie sachkompetenten »Führungsstil« verpflichtet sind. Die Kompetenz in der Sache wie im Umgang mit den Untergebenen verbindet sich heute oft zu einer neuen Art von Selbstverständlichkeit zum Führungsanspruch. Mit diesem Image tritt der Manager, selbst ein Opfer des Organisationsmaschinchens, ganz leger und locker auf, zwanglos im Umgang, aber hart in der Sache sozusagen. Solchen »Funktionalismus« zu legitimieren bedarf nicht zuletzt einer Ästhetik von Unpersönlichkeit, um eben »Persönlichkeit« wieder stark zur Geltung bringen zu lassen. Individualismus und die Atmosphäre von personality dürfen als ästhetischer Schmelz den Menschen und den Umständen ihrer arbeitsweltlichen Begegnung offenbar nie verloren gehen, auch wenn System und Organisation der objektiven Verhältnisse das Persönliche am Individuum meist nur noch als »subjektiven Faktor« vorkommen lassen.
Dieser Text basiert auf der von der Büromöbelfirma Bene finanzierten Studie Chefetage. Selbstdarstellung als Funktion (= Schriftenreihe Arbeitsplätze im Büro, Bd. 2), Waidhofen/Ybbs 1983 sowie dem Beitrag »Le Bureau du Chef« zum Ausst.-Kat. L’Empire de Bureau, Musee de l’Art Decorative Moderne, Paris 1984, S. 58-65; als »Das Chefzimmer« wurde er zuerst veröffentlicht in: Hubert Christian Ehalt u.a. (Hg.): Wiener Beiträge zu Kulturwissenschaft und Kulturpolitik. Ästhetik und Geschmack (= Kulturjahrbuch Nr. 3), Wien 1984, S. 59-76. Für diesen Band wurde der Text nochmals um eine ausführliche Vorbemerkung aktualisiert.
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Wie Frauen Zimmer wurden Zur Wohnkultur im 18. und 19. Jahrhundert Anne-Katrin Rossberg
»Jetzt wohnt Katja eine halbe Verst von mir entfernt. Sie hat sich eine Fünfzimmerwohnung gemietet und sie recht komfortabel und mit dem ihr eigenen Geschmack eingerichtet. Wenn es jemand unternähme, ihre Einrichtung zu schildern, so wäre die Grundstimmung die Trägheit. Für den trägen Körper – weiche Ruhebetten und weiche Hocker, für die trägen Füße – Teppiche, für das träge Auge – leicht verbleichende, trübe oder matte Farben, für die träge Seele – an der Wänden sehr viele billige Fächer und kleine Bilder, bei denen die Originalität der Ausführung über dem Inhalt steht; eine Unmenge von Tischchen und kleinen Regalen, die mit ganz unnötigen und wertlosen Sachen vollgestellt sind, statt der Vorhänge formlose Fetzen … All das, zusammen mit der Furcht vor grellen Farben, Symmetrie und Genauigkeit, zeugt außer von seelischer Trägheit auch noch von einer Entartung des natürlichen Geschmacks. Ganze Tage liegt Katja auf dem Ruhebett und liest Bücher, vorwiegend Romane und Novellen. Nur einmal am Tag, nachmittags, verlässt sie das Haus, um mich zu besuchen.« 1
Katjas »eigener Geschmack«, den ihr der Erzähler in Anton Tschechows »Eine langweilige Geschichte – Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes« attestiert, ist durchaus nicht ihr eigener. Er folgt gänzlich den Vorstellungen von einer adäquaten Einrichtung weiblich definierter Räume im späten 19. Jahrhundert: klein, weich, seicht und reichlich. Die Frau wird im Interieur von dem umgeben, was sie selbst repräsentieren soll – hinsichtlich ihrer Rolle, ihres so genannten Geschlechtscharakters und ihres Körpers. Die Rolle der großbürgerlichen Frau schreibt vor: demonstrativen Müßiggang pflegen, weil der Ehemann es sich leisten kann. Mit Boudoir und Damenzimmer (Abb. 1) werden ihr hierfür eigene Räume bereitgestellt, deren Ausstattung jenen Einrichtungsratgebern folgt, die ab den 1870er Jahren zahlreich erscheinen, sei es als aufwändig gestaltete Druckwerke oder in Form von Zeitschriften, etwa der »Innendekoration«. 1 | Anton Č echov: »Eine langweilige Geschichte« (1889), in: Peter Urban (Hg.): Das Čechov Lesebuch, Zürich 1985, S. 97-165, hier S. 122.
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Abbildung 1: Damenzimmer. Aus: Jakob von Falke: Die Kunst im Hause. Geschichtliche und kritischästhetische Studien über die Decoration und Ausstattung der Wohnung, Wien 1871
Die Funktion der Räume wird außerdem mit der Befriedigung genuin weiblicher Ansprüche erklärt: Das Boudoir etwa sei aus dem »in der Frauennatur tief begründeten Bedürfnis« entstanden, »sich in die Enge zurückzuziehen, um das durch aufregende Berührung mit der Außenwelt gestörte seelische Gleichgewicht wieder zu gewinnen«, so der Architekt Oscar Mothes in seiner Abhandlung über »Unser Heim im Schmuck der Kunst« 1879. Dazu bedarf es diverser Sitz- und Liegemöbel, die nicht nur Rollen- und Geschlechterbilder transportieren, sondern in Linienführung, Polsterung und Tapezierung auch das Ideal vom weiblichen Körper sichtbar machen: weich und warm und rund. Für den Mann und sein Zimmer gilt dasselbe Schema: Er ist durch Arbeit definiert, also bekommt er einen großen Schreibtisch (»auch wenn die paar Briefe im Zimmer der Frau am Damenschreibtisch geschrieben werden könnten«2), Autorität und Körperkraft spiegeln sich in einem eher dunklen, monumentalen Ambiente (Abb. 2). Der Unterschied besteht darin, dass die Frau in einer Weise mit dem Innenraum verschränkt ist, die ihr keine Wahl lässt. Mit der Einteilung des Lebens in eine Berufs- und eine Privatsphäre, in ein Öffentlich- und Familiär-Sein, in ein Draußen- und Drinnen-Sein seit dem späten 18. Jahrhundert wird die Frau definitiv für das Haus zuständig, und es wird alles unternommen, diese Zuständigkeit als natürlich, als wesensmäßig zu begründen. Das heißt, sie ist das Haus, ist der Innenraum, ist das Innere. Das zeigt sich bereits in der Entwicklung des Begriffs »Frauenzimmer«, der im Mittelalter die Gemächer bezeichnete, in denen sich die Frauen aufhielten, und dann sukzessive auf die Frauen selbst überging. Die Interieurs 2 | Paul Klopfer: Die deutsche Bürgerwohnung, Freiburg i.Br., Leipzig 1905, S. 97.
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des 19. Jahrhunderts wiederum verwandeln Frauen in Zimmer und umgekehrt, was am Ende die Deutung Sigmund Freuds zur Folge hat: Der Traum von einem Zimmer sei der von einer Frau. Abbildung 2: Herrenzimmer. Aus: Friedrich Schwenke: Ausgeführte Möbel und Zimmer-Einrichtungen der Gegenwart, 2 Bde., Berlin 1881
I. V ENUS UND M ARS Neun Jahre nach ihrem Erscheinen 1780 veröffentlicht Gottfried Huth die deutsche Übersetzung von Le Camus de Mézieres’ Architekturtheorie »Genie d’Architecture« unter dem Titel »Von der Übereinstimmung der Baukunst mit unseren Empfindungen«. Innerhalb der Erläuterungen zum Boudoir empfiehlt Le Camus, harte und scharfe Kanten sorgfältig zu vermeiden und sich zudem »nie vom zirkelförmigen Planen« zu entfernen, denn: »Diese Form schickt sich für den Charakter dieses Ortes; sie ist der Venus geweihet. Man beachte nur ein schönes Frauenzimmer. Alles ist an ihm zart und sanft abgerundet […].«3 Demgegenüber walte im Raum für den Mann – so er Soldat ist – der Charakter des Mars, die Profile seien hart, die Massen ernsthaft und die Formen quadratisch. Im Zimmer des Ratsherrn wiederum schickten sich die Attribute der Themis, Göttin des Rechts und der Gerechtigkeit, eingebunden in ein Ambiente von »edelster Simplicität«4 . Den Linien des Frauenkörpers also soll das Auge des Architekten folgen, erfindet er den angemessenen Raum für die Schwestern der Venus. Meines Wissens wird dieser Zusammenhang hier erstmals formuliert: Der Körper der Benutzerin soll sich in Anlage und Gestaltung des Raumes abbilden und der Raum dadurch als von einer Frau bewohnt erkennbar 3 | Le Camus de Mézieres: »Von der Übereinstimmung der Baukunst mit unseren Empfindungen«, in: Gottfried Huth (Hg.): Allgemeines Magazin für bürgerliche Baukunst, 2 Bde., Weimar 1789, Bd. 1, Teil 1, S. 165. 4 | Ebd., Bd. 1, Teil 2, S. 84.
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werden. Dagegen ist die Identifikation des Herren-Appartements über die Assoziation mit dem Beruf des Benutzers herzustellen, wodurch auch die Themis-Ikonographie erst möglich wird. Die antike Götterwelt zu Dekorationszwecken heranzuziehen, um von der Funktion eines Raumes bzw. der Stellung der Bewohner zu künden, ist nicht neu. Neu aber ist, Venus weiblich und Mars männlich definierte Räume »markieren« zu lassen, wobei sie nicht unbedingt selbst erscheinen müssen; es reicht aus, Liebesgöttin und Kriegsgott in Formen, Farben und Anlage der Räume spürbar zu machen. Das 17. und bis über seine Mitte hinaus auch noch das 18. Jahrhundert haben diese Ikonographie weniger einseitig gehandhabt. Königin und König, Fürstin oder Fürst identifizierten sich in ihren gleichwertig angelegten eigenen Appartements sowohl mit Venus als auch mit Mars als auch mit Apoll oder Diana. Geschlechtsspezifische Unterscheidungen innerhalb der Darstellungen erfolgten über das Geschlecht der Begleitfiguren, über die liebenden Männer bzw. Frauen, die Heldinnen und Helden. So bildeten in Versailles zur Zeit Ludwigs XIV. die Grands Appartements du Roi (im Norden) und de la Reine (im Süden) so genannte Planetenräume: Salon de Vénus, Salon de Diane, Salon de Mars, Salon de Mercure und Salon d’Apollon. In den stark veränderten Räumen der Königin-Seite sind im MarsSalon noch die Deckenmalereien mit der Darstellung antiker Heroinen erhalten, welche das Bild des Kriegsgottes in der Mitte umgaben. Es entspricht der Entwicklung zur Zeit Louis XVI. und besonders seiner Nachfolger, die Innenräume stärker nach Gebrauch zu differenzieren und vermehrt private Bedürfnisse für die Ausstattung maßgeblich zu machen, wenn sich Jacques-François Blondel in seinen Ausführungen über das Landhaus wünscht, dass man dem Raum eine eigene Persönlichkeit verleihe. Mag das Zimmer noch so einfach sein, »il est bon de designer son usage par quelque allegorie particuliere ou par le caractere des meubles«5 . Abseits der höfischen Repräsentation geht es, auch außerhalb Frankreichs, nicht um die Glorifizierung der Bewohner, sondern um den Raum, dessen individuelle Nutzbarkeit sichtbar werden soll. Die Darstellung der Venus im Toilettezimmer der preußischen Königin Sophie-Charlotte weist nicht auf die Taten, die aus Liebe geschahen, sondern auf den intimen Akt der Körperpflege; Apoll mit den Künsten am Plafond ihres Arbeitskabinetts dient nicht der Apotheose, sondern der Inspiration. Die Götter erläutern also die Raumfunktion – ohne eine geschlechtsspezifische Zuordnung vorzunehmen. Denn die verschiedenen Raumtypen werden von Mann und Frau gleichermaßen in Anspruch genommen: Ein Cabinet de travail gehört ebenso wie das Boudoir zur Grundausstattung eines Appartements. Ist das erste der geistigen Arbeit gewidmet, gilt Letzteres seit seiner Entstehung als Ort der Sinnenfreude, wenn nicht gar
5 | Jean-François Blondel: De la Distribution des Maisons de Plaisance et de la Décoration des Édifices en general, 2 Bde., Paris 1737-38, Bd. 2, S. 170.
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»sexuellen Ausschweifung«6 . Entsprechend dieser Bestimmung wünscht sich Monsieur de Menar sein Boudoir, das »sehr klein und sehr warm« sei, ausschließlich mit »Nuditäten« dekoriert.7 Am Ende des 18. Jahrhunderts erfolgt die Zuordnung der Räume und die Definition der Art ihrer Gestaltung basierend auf neu definierten weiblichen und männlichen Geschlechtseigenschaften. Neu insofern, als dass sie als »natürlich« begründet werden; mit dem Hinweis auf die unterschiedliche biologische Ausstattung wird die Frau ganz Körper, der Mann ganz Geist. Folgerichtig findet sie sich in dem Raum wieder, der dem Körper huldigt. In weiterer Konsequenz veranschaulicht das Boudoir den Körper, dem es zu Diensten ist – alles ist zart und sanft abgerundet, wie Le Camus es empfiehlt. In Marie-Antoinettes achteckigem Cabinet de la Méridienne in Versailles (1781) erfahren diese Verschränkungen ihren Höhepunkt: Eine gänzlich mit Spiegeln ausgekleidete Nische für die Liegestatt (méridienne) reflektierte von einem bestimmten Blickwinkel aus nur mehr den Körper der Königin, nicht aber ihren Kopf.8 Symbolhaft mag dieses Spiegelbild für eine Entwicklung stehen, in der das weibliche erotische Selbstverständnis von einer biologistisch geprägten Fremdbestimmung überlagert wird.
II. »G ESPENSTISCHE TR ANSFORMATION « Le Camus folgend entwickeln die Interieurtheoretiker des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine eigene Frauenzimmer-Terminologie, die sich auf die Eigenschaften »klein und fein und weich und rund« konzentrieren lässt. Sie beschreiben die Vorstellung von einer weiblich geprägten Raumausstattung und zugleich jene vom weiblichen Körper. Insofern kann das Boudoir als Raumabguss und sozusagen mobiliare Vervielfältigung des Frauenkörpers verstanden werden. Klein ist der Schreibtisch, »himmelweit verschieden von seinem Bruder im Arbeitszimmer des Hausherrn«. Klein sind Möbel, sind »Schmuck- und Schatzkästchen«, sind »Nippsächelchen«, ist das Kunstwerk (»kleine Aquarelle«) und schließlich das Zimmer selbst: Das Boudoir benötige – nicht zuletzt, da es sich um einen kostspieligen Luxusraum handelt – keine großen Ausmaße. Fein, das heißt zierlich und zart, sind die Möbel. Die Theoretiker empfehlen »zierliche Geräthchen« in einem »elegant zierlichen Ambiente«. Zart wirkten außerdem Kunstwerke in »graziler Technik«, »lichte, gebrochene Töne« und immer wieder »viele Spiegel«, die dem Raum zu
6 | Vgl. Peter Thornton: Inneneinrichtung in drei Jahrhunderten: Die Wohnzimmereinrichtung nach zeitgenössischen Zeugnissen von 1620-1920, Herford 1985, S. 97. 7 | Edmont und Jules de Goncourt: Die Kunst des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1908, S. 143. 8 | Friederike Wappenschmidt: Der Traum von Arkadien. Leben, Liebe, Licht und Farbe in Europas Lustschlössern, München 1990, S. 188.
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Transparenz und Leichtigkeit verhelfen. Weichheit wird spürbar in »reichlich Sitzgelegenheiten« mit »einer Vielzahl an buntgestickten Kissen«.9 Mothes polstert das Damenzimmer als Nest aus, wenn er Tische, Fenster und Boden mit weichem Stoff behängt und belegt sieht. Weiter verlangt er »weichgepolsterte Sitze ohne alles sichtbare Holzwerk, ohne Ecken und Spitzchen, welche so leicht der Toilette der Damen Gefahr des Zerreißens androhen«10 . Weichheit und Rundung verschmelzen in Möbeln, die durch ihre »weiche Linienführung dem weiblichen Wesen entgegenkommen«11, in Kissen und Rollen oder »poetischen Wolken aus Stoff«12 . Das Rund allein erscheint in der empfohlenen kreisförmigen, ovalen oder halbrunden Anlage des Raumes oder auch dessen Überwölbung (Abb. 3). Abbildung 3: Erker-Partie aus einem modernen Damen-Zimmer. Ausgeführt von Flatow & Priemer, Möbelfabrik, Berlin. Aus: Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innen-Decoration, Ausschmückung und Einrichtung der Wohnräume, Darmstadt 1896
Während es in der Praxis eine gleichberechtigte Rolle spielt, widmen die Theoretiker dem Herren- im Vergleich zum Damenzimmer deutlich weniger Aufmerksamkeit – die vielfältigeren Möglichkeiten zur Ausgestaltung der Frauenräume beflügeln nicht nur die Dekorphantasien, sondern regen auch eher zu »literarischer« Darlegung an. Dessen ungeachtet spiegelt die ideale Herrenzimmer-Ausstattung die ideale Vorstellung von seinem Bewohner in gleicher Weise wider (Abb. 4). 9 | Vgl. Wenzel Herzig: Die angewandte oder praktische Ästhetik oder die Theorie der dekorativen Architektur, Leipzig 1873; Oskar Mothes: Unser Heim im Schmuck der Kunst, Leipzig 1879, S 18. Cornelius Gurlitt: Im Bürgerhause: Plaudereien über Kunst, Kunstgewerbe und Wohnungsausstattung, Dresden 1888, S. 107, 109; Lothar Abel: Das elegante Wohnhaus, Wien, Pest, Leipzig 1890, S. 310. Klopfer 1905 (wie Anm. 2), S. 88; Paul Klopfer: Wie baue ich mein Haus und wie beschaffe ich mir eine gediegene Wohnungseinrichtung?, Stuttgart 1911. 10 | Mothes 1879 (wie Anm. 9), S. 27. 11 | Fritz Czuczka: Wie richte ich meine Wohnung ein?, Wien 1926. 12 | Die Dame H. 1 (Oktober 1925), S. 5.
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Die Möbel seien fest und kräftig gegliedert, der Schreibtisch präsentiere sich groß und sachlich, gerade, herbe Formen sollten vorherrschen und die Gesamtstimmung sei dunkel: Cornelius Gurlitt empfiehlt »tiefe, satte Farben«, Jakob von Falke »dunkle, ruhige Wände« und die Zeitschrift »Innendekoration« ein »stilles Braun«.13 In Anlehnung an sein Pendant, lassen sich die Eigenschaften eines adäquaten Herren-Interieurs auf die Begriffe »groß, kräftig, fest und geradlinig« zusammenfassen. Zugleich kennzeichnen diese Eigenschaften die perfekte virile Körperbeschaffenheit wie den männlichen Geschlechtscharakter, übersetzt man etwa Geradlinigkeit mit Zielstrebigkeit oder Festigkeit mit Willen und Standhaftigkeit.14 Entsprechend geben die Merkmale von Boudoir oder Damenzimmer nicht nur Auskunft über das herrschende Körperideal, sondern auch über das Bild der Frau, übersetzt man Weichheit mit Geduld und Anpassungsfähigkeit oder Rundung mit Empfänglichkeit. Das Kleine und Feine wiederum reflektiert die Position der Frau, welche sich in ihrem kleinen Salon vor lauter Nippes nicht bewegen, in ihrem zierlichen Schränkchen nichts unterbringen und am »Schreibtischchen« allenfalls ein kurzes Billet abfassen kann. Genau in dieser Unzweckmäßigkeit liegt die Funktion der Einrichtungsformen: Sie künden vom Luxus, Arbeit delegieren zu können, während die Frau als »edelster Schmuck der geschmückten Behausung« 15 figuriert. Die Adaption höfischer Repräsentationsformen des 17. und 18. Jahrhunderts durch die großbürgerliche Gesellschaft der Gründerzeit verkehrt die Bedeutung der Vorbilder in ihr genaues Gegenteil. Damen- und Herrenzimmer oder Boudoir und Studierzimmer sind die auf einen Raum eingeschmolzenen Appartements der Schlösser und Adelspaläste. Hierin
13 | Gurlitt 1888 (wie Anm. 9), S. 110; Jakob von Falke: Die Kunst im Hause. Geschichtliche und kritisch-ästhetische Studien über die Decoration und Ausstattung der Wohnung, Wien 1871, S. 299; Innendekoration: Die gesamte Wohnungskunst in Wort und Bild Jg. XLII (1931), S. 292. Die Farbempfehlung hat übrigens einen praktischen Hintergrund: sollte hier geraucht werden, ist das nicht gleich sichtbar. Darüber hinaus wird so eine feierliche, fast sakrale Stimmung erzeugt, die Respekt und Haltung einfordert. 14 | Die theoretisch geforderte Übereinstimmung von Geschlecht und Raum mag in der Praxis gelegentlich von ungeahnt bloßstellender Wirkung gewesen sein – etwa so, wie es Nikolaj Gogol in »Tote Seelen« (Berlin 1938) beschreibt: »Tschitschikow blickte nochmals über das Zimmer: alles in ihm war in höchstem Maße platzraubend und zeigte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Besitzer selbst. In einer Ecke blähte sich ein Schreibtisch aus Nussbaum auf seinen vier komischen Füßen auf, genau wie ein Bär. […] jeder Gegenstand war von schwerster Art und unbequem. Es war so, als wenn jedes Einrichtungsstück zu sagen schien: ›Und auch ich bin Sobakewitsch sehr ähnlich!‹.«; zit. nach: Mario Praz: Die Inneneinrichtung. Von der Antike bis zum Jugendstil, München 1964, S. 19. 15 | Falke 1871 (wie Anm. 13), S. 353.
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drückte sich die durch Heirat gewonnene relative Freiheit der Frau aus,16 das relativ unabhängige Verhältnis der Geschlechter, die in eigenen Wohnungen ein eigenes Leben führen konnten, vereint primär durch den Druck, den sozialen Status aufrechterhalten zu müssen. Im 19. Jahrhundert finden sich Mann und Frau zwar vereint im gemeinsamen Schlafzimmer, dafür aber getrennt durch Geschlechterdefinitionen und Rollenverteilung. Die Abhängigkeit der monde von der Gunst des Herrschers ist der Abhängigkeit der Frau von ihrem Mann gewichen, welche sich in der Unzweckmäßigkeit ihres Interieurs manifestiert. Das eigene Zimmer als Rudiment einer multifunktionalen Wohnung steht demzufolge für das Gegenteil der ursprünglichen Autonomie der adeligen Frau. Die »gespenstische Transformation, die das Erbe der höfischen Gesellschaft in der bürgerlichen erfuhr«17, zeigt sich auch in der Behandlung und Bewertung der übernommenen Stil- und Raumformen. Die Anlage einer runden Bibliothek (wie etwa jene Friedrichs des Großen in Sanssouci) ist im späten 19. Jahrhundert keine ernst zu nehmende Lösung mehr – die runde Raumform ist den Frauen vorbehalten (Abb. 5); Monsieur de Menars’ Boudoir würde selbst die Damen kompromittieren; und das Rokoko, Hofstil Ludwigs XV., heißt nun Genre Pompadour und charakterisiert den weiblich bestimmten Raum: Salon, Damen- und Empfangszimmer, Boudoir und Ankleidekabinett. Wie kommt es zur Definition des Rokokostils als weiblich und welche Konnotationen begleiten ihn? Die Kritik an diesem »überladenen«, »exzentrischen«, »frivolen« und »lächerlichen« Stil geht bereits mit seiner Entstehung einher. In der Folge wenden sich die verschiedenen Autoren vor allem gegen seinen Übergriff auf die Außenarchitektur, während er im Innenraum angemessen erscheint. »Ces ornaments ont passés des décorations intérieurs des maisons et des ouvrages en bois, auxquels un travail plus délicat peut convenir, aux ouvrages extérieur et en pierre qui exigent un travail plus moulleux et plus mâle.«18 Vorbildhaft ist den Kritikern der klassizistische Stil zur Zeit des Sonnenkönigs, der auch dem Innenraum zu einer gravitätischen, seriösen Erscheinung verholfen habe: »[L]es profils & les ornaments étoient toujours du genre le plus mâle.«19 Die an der Antike orientierte, akademischen Regeln unterworfene Formensprache wird hier mit Männlichkeit assoziiert, ebenso wie die Architektur, die nach dieser Sprache verlangt, männlich besetzt ist. Dabei ist das Pendant noch nicht gebildet, weder gilt das Rokoko als weiblicher Stil noch die Innendekoration als weibliches Metier, da sich 16 | Unter dem Stichwort »mariage« bemerken Diderot und D’Alembert in ihrer Enzyklopädie 1777, die Frau gelange durch die Ehe »à la liberté«; vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 80. 17 | Ebd., S. 173. 18 | Germain Boffrand: Livre d’Architecture, Paris 1754, S. 9; zit. nach: Wolfgang Herrmann: Laugier and Eighteenth Century French Theory, London 1962, S. 225. 19 | Jacques-François Blondel/Pierre Patte: Cours d’architecture ou Traité de la décoration, distribution & construction des bâtiments, Paris 1777; zit. nach: Svend Erikson: Early Neo-Classicism in France, London 1974, S. 267.
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beide Geschlechter in gleicher Weise mit dem einen identifizieren und mit dem anderen beschäftigen. Erst in dem Moment, als kurz vor der Revolution die jüngere Vergangenheit reflektiert und die höfische Verschwendungssucht auf den Einfluss der königlichen Mätressen zurückgeführt wird, welche die Effemination der Gesellschaft zu verantworten hätten,20 kommt es zu der Verbindung von »Galantem Zeitalter« und den Frauen. Mit den in der Folge definierten Geschlechtercharakteren fügt sich in dieser Verbindung ein Bild zum anderen: Der Rokokostil wurzelt in der Formensprache der Natur – die Frau ist aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit naturverbunden; der Rokokostil ist regellos – die Frau emotional und daher unberechenbar; der Rokokostil wird von einer Frau repräsentiert (wobei außer Acht gelassen wird, dass Madame de Pompadour in ihren letzten Lebensjahren der klassischen Formensprache zugetan war)
Abbildung 4: Erker-Parthie aus einem HerrenZimmer. Ausgeführt von der Firma Flatow & Priemer, Möbelfabrik, Berlin. Aus: Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innen-Decoration, Ausschmückung und Einrichtung der Wohnräume, Darmstadt 1896, S. 228
Abbildung 5: Damenzimmer. Aus: Jean Pape: Die Wohnungsausstattung der Gegenwart, Berlin o.J. (1890), Tafel 8
20 | Vgl. Gabriel Sénac de Meilhan: Considérations sur les richesses et de luxe, Paris 1787; zit. nach: Rémy G. Saisselin: The Enlightment Against the Baroque, Berkely, Los Angeles, Oxford 1992, S. 39ff.
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– also ist er weiblich; der Rokokostil ist ein Inneneinrichtungsstil – die Welt der Frau ist der Innenraum; der Rokokostil steht für Luxus – die Frau hat ihn zu repräsentieren. Ein weiterer Schritt ist die Verknüpfung von Frau und Möbel. Das 18. Jahrhundert schafft eine Sesselform, die dem menschlichen Körper angepasst ist. »Die Kurve kommt hinzu«, so Siegfried Giedion lapidar über das ausschlaggebende Element für die Entwicklung eines »humanen« Sitzmöbels.21 Dabei entstehen vorwiegend weiblich benannte Möbel, deren Namen – marquise, duchesse, bergère oder chauffeuse – einerseits auf ihre Erfinderinnen und Nutzerinnen verweisen, andererseits dem Gefühl Ausdruck verleihen, es hafte ihnen etwas Feminines an. Im 19. Jahrhundert wird diese Assoziation ebenso direkt formuliert wie umgesetzt: Des Esseintes, der Held in Huysmans’ »A rebours«, urteilt über die Zeit Louis XV., dass allein sie in der Lage gewesen sei, »die Frau mit einer lasterhaften Atmosphäre zu umgeben, der Einrichtung die Grazie ihrer Rundungen zu verleihen, dem Holz, dem Kupfer durch seine Windungen und Biegungen etwas von ihren Gebärden mitzuteilen, etwas von ihren lustvollen Spasmen«22 . In den übersteigerten Lösungen des Zweiten Rokoko, etwa der crapaudgepolsterten causeuse mit ihrer busenförmigen Rückenlehne, wird die Übereinstimmung von Mobiliar und Körperbild in einer Weise hergestellt, die mit den subtilen Vorbildern nicht mehr viel gemein hat. Ein letzter Bezugspunkt erklärt, weshalb im 19. Jahrhundert dem weiblichen Geschlecht die Ausstattung seines Wirkungsbereiches anheimgestellt wird. Mit dem Hinweis auf die innovativen Leistungen der einflussreichen Frauen des 18., aber auch schon des 17. Jahrhunderts exemplifizieren die Interieurtheoretiker das »weibliche Gespür« für Komfort und harmonische Gestaltung. Tatsächlich waren etwa die Neuerungen der Marquise de Rambouillet (1588-1665) von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Wohnkultur, und sie bezogen sich auf die Erhöhung der Bequemlichkeit und die Einführung eines einheitlichen Raumdekors. Beachtung fand die Marquise aber wohl auch deshalb, weil es zu ihrer Zeit noch ungewöhnlich war, dass eine Frau – selbst zeichnend und entwerfend – als Bauherrin bzw. Innenarchitektin auftrat. Üblicherweise oblag diese Aufgabe dem Mann.23 Wird im späteren 19. Jahrhundert die Frau damit betraut, begleitet dieses »Zugeständnis« eine Hierarchisierung weiblichen und männlichen Kunstschaffens ebenso wie der angewandten und bildenden Kunst. Jakob von Falke sieht der Frauen Beruf in der »Beförderung des Schönen«, wenngleich alles Wahre und Schöne vom starken Geschlecht geschaffen worden sei. Es gebe aber neben der hohen Kunst noch das Gebiet, wo sich 21 | Siegfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung: Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a.M. 1978, S. 349. 22 | Zit. nach: Georges Teyssot: Die Krankheit des Domizils: Wohnen und Wohnbau 1800-1930, Wiesbaden 1989, S. 99. 23 | Vgl. Peter Thornton: Seventeenth Century Interior Decoration in England, France and Holland, London 1978, S. 7.
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das Schöne mit dem Nützlichen verbinde, das »Reich des Geschmackes«, die »Kleinkunst« oder, wie Falke es nennen möchte, die »Kunst im Hause«. Auf diesem Gebiet zu wirken, dafür sei die Frau prädestiniert, habe sie sich doch bereits im »großen Reiche der Kunst […] instinctiv ihrer Natur folgend, mit Vorliebe das ihr angemessene Feld des Kleinen und Reizenden, des Zarten und Liebenswürdigen, des Feinen und Anmuthigen ausgesucht«24 . Die Frau, ihr Zimmer, ihr Stil und ihre Aufgabe sind durch die eben genannten Eigenschaften gekennzeichnet wie der Mann, sein Zimmer, sein Stil und seine Funktion durch Größe, Wahrhaftigkeit und Bedeutsamkeit. Diesen Charakterdefinitionen kann nur das Interieur perfekt entsprechen, die Geschlechter sind hiermit am Ende des Jahrhunderts endgültig überfordert.
Dieser Text wurde unter dem Titel »Zur Kennzeichnung von Weiblichkeit und Männlichkeit im Interieur« bereits veröffentlicht in: Cordula Bischoff/ Christina Threuter (Hg.): Um-Ordnung. Angewandte Künste und Geschlecht in der Moderne, Marburg 1999, S. 58-68, sowie in: Dörte Kuhlmann/Kari Jormakka (Hg.): Building Gender. Architektur und Geschlecht, Wien 2002, S. 105-123; für diesen Band wurde er nochmals grundlegend überarbeitet.
24 | Falke 1871 (wie Anm. 13), S. 347, S. 344.
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Der therapeutische Innenraum Christian Witt-Dörring
Wie schon bei seinen Villen auf der Hohen Warte konnte Josef Hoffmann auch beim Bau des Sanatoriums Purkersdorf Innen- und Außenarchitektur im Rahmen eines ästhetischen Gesamtkonzepts verwirklichen. Waren Erstere noch vor der Gründung der Wiener Werkstätte entstanden, so stand ihm nun nach deren Gründung 1903 ein Organisationskörper zur Verfügung, der seine hohen künstlerischen und handwerklichen Anforderungen bis ins kleinste Detail in die Tat umsetzen konnte. Bis auf wenige Ausnahmen sind sämtliche Einrichtungsgegenstände von den Möbeln über die Beleuchtungskörper bis hin zu den Aschenbechern nach seinen und Koloman Mosers Entwürfen für diesen Bau entstanden. Es sollte sein einziger Neubau bleiben, dessen Bauarbeiten und Inneneinrichtung gemeinsam durch die Wiener Werkstätte betreut und realisiert wurde. Im Zuge dieses Auftrags hatten sich bis heute ungeklärte Missstimmigkeiten mit dem Auftraggeber Viktor Zuckerkandl ergeben, die Hoffmann dazu zwangen, sein Architekturbüro aus der Wiener Werkstätte zu lösen und als selbständige Praxis weiterzuführen. Mit dem Bau des Sanatoriums Purkersdorf realisierte Josef Hoffmann sein erstes öffentliches Gebäude.1 Bis zu diesem Zeitpunkt waren seine Innenraumkonzepte nur rudimentär im inszenierten Rahmen von ihm gestalteter Ausstellungen einem größeren Publikum zugänglich und somit erlebbar gewesen. Umso frappanter muss die Wirkung dieses modernen, völlig neuartigen Raumerlebnisses auf das in erster Linie Heilung und nicht künstlerische Information suchende Publikum gewesen sein. Für einige bereits Informierte wurde so aus dem temporären Ausstellungserlebnis therapeutisch umgesetzte Realität.2 Für die Mehrheit der Sanatoriumsgäste bedeutete es die Konfrontation mit einer Welt, der ihr Alltag 1 | Vgl. Eduard F. Sekler: Josef Hoffmann. Das architektonische Werk. Monographie und Werkverzeichnis, Salzburg, Wien 21986, S. 286-289. 2 | Vgl. dazu auch Leslie Topp: »An Architecture for Modern Nerves: Josef Hoffmann’s Purkersdorf Sanatorium«, in: Journal of the Society of Architectural Historians Bd. 56, Nr. 4 (Dezember 1997), S. 414-437; dies.: Architecture and Truth in Fin-de-Siècle Vienna, Cambridge 2004, S. 72-95; dies./Gemma Blackshaw (Hg.):
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nichts Vergleichbares entgegenzusetzen hatte. Ähnlich dem Zustand der Schwerelosigkeit mag das notgedrungene Versetzen in diese unbekannte ästhetische Welt eine enorm befreiende Wirkung ausgelöst haben. Der Druck der modernen Welt, die die »Gesellschaft« nicht mehr in ihren ehemals abgeschotteten, nach sicheren, eingefahrenen Normen operierenden gesellschaftlichen Zirkeln leben ließ und sie zu Kontakten mit der Realität einer immer rascheren und demokratischeren Entwicklung zwang, hatte sich in der neuen Modekrankheit »Nervosität« manifestiert. Ihrer Fremdartigkeit wegen von jeglicher Assoziationsmöglichkeit ausgeschlossen, vermochte diese ungewohnte Umgebung die Patienten in eine Atmosphäre zu versetzen, die nicht mehr konditionierte und sie so der krankmachenden Realität entzog. Es ist dies eine Schlussfolgerung, die dem überlieferten Bild des Hoffmann’schen Gesamtkunstwerks diametral entgegengesetzt ist. War doch die Loos’sche Kritik gegen das unfrei machende Korsett einer komplett neu durchgestalteten Welt gerichtet, die nur wieder neue Abhängigkeiten zu schaffen imstande war. Im Sinne seines und auch des heutigen Modernitätsbegriffs ist es der Mensch und nicht sein Dekor, der den Unterschied macht und somit eine Veränderung ermöglicht. Voraussetzung dafür ist ein in die Mündigkeit entlassener Mensch. Die Welt der Therapie scheint jedoch zur Erreichung ihrer Ziele eigene Rezepte anzuwenden. Bereits die Außenarchitektur bereitet den Kurgast auf die Ungültigkeit der Regeln seines gewohnten Alltags vor. Ein weiß strahlender, abgeschlossener Baukörper, der ohne den gewohnten, Sicherheit ausstrahlenden Dekor auskommt, wird durch die klare Definition seiner einzelnen Fassadenelemente zum grundsätzlichen Ausdruck umbauten Raums. Es ist das subtile Spiel des Gegensatzpaars Fläche und Raum beziehungsweise Materie und Raum, das auch in den Details der Innenausstattung des Sanatoriums zum erlebbaren Leitmotiv wird. Klarheit dominiert auch die innere Organisation des Gebäudes. Über eine kurze Treppe, wodurch die im Untergeschoss liegenden Versorgungsräume auch vom Tageslicht erreicht werden, betritt der Gast das Erdgeschoss mit seinen Untersuchungs- und Therapieräumen. Erster ästhetischer Eindruck ist die hohe, weiß-schwarz gehaltene Eingangshalle. Raum und Ausstattung bilden eine geschlossene Einheit. Jedes Detail nimmt aufeinander Bezug. Der weiß-schwarz geflieste Boden spiegelt die sichtbare Stahlbetonkonstruktion des Plafonds wider. Die vertikale Sprossenstruktur der Moser’schen Armlehnsessel, die bereits 1903 im Rahmen der 18. Secessionsausstellung zu sehen waren, nimmt die Höhenstreckung der schlanken Betonpfeiler und die durch diese Konstruktionsart erst mögliche Transparenz des Raumes auf. Sie wird weiter durch die an langen Schnüren herabhängende, über den gesamten Plafond verteilte Beleuchtung unterstützt. Das schwarz-weiße, quadratische Korbgeflecht der Sitzflächen kommuniziert mit den Bodenfliesen (Abb. 1 und 2). Madness and Modernity. Mental Illness and the Visual Arts in Vienna 1900, Farnham/Surrey 2009.
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Mag Hoffmanns Innenraumkonzept auf den ersten Blick eine rein ästhetische Botschaft vermitteln, so ist sie doch nichts weniger als das bewusste Resultat neuester hygienischer und therapeutischer Vorstellungen. Ein Sanatorium außerhalb Wiens verspricht den Ausgleich aller jener negativen Ein- und Auswirkungen, für die das Großstadtleben verantwortlich ist. Ruhe, Licht und Luft waren neben den neuesten Errungenschaften der »Mechanotherapie« die Vorzüge des Standorts Purkersdorf. Hoffmann fängt sie räumlich ein und gibt ihnen einen architektonischen Rahmen. Mehr dem Typus eines Hotels als dem eines Spitals verpflichtet, schafft er die einer temporären Wohnstätte adäquate Balance zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Unmittelbar spürbar wird die Subtilität seiner Lösung dieser Aufgabe dort, wo Außen- und Innenwelt miteinander kommunizieren können. Er lässt diesen über die Wandöffnung, das Fenster, stattfindenden Austausch in einem Maße zu, wie er bis dahin unangebracht war. Es gibt weder im Erdgeschoss noch im gesamten Bereich der Gesellschaftsräume des ersten Stocks Vorhänge. Für den Bereich der Gästezimmer kann dies angenommen, aber anhand der mangelhaften Quellenanlage leider nicht nachgewiesen werden. Aufnahmen der Zwischenkriegszeit zeigen zum Teil zwischen den Fenstern angebrachte Spalettenrollos. Aus diesem Umstand entsteht eine völlig neue Innenraumästhetik, die auf die gewohnte textile Unterstützung fast völlig verzichtet. Die Gestaltung der Innenräume des Sanatoriums Purkersdorf verlässt sich nicht mehr auf das althergebrachte System des horror vacui des 19. Jahrhunderts, das die Leere des Raumgevierts durch Füllen zu meistern sucht, sondern lässt den Raum an sich bewusst körperlich erlebbar werden. Das klare Definieren der einzelnen Raum- und Wandelemente in horizontale und vertikale Flächen ermöglicht dies. Sie sind die Bausteine, die erst Raum entstehen lassen. Seine Materialität, in perfekter Harmonie aus waagrechten und senkrechten Elementen, ist das Ziel. Auf diese Weise können auch die langen, leeren Gänge des Sanatoriums zu ästhetisch Erlebbarem werden. Seine Funktion er-
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Abbildung 1: Josef Hoffmann: Die Halle des Sanatoriums Purkersdorf mit den von Kolo Moser entworfenen Armlehnsesseln aus weiß lackiertem Buchenholz und schwarz-weißem Korbgeflecht. Fotografie, um 1905. MAK, Wien Abbildung 2: Josef Hoffmann: Die Halle des Sanatoriums Purkersdorf. Fotografie, 1905. MAK, Wien
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Abbildung 3: Josef Hoffmann: Der Speisesaal des Sanatoriums Purkersdorf. Fotografie, um 1905. MAK, Wien Abbildung 4: Josef Hoffmann: Sessel für den Speisesaal des Sanatoriums Purkersdorf (Modell Nr. 322 der Firma J. & J. Kohn), 1904. Buchenholz mit Wichsleinwandbezug. MAK, Wien
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hält der Raum durch die Möblierung, die in ihrer Rudimentalität wiederum nichts anderes als umbauter, definierter Raum ist. Die Art und Weise, wie die Möbel im Raum platziert sind, geschieht nicht gegen den Raum, sondern in dessen Widerhall. Drapierte Vorhänge, die klare senkrechte Flächen nicht zulassen, haben in einem solchen Konzept keinen Platz. Sogar die Tapezierung der Polstermöbel ist davon nicht ausgenommen. Sie ist meistens flach, dort, wo jedoch hohe Polsterungen angebracht sind, sind diese klar scharfkantig, die Konturen des Polstermöbels nachvollziehend. Entsprechend stechen die Borten in Farbe und Musterung von den Stoffen ab und begrenzen somit, im selben textilen Medium bleibend, deren endlosen Rapport, bevor er vom Holzgestell gestoppt wird. Sogar dort, wo Ornament, wie bei den bleiverglasten Supraporten der Gangtüren des Erdgeschosses, großflächig eingesetzt wird, verunklärt es nicht die Raumempfindung. Sie sind die logische, konstruktiv erklärende, vertikale Fortsetzung der Türen, und schließen somit die Wandfläche zum Plafond hin ab. Glanzleistungen Hoffmann’scher und Moser’scher Raumschöpfung sind die Einrichtungen des Speisesaals im 1. Stock und der den gesamten 2. Stock einnehmenden Gästezimmer. Sie erzeugen trotz ihres gesamtkünstlerischen Konzepts ein Maximum an räumlicher Durchlässigkeit und atmosphärischer Freiheit. Im Speisesaal nützt Hoffmann die sichtbare Rasterstruktur der Stahlbetondecke aus, um den gesamten Raum in einem harmonischen Koordinatensystem von Horizontalen und Vertikalen zu verspannen. Den schablonierten, die Plafondkassetten horizontal definierenden grün-rot-schwarzen Blattfriesen setzt Hoffmann einen aus Wandvertäfelung, Buffets, Türen und Fenstern bis zu deren Oberlichten gezogenen Horizont entgegen, der wiederum von der frei hängenden, dunkel patinierten Beleuchtung und den Wandlampen erwidert wird. Das vertikale Element erzeugt er mittels der einzelnen Wandöffnungen und deren Binnenstruktur, den transparenten Aufhängungen der Lampen und den senkrechten Strukturelementen der Sitzmöbel (Abb. 3 und 4).
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Bewusst verstärkt wird der Eindruck raumdurchlässiger Mobilität durch die scharfe optische Trennung der wandfesten von der mobilen Einrichtung. Während Erstere in der Farbe der Wand weiß lackiert ist, sind die formal dünn und transparent gehaltenen Tische und Sitzmöbel in kontrastierendem Dunkelbraun mit weinroten Wichsleinwandbezügen gehalten. In Mosers Gästezimmern wird der Höhenstreckung des Raums ebenfalls klar durch einen im Wandbereich eingezogenen Horizont gegengesteuert. Die einheitlich weiß gehaltene mobile Einrichtung macht im ersten Moment einen äußerst sperrigen Eindruck, bindet sich aber durch Mosers gestalterischen Geniestreich harmonisch in das Koordinatensystem ein. Der Kontrast zwischen den breiten senkrechten und schmalen waagrechten Raumelementen der Möbel wirkt ungewohnt und scheint unserem Harmonieverständnis zu widersprechen, vermag aber deren Wuchtigkeit in ihr Gegenteil zu strecken. Er schafft es sogar, den Korpusmöbeln durch deren unorthodox hohen Abstand vom Boden eine gewisse Leichtigkeit und Beweglichkeit zu geben. Gleichzeitig vermeidet er bei den großen, sich dem Raum entgegenstellenden Flächen der Möbel (Bett, Waschtisch und Nachtkästchen), dass diese als reine Fläche in Erscheinung treten. Er gestaltet sie räumlich, indem er sie nach innen einzieht und somit wieder eine Verzahnung mit dem Raum selbst stattfinden kann. Neben dem großen Speisesaal mit anschließender Veranda sowie anschließendem Musikzimmer und Office ist der gesamte 1. Stock dem gesellschaftlichen Leben der Gäste reserviert. Sie erschließen sich – symmetrisch links und rechts der Haupttreppe gelegen, jeweils zu einer dreiräumigen Zimmerflucht zusammengeschlossen – untereinander und über den zentralen Gang. Es sind dies Räume für Tischtennis, Billard und Kartenspiel, sowie ein Damensalon, ein Lese- und ein Schreibzimmer. Auffallend ist der Unterschied zwischen der stärker dekorativen Ausstattung des Damensalons, Lesezimmers und Spielzimmers im Gegensatz zur betont strengen Gesamterscheinung des Billard- und Schreibzimmers. Man könnte darin eine bewusst geschlechtsspezifische Zuordnung vermuten. Während die Möbel des Damensalons und Lesezimmers gerundete Formen aufweisen und in keinem dekorativen Verband mit der Wand stehen, sind jene des Billardzimmers und Schreibsalons streng geometrisch und scharfkantig gestaltet und optisch physisch mit der Wand verbunden. Über die ursprüngliche farbliche Ausstattung dieser Räume gibt es nur rudimentäre Informationen. Anlässlich seines Besuchs in Purkersdorf erwähnt der Kunstkritiker Ludwig Hevesi 1907 in Zusammenhang mit Kolo Mosers gestalterischer Beteiligung besonders eine »Flucht von drei Lese- und Damensalons in dreierlei Grün, mit durchlaufendem rotem Teppich«3. Sämtliche Bezugstoffe in diesen Räumen wurden nach Mosers und Hoffmanns Entwürfen von der Firma Backhausen gewebt.
3 | Ludwig Hevesi: »Neubauten von Josef Hoffmann. Purkersdorf. Hohe Warte. Brüssel« (1905), in: Ders.: Altkunst-Neukunst. Wien 1894-1908, Wien 1909, S. 216.
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Nur schwer nachvollziehbar ist heute das Aufsehen und Staunen, das das Ambiente des Sanatoriums seinerzeit bei seinen Besuchern hervorgerufen haben muss. Hevesi fasste das dort gesehene mit den Worten »da ist nichts als Neues, Neueres, Neuestes« zusammen.4 Zu ästhetischer Form gewordene praktische Überlegungen Hoffmanns, wie elektrisch beleuchtete Türaufschriften, Tischlampen, die den Hüten der Damen nicht im Wege sind und nicht blenden (Schreibzimmer), ein Tisch- und Sesselfuß, der nicht wackelt (Speisezimmermöblierung), ein Spiegel, der nicht in dekorativer, sondern menschlicher Höhe angebracht ist (Spielzimmer und Gästezimmer), ein Belüftungssystem (Klappmechanismus an den Fensteroberlichten), das nicht zog, und zu guter Letzt die Bedeutung von Licht und Luft für die Hygiene, empfinden wir heute als Selbstverständlichkeiten. Für eine Zeit, die Otto Wagners Grundsatz »Etwas Unpraktisches kann nicht schön sein«5 als ästhetische Provokation verstand, muss ein Besuch im Sanatorium Purkersdorf der Begegnung mit der Welt eines anderen Sterns gleichgekommen sein.
Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: Josef Hoffmanns Sanatorium Purkersdorf bei Wien, hrsg. von kunst.buwog.at/Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst, Wien o.J. [2004], S. 28-34. Der Beitrag wurde für diese Ausgabe leicht überarbeitet und um Literaturangaben erweitert.
4 | Ebd., S. 215. 5 | Otto Wagner: Die Baukunst unserer Zeit (1895/1914), Wien 1979, S. 44.
Tische, Stühle und andere Maschinen zum Denken Mark Kingwell
Dass Philosophen keinen Sinn für Möbel haben, stellt eine merkwürdige, aber selten bemerkte Tatsache dar. Merkwürdig deshalb, weil Philosophen doch mindestens so viel Zeit mit Sitzen und Liegen und Faulenzen verbringen wie der Rest der Bevölkerung – oder sogar mehr, was das Liegen und Faulenzen an und für sich betrifft. Aber trotzdem findet sich in den unüberschaubaren Bänden von Plato und Aristoteles, von Kant und Hume meines Wissens keine ernsthafte Erörterung darüber, worauf sie denn sitzen, liegen und faulenzen. Es gibt viele tausend Seiten über das Wesen der Erkenntnis, die Frage nach der Bedeutung des Seins und darüber, wie ein reflektiertes Leben zu führen sei. Kaum eine Zeile ist dabei aber darüber zu lesen, wie ein Tisch oder Stuhl zu erkennen, anzufertigen oder zu untersuchen ist. Wie verhält es sich beispielsweise mit Sofas? Wie viele Philosophen haben sich etwa über Sofas auf die Weise ausgelassen, wie sie sich mit den Zusammenhängen von logischer Folgebeziehung beschäftigt haben? Nun könnten Sie annehmen, dass dies, wenn auch nicht entschuldbar, so doch zu erwarten gewesen sei. Haben doch Philosophen auch Nahrung, Sex, Körperpflege und grippale Infekte weitgehend vernachlässigt: Die meisten von ihnen glauben und viele von ihnen behaupten, sie hätten sich um wichtigere Dinge zu kümmern. Folglich gibt es aber keine Philosophie der Möbel – ein bedauerlicher Mangel, der unsere Aufmerksamkeit verlangt. Natürlich gibt es einige hervorstechende Ausnahmen, aber die finden sich eher bei den Amateuren des philosophischen Standes, bei den nicht immer ernsthaften Mitgliedern der Sippe, deren Ruf sich auf andere Leistungen und Interessen begründet. Das ist kein Zufall, denn die wirkliche Aufmerksamkeit für das Alltägliche führt zweifelsohne – wahrscheinlich gezwungenermaßen – zu einer entschieden unprofessionellen Aushöhlung der bornierten Selbstbetrachtung, die für den philosophischen Berufsstand so typisch ist. Jean-Paul Sartre beispielsweise etablierte sich eher als umtriebiger Intellektueller und weniger als professioneller Philosoph im akademischen Sinn. Er machte es sich zur Aufgabe, die grundlegendsten menschlichen Anliegen anzusprechen, und sein Werk erlitt
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dadurch einen bedauerlichen Verlust an akademischem Ansehen. Sartre legte Wert darauf, uns wissen zu lassen, dass das unbewegliche Mobiliar der existentialistischen Hölle seines Theaterstücks »Geschlossene Gesellschaft« dem geschmacklosen Stil des Zweiten Empire entsprach, wie um die Tatsache zu betonen, dass die ewige Verdammnis eher banal und kitschig als unwiderstehlich originell ist. Und wenn wir Sigmund Freud für einen Philosophen halten (entweder eine gefährliche oder eine offensichtliche Behauptung, abhängig von der jeweiligen Gesellschaft), so ist seine Fixierung auf die Couch bemerkenswert – die, wie wir wissen, von eher unscheinbarer Größe und mit einer Lage türkischer Teppiche bedeckt war. Freilich führt Sokrates (ein weiterer prinzipientreuer Amateur) in Platos »Der Staat« die berühmte Gestalt eines Bettes ein, um die Theorie der Formen darzustellen: jene zeitlosen Essenzen, in denen die wirkliche Wahrheit zu Hause ist. Das Gemälde eines Bettes, bemerkt er, ist nur ein Abbild eines tatsächlichen, von einem Handwerker hergestellten Bettes. Und doch ist dieses dreidimensionale Bett selbst wiederum nur ein Abbild, eine blasse Kopie des idealen Bettes, der Gestalt des Bettes, der Bettheit selbst. Jedes Abbild – Gestalt des Bettes, tatsächliches Bett, Abbild eines Gemäldes von einem Bett und so weiter – stellt eine Abweichung der Wirklichkeit dar, einen Verlust metaphysischer Bestimmtheit. Kurz gesagt kann man nur auf einem dieser Betten liegen, was Sokrates bekanntlich tat, während er bei seinem »Gastmahl« über die Liebe sprach. Doch für Plato (der hier Sokrates als Sprachrohr benutzte) ist das wahre Bett genau jenes, auf dem man nicht liegen kann, nämlich die ideale Form des Bettes, oder das, was wir als »Bett« bezeichnen könnten. So interessant und faszinierend dieses »Bett« metaphysisch auch sein mag, so stellt es für Sie oder mich doch keine gute Alternative dar, einen Futon oder eine orthopädische Schaumstoffmatratze draufzulegen. Wie viel höher Platos Bett auf der Stufenleiter der Wirklichkeit im Vergleich zu den materiellen Betten auch rangieren mag, es wird Sie nicht tragen, wenn Sie sich einfach mal hinlegen wollen. Sokrates faulenzte manchmal auch auf einer Couch, denn das Wort für Bett bedeutet auf Griechisch auch Couch. Das betreffende Möbelstück im »Gastmahl« wurde sowohl für Gespräche als auch zum Schlafen verwendet – von der Verführung ganz zu schweigen: In einer Art antiker Vorwegnahme des modernen Paarungsrituals von Jugendlichen versuchte sich etwa Alkibiades Sokrates zu nähern, als die Nacht länger und das Licht schwächer wurde. Sokrates dagegen trieb sich meist zu Fuß am Athener Marktplatz herum, um seinen Gedanken über Gerechtigkeit und Tugend nachzugehen. Tatsächlich scheinen die Philosophen Aristoteles zuzustimmen – dem Begründer der Philosophierichtung, die heute als Peripatetische Schule bekannt ist –, dass Denken am besten beim Gehen gelingt. Der Philosoph in Iris Murdochs Roman »The Philosopher’s Pupil« kann nur denken, wenn er spazieren geht und dabei redet, und Nietzsche zufolge hatten bekanntlich nur die »ergangenen Gedanken« Wert. Doch ergangene Gedanken sind nur halb geformt, und auch Nietzsche musste sich irgendwo so lange hinsetzen, bis er sie niedergeschrieben hatte. Es lohnt sich, daran zu denken, dass wir weder von Nietzsches noch sonst jemandes Weisheit
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profitieren würden, wenn es nicht Stühle gegeben hätte, auf denen sie saßen, und Tische, an denen sie schrieben. Ludwig Wittgenstein lag bekanntermaßen jeden Tag auf einem mit Segeltuch bezogenen Liegestuhl in seinen Räumlichkeiten im King’s College in Cambridge, um seinen Gedanken nachzuhängen, die es an guten Tagen als Eintragung in seine Notizhefte schafften. Meistens saß er da und dachte nach und schrieb gar nichts oder stand am folgenden Morgen auf und zerknüllte, was er am Tag zuvor geschrieben hatte. Wittgenstein hätte auch einmal über den Liegestuhl selbst nachdenken sollen: Denn trotz jahrhundertelanger Bemühungen, die Philosophie vom Hals abwärts abzutöten, sind wir noch immer Gestalt gewordene Lebewesen mit einem Körperbau, der einer Stütze bedarf. Die Frage der Möbel ist also auf ihre Weise eine Frage über den Ort des Nachdenkens, den Schauplatz, wo das Denken vonstatten geht.1 Wenn wir der Zeit, die wir in einem Arbeitszimmer verbringen, Bedeutung beimessen, so ist es schon bemerkenswert, wie wenig Aufmerksamkeit dabei der Reflexion über die Bedingungen des Denkens selbst verwandt wird. Selbstverständlich gibt es wieder einmal einige schrullige Ausnahmen: Kierkegaard verbrachte viel Zeit damit – manche sagen zu viel –, über das Wesen seines Schreibtischs nachzudenken. Kierkegaard unterstreicht dabei unter anderem das gewisse romantische Interesse, das dem Tisch oder Schreibtisch entgegengebracht wird, an dem ein Werk verfasst wurde – ein Interesse, das zwar weit verbreitet ist, aber nicht oft kritisch untersucht wird. Hier könnte man auch an die von Jill Krementz unter dem Titel »The Writer’s Desk« zusammengestellten Fotografien denken, auf denen verschiedene Autoren/-innen des zwanzigsten Jahrhunderts an den Orten ihres Schreibens abgebildet sind: das kleine Regal von Joyce Carol Oates, die umgestaltete Altarvorrichtung von Saul Bellow, das Stehpult von Thomas Wolfe. Die auratischen Assoziationen, die der einfache Tisch von Charles Dickens, der Sägebock-Tisch von Tennessee Williams oder Pablo Nerudas bürokratischer Cadillac von Tisch auslösen, verweisen ebenso darauf, dass es lohnt, Möbel der philosophischen Betrachtung zu unterziehen, wie die besonderen Tintenflecken und eingeritzten Wörter eines speziellen Möbelstücks. Doch wie es angesichts einer besonderen Aura oft der Fall ist, machen uns diese Assoziationen blind für die wichtigere Frage, wie das Alltägliche und das Abgründige miteinander verbunden sind: Wie und warum 1 | Da es für dieses Argument von Belang ist, sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich diesen Aufsatz in mehreren unterschiedlichen Räumen geschrieben und verschiedene, eher durchschnittliche Möbelstücke verwendet habe, wie die Kopie eines Rollschreibtischs in meinem Arbeitszimmer zu Hause in Toronto, ein kleines, zweisitziges Sofa aus Kiefernholz mit Polstern in meiner Küche, eine zusammengeklappte Futoncouch in einer Loftwohnung im südlichen Manhattan und einen wackeligen, walnussfurnierten Tisch in einer winzigen Untermietwohnung im West Village. Einige Korrekturen habe ich sicher auch auf verschiedenen Flugzeugsitzen der Economy-Klasse in einer Höhe von zirka zehntausend Metern gemacht.
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beherbergt etwa ein bestimmtes Möbelstück gewisse Gedanken und nicht andere? Hätte Kierkegaard anders geschrieben, wenn er einen kleineren Tisch gehabt hätte? Welche Auswirkungen hat die Verbreitung von Laptop-Computern auf den Akt des Denkens – und besonders auf seine Übersetzung in Prosa? Der Romanautor Richard Ford sagte, er könne überall schreiben, in einem überfüllten Raum oder in der Abflughalle eines Flughafens; Raymond Carver zog als Büro angeblich sein abgestelltes Auto vor. Ist das wichtig bei der Frage, wie tiefsinnig Ford oder Carver (oder sonst jemand) denken kann? Denn schließlich ist das Denken gegenwärtig von besonderem Interesse. Das Interesse am Schreibtisch eines Schriftstellers konzentriert sich meist mehr auf die Autoren von Belletristik als auf die von Sachliteratur, insbesondere Philosophie – als ob sich die grazilen Gedankengebäude der Philosophie zwangsläufig noch weniger verkörpern lassen als die schmutzige Arbeit der Belletristik. Und dies wirkt sich dann vor allem dergestalt aus, dass das tägliche Leben von der Reflexion – als Weise oder Akt des Menschseins – ausgeschlossen wird. Was bedeutet es, zu denken? Wo und wie kann es – gut oder schlecht – stattfinden? Möbel nehmen Platz in Räumen ein, und die Räume, in denen Denken stattfindet, stellen ebenfalls ein Thema dar, das eine genauere Untersuchung wert ist. Montaigne, dieser menschlichste der großen Denker, ein Mann, der gewillt war, alles – von Tischmanieren angefangen über seine eigenen sexuellen Vorlieben bis hin zu Körperfunktionen – zu untersuchen, lässt sich ziemlich ausführlich über seine Bibliothek und deren Einrichtung aus. Es handelte sich dabei um einen kreisrunden Raum im dritten Stock eines Turms, der an einer Ecke seines Anwesens im Südwesten von Frankreich stand. Es gab drei Fenster, einen Schreibtisch, einen Stuhl und fünfreihige, in einem Halbkreis angeordnete Regale: Diese enthielten Montaignes Büchersammlung, die an die tausend Bände zu Philosophie, Geschichte, Religion und Dichtung umfasste. In diesem Raum, der über eine herrliche, ungehinderte Aussicht sowie über siebenundfünfzig passende, an die Holzdecke geschriebene Zitate seiner Lieblingsautoren verfügte, verbrachte Montaigne einen Großteil seines Lebens und die meiste Zeit des Tages. Bücher sind natürlich die wichtigsten Gegenstände in einer Bibliothek; wie der Romanautor Anthony Powell sagte, möblieren sie tatsächlich einen Raum. Pastor Sydney Smith, ein hochgebildeter und geistreicher Mann – er lese Bücher nicht, bevor er sie rezensiere, hat er einmal geschrieben, da er sonst so voreingenommen sei –, hat bekanntlich darauf hingewiesen, dass es keine so schönen Möbel gibt wie Bücher. Doch wie wichtig Bücher auch sein mögen, wir beziehen uns üblicherweise nicht auf sie, wenn wir über Möbel sprechen. Bücher, die lediglich als Einrichtung dienen – etwa meterweise aus Restbeständen aufgekauft, um eine protzige Bar oder einen Club auszustaffieren –, dienen nicht ihrem eigentlichen Zweck als Bücher: Denn Bücher sind dazu da, aufgeschlagen zu werden, jedenfalls irgendwann einmal. Auf der Suche nach einer reflektierenden Philosophie zu Möbeln sollten wir uns daher lieber auf grundlegendere Gegenstände konzentrieren: Tische, Stühle und andere Maschinen zum Denken.
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Seit Kurzem allerdings – insbesondere in den letzten etwa anderthalb Jahrhunderten – ist eine umfangreiche Literatur über die Theorie des Designs entstanden, inklusive des Möbeldesigns. Einiges dieser Literatur ist ausgezeichnet, manches unsinnig – und das meiste ist fast völlig unverständlich. Aber das ist es ohnehin nicht, was ich unter einer Philosophie der Möbel verstehe. Designtheorie besteht hauptsächlich in der Übertragung der Prinzipien ästhetischer Beurteilung von einem Bereich, dem der Schönen Künste, auf einen anderen, dem der Angewandten Künste. Doch sagt das noch immer wenig darüber aus, welche Rolle Möbel im Leben der Menschen spielen, oder über die tiefer liegenden Grundsätze, die wir die »Möbelidee« nennen könnten. Ich bin zwar nicht in der Lage, in dieser Situation allein Abhilfe zu schaffen, aber ich möchte doch ein paar Worte darüber verlieren, was passiert, wenn wir anfangen, uns Gedanken über Tische und Stühle als Maschinen zum Denken – als wesentliche Stütze des zutiefst menschlichen Unterfangens der Reflexion – zu machen. Auf besondere Weise ist dies eine Reflexion über die Tätigkeit der Reflexion – und über die Orte, an denen diese Reflexion stattfindet. Möbel sind ein Mittel zu diesem Zweck, der, wie wir sehen werden, auch ein Selbstzweck ist. Glücklicherweise gibt es einen Aufsatz mit dem Titel »The Philosophy of Furniture«: Er wurde im Mai 1840 in einer Zeitschrift namens »Burton’s Gentleman’s Magazine« veröffentlicht, doch ist er weder von einem Philosophen geschrieben noch handelt er im eigentlichen Sinne von Philosophie – und zudem geht es darin auch nicht wirklich um Möbel. Als sich Edgar Allan Poe hinsetzte (bekanntlich wissen wir nicht, wohin oder worauf), um ein paar Gedanken über Möbel zu verfassen, interessierte er sich in erster Linie für den Ausstattungsgeschmack und nicht für die Möbelidee. Die »Philosophie der Einrichtung« – so der deutsche Titel – beginnt mit der Feststellung, dass verschiedene Nationen verschiedene Dekorationsstile haben. Die Spanier bevorzugten schwere Vorhänge, die Franzosen seien jedoch zu unstet, um etwas auf häusliches Dekorum zu halten, die Chinesen (und die meisten der östlichen Völker) besäßen eine lebendige, aber hier unangemessene Phantasie – und so weiter. »Allein die Yankees sind geschmacklos«, sagt Poe, und fährt damit fort, die Auswüchse des unvermeidlichen Konsums einer Nation bloßzustellen, die eher von Geld als von Geschmack regiert werde: »Kurzum, der Preis eines Möbelstücks ist bei uns im Lauf der Zeit zum nahezu einzigen Maßstab seines Wertes in dekorativer Hinsicht geworden«, beklagt sich Poe, »und dieser Maßstab hat, einmal gesetzt, den Weg zu vielen analogen Irrtümern bereitet, die sich leicht auf die eine, anfängliche Torheit zurückführen lassen.«2 Dabei gäbe es eine grundlegende Verwechslung von Pracht und Schönheit, argumentiert Poe,
2 | Edgar Allen Poe: »Philosophie der Einrichtung«, in: Werke (1966ff.), 4 Bde., Bd. IV: Gedichte. Drama. Essays. Marginalien, Olten, Freiburg i.Br. 1973, S. 299307, hier S. 299f.
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und dies führe die Amerikaner zu dem, was wir heute als dumme Modetorheiten beschreiben können: »Gerade Linien herrschen übermäßig vor: sie verlaufen allzu lang ohne Unterbrechung – oder werden plump-rechtwinklig unterbrochen. Wo es zu geschwungenen Linien kommt, wiederholen sie sich in unangenehmer Eintönigkeit. Durch unzuträgliche Präzision wird das Bild mancher schönen Wohnung völlig zerstört.« 3
Während Poe in diesem Ton fortsetzt, gewinnt er allmählich den selbstgewissen, leicht hysterischen Gesprächston eines Fernseh-Kommentators von Haus- und Gartenshows. Er spricht viel und gebietend über schlechte Fenstergestaltung und unpassende Stoffe und fällt viele strenge Urteile über jemandes schreckliche Beistelltische oder schlecht gewählte Farbkombinationen. »Die Seele der Wohnung ist der Teppich«, verkündet Poe: »Ein Richter des Bürgerlichen Rechts kann ein durchschnittlicher Mensch sein; ein guter Beurteiler eines Teppichs dagegen muß einfach ein Genie sein. Und doch hörten wir, wie sich über Teppiche […] Leute äußerten, denen man nicht einmal die Betreuung ihres eigenen Schnurrbarts anvertrauen sollte oder könnte.« 4
Türkische Teppiche seien, merkt er an, »Geschmack im Todeskampf«, während Blumenmuster »im Bereich der Christenheit nicht länger geduldet werden« dürften. Gezwungenermaßen müssen wir uns fragen: War Poe der erste schwule Innenarchitekt? Seine eigene ideale Wohnung beschreibt Poe als Gegenbeispiel zu all den Ausschweifungen an Glitzer und Spiegeln und übertriebenen Vorhängen. Er drückt sich explizit über die Verträumtheit dieses Raumes aus, seine traumähnliche Anziehungskraft: »Eben jetzt ist unserem geistigen Auge ein kleines und nicht aufwendiges Zimmer gegenwärtig, in dessen Ausstattung sich kein Makel findet. Sein Besitzer liegt schlafend auf einem Sofa hingestreckt […]: wir wollen während seines Schlummers eine Skizze des Zimmers anfertigen.« Nach unseren Maßstäben ist dieses Zimmer noch immer über die Maßen hübsch, doch Poes Botschaft der Zurückhaltung ist zeitlos. Seine Beschreibung verdient es, ausführlich zitiert zu werden: »Zwei breite niedrige Sofas aus Rosenholz und goldgeblümter karmesinroter Seide bilden die einzigen Sitzgelegenheiten, ausgenommen zwei leichte Causeusen, gleichfalls aus Rosenholz. Dann noch ein Pianoforte (ebenfalls aus Rosenholz), ohne Decke und geöffnet. Ein achteckiger Tisch, ganz aus dem reichsten goldgeäderten Marmor, steht in der Nähe des einen Sofas. Auch er hat keine Decke – den Faltenwurf der Vorhänge hielt man für ausreichend. Vier große prachtvolle Sèvres-Vasen, in denen eine Fülle duftender und farbenfroher Blumen blüht, nehmen die leicht gerundeten Ecken des Zimmers ein. […] Einige leichte und elegante Hängeborde mir vergoldeten Kanten, karmesinroten Seidenkordeln und goldenen 3 | Ebd., S. 301. 4 | Ebd.
T ISCHE , S TÜHLE UND ANDERE M ASCHINEN ZUM D ENKEN Quasten tragen zwei- oder dreihundert prachtvoll gebundene Bücher. Und mehr an Mobiliar ist nicht vorhanden, wenn wir von der Argandlampe mit ihrem glatten, karmesingetönten Milchglasschirm absehen; sie hängt an einer einzigen dünnen goldenen Kette von der hochgewölbten Decke herab und verbreitet über alles einen ruhigen, doch zauberischen Glanz.« 5
Keine Frage, ein schönes Zimmer! Ein Zimmer, das sich für die Arbeit, aber auch für Gespräche eignet, ein Ort, an dem jemand ein Buch schreiben, einen Freund empfangen oder eine Liebesaffäre fortsetzen könnte. Kurz gesagt, ein Ort zum Denken und Träumen und zum Menschsein. Wir mögen über die Details von Poes Geschmack geteilter Meinung sein – ich persönlich hätte gerne etwas weniger Purpur und Gold –, aber wir können an seinen Absichten nichts aussetzen. Dennoch und wie bereits erwähnt handelt es sich hierbei nicht wirklich um Philosophie. Es fehlt noch etwas, nämlich die Berücksichtigung des »eigentlichen Konzepts« von Stuhl oder Tisch. Andererseits liegt die Schwierigkeit darin, dass die Philosophie offenbar übersieht, was Poe weiß – nämlich dass es auf die Details ankommt: dass es einen Unterschied gibt zwischen einer Vase aus Sèvres und einem Produkt von Ikea; dass Palisander schöner ist als Kiefernholz; dass zu viele Spiegel einen Raum verunstalten. Anders ausgedrückt: Irgendwo zwischen der »Schöner Wohnen« und Platos asketischem »Staat« liegt das unerforschte Gebiet einer wahren Philosophie der Möbel. (Was die metaphysische Veranschaulichung betrifft, so könnte Sokrates’ Bett ja genauso gut ein Boot oder ein Pferd sein.) Wenn berühmte Philosophen tatsächlich einmal über Möbel schreiben, dann tun sie dies meist als Akt der Vernichtung. In seinem Buch »Meditationen über die Grundlagen der Philosophie« erwähnt Descartes zum Beispiel das Arbeitszimmer, in dem er sitzt, einschließlich des Stuhls, den er verwendet, um behaglich beim Feuer zu sitzen, und des Tischs, auf dem seine Schreibutensilien liegen. Man möge uns verzeihen, wenn wir nun annehmen, dass uns diese löbliche Beschäftigung mit den Bedingungen des Nachdenkens auch einen Einblick in das Verhältnis zwischen Möbel und Reflexion verschafft. Doch das trifft nicht wirklich zu: Descartes beschäftigt sich damit lediglich deshalb, um ein Gefühl für seine unmittelbare Umgebung zu vermitteln, um seinem Denken eine Struktur hinzuzufügen – einem Denken, das in einem Anfall radikalen Zweifels tatsächlich die sofortige Zerstörung der konkreten Existenz dieser Umgebung zur Folge hat. Descartes interessiert sich dafür, das Beweismaterial seiner Sinne zu sondieren; er glaubt, wir können nichts mit Sicherheit wissen. Daher beginnt er beim griffigsten Beweis, nämlich den Dingen um ihn herum – und dann fährt er in forschen Schritten fort, zu beweisen, dass er nicht weiß, was er zu wissen glaubt. In der Tat, so läuft es meistens in der Philosophie, besonders in der Folge von Descartes: Eine Fülle nichtssagender Möbel wird im Streben nach einer post-skeptischen Wahrheit zerstört. Der moderne Philosoph lernt tat5 | Ebd., S. 307.
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sächlich zu fragen: »Ist das, was ich vor mir sehe, ein Stuhl?« Wir nehmen den Stuhl wahr, doch die Existenz des Stuhls wird sofort angezweifelt. Der Stuhl selbst könnte genauso ein beliebig anderes Objekt der Sinnesorgane sein. Und auch wenn der Stuhl das Lieblingsobjekt ist, spielt es keine Rolle, um welchen Stuhl es sich handelt. Es wird nicht innegehalten, um einen Eames von einem Gehry oder um einen originalen Lehnstuhl im amerikanischen Missionsstil von einem Versandimitat zu unterscheiden. Für die Einübung dieses Taschenspielertricks brauchen die Möbel gar nicht differenziert zu werden, sie bilden nur eine Reihe von exemplarischen MakroObjekten, die gerade verfügbar sind und eher unbewusst dem Bedürfnis nach der vollständigen und wahrhaften Erkenntnis der Welt in den Dienst gestellt werden. Wie der rebellische Philosoph Stanley Cavell einmal scharfsinnig bemerkte, ist der verschwundene Tisch des Skeptizismus immer lediglich ein »Tisch«, niemals ein vergoldeter Sekretär im Stile Louis XV. Dies sollte uns zu denken geben, sagt Cavell, denn es zeigt die Merkwürdigkeit – die Künstlichkeit – der Frage der Philosophen nach der Erkenntnis. Die Frage ist zu allgemein, zu weit gefasst, als dass sie wirklich sein könnte; die Gewissheit und Allgemeingültigkeit, die sie zu versprechen scheint, der Heilige Gral aller modernen Erkenntnistheorien, ist genauso irreführend wie bedenklich. Wir täten besser daran, schlägt Cavell vor, unseren erdgebundenen Interessen nachzugehen. Den meisten normalen Menschen bedeutet es viel, ob der Stuhl vor uns ein gut restauriertes Artdéco-Stück ist oder lediglich etwas aus billigem Kiefernholz. Doch in der kartesianischen Philosophie taucht diese Art von Problem nie auf. Möbelstücke verschwinden, sobald sie auftauchen, und wir erfahren nichts Interessantes über sie. Sie sind lediglich praktische, unspezifische Requisiten, die nur zu dem einen Zweck auftauchen – um routinemäßig in erkenntnistheoretischen Versuchen zerstört zu werden. Dies wiederum schafft eine paradoxe Situation, und ich möchte einen Moment innehalten, um sie zu untersuchen, da sie sowohl die Philosophie als auch die Möbel betrifft: Das Paradox besteht im Allgemeinen darin, dass die Möbel vernichtet werden – diese müssen aber konkret da sein, damit der Vorgang des Verschwindens stattfinden kann. Descartes musste an einem bestimmten Ort sitzen, musste auf etwas Bestimmtem sitzen, um den kühnen Schritt zu machen, alles im Allgemeinen anzuzweifeln. Was er aber letzten Endes nicht anzweifeln konnte, ist die Handlung seines eigenen Denkens: Er denkt, daher ist er. Doch der springende Punkt ist für mich der, dass er nicht einmal das ohne einen Stuhl tun konnte. Die eigentliche Frage – die von der Philosophie nicht gestellte Frage – lautet nämlich in Wirklichkeit: Wozu dienen Möbel? Die Antwort scheint so naheliegend zu sein, dass es die Fragestellung nicht wert ist; doch eines der Dinge, die man als Philosoph lernt, ist, dass die offensichtlich klingenden Fragen üblicherweise die interessantesten sind. Hier ist eine mögliche Antwort: Möbel dienen dazu, darauf zu sitzen, zu liegen, zu schlafen und Dinge abzustellen. Wir könnten diese Antwort unter »Funktionalismus« verbuchen, und sie nähert sich auch durchaus
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schon einer brauchbaren Auffassung der Möbelidee an, wenn wir das Thema noch etwas zuspitzen: Der Funktionalismus betrachtet Möbel in der Tat als eine Erweiterung des menschlichen Vermögens, physische Aufgaben zu vollenden. So äußert sich etwa Marshall McLuhan folgendermaßen über das Verhältnis zwischen Möbeln und dem menschlichen Körper in seinem Buch »Counterblast«: »Ein Stuhl drückt die Form des menschlichen Gesäßes aus. Die hockende Position wird in eine neue Materie ›übersetzt‹, nämlich Holz oder Stein oder Stahl. Die temporäre Anspannung des Hockens wird übersetzt und in einer neuen Materie fixiert. Das Fixieren der menschlichen Körperhaltung in fester Materie erspart viel Mühe und Anstrengung. Dies trifft für alle Medien und Werkzeuge und Technologien zu. Doch Stuhl bewirkt, dass zugleich etwas anderes passiert, das ohne einen Stuhl nie auftreten würde. Ein Tisch wird geboren. Tisch ist eine weitere Äußerung oder Verlängerung von Körper, die aus Stuhl resultiert. Die durch Stuhl neu fixierte Haltung ruft eine neue Neigung von Körper hervor und neue Bedürfnisse zum Platzieren von Werkzeugen und dem Zubereiten von Essen. Doch Tisch verlangt auch nach einer neuen Anordnung von Personen bei Tisch. Die Fixierung der Körperhaltung in einem Stuhl löst eine ganze Reihe von Folgen aus.« 6
Oder, wie es Burt Bacharach und Hal David eleganter ausdrückten: »A chair is still a chair, even when there’s no one sitting there.«7 Man beachte aber, wie McLuhan zuvor von »Stuhl«, »Tisch« und »Körper« spricht, als ob dies Eigennamen oder selbstständige Wesen wären, Kategorien eher als Dinge. Man achte auch auf den bei dieser Art von Funktionalismus implizierten Kausalzusammenhang: Wir hocken, daher brauchen wir Stühle; wir haben Stühle, daher brauchen wir Tische; wir haben Tische, daher brauchen wir Gedecke. Das ist nicht falsch. Als Menschen anfingen, an Tischen zu essen, eröffneten sich ihnen neue Perspektiven der sozialen Komplexität. Die Tischmanieren wurden zum Thema, ebenso die Fähigkeit zu Konversation bei Tisch. Fleisch vor anderen zu tranchieren wurde in der Renaissance zum Thema zahlreicher Handbücher für Kavaliere – und ruft auch heute noch bei so manchem Schwiegersohn Panikattacken hervor anlässlich des Wochenendbesuchs bei den Schwiegereltern. In jüngster Zeit wurde die Kunst, ein perfektes Abendessen zu geben, eine bürgerliche Obsession, die im dritten Jahrzehnt der Herrschaft von Martha Stewart8 noch immer keine Anzeichen von Rückläufigkeit erkennen lässt. Der Funktionalismus trifft also eine gewichtige Aussage: Möbel tau6 | Marshall McLuhan: Counterblast, Toronto 1969, S. 39. 7 | Textzeile aus dem Song »A House is not a Home« von Burt Bacharach und Hal David, der 1964 zuerst von der amerikanischen Sängerin Dionne Warwick interpretiert wurde. 8 | Martha Stewart ist eine prominente amerikanische Fernsehpersönlichkeit und gilt gemeinhin als »beste Hausfrau Amerikas«; für eine jüngere Generation von Amerikanern ist sie allerdings eher der Inbegriff des Biedersinns (Anmerkung der Herausgeber).
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chen zur Lösung gewisser Probleme auf, als Möglichkeit, unterschiedliche menschliche Tätigkeiten zu unterstützen – nur um während des Gebrauchs zahlreiche weitere neue Aufgaben zu schaffen. Er bringt auch gänzlich neue ästhetische Fragen hervor, wie uns Poe in Erinnerung bringt. Jede ebene Oberfläche innerhalb bestimmter Abmessungen, von der Decke abgehängt oder in einer bestimmten Höhe über dem Boden errichtet, kann als Tisch betrachtet werden. Auf diese Art und Weise würde ein Philosoph – sei er es wirklich oder nur dem Namen nach – über Tische und Stühle reden. Individuelle Eigenschaften werden auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, durch ihre Einheitlichkeit mit einem vorgegebenen Design zusammengefasst oder anderen Induktionen untergeordnet, die sich aus naheliegenden Gründen auf eine Gattung von so oder so gestalteten Objekten anwenden lassen – in diesem Fall wäre ein guter Grund etwa eine Kombination kultureller und physikalischer Faktoren, die »um darauf zu sitzen« zur Folge haben. Doch die Angelegenheit hier ruhen zu lassen, würde bedeuten, einer banalen Version der kartesianischen Möbelzerstörung auf den Leim zu gehen: Hier sind alle Tische gleich, denn sie sind alle nur Erweiterungen unserer instrumentellen Aufgaben und körperlichen Ausmaße. Dies verkennt aber einen wichtigen Aspekt von Tischen. Ein guter Tisch – einer, der es wert ist, besessen zu werden – ist nicht bloß eine nützliche Oberfläche oder Requisite; er muss auch eindrucksvoll, schön, elegant und originell sein – oder eine Kombination all dessen. Das sind keine funktionellen Vorzüge, sondern ästhetische. Doch wie es so oft der Fall ist, wenn es um Eigenschaften geht, können ästhetische Überlegungen nicht gänzlich oder einfach von den Themen der Funktionalität getrennt werden. Jeder gute Designer weiß, dass eine glatte, auf Hochglanz polierte Holzoberfläche ebenso ästhetisch wie funktionell ist – je nach Geschmack ebenso sich verjüngende Beine, Fußstützen, S-förmige Linien, hohe gerade Rücken und Liegesitze. Bemerkenswerterweise ist der schönere Gegenstand meist auch der nützlichere Gegenstand. Man nimmt oft an, Funktionalismus und Ästhetizismus stünden auf Kriegsfuß, doch es wäre wohl präziser, anzunehmen, dass sie sich in kreativer Spannung miteinander befinden. Selten gibt es ein Möbelstück, das über gar keinen ästhetischen Ausdruck verfügt, wie streng man den Maßstab auch anlegt. Wahrscheinlicher – aber immer noch selten – ist da schon ein Stück, bei dem die Ästhetik die Funktionalität komplett aus dem Feld geschlagen hat, und viele von uns hatten in dieser Hinsicht vermutlich schon ein Beinahe-Erlebnis, etwa bei Stühlen, die so schön sind, dass sie einen jeden Augenblick zu Boden zu werfen drohen. So weit kommen üblicherweise die meisten Leute, wenn sie über die Möbelidee nachdenken, doch es bleibt natürlich noch viel darüber zu sagen. Möbel sind dazu da, um Dinge zu tun und um schön zu sein; aber sie können auch der Verkörperung und Erhellung bestimmter politischer Ideen dienen. So führt Karl Marx in »Das Kapital« einige Erkenntnisse über den Charakter der Ware an, indem er sozusagen einige Dinge auf den Tisch legt: »Eine Ware«, schreibt er,
T ISCHE , S TÜHLE UND ANDERE M ASCHINEN ZUM D ENKEN »scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, alltägliches Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Geheimnisvolles an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf, und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.« 9
Fast scheint es, als entwickle Marx hier noch seltsamere Gedanken als nur Tanzbewegungen, aber er meint ganz einfach, dass der materielle Gegenstand nun zum Träger einer nicht-materiellen Bedeutung wird, einer ideologischen und sozialen Bedeutungslast. »Ware« ist dabei nicht ein anderer Begriff für »Ding«, sondern ein anderes Wort für »Relation«. Aus diesem Grund sind Funktionalismus und Ästhetizismus, auch wenn sie zusammen betrachtet werden, nicht imstande, uns alles zu sagen, was es über einen Tisch oder einen Stuhl in Erfahrung zu bringen gibt. Auch der einfachste Stuhl bleibt immer ein Produkt der Arbeit von jemandem und wurde vor dem Hintergrund komplexer sozialer Beziehungen, die großteils durch Geld dominiert werden, erworben oder hergestellt. Jeder Tisch, vom einfachsten Do-it-yourself-Bausatz bis zum edelsten handgefertigten Stück von Heidi Earnshaw10, erzählt eine Geschichte darüber, wer was besitzt. Seit Jahrhunderten stellen Möbel ebenso wie Kleidung, Frisuren, Freunde, Freizeitbeschäftigungen und persönliche Transportmittel – prominente Beispiele aus Erving Goffmans »Wir alle spielen Theater« – eine Möglichkeit dar, seinen Platz in der komplexen Hierarchie sozialer Beziehungen mitzuteilen. Genauer gesagt fungieren sie als das, was Thorstein Veblen als Erster »neidvoller Vergleich« durch »demonstrativen Konsum« bezeichnete. Aus Veblens verbitterter Sicht geht es bei solchen Äußerungen nicht immer um das, worum es sich zunächst zu handeln scheint. Oberflächlich betrachtet erwecken die Möbel eines Landhauses oder eines Apartments den Eindruck, auf komplizierte Weise verschlüsselte Botschaften des persönlichen Geschmacks beziehungsweise Raffinesse oder Vornehmheit zu vermitteln – und tatsächlich können diese semiotischen Codes durchaus in einer bestimmten Wirklichkeitserfahrung verankert sein. Doch im Grunde genommen werden solche Gegenstände gekauft und demonstrativ zur 9 | Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867/1873), Berlin 1932, S. 83. 10 | Heidi Earnshaw ist eine kanadische Möbeldesignerin aus Toronto, die vor allem in Nordamerika für hochwertige handgefertigte Möbel bekannt ist (Anmerkung der Herausgeber).
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Schau gestellt, um – mitunter ziemlich präzise – auf den Grad des Wohlstands und das durchschnittlich verfügbare Jahreseinkommen hinzudeuten. Wie der Kritiker Adam Gopnik angemerkt hat, ist Veblen bei der Reduktion von Ästhetik auf ökonomische Aspekte noch viel unbarmherziger als Marx. Nachfolgend ein typischer Satz des Altmeisters der Konsumanalyse: »Die höhere Befriedigung, die Gebrauch und Betrachtung teurer und angeblich schöner Dinge verschaffen«, schreibt Veblen, »ist im allgemeinen nichts anderes als die Befriedigung unserer Vorliebe für das Kostspielige, dem wir die Maske der Schönheit umhängen.«11 Woran auch immer Bobo-Rebellen gern glauben möchten, Geschmack ist historisch gesehen in den überwiegenden Fällen nur ein anderes Wort für Status. Möbel können politische Aussagen auch auf weniger offensichtliche Weise zum Ausdruck bringen, was uns eine neue Beziehung zum Funktionalismus erschließt. Als Beispiel sei hier eine Szene aus Don DeLillos Roman »Weißes Rauschen« angeführt, in der der Erzähler, ein Professor mittleren Alters, der sich mit Studien über Hitler beschäftigt, einige Studierende erblickt, die verstreut in der Bibliothek seiner Universität sitzen; er schätzt den Wert ihrer Studiengebühr auf 14.000 amerikanische Dollar – beim Wert des Dollars von 1985 –, um an dieser Elite-Institution zu studieren: »Ich habe das Gefühl, daß ein Zusammenhang besteht zwischen dieser gewaltigen Summe und der Weise, in der die Studenten sich in den Lesezonen der Bibliothek physisch arrangieren. Auf breiten gepolsterten Bänken sitzen sie in verschiedensten linkischen Haltungen, die eindeutig darauf abzielen, Erkennungszeichen einer Verwandtschaftsgruppe oder Geheimorganisation zu sein. Die Haltungen sind: fötal, gespreizt, x-beinig, gebeugt, quadratisch verknotet, manchmal fast kopfüber. Sie sind so einstudiert, daß sie einer klassischen Pantomime nahekommen. Sie enthalten ein Element von Überkultiviertheit und Inzucht. Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich in einen fernöstlichen Traum geraten bin, zu fern, um interpretierbar zu sein, und doch ist es nur die Sprache der wohlhabenden Klasse, die sie sprechen, in einer ihrer zulässigen äußeren Formen […].«12
Diese eingeübte Gleichgültigkeit, diese überdrehte Geringschätzung der normalen Verwendungsweise, die einem Stühle und Tische eigentlich abverlangen, ist mehr als nur jugendliche Unbeholfenheit. Tatsächlich verbirgt die demonstrativ vorgeführte Nachlässigkeit nur einen hohen Grad an Behaglichkeit – die Gewissheit nämlich, zu verstehen, wie die Dinge laufen, und eine enge Vertrautheit mit den geheimen Mechanismen des Vorrechts: Nur die wirklich Privilegierten können so unbefangen herumlungern; nur sie können sich über Möbel drapieren, als ob die Möbel gar nicht für den menschlichen Körper gemacht worden wären.
11 | Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen (1899), Frankfurt a.M. 2007, S. 130. 12 | Don DeLillo: Weißes Rauschen (1985), München 2006, S. 55.
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Alle diese Aspekte sind ein Teil von dem, was ich die Möbelidee genannt habe, doch es gibt zumindest noch eine weitere Bedeutungsebene, die sich in Tischen und Stühlen finden lässt, und ich möchte diese Ausführungen mit ein paar Worten darüber beschließen. Tische und Stühle bringen uns nicht einfach nur dazu, über Funktion, Form oder Politik nachzudenken; sie liefern nicht nur einfach eine nützliche Bühne für unsere eigenen Gedanken. Sie bringen uns auch dazu, über das »Denken« selbst nachzudenken. Dies geschieht nur dort, wo Tische und Stühle ihren angemessenen Platz einnehmen, nämlich in Räumen. Und es passiert, wie es James Agee so berührend in »Preisen will ich die grossen Männer« ausdrückte, weil selbst der einfachste Raum die ergreifende Anmut des menschlichen Lebens und des täglichen Strebens besitzt. So beschrieb Agee die traurigschönen Häuser der Farmpächter in den Südstaaten, die er und der Fotograf Walker Evans so mitfühlend und verständig untersucht hatten: Die Platzierung und Anordnung stummer Einrichtungsgegenstände auf dem bloßen Fußboden empfand er als schöner und mit größerem Erstaunen als jegliche Musik. Überlegen Sie, warum das so ist. Möbel strukturieren den Raum und machen aus etwas Undifferenziertem etwas Bedeutungsvolles. Ich stelle eine Couch in einen leeren Raum und er bekommt eine neue Bedeutung: Die Atmosphäre flirrt allein schon aufgrund der Möglichkeit zu Gesprächen, einem Nickerchen oder der Verführung. Die abwesenden Darsteller der verschiedenen menschlichen Ereignisse, die dieser Raum erlebt hat und weiter erleben wird, werden durch die menschlichen Dimensionen der Couch und ihrer dauerhaften Einladung, sich darauf niederzusetzen oder sich hinzulegen, wie bei einer Geisterbeschwörung unverzüglich hervorgerufen. Doch darüber hinaus bewahrt die Couch in ihrer Platzierung die Möglichkeit, selbst irgendwo anders hingestellt zu werden: Jeder Standort eines Möbelstückes verweist auf all die anderen Standorte, die im Augenblick nur übergangen wurden. Wir alle sind mit diesem großartigen Aspekt von Möbeln vertraut, auch wenn wir nicht bei jeder Gelegenheit kundtun, wenn – oder warum – ein Stuhl sonderbar oder nicht optimal platziert ist. Das Klischeebild, auf das ich hier hinaus will, ist wahrscheinlich das eines launischen Hausmütterchens, das die erschöpften Möbelpacker beim Umzug in die neue Wohnung das Sofa mit dem massiven Eichenholzrahmen probeweise an jeden erdenklichen Ort hinstellen lässt, um es schließlich genau dort wieder platzieren zu lassen, wo es gleich zu Beginn stand. Dieses Bild ist überholt und wohl auch beleidigend; ich glaube aber, dass uns allen dieser Impuls, Möbel umzugruppieren, mehr oder weniger eigen ist. In Eugene lonescos Stück »Die Stühle« treten zum Beispiel Personen auf, die dem Bühnenbild immer mehr Stühle hinzufügen und dabei jedes Mal die Möglichkeiten (und Krisen) der existentialistischen Situation neu gruppieren und arrangieren. Mir scheint, wir tun dies permanent – körperlich oder geistig –, denn wir halten ständig Ausschau nach einer neuen Art und Weise, den uns zur Verfügung stehenden Raum zu strukturieren, um das Beste aus ihm rauszuholen. Effektiv versuchen wir neue Bedeutungsgefüge zu schaffen, um anders denken zu können – und auf neue
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Gedanken zu kommen. Natürlich können wir auch scheitern, es richtig zu machen; dann ist das Möbelschleppen vergeblich, oberflächlich, reine Ablenkung; sprichwörtlich stellen wir dann nur die Liegestühle auf der Titanic um.13 Werde ich zu abstrus? Ich glaube nicht. Möbel machen einen Raum aus, und Räume sind die Orte, wo sich die meisten von uns die meiste Zeit über aufhalten (Büros sind schließlich auch Räume). Wie diese Räume eingerichtet sind, welche Stücke sie möblieren und gestalten, bedingt zu einem Großteil, welche Gedanken dort möglich sind. Das ist keineswegs nur eine Sache für so was wie Feng Shui, obwohl gerade das durchaus eine gründliche und altehrwürdige Art ist, mit dieser Angelegenheit umzugehen. Aber nehmen wir etwas, das für die meisten von uns weniger exotisch ist: die Möbel in unserem eigenen Schlafzimmer neu zu gruppieren, oder einfach nur zu beobachten, wie sich die Möbel mit dem Licht verändern. In »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« befasst sich Proust mit den nebligen Gedanken frühmorgens, wenn wir, wie er sagt, dem experimentellen Umstellen der Möbel im morgendlichen Halbschlummer nachgeben. In »Die Wellen« beschreibt Virginia Woolf, wie das Morgenlicht auf den Baum vor ihrem Fenster trifft und ein Blatt durchscheinend macht und dann ein weiteres. Zu Mittag färbt das Licht die Hügel grau, wie rasiert und angesengt nach einer Explosion. Im ausklingenden Nachmittag schwanken und biegen sich Tische und Stühle in Ungewissheit und Unklarheit. Und am Abend gewinnen dieselben Möbel wieder ihre Stabilität und erscheinen in die Länge gezogen, geschwollen und ominös. Bei Anbruch der Dunkelheit schließlich verliert die Festigkeit der Hügel an Substanz und die Welt wird wieder ausgelöscht. Auf vergleichbare Weise kann auch der Stil der Möbel selbst traumhaft sein, was in Tischen und Stühlen resultiert, die zu Tagträumen anregen. Charles Baudelaire beschreibt in seinem Gedichtband »Der Spleen von Paris« einen solchen Raum als den idealen Ort zum Denken. In einer »Präfiguration des Jugendstils«, schreibt Walter Benjamin darüber, »entwirft Baudelaire ›une chambre qui ressemble à une rêverie, une chambre véritablement spirituelle… Les meubles ont des formes allongées, prostrées, alanguies. Les meubles ont l’air de rêver; on les dirait doués d’une vie somnambulique, comme le vegetal et le mineral.‹«14 13 | Ein irritierendes, zeitgenössisches Echo dieses Gedankens finden Sie auf einer Website namens www.furnitureporn.com (Juni 2010), auf der Fotos von Garten- und Büromöbeln zu sehen sind, die zu verschiedenen zweideutigen Szenen gruppiert sind. Sie werden Ihren Bürosessel nicht mehr unvoreingenommen betrachten können! 14 | Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk (1927-1940), 2 Teilbde., in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt a.M. 1991, Bd. V/2, S. 687. Benjamin zitiert Baudelaires Prosagedicht »La chambre double« aus »Le Spleen de Paris« von 1868 (posthum); dt.: »Ein Zimmer gleich einer Träumerei, ein Zimmer von wirklich geistigem Leben […]. Die Möbel längen sich aus, verdehnen sich. Die Möbeln scheinen zu träumen; sie scheinen mir geheimnisvollen Lebens voll, den Pflanzen gleich und dem Ge-
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Und was für den Stil im Allgemeinen gilt, kann auch auf ein bestimmtes Möbelstück zutreffen: Gaston Bachelard konzentriert sich in »Die Poetik des Raumes« auf die Schlupfwinkel in den Ecken, jenen Teil der Räume, in denen, wie er sagt, sich Träume bündeln und sammeln dürfen. Er bevorzugt ebenfalls diejenigen Möbelstücke, die Raum umschließen und dabei Innenbereiche schaffen: »Gibt es einen Worte-Träumer, der beim Wort armoire – Schrank – nicht einen inneren Klang empfände?«, fragt er. »Jeder Dichter der Möbel – und wäre es ein Dachstubendichter ohne Möbel – weiß instinktiv, daß der Innenraum eines alten Schrankes tief ist. Der Innenraum des Schrankes ist Intimitätsraum, ein Raum, der sich nicht jedem Beliebigen auftut.«15 Nicht alle intimen Räume sind offensichtlich. Ich selbst habe zum Beispiel Zuflucht im unfassbaren Innenraum des Wäschesackes unserer Familie gesucht, wo die Schmutzwäsche darauf wartete, zur Waschmaschine gebracht zu werden. Ich dachte immer, das sei eigenartig, bis ich dahinterkam, dass mein bester Freund das ebenfalls machte, und ich in Salman Rushdies »Mitternachtskinder« den Bericht eines weiteren Kindes las, das – wohl aus besseren Gründen – Zuflucht im Wäschekorb suchte. In einem solchen Raum, mit solchen Ausblicken und Träumen, die in unserer Vorstellung lebendig werden, sind Möbel nicht mehr etwas, worauf man nur sitzen kann; sie sind nicht mehr die erhöhte Oberfläche, auf die wir unsere Werkzeuge legen und auf der wir Mahlzeiten einnehmen. Möbel sind hier stattdessen eine Einladung zum Denken und Träumen, ein Herbeiwinken möglicher Einfälle und noch ungestalter Ahnungen. Wir sitzen alle irgendwo, wenn wir denken, und Stühle stützen uns, während wir an Schreibtischen an unseren Gedanken feilen. Doch viel wichtiger ist, dass die Gegenstände, auf denen wir sitzen und an denen wir schreiben, selber denkende Dinge sind; nicht nur Instrumente, die uns dabei helfen, Arbeiten zu erledigen, sondern Aspekte des Humanen, deren Präsenz Gedanken impliziert. Der Versuch des Gedankens, seine eigenen Bedingungen zu denken, ist, wie Kant uns in Erinnerung ruft, unendlich und schlussendlich unmöglich: Wir können uns nicht in unserer eigenen Reflexion begreifen. Aber wir können und müssen diese unendliche Aufgabe dennoch angehen – und Möbel sind ein bislang vernachlässigtes, aber essentielles Mittel, dies zu tun. Ordnen Sie also die Möblierung Ihrer Ideen neu, indem Sie an denkende Möbel denken. Die Räume unseres Lebens pulsieren mit Gedanken, die nur darauf warten, sich abzuspielen, mit Einsichten, die sich an das ständig wechselnde Licht emporkämpfen. Irgendwo ist es gerade später Nachmittag, die Mittagssonne hat ihr langes Schwinden in die Dunkelheit begonnen. Oder es ist früher Morgen und der Sonnenaufgang erhellt wieder einmal langsam und auf wundersame Weise die Welt. Für einen langen steine.« (Übersetzung von Max Bruns [1901], in: Charles Baudelaire: Gesammelte Schriften, 6 Bde., Dreieich 1981, Bd. 1, S. 112.) 15 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes (1957), Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1975, S. 108f.
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Augenblick fällt das schwache Licht schräg auf die vertrauten Dimensionen der Couch, auf der Sie gerade noch Ihr Nickerchen gemacht haben, oder auf den Nachttisch, der nur einen Moment – eine kaum kalkulierbare Zeitspanne – zuvor noch unsichtbar war. Im fahlen Licht von Sonnenauf- oder -untergang erscheinen die Möbelstücke verändert, ungewohnt, ein wenig bedrohlich – fast lebendig. Der nahe Armstuhl hat die Ausstrahlung wohlüberlegten Draufgängertums gewonnen, als ob er zur Tat bereit wäre. Das Schreibpult daneben steht in einer Haltung, die das geduldige Ertragen Ihrer vielen Fehler ausdrückt. Der Tisch glüht vor burschikoser Vorfreude. Nun schwindet das Licht noch mehr, und die Formen beginnen ihre Ausdehnung zu verlieren – sie schwanken und lösen sich auf. Oder aber das Licht nimmt unmerklich zu bis zu seiner größten Helligkeit an diesem Tag, und die Formen nehmen eine ganz neue Deutlichkeit an, eine verlockende Festigkeit. Halten Sie inne und lauschen Sie. Hören Sie gut zu. Horchen Sie auf den Klang, mit dem die Maschinen zum Denken Ihnen ihre Gedanken zuflüstern. Sie wispern von Liebe und Tod und verlorener Ehre. Sie singen von gutem Essen und fröhlichen Freunden und von Kunst, die Sie berührt. Sie begrüßen Ihre Leistungen und lindern Ihren Schmerz. Sie stützen Sie, wenn Sie sich nicht mehr halten können. Sie balzen und flöten und summen. Sie bilden die Grundtöne des Lebens. Hören Sie sie?
Dem Text »Tables, Chairs, and other Machines for Thinking« liegt ein Vortrag auf der Jahreskonferenz der Furniture Society of America 2000 in Toronto (Kanada) zugrunde; zuerst veröffentlicht wurde er in: Queen’s Quarterly Bd. 108, Nr. 2 (Sommer 2001), S. 169-187. Die deutsche Übersetzung von Karoline Ruhdorfer für diesen Band basiert auf der Ausgabe: Mark Kingwell: Practical Judgements. Essays in Culture, Politics, and Interpretation, Toronto, Buffalo, London 2002, S. 229-247.
Schreibtischporträts Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge Sabine Mainberger
E INLEITUNG : S ELBSTBESCHREIBUNG , P OE TOLOGIE UND ENUMER ATIVE P R AK TIKEN Meine Ausführungen halten sich an die in den Wörterbüchern als zweite genannte Bedeutung des Wortes »Sekretär«, an die des Schreibmöbels.* Hochragende, elegant geformte, bisweilen prachtvoll ornamentierte Architekturen mögen einem dabei in den Sinn kommen, Konstruktionen mit unzähligen Fächern, mit Klapp-, Zieh- oder gar Rollmechanismen, Bauten, die ihr labyrinthisches Inneres sorgsam vor dem Zugriff Nichtautorisierter bewahren. Derartige Gebilde sind ein Interieur im Interieur; sie repräsentieren stolz nach außen und staffeln im Innern die Räume ins Kleine und Tiefe, wo sie das unbekannte Intime bewahren: die Briefe. Als Schreibmöbel des Schriftstellers oder der Schriftstellerin umgeben und bergen sie den allen entzogenen, unfassbaren Ursprung des schöpferischen Tuns; das literarische Schreiben an ihnen ist eine geheimnisvolle sichtbar-unsichtbare Tätigkeit. Sekretäre dieser Art sind inzwischen Raritäten. Ort und Gegenstand des Schreibens sind meist nüchterner, oft nicht weniger, aber in anderer Weise repräsentativ, auf jeden Fall aber funktionaler und ergonomisch sinnvoller konstruiert. Bei literarisch Schreibenden war der Sekretär dieser Bauart sowieso selten der Platz ihrer täglichen Arbeit.1 Sie benutzten und benutzen in der Regel schlichtere Möbel. Und was an ihnen stattfindet, unterscheidet sich entsprechend von dem, was jene Gebilde suggerieren. Der Ort moderner literarischer Produktion ist der Schreibtisch – was auch immer als solcher dienen mag. Einen zu haben, und wenn möglich * | Die noch nicht publizierte Habilitationsschrift von Annegret Pelz: Tischszenen. Inszenierung und Verobjektivierung des Schreibens in der Moderne (2003) war mir nicht zugänglich. 1 | Vgl. dazu z.B. Marbacher Magazin Nr. 74 (= Vom Schreiben H. 4: Im Caféhaus oder Wo schreiben?) (1996).
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den richtigen, stellt für professionell Schreibende keine geringe Sorge dar, stehen dem Besitz eines solchen und dem Sitzen daran doch immer wieder unzählige Hindernisse entgegen. Aber wer einen hat, schreibt nicht nur gern an ihm, sondern auch gern über ihn. Autorinnen und Autoren berichten von ihrem Tisch, widmen ihm Elogen, räsonieren über ihn, inszenieren und stilisieren ihn. Er ist nicht nur die materielle Grundlage des Schreibens im wörtlichen Sinne, sondern auch das Identifikationsobjekt schlechthin: der Ort der alltäglichen Lust und Fron, der Triumphe und Niederlagen. Vor allem aber ist er die Produktionsstätte, der Ort, wo Literatur »fabriziert« wird. Auf diesen ausgezeichneten Ort, genauer auf einige wenige Schreibtische von Schriftstellern, richtet sich im Folgenden das Interesse. Sie werden allerdings nicht dort aufgesucht, wo sie wirklich standen oder immer noch stehen, sondern dort, wo sie von den Inhabern selbst – wenn auch nicht, ohne dies zugleich zu hintertreiben – monumentalisiert wurden: in Texten der jeweiligen Autoren. Nicht die Arbeitsplätze und Gegenstände, die man zeichnen oder photographieren und in Bildbänden zusammentragen kann,2 sind das Thema, schon gar nicht die Wallfahrtsorten gleichenden betretbaren Arbeitszimmer berühmter Verstorbener, sondern Texte von Schreibenden über den Schreibtisch, den eigenen oder auch den einer als Alter Ego auftretenden literarischen Gestalt. Äußerungen zu diesem Thema erfolgen etwa auf Anfragen und erscheinen in Zeitungen oder als Reihe von Interviews in Buchform.3 Sie finden sich in Tagebüchern und Briefen, aber auch als Passagen in Romanen oder Erzählungen; es gibt sie ausgearbeitet zu mehr oder weniger fiktionalisierten autobiographisch-essayistischen Texten4 oder als mimetische Reste in 2 | Vgl. außer Marbacher Magazin Nr. 74 (wie Anm. 1) aus der Vielzahl der Publikationen etwa auch Peter Krumme: Der (bisweilen) leere Stuhl. Arbeitsplätze von Schreibenden, Frankfurt a.M., Berlin 1986; Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche, München 1998. Der Centre Georges-Pompidou hat Vergleichbares über französische Autoren auf Videokassetten herausgebracht. 3 | So z.B. die von Peter Härtling 1960 für das Feuilleton der Deutschen Zeitung durchgeführte Befragung von 21 Autorinnen und Autoren; vgl. Marbacher Magazin Nr. 74 (wie Anm. 1), S. 59. Der im Folgenden kommentierte Text von Arno Schmidt war eine der Antworten. Vgl. z.B. auch Jean-Louis Rambures: Comment travaillent les écrivains, Paris 1978, oder Koelbl 1998 (wie Anm. 2). 4 | Berühmt sind die Beispiele aus den Tagebüchern und Romanen Kafkas; vgl. dazu z.B. Gerhard Neumann: »Schreibschrein und Strafapparat. Erwägungen zur Topographie des Schreibens«, in: Günter Schnitzler u.a. (Hg.): Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann zum 60. Geburtstag, München 1980, S. 385401, besonders S. 390-397. Er kommentiert hier auch Texte und Textstellen von Stifter und Goethe, die allerdings in eine andere Richtung gehen. Ein Selbstporträt am Schreibtisch gibt dagegen Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch. An Herrn G.R.P. in D., Leipzig 1799. Dazu sowie zu weiteren vergleichbaren Beschreibungen von Frauen im 19. Jahrhundert vgl. Annegret Pelz: »Der Schreibtisch. Ausgrabungs-
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Schreibweisen, denen es nicht mehr um ein Schreiben über oder von etwas zu tun ist und die gerade darum in den Dingen des Schreibens einen letzten Gegenstand finden. Texte über Schreibtische können Einblicke in die Werkstatt gewähren, in die Fabrik, ins Labor, in die Küche, und das sonst Verborgene zugänglich machen. Wenn sie das tun, ist das nicht nur von biographischem Interesse, es enthält vielmehr eine Aussage über Literatur, Autorschaft und Schreiben: Denn die Genese eines oder des Werkes offenbaren heißt Literatur entmystifizieren. Mit dieser Geste bekennen Schreibende sich zu einem depotenzierten Kunst- und Selbstverständnis: zum Arbeiten mit Hilfsmitteln und Vorgaben, zur Bedeutung von Archiv, Bibliothek, Zettelkasten oder zum Rekurs auf heteronome Regeln und Formzwänge. Sie erklären derart ihre Produktion zu einer sekundären und unoriginären, was nicht heißt unoriginellen. Zugleich zeigen sie, dass sie zu dem Schriftstellertyp gehören, der sein Bild in den kleinen Schreiberlingen findet, in den Kopisten und anderen Subalternen im großen Unternehmen der Buchproduktion. Es ist ein ironisches Bild, oft mit komischen oder grotesken Zügen, unpathetisch, doch darum nicht ohne Ernst.5 Texte über den Ort des Schreibens sind in diesem Sinn Methodologie und Poetik und zugleich Reflexionen zum Ort – zum Stand-Ort – der Literatur. Aber noch mehr: Als Selbstpräsentationen von Schreibenden bewegen sie sich irgendwo zwischen historischem Dokument und Fiktion oder Dichtung. Sie sprechen sowohl aufrichtig wie kokett, bekennerisch wie mythisierend, verdunkelnd wie exhibitionistisch. Art und Ausmaß der Stilisierung unterscheiden sich je nachdem, ob es sich um Paratexte, Werkteile oder eigenständige Werke handelt; sie unterscheiden sich auch von Fall zu Fall, die Ambivalenz aber bleibt. Das berechtigt – und zuweilen verpflichtet es sogar – dazu, Schreibtischporträts zumindest auch als Literatur zu lesen. Vier Tische, vier Texte werden hier in Augenschein genommen: Arno Schmidts »Der Platz, an dem ich schreibe« (1960), Georges Perecs »Notes concernant les objets qui sont sur ma table de travail« (1976), eine Passage aus Hermann Burgers Roman »Brenner« (1989) und Francis Ponges »La Table« (entstanden 1967-1973, veröffentlicht zuerst 1981). Gemeinsam ist ihnen nicht nur die für dieses Genre typische Mischung aus Autobiograort und Depot der Erinnerungen«, in: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, hrsg. von Magdalene Heuser, Tübingen 1996, S. 233-246. 5 | Vgl. dazu Sabine Mainberger: Schriftskepsis. Von Philosophen, Mönchen, Buchhaltern, Kalligraphen, München 1995, sowie dies.: »Zwei Korrektoren und ein Spitzel oder Erzählungen von Eulenaugen, der Farbe Graugelb und einer Schlange, die sich lieber nicht in den Schwanz beißt. Zu Texten von George Steiner, Wolfgang Hilbig und José Saramago«, in: Ästhetik des Politischen – Politik des Ästhetischen, hrsg. von Karlheinz Barck/Richard Faber, Würzburg 1999, S. 221-236. Neben Einzelstudien findet sich in Schriftskepsis (und ergänzt in dem genannten Aufsatz) eine ganze Liste von Texten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in der diese Gestalt eine Rolle spielt. Zur Bedeutung der Imago des monastischen Schreibers für das Selbstverständnis von Schreibenden in und zwischen Philosophie und Literatur vgl. ebd.
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phischem, Fiktionalem bzw. Poetischem und Essayistischem, sondern auch eine Eigentümlichkeit der Schreibweise und Textstruktur: Sie verfahren alle auf die eine oder andere Weise enumerativ.6 Das liegt – außer bei Ponge – zunächst an der Deskription des Ortes bzw. Gegenstandes und – bei allen vieren – am Bezug zu Fragen des Gedächtnisses, des kollektiven und des persönlichen. Grundsätzlich spielt in den Schreibweisen von Schmidt, Perec, Burger und Ponge das Aufzählen und Auflisten eine wesentliche Rolle. Texte über Schreibtische lassen daher erwarten, dass sie wesentliche Eigenarten des jeweiligen Schreibens und eben auch den Gebrauch von Aufzählungen reflektieren. Zwischen der enumerativen Praxis und dem Schreibtisch als Fabrikationsort der Literatur und zugleich Metonymie des Schreibens besteht, so ist zu vermuten, mehr als eine nur kontingente Verbindung. Diese aber wird im Rahmen der verschiedenen Poetiken auf je andere Weise geschaffen. Die Kommentierung der Texte hier folgt nicht der Chronologie, denn es soll nicht um eine Entwicklungslinie im Selbstverständnis von Autoren oder in Schreibweisen der 1960er bis 1980er Jahre gehen. Die Schreibtischporträts sind vielmehr in eine Konstellation gebracht, in der sie sich als verschiedene Antworten auf ein gemeinsames Problem lesen lassen. Zwischen ihnen zeigen sich Beziehungen der Komplementarität, der Abwandlung und der Wiederholung. Sie sind, könnte man sagen, einander familienähnlich. Die Eigenart jedes einzelnen aber mag gerade in einer derartigen Konstellation umso schärfer hervortreten.
I. B ÜCHERK ATALOG MIT M ONDAUFGANG . A RNO S CHMIDT : D ER P L AT Z , AN DEM ICH SCHREIBE Arno Schmidt hat seine Antwort auf die Aufforderung, von seinen Schreibgewohnheiten zu berichten, unter eine Leitfrage gestellt, genauer, seinem Text geht, typographisch als Motto gesetzt, ein Dialog voran: »MEFISTA, (in männlicher Tracht; Faust präsentierend): …: der Herr ist Autor. SORBIN, (jung, 15=jährig, in anmutig gebrochenem Deutsch): Was iest ain ›Au=torr‹? MEFISTA, (rasch gefaßt): Ein Autor ? : ist Derjenige, dem ›ein Stock im Petticoat‹ beim Anblick dessen einfällt, wozu ein Leser zeitlebens ›Schirm‹ sagt. (ARNO SCHMIDT, Faust, IV. Teil, Szene 16)«7 6 | Generell zu diesem Verfahren vgl. Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin, New York 2003. Kataloge, Listen u.Ä. hat unlängst Umberto Eco populär gemacht: Vgl. Umberto Eco: Die unendliche Liste, München 2009; zur Kritik daran vgl. Felix Philipp Ingold: »Aufzählen, klassieren, abhaken. Poetologische Erwägungen am Leitfaden der Unendlichen Liste von Umberto Eco«, in: Recherche Nr. 4 (2009), S. 26-27. 7 | »Der Platz, an dem ich schreibe«, entstanden 9-11.10.1960, erschien am 26.11.1960 in der Deutschen Zeitung; vgl. Anm. 3. Ich zitiere hier nach Arno Schmidt:
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Die Frage nach der Bestimmung des Autorseins wird also in komischer Brechung, aber im Kern traditionell beantwortet: Autorsein definiert sich durch Gebrauch und Invention von Metaphern, durch eine von der alltäglichen abweichende Sprache, durch Figuralität – wenn auch in einer besonderen Spielart: Wie die Metapher aus Jean-Paulschem Geist zeigt, ist kombinatorischer Witz gemeint. Der Text selbst expliziert das jedoch nicht; er gibt eine ganz andere Antwort: die mit der Deskription des Schreibtischgebiets. Schmidt berichtet von einem endlich seinen spezifischen schriftstellerischen Bedürfnissen optimal angepassten Arbeitsplatz. Dieser entspricht seinen Verfahren, den räumlichen Gegebenheiten und nicht zuletzt seinen beschränkten ökonomischen Mitteln. Der Schreibtisch ist »eine dicke Sperrholzplatte […] 2 x 2 Meter«, aus deren einer Ecke »ein Viertelkreis, Radius 1 Meter 20, herausgesägt« und die in eine Ecke unter der schrägen Wand seines Dachzimmers eingelassen wurde. Die Schreibfläche bildet derart »ein Hölzernes Meer von 3 Quadratmetern!«. Die Übergröße ist notwendig für Zettelkästen und Mappen, vor allem aber für die um den Schreibenden im Viertelkreis herum aufgestellte »Tisch=Bibliothek«. Ihre Beschreibung ist das Kernstück von Schmidts Text. Dieser ist wie der Tisch selbst schlicht gefasst, das heißt er besteht im Wesentlichen aus einer Bücherliste mit kommentierenden und assoziativen Bemerkungen. Von der Aufzählung zweigen sie als kleinere und größere Digressionen ab, und von diesen gehen wiederum weitere aus. Die obersten Rubriken der Tischbibliothek sind, in strenger Unterscheidung, zwei Abteilungen: der »feste« und – Schmidt entschuldigt sich für den Ausdruck – der »fließende« Bestand. Unter dem »festen« sind hier zu verstehen englische und amerikanische Wörterbücher, zum Beispiel »der WEBSTER von 1854«, Geschichts- und Handatlanten, der »THESAURUS LOGARITHMORUM mit seinen 10 Dezimalen«, Brümmer komplett, Kürschner von 1908 und 1924, ein Handbuch der Pilzkunde, begründet ausgewählte Literaturgeschichten, desgleichen in ihrer Auswahl gerechtfertigte Konversationslexika und nicht zuletzt die »›Namensquellen‹«, »das Register des ›Hannoverschen Staatshandbuches für 1839‹« und der »›Regenhardt; Geschäftskalender für den Weltverkehr, 1927‹«. Sie insbesondere begleitet eine längere Zwischenbemerkung. Unter dem »fließenden« Bestand ist das zu verstehen, was das jeweilige »Groß=Thema« erfordert, also Schefer oder Hippel, Lukian oder Karl May, öfter der »Ulysses«, oder andere. Zur apparativen Ausstattung des Arbeitsplatzes gehören des Weiteren Mappen, Bleistifte und der Zettelkasten – einem Foto nach sind es deren mehrere –, darin zwei Typen von Karteikarten, deren Maße mit Schmidt’scher Akkuratesse notiert werden: »37,16 mal 52,56« und »74,33 mal 52,56 Millimeter«. Damit ist die Inventarisierung zumindest des Tischterritoriums vollständig, das Schema der einfachen Aufzählung aber freilich auch schon im Mäandern der Digressionen aufgelöst. In ihnen lässt Der Platz, an dem ich schreibe. 17 Erklärungen zum Handwerk des Schriftstellers, hrsg. von Bernd Rauschenbach, Bargfeld, Zürich 1993, S. 101-109.
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sich der Autor Schmidt vernehmen: fachmännisch, wenn nicht gar besserwisserisch, und schnodderig. Die Deskription der Tischbibliothek mündet in den Ausdruck des Bedauerns, dass ein zweckfreies, nicht gleich wieder aufs Produzieren zielendes Lesen ihm gar nicht mehr möglich ist: Das Lesen steht nurmehr im Dienst des Schreibens – wie der spezielle Schreibtisch im Dienst der Bücher und der ganze Text gewissermaßen in dem der Bücherliste. In der Mikrowelt dieses Arbeitsplatzes gibt es nur Lesen und Schreiben. Selbst das einzige Requisit, das nicht Schreibmaterial und Schrift ist, wird umgehend in dergleichen verwandelt: der Mond. Er gehört unabdingbar auch zu dieser Dachstube und zu den optimalen Bedingungen des Schreibens. Wenn sich das Poetengestirn im Giebelfenster zeigt, erscheint es hier jedoch nicht als Inspirator, sondern kaum gesichtet, kaum erwähnt, steht es statt weiß auf schwarzem Himmel schon schwarz auf weißer Karteikarte. »… 1 bleiches molkichtes Gesicht durch’n Kronsberg=Wald…« Die Aufzählung der Bücher gibt der Selbstpräsentation des Schriftstellers Schmidt die charakteristische Form: Die Nennung der Kurztitel und Gattungen und die explikativen, aber zugleich emotionalen Zwischenbemerkungen lassen in den scheinbar lose hingeschriebenen Seiten einen Texttyp erkennen, den sie transformieren: »Der Platz, an dem ich schreibe« ist, pointiert gesagt, die Travestie einer wissenschaftlichen Gattung: des catalogue raisonné. Die Literaturgeschichte kennt satirische und komische Bücherkataloge, nicht zuletzt von Schmidts literarischen Ahnen wie Rabelais, Fischart, Swift oder Joyce. Sie sind eine der vielen Arten, in denen Literatur und Wissenschaft fusionieren. Oft dienen sie dazu, fehlgehende, tote Gelehrsamkeit zu verspotten, im 20. Jahrhundert meist dazu, vorgeblich verlässliche Erkenntnis unsicher und fragwürdig erscheinen zu lassen. Schmidt setzt sich in seinen Romanen und Erzählungen vielfach mit Ansprüchen, Leistungen und Gefahren der Wissenschaften auseinander. Sie sind für ihn die große Herausforderung; die Literatur sucht zu ihnen (wie auch zur Technik) den engsten Kontakt, und sie konkurriert mit ihnen als die dimensionsreichere Variante eines aufklärerischen Habitus. So auch hier: Der kleine Gelegenheitstext gibt ein Beispiel dafür, wie Schmidt Wissenschaft und Literatur in der Praxis des Schreibens ins Verhältnis setzt. Seine kommentierte Bibliographie erweist der fachüblichen Disziplin Reverenz und verstößt zugleich gegen ihre Regeln, um die Bücherliste mehr und anderes als verdichtete Information sein zu lassen – hier ein poetologisches Selbstporträt. Titelkataloge und Bibliotheksbeschreibungen in oder als literarische Texte stellen immer eine Reflexion auf die Bücherwelt dar. Sie zeigen das eigene Werk als Knoten im riesigen Netz der Intertextualität. Schmidt praktiziert ein derartiges Literaturverständnis allenthalben. Seine Texte sind literarische Palimpseste; sie übersetzen, zitieren, borgen und übernehmen im großen Stil – unter bestimmten Voraussetzungen rechtfertigt er auch das Plagiat –, kurz: schreiben heißt hier abschreiben, überschreiben, umschreiben. Dazu bekennt sich Schmidt, indem er öffentlich Rechenschaft
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ablegt über die ihm beim Schreiben zur Hand stehenden Bücher. Schreiben ist hier eine hybride Fortsetzung des Lesens – bezeichnenderweise findet dieses bei Schmidt so gut wie immer am Tisch statt –, und das verändert wiederum das Lesen. Zu seinen dringenden Wünschen im Hinblick auf andere Autoren gehört denn auch zu wissen, was sie »[a]lles so gelesen haben«; überhaupt sollte seines Erachtens »[ j]eder berufsmäßig Bücher Erzeugende« ein »Verzeichnis seiner Bibliothek«8 hinterlassen. Seine eigene Erhebung zum Klassiker vorwegnehmend, sorgt Schmidt dafür, dass die Nachwelt über seine Bücher und Lektüren informiert wird – freilich nur, wie es schriftstellerischen Selbstoffenbarungen eigen ist, im Rahmen eines Spiels von Vorzeigen und Verbergen; so kokettiert er zum Beispiel mit dem Hinweis auf die Unvollständigkeit der genannten Quellen. In jedem Fall aber präsentiert »Der Platz, an dem ich schreibe« den Tisch des Autors als Kreuzungspunkt und Durchgangsort vieler Bücher. Auf Schmidts Tisch treffen sie sich ebenso wie in seinen Schriften, wo die katalogischen Werke und Listen immer wieder eine Hommage erhalten: Schmidts Protagonisten und Alter Egos befassen sich leidenschaftlich mit ihnen, ja kennen, wie Walter Eggers in »Das Steinerne Herz«, bei der Jagd auf dieses Objekt der Begierde keine Skrupel. Auf dem Schreibtisch sind die Quellen präzisen Wissens zur Hand: Das Wohlsortierte, übersichtlich Geordnete, tendenziell vollständig Archivierte steht bereit – nicht zuletzt zur regelwidrigen Verknüpfung, zur sorgfältig inszenierten Kollision. Denn nicht erst die literarische Formulierung, die unkonventionelle Tischgesellschaft ist – einmal von außen gesehen – selbst schon ein kombinatorisches Produkt: Pilzkunde, Literaturgeschichte, Thesaurus Logarithmorum: »Neulich erschrak Einer, als er Jules VERNE so neben Gustav FRENSSEN sah…«9 Eine Bücher- und Papierwelt, ein stolz leidender intellektueller Schwerarbeiter, der Mond – das allein stellte in dieser Beschreibung des Arbeitsplatzes schon die Verbindung zu einer weit berühmteren her: zu der von Fausts Studierzimmer. Doch die Beziehungen dazu sind ebenso weitreichend und ambivalent wie Schmidts ganzes Verhältnis zu Goethe. In mehr als einer Hinsicht ist dieses Schreibtischporträt ein Vexierbild zu demjenigen Fausts an seinem Pult; nur eine davon sei hier markiert: Faust, der Hypergelehrte, verzweifelt an der Fülle des Wissens, das doch nicht zum einen Innersten der Welt führt; dem Helden des »Vierten Teils« dagegen scheint die Welt im Innersten zerfallen. Aber um wenigstens ein Daseinsmosaik zu gestalten, ergibt er sich gerade nicht der Magie, wie es die populäre Meinung von Dichtern erwartet, sondern unterwirft sich der Disziplin von Wissenschaft und Technik. Der Künstler, mit dem er sympathisiert, ist der »Meßkünstler«;10 er will Topograph seiner Zeit sein, und wenn etwas 8 | Arno Schmidt: »Meine Bibliothek«, in: Schmidt 1993 (wie Anm. 7), S. 125139, hier S. 133 und 138; kursiv im Original. 9 | Schmidt 1993 (wie Anm. 7), S. 105. 10 | Vgl. den Brief von Carl Friedrich Gauß an Alexander von Humboldt, der dem Titelessay als Motto vorangestellt ist, in: Arno Schmidt: Aus Julianischen Tagen, Frankfurt a.M. 1987, S. 50.
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auf ihn magisch wirkt, dann sind es »Karten, Zahlenkolonnen, Namenslisten von Staatshandbüchern«11 . Damit aber hätte Mefista die neue Gretchenfrage freilich nicht beantworten dürfen …
II. L EERER TISCH – VOLLER TISCH ODER O RDNUNG UND G ESCHICHTE . G EORGES P EREC : N OTES CONCERNANT LES OBJETS QUI SONT SUR MA TABLE DE TRAVAIL
Georges Perec hat des Öfteren über Schreibtische nachgedacht und dieses Thema in mehrere Richtungen verfolgt. In der einen sucht er ausgehend von den Büroausstattungen nach einer Typologie der Mächtigen: Anhand ihrer Büros, in einer Art soziologischer Physiognomik, sollen die Inhaber erkennbar werden.12 Eine andere Richtung ist die Beobachtung des eigenen Schreibtisches; sie gehört zu Perecs großem autobiographischen Unternehmen, das eines seiner Arbeitsfelder bildet. Diese beiden Weisen, Schreibtische zu befragen, befassen sich vereinfacht gesagt mit zwei Arten des Gegenstandes: Der Tisch der Generaldirektoren, Finanzmagnaten, Staatschefs und so weiter, der Tisch, von dem aus Macht ausgeübt wird, der sie ausstrahlt und repräsentiert, ist der leere Tisch. An ihm wird nicht gearbeitet; er weiß seit langem nichts mehr von la bure, von dem das Wort bureau stammt, dem groben braunen Wolltuch für Tischabdeckungen und Mönchskutten, vom Stoff des Büßertums und der Askese. Alle Arbeit ist vielmehr delegiert, und eigentlich ist der Schreibtisch selbst überflüssig. Er oder auch das ganze Büro der Autoritäten ist seinem Wesen nach leer, realiter aber gibt es freilich immer eine ganze Menge Gegenstände, von der Hightech-Ausstattung zur Kommunikation über Bücher in Ledereinband und Kunst an der Wand bis hin zum Punchingball des Jung-Dynamischen. Doch diese Dinge sind alle nur Zeichen: Very Important People signalisieren damit, dass sie Very Important People sind. Soweit Perec. Der andere Tisch ist der volle, ja mit Gegenständen überladene Tisch. Perecs persönlicher braucht diesen Zustand sogar, denn er besteht aus einer auf Metallböcke aufgelegten Glasplatte und ist daher instabil. Er steht in deutlichem Gegensatz zur »Stahlfestung« (»fort-
11 | Arno Schmidt: »Herrn Schnabels Spur« (1956); zit. nach: Ders.: Nachrichten von Büchern und Menschen 1. Zur Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1977, S. 28-57, hier S. 49. 12 | Vgl. Georges Perec: »Le Saint des Saints«, in: Ders.: L’infra-ordinaire, Paris 1989, S. 89-95; dt.: »Das Allerheiligste«, in: Ders.: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler, Bremen 1991, S. 77-82. Eine Bemerkung zu dieser Art Schreibtische gibt es allerdings auch schon in: Ders.: »Notes concernant les objets qui sont sur ma table de travail« (1976), in: Ders.: Penser/Classer, Paris 1985, S. 17-23; dt.: »Anmerkungen hinsichtlich der Gegenstände, die auf meinem Schreibtisch liegen«, in: Ders.: In einem Netz gekreuzter Linien, Bremen 1996, S. 15-20.
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eresse d’acier«)13 eines Generaldirektors. Dieser meist volle Tisch ist nicht nur der Ort von Perecs Schreiben, sondern auch ein dafür paradigmatischer Gegenstand. Perec berichtet von einem vergleichsweise vielfältigen Umgang mit seinem Schreibtisch. Er räumt ihn öfter ab und säubert die Platte und die Dinge darauf; er nimmt jedes einzeln in die Hand und stellt es wieder hin – oder auch nicht. Dieses Ordnung-Machen fällt in bestimmte, wenn auch nicht geregelte Zeiten: meist an den Anfang oder das Ende einer Arbeit, in die »unsicheren« Tage, in denen der Schriftsteller nicht recht weiß, was und wohin. Er sucht Halt und findet ihn im Aufräumen und OrdnungMachen. Die Arbeit an diesem Tisch findet in Gegenwart aller möglichen Dinge statt, die jedoch – ein Gegensatz zu Schmidt – beileibe nicht alle mit der Arbeit zu tun haben. In einem Moment des Jahres 1976 sind es folgende: »Une lampe, un coffret à cigarettes, un soliflore, un pyrophore, une boîte de carton qui contient des petites fiches multicolores, un grand encrier de carton bouilli à incrustations d’écaille, un porte-crayons en verre, plusieurs pierres, trois boîtes en bois tourné, un réveil, un calendrier à poussoir, un bloc de plomb, une grande boîte à cigares (vide de cigares, mais pleine de petits objets), une spirale d’acier dans laquelle on peut glisser des lettres en attente, un manche de poignard en pierre polie, des registres, des cahiers, des feuilles volantes, de multiples instruments ou accessoires d’écriture, un grand tampon-buvard, plusieurs livres, un verre plein de crayons, une petite boîte en bois doré«.14
Puristisch, ohne alle Umschweife zählt Perec die Dinge auf, bis er sich plötzlich unterbricht. In so einem Fall möchte man – und auch er – »usw.« schreiben, doch da stutzt er: »[…] justement, un inventaire, c’est quand on n’écrit pas etc.«15 Nicht eine Impression, die sich der Leser nach Maßgabe eigener Erfahrung und Phantasie ergänzt, möchte er hier geben, sondern – ganz positivistisch, faktizistisch – ein Inventar, dessen, was da ist.
13 | Perec 1985 (wie Anm. 12), S. 18; dt.: Perec 1996 (wie Anm. 12), S. 16. 14 | »Eine Lampe, eine Zigarettendose, eine Distel, ein Rauchverzehrer, eine Pappschachtel, die kleine, bunte Karteikarten enthält, ein großes Tintenfaß aus Pappmaché mit Hornverzierungen, ein Bleistifthalter aus Glas, mehrere Steine, drei Schachteln aus gedrechseltem Holz, ein Wecker, ein Schubladenkalender, ein Bleiklumpen, eine große Zigarrenkiste (ohne Zigarren, aber voller kleiner Gegenstände), eine Stahlspirale, in die man unbeantwortete Briefe stecken kann, der Griff eines Dolches aus poliertem Stein, Register, Hefte, fliegende Blätter, mannigfaltige Instrumente oder Schreibutensilien, ein großes Löschkissen, mehrere Bücher, ein Glas voller Bleistifte, eine kleine Dose aus vergoldetem Holz.« Perec 1996 (wie Anm. 12), S. 18. 15 | »[…] eine Bestandsaufnahme ist es ja gerade dann, wenn man nicht usw. schreibt.« Ebd.
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Die Liste der Dinge auf Perecs Schreibtisch gibt einen Zustand in einem bestimmten Augenblick wieder. Eine andere im gleichen Jahr veröffentlichte verzeichnet teils die nämlichen, teils andere Gegenstände, ohne dass darin jedoch ein Prinzip, etwa eine Zweiteilung in bleibende und wechselnde Dinge oder Ähnliches, zu erkennen wäre.16 Bei Perec ist vielmehr auch der »feste« Bestand nur eine Modifikation des »fließenden«. Keineswegs stehen die Dinge auf seinem Tisch als Manifestationen von sachkundigem Urteil und begründbarer Entscheidung, sondern nur wenige befinden sich darauf überhaupt mit Absicht und Sinn. Manche versetzt nur der Zufall an diesen ihnen fremden Ort, wie die Heckenschere oder den Zollstock; manche bringen vorübergehende Bedürfnisse dahin, wie die Kaffeetasse. Die einen bleiben nur wenige Minuten da, andere einen ganzen Tag, wieder andere mehrere Tage, noch einmal andere so gut wie immer. Einige erfüllen einen Zweck im Zusammenhang des Schreibens, andere dienen Zwecken jenseits davon, wieder andere, die nützlich wären, fehlen, Klebstoff etwa, noch einmal andere sind völlig funktionslos. Alle zusammen bilden sie keine Sammlung, sondern eine Ansammlung; sie sind da – weil dem Schreibtischinhaber daran liegt, dass sie da sind.17 Dementsprechend formieren sie sich auch nicht ordentlich geometrisch auf der Fläche, und die Bestandsaufnahme gerät nicht zum Katalog mit System, sondern zur bunten Liste des jeweiligen Augenblicks. Derartige Inventare oder ähnliche Aufzeichnungen des Schreibtischzustandes aber wären ein Instrument beim Versuch, die Geschichte einiger Dinge auf dem Arbeitstisch zu schreiben – es ist eines von Perecs Projekten; in den »Notes« berichtet er von einem dazu geschriebenen Anfang und vergleicht, was von den darin genannten Dingen nun noch auf seinem Tisch steht. Die Dinge dieser Geschichte sagten etwas über ihren Benutzer und Chronisten, zeugten sie doch von dessen Vorlieben.18 Die Aufzeichnungen wären Querschnitte durch das alltägliche Magma, derart, dass jeweils andere Muster zum Vorschein kämen. Ihr Vergleich aber ermöglichte etwas wie eine Archäologie der Gewohnheiten und Mechanismen und damit eine besondere Art der Erinnerung und der autobiographischen Selbstkonstitution. Der Tisch, auf dem sich Veränderungen manifestieren, an dem Zeit und der Flux des Lebens sich zeigen, ist der volle, der überladene Tisch. Er bildet den Gegensatz zum leeren, dem Emblem der Macht – doch nicht nur. Perec ist nicht der erste Schreibtischbeschreiber, der weiß, dass der 16 | Vgl. Georges Perec: »Douze regards obliques« (1976), in: Perec 1985 (wie Anm. 12), S. 43-58, hier S. 58; dt.: »Zwölf Seitenblicke«, in: Perec 1996 (wie Anm. 12), S. 34-45, hier S. 45. Der deutsche Übersetzer Eugen Helmlé hat Perec hier verbessert, indem er am Ende der Liste das ›etc.‹ weggelassen hat. Ansonsten hat er variierend übersetzt, so dass am Vergleich der deutschen Texte die wörtlichen Übereinstimmungen z.T. nicht deutlich werden. 17 | Vgl. Perec 1985 (wie Anm. 12), S. 19; dt.: vgl. Perec 1996 (wie Anm. 12), S. 17. 18 | »une certaine histoire de mes goûts«; Perec 1985 (wie Anm. 12), S. 23; dt.: »eine gewisse Geschichte meiner Vorlieben«; Perec 1996 (wie Anm. 12), S. 20.
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persönliche, meist unordentliche mit dem offiziellen, aufgeräumten viel zu tun hat, ja dass es in Wirklichkeit gar nicht zwei Tische sind, die es in verschiedenen Fragerichtungen zu untersuchen gilt, sondern einer. Bei ihm selbst gibt es beides: die Suche nach der Geschichte unterhalb der Geschichte mit ihrem Verfahren, wechselnde Zustände zu registrieren, und, konträr dazu, den Traum von Tabula rasa, vom Neubeginn ohne Gedächtnis, von der Konstruktion, wo alles notwendig und nichts unbegründet ist, den Traum von der Kontrolle und Souveränität über die Wörter, das Werk, die Welt … Pendant zur Geste des Schaffens aus einem Nichts von Geschichte sind hier die Setzungen in Form der gewählten contrainte, die jeweiligen Schreibregeln.19 Der leere Tisch gehört bei Perec zum Interim des Schreibens: Zwischen einem Zustand von Tabula plena und dem nächsten findet das Ab- und Aufräumen der Gegenstände statt: Sie werden sortiert und neu verteilt; der Schreibtischnutzer trifft Entscheidungen über das, was zum Tisch gehört und was nicht. Als Herr über die Dinge klassifiziert und selektiert er; er etabliert eine Ordnung. Dieses Ordnen ist eine temporäre Aktivität, es geschieht zwischen einem Ende und einem weiteren Anfang, in einer Zeit der Unsicherheit über das Schreiben, es ist die Passage durch einen NichtOrt, eine Nicht-Zeit des Schreibens. Mit der wiederaufgenommenen Arbeit aber fängt auch die eben etablierte Ordnung wieder an, sich aufzulösen – es ist das Gesetz der Entropie.20 Was dann auf dem Tisch steht, lässt sich wieder nur post festum in einer Art Inventar verzeichnen.
19 | In das System sind dabei auch jeweils Fehler und Abweichungen mit eingebaut, so dass der Schreibende nicht nur willkürlich eine generative Maschine vorgibt, die ihn dann bindet, sondern ihr gegenüber auch wieder frei ist. Bezeichnend dafür ist auch die Prinzipien, universale Sätze, Eindeutigkeiten u.Ä. hintertreibende Formel »mais parfois non« (bzw. bei vorausgehender Negation »… si«); vgl. Georges Perec: »De la difficulté qu’il y a à imaginer une Cité idéale«, in: Perec 1985 (wie Anm. 12), S. 129-131; dt.: »aber manchmal doch (nicht)«; vgl.: »Die Schwierigkeit, sich eine ideale Wohnstadt vorzustellen«, in: Perec 1996 (wie Anm. 12), S. 102-104. Die Formulierung »J’aimerais bien […] mais parfois non« gemahnt an Bartlebys berühmtes »I would prefer not to«. Melvilles Schreiber ist in Perecs Œuvre vielfach präsent, explizit in Un Homme qui dort (Paris 1982) und – mit der Gestalt Bartlebooths – in La Vie mode d’emploi (Paris 1987). 20 | Perec hat es sich am Beispiel einer Bibliothek erklären lassen, und die Behauptung, dass sie, wenn man sie nicht ordnet, der Unordnung verfällt, selbst mehrmals im Experiment nachgeprüft. Vgl. Georges Perec: »Notes brèves sur l’art et la manière de ranger ses livres«, in: Perec 1985 (wie Anm. 12), S. 31-42, hier S. 38; dt.: »Kurze Anmerkungen über die Kunst und die Art und Weise seine Bücher zu ordnen«, in: Perec 1996 (wie Anm. 12), S. 25-33, hier S. 30. Hier spricht er von zwei »Spannungsfeldern« (»tensions«), dem der »individuellen Bürokratie«, das die Tugenden der Tabula rasa preist, und dem der »zum Anarchismus neigende[n] Gutmütigkeit« (»la bonhomie anarchisante«); ebd.
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Ordnen heißt Gleichheit und Ungleichheit konstituieren, Räume im wörtlichen und übertragenen Sinn einteilen, Grenzlinien ziehen, trennen … Beim Inventarisieren liegt der Akzent dagegen auf dem vollständigen Registrieren dessen, was innerhalb bestimmter Grenzen da ist, ohne zu fragen, ob es da sein muss oder da sein darf.21 Das Ordnen ist den Kategorien verpflichtet, das Inventarisieren dem kontingenten Einzelnen. Jenes ignoriert die Zeit, dieses hat in ihr seine raison d’être: Denn der Bestand eines bestimmten Zustands muss fixiert werden, weil dieser Zustand selbst nicht dauert; das Inventar bewahrt ihn auf für das Gedächtnis. Beide aber, das Fragen nach den Ordnungen und das Bemühen um Rettung vor dem Vergessen, beschäftigen Perec gleichermaßen. Man denke an Überlegungen wie die in »›Penser/Classer‹« (»›Denken/Ordnen‹«) – die Formel steht nicht zufällig doppelt in Anführungszeichen – und andererseits an die Bestandsaufnahmen von allem Möglichen, bis hin zu der grotesk anmutenden der flüssigen und festen Nahrungsmittel, die er im Lauf eines Jahres verschlungen hat.22 Die eine Seite manifestiert sich bei Perec im Spiel mit dem System, in rigiden Zwängen und ihrer ironischen Subversion, die andere in phantasievollen Recherchen und extensiven Spurensicherungen. 21 | Zur existentiellen Bedeutung des Ordnens als Trennen und der Gegenbewegung dazu im (inventarisierenden) Schreiben vgl. Robert Bober/Georges Perec: Récits d’Ellis Island. Histoires d’errance et d’espoir, Paris 1980. Der Verzicht auf das Einteilen und die Verpflichtung auf Vollständigkeit wird hier auch dem Anfangen zugeordnet: »Au début, on ne peut qu’essayer/de nommer les choses, une/à une, platement,/les énumérer, les dénombrer,/de la manière la plus/banale possible,/de la manière la plus précise/possible,/en essayant de ne rien/ oublier.« Zit. nach Georges Perec: Ellis Island (auf Perecs Text verkürzte Ausgabe), Paris 1995, S. 43; dt.: »Zu Anfang kann man nur versuchen,/die Dinge zu benennen, eines/nach dem andern, oberflächlich,/sie aufzuzählen, sie anzuführen,/und das so banal/wie möglich/und gleichzeitig so genau/wie möglich,/und dabei versuchen/nichts zu vergessen.« Ders.: Geschichten von Ellis Island oder Wie man Amerikaner macht, Berlin 1997, S. 34. Die Bestandsaufnahme der Gegenstände auf dem Schreibtisch liegt näher bei dieser Art des Verzeichnens als beim Inventar mit amtlichem Charakter, das vollständig sein muss und zugleich klassifiziert (vgl. auch folgende Anm.). Vgl. auch Mainberger 2003 (wie Anm. 6), S. 37-41. 22 | Georges Perec: »Tentative d’inventaire des aliments liquides et solides que j’ai ingurgités au cours de l’année mil neuf cent soixante-quatorze«, in: Perec 1989 (wie Anm. 12), S. 97-106; dt.: »Versuch einer Bestandsaufnahme der flüssigen und festen Nahrungsmittel, die ich im Verlaufe des Jahres neunzehnhundertvierundsiebzig hinuntergeschlungen habe«, in: Perec 1991 (wie Anm. 12), S. 8391. Das Konsumierte ist nachträglich im Sinn der Menüabfolge geordnet. Diesen – unvollständig bleibenden – Inventarisierungsversuch unternimmt Perec im Zuge einer zeitweiligen Phobie vor dem Vergessen; vgl. Georges Perec: »Le travail de la mémoire (entretien avec Frank Venaille)«, in: Ders.: Je suis né, Paris 1990, S. 8193, hier S. 87f. Zum »Tentative d’inventaire…« und anderen Versuchen ähnlicher Art vgl. Anita Miller: Georges Perec. Zwischen Anamnese und Struktur, Bonn 1996, S. 127-129.
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Und beide treffen sich auf dem einen Tisch: in einem Werk, oft in einem Text und immer wieder in einem sprachlichen Modus: der Aufzählung.
III. A UFZ ÄHLEN ALS R ITUAL UND P OLITIK DER V ERZÖGERUNG . H ERMANN B URGER : B RENNER . R OMAN Auch Hermann Arbogast Brenner, das Alter Ego Hermann Burgers in dessen letztem, »cigarristischem« Roman »Brenner«, braucht viel zum Schreiben. Die Materialien stapeln sich bei ihm in mehreren Zimmern »auf Tischen, Stühlen, Betten und am Boden«23 . Um ihn herum herrscht ein »Tohuwabohu«: »[I]n der Schloßstube mit den tief ausgebuchteten Biedermeiertischen, da fleddert es mir humusschichtenartig entgegen, da beschweren Zauberrequisiten weitere Bündel von aufgelaufenen Rechnungen, Plantagenkarten, Heimatbüchern, WSB-Fahrplänen und Freßzetteln. Diese unsägliche Menkenke setzt sich fort bis in die Bibliothek und hinauf zu den Dachräumen, wo die drei Architektentische […] übersät sind mit Fotos, Rezepten, Kalenderauszügen, Coin-Magic-Münzen, verjästen Socken, Nachschlagewerken, Plattenhüllen, Notenblättern, Füllfederpatronen, Recherche-Enveloppen, Karteikärtchen, Werbeprospekten, Familienalben, Automobil-Revuen, Kupferstichen und Medikamentenschachteln«.24
Aus Halden von Materialien, den Auftürmungen und Ablagerungen seiner Vergangenheit, zieht Brenner den Erinnerungsstoff und wurstelt ihn durch seine Hermes 3000, auf dass eine Autobiographie herauskomme. Zum Hohn auf die Architektentische in den Dachräumen will und kann er dabei kein Konstrukteur sein, ja nicht einmal ein Rekonstrukteur. Sein Werk hat keinen Plan, keinen Umriss, keine Proportionen. Brenner nimmt vielmehr, was er findet, und klebt es dran; er bastelt und klittert den MERZBau seiner Geschichte. Das Werkeln am »Kindheits-Puzzle«25 ist jedoch mehr als Spiel und seine Formlosigkeit mehr als ein Zeichen von literarischem Dilettantismus: Brenner – aber da hier Autor und fiktive Gestalt ganz nah zusammenrücken, muss man eigentlich sagen: Brenner/Burger – schreibt stets in Erwartung des Absturzes in die Depression. Diese unterbricht seine Schreibarbeit, und mit jedem Mal wird es fraglicher, ob er sie überhaupt wird fortsetzen können. Die ganze autobiographische Suche steht im Zeichen der Vorahnung eines neuerlichen und womöglich definitiven Untergangs; der Schreibende muss »allzeit bereit«26 sein zum Ende. Daher kann 23 | Hermann Burger: Brenner. Roman, Frankfurt a.M. 1992, S. 260. 24 | Ebd., S. 330f. 25 | Ebd., S. 258. 26 | Ebd., S. 290. »[Ich] kann meiner Kindheit im Stumpenland nachhängen, wissend, daß der Mensch nur einmal in seinem Leben ernsthaft die Suche nach der
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er nicht zünftig bauen; beim plötzlichen Abbrechen blieben nur Ruinen. Das Geklitterte dagegen wächst mit jedem Stück in eine andere Richtung und ist jedes Mal so unvollständig und unfertig oder auch so vollständig und fertig wie zuvor. Das ambitionierte Projekt einer Romantrilogie hat in dieser Poetik des Stückwerks ihr komisches und zugleich ernstes Konterfei. Auch die zitierte detailreiche Aufzählung ist auf diesem Hintergrund nicht nur eine pittoreske Beschreibung: Sie findet sich kurz vor dem Ende des Romans: »Vorher wollen wir zur Not noch etwas Ordnung machen in Brunsleben, um so mehr als wir ja nicht wissen, ob es je möglich sein wird, die Bearbeitung unserer Tabaksblätter wiederaufzunehmen.«27 Dann folgt ein Auflisten der einzelnen Handlungen und Dinge. Den Abschluss bildet die Nennung eines weiteren, besonderen Gegenstandes, desjenigen, der zum Symbol einer nunmehr abgeschlossenen Epoche geworden ist: »Flavias schwarze, hochhackige Tanzsandaletten mit den weißen Rosen«.28 An sie knüpft sich ein Rückblick auf Anfang und Ende eines gemeinsamen Lebens, und das erinnerte, in einer Silvesternacht gesprochene Wort finis bildet nun den Schluss der Aufzeichnungen. Aufzählen und Erzählen kommen an ihr Ende. Inventare werden an Wendepunkten geschrieben, etwa zum Jahreswechsel; sie bilden Schwellen des Rückblicks auf Vergangenes und des Ausblicks auf Künftiges. Auch für Brenner gehört das Ordnen zu einem Interim – doch er befindet sich vor einem Übergang, der der Übergang schlechthin sein kann. Aufräumen und Ordnen wirkt reinigend, vielleicht beruhigend, Brenner dient es der Trennung vom Vergangenen und auch vom Gegenwärtigen, er macht sich bereit für das Bevorstehende. Solange ihn das Aufräumen und Aufschreiben beschäftigt, ist er in einem Zwischenzustand: nicht mehr in der alltäglichen Lebensweise und noch nicht im gefürchteten Stadium der Depression. Es ist ein ambivalenter Zustand zwischen gesund und gesellschaftlich integriert und krank und ausgeschlossen, zwischen dem des Genießenden, Produktiven und dem des Angstgeschüttelten, zu nichts Fähigem. Grenzübertritte oder Übergänge zwischen unterschiedlichen Lebensabschnitten, den Wechsel von einer Identität zu einer anderen, kontrollieren traditionellerweise Rituale. In residualer Form tun sie das heute noch; man denke an die Konventionen von Festen, an private Rituale etwa vor Prüfungen oder – nach Benjamin eine der letzten Schwellenerfahrungen 29 – vor dem Einschlafen. Die eigenen Dinge oder Taten inventarisierend, mag man in einer Schwellensituation sich sammeln, indem man jene sammelt – im Gedächtnis oder schreibend. So auch Brenner. Die Aufzählung der Dinge um ihn herum ist rhetorisch verlorenen Zeit betreibt, dann, wenn seine Stunde unabänderlich geschlagen hat.« Ebd., S. 231. 27 | Ebd., S. 330. 28 | Ebd., S. 331. 29 | Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk (1927-1940), 2 Teilbde., in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt a.M. 1991, Bd. V/1, S. 617.
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eine chaotische Akkumulation; als solche zeugt sie von der Unordnung, dem »Tohuwabohu« des Endes. Als Akt des vollständigen Verzeichnens aber, zum Abschluss einer Phase und Beginn einer anderen, ist ihr Nennen auch eine Zeremonie; es ist Brenners persönlicher rite de passage. Das Aufzählen leistet aber auch noch etwas anderes: Wer statt nur »Menkenke« zu sagen, diese in allen Einzelheiten ausbreitet, tritt erzählerisch auf der Stelle, umkreist einen einzigen Punkt, vertieft sich in ihn, kostet ihn aus – er dehnt den Augenblick. Und je näher hier das Ende rückt, umso dringlicher ist ein derartiges Verfahren. Schreiben heißt hier mäandern, um sich der Teleologie des Geschehens zu entziehen. Jedes zu nennende Stück, jedes weitere Wort auf der Liste verzögert das Ende. Aufzählen ist hier, wie sonst das Erzählen, eine Strategie, nicht aufzuhören; denn in einem nicht zu gewinnenden Machtkampf gibt es nur eine mögliche Politik: die dilatorische.
IV. D AS MUSIK ALISIERTE A RCHIV. F RANCIS P ONGE : L A TABLE Zuletzt zu einem Tisch, auf dem keine Dinge stehen oder liegen, und der dennoch nicht leer ist: zu Ponges Textkonvolut »La Table«.30 Es handelt laut Verfasser von der Liebe des homme-scripteur zu seinem Tisch.31 Das heißt, es ist wie viele Dichtungen Ponges eine Hommage an den Gegenstand, der aus Sprache verfertigt wird, und dessen Verfertigung selbst. Es gehört zu den Texten, die ihre Entstehung vorzeigen, aber es treibt die Poetik des offenen, seine Genese dokumentierenden Werkes ins Extrem: Bei »La Table« gibt es nicht mehr einen poetischen Text und seine Entwürfe und Vorstufen, es gibt überhaupt keinen Unterschied mehr zwischen Werkstatt und Werk. »La Table« ist nichts als eine Reihe von Versuchen und immer wieder neuen Ansätzen, über den Tisch zu schreiben, ohne dass diese zu einem definitiven Ergebnis geführt hätten.32 Ponge hat die Aufzeichnungen wie ein Tagebuch 30 | Es werden einige Dinge erwähnt – »tout un attirail cendrier tabac crayons autres« –, aber sie spielen weiter keine Rolle. Ich zitiere Francis Ponge: »La Table« nach: Ders.: Nouveau nouveau recueil III (1967-1984), hrsg. von Jean Thibaudeau, Paris 1992, S. 163-241, hier Eintrag ohne Datum, S. 184. »La Table« findet sich auch in: Francis Ponge: Œuvres complètes, hrsg. von Bernhard Beugnot, 2 Bde., Paris 1999 und 2002, Bd. 2, S. 911-946. Vgl. auch den von Walter Seitter übersetzten Textauszug in diesem Band. 31 | Vgl. Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 13.10.1973, S. 237. 32 | Das ist freilich schon eine Interpretation. Mit Christiane Seitz fasse ich den Schreibprozess selbst hier als poetischen Text auf. Zur Diskussion um den Textauszug, den Ponge 1974 in Henri Maldineys Le legs des choses dans l’œuvre de Francis Ponge (Lausanne 1974) veröffentlicht hat, und zum Verhältnis dieses Extrait zum Dossier vgl. Christiane Seitz: »›Mettre sur la table la démarche intellectuelle, le travail.‹ Der ›moviment‹ La Table von Francis Ponge«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Bd. 230 (1993), S. 99-119. Der
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datiert und sie 1980, sieben Jahre nach dem letzten Notat, Bernard Beugnot überlassen, der das Ganze 1981 in den »Études françaises« veröffentlichte.33 Mit einem Werk dieser Art geht Ponge in der eingeschlagenen Richtung seines Schreibens noch einen Schritt weiter, und er tut dies an einem Gegenstand, der der Selbstdarstellung des Schreibens so nahe steht wie kein anderer. »La Table« ist insofern vielleicht der Ponge’sche Spättext par excellence: Der Verfasser selbst glaubt im Tisch einen letzten Gegenstand vor sich zu haben und sieht im Schreiben darüber etwas wie ein Monument für diesen Gegenstand.34 Über den Tisch wollte er schreiben, um mit dem Schreiben aufzuhören; »La Table« wäre so eine Art Epitaph und Nachlass zu Lebzeiten. Da aber weder dieser Text noch Ponges Schreiben damit zu einem Ende gekommen sind, ist »La Table«, wenn überhaupt, ein sehr ungewöhnliches und gar nicht monumentales Monument geworden – mit Ponges Neologismus gesagt: ein »moviment«35 . Die Aufzeichnungen enthalten Splitter autobiographischer Erinnerung und Rückblicke auf frühere Werke, sie sind ein aktuelles Selbstporträt mit Rekurs auf klassische Modelle und zugleich typisch Ponge’sche Poesie und Poetologie. Der Tisch ist zunächst der heute übliche Standardtisch: horizontal auf vier Beinen eine Holzplatte, auf die man sich aufstützen kann.36 Diese Möglichkeit, nicht die des Sitzens, ist für Ponge wesentlich. Die genannten vier Momente bilden im Text Motive, die immer wieder aufgenommen und variiert werden. Öfter ist jedoch von seinem persönlichen, aktuell benutzten Tisch die Rede, unter anderem von seiner Position daran: Er sitzt seitlich zum Tisch, stützt den linken Ellenbogen darauf, legt die Füße hoch und hat das Schreibzeug auf den Knien.37 Diese Haltung ist bezeichnend für den Schriftsteller, der sich – auch in diesem späten Text – nicht zu den professionellen Dichtern zählt;38 sie passt zu einem, der die Unfertigkeit und Unvollkommenheit kultiviert.
Text des Extrait findet sich auch in Ponge 1992 (wie Anm. 30), S. 42-44, und in Ponge 1999 und 2002 (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 947-948; vgl. auch den Kommentar ebd., S. 1625ff. 33 | Études françaises Bd. 17, Nr. 1-2 (April 1981). Zur Publikationsgeschichte und den verschiedenen Ausgaben vgl. Francis Ponge: La Table, hrsg. von Jean Thibaudeau, Paris 1991, S. 87-113. 34 | Dabei imaginiert er sich selbst als »der Welt gestorben« – »mort au monde (pour le monde)«, von ihr getrennt und zugleich als lebendes Gedächtnis ihrer Kontingenzen. Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 21.-23.11.1967, S. 167f. 35 | Als Textbezeichnung wurde das Wort zuerst von Jean-Marie Gleize und Bernhard Veck gebraucht. Vgl.: Jean-Marie Gleize/Bernhard Veck: Francis Ponge. Actes ou Textes, Lille 1984, S. 65ff. 36 | Vgl. Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 7.-8.10.1968, S. 199. 37 | Vgl. ebd., Eintrag vom 21.-23.11.1967, S. 168; sowie den Eintrag ohne Datum, S. 207. 38 | Er verneint das ausdrücklich mit einem Zitat aus Horaz’ Satiren. Vgl. ebd., Eintrag vom 20.11.1970, S. 215.
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Der Tisch als Stütze beim Schreiben: Das hat hier wörtlichen und übertragenen Sinn. Tischartig ist zum Beispiel auch die Konsole. Recherchen im Littré zum Wort console führen zu consolider und solide; zugleich schlägt Ponge zu den Wörtern consolation und consoler nach.39 Vereinigt werden die Elemente und Wortfelder schließlich in dem formelartigen Satz: »Ô Table, ma console et ma consolatrice, table qui me console, où je me consolide.«40 Aber noch auf einem anderen Weg gelangt Ponge zum Motiv eines gestützten Schreibens: Auf seinem Seziertisch, auf den er die Wörter legt, zerschneidet er – es ist eine Anatomiestunde (»leçon d’anatomie«) – table in den Konsonanten t und die Endung able. Letztere spricht vom Fähigsein und Können, und was die Verbindung mit dem T bedeutet, zeigen Notate wie die: »Table est l’établissement de la désinence able, la mise sur pied.« T und able bezeichnen ihm auch Form und Stoff – das große T sieht wie ein Tisch aus, able erinnert an érable, Ahorn. »De la table ›T‹ est la forme, able la matière (le bois).«41 Drei Jahre später (24.11.1970) werden das piktographische T und das die Fähigkeit bezeichnende able noch einmal anders kombiniert: Die reine Fähigkeit werde in T-able substantiviert; die possibilité pure bekommt derart eine Stützsäule, einen Halt, eine Stabilisierung.42 Schreiben am Tisch, über den Tisch – für Ponge ist das eine Beschäftigung sowohl mit dem Gegenstand wie mit dem Wort table und mit anderen Wörtern, die in diesem Zusammenhang auf den Plan treten; sie ist vielfältig und schließt zum Beispiel die Frage nach Bedeutung, Gebrauch und Etymologie der Wörter ebenso ein wie das Horchen auf den Klang von table und die Betrachtung und kritzelnde Veränderung der Graphie. Und wie bei Ponge üblich, werden die Rede vom Gegenstand, vom Wort und vom jeweiligen literarischen Text miteinander vermengt. In den hier erwähnten Stellen ist die Visualisierung des Tisches gekoppelt mit dem Problem des modernen Schreibens überhaupt: Die durch keine Vorgaben und traditionellen Bindungen mehr eingeschränkte Offenheit – die reine Möglichkeit – braucht Determinanten, damit ein literarischer Text entstehen kann. Die Variationen von T und able sind derart ein Teil von »La Table« und, in konzentriertester Form, Poetologie auch über diesen Text und Ponges Werk hinaus. 39 | Vgl. Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 4.10.1973 (2 und 3), S. 228ff. Vom unverbundenen Nebeneinander des Motivs der Stütze, »appui«, und dem Stichwort »consolatric« (Ponge 1992 [wie Anm. 30], Eintrag vom 9.-10.8.1968, S. 185) bis zu einer Verbindung dauert es fünf Jahre (Ponge 1992 [wie Anm. 30], Eintrag vom 4.10.1973 [2], S. 228). Vgl. dazu die genaue Analyse bei Seitz (wie Anm. 32), S. 109f. 40 | Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 16.10.1973, S. 241. Es ist die letzte Eintragung, aber wohl keine abschließende. Vgl. Seitz (wie Anm. 32), S. 110. 41 | Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag ohne Datum, S. 174. Zur »table de dissection« und zur Anatomiestunde vgl. auch »table d’opération«; ebd., Eintrag vom 5.10.1973, S. 232. 42 | Ich habe hier nicht die Schritte der Entwicklung und Kombination von Motiven nachgezeichnet, auch keineswegs alle Motive erwähnt. Zu einem weiteren, dem griechischen Buchstaben Tau, vgl. Seitz (wie Anm. 32), S. 111.
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Literarische Texte entstehen, das zeigt und thematisiert Ponge immer wieder, nicht aus dem Nichts; sie werden nicht an einem leeren Tisch produziert, oder anders: Der leere Tisch ist gar nicht leer. Denn, so räsoniert der homme-scripteur hier mit ironischer Wendung gegen Descartes: Wenn man Tabula rasa macht bzw. schreibt, was bleibt? »[…] sur ou de la table que reste-t-il?« Die Antwort ist für ihn klar: »Eh bien, j’en demande pardon à Descartes, il ne reste ni Je ni pense ni je ni suis, ni je pense ni donc ni je suis, il ne reste mais il reste (encore) incontestablement la table.« 43 Das Textkonvolut »La Table« zeigt, wie viel es ist, das bleibt, wenn ein Schriftsteller sich einem leeren Tisch zuwendet: Nicht nur das Wort, seine Buchstaben, sein Klang bleiben, nicht nur sein vielfältiger Gebrauch in aktueller Sprache und im literarischen Zitat, nicht nur Rechenschaft über den Umgang mit dem Gegenstand und persönliche Erinnerungen: Vor allem bleibt das Schreiben. Dieses ist Ponges Antwort auf Descartes. Denn selbst die Schreibkrise, in der er beim Versuch über den Tisch steckt, überwindet er nicht anders als schreibend – unter anderem von den Schwierigkeiten des Schreibens,44 gestützt von la table in allen Bedeutungen. Aus der Schreibkrise – dem Zweifel und der Verzweiflung des Schriftstellers – führt nicht die Selbstvergewisserung als vernünftiges, denkendes Wesen heraus, sondern das wiederaufgenommene und fortgesetzte Tätigsein im Raum der Sprache. Wovon der Philosoph sich lösen möchte, das ist es, woran der Poet hier allein sich hält und dem er sich mit ambivalenten Affekten – liebend und kämpfend, verehrend und auch gewalttätig45 – zuwendet: die sinnlichen, historischen, kontingenten sprachlichen »Dinge«. Der »Metaphysik« hält Ponge immer wieder, und auch in »La Table«, die »Physik« und die auf sie begründete »Moral« seines Umgangs mit der Sprache entgegen.46 Zu seinen vielfältigen Schreibpraktiken gehören die bekannten Sondierungen im Wörterbuch, dem Thesaurus der kollektiven sprachlichen Vergangenheit. Die Exzerpte daraus oder auch Listen von Wörtern, die nachzuschlagen Ponge sich vornimmt, als Elemente in den Texten verbinden dieses Schreiben mit anderen Poetiken des Enumerativen. Bei »La Table« heißt gleich die zweite Aufzeichnung: »Mots à chercher dans Littré./Etablir s’établir établi/Le tablier (d’un pont)/et – naturellement tableau/tablature/et le verbe tabler./Etable?«47 Erst ein Jahr später aber notiert er ausführlich aus Littré und Larousse, darunter Zitate von französischen Klassikern, Redewendun43 | Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 15.-16.9.1968, S. 195. Im Weiteren wird die Frage nach vollem oder leerem Tisch zu einer gleichgültigen erklärt: »Rase ou pas rase comme on voudra il reste la table«; ebd., S. 196. 44 | Ebd., Eintrag vom 10.12.1967, S. 170. 45 | Das Verhältnis zu la table ist derart ambivalent. Vgl. die Rede von »effacer«, das Gesicht verschwinden lassen, löschen, und »dévisager«, anstarren und – Ponge rekurriert auf einen früheren Gebrauch – das Gesicht zerkratzen, entstellen; ebd., Eintrag ohne Datum, S. 174; Eintrag vom 5.10.1973, S. 231; Eintrag vom 8.10.1973, S. 235. 46 | Vgl. z.B. ebd., Eintrag vom 15.2.1970, S. 205. 47 | Ebd., Eintrag vom 21.11.1967, S. 166.
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gen, seltenere Bedeutungen wie »table d’un instrument de musique (les parties larges d’avant et d’arrière qui supportent le chevalet et qui vibrent à l’unisson des cordes.) (le plan de leur table d’harmonie«)« – und auch: »Tables: Lois, édits/Listes/– Index Table de matières. […] Tableau (matières présentées méthodiquement et en raccourci pour être vues d’un coup d’œil) La table des modales […] Tables généalogiques chronologique etc.« 48
Die Beziehung zwischen Schreiben und Aufzählen erweist sich hier als eine besondere: Methodische Aufstellungen von Namen, Daten, Titeln, grammatischen Paradigmen, musikalischen Verhältnissen und so weiter sind Listen, Übersichtstafeln, Tabellen; das französische table hat ein großes Bedeutungsfeld.49 Einige der Funde aus dem Wörterbuch spielen für den weiteren Text eine Rolle; fünf Jahre später heißt es: »Ô table […] il te faut devenir la table d’harmonie qui vibre à l’unisson des cordes.«50 Als table généalogique mag man »La Table« ansehen, insofern es frühere Texte, zum Beispiel »Le Pré«, weiterschreibt, und als table chronologique den ganzen textgenetischen Dossier, insofern die Blätter datiert sind.51 Eine Beziehung zum Index unterhält dagegen die Aufzeichnung vom 2. November 1968: Auf die Überschrift »Pour la Table« folgt in vertikaler Schreibrichtung: »a b câble d e fable fable fabula fari g hâble (?) i j k l m n o p q râble sable sable sabulum (orig. inconnu) table table tabula u v w x y z«.52 Das Alphabet soll anfangs über Ponges Arbeitsplatz an der Wand gehangen haben;53 hier erscheint es in seiner elementaren Form im Text selbst. Und Analoges gilt für das Wörterbuch: Bei anderen, wie Schmidt etwa, steht es auf dem Tisch, hier ist es expliziter Teil des Textes, und mit ihm die Wort- und Literatur-
48 | Ebd., Eintrag vom 18.10.1968, S. 201f. 49 | Michel Foucault spielt damit, wenn er in Les mots et le choses (Paris 1997) – mit Rekurs auf Lautréamont und Raymond Roussel – table im Sinn von Tisch und Tableau verwendet. Jacques Derrida reflektiert in Spectres de Marx (Paris 1993) die Beliebtheit der table in Philosophie, Poetik und Rhetorik und stellt sie erneut unter Beweis. Seine Beispiele ließen sich problemlos vermehren. Auch für Kultur- und Literaturwissenschaft sind Gegenstand und Wort in ihrer Vieldeutigkeit attraktiv; vgl. etwa die verschiedenen mit Tischen befassten Aufsätze in: Gisela Ecker/Susanne Scholz (Hg.): Umordnungen der Dinge, Königstein 2000. 50 | Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 5.10.1973, S. 233. Vgl. auch ebd., Eintrag vom 7.10.1973, S. 234f. 51 | Vgl. dazu Seitz (wie Anm. 32), S. 118f.; Michel Peterson: »Du Littré à Francis Ponge«, in: Études françaises Bd. 24, Nr. 2 (1988), S. 75-87, hier S. 79. 52 | Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 2.11.1968, S. 204. Die ergänzenden Wörter stehen in der zu dem jeweiligen Buchstaben gehörigen Zeile. 53 | Vgl. Francis Ponge: Entretiens de Francis Ponge avec Philippe Sollers, Paris 1970, S. 71f.
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geschichte.54 Ausgewählte Aspekte daraus sind der »feste« und werden in der Art, wie Ponge mit ihnen umgeht, zum »fließenden Bestand« seines Schreibens; table ist eben t und able, die Stütze und die ins Offene gehende Bewegung des Schreibens … In »La Table« findet Ponge Motive, variiert sie, verwirft sie, nimmt sie wieder auf, kombiniert sie anders; das Ganze ist ein fortwährendes Suchen und Probieren, und irgendwann bricht es einfach ab. Nicht von ungefähr ruft Ponge daher, wenn auch nur im Vorübergehen, einen anderen großen Namen auf und bindet sein Selbstporträt am Schreibtisch an ein berühmtes, dem des meditierenden Descartes entgegengesetztes Bild: an das von Montaigne. Wie dieser sich in seine Bibliothek begibt, so Ponge sich an seinen Tisch: »pour être avec moi même«55 – aber auch, um eine unmetaphysische écriture de soi zu pflegen. »La Table« will den geliebten Tisch in Erinnerung halten, das Schreiben aber ist hier wie in anderen Texten Ponges der »parole naissante«56 verpflichtet: Aussage und Performanz fallen zusammen. Dergleichen kann kein »Denkmal« haben, denn was sich immer im Entstehen befindet, lässt sich nicht monumentalisieren, sondern nur dokumentieren: im Dossier »La Table«. Die gesammelten Notate lassen sich aber auch nicht einfach nur als Dokumentensammlung betrachten; was sie sind oder sein können, wird vielmehr vom Leser gemacht:57 Er kann sie als Archivmaterial ansehen und etwa versuchen, die einzelnen Phasen der Arbeit zu rekonstruieren, Auftauchen und Veränderung eines Motivs nachzuvollziehen et cetera. Oder er kann die Aufzeichnungen als Noten zu einem sprachlichen Konzert verstehen, als Partitur.58 Denn Poesie begegnet hier im Status der Möglichkeit – nicht in dem der »reinen«, sondern in dem der »realisierbaren«: Das Textkonvolut »La Table« ist in diesem Sinn ein potentielles Werk. Ein wirkliches wird es in der Lektüre. Auf dem Tisch der Schriftsteller treffen sich die nicht zusammengehörigen Dinge, und ebenso die vielen verschiedenen Aktivitäten, Bestrebungen und Tendenzen, die mit dem Schreiben zu tun haben oder auch nicht, zur Herstellung von Literatur. Der Schreibtisch ist in diesem Sinn der Opera54 | Zur Bedeutung der Wörterbücher für Ponge nicht nur im Schreibprozess vgl. Peterson 1988 (wie Anm. 51). 55 | Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 15.10.1973, S. 239. In Francis Ponge: »Je lis Montaigne«, in: Ders.: Nouveau nouveau recueil I (1923-1942), hrsg. von Jean Thibaudeau Paris 1992, S. 188-190 beschreibt Ponge, dass ihm, der keinen eigenen Raum zum Schreiben hat, die Nachtzeit das »Bei-sich-Sein« erlaubt. Die dazu gehörige Müdigkeit, eine dem Schlaf nahe Wachträumerei, ist sein privilegierter Zustand. Auch viele Notate von La Table sind auf die Nacht, den späten Abend oder frühen Morgen datiert. 56 | Ponge 1992 (wie Anm. 30), Eintrag vom 13.11.1970, S. 214. 57 | Vgl. dazu auch Seitz (wie Anm. 32), S. 112f. 58 | Thibaudeau spricht von einer solchen, allerdings von einer »partition d’un texte impossible«; vgl. Ponge 1991 (wie Anm. 33), S. 88.
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tionstisch, auf dem sich Nähmaschine und Regenschirm begegnen. In den Texten und Schreibweisen hier geschieht das im virtuosen Verknoten von Wissen und Weltliteratur bei Schmidt, im Miteinander von ironisch subvertiertem System und Anamnese bei Perec, in der kunstvollen Inszenierung kunstlosen Bastelns bei Burger, in der Konvergenz von Dokumentation und poetischem Werk bei Ponge. In je eigener Weise verbinden sich dabei Schreiben nach Methode oder Kalkül mit der Arbeit an Erinnerung und Geschichte; beides sind Aspekte der enumerativen Praxis. Aber es gibt viele andere Arten, den Tisch – den Text – zu einem Ort ungewöhnlicher Begegnungen zu machen.59 Die hier vorgenommene Engführung von Schreibtischporträt und Poetik des Enumerativen ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem großen Gebiet der Selbstbilder von Schreibenden – und der reichhaltigen Kunst des Aufzählens.
Dieser Text geht auf den im November 1999 auf der Weimarer Tagung »Europa: Kultur der Sekretäre« gehaltenen Vortrag zurück; er ist zuerst erschienen in: Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich, Berlin 2003, S. 175-192. Für den Wiederabdruck hier wurden nur die Anmerkungen stellenweise ergänzt.
59 | Vgl. z.B. zu einem Text, der anhand eines (Künstler-)Tisches und der zufällig in einem bestimmten Moment darauf befindlichen Dinge entsteht, Sabine Mainberger: »Flußnoten. Zu Daniel Spoerri u.a.: ›An Anecdoted Topography of Chance‹«, in: Bernhard Metz/Sabine Zubarik (Hg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten, Berlin 2008, S. 227-251.
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Lehne und Geländer Hannes Böhringer
Wie komme ich nach oben, wenn es keinen Aufzug gibt? Ich nehme die Treppe. Warum will ich nach oben? Die Steigung richtet mich auf, in der Schräge bin ich gerade. Das ist der Vorteil der Treppe. Je flacher die Stufen, desto angenehmer, sie zu steigen. Die Treppe überwindet einen Höhenunterschied in einer schiefen Ebene, die sie in Stufen zersägt. Der direkte Weg ist der schwierigste. Die Treppe nimmt den Umweg über die Schräge und stuft sie in kleinen Tritt-Ebenen ab. Seitwärts gesichert ist die Treppe meistens von einer Wand und einem Geländer. So kann man zwar die Treppe hinunterfallen, aber nicht von der Treppe senkrecht in die Tiefe. Auf dem Geländer, oft auch an der Wand, ist ein Handlauf angebracht. An ihm ziehen sich die Fußlahmen empor, an ihm lassen die Flinken zur unmerklichen Balance beim Hinuntereilen ihre Hand hinabgleiten. Das Leben ist ein unregelmäßiges Auf und Ab. Technik und Zivilisation betten es in Gleich- und Ebenmäßigkeit. Der Handlauf zeichnet an der Wand die schiefe Ebene, auf der die Treppenstufen den Höhenunterschied in kleine Portionen aufteilen, die jeder bewältigen kann, der halbwegs gut zu Fuß ist. In der Abfolge der Stufen wird das Steile und Abschüssige auf engem Raum gleichmäßig und passierbar. Die Treppe vermittelt das Fortlaufende und Unvermittelte des Lebens als Stufenfolge. Die Menschen leben auf Böden. Der natürliche Boden aber ist uneben und holprig. Deshalb wird er planiert. Rampen und Treppen gleichen die Höhenunterschiede aus. Gebäude werden errichtet mit Etagen, Ebenen, Böden über dem Erdboden. Aufzüge fahren senkrecht nach oben, Treppen überwinden die Höhe in der Schräge. Man stolpert nicht mehr. Die Stufen sind ebenmäßig und gleich hoch. Zur Not hält man sich am Geländer fest. Die Stufen führen zu Etagen. Auch hier kommt man nicht über Unebenheiten zu Fall. Höchstens rutscht man aus auf zu glattem, frisch gewischtem Boden. Das Unebene, Holprige und Schräge scheint gebannt. Die Treppe führt in den obersten Stock, die Leiter ins Leere. Sie ist beweglich und kann da oder dort angelegt werden. Die Leiter ist steiler als die
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H ANNES B ÖHRINGER
Treppe. Beine und Arme müssen eingesetzt werden, um die Leiter hochzuklettern und von dort weiter aufs Dach oder in den Baum. Die Leiter ist steiler und gefährlicher. Nicht gut angelehnt wackelt sie und fällt um. Man steht auf der obersten Sprosse, streicht die Decke an und verliert das Gleichgewicht. Wo hält man sich fest, wenn man auf der obersten Sprosse steht? Treppen haben Geländer, Zimmer Wände, Fenster und Balkone Brüstungen, die verhindern, dass wir beim Hinunterschauen gleich hinunterstürzen. Keiner, der über einem Abgrund »auf einer Planke, größer als nötig« nicht bleich würde und in Schweiß ausbräche, bemerkt Pascal. Der Gleichgewichtssinn versagt. Alles beginnt, sich zu drehen. Ich brauche ein Geländer, eine Wand, um mich festhalten oder zumindest anlehnen zu können. Oder ich muss mich platt auf den Boden, auf die Planke legen. Schuld am Schwindel, schreibt Pascal, ist die Einbildungskraft. Sie wirft sich vorneweg in die Tiefe. Der Abgrund zieht sie an. Deshalb müssen Randbefestigungen her, nicht nur zur Verteidigung von Eigentum und zum Schutz vor Leichtsinn, sondern auch als Sicherung gegen den Schwindel, der uns am äußersten Rand erfasst, auf unsicherem Boden an der Grenze zum scheinbar Grenzenlosen, zum bodenlosen Tiefen. Da fassen wir ins Leere, verlieren die Fassung und brauchen eine Brüstung, ein Geländer. Die sind am Rand. Der Rand selbst ist haltlos. Wir machen vor ihm Halt und ziehen einen Zaun, eine Mauer um ihn herum oder bauen von außen ein Gerüst. Denn freihändig ohne Griff in Reichweite auf der Kante selbst zu balancieren, zieht den Schwindel an. Zu den Zäunen und Gerüsten zählen auch die festen Vorstellungen, die Begriffe und Definitionen, Methoden und Traditionen, Vorschriften, Denkverbote und berühmte Namen, alles, woran man sich klammern oder wenigstens anlehnen kann, wenn man schräg am Abgrund steht. Die Menschen sind »krummes Holz«, sagt Kant, nicht gerade und aufrecht, sondern schief und darum anlehnungsbedürftig. Sie richten sich auf, wenn sie nach oben wollen, und überlisten die Steilheit in der Schieflage, in der sie sich aufrichten und einrichten. Sie selbst sind schräg, nicht im Gleichgewicht mit sich selbst, nicht in sich selbst ständig. Mit ihren Neigungen und Zuneigungen lehnen sie sich irgendwo an. Sie brauchen Halt für ihre Schräge. Werden sie sich ihrer Schieflage bewusst, verstärkt sich das Sicherheitsbedürfnis. Anlehnung allein reicht dann nicht mehr. Haltegriffe, Geländer werden nötig. Dann gilt es, Mut und Unbefangenheit wiederzugewinnen. Denn Sicherheit kostet Freiheit. Freie Hand aber hat man nur, wenn die Hände sich nicht festhalten müssen. Das Leben in der Schräge ist anstrengend. Deshalb setzen sich die Menschen gern hin, vom Stehen und Gehen ermüdet. Im Sitzen sind sie sicher. Wenn sie vom Stuhl fallen, ist der Boden nicht weit. Im Sitzen haben sie
L EHNE UND G EL ÄNDER
Arme und Hände frei zum Arbeiten oder zum Essen und Trinken. Zur Rückenlehne gesellt sich die Armlehne. Auf ihnen kann ich die Arme ablegen, wenn sie nichts zu tun haben. Ich beuge mich vor, rede auf mein Gegenüber ein und lehne mich lässig zurück. Denn ich bin mir des stützenden Halts der Rückenlehne gewiss. Ich sehe sie nicht, und doch verlasse ich mich auf sie. Sie ist das Vertrauen, das ich in die Welt habe. Manchmal durchfährt mich ein kurzer Schreck: Ich hatte den Halt der Rückenlehne einen Augenblick früher erwartet. Für einen Augenblick fühle ich keinen Rückhalt. Für einen Augenblick hatte ich mich ins Nichts zurückgelehnt. Der Abgrund tut sich auf einmal hinter mir auf. Im Rücken sehe ich nichts, mit dem Rücken muss ich mich an das Vertrauen lehnen. Was aber unterscheidet Vertrauen von Einbildung? Zutrauen ist noch besser für die Schräge: Meiner selbst nicht sicher traue ich trotzdem mir und mich.
Abbildung 1: Kamiki Tsuchiura: Wohnhalle, 1932. Haus des Architekten, Tokio
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»Form Follows Motion«: Stühle in Bewegung Sebastian Hackenschmidt
»[M]an kann vielleicht sagen, daß auf diesem Stuhl nur ein Mensch sich wohl fühlen wird, dem die ständige leichte Anspannung modernen Lebens, das Gefühl des Federns und der Schnellkraft noch im Ruhezustand zur Existenzbedingung, zum unentbehrlichen Bestandteil seines Lebensgefühls geworden ist.«1
Mit dieser Anerkennung einer beschleunigten Mobilität charakterisierte der kommunistische Politiker und Publizist Alexander Schwab in seinem 1930 unter dem Pseudonym Albert Sigrist veröffentlichten »Buch vom Bauen« die Beweglichkeit eines grundlegend neuen Typus des Sitzmöbels. Der so genannte »Freischwinger« war erst drei Jahre zuvor anlässlich der Werkbundausstellung »Die Wohnung« in Stuttgart 1927 in verschiedenen Ausführungen das erste Mal öffentlich präsentiert worden. Mit seinen federnden Eigenschaften entsprach dieser neue Stuhl der Befindlichkeit einer durch Simultanität und Beschleunigung, aber auch von Anspannung und innerer Unruhe gekennzeichneten Zeit. Der Freischwinger geht auf eine Idee des niederländischen Architekten Mart Stam zurück und stellt wohl eine der bedeutendsten Neuerungen auf dem Gebiet des Stuhldesigns überhaupt dar. Der ursprüngliche Entwurf dieses Stuhls von 1926 – der heute nur noch in einer nach Angaben Stams Ende der siebziger Jahre angefertigten Rekonstruktion des Gestells existiert (Abb. 1)2 – bestand aus zehn gleich langen Gasrohrstücken, die durch Muffen zu einem Kubus verbunden waren, dessen hintere Seite nach oben geklappt war, um die Rückenlehne zu bilden. Durch das Fehlen der Hinterbeine brachte das streng konstruierte, formalistische Stuhlmodell die Idee einer schwerelosen Sitzposition zum Ausdruck. Oder wie es der Künstler Kurt Schwitters formulierte, der die ersten hinterbeinlosen Stahlrohr-
1 | Albert Sigrist [= Alexander Schwab]: Das Buch vom Bauen, Berlin 1930, S. 135ff. 2 | Der Stuhl wurde 1979 von der Firma Tecta nach den Angaben rekonstruiert, die Mart Stam in einem Gespräch mit Axel Bruchhäuser gemacht hatte.
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stühle auf der Stuttgarter Werkbundausstellung ausgestellt gesehen hatte: »Warum vier Beine nehmen, wenn 2 ausreichen?«3
Abbildung 1: Mart Stam: Gasrohrstuhl, 1926 (Rekonstruktion nach Angaben von Mart Stam, 1979). Gasrohr, Fittings. Tecta Archiv, Lauenförde Abbildung 2: Mart Stam: Wolkenbügel mit unbestimmter Länge. Entwurfsskizze, 1924/25
Ein Stuhl mit zwei Beinen schien nicht nur der handwerklichen Tradition, sondern auch den Gesetzmäßigkeiten der Natur zu widersprechen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Eroberung der Lüfte durch die ersten motorisierten Flugzeuge die Möglichkeiten der modernen Technik aufgezeigt, die Schwerkraft zu überwinden.4 Im Zuge eines fundamentalen Wandels in der Wahrnehmung des Raumes wurde dann in den 1920er Jahren der Wunsch, auch Bauwerke möglichst schwebend erscheinen zu lassen, geradezu zum Leitgedanken der avantgardistischen Architektur, die ihre spektakulärste Ausprägung in überkragenden, frei in den Raum vorstoßenden Bauteilen fand (Abb. 2). Auch bei der Gestaltung der Inneneinrichtung, für die sich nun vermehrt die Architekten selbst zuständig fühlten, kamen diese innovativen Konzeptionen zum Tragen: So ist der hinterbeinlose, freitragende Kragstuhl wohl nicht zuletzt auf ein »Schwebe-Syndrom« der zeitgenössischen modernen Architektur zurückzuführen.5
3 | Kurt Schwitters (1927); zit. nach: Werner Möller: »Ein Stuhl macht Geschichte«, in: Werner Möller/Otakar Má čel: Ein Stuhl macht Geschichte, München, Dessau 1992, S. 9-36, hier S. 9. 4 | Vgl. Christoph Asendorf: Super Constellation. Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien 1997. 5 | Vgl. Adolf Max Vogt: »Das Schwebe-Syndrom in der Architektur der zwanziger Jahre«, in: Das architektonische Urteil. Annäherungen und Interpretationen von Architektur und Kunst, hrsg. vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich, Basel 1989, S. 201-233.
»F ORM F OLLOWS M OTION «: S TÜHLE IN B EWEGUNG
Zugleich waren es aber die Elastizität und Stabilität des Stahlrohrs, die eine überkragende Stuhlkonstruktion überhaupt möglich machten, bei der das lastende Gewicht über nur mehr zwei Beine abgeleitet werden konnte. Durch das Fehlen der Hinterbeine gab die Sitzfläche dabei leicht nach und erzielte einen angenehm federnden, schwingenden Effekt. In den Freischwingern verbanden sich also die Idee einer freitragenden Konstruktion und die Materialeigenschaften des für den Möbelbau neu entdeckten Stahlrohrs zu einer entscheidenden Innovation, die Sigfried Giedion in seinem epochalen, 1948 zuerst auf Englisch erschienenen Buch »Mechanisation Takes Command« zu den »konstituierenden« Möbeln des 20. Jahrhunderts zählte.6 Aus der architektonischen Konstruktion der Stühle und der Beschaffenheit ihres Materials ergab sich dann auch die neuartige Mobilität des Möbels, wie sie in dem eingangs zitierten Text von Alexander Schwab deutlich zum Ausdruck kommt. In der Tat scheinen die Erfindung und Entwicklung des Freischwingers eng verknüpft zu sein mit einem – vor allem in den Städten – durch den wachsenden Verkehr und die neuen Kommunikationsmittel beschleunigten Lebensrhythmus (Abb. 3): »Welch ein Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten prasselt seit einem Jahrzehnt auf unsere Nerven nieder!«, schrieb der Schriftsteller Kurt Pinthus 1925 in seinem Essay »Die Überfülle des Erlebens«: »Man male sich zum Vergleich nur aus, wie ein Zeitgenosse Goethes oder ein Mensch des Biedermeier seinen Tag in Stille verbrachte, und durch welche Mengen von Lärm, Erregungen, Anregungen heute jeder Durchschnittsmensch täglich sich durchzukämpfen hat, mit der Hin- und Rückfahrt zur Arbeitsstätte, mit dem gefährlichen Tumult der von Verkehrsmitteln wimmelnden Straßen, mit Telephon, Lichtreklame, tausendfachen Geräuschen und Aufmerksamkeitsablenkungen. Wer heute zwischen dreißig und vierzig Jahre alt ist, hat noch gesehen, wie die ersten elektrischen Bahnen zu fahren begannen, hat die ersten Autos erblickt, hat die jahrtausendelang für unmöglich gehaltene Eroberung der Luft in rascher Folge mitgemacht, hat die sich rapid übersteigenden Schnelligkeitsrekorde all dieser Entfernungsüberwinder, Eisenbahnen, Riesendampfer, Luftschiffe, Aeroplane miterlebt. Wie ungeheuer hat sich der Bewußtseinskreis jedes einzelnen erweitert durch die Erschließung der Erdoberfläche und die neuen Mitteilungsmöglichkeiten: Schnellpresse, Kino, Radio, Grammophon, Funktelegraphie.«7
Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte Moritz Heimann, Lektor im S. Fischer Verlag, in einem Aufsatz von 1912 mit dem Titel »Der Verkehr und die Seele« versucht, die Auswirkungen der beschleunigten Lebensführung auf die innere Befindlichkeit der Zeitgenossen zu fassen. Ebenso wenig wie Pinthus beschwor Heimann dabei eine beschaulich-langsame Vergangenheit und plädierte stattdessen dafür, der wachsenden Geschwindigkeit selbstbe6 | Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte (1948), Frankfurt a.M. 1982, bes. S. 525-553. 7 | Kurt Pinthus (1925); zit. nach: Johannes Roskothen: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne, München 2003, S. 35f.
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wusst zu begegnen und sie als »Erleichterung des Verkehrs« zu begreifen: »Will man den Verkehr nicht bloß erleiden, muß man ihn ausüben; dem neuen Tempo kann sich niemand entziehen […]; es gilt, dem Tempo gewachsen zu sein, es zu beherrschen.«8 Abbildung 3: Arpad Schmidhammer: Großstadtverkehr. Karikatur aus dem Münchner Bilderbogen 1995
In diesem Sinne möchte ich im Folgenden versuchen, den Freischwinger als Symptom einer beschleunigten Gesellschaft zu verstehen und seine Entwicklung an die Technologien der neuen Verkehrsmittel und Maschinen zu koppeln. Und auch wenn Marcel Breuer, der 1925 die ersten modernen Stahlrohrmöbel überhaupt entwickelt hatte, das Federn der neuen Sitzgelegenheiten mit der Bequemlichkeit gepolsterter Sitzmöbel verglich,9 8 | Moritz Heimann (1912); zit. nach: Roskothen 2003 (wie Anm. 7), S. 99f. 9 | Marcel Breuer: »Metallmöbel« (1927), in: Jan van Geest/Otakar Má č el: Stühle aus Stahl. Metallmöbel 1925-1940, Köln 1980, S. 158. Auch der in die USA emi-
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kann man den Freischwinger selbst als eine Art Maschine betrachten, gemacht für Menschen, die den Verkehr nicht erleiden, sondern sich sozusagen noch im Ruhezustand aktiv an ihm beteiligen. Dabei ist es keineswegs nur die neue Beweglichkeit des Möbels – die durch das Fehlen der Hinterbeine beanspruchte Elastizität und Schnellkraft des Stahlrohrs, die von den Zeitgenossen sehr wohl zur Kenntnis genommen wurde (Abb. 4) –, die für die neue Mobilität der Stühle seit Mitte der 1920er Jahre einsteht. Denn nicht nur die technologischen Voraussetzungen des Freischwingers haben viel mit den neuen Fahrzeugen und dem modernen Verkehr zu tun, auch auf ästhetischer Ebene ergeben sich deutliche Parallelen zu den zeitgenössischen Verkehrsmitteln und Arbeitsgeräten. Der französische Urbanist Paul Virilio hat in seinen Texten verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Stadt keineswegs der Ort großer physischer Aktivitäten sei, da die Bewegungen des Körpers eher abgebremst und durch technische Prothesen wie Fahrstühle, Rolltreppen und öffentliche Verkehrsmittel ersetzt würden. Vielmehr sei der urbane Raum ein Ort nervöser Aktivitäten; die menschlichen Tätigkeiten seien dabei im Wesentlichen auf das Sitzen, Stehen und Liegen beschränkt, und nur selten müsse man sich noch der unteren Gliedmaßen als Fortbewegungsmittel bedienen.10 Tatsächlich belegen die Texte von Pinthus, Heimann und anderer zeitgenössischer Autoren, dass es weniger die absolute, rasende Geschwindigkeit der Transportmittel war als vielmehr die Unvermeidlichkeit der technischen Neuerungen insgesamt – der Kommunikationsmittel wie Telefon und Telegraphie ebenso wie der Elektrifizierung, der Gas- und Wasseranschlüsse in den Wohnungen und natürlich der öffentlichen Verkehrsnetze und motorisierten Fahrzeuge – die für die Schnelllebigkeit der Zeit verantwortlich gemacht wurden. Als Folge des beschleunigten Lebensrhythmus wurde um die Jahrhundertwende von den Schriftstellern und Wissenschaftlern vermehrt »Nervosität«11 diagnostiziert: Eine innere Unruhe, eine »ständige leichte Anspannung«, die selbst im vermeintlichen Ruhezustand des Sitzens noch zu spüren war und die durch die federnde Schnellkraft der Freischwinger – so verstehe ich Alexander Schwabs kurze Textpassage über diese Sitze – zugleich ausgedrückt und kompensiert wurde. Das Folgende ist also der kurze Versuch, die beschleunigte Geschwindigkeit und Ruhelosigkeit des Alltags seit der Jahrhundertwende als informativen Gehalt dieses Stuhls und das Sitzen im Freischwinger als Verkehrszustand zu begreifen. grierte österreichische Architekt und Entwerfer Friedrich Kiesler misst seinen 1930 publizierten Entwurf eines Freischwingers an der Bequemlichkeit von Polstermöbeln in: Friedrich Kiesler: »The Elasticity of the Construction Eliminates the Need of Cushions«, in: Ders.: Contemporary Art applied to the Store and its Display, New York 1930, S. 150. Ich danke Harald Krejci von der Österreichischen Kiesler Stiftung in Wien für die Hilfe beim Nachweis des Zitats. 10 | Vgl. Paul Virilio: Fahren, Fahren, Fahren…, Berlin 1978, S. 37f. 11 | Vgl. Andreas Braun: Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 58.
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Abbildung 4: Paul Simmel: Karikatur aus Neues PaulSimmel-Album, Stuttgart 1933
I. V ERKEHRSERLEICHTERUNG IM I NNENR AUM : D ER FREITR AGENDE S TAHLROHRSTUHL Das Kapitel über die »konstituierenden Möbel des 20. Jahrhunderts« in Sigfried Giedions Buch über die »Herrschaft der Mechanisierung« lässt sich gewissermaßen als erste monographische Abhandlung über die Entstehung des Freischwingers lesen. Der Autor vermerkte darin, dass das moderne Sitzmöbel der europäischen Avantgarde zahlreiche Vorläufer in der amerikanischen Patentmöbel-Bewegung gehabt habe, deren raffinierte Mechanismen sich vor allem positiv auf die Verbesserung des Sitzkomforts bei Fahrzeugen ausgewirkt hatten. Ein 1889 angemeldetes Patent für die Bestuhlung der Esssäle auf Passagierdampfschiffen schlug etwa vor, die
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Schwankungen des Seegangs durch freitragende und federnde Sitzgelegenheiten auszugleichen. Vor allem aber verwies Giedion auf die bei landwirtschaftlichen Fahrzeugen wie Traktoren oder Mähmaschinen bereits seit den 1860er Jahren üblichen Fahrersitze, die von federnden Stahlstangen getragen wurden, um die Stöße des Ackerbodens aufzufangen.12 Und tatsächlich scheint Mart Stam zu seiner »Erfindung« von einem vergleichbaren Beispiel aus der alltäglichen Erfahrung angeregt worden zu sein. Wie durch den Architekt und Designer Ferdinand Kramer überliefert ist, hatte Stam 1926 beim Anblick eines ausklappbaren Autositzes ausgerufen: »So müsste man einen Stuhl bauen.«13 Entsprechend verwiesen auch die Gebrüder Heinz und Bodo Rasch in ihrer 1928 publizierten Monographie »Der Stuhl« (Abb. 5) auf diesen maschinellen Klappmechanismus als Anregung für die »Form des gekragten Sitzmöbels aus gebogenem Metallrohr«14 . Stahlrohr konnte seit Ende des 19. Jahrhunderts nahtlos gezogen werden und eignete sich für Wasser- und Gasleitungen, für das Anstaltsmobiliar von Krankenhäusern und Gefängnissen sowie für stabile und leichte Rahmenkonstruktionen von Maschinen und Fahrzeugen; die Fahrradindustrie war klarerweise einer der Hauptabnehmer von Stahlrohr (Abb. 6). Für Stam schien es das passende Material zu sein, um die Konzeption eines auf seine funktionalen Elemente reduzierten Stuhls zu verdeutlichen, da es als Halbfabrikat der industriellen Massenfertigung selbst funktional gestaltet war. In seiner formalen Ausprägung besaß das Stahlrohr zunächst keine Merkmale einer ästhetischen Aufwertung: »Selbst bei der Transformierung einer Gasleitung zu einem Stuhlgestell lassen sich die Rohre immer noch als Ausdrucksmittel einer gewollten Synthese von Zweckgebundenheit aus
12 | Giedion 1982 (wie Anm. 6), S. 540. 13 | Axel Bruchhäuser: Der Kragstuhl, hrsg. vom Stuhlmuseum Burg Beverungen, Köln 21998, S. 90. 14 | Heinz und Bodo Rasch: Der Stuhl (1928), Weil am Rhein 1992, S. 50.
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Abbildung 5: Heinz und Bodo Rasch: Seite aus »Der Stuhl«, Stuttgart 1928 Abbildung 6: Ride a Raleigh. Anzeige aus dem »Irish Cyclist and Motor Cyclist«, 9. Juni 1926
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Entwurf, Fertigung und Produkt interpretieren.«15 Bei Stams Freischwinger standen jedoch so sehr die formalen Aspekte im Vordergrund – die Steigerung der räumlichen Transparenz durch linienhafte Umrisse und das Weglassen der Hinterbeine –, dass die Materialeigenschaften des Stahlrohrs in seinem ursprünglichen Entwurf nicht voll ausgeschöpft wurden: Weil der Rohrquerschnitt mit nur 20 mm für die Statik eines hinterbeinlosen Stuhls zu schwach war, mussten an den Rohrbiegungen massive Eisenstangen eingesetzt werden, um den Stuhl – auf Kosten der federnden Elastizität des freien Schwingens – zu stabilisieren.16 Zu einem wirklichen Freischwinger wurde der Stuhl somit durch Mies van der Rohe, der bei seinem gleichfalls auf der Stuttgarter Werkbundausstellung präsentierten Entwurf den Durchmesser des Stahlrohrs auf 25 mm vergrößerte und die elastisch federnden Materialeigenschaften erst zum Tragen brachte (Abb. 7). Der eigentliche Experte für die Verwendung von Stahlrohr für den Möbelbau war aber zweifellos Marcel Breuer, der als der Erfinder des modernen Stahlrohrmöbels gilt und sich als Leiter der Bauhaus-Tischlerei seit 1925 in den Dessauer Junkers-Flugzeugwerken mit dem neuen Material auseinandergesetzt hatte.17 Bei Junkers hatte man schon eine gewisse Erfahrung mit Metallmobiliar, da bereits seit etwa 1915 Sitze aus Aluminiumrohr und Blech für den Flugzeugbau gefertigt wurden. Nach anfänglichen Experimenten mit Aluminiumrohren, die sich allerdings als zu teuer erwiesen, entwickelte Breuer zusammen mit dem Junkers-Schlossermeister Karl Körner zwischen Herbst 1925 und Sommer 1926 verschiedene Möbeltypen aus Stahlrohr – Hocker, Stühle, Armlehnsessel – für die Ausstattung der Aula, Mensa sowie der Meisterhaus-Wohnungen des Bauhauses. Es ist verschiedentlich angemerkt worden, Breuer sei – beeindruckt von der Leichtigkeit und Stabilität des Stahlrohrrahmens und der dreidimensional gebogenen Lenkstange – durch sein Fahrrad auf die Idee gekommen, Stahlrohr für den Möbelbau zu verwenden.18 Gerade im beginnenden Zeitalter des motorisierten Verkehrs war das Fahrrad als »Symbiose von Mensch und Maschine, von Körper und Mechanik« für viele Künstler ein Faszinosum: Marcel Duchamp verwendete ein Fahrrad-Rad für eines seiner ersten Ready-mades und Francis Picabia soll ein glänzendes Rennrad anstelle eines Kronleuchters von der Decke hängen gehabt haben.19 Auch viele technische Neuerungen orientierten sich – wenn sie nicht gerade der 15 | Möller 1992 (wie Anm. 3), S. 11. 16 | Ebd., S. 24. 17 | Zu Breuers Stahlrohr-Experimenten noch vor seiner Zeit in Dessau vgl. Otakar Má čel: »Marcel Breuer – ›Erfinder‹ der Stahlrohrmöbel«, in: Ausst.-Kat. Marcel Breuer. Design und Architektur, Vitra Design Museum u.a., Weil am Rhein 2003, S. 52-115, hier S. 67. 18 | Vgl. Giedion 1982 (wie Anm. 6), S. 534 sowie Christopher Wilk: Marcel Breuer. Furniture and Interiors, New York 1981, S. 37. 19 | Schuldt: »Zur Einführung«, in: van Geest/Má čel 1980 (wie Anm. 9), S. 7-52, hier S. 14.
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Kriegstechnologie dienten20 – an der Leichtbauweise des Fahrrads; die ersten Automobilkonstruktionen waren ihr ebenso verpflichtet wie Le Corbusier, der 1925, im selben Jahr, in dem Breuer seine ersten Stahlrohrmöbel herstellte, über die Stahlrohrtreppe seines »Pavillon de l’Esprit Nouveau« schwärmte: »Wir haben eine Treppe wie einen Fahrradrahmen gebaut.«21
Breuer bezeichnete seine Stahlrohrmöbel mit einem Anflug von Ironie als »stillos«, da sie »außer ihrem zweck und der dazu nötigen konstruktion keine beabsichtigte formung ausdrücken […]. diese metallmöbel sollen nichts anderes als notwendige apparate heutigen lebens sein.«22 Nach der Imitation der Stile im Historismus des 19. Jahrhunderts erschien die Stillosigkeit den Gestaltern der Moderne als Ideal; das Leitbild einer strengen Funktionalität ohne individuelle Handschrift oder modische Eigenheiten – ohne die »überlebte[n] Schnörkel des Geschmacks«, wie Breuer es formulierte23 – resultierte in vermeintlich einfach zu mechanisierenden, schlichten Konstruktionen mit reduzierten Formen. Aber in ihrer neuen Raumauffassung, Leichtigkeit, Transparenz und konstruktivistischen Linienführung waren die Stahlrohrmöbel natürlich alles andere als »stillos« und folgten manifesten formalen Überlegungen. Die Formensprache der avantgardistischen Architektur und Innenraumgestaltung leitete sich vermehrt von den Schöpfungen der Industrie ab, wobei vor allem die modernen Maschinen und Transportmittel als ästhetischer Maßstab dienten. 20 | Vgl. Joachim Krausse: »Versuch, auf’s Fahrrad zu kommen«, in: Ausst.Kat. Absolut modern sein: Zwischen Fahrrad und Fließband. Culture technique in Frankreich 1889-1937, NGBK in der Staatlichen Kunsthalle, Berlin 1986, S. 59-74. 21 | Le Corbusier (1925); zit. nach: Giedion 1982 (wie Anm. 6), S. 536. 22 | Marcel Breuer: »metallmöbel und moderne räumlichkeit«, in: Das Neue Frankfurt Nr. 1 (1928), S. 11. 23 | Breuer 1980 (wie Anm. 9), S. 158.
Abbildung 7: Mies van der Rohe: Modell MR 533 (MR 10), 1927 (Ausführung: Thonet, um 1935). Stahlrohr (verchromt), Eisengarn. MAK, Wien Abbildung 8: Montageschlitten aus den Junkerswerken, 1920er Jahre. Tecta Archiv, Lauenförde
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Während Breuer seine Stahlrohrmöbel als »notwendige apparate heutigen lebens« betrachtete, sprach Le Corbusier – der sein 1922 erschienenes Buch über die »Kommende Baukunst« mit Ozeandampfern, Flugzeugen und Autos bebildert hatte24 – über die von ihm zusammen mit Charlotte Perriand und Pierre Jeanneret entworfenen Möbel zunächst von »Werkzeug«, später von »Ausrüstung« mit der Implikation von Nutzeffekt und einer klar definierten Funktion.25 »Der Geist des Maschinenzeitalters habe sich angestrengt«, behauptete er 1929 bei einem Vortrag über »Das Abenteuer der Wohnungseinrichtung« in Buenos Aires: »Was für das Auto geschehen ist, ist nun auch für die Büroausrüstung geschehen. Eine Revolution hat stattgefunden: Man hat die Möbelschreinereien geschlossen und in anderen Stadtvierteln die Stahlmöbelindustrie ins Leben gerufen.«26 Das Mobiliar sollte als Maschine verstanden werden, mit der sich zugleich ein revolutionärer, sozialutopischer Anspruch verbinden ließ. Das anbrechende Zeitalter der Maschinen und Motoren verlangte entsprechende Materialien und Formen eben auch bei der Gestaltung der alltäglichen Lebens- und Arbeitswelt – und in deren Konsequenz eine grundlegend neue Lebenspraxis. »It’s a Revolution«, konstatierte 1929 auch Charlotte Perriand in der englischen Zeitschrift »The Studio« über die Verwendung von Metall für Möbel: »The Future will favour materials which best solve the problems propounded by the new man: I understand by the New Man the type of individual who keeps pace with scientific thought, who understands his age and lives it.«27 Dabei darf man wohl annehmen, dass Perriands utopische Vorstellungen vom Leben des Neuen Menschen auch den selbstverständlichen Gebrauch moderner Transportmittel umfassen sollte – forderte sie doch explizit dazu auf, Schritt zu halten mit (to keep pace with) den Errungenschaften von Wissenschaft und Technik. Und ganz ähnlich wie Corbusier und Perriand äußerte sich auch Breuer bei einem Vortrag in Delft 1931: »The necessity for the utmost economy in space demands a machine for living, which must actually be constructed like a machine, with engineering developments and the latest in mechanization.«28
24 | Vgl. Le Corbusier: Kommende Baukunst (1922), Berlin, Leipzig 1926. 25 | Vgl. George H. Marcus: Le Corbusier. Im Innern der Wohnmaschine, München 2000, S. 94f. 26 | Le Corbusier: Feststellungen zu Architektur und Städtebau (1929), Berlin, Frankfurt a.M., Wien 1964, S. 108. 27 | Charlotte Perriand: »Wood or Metal?« (1929), in: van Geest/Má č el 1980 (wie Anm. 9), S. 162-163, hier S. 162 (Hervorhebungen im Original). 28 | Marcel Breuer: »The House Interior« (1931), in: Wilk 1981 (wie Anm. 18), S. 184-186, hier S. 186.
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II. D ER F REISCHWINGER ALS K UFEN -M OBIL Wenn es also die erklärte Absicht der Gestalter der Moderne war, Wohnungen und Mobiliar mit der Ästhetik von Maschinen zu entwerfen, so bestätigte spätestens die Ausstellung »Machine Art« 1934 im Museum of Modern Art den Erfolg dieses Vorhabens: Unter den 400 Exponaten befanden sich auch einige Stahlrohrmöbel, darunter ein Armlehnsessel mit beweglicher Rückenlehne von Le Corbusier sowie ein Freischwinger und Satztische von Breuer aus der aktuellen Produktion der Firma Thonet.29 Als Breuer Mitte der zwanziger Jahre die ersten modernen Stahlrohrmöbel erzeugte, verdankte er tatsächlich ein für die Maschinenästhetik der Stahlrohrmöbel stilbildendes Element den jüngsten Entwicklungen des Ingenieurwesens. Für den Bau der Junker F 13, des ersten Ganzmetall-KabinenVerkehrsflugzeugs, hatte man in den Junkerwerken neue Arbeitsmittel für einen effektiven Fertigungsablauf entwickelt: Montagehocker und -tische waren mit Kufen aus Aluminiumrohr versehen und konnten in den Wellblechsicken des Flugzeugs wie ein Schlitten zum jeweiligen Arbeitsgang gezogen werden (Abb. 8).30 Die Kufen übernahm Breuer 1925 zunächst für 29 | Ausst.-Kat. Machine Art, The Museum of Modern Art, New York 1934. 30 | Die Aluminiumkufen dieses technischen Hilfsmobiliars der Moderne unterschieden sich damit grundlegend von den Kufen herkömmlicher Schlitten, die zumeist aus mit Eisenschienen beschlagenem Buchenholz bestanden. Vgl. Frank Matthias Kammel: Heiße Kufen. Schlittenfahren: Repräsentation, Vergnügen,
Abbildung 9: Marcel Breuer: Modell B9, 1925. Seite aus dem Katalog Breuer Metallmöbel der Firma Standardmöbel, Dessau 1927 Abbildung 10: Marcel Breuer: Modell B 32, 1928-29 (Ausführung: unbekannte italienische Firma, ca. 1980). MAK, Wien
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die Hocker, mit denen er die Studentenkantine im neuen Bauhausgebäude ausstattete (Abb. 9).31 Fritz Müller, der als Lehrling bei Junkers von Schlossermeister Karl Körner zu den Experimenten hinzugezogen wurde, erinnert sich, dass Breuer vor allem vom Gleiten der Kufen auf dem Linolboden in Körners Meisterstube begeistert war.32 Auch der ungleich aufwendigere Klubsessel, an dem Breuer damals kontinuierlich arbeitete – und den er von seinen Möbeln für »am wenigsten ›wohnlich‹, am meisten maschinenmäßig«33 hielt –, wurde schließlich mit schlittenförmigen Kufen versehen: »So ist es unbestritten Breuers Verdienst, die industriebedingte Kufenform, wie er sie am Junkersmontagehocker vorfand, in einer ästhetisch neuen Qualität auf dem Gebiet der Sitzmöbel entdeckt zu haben.«34 Entscheidend für diese ästhetische Neuerung erscheint es allerdings, dass sich in den Kufen der Stahlrohrmöbel formale und funktionale Ansprüche unter dem Gesichtspunkt der Mobilität auf grundlegend neue Weise verschränkten. Denn genau in diesem Punkt unterscheidet sich das Stahlrohrmobiliar von anderen Möbeltypen und -stilen, die bereits über Kufen oder kufenähnliche Elemente verfügten. In einem Aufsatz über Breuers Rolle als Möbeldesigner hat der Kunsthistoriker Otakar Máčel auf die formalen Übereinstimmungen der modernen Stahlrohrstühle zu den klassischen Bugholzmöbeln hingewiesen, und dabei angemerkt, dass auch die Kufen bereits von den Bugholz-Schaukelstühlen sowie den Möbeln aus dem Umfeld der Wiener Werkstätte – etwa den Stühlen von Josef Hoffmann – her bekannt gewesen seien.35 Tatsächlich war es bei den Schaukelstühlen die Auflösung der Stuhlbeine in gebogene Kufen, die das Schaukeln erst ermöglichte; zugleich fand dadurch aber eine Beschränkung auf eine festgelegte Bewegung statt: So ist der Schaukelstuhl eben ein Stuhl, der in erster Linie dem Schaukeln dient und dem »Virtuosenschaukler« – wie es Bernard Rudofsky ironisch in seiner »Pathologie des Schaukelns« formulierte36 – zu einem wahren Perpetuum mobile werde. Diese spezifische Ausprägung von Mobilität entsprach also im Wesentlichen der Anpassung des Stuhls an eine bestimmte Tätigkeit, wie GiediSport (= Kulturgeschichtliche Spaziergänge im Germanischen Nationalmuseum Bd. 10), Nürnberg 2007, S. 37. 31 | Helmut Erfurth: »Von Junkers kam die Kufe«, in: Axel Bruchhäuser (Hg.): Flying Furniture: unsere Architektur rollt, schwimmt, fliegt, Köln 1999, S. 162. Ich danke Axel Bruchäuser und Christian Drescher von Tecta, die mich auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht haben. 32 | Helmuth Erfurth/Fritz Müller: Marcel Breuer erfindet den Stahlrohrstuhl. Ein Gesprächsprotokoll, hrsg. von Tecta/Stuhlmuseum Burg Beverungen, Köln 2002, S. 29. 33 | Breuer 1980 (wie Anm. 9), S. 158. 34 | Erfurth 1999 (wie Anm. 31), S. 162. 35 | Máčel 2003 (wie Anm. 17), S. 54. 36 | Vgl. das Kapitel »Pathologie des Schaukelns«, in: Bernard Rudofsky: Sparta/ Sybaris. Keine neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut Not, Salzburg, Wien 1987, S. 36-55, S. 46.
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on dies für die Patentmöbel des 19. Jahrhunderts beschrieben hat.37 Und auch die am Boden verlaufenden Querleisten bei den Stühlen oder Tischen der Wiener Werkstätte unterscheiden sich grundlegend von den Kufen der Stahlrohrmöbel: Stabilisierende Querverstrebungen der Stuhl- oder Tischbeine können auch knapp unterhalb der Sitzfläche beziehungsweise der Tischplatte verlaufen; ihre Positionierung als Kufen in Bodenhöhe ist daher in erster Linie als formale Lösung zu betrachten.38 Dagegen vermittelten die Kufen, die bei den Stahlrohrmöbeln in den 1920er Jahren an die Stelle konventioneller Stuhl- und Tischbeine traten, eine neue Auffassung von Mobilität im Interieur: »die schlittenform erhöht die beweglichkeit«, schrieb Breuer in seinem 1928 in der Zeitschrift »Das Neue Frankfurt« veröffentlichten Aufsatz über »metallmöbel und moderne räumlichkeit«. Gemeint war damit die Beweglichkeit der Möbel im Raum – das Mobiliar durfte nicht länger massig, monumental und scheinbar festgewachsen sein: »wir kommen also zu einrichtungen, zu räumen, zu bauten, welche in möglichst allen ihren teilen veränderlich, beweglich und verschieden kombinierbar sind.«39 Die Stahlrohr-Kufenstühle bedingten somit in gewisser Weise eine – mit Moritz Heimann gesprochen – »Verkehrserleichterung« im Innenraum. Doch erst durch das Weglassen der Hinterbeine geriet der Stuhl selbst in Bewegung, wurde der Kufenstuhl in sich beweglich. Und erst durch diese Erfindung des Freischwingers konnten die Eigenschaften des neuen Materials Stahlrohr so genutzt werden, dass die Möbel nicht nur ästhetisch einer Maschine entsprachen, sondern durch ihre Konstruktion tatsächlich Anforderungen an den neuesten Stand der Technologie stellten. Ende 1927 eignete sich Breuer Stams kubischen Entwurf des freitragenden Stahlrohrstuhls an: Indem er den Rohrdurchmesser und den Biegeradius vergrößerte und die Rückenlehne leicht nach hinten neigte – wodurch die Elastizität des Stahlrohrs besser ausgeschöpft wurde –, war den unter seinem Namen von Thonet und später auch zahlreichen anderen Konzernen produzierten Modellen des Freischwingers der größte Erfolg beschieden (Abb. 10). Offenbar in Anlehnung an die historische Entwicklung der Freischwinger als schlittenförmige Kufenstühle – und diese gewissermaßen zugleich umkehrend – hat die Firma Thonet, die um 1900 auch Bugholzschlitten im Programm hatte, 2006 einen Stahlrohrschlitten mit einer freitragenden und freischwingenden Sitzfläche entwickelt.40 37 | Giedion 1982 (wie Anm. 6), S. 447. Vgl. zu diesem Thema auch Fridtjof Schliephacke: Der Bewegungsstuhl 1700-1984. Entwicklungsgeschichte des mechanisierten Sitzens, Berlin 1984. 38 | Eine Ausnahme bildet dabei tatsächlich die von Má č el angeführte Sitzmaschine von Josef Hoffmann, deren Kufen formal wie funktional begründet erscheinen. Die Beweglichkeit dieses Möbelstücks ist dabei allerdings zur Gänze in die verstellbare Rückenlehne verlagert. 39 | Breuer 1928 (wie Anm. 22), S. 11. 40 | Modell S 333; Design: Holger Lange.
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III. A LTES M ATERIAL IN NEUER F ORM : D ER F REISCHWINGER AUS H OL Z Um 1930 hatte die Produktion von Stahlrohrmöbeln ihren Höhepunkt erreicht, innerhalb nur weniger Jahre war eine nicht mehr zu überblickende Anzahl verschiedener Modelle allein von Freischwingern entstanden. Aber schon kurz nach dem Aufkommen der Stahlrohrmöbel hatte sich auch Kritik an dem neuen Material breitgemacht, das häufig als kalt, hart, unwohnlich oder gar als unmenschlich empfunden wurde.41 So kam es in den 1930er Jahren zu einer Rückbesinnung auf das organische Material Holz, das den Apologeten der Maschinen noch als Indikator für Handarbeit und das überkommene Formenrepertoire von Schreinerarbeiten gegolten hatte. Unter den Möbelgestaltern der Moderne wird heute wie kaum ein anderer der finnische Architekt Alvar Aalto mit Holz in Verbindung gebracht; seine Neigung zu dem organischen Material gilt als stilbildend für den Möbelbau der dreißiger Jahre.42
Abbildung 11: Alvar Aalto: Modell Nr. 31, 1931-32 (Ausführung: Artek, 1935). Birkenholz (massiv und laminiert), Schichtholz (lackiert). MAK, Wien 41 | Vor allem die Kälte ist ein immer wieder bemängelter Effekt der Stahlrohrmöbel. Vgl. dazu Helmut Lethen: »Von der Kälte des Materials in den Zwanziger Jahren«, in: Daidalos, Nr. 56 (Juni 1995), S. 50-60. Ich danke Dietmar Rübel für den Hinweis auf diesen Text. 42 | Giedion 1982 (wie Anm. 6), S. 549ff.
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Aalto war von der technischen und konstruktiven Rationalität der am Bauhaus entworfenen und seriell produzierten Stühle überzeugt und nicht zuletzt auch von der Elastizität des verwendeten Materials, die das frei schwebende Sitzen erst möglich gemacht hatte, dennoch erschien ihm das Stahlrohr – von der grell blitzenden Oberfläche bis hin zu seiner akustischen Klangfarbe – als unpassend für Wohnräume.43 Ausgehend von den Stahlrohrstühlen Marcel Breuers, die er sich Ende der 1920er Jahre nach Finnland hatte kommen lassen, versuchte Aalto stattdessen, entsprechende – frei schwingende – Stühle in Holz zu entwickeln. Zunächst fertigte er einen federnden Sperrholzsitz mit geschwungener Rückenlehne an, den er allerdings noch auf ein U-förmiges Untergestell aus Stahlrohr zu einem »hybriden« Stuhl montierte. Bei der »Nordic Building Exhibition« in Helsinki 1932 präsentierte Aalto schließlich das für die Einrichtung des Sanatoriums in Paimio entworfene »Modell Nr. 31« mit einem geformten Sperrholzsitz und freitragenden Kufen aus Schichtholz, die in einer durchgehenden Linie zugleich Beine, Armlehnen und den die Rückenlehne stabilisierenden Teil bildeten (Abb. 11): »Hier machte er [Aalto – Anm. d. Verf.] sich die besondere Elastizität des Birkenholzes zunutze, die man in den nordischen Ländern vorher nur bei Skiern eingesetzt hatte«44 , heißt es bei Giedion. Allerdings übernahm der finnische Architekt für seine Möbel zusammen mit der Holzart auch die sehr spezialisierte Verarbeitungsweise der Skiherstellung: Da Skier aus Vollholz den Zug- und Druckkräften des Skifahrens nur unzureichend gewachsen waren und sich aufgrund der Torsionskräfte propellerartig um ihre Längsachse verzogen, war vor allem in den skandinavischen Ländern seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Herstellung von Skiern aus mehreren Holzschichten experimentiert worden. Bis 1930 hatte sich in der Produktion ein Verfahren durchgesetzt, bei dem die verleimten Laminate unter Wärmeeinwirkung in die gewünschte Form gepresst wurden; die Stabilität und Elastizität der Skier konnte dadurch erheblich gesteigert werden.45 Aalto griff also zu Beginn der dreißiger Jahre auf eine technische Neuerung auf dem Gebiet der Holzverarbeitung zurück, durch die das Material so belastbar und biegsam gemacht wurde, dass es auch dem Schwingen auf freitragenden Stühlen standhielt. Fast hat es den Anschein, als sei Aaltos Stuhl – der formal eine große Ähnlichkeit zu dem 1929 von Mies van der Rohe für die Villa Tugendhat entwickelten »Brno-Stuhl« in der Ausführung mit Flachstahlbändern aufweist – aus einer zwischen zwei gebogene Skier eingehängten Sitzfläche konstruiert (Abb. 12). 43 | Vgl. »Excerpts from Alvar Aalto’s Articles on Interior and Furniture Design«, in: Ausst.-Kat. Alvar Aalto. Furniture, Museum of Finnish Architecture, Helsinki u.a., Cambridge, London 1985, S. 114-119. 44 | Giedion 1982 (wie Anm. 6), S. 549f. 45 | Patrik Steinhilber: Die Bedeutung der Ausrüstung für die Entwicklung des alpinen Skilaufs, unveröffentlichte Magisterarbeit, Stuttgart 1995, S. 29ff. Vgl. auch das Stichwort von Ernest Simharl: »Holzschichtenski«, in: Ders.: Ski-Handbuch, Wels 31971. Für Hinweise danke ich Alois Anthofer und Hannes Nothnagl vom Wintersportmuseum in Mürzzuschlag (Österreich).
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Abbildung 12: Werbeplakat für das Vallée D’Aoste. Frankreich, 1940er Jahre
Um 1935 adaptierte der aus Deutschland stammende Designer KemWeber in Amerika Aaltos organisches Freischwinger-Design in Holz für sein Modell »Airline« (Abb. 13). Dabei sollte nicht allein die Bezeichnung des Armlehnsessels als »Fluglinie« Luftfahrt, Dynamik und Geschwindigkeit assoziieren lassen, auch das Design entsprach den geschmeidigen, aerodynamisch abgerundeten Formen eines Flugzeugs:
Abbildung 13: Kem Weber: Airline, 1934-35 (Ausführung: Airline Chair Company), Birken- und Eschenholz, Wollpolsterung mit Baumwollbezug. Museum of Fine Arts, Montreal
»The name chosen by the designer for his chair signifies little beyond a desire to associate the design with the fastest and most up-to-date product of modern industry. The aesthetic feature shared by airplanes and the armchair was clearly the application of the principle of aerodynamics.« 46
Vor allem in Amerika war der so genannte »Stromlinien-Stil« charakteristisch für die 1930er Jahre: »Die Entwicklung der Aerodynamik und ihre Anwendung auf Luftschiffe und Flugzeuge« habe im Publikum einen Sinn für fließende Linien geweckt, stellte Giedion 1948 in der »Herrschaft der Mechanisierung« fest: »Diese Linien wurden vom Entwerfer als dekoratives Element empfunden und betont, um den Eindruck der Schnelligkeit zu geben.« Und es sei nur natürlich, schrieb der Ingenieur und Architekturtheoretiker weiter, »daß das Zeitalter der Bewegung eine Bewegungsform wie die Stromlinie zum Symbol erhebt und es immer und überall anzuwenden trachtet.«47 Die stilistische Ausdrucksform des Streamlining 46 | Christopher Wilk: »Kem Weber. Armchair: Airline«, in: Ausst.-Kat. What Modern Was. Design 1925-1965, Les Musée des Arts Décoratifs de Montreal u.a., New York 1991, S. 77. 47 | Giedion 1982 (wie Anm. 6), S. 655 und 658.
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verlieh selbst unbewegten Gegenständen mehr als nur einen Anflug von Beschleunigung und Geschwindigkeit: »As an aesthetic style mark, and a symbol of twentieth-century machine-age speed, precision, and efficiency, it has borrowed from the airplane and made to compel the eye anew, with the same flash-and-gleam beauty re-embodied in all travel and transportation machines intended for fast going«, 48
schrieben Sheldon und Martha Cheney 1936 in ihrem einflussreichen Buch über »Art and the Machine«. Indem die Stromlinie zum »formbestimmenden Element amerikanischer Transportmittel und Haushaltsgeräte« wurde, führte sie als »Fortschrittsmetapher« über die Geschwindigkeit des Verkehrswesens hinaus auch die Beschleunigung einer technokratischen Gesellschaft vor, deren Arbeitsabläufe und Herstellungsverfahren einem immer rascheren technologischen Wandel unterlagen.49 Als einer der Exponenten des Stromlinien-Stils hatte Weber in einem kurzen Statement zu modernem Design 1929 dafür plädiert, die Formen der Gebrauchsgegenstände aus den Gegebenheiten der modernen mechanisierten Umwelt zu entwickeln: »When I think of motor cars, skyscrapers, machinery, endless streets and subways, elevators going up and down, of theaters, of moving pictures, of the fashion of our day, it is hard for me to comprehend that the stately, stiff and correct chair of our forefathers – those of Spain, Italy and England, those of the sixteenth, seventeenth and eighteenth centuries – are the proper solution. We have electricity, gas, water, technically the latest improvements connected up in every one of our homes, and in trying to express my solution to what modern commodities should look like, I find that my designs develop themselves out of simple, plain forms of
48 | Sheldon und Martha Cheney (1936); zit. nach: David A. Hanks/Anne Hoy: American Streamlined Design. The World of Tomorrow, Paris 2005, S. 17. 49 | Christoph Bignens: »Gesellschaft im Windkanal. Europa und der Amerikanismus«, in: Ausst.-Kat. Stromlinienform, Museum für Gestaltung Zürich u.a., Zürich, Baden 1992, S. 71-77, hier S. 71. Auch in Deutschland »schienen Staubsauger und Feuerzeuge in rasantem Start davonfliegen zu wollen«, wie Gerd Selle über die Stromlinienform im deutschen Design schrieb: »Sie war Ende der dreißiger Jahre eine Art Kulturausdruck, sie hatte damit eine allgemeine Qualität als internationales Symbol, aber sie hatte auch eine besondere Qualität, nämlich als eine Form, die man für die deutsche Technik reklamieren und als Wertausdruck in Beschlag nehmen konnte. Die Mercedes-Kompressor-Cabriolets, die Hitler so liebte, standen auch für den Technikstolz des nationalsozialistischen Deutschland.« Gert Selle: »Technik und Design. Stichworte zu einem Verhältnis und seinen Auswirkungen in Deutschland«, in: Tillmann Buddensieg/Henning Rogge (Hg.): Die nützlichen Künste. Gestaltende Technik und Bildende Kunst seit der Industriellen Revolution, Berlin 1981, S. 353-359, hier S. 353.
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S EBASTIAN H ACKENSCHMIDT good proportions, rather than being influenced by the fashionable smartness of our present time.« 50
Wiewohl der »Airline-Sessel« formal zweifellos dem mit zeitgemäßer Technik konnotierten Stromlinien-Stil entsprach und – wie es Christopher Wilk beschrieb51 – durch den ihn umgebenden Luftstrom selbst gestaltet worden zu sein schien, berief sich Weber hinsichtlich der Konstruktion und Materialverarbeitung doch vielmehr auf altertümliche Vorbilder: »The construction is based on the principle of the laminated bows used by the Egyptians and since forgotten. It is the most powerful method for combining strength and resiliency, according to Mr. Weber.«52 Dass der Designer für seinen Freischwinger die Spannbarkeit und Schnellkraft eines altägyptischen Bogens in Anspruch nahm – und damit eine geradezu mythische Waffentechnologie 53 in das Design des 20. Jahrhunderts zu überführen behauptete –, liegt wohl vor allem in dem Bestreben des US-amerikanischen Maschinenzeitalters nach einer einfachen und geradlinigen Gestaltung begründet, die bei der Weiterentwicklung der Produktkultur jeglichen Anschein von dekadenter Elaboration und kraftloser Verfeinerung von vorneherein auszuschließen hatte, wie der amerikanische Designer und Designtheoretiker Walter Dorwin Teague 1940 in seinem Buch »Design This Day« konstatierte.54 Das zugleich zeitgenössische und zukunftsweisende Design sollte »klassisch« anmuten und ohne barocke Schnörkel oder überflüssiges Ornament auskommen. Mit einem explizit »primitivistischen« Impetus berief sich Teague mithin auf die Techniken und Gerätschaften der griechischen Antike und des alten Ägypten: »We are primitives in this new machine age. We have no developed history behind us to use in our artistic creations. We have no theories, no vocabulary of ornament behind us to use in our work. That is why so much of our modern work today has a certain stark and simple quality that relates it very closely to primitive work of Greece, of Egypt, and of most people who were discovering their techniques and their tools.« 55
50 | Kem Weber: »Modern Art Movement« (unpubliziertes Statement, 1929), www. uam.ucsb.edu/Pages/weber_lecture.html (Juli 2007). 51 | Wilk 1991 (wie Anm. 46), S. 77. 52 | Creative Design (1935); zit. nach: Hanks/Hoy 2005 (wie Anm. 48), S. 158. 53 | Bögen aus verschiedenen Holzschichten in Sandwichbauweise, die oft zusätzlich mit Horn und Tierhaut verstärkt wurden, waren in vielen – vor allem asiatischen – Kulturen verbreitet und keinesfalls auf Ägypten beschränkt. 54 | Walter Dorwin Teague: Design this Day. The Technique of Order in the Machine Age, London, o.J. (1946), S. 106. 55 | Walter Dorwin Teague; zit. nach: www.themomi.org/museum/articles/golde nacoustics/5.html (Juli 2007).
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Webers Armlehnsessel im Streamline-Design spannte also gewissermaßen den Bogen zwischen den Technologien der frühen Hochkultur Ägyptens und der modernen Gegenwart; zugleich stellt er damit den Versuch dar, eine traditionelle Form der Holzverarbeitung für das Zeitalter der Maschinen, Apparate und »Automobile« zu aktualisieren. Aber obwohl Weber mit seinem »Airline« den vielleicht optisch »schnellsten« Freischwinger geschaffen hatte, wurde dieser nie in industrieller Massenfertigung, sondern lediglich in wenigen Exemplaren handwerklich produziert. Entworfen für die modernen Innenräume des amerikanischen Maschinenzeitalters, hätte er sich wohl vor allem für die Wartesäle von Flughäfen geeignet und damit der leichten Anspannung entsprochen, die die meisten Menschen noch heute vor dem Einstieg ins Flugzeug befällt.
IV. D ER F REISCHWINGER ALS P ROTOT YP EINER RUHELOSEN S ESSHAF TIGKEIT »Die schönsten Häuser nützen nichts, wenn die Bewohner sich die Errungenschaften der modernen Zeit nicht auch in der Lebensführung zu eigen machen«, schrieb Georg Muche 1924 über das Versuchshaus des Bauhauses in Weimar: »Die altmodische Gesinnung macht auch das schönste und praktischste Haus zu einer Rumpelkammer, die mit unzweckmäßigen, veralteten Möbeln, mit überflüssigen kunstgewerblichen Gegenständen, mit Erinnerungs- und Erbstücken angefüllt ist […]. Das Ideal des Wohnhauses liegt in der Zukunft und nicht in irgendwelchen vergangenen Kulturepochen.« 56
Muches Text – wie überhaupt die ganze Begleitpublikation zu dem Weimarer Versuchshaus – war als Anleitung zu verstehen, wie die vom Bauhaus erarbeiteten, mit Möbeln und Geräten ausgestatteten Wohnungen für eine zukünftige Lebensweise und – in der Terminologie der damaligen Zeit – zur »Pflege der körperlichen und geistigen Gesundheit« zu nutzen seien.57 Aber weit mehr als die manifestartigen Äußerungen waren es – so Konrad Wünsche in seinem Buch über »das Bauhaus und die Versuche, das Leben zu ordnen« – der Bau und die darin befindlichen Dinge des Alltags selbst, in denen ein erzieherischer Gedanke zutage trat: »Das Bauhaus kümmerte sich um die innere Ausstattung seiner Häuser und suchte Angebote für alles und jedes Mobiliar und Gerät auszuarbeiten; ja, daß solche Angebote wirklich und ausdrücklich gemacht wurden, muß an den konkreten Bauten und den Dingen darin verstanden werden, nicht an den verbalen Erklärungen 56 | Georg Muche: »Das Versuchshaus des Bauhauses«, in: Adolf Meyer (Hg.): Ein Versuchshaus des Bauhauses in Weimar (1924), Weimar 2003, S. 15-19, hier S. 15. 57 | Muche 2003 (wie Anm. 56), S. 15.
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S EBASTIAN H ACKENSCHMIDT und Rechtfertigungen, zu denen sich die Erbauer und Erfinder gedrängt fühlten. Zunächst sollte sich das Interesse auf das Haus, das Wohnen darin und auf die Dinge richten. Die Dinge waren es und nicht Worte, mit denen das Bauhaus ›erzog‹, wenn so überhaupt seine Tätigkeit zutreffend bezeichnet ist.« 58
Die erzieherische Absicht,die Wünsche in den Dingen erkennt, manifestierte sich über die engeren Grenzen des Bauhauses hinaus auch in vielen anderen Geräten und Apparaten der Moderne59 – insbesondere auf dem Gebiet der Sitzmöbel.60 Da Stühle in der klassischen Moderne von Architekten häufig nach denselben Grundsätzen wie Häuser und Gebäude konstruiert wurden, aber viel leichter realisiert werden konnten, ließen sie sich einerseits als Architekturmanifest verstehen. Andererseits waren die neuen Stühle aber durchaus als »Anleitung zum richtigen Sitzen« intendiert und damit so etwas wie Sitzmaschinen, in deren Gestaltung »der Vollzug der Sitzfunktion durch den künftigen Benutzer« miteinbezogen war.61 Der Freischwinger kann geradezu als Paradebeispiel für diese beiden Aspekte gelten; nicht nur entsprach er der gewandelten Raumauffassung der Architektur der 1920er Jahre mit ihren überkragenden, scheinbar schwebenden Bauteilen, sondern er kam mit seinen federnden und schwingenden, die körperliche Last suspendierenden Eigenschaften auch in besonderem Maße einem modernen – aktiven und zugleich entlasteten – Sitzgefühl entgegen. Als Sitzmaschine, so könnte man vielleicht auch sagen, bildete der Freischwinger den modernen Menschen noch im Ruhezustand zu einem aktiven Verkehrsteilnehmer aus. In diesem Sinn ließe sich der Freischwinger mit Paul Virilio gar als ein »Simulator« auffassen, der die Zeitgenossen in den 1920er Jahren für den »Aufschwung des automobilen Vehikels« konditionierte.62 In seinem 1990 58 | Konrad Wünsche: Bauhaus: Versuche, das Leben zu ordnen, Berlin 1989, S. 25f. 59 | Der Begriff der Erziehung war offenbar unter den Bauhäuslern selbst durchaus verbreitet; so schrieb etwa der Mitarbeiter der Bauhaustischlerei Ernst Gebhard 1926: »Die neue Wohnung wird den Menschen zu einer neuen Ordnung erziehen müssen.«; zit. nach: Wünsche 1989 (wie Anm. 58), S. 36. Wohl in diesem Sinne der Erziehung zu einer neuen Ordnung hat sich auch Grete Tugendhat über die Bewohnbarkeit ihres von Mies van der Rohe erbauten Wohnhauses geäußert; die Strenge der Räume verbiete »ein nur auf ›Ausruhen‹ und Sich-Gehen-Lassen gerichtetes Die-Zeit-Verbringen – und gerade dieses Zwingen zu etwas anderem hat der vom Beruf ermüdete und dabei leergelassene Mensch heute nötig und empfindet es als Befreiung«. Grete Tugendhat: »Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich«, in: Die Form, H. 11 (1931), S. 437-438, hier S. 437. Ich danke Monika Wagner für den Hinweis auf diesen Text. 60 | Zur Geschichte der Disziplinierung zum »richtigen« Sitzen durch den Stuhl vgl. Hajo Eickhoff: Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München, Wien 1993. 61 | Wünsche 1989 (wie Anm. 58), S. 47. 62 | Paul Virilio: Rasender Stillstand (1990), München, Wien 1992, S. 42.
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erschienenen Buch »Rasender Stillstand« hat Virilio die Entwicklung von Simulationsmaschinen beschrieben, die vom Militär zur Einübung in eine immer schneller werdende Kriegstechnologie verwendet werden: »Nach dem Heimtrainer der Piloten des Ersten Weltkrieges, dem Drehstuhl für die Pilotenausbildung des Zweiten Weltkrieges und der Zentrifuge für die künftigen Astronauten der NASA – ›Tauglichkeits- oder Untauglichkeitstests unter authentischen Bedingungen der Schwerelosigkeit‹ – entwickelt man seit zehn Jahren immer leistungsstärkere ›Simulatoren‹ für die künftigen Auszubildenden des Überschallfluges.« 63
In Entsprechung zu solchen militärischen Simulatoren, an denen Piloten ausgebildet werden, könnte der Freischwinger also für den zivilen Bereich ein häuslicher Simulator für die Beschleunigungen des 20. Jahrhunderts gewesen sein – und damit gewissermaßen eine Vorstufe zu einer paradoxerweise durch zunehmende Mobilität gesteigerten Sesshaftigkeit, deren Entwicklung Virilio in seinem Buch nachvollzogen hat: Der französische Dromologe vertritt die Ansicht, dass die Entwicklung immer schnellerer Gefährte und Geschosse einerseits, in denen der menschliche Körper nahezu reglos vor einem Steuer sitzt, und andererseits die Entstehung einer über Bildschirme vermittelten elektronischen Optik, die die Wahrnehmung von Geschwindigkeit nicht länger an eine tatsächliche, physische Ortsveränderung bindet, zu einem rasenden Stillstand geführt habe. Zugleich habe sich die verstädterte Menschheit, wie Virilio bereits andernorts ausgeführt hat, dabei vor den ubiquitären Bildschirmen und unter dem Eindruck zunehmender Kommunikationsvernetzung – mit Zugang zu allen Netzen, Anschlüssen und Medien – immer mehr zu einer »sitzenden Menschheit« entwickelt: »Diese Sklerose des Verhaltens, diese Bewegungen, die zu simplen Gesten der oberen Gliedmaßen gerinnen, weisen auf die Desanimalisierung der Verkehrsteilnehmer.«64 Der Journalist Joseph Hanimann hat diesen Gedanken einer körperlichen Verkümmerung durch das Sitzen als »Grundhaltung des mobilen Lebensgefühls mit seiner konstanten Halbwachsamkeit vor den Apparaturen« aufgenommen und als »postdynamische Sesshaftigkeit« beschrieben: »Mit Händen und Füßen, Augen und Ohren sind wir in die halb realen, halb imaginären Verkehrsnetze eingebunden, perzeptiv überreizte und motorisch verkümmerte Geisterfahrer im ortlosen Raum.« Er schlägt deshalb vor, den Rollstuhl als Prototypen dieser »ruhelosen ›Sesshaftigkeit‹« zu verstehen, als zynisches Sinnbild einer Menschheit, die – sozusagen gefesselt vor und von den Bildschirmen – die Gehfähigkeit eingebüßt hat.65 Es sei einmal dahingestellt, ob der Rollstuhl tatsächlich ein gut gewählter »Prototyp« für die vermeintlich rasende Bewegungslosigkeit ist, der »al63 | Ebd., S. 48 (Hervorhebungen im Original). 64 | Virilio 1978 (wie Anm. 10), S. 38 (Hervorhebungen im Original). 65 | Joseph Hanimann: Vom Schweren. Ein Geheimes Thema der Moderne, München, Wien 1999, S. 89f.
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les per Knopfdruck gleich nah und fern ist«66; gleichwohl unterscheidet sich diese postmoderne Auffassung einer postdynamischen, desanimalisierten und nur noch halbwachsamen Sesshaftigkeit vor den Bildschirmen und Apparaturen in ihrer negativen Übertreibung grundlegend von dem aktiven Sitzen der Moderne, wie es Le Corbusier – einer der wenigen bekannten Designer klassischer Stahlrohrmöbel, die keinen Freischwinger entworfen haben – geradezu instruktiv zum Ausdruck gebracht hat: »Man sitzt ›aktiv‹, wenn man arbeitet.«67 Für Le Corbusier war der Stuhl noch ein Marterinstrument, das ihn beim Arbeiten wach zu halten hatte. Über eine solch konkret zugewiesene Funktion hinaus wäre aber zu fragen, ob die neuen Sitzmöbel – als »Apparate heutigen Lebens«, wie es Breuer formulierte – nicht an einer generellen Mobilisierung in den 1920er Jahren Anteil hatten: Könnte nicht eine der geheimen Botschaften des Freischwingers gewesen sein, das Menschenmaterial sozusagen »in Fahrt zu halten«, wie es Virilio in Anlehnung an Vannevar Bush anhand des Automobilverkehrs in Amerika veranschaulicht hat? »Die Jugendlichen, die zu Tausenden Auto fahren, sich mit Mechanik, mit den Gesetzen der Kraftübertragung und des Verkehrs beschäftigen, sich an motorische Ausdauer gewöhnen, erhöhen unbewußt die militärische Kapazität der Vereinigten Staaten«68 – Gleiches müsste dann selbstverständlich auch für die europäischen Kriegsnationen gelten. Der Freischwinger war aber sicherlich kein intentionales Instrument für die militärische Mobilisierung der Massen – schon allein deshalb nicht, weil die preiswerte, serielle Massenfertigung dieser Stühle für den Volksbedarf immer hinter dem sozialen Anspruch der Entwerfer zurückblieb.69 Mehr und mehr verhärtet sich aber die Annahme, dass Apparate die menschliche Wahrnehmung determinieren, die Psyche und den Körper konditionieren, dass der Mensch nur mehr die Gebote der Geräte ausführt, dass also die Technik und nicht mehr der Mensch das eigentlich handelnde Subjekt der Geschichte sei, wie dies Günther Anders in seinem Entwurf für eine »Dingpsychologie« ausgeführt hat.70 Die Erzeugnisse der Warenwelt schienen ihm längst nicht mehr Sachen für einen beliebigen Gebrauch zu sein, sondern gleichsam »Ding gewordene Maximen und geronnene
66 | Hanimann 1999 (wie Anm. 65), S. 90. 67 | Le Corbusier 1964 (wie Anm. 26), S. 116. 68 | Virilio 1978 (wie Anm. 10), S. 15. 69 | Während des Dritten Reichs waren Stahlrohrmöbel zudem »in Deutschland verbannt«; Erika Gysling-Billeter: »Die angewandte Kunst: Sachlichkeit trotz Diktatur«, in: Ausst.-Kat. Die Dreißiger Jahre. Schauplatz Deutschland, Haus der Kunst, München u.a., Köln 1977, S. 170-197, hier S. 185. Andererseits wuchs die Stahlrohrproduktion in Deutschland in den 1930er Jahren nachweislich kontinuierlich an. Vgl. Otakar Máˆcel: Der Freischwinger. Vom Avantgardeentwurf zur Ware, Delft 1992, S. 95ff. Ich danke Otakar Máˆcel für diesen Hinweis. 70 | Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde., München 1980, Bd. 2, S. 58ff. Für den Hinweis auf Anders danke ich August Ruhs.
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Handlungsmodi«71 . In diesem Sinne hat dann auch Bruno Latour für eine »Dingpolitik« plädiert, und dafür, Dinge gemeinsam mit menschlichen Individuen und sozialen Positionen als Aktanten aufzufassen.72 So gesehen wäre der Freischwinger, der sowohl in funktioneller und technologischer als auch in formaler und ästhetischer Hinsicht Bezüge zu der Entwicklung und Gestaltung zeitgenössischer Verkehrsmittel aufweist, mehr als nur ein Ausdruck der großen Beschleunigung, die seit der Jahrhundertwende das gesamte Verkehrswesen erfasst hatte und zu einem Topos der Moderne wurde. Wenn man die Moderne – wie Johannes Roskothen in seinem Buch über »Verkehr« vorschlägt – als Verkehrszustand denken kann, so lässt sich der Freischwinger als Inkunabel dieser Moderne als Aktant sehen – Triebfeder und Anhaltspunkt einer inneren Anspannung, die sich aus einer erhöhten Verkehrsgeschwindigkeit ergab und diese zugleich »forcierte«.
Dieser Text basiert zu einem Teil auf dem Beitrag zum Ausst.-Kat. Frei Schwingen. Stühle zwischen Architekturmanifest und Materialexperiment, Österreichisches Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst (= MAK Studies Bd. 7), Wien 2006. Die hier vorliegende, für diesen Band nochmals leicht überarbeitete Version ist zuerst erschienen in: Katharina Ferus/Dietmar Rübel (Hg.): »Die Tücke des Objekts« – Vom Umgang mit Dingen, Berlin 2009, S. 92-119.
71 | Vgl. Norbert Hofmann: »Wegwerfwelt. Günther Anders’ ›Die Antiquiertheit des Menschen‹«, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.): Günther Anders Kontrovers, München 1992, S. 173-188, hier S. 177f. 72 | Vgl. Bruno Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik. Wie man Dinge öffentlich macht, Berlin 2005.
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Der »Popometer« oder Die Botschaft der Geschwindigkeit Klaus Engelhorn
»Weil i fahr jetzt jeder Limousin’ vor, schließlich liebt der Mensch von heut den Spurt, zwar hab i ka Ahnung wo i hinfahr, aber dafür bin i g’schwinder durt!«1
Strenggenommen ist der Autositz kein Möbel; vielmehr ist er integraler Bestandteil eines Fahrzeugs. Aber als Teil einer Maschine, die der Fortbewegung dient, ist er mobil – rasend mobil. Und neben dem Bürosessel ist der Fahrersitz immerhin diejenige Sitzgelegenheit, über deren Bequemlichkeit sich die Industriedesigner und Ergonomen die meisten Gedanken machen, in deren technologische Weiterentwicklung sie die meiste Forschung und das meiste Geld investieren: »Der Fahrersitz«, hat Andrew Leuchtmann, Manager der Sitzentwicklung bei General Motors in Europa, ausgeführt, »dominiert den Innenraum eines Automobils, er stellt die Hauptverbindung zwischen Mensch und Fahrzeug dar. Aspekte wie Sicherheit, Komfort und Fahrspaß definieren sich maßgeblich über den Sitz.«2 Tagtäglich bewegen sich »tosende und abertosende«3 von Menschen in diesen Sitzen durch ihr Leben: zur Arbeit, zur Freizeit, zu ihrer Familie oder zu Freunden – und oft genug auch in den Tod.4 Angesichts der Zeit, die die Bewohner der Industrienationen – und vermehrt auch die der Schwellenländer – in Autos verbringen, soll die Fahrt natürlich möglichst komfortabel sein: Wenn wir das Auto also als eine Art Sitzgruppe auf vier Rädern betrachten, dann hat sich der Fahrersitz wohl noch vor dem Fernseh-Fauteuil das Anrecht erworben, als bürgerlicher Thron gelten zu kön1 | Aus »Der Halbwilde« (1962), dem Song, mit dem Helmut Qualtinger berühmt wurde. 2 | Andrew Leuchtmann: Der Sitz als Schnittstelle zwischen Auto und Mensch. Workshop »Gesund sitzen im Auto«, 27.08.2008, www.gmeurope.info/insignia/ downloads/opel/at/pdf/AT_03_Insignia.pdf (Juni 2010). 3 | Vgl. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Wien, Leipzig 1922, S. 37. 4 | Vgl. vor allem zum letzten Aspekt das großartige Buch von John Hawkes: Travestie (1976), Frankfurt a.M. 1985.
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nen. »Autofahren als ein öffentlich zur Schau gestelltes Thronen in der Geschwindigkeit«, wie Hajo Eickhoff dies einmal bezeichnet hat. Der Autofahrer bewege sich dabei fort, so Eickhoff weiter, »ohne seinen Körper anstrengen und ohne sich selbst vom Platz bewegen zu müssen«5 . Doch bei aller Bequemlichkeit und Sicherheit, die heute das Fahrvergnügen garantieren, verläuft das Bewegen eines Fahrzeugs nicht immer wie ein gemütlicher Fernsehabend, sondern kann – im Gegenteil – etwas sehr Aktives und Dynamisches sein! Und das gilt naturgemäß umso mehr, je schneller der Wagen ist! Seit langem schon vertritt der französische Dromologe Paul Virilio die These des »rasenden Stillstands« beziehungsweise der »kinästhetischen Unbeweglichkeit«, nach der Geschwindigkeit nur noch ein audiovisueller Effekt zu sein scheint: Festgeschnallt im Cockpit des Fahrzeugs und somit zur völligen Bewegungslosigkeit am Steuer immer schnellerer Gefährte verdammt, spielt es für den Geschwindigkeitstheoretiker so gut wie keine Rolle mehr, ob man tatsächlich noch in Bewegung ist oder ob die Geschwindigkeit am Bildschirm simuliert wird: »Die jüngste Entwicklung des Autos sowie die der Formel 1-Rennen beweist dies: Aus Mangel an ernsthafter Konkurrenzfähigkeit mit den Großtaten der Audiovision verändert man unablässig die Leistungsstärke des Rennwagens, die Wettkampfregeln, das Gewicht der Fahrzeuge, den Benzinvorrat, und manchmal geht man sogar so weit, die Leistungsstärke der Motoren zu drosseln, was der Gipfel ist!« 6
Aber entgegen der oft überwältigenden Eindrücke, die uns Kino, Computerspiele, 3D-TV und der ganze »elektronische Äther der Telekommunikation«7 bieten, möchte ich Virilio doch entgegenhalten, dass Geschwindigkeit ein Stück harter Arbeit sein kann und dass auch die jüngsten, meist kommerziellen Versuche, die körperlichen Sensationen zu visualisieren, die tatsächlich auf den Piloten eines Rennwagens einwirken, das Spiel der Kräfte nur unzureichend in Szene setzen können (Abb. 1). Mit »Kräften« meine ich Kräfte, die über die übliche »Schwingungsbelastung« des Fahrers – die doch immerhin zur »Vibrationskrankheit« eines dauerhaften Wirbelsäulenschadens führen kann8 – hinausgehen. In gewisser Weise besteht das Rennfahren aus dauernden Ausweichmanövern: Durch jede Kurve versucht der Pilot das Auto so schnell wie möglich zu bewegen – und kämpft dabei permanent gegen das »Abfliegen« und das Ausbrechen des Wagens. Die eigentliche Aufgabe des Fahrersitzes be5 | Hajo Eickhoff: »Die sedierte Gesellschaft«, in: Ausst.-Kat. sitzen. Eine Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft, hrsg. von Hajo Eickhoff, Deutsches Hygiene Museum, Dresden, Frankfurt a.M. 1997, S. 117-133, hier S. 131. 6 | Paul Virilio: Rasender Stillstand (1990), München, Wien 1992, S. 44. 7 | Ebd., S. 42. 8 | Bernd Rosemeyer: »Die Sitzhaltung«, in: sitzen 1997 (wie Anm. 5), S. 109116, hier S. 114.
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steht nun darin, den Fahrer diese enormen Fliehkräfte des Autos spüren zu lassen. Auf die Frage, ob man sich das Gespür in seinem Sitzfleisch in etwa so vorstellen müsse wie das Gehör eines Pianisten, der die feinsten Veränderungen im Klang erkennen könne, antwortete der wohl erfolgreichste Autorennfahrer aller Zeiten, Michael Schuhmacher, in einem Interview mit der »Zeit«: »Man spricht nicht ungefähr vom Popometer! Vom Gesäß bis zu den Schultern fühle ich, was das Auto macht.«9 Noch bevor der Wagen ausbricht, spürt der sensible Rennfahrer also mit seinem Popo, ob die Räder die Haftung, den grip zu verlieren drohen: Das Auto wird leicht, hebt sich kaum spürbar an, die Zentrifugalkräfte drohen die Gravitationskräfte zu übersteigen, die Reibung reduziert sich – all diese Informationen vermittelt der Sitz an das Sitzfleisch, und der Fahrer reagiert darauf. Die Reaktion muss eine rasche Gegenlenkbewegung sein: Langsam vom Gaspedal steigen, damit sich der Wagen wieder senkt, Haftung bekommt. Und sogleich kann der schnelle Rennfahrer das Pedal wieder bis zur Bodenplatte drücken – bis zur nächsten Kurve; keine Zeit für ein Thronen in der Geschwindigkeit, es geht um Bruchteile von Sekunden.
Abbildung 1: Lifestyle, wie ihn sich der Samsung-Konzern vorstellt. PR-Bild, 2010
Der Pilot thront also nicht, vielmehr ist er in einen Schalensitz gepackt, festgezurrt von einem Sechspunktgurt (Hosenträgergurt), der seinen Torso in der Sitzschale fixiert, so fest, dass kein Finger mehr dazwischenpasst (Abb. 2). Das Becken ist eingezwängt, denn auch über die seitliche Be9 | Michael Schuhmacher im Interview mit Kerstin Kohlenberg: »Ängstlich ist das falsche Wort«, in: Die Zeit Nr. 31 (27.07.2006), www.zeit.de/2006/31/Schumacher-31 (Juni 2010).
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ckenmuskulatur spürt man, ob die Haftungsgrenze erreicht ist: Auf den Körper eines Formel-1-Fahrers wirken in einer scharfen Kurve bis zu 5 g (Erdschwerebeschleunigung g = 9,81 m · s−2) – also das fünffache Körpergewicht. Rechnen Sie nach, was das für Sie selbst bedeuten würde, und stellen sie sich vor, Sie müssten dabei ihren Kopf samt Helm (mindestens 1,5 kg mal 5!) stabil halten: Das erfordert viel Kraft und gute Kondition. Ein Rennfahrer verliert pro Rennen mehrere Liter Schweiß. In geschlossenen Rennautos entwickelt sich eine enorme Hitze, so um die 60 °Celsius! Da jeder Fahrer darüber hinaus feuerfeste lange Unterwäsche und einen feuerfesten Rennanzug tragen muss, entsteht dabei ein Effekt, als würde man in einer Sauna auf einem Ergometer mit einer Daunenjacke trainieren.10 Der Körper ist also während des Autorennens unter widrigen Bedingungen ständig angespannt; der Puls rast, der Adrenalinspiegel ist hoch. Nur auf längeren Geraden kann der Fahrer kurz entspannen, nur darf er eben keinesfalls die Konzentration verlieren.
Abbildung 2: Der Autor in einem Aston Martin Vantage-V8 GT4 des JetAllianceTeams. Eurospeedway Lausitz, 26.3.2008
Das Gehirn des Rennfahrers muss jede Sekunde tausende Informationen verarbeiten, die der »Popometer« über den Sitz wahrnimmt – bei möglichst geringem Abstand zwischen Hintern und Straße. Beim Anbremsen einer Kurve drückt es die Fahrer in Gurt und Sitz und nach dem Einlenken in die Seitenschale des Sitzes. Rennautos müssen harte Federungen haben, um die extremen Lastwechsel ohne Kontaktverlust der Räder zu bewältigen. 10 | Klimaanlagen sind in Rennautos verpönt, da sie die Leistung des Wagens reduzieren. Erst seit kurzer Zeit wird an neuartigen Anlagen herumgetüftelt, die keinen Einfluss auf die Motorleistung haben.
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Und je weniger ein Fahrzeug gefedert ist, umso mehr Informationen übertragen sich dabei auch auf den Sitz. Bei den alten einsitzigen Rennwagen bestand der Sitz meist nur aus einem dünnen Aluminiumblech, das mit Leder bespannt war, ähnlich einem alten Traktorsitz, und die Rückenlehne war einfach eine an die Wand zum Motorraum geschraubte notdürftige Polsterung. Ähnlich wie bei einem Skischuh besteht der Zweck eines Rennsitzes ja darin, die Einheit zwischen dem Sportler und seinem Sportgerät herzustellen; die Verschmelzung von Mensch und Technik erfolgt genau an dieser Schnittstelle. Über die Jahrzehnte hat sich der Rennwagensitz dahingehend verändert, dass er mehr und mehr Kontakt zum Körper vermittelt. Inzwischen kommen vermehrt Hightech-Verbundstoffe zum Einsatz, die extrem leicht, sehr hart und mit feuerfesten Kunstfasertextilien überzogen sind. Bequemer wurden die Rennsitze dadurch nicht, denn nach wie vor sind sie das Medium, das den Rennfahrern die Botschaft der Geschwindigkeit vermittelt.
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Das »Resopal«-Möbel oder Die Sinne nehmen nicht einfach die Dinge auf, sondern in ihnen auch eine Form an: Jedes gegenständliche Design ist immer auch ein Design der Sinnlichkeit Friedrich W. Heubach
Das unter der Markenbezeichnung »Resopal« gehandelte, zur Beschichtung von Oberflächen eingesetzte Kunststoffmaterial wird vornehmlich bei Kücheneinrichtungen, aber auch an Gegenständen des sonstigen Wohnbereichs (Regale, Tische und so weiter) verarbeitet. Anfangs einfarbig und in der Küche zumeist weißer Farbe, wird es heute auch »in Dekor« angeboten, außerdem als Holz- und Marmorimitat. Als Grundlage für die Analyse der psycho-logischen Gegenständlichkeit des Resopalmöbels sei einleitend eine zusammenfassende Beschreibung der zu ihm explorierten Verhaltens- und Erlebenszusammenhänge gegeben. Sie hält sich möglichst strikt an die Verbalisierung dieser Zusammenhänge durch die Probanden. Das Resopalmöbel erscheint – wie das Material selbst – vor allem als praktisch, pflegeleicht und solide. Es sei zwar nicht gerade schön, wirke eher kalt, leer, steril und im Vergleich zu Holz irgendwie »tot«. Damit könne man sich aber dank seiner vielen praktischen Vorteile leicht abfinden; namentlich sei es sehr bequem sauber zu halten. Verschönernden Maßnahmen entziehe sich das Resopalmöbel aufgrund seiner glatten, unbearbeitbaren Oberfläche völlig; es werde aber schon mal ein Deckchen aufgelegt oder ein Klebebild angebracht. Sachlich und modern, sei das Resopal in der Küche ideal, die müsse schließlich »zack-zack wieder sauber zu machen« und nicht unbedingt gemütlich sein. Sie bekomme zwar durch dieses Material etwas von einem Fabrikationsbetrieb oder einem Krankenhaus, aber man halte sich ja in ihr auch nicht länger auf, nur eben zur Erledigung der Kocharbeit. Für die anderen Wohnbereiche sei Holz unbedingt vorzuziehen; das lebe und atme und lasse dem Ausdruck der Persönlichkeit mehr Spielraum. Zwar biete das Resopal auch dort durchaus praktische Lösungen (Arbeitstisch, Regale und so weiter), würde allerdings Geld keine Rolle
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spielen, kämen doch eher Holzmöbel in Frage. Sie besäßen mehr Charakter und Stil und in diesem Material seien originellere Lösungen möglich. Holz schmücke auch, und an älteren oder antiken Möbeln habe man zudem etwas von Wert. In diesem regelmäßig angesprochenen Kontrast zum Holz rücken die funktionalen Aspekte und praktischen Vorteile des Resopals zunehmend in den Hintergrund und wird es dann dominant als unecht, langweilig und »unheimlich gradlinig« charakterisiert; es sei im Grunde abstoßend, da nur praktisch. Während zudem Holz wirklich altern könne, und es in langem Gebrauch auch Spuren annehme und damit etwas von seinem Besitzer beziehungsweise eine gemeinsame Geschichte veranschauliche, sei Resopal an sich zeitlos. Es könne nicht altern, nur unansehnlich werden oder allenfalls kaputtgehen. Ansonsten ginge alles spurlos an ihm vorüber: Einmal drübergewischt und schon sei es wieder, als wäre nichts gewesen. Während Holz etwas Erzählendes besitze, gebe Resopal keine Antwort und sei sozusagen erinnerungslos. Weiterhin wird gesagt, dass auf einem Holztisch irgendwelche Flecken, Staub oder Krümel nicht immer unbedingt störend seien, sie könnten in der Maserung untergehen oder mit ihr zusammen irgendwelche Figuren ergeben; dagegen wirkten sie auf Resopal irgendwie aggressiv und ihre sofortige Beseitigung fordernd. Da springe schon das kleinste Bisschen in die Augen, selbst der geringste Fingerabdruck zeichne sich sofort ab, und so müsse man laufend mit dem Lappen hinterher sein, wenn man das Resopal benutzt hat. Natürlich sei auf dem Resopal auch alles leicht zu entfernen, aber es mute einem eben dauernd irgendein Wischen zu; es sei da kompromisslos, und unter diesem Zwang werde man leicht zu seinem Diener. Diese »schmutzabweisende« Qualität des Materials und ihre eigentümliche Ambivalenz wurden zum zentralen Thema in den Aussagen der Probanden, wenn sie, auf eine entsprechende Aufforderung hin, ihre Hand für einige Minuten flach auf das Resopal gelegt hatten: Zunächst fühle es sich angenehm kühl und glatt an, vielleicht doch eher ein wenig kalt. Bald aber werde es durch die Körperwärme warm und feucht, schließlich klebrig oder »fischig« kalt und glitschig. Die längere Berührung sei unangenehm bis eklig, wie die eines Toten. Man habe das Gefühl, nicht atmen zu können, nicht genug Körperwärme zu besitzen, um es aufzuwärmen. Das Schwitzen der eigenen Hand werde einem selber widerlich, es wirke »fies« und anormal. Man hinterlasse peinliche feuchte Kränze und erlebe seinen Schweiß als Unsauberkeit, als beschmutzend und kalt. Er sei zwar doch eigentlich etwas Natürliches, aber dennoch fühle man sich von ihm abgestoßen und erfahre sich selbst als abstoßend. Man erlebe eine Ängstlichkeit wie bei einer Prüfung, man klebe fest, es vermische sich, es gebe schließlich keine Trennung mehr zwischen der Sache und einem selbst. Aus den Phänomenen der Erfahrung und des Umgangs mit dem Resopal, die hier notwendig stark verdichtet wiedergegeben wurden, lassen sich drei Komplexe herausarbeiten, welche die spezifische psycho-logische Gegenständlichkeit dieses Materials kennzeichnen.
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Das Resopal wird insgesamt als die perfekte Vergegenständlichung des Ideals makelloser Reinlichkeit realisiert, dessen mühelose Erfüllung es alltäglich möglich mache. Diese stupende Leistung des Resopals, ein extremes Ideal zu setzen und gleichzeitig seine bequeme Erfüllung anzubieten, macht wohl die besondere Faszination dieses Materials aus. In dem, worin es diese immer wieder gepriesene bequeme Erfüllung eines Ideals materialisiert, das heißt in seinen schmutzabweisenden Eigenschaften, entzieht sich das Resopalmöbel aber zugleich erlebtermaßen jeder Prägung durch seine Benutzung und seinen Benutzer. Und in dieser (durch die Unbearbeitbarkeit seiner Oberfläche noch verstärkten) anschaulichen Erfahrung des Spur(en)losen konstituiert sich das Resopalmöbel psycho-logisch als ein Gegenstand ohne Gesicht und ohne Geschichte. Diese Zeit- und Ausdruckslosigkeit bildet einen ersten Komplex in der psycho-logischen Gegenständlichkeit des Resopalmöbels. Auf einen zweiten Komplex weisen Aussagen hin wie: den Resopalmöbeln sei nichts Schönes oder Schmückendes eigen und sie entzögen sich auch weitgehend verschönernden Maßnahmen; es bedürfe persönlicher und dekorativer Zugaben, sei dies ein Deckchen, eine alte kupferne Kuchenform oder Ähnliches (in einem Falle eine Bildtapete mit Waldmotiv), um es mit ihnen aushalten zu können und gemütlich zu haben; diese Möbel seien ausschließlich praktisch und die Beziehungen zu ihnen rein funktionale und allein auf Sauberkeit abgestellt. Auf dem Hintergrund solcher und anderer gleichsinniger Aussagen ist die psycho-logische Gegenständlichkeit des Resopalmöbels als eine eigentümlich dissoziative und partiale zu charakterisieren: In ihr sind tendenziell alle Momente menschlich-gegenständlicher Beziehungen negiert bis auf eines, nämlich das praktisch nützliche; das aber ist ideal gegeben. Dinge von einer solchen, durch ihre Spezialisierung und Perfektionierung bedingten (psychologisch) defizitären Gegenständlichkeit sind – um sozusagen auch psychologisch funktionieren zu können – notwendig auf andere, komplementäre Gegenstände angewiesen beziehungsweise erzeugen sie diese als Nachfrage. Eben jene, welche Baudrillard die »legendären« nannte: das Deckchen, das antike Küchengerät oder ähnliche Dinge mit Gemütswert. (Inzwischen wird auch seitens der Hersteller versucht, dieser psychologisch defizitären Gegenständlichkeit der Resopalmöbel durch Holz- und Marmorimitate beizukommen.) Einen dritten Komplex in der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Resopalmöbel bilden die Nötigung zu einem unentwegten Säubern, die seiner vom Resopal ermöglichten Mühelosigkeit erlebtermaßen entspringt, und die Erfahrung, dass dieses Material bestimmte natürliche, aber nicht funktionale Erscheinungen (Arbeitsspuren, Schweiß und so weiter) immer gleich als Schmutz denunziert. Von daher wäre die Gegenständlichkeit des Resopalmöbels zu kennzeichnen als eine weniger funktionale denn funktionalisierende. Denn das, was dem Resopalmöbel als materiale Eigenschaft zugesprochen wird, funktional zu sein, konstituiert sich psychologisch darin, dass es das Verhalten seines Benutzers darauf reduziert: Es
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funktionalisiert ihn, wie es ein Proband ausdrückte, zum »Diener seiner Makellosigkeit«. Wollte man die dem Resopalmöbel eigene (psycho-logische) Gegenständlichkeit insgesamt auf einen knappen Begriff bringen, so könnte man sagen, dass es in seiner psychologischen Realität eigentlich kaum ein Ding darstellt, sondern ein »Funktional«.1 Und dies nicht etwa nur deshalb, weil es alles das negiert, was ansonsten als die spezifische Gegenständlichkeit eines Möbels ausmachend genannt wird (Gemütlichkeit, Prestige, Stil, Kultiviertheit, Persönlichkeitsausdruck oder Ähnliches), und es nur noch die eine Qualität besitzt, praktisch zu sein. Sein abstraktes »ungegenständliches« Wesen hat weit mehr noch mit jener appellativen Qualität und der eigentümlichen Gewissensfunktion zu tun, die das Resopal in seinem Anspruch auf Makellosigkeit annimmt. Auch ist es wohl eher dieses inquisitorische Moment und nicht die einfache Analogie schweißtreibender Situation, welches die häufigen Prüfungs-Assoziationen erklärt, die bei der längeren Berührung des Materials aufkamen, und was dazu führte, dass der sich sichtbar niederschlagende Schweiß als Makel, als eine sich gegebene Blöße, erlebt wurde. Auf dem Hintergrund der geschilderten psycho-logischen Gegenständlichkeit des Resopalmöbels ist jetzt die spezifische Modellierung zu untersuchen, die es als eine Vergegenständlichung (»Be-Dingung«) sinnlicher Erfahrung eben dieser gibt. Mit anderen Worten, es ist jetzt das Design zu kennzeichnen, das die Sinnlichkeit in den Umgangsqualitäten erhält, die dem Resopalmöbel aufgrund seiner Materialeigenschaften und der daraus resultierenden Form- und Funktionsgestaltung zukommen. Ausgehend von der Spur(en)losigkeit, in der Benutzung und Benutzer am Resopalmöbel verbleiben, lässt sich als erstes, zentrales Prinzip der von ihm betriebenen Modellierung der Sinnlichkeit eine »Enthistorisierung« der sinnlichen Erfahrung herausstellen. Sowohl in der Bequemlichkeit und Radikalität, die es der Beseitigung von Staub und anderer, seiner Benutzung entspringenden Verunreinigungen eröffnet, als auch in der hohen Resistenz, die es gegen jegliche Abnutzung zeigt, und in seiner Unbearbeitbarkeit, die eine Veränderung gemäß wandelnden Ansprüchen nahezu ausschließt, macht das Resopal Zeit und Geschichtlichkeit tendenziell anschauungslos. Es lässt die Möbel sich sozusagen ihrer Vergangenheit entziehen; man kann zwar wissen, dass dieser Resopaltisch schon viele Jahre alt ist, nur sehen wird man es nicht, wenn das Resopal hält, was es im Jargon der Kücheneinrichter verspricht: so »zeitlos funktional« und »robust« zu sein, dass es in zehn Jahren noch »brandaktuell« ist.
1 | In der abstrakten, eigentlich nur als »Resistenz« fassbaren Materialität des Resopals und in der schieren Funktionalität, die das Resopalmöbel auszeichnen, wird dieses zu einem eigentümlich ungegenständlichen Ding und belegt es gewissermaßen die psycho-logische Existenz von »Undingen«. Vgl. dazu das Kapitel über das Plastik in Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1970, S. 79ff.
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Mit dieser »Zeitlosigkeit« des Resopalmöbels hängt ein anderes Moment in seinem Sinnlichkeitsdesign eng zusammen, das als eine Resultante der vom Resopal betriebenen Enthistorisierung der sinnlichen Erfahrung aufzufassen ist. Dabei geht es um das Erleben der Resopalmöbel als neutral, charakterlos, anonym und abweisend, um die Unmöglichkeit, ihnen (zum Beispiel durch irgendeine Bearbeitung) eine persönliche Note zu geben und sich und seine Geschichte in ihnen wiederzuerkennen. In diesen und anderen, ähnlich um das »Gesichtslose« dieser Möbel zentrierten Erfahrungen liegt ein Hinweis darauf, dass in ihrer praktischen und anschaulichen Aneignung ein Anspruch auf individuelle Besonderung unerfüllt bleibt. Dieses an den Resopalmöbeln erlebte Defizit anschaulichgegenständlicher Selbstwahrnehmung, beziehungsweise die in ihnen auf die Erfahrung der eigenen Funktionalität verkürzte Selbstwahrnehmung, ist als ein Verlust der Anschaulichkeit des Individuellen zu kennzeichnen. Und von daher wäre es zweites Prinzip der dem Resopalmöbel impliziten Modellierung der Sinnlichkeit, ein »Depersonalisieren« der sinnlichen Erfahrung herauszustellen. Auf ein anderes Prinzip verweisen die an den Resopalmöbeln gemachten Erfahrungen kompromissloser Funktionalität, die sich in den Aussagen über die ihnen fehlende Gemütlichkeit und ihren technischen Charakter oder in der Einstellung widerspiegelten, dass das Resopal zwar in dem »Arbeitsraum« der Küche durchaus angebracht sei, nicht aber im Wohnoder Schlafbereich. Darin tritt als ein weiteres Prinzip des im Resopalmöbel gegebenen Sinnlichkeitsdesigns ein »Partialisieren« der sinnlichen Erfahrung zutage. Aus der damit angesprochenen Dissoziation gegenständlicher Beziehungen in solche entweder strikt funktionaler oder aber stimmungsästhetischer Natur entstehen dann schließlich zwei grundverschiedene Gattungen des Gegenständlichen. Was namentlich da deutlich wurde, wo durch Deckchen, antikes Küchengerät und andere dekorative Accessoires versucht wurde, der einem Fabrikationsbetrieb ähnlich erlebten Resopalküche das hinzuzufügen, was der Erfahrung des Resopalmöbels prinzipiell abgeht: das anschauliche »Mehr« des Ästhetischen, ein Moment von »Stimmung«. Um dies ein wenig konkreter vor Augen zu haben, vergegenwärtige man sich zum Beispiel die Farbigkeit, die ein Putzen von Möhren auf einem Holztisch ergibt: die verschiedenen Nuancen des Brauns, welche die ihnen etwa noch anhaftende Erde auf dem Holz bildet, die lebendigen Kontraste des Krautgrüns zu den verschiedenen Brauntönen und dem Möhrenrot, die vom Wasser gesetzten Glanzlichter und so weiter. Dann halte man dagegen den scharfen Kontrast, den dies alles zu dem klinischen Weiß eines Resopaltisches bilden würde, und die »Abfälligkeit« in die es sogleich alles Abgeschabte und -geschnittene versetzt. Falls die Möhren nicht – wie es dem Resopalambiente eher entsprechen würde – vorgewaschen, vom Kraut befreit und im Plastikbeutel auf den Tisch gekommen sind. Da heißt es dann nur mehr, sie kochfertig würfeln, natürlich auf einem Schneidebrett aus besonders hartem Resopal, damit der Tisch nicht verkratzt wird, und dann beides fix abgewischt und zwischendurch einen beseelenden Blick geworfen auf die an der Wand hängende Repro-
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duktion eines Gemüse-Stilllebens. Ungeachtet der polemischen Nostalgie dieser Illustration, macht sie jene Auflösung der anschaulichen Einheit von Ästhetischem und Praktischem etwas sinnfälliger, die für die vom Resopal vermittelte Beziehung zum Gegenständlichen charakteristisch ist. In dieser Spaltung konstituieren sich schließlich zwei verschiedene, eigenständige Typen von Gegenständlichkeit, eine »legendäre« (Baudrillard) und eine instrumentale; und am Ende dient das einzelne Ding einsinnig entweder dem Vollzug einer Funktion oder der Verrichtung einer Stimmung. Dieses Nebeneinander im Gegenständlichen von Stimmungsdingen und Funktionsdingen stellt die materielle Konsequenz der Partialisierung und Dissoziation sinnlicher Erfahrung dar, die als zentrale Prinzipien des in den Resopalmöbeln angelegten Sinnlichkeitsdesigns hervorgehoben wurden. Die Darstellung der psycho-logischen Gegenständlichkeit des Resopalmöbels und der in ihm wirksamen Modellierung der sinnlichen Erfahrung ist damit abgeschlossen. Ihre Ergebnisse verdienen einen Kommentar und erlauben zudem einige weitergehende Überlegungen. Aber vorderhand wäre einem möglichen skeptischen Einwand zu begegnen: Wenn das Resopal wirklich die hier beschriebenen prekären psychologischen Implikationen besitzt, wieso findet es dann dennoch so allgemein Verwendung, was lässt die Probanden trotz ihrer negativen Charakterisierung der Resopalmöbel sich gleichwohl ihrer bedienen? Sie selbst führen zur Erklärung dieses Widerspruchs (auf den sie regelmäßig hingewiesen wurden) immer wieder den »entscheidenden Vorteil« dieser Möbel an, so bequem sauber zu halten zu sein. Die jenem Einwand zugrunde liegende Skepsis hätte also vielmehr der Überwertigkeit zu gelten, die da allgemein dem Ideal der Sauberkeit zukommt, und die es in den Stand setzt, der Rationalisierung selbst solch offener Erfahrungswidersprüche zu dienen. Allerdings ist auch einzuräumen, dass das Resopal ja beileibe nicht die Perfektion besitzt, die ihm die Werbung nachsagt und von der hier der Prägnanz der Aussagen wegen ausgegangen wurde. Es zeigt ja durchaus, wenn auch nur in geringem Maße, Spuren seiner Benutzung und über die Jahre des Gebrauchs nimmt es schließlich auch gewisse, es vermenschlichende Mucken an. Dass aber vom Resopal dennoch erlebtermaßen eine Störung ausgeht, veranschaulichen die angestrebte Eingrenzung seiner Verwendung auf den häuslichen Arbeitsbereich und die Tendenz, es durch nostalgische Zugaben zu verschönern. Worin unschwer der Versuch zu erkennen ist, die gestörte gegenständliche Selbst-Aneignung selber zu behandeln und der darin widerfahrenen Vereinseitigung entgegenzuwirken. Die im Umgang mit den Resopalmöbeln wirksame Modellierung der Sinnlichkeit bildet ein Moment dessen, was zwar als »materielle Produktion und Reproduktion von Ideologie« vielbesprochen ist, aber nur selten auf der Ebene der konkreten Dinge untersucht wird: die gegenständliche, materielle Formierung des Bewusstseins. Mit einer Art Gedankenexperiment ist auf einfache Weise zu demonstrieren, dass die am Resopalmöbel gemachten Erfahrungen mehr als nur unmittelbar praktische und anschauliche sind und mit ihnen nicht nur gegenständliche, sondern auch gesellschaftliche Verhältnisse in die Köpfe kommen (Marx).
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Man stelle sich die Situation eines Subjekts vor, in dessen alltäglicher Lebenswelt die genannten Prinzipien der Modellierung des Sinnlichen uneingeschränkt wirksam sind. Unter dem Aspekt einer sinnlichen Erkenntnis der Welt betrachtet, würde in einer derartigen, tendenziell jegliche Anschauung von Geschichte und Individualität entziehenden Umgebung dem Subjekt die Welt gegenübertreten als eine in zeitlos funktionalen Zusammenhängen organisierte. Die alltäglichen gemeinsamen Ordnungen von Ich und Welt erschienen ihm notwendig als ungeschichtliche und in der Objektivität nützlicher Funktionen begründet. Nun stellt ja Geschichte – um hier nur den Aspekt der Enthistorisierung aufzugreifen – psychologisch weder eine Sammlung historischer Daten und Fakten noch etwa eine Stimmung, sondern den Raum dar, in dem sich Bedeutung organisiert. Wird dieser Raum dem Subjekt unzugänglich, so erscheinen ihm die Bedeutungen notwendig unzeitlich und in sich begründet zu sein. Mit der Kategorie des Geworden-Seins tritt aber zugleich die der Veränderbarkeit aus seinem Bewusstsein und spätestens hier erkennt man die Koinzidenz der dem Resopal impliziten Modellierung der Sinnlichkeit und einer ideologischen, den Status quo verabsolutierenden Weltansicht. Als ein gegenständliches Strategem betrachtet,2 betreibt das Resopalmöbel die anschauliche und praktische Selbstverständlichung einer ahistorischen und rein funktionalen Beziehung zur Welt. Es leistet eine ganz alltägliche, aber darum nur umso plausiblere Objektivation einer aufs Hier und Jetzt fixierten, von Individuellem abstrahierenden, am »wertfrei« Funktionalen und auf Effizienz ausgerichteten Mentalität.3 So gesehen stellt also zum Beispiel eine perfekte Resopal-Küche, deren psychologischer Aufriss hier unter den Begriffen Enthistorisierung, Depersonalisation, Funktionalisierung (und so weiter) nachgezeichnet wurde, ein hoch ideologisches Ambiente dar. Sie funktioniert sozusagen als häusliche Vorschule einer Mentalität, deren kulturelle und politische Konsequenzen sich zwar inzwischen in jedem höheren Feuilleton beklagt finden, aber die im Zusammenhang ihrer alltäglichen gegenständlichen Vermittlung zu untersuchen man sich geflissentlich erspart. Nämliches trifft auch auf die »Materialistische Persönlichkeitstheorie« zu, der doch eine Analyse der materiellen (Re-)Produktion von Ideologie angelegentlich sein müsste. Sie hält es aber, wohl aus Gründen wissenschaftlicher Reputation, eher mit 2 | Dazu, dass im Gebrauch der Dinge mehr als nur ihre praktische Funktion realisiert und immer auch eine allgemeine »Botschaft« angeeignet wird, vgl. auch Roland Barthes: Elemente der Semiologie, Frankfurt a.M. 1979, S. 35f.: Er spricht dort von einer »universellen Semantisierung des Gebrauchs«, die er damit zusammenbringt, dass, »da unsere Gesellschaft nur standardisierte, normalisierte Gegenstände erzeugt, diese Gegenstände zwangsläufig die Realisierung eines Modells, die Worte einer Sprache, die Substanz einer signifikanten Form sind«; ebd., S. 36. 3 | Vgl. dazu Baudrillards Kritik an dem funktionalistischen Diktat, dem seines Erachtens nach die Dinge heute allgemein unterworfen seien; Jean Baudrillard: Le Systéme des Objets, Paris 1968, S. 81ff.
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dem traditionellen Filigran von Interaktion und Sozialisation, statt einmal zu untersuchen, wie sich die Verhältnisse »aufmöbeln«, um so – gewissermaßen gegenständlich konnotiert – über alltägliche Gewohnheitsbildungen schließlich in die Köpfe zu kommen. Um die etwas allgemein gewordenen Überlegungen zum Abschluss noch einmal an Konkretem aufzugreifen, eine Bemerkung zu dem jugendlichen »Vandalismus«, über den die Pädagogen heute so bewegt Klage führen und dessen Auftreten gerade in modernen, neuerrichteten Schulen ihnen so publikumswirksames Kopfzerbrechen bereitet.4 Wirklich, der Besuch eines solchen Schulbaus, namentlich einer Ganztagsschule, kann einige Verwirrung stiften: Welch ein Kontrast nicht selten zwischen dieser modernen, kinderfreundlich robusten, nachgerade fröhlich unverwüstlichen Einrichtung (alles abwaschbar, kratzfest und so weiter) und der überall herrschenden Unordnung, der oft fast schon methodisch wirkenden Verschmutzung. – Und doch kein Widerspruch, wie sich einem bald eröffnet. Denn in einem Environment derart panischer Solidität, in dem alles sofort und garantiert spurenlos wieder in Ordnung zu bringen ist – wie soll sich da einer bemerkbar machen, sich seiner selbst, seines Einwohnens oder seines Widerstandes anschaulich vergewissern können, anders als mit Unordnung und groben Schikanen? Dass diese so »vandalistische« Züge annehmen, ist angesichts der demonstrativen – ebenso permissiv gemeinten wie provozierend wirkenden – Unverwüstlichkeit der Einrichtung nachgerade zwangsläufig. Das liegt eher in der Natur der Sache, als am Charakter der Subjekte. Man vergegenwärtige sich dagegen die Schule, die man selber vor Jahrzehnten besucht hat, wo in den Graffiti der Bänke und Wände die Geschichte der Großen Renitenz für die Nachkommenden überliefert und fortzuführen war; wo sich am Mobiliar die geschlagenen Schlachten bezeugt fanden und man an der Decke, in den Schwammabdrücken und den dort klebenden Löschpapierkugeln sich seiner von Langeweile getriebenen Kühnheiten immer wieder vergewissern konnte. Dann wird man auf dem Hintergrund der hier am Resopalmöbel exemplarisch aufgezeigten Verhältnisse gegenständlicher Selbst-Aneignung die Erklärung jenes »Vandalismus« nicht in dem narzisstisch objektverneinenden Charakter eines »neuen Sozialisationstypus« (Ziehe) suchen müssen.5 Man hätte sich vielmehr der verneinten Gegenständlichkeit zuzuwenden und sie auf ihre psychologischen Implikationen hin zu untersuchen. Dabei würde dann diese Attacke gegen die Dinge sehr bald verständlich als die Notwehr eines Subjekts gegen eine Gegenständlichkeit, in der sein Anspruch auf anschauliche Selbst-Aneignung so gründlich negiert wird, dass er nur mehr in ihrer Demolierung erfüllbar ist. Als Fazit aus dieser Studie zum Resopalmöbel ist festzuhalten, dass in der dem Psychischen durch die Dinge gegebenen Modellierung nicht etwa 4 | Vgl. Thomas Ziehe/Helga Hosing/Herbert Stubenrauch: Narziß – ein neuer Sozialisationstypus, Frankfurt a.M. 1980. 5 | Vgl. ebd.; Thomas Ziehe: Pubertät und Narzißmus, Frankfurt a.M. 1975.
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nur die sinnliche Erfahrung spezifisch formiert wird, nicht allein »Perzepte« vermittelt, sondern dem Subjekt übergreifende Konzepte von sich und seiner Welt angetragen werden. Als deren Materialisation bilden die Dinge – psychologisch betrachtet – gegenständliche Strategeme einer Weltanschauung, sind sie in der am Resopalmöbel aufgezeigten Weise »Konkrete Ideologie«.
Diese Studie stützt sich auf psychologische Explorationen zu diesem Thema, die im Jahre 1977 unter der Leitung von Friedrich W. Heubach von Wolfgang Baßler und Regina Strahlka im Rahmen eines Praktikums am Psychologischen Institut II (Lehrstuhl l) der Universität zu Köln durchgeführt wurden. Der Text wurde zuerst veröffentlicht in: Friedrich W. Heubach: Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge. Ein Beitrag zur Psychologie des Alltags, München 1987, S. 126-133.
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V ORBEMERKUNGEN Die psychoanalytische Perspektive führt in die Auseinandersetzung mit einem Kunstgegenstand die Frage nach der unbewussten Bedeutung des Werks, nach dessen unsichtbaren Inhalten und nach dem unbewussten Begehren von Subjekten ein. Während das Werk selbst in dieser Hinsicht auf seine Funktion als Bedeutungsträger eingeschränkt bleibt, verteilt sich die dahinterliegende Begehrensdimension, welche stets Subjektives voraussetzt, auf die zwei miteinander verbundenen Subjekte des Künstlers und des Konsumenten. Für den Fall der bildenden Kunst bedeutet dies eine Kommunikationsstruktur, in welcher der, der etwas zu sehen begehrt, von dem, der etwas zu sehen gibt, etwas zu sehen erhält. Somit gibt jedes Bild Auskunft über die Funktion des Bildhaften für die Konstituierung und für das Wesen des menschlichen Subjekts und stellt uns vor die Frage nach der Bedeutung des Auges und des Blicks hinsichtlich unserer Anschauung der Welt und unseres Verhältnisses zu den Dingen. So wie die Sprache ist auch der Blick dem menschlichen Individuum vorgängig. So wie der Mensch gesprochen wird, bevor er selbst noch sprechen kann, so wird er gesehen, bevor er selbst sieht, was ihn von Anfang an unter die Wirkung eines zunächst passiv erlebten und später aktiv ausgeübten Schautriebes stellt. Wie bei jedem Trieb unterscheiden wir auch hier eine Triebquelle von einem Triebobjekt und einem Triebziel. Selbstverständlich ist bezüglich des Schautriebes die Quelle, die erogene Zone, das Auge, und selbstverständlich läuft das Triebziel auch hier auf eine wenigstens vorübergehende Befriedigung hinaus. Überraschender ist es aber, mit Lacan1 festzustellen, dass das eigentliche und hauptsächlich unbewusste Objekt des Schautriebes der Blick ist. Ihn begehrt das Subjekt stets zu sehen, auch wenn sich sein bewusster Anspruch auf anderes richtet, auf
1 | Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan, 20 Bde., Bd. XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), Olten, Freiburg i.Br. 1978, S. 71ff.
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einen sexualisierten Gegenstand, auf einen verhüllten oder unverhüllten materiellen Körperteil oder auf ein faszinierendes Bild. Denn der Blick ist ein grundsätzlicher Träger des Begehrens, freilich nicht von vornherein liebend und gut, sondern auch bannend, verschlingend, kastrierend und böse. Sublimiert aber trifft sich in seiner Punktförmigkeit und in seinem Glitzern stets das Begehren nach Anerkennung mit der Anerkennung des Begehrens. Die minimale punktuelle Ausdehnung des Blicks bewirkt, dass er als Objekt so häufig verkannt wird, was den Menschen nicht daran hindert, ihn immer hinter allem und vor allem hinter den Bildern zu suchen. So stellt ein Bild nicht nur ein Objekt dar, sondern es enthält immer auch ein Subjekt, ein Sujet, wie es etwa das Französische treffend ausdrückt. Und aufgrund eines ähnlichen Zusammenhangs sagt man in dieser Sprache auch: Les choses me regardent, und meint damit, dass uns die Dinge nicht nur etwas angehen, sondern dass sie uns auch anblicken. Während wir ein Bild betrachten, sind wir immer auch selbst in einem Bild eingerückt, während wir schauen, sind wir auch immer selbst angeschaut. Durch den Glitzercharakter des Blicks sind wir überdies angehalten, ein Bild nicht nur den Gesetzen einer geometralen Optik unterworfen zu sehen, sondern es auch an die Phänomene einer Lichtoptik gebunden zu betrachten.2 Demnach ist der Raum der geometralen Optik nicht der eigentliche Raum des Visuellen, da er, wie uns die Erfahrung mit Blinden zeigt, auf das Sehen nicht angewiesen ist. Innerhalb der geometralen Optik »sieht« auch der Blinde die Gegenstände der Welt, da die Punkt-für-Punkt-Entsprechung von Abbildung und Abgebildetem auch durch andere Sinne als den Sehsinn gewährleistet ist. Die Optik des Sichtbaren hingegen, in der auch der Blick stets seinen Platz findet, ist jene Optik, die von einem Lichtpunkt ihren Ausgang nimmt. Von diesem LichtBlick-Punkt, von dem ich angerufen werde als Subjekt, erhalte ich eine Antwort auf mein Begehren, indem das Schillern des Lichts als Schillern des Blicks mich ansieht. Das Auftauchen des Blicks ist sicherlich die Anwesenheit des Anderen als solchem. Dabei verdankt er aber seine Existenz der Tatsache, dass das Subjekt in einer Begehrensfunktion steht. Das Subjekt begehrt den Blick. Das Begehren auf der Ebene des Sehens begnügt sich also nicht mit einer Darstellung des Objekts, wie sie uns durch die geometrale Optik gegeben ist, sondern es begehrt, dem Gesetz des Begehrens folgend, stets etwas anderes. Deshalb stellt die Mimesisfunktion der Kunst keine ihr wesentliche Funktion dar, und daher geht die Faszination eines visuellen Kunstwerks immer von einem Dahinterliegenden aus, das der Betrachter stets zu sehen wünscht. Dieses Dahinterliegende und (zunächst noch) Unsichtbare dennoch sichtbar zu machen, um damit sowohl dem eigenen unbewussten, aber verdrängten Begehren als auch dem des Künstlers hinter den bewussten und intendierten Aussagen und hinter dem der Wahrnehmung unmittelbar Gegebenen zu begegnen, ist sicherlich eines der Hauptanliegen jeder 2 | August Ruhs: Der Vorhang des Parrhasios. Schriften zur Kulturtheorie der Psychoanalyse, Wien 2003, S. 303f.
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Kunstvermittlung und jeder museumspädagogischen Bemühung. In diesem Sinn habe ich im Rahmen von Lehrgängen für Museumspädagogen und Kuratoren in Wien das Konzept einer »psychoanalytisch orientierten Werk-Betrachtung« entwickelt, das ich auch im Rahmen meiner universitären Lehrveranstaltungen bei der Behandlung von Fragen der angewandten Psychoanalyse immer wieder einsetze. Dabei wird eine Gruppe bis zu etwa zwölf Personen, die sich in einem so gut wie möglich abgeschirmten Bereich eines Museums oder eines anderen Ausstellungsortes im Halbkreis vor einem Bild oder vor einem anderen bildnerischen Werk versammelt, vom Gruppenleiter dazu aufgefordert, in Bezug auf dieses Objekt ihre Gedanken, Phantasien, Einfälle und Einstellungen sowie alle damit verbundenen Gefühle so ungehemmt wie möglich zu äußern. Bei dieser zwar themenzentrierten, aber ansonsten freien Assoziation fungiert zunächst das Kunstwerk als Projektionsfläche, das jedem Teilnehmer die der Wahrnehmung zugrunde liegenden Intentionen und Gegenintentionen buchstäblich vor Augen führt: das zu sehen, was man sehen möchte, und das auszublenden, was man nicht wahrnehmen möchte. Diese Einsichtsgewinnung auf dem Felde des Schautriebes, die den Einzelnen mit seinen entsprechenden Impulsen und Abwehrformationen und damit mit seiner je spezifischen Wahrnehmungsstruktur und seinem Objektbeziehungstypus konfrontiert, ist ein Effekt der Pluralität der Gruppe, sofern diese relativ heterogen zusammengesetzt ist. Denn die Unterschiedlichkeit an Wahrnehmungen und Ausblendungen bei den einzelnen Teilnehmern führt schließlich bei ihrem Zusammentreffen zu einer Beinahegesamtheit dessen, was man bezüglich eines Objekts wahrnehmen kann oder was das Objekt zu zeigen imstande ist. Damit ist eine erste Ebene der Kollektivierung eines künstlerischen Gegenstandes im Sinne einer Mikro-Vergesellschaftung gegeben. Diese imaginäre Ebene des Zeigens und des Abbildens ist aber stets von einer zweiten Ebene, nämlich jener des Aussagens, durchdrungen, weil sowohl das Feld der Darstellung als auch das Feld der Wahrnehmung durch die symbolische Ordnung, durch die Ordnung der Wörter und des Diskurses strukturiert werden. In jedem Bild und in jedem Bildnis äußert sich somit ein der Sprache unterworfenes »Sujet«, welches die bewussten und unbewussten Aussagen des Künstlersubjekts, seine persönlichen Werthaltungen und Weltanschauungen, seine Wahrnehmungs- und Kreativitätsgeschichte und seine Stellung im kunsthistorischen und kunsttheoretischen Diskurs transportiert. Diese Aussage als Inhalt oder Gehalt des Kunstgegenstandes ist immer narrativ, weil sie als sprachliche Aussage nicht nur metaphorisch einen Referenten repräsentiert, sondern weil sie sich auch der metonymischen Funktion der Sprache zu beugen hat: Demnach ergibt sich eine Bedeutung immer nur innerhalb einer Kette von Bedeutungsträgern, indem jeder Signifikant, jedes Wort seinen vollständigen Sinngehalt erst durch die ihm vorgängigen und die ihm nachfolgenden Diskurselemente erhält. Formaler Zeigeaspekt und narrativer Inhalt bedingen somit den Symptomcharakter eines künstlerischen Objekts, welcher als dessen je besondere facon de parler in Erscheinung tritt.
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Diese nunmehr komplexe Bedeutungsebene vergegenwärtigt sich in der Gruppe durch die Verkettung der freien Assoziationen der Teilnehmer, wobei ein Wort das andere ergibt und wobei sich die Gesamtheit der Aussagen der Gruppe den möglichen Aussagen des Kunstwerks und über das Kunstwerk asymptotisch annähert. Schließlich ist hinter allen imaginären und diskursiv-narrativen Elementen des Bildes oder des Gegenstandes oder auch der künstlerischen Installation die Blickfunktion derselben zu ergründen, welche man als erstes und auch als letztes Element des Schautriebes und seiner kulturellen Dispositive zu isolieren vermag. Dieser Blick (im Englischen gaze im Gegensatz zum aktiven look des Schauenden), der von den Gegenständen ausgeht und uns, wie bereits erwähnt, nicht nur zu anschauenden, sondern auch zu angeschauten Wesen macht und der als das Reale des Dings jenseits seiner imaginären und symbolischen Verfassung imponiert, ist das ursprüngliche Objekt des Schautriebes, der, um es zu wiederholen, im Auge seine Quelle hat und diese als solche auch im Auge des anderen als dessen Blick erfassen kann. Denn die primären Objekte aller menschlichen Partialtriebe sind körperbezogen und als solche nur dann funktionierend, wenn sie sich buchstäblich objektal vom Körper des anderen und vom eigenen Körper ablösen lassen. Der vom Auge losgelöste Blick, unter dem wir uns ständig befinden, findet auch in das Kunstwerk seinen Eingang und tritt uns von dort her als Fleck, als Lichtpunkt, als Glitzern, also als ein Auge im weitesten Umgang des Begriffes entgegen. Dieser Blick des Bildnisses, der das künstlerische Objekt zur »Würde des Dings«3 erhebt, bestimmt zum größten Teil dessen Faszination auf das Auge des Betrachters, das dabei von Bewunderung und Hingabe genauso getroffen werden kann wie von Abscheu, Bedrohung und ängstlicher Erstarrung. Zur Illustration seien Ausschnitte aus gruppenanalytischen Werkbetrachtungen im Museum für Angewandte Kunst (MAK) in Wien geschildert, wobei zunächst die Analyse eines Salonschranks von Dagobert Peche durch Hörer einer Lehrveranstaltung der Wiener Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie im Jahr 1997 vorgestellt sei.
I. D AGOBERT P ECHE : S ALONSCHR ANK (1913) Der Betrachtungsgegenstand ist ein aus dem Jahre 1913 stammender Salonschrank von Dagobert Peche, einem namhaften Vertreter der Wiener Werkstätte (Abb. 1). Dieses relativ wuchtige, schwarze und mit goldenen Ornamenten dekorierte Möbelstück (mit etwa 1,50 m fast gleich hoch wie breit), das auf acht zarten, geschwungenen Beinen steht, entlockt der Gruppe als erste Äußerung die Behauptung, dass es innen leer sein müsse. Es wirke sowohl abweisend und hoheitsvoll als auch protzig und unproportioniert, so dass man dem Objekt jeden Wert als Gebrauchsgegenstand absprechen müsse. Es sei höchstens für Zeremonien zu verwenden.
3 | Lacan 1978 (wie Anm. 1).
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Abbildung 1: Dagobert Peche: Salonschrank, Wien, 1913. Birnbaumholz (schwarz gebeizt), Lindenholz (geschnitzt und vergoldet). MAK, Wien
Sodann werden Gegensätze bemerkt: Einem Bemühen um klare Linien und einer gleichzeitigen orgiastischen Spannung im Dekor stehe eine Zweiteilung des Möbels im Sinne von oben und unten gegenüber. Diesbezüglich fällt ein starker Kontrast zwischen den strengen Linien des Kastens und seinen geschwungenen Beinen auf. Allmählich lösen sich Ehrfurcht und Angst vor dem Gegenstand und die Gruppe beginnt, ihre Phantasien in das Innere des Schranks zu lenken. Dieses sei wie bei einem Sarkophag streng zu bewachen, es diene, wie die Bundeslade, einer sakralen Handlung oder aber einem okkulten Akt. Auf jeden Fall sei das Innere schwergewichtig, da es ja von einer großen Anzahl von Füßen getragen werden müsse. Dieses Gewicht zu tragen werde aber durch die Vögel des goldenen Dekors unterstützt, welche den Schrank in einen Schwebezustand zu versetzen imstande seien (bis zum Schluss hält die Gruppe an der Wahrnehmung dieses ornamentalen Vogelmotivs fest, das aber in Wirklichkeit eine aus Blättern bestehende Verzierung darstellt). Nachdem sich die Teilnehmer eine Zeit lang mit der Frage beschäftigt haben, wie der Raum beschaffen sein müsse, in welchem ein solches Möbel aufgestellt werde, da man ja mit einer Mumie in seinem Inneren zu rechnen habe, wenden sie sich dem Geschlecht des Kastens zu. Ein Teil der Gruppe erachtet es wegen des kraftstrotzenden und dynamischen Aussehens als männlich, der größere Teil sieht aber eine Ausgewogenheit zwischen einem männlichen und einem weiblichen Prinzip, wobei man sich schließlich nach einem kurzen Schwanken zwischen Homo- und Heterosexualität auf eine bisexu-
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elle Neigung einigt. Die so erfolgende immer stärkere Subjektivierung des Gegenstandes bringt die Projektionstendenz der Teilnehmer ans Licht und lässt sie den Spiegelcharakter des Dekors entdecken. »Sehe ich mich da drinnen?«, fragt jemand, und veranlasst die Gruppe, ihr reflektiertes Bild in den nun glitzernden Ornamenten zu suchen. Damit bekommt der Schrank etwas Seduktives, und tatsächlich wird von einer Teilnehmerin vermutet, dass in seinem Inneren vielleicht ein grüner Apfel der Verführung verborgen sei, oder vielleicht sogar, wie ein Mann vermutet, ein rotes Herz. In Anbetracht der gleichzeitigen schwarzen Bedrohlichkeit des Möbelstücks aber wird sogleich bemerkt, dass diese Dinge im Inneren wohl bald zu faulen beginnen würden. Durch den Hinweis darauf, dass ein Apfel im Schrank durch die Körperhaftigkeit des Letzteren wohl eine Leibesfrucht darstellen könnte, wird das Möbelstück zum Träger von »Familiengeheimnissen«, deren Aufdeckung den Blick auf »Leichen im Keller« freigeben würde. So verwandelt sich der Kasten rasch zu einem Mutterleib, der aber weniger zum Leben als zum Tode Anlass gibt und damit zu einem lebendigen Sarg wird. Daran schließen sich Assoziationen an, die bei weiterer Verfolgung sicherlich zu je spezifischen und individuell verschiedenen Auseinandersetzungen mit Zeugung, Schwangerschaft und Abortus mit jeweils aggressiv-schuldhafter Tönung geführt hätten. Als ob es um eine verkürzte Trauerarbeit ginge, sieht die Gruppe nun, wie sich der Schranksarg zum Friedhof bewegt, getragen von vier Sargträgern, deren Beine die acht Füße des Möbelstücks nur allzu deutlich darstellen. Das Vogelmotiv taucht wieder auf und wird verbunden mit einer Phantasie der befreiten Seele, was offenbar jener vorübergehenden leichten Befreiung der Gruppe von einer befürchteten und nun teilweise offenbar gewordenen und zum Ausdruck gebrachten Todesvorstellung entspricht. Nun kann die Gruppe auch wieder ein Ganzes sehen, sie ist fasziniert von einem Schrank, der imstande ist, ein ganzes Leben, vom Bauch bis zur Bahre, in sich zu vereinigen. Darin liegt offenbar eine harmonische Kraft, die schließlich alle anfangs festgestellten Widersprüche in sich zu vereinen mag und so auch die Gruppenteilnehmer in ein einheitliches und widerspruchsfreies Gefüge verwandelt. Es sei noch erwähnt, dass einige Erörterungen angestellt werden, wie das Körperbild des Künstlers beschaffen sei, um in diesem Möbelstück seinen Ausdruck zu finden. Brustbetont, heroisch und mit einer nach oben dominierenden Richtung sind die Hauptattribute, die diesbezüglich geäußert werden. Schließlich wird noch festgestellt, dass der betrachtete Gegenstand, psychopathologisch gesprochen, wohl am ehesten als ein hysterisches Möbelstück zu diagnostizieren sei, weil es wie ein Köder wirke, weil es etwas vortäusche, weil es sich interessant mache, indem es sich geheimnisvoll gäbe. Bei einer weiteren Veranstaltung von Werkbetrachtungen im MAK im Februar 2010 wurden einer Gruppe, die zu einem Großteil aus psycho- und gruppenanalytisch versierten Teilnehmern bestand, vier teilweise aus der Museumssammlung, teilweise aus einer vorübergehenden Ausstellung von »Trophäenmöbeln« stammende Objekte zur Analyse vorgestellt. Im Anschluss an die vier Gruppensitzungen erklärten sich die Gruppenmit-
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glieder dazu bereit, den jeweiligen Gesamteindruck der von ihnen betrachteten Gegenstände noch in einer kurzen Aussage bzw. in einem einzigen Satz zum Ausdruck zu bringen. Die entsprechenden Aussagen sind im Anschluss an die Werkbetrachtungen jeweils stichwortartig angeführt.
II. B AROCKER B IBLIOTHEKSTISCH AUS DER A LTEN W IENER U NIVERSITÄTSBIBLIOTHEK (UM 1735) »Ein Schachbrett!« ist die erste Assoziation; ein wuchtiges Stück, so heißt es weiter, ein zusammengesetztes Ding, dessen oberer Teil nicht zum unteren passt (Abb. 2). Den Schachgedanken weiterspinnend wird bemerkt, dass die Spieler herausziehbare, im Möbel verborgene Sitzgelegenheiten hätten, um ein allerdings komisches Spiel zu spielen, von dem man schwindelig werde. »Vertigo« oder »Escher’sches Schach« müsste es wohl heißen. Den Gedanken der heimlichen Sitze wieder aufgebend wird vermutet, dass im Hohlkörper vielleicht andere Spiele oder aber eine Sammlung verborgen seien, deren Objekte vom Sammler bisweilen auf der Tischplatte ausgestellt werden würden. Nun meldet sich eine mahnende Stimme: »Hoffentlich ist es nicht ein sakrales Objekt.« Eine Betroffenheit und ein Schuldgefühl machen sich bemerkbar, weil unter diesen Bedingungen das bisher Geäußerte einer Blasphemie nahegekommen wäre. Aber gerade dieser Einfall führt dazu, dass nun erst recht assoziativ in diese Richtung gearbeitet wird. Kleine Ministranten, die auf einer Spirale bei Bedarf herausspringen, werden gesehen, und schließlich geht man sogar so weit, das dem Jesuitenorden zugeordnete Möbelstück als Sammlungsort von Ministrantenhinterteilen zu identifizieren. Nein, Messwein werde darin aufbewahrt, heißt es, um die Assoziationen einzubremsen und abzuschwächen. Nun wird aus dem Möbelstück eine üppige Dame und ein verhinderter Teekessel, auf jeden Fall ein Gegenstand, bei dem vieles erst nachträglich hinzugefügt worden sei. Dies sehe man an den Intarsien und an der später aufgesetzten Tischplatte. Vielleicht sollte das Ding überhaupt einen Uterus darstellen. Zusammengefasst ergibt sich daraus, dass das Objekt für die Gruppe zunächst etwas zum Spielen darstellte, was sich aber dann in etwas Ernstes und Heiliges verwandelte. Der damit verbundene Gedanke an eine Schwangerschaft und eine Mutter, die geschützt werden müsse, begründet inhaltlich und rückwirkend die ambivalenten Gefühle, die diesem Möbelstück von Anfang an entgegengebracht wurden, ohne jemals dessen tatsächlichen Verwendungszweck als Bibliothekstisch in Betracht zu ziehen. Als ein auf die
Abbildung 2: Barocker Bibliothekstisch, Wien, um 1730. Nussbaumund Ahornholz (furniert). MAK, Wien
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Rumpfmitte beschränkter weiblicher und schwangerer Körper fungierte der Gegenstand als Anreiz, das Gesetz des Mutterschutzes zu übertreten und jenen geheimen Phantasien freien Lauf zu lassen, welche die Thematik der Maternität sexuell und aggressiv konnotieren. Der möglicherweise durch das Ambiente und den musealen Kontext bedingte sakrale Nimbus des Möbelstückes gab schließlich auch Anlass zum Wiederaufleuchten eines blasphemischen Diskurses, der sich am Ende der Werkbetrachtung noch einmal ins Bewusstsein drängte: »Es ist also die Darstellung einer Muttergottes«, meint ein Gruppenmitglied, und die Gruppe zeigt sich mit diesem Resümee zufriedengestellt. Eindrücke der Gruppenmitglieder: • Weiblicher Schoß mit seiner verstörenden Anziehung und seinem rätselhaften Inneren. • Ein altes Möbel, das im Lauf der Zeit ohne allzu viel Respekt für jeweils neue Zwecke adaptiert und verändert worden ist – zum Schluss war’s ein Spieltisch, unter dem ironischen Banner der Caritas. • Bei Betrachtung des üppigen Tisches fällt die Aufmerksamkeit auf die Einlegearbeiten, die einen Hinweis geben über Schnitte, die für eine späte Bearbeitung des ursprünglichen Korpus sprechen. • Es ist, als würde ich einen schwangeren Frauenkörper betrachten und Überlegungen anstellen, wie ist der Fötus entstanden (durch lustvolles Spielen oder durch schuldbeladene Entweihung), wie sieht er aus (was wird es werden: Knabe oder Mädchen an der Nabelschnur-Spiralfeder) und wie kommt er heraus (oben beim Schachbrett als Kopfgeburt oder unten als Sessel evt. mit Kaiserschnitt). • Bauchladen; Abschussrampe für (?); Schach, bei dem man schwindlig wird; was da wohl drinnen ist? Katholische Bundeslade. • Der Schachgegner kommt von innen, aus dem Sog des klobigen Altar-Uterus. • a) Zum Verstecken. b) Nur um den Inhalt geht es. Tischplatte ist Tarnung. • Üppige Dame mit Öffnung. • Ein Tisch ist kein Raum nicht. • Hässliches Hohlgefäß mit falschem Deckel, in dem der Pope kleine Ministranten versteckt hält. Auf der Tischplatte ein Schachbrett, auf dem Herr Escher wohl gern so manche Partie gespielt hätte – vielleicht gegen ein paar Damen von der Caritas.
III. H ENRY VAN DE V ELDE : S CHREIBTISCH (1898) »Eine Bar für Liliputaner«, bemerkt ein Gruppenteilnehmer. Die tatsächliche Funktion des Möbels aufgreifend tritt dann aber für die Gruppe ein gewaltiger Schreibtisch mit einer Art von Ohren auf beiden Seiten in Erscheinung, die als zwei wuchtige Seitenteile eine Mitte schützen könnten, in der ein Mafiaboss sitzt (Abb. 3). Es könnte aber auch ein Schreibtisch in einem Amt sein, bei dem man nach Aushändigung von Formularen vom Beamten wieder weggeschickt wird, also ein buchstäblich ausladendes Mö-
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belstück. »Wenn man weggeschickt wird, kann man ja unten wieder hineinschlüpfen«, bemerkt eine Teilnehmerin. Eine schlüpfrige Bemerkung offensichtlich, da die Gruppe nun phantasiert, dass der an diesem Schreibtisch arbeitende Mann links und rechts Aufbauteile zur Verfügung hätte, auf denen zwei Sekretärinnen sitzen könnten. »Na ja, Partystimmung kommt hier aber nicht auf«, meint ein skeptischer Teilnehmer, und fügt hinzu, dass dieses Möbelstück darauf bedacht sei, die Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben zu wahren, ganz nach dem Motto: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Der Schreibtisch könne sich aber nicht entscheiden, ob er ein privater oder ein öffentlicher Schreibtisch sei, so heißt es weiter, wobei die Gruppe auch die Unentschiedenheit des Möbels zwischen Funktions- und Ästhetikschwerpunkt kritisiert. Diesen Schreibtisch könne man wohl nicht vollräumen, mehr als ein Laptop darauf sei schon zu viel.
Abbildung 3: Henry van de Velde: Schreibtisch, Brüssel, 1898. Eschenholz, Messingbeschläge. MAK, Wien
Bezüglich der Form will die Gruppe einen Gegensatz zwischen den Seitenteilen, die nur rund und geschwungen sind und keine Ecken aufweisen, und dem viereckigen Mittelteil, der an eine Schule und an einen Katheder erinnert, erkennen. Die damit verbundene Harmonie einerseits und die unangenehme Strenge andererseits mobilisiert in der Gruppe Täter- und Opferphantasien, wobei Erinnerungen an strenge Lehrer, die an diesem Tisch sitzen könnten, zur Qualifizierung des Schreibmöbels als eines sadomasochistischen Objektes führen. Unter diesem Blickwinkel wird auch die Unentschlossenheit dieses Schreibtisches zwischen seinem männlichen und weiblichen Charakter bemängelt. Die Äußerung eines Gruppenteilnehmers, dass ihm dieser Schreibtisch früher viel besser gefallen habe, führt zur Entgegnung von Seiten eines anderen Teilnehmers, dass der Schreibtisch eben einem Pubertätsgeschmack entgegenkomme und damit auch einem typischen Produkt des Jugendstils entspreche. Die Beobachtung von Stilunterschieden der Ornamente lassen schließlich den Schreibtisch als einen jugendlichen Körper mit hermaphroditischen Wesenszügen erscheinen.
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Eindrücke der Gruppenmitglieder: • Anthropomorphe Ohrentaschen. • Zwischen männlich und weiblich, einfach und verspielt, intim und repräsentativ, zwischen Objektliebe und narzisstischer Angeberei. Auf jeden Fall wohlhabend – und ich schwanke zwischen Lust, Wunsch, Neid und Distanz. • Formschön und funktionell vereinigt dieses Möbelstück Privatheit und Öffentlichkeit ebenso wie jugendlichen Genuss und Altersweisheit, florale Naturornamentik und geometrisch-konstruiertes Design sowie Weiblichkeit und Männlichkeit. Bei genauerer Betrachtung verwandelt sich diese Paarung in ein perverses Zwitterwesen, das, seine Bestimmung nie erfüllt habend, jetzt im Museum verstaubt. • Bar für Liliputaner, ein Lurch oder doch eine Niere – Vorläufer des Nierentisches. Die floralen Elemente könnten zu Schlingpflanzen oder Aliens werden. • Ein Ort der Macht, mit eingebauter Grenzüberschreitung. • a) Ein Monster. b) Das Geistige und die Arbeit ist das Wichtigste im Leben für den oder die Besitzer(in). • Hat mir in meiner Jugend besser gefallen. • Eine Öffnung zum Durchschlüpfen. Zu groß und ungelenk das ganze Ding. Man könnte es in der Mitte durchsägen. Nicht Fisch und nicht Fleisch, ein narzisstisches Repräsentationsmöbel für den noch unausgereiften Schreibtischtäter! Irgendwie insgesamt misslungen. • Der Nächste bitte!
IV. L E C ORBUSIER /P IERRE J E ANNERE T/ C HARLOT TE P ERRIAND : C HAISE - LONGUE À RÉGL AGE CONTINU (1928/1935)
Den beiden ersten Einfällen, es handle sich bei dieser Liege (Abb. 4) um eine Couch für Tarzan oder für Jane bzw. um eine amerikanische Analysecouch, folgt eine vorübergehende Hemmung des Redeflusses der Gruppe, welche möglicherweise auf einen professionell bedingten Widerstand der Teilnehmer durch die zu nahe an ihr Praxisfeld herankommenden Assoziationen bedingt ist. Offensichtlich wird der latente Ärger der Gruppenmitglieder darüber, etwas aus ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit preisgeben zu müssen, durch entwertende Bemerkungen über das Möbelstück abgelenkt und abgeführt: Das Möbelstück sei oben »hui« und unten »pfui«, da dem kostbaren Leopardenfell der Liegefläche eine rostige Unterseite mit Metallstäben und Federn gegenüberstehe. Es wird aber auch festgestellt, dass das »Unbewusste« dieser Liege nicht nur hässlich, sondern auch schön sei, was durch die gefällige Rautenform des Metallgerüstes bezeugt werde. Ein Körper sei das Ding zwar nicht, aber es stelle eine Funktion für Körper dar, vor allem für Patienten verschiedenster Art, so dass das Möbel auch als Trophäe an der Wand einer Analytiker-Praxis hängen könnte. Die Trophäen wären demnach das Fell, das den Patienten abgezogen worden ist. »Gibt es auch noch andere Trophäen der Analytiker?«, fragt eine Teilnehmerin.
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»Ja«, antwortet ein offensichtlich versierter Gruppenkollege fachmännisch: »Sie stellen sich hauptsächlich als Fallberichte dar, die man hin und wieder schreiben muss, damit einem die Fälle nicht davonschwimmen!« Eindrücke der Gruppenmitglieder: • Trophäen des Analytikers: eine Falldarstellung, wenn einem die Felle davonschwimmen. • Triumph einer einfachen, vitalen Eleganz – das Fell, der Fall, die Fälle – Idealbild der Psychoanalyse – die Falle. • Diese Liege lädt zur intimen Präsentation der Felle/Fälle/Pfähle/Trophäe des Analytikers ein und löst als Gebrauchsobjekt Berufsreflexionen über die Tätigkeit des Analytikers aus. Jedenfalls ist sie wunderschön. • Tarzans Couch, die Fälle/Felle der Analytikerin, Schaukelcouch, schönes Stück. • Auf alle »Felle« ist es eine wacklige Angelegenheit, im Rhönrad zu entspannen. Das Fell ist von einer/einem abgehäuteten Geliebten auf die (den) man sich bettet. Wer ist die Bestie? Jäger oder Gejagter? • Ich hab dich zum Fressen gern. • Das gelebte Phantasma des Analysanden! Besser zum Vögeln als zum Analysieren.
Abbildung 4: Le Corbusier/Pierre Jeanneret/Charlotte Perriand: Chaise-longue à réglage continu, 1928/1935. Stahlrohrgestell (verchromt), Metall, Leopardenfell. Privatbesitz, Monaco
V. J ERZSY S E YMOUR : P RIMAL S CUM TABLE (2009) Den anfänglichen Bemerkungen »Oh, hier gibt es Himbeereis« und »Nein, das ist der Nordpol nach der Klimaerwärmung« folgen Einfälle über essbare und lutschbare Dinge, bevor sich der nahrhafte Oberteil des Möbels
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(Abb. 5) in ein schützendes und verhüllendes Dach für ein spitziges Inneres verwandelt. Nach der Vermutung, dass hier der Selbstmord von Marie Antoinette dargestellt wäre, werden die Assoziationen immer blutiger. Schließlich aber wird im Tisch, in dem sich in der Verzahnung der Geweihe und Zähne sowohl Zärtlichkeit als auch gegenseitige Verletzung ausdrückt, das Herzstück der Jagd mit deren erotischen und aggressiven Anteilen gesehen, wodurch das Möbel letztlich in eine Darstellungsfunktion für die Perversion der Trophäenjäger gerückt wird. Bald wird aber bemerkt, dass es sich bei dem Gegenstand nicht nur um einen Tisch, sondern um einen Tisch mit zwei Stühlen handelt, also um eine Sitzgruppe, die für zwei Jäger vorgesehen ist (Abb. 6). Damit wird die Jagd als eine Männersache und die Trophäenjagd abermals als eine ins Perverse hineinreichende Tätigkeit deAbbildung 5: klariert. Wodurch, so heißt es, das Möbelstück nichts anderes als Jerzsy Seymour: Primal ein obszöner Witz, ein Männerwitz eben, sei. Unter dieser EinScum Table, 2009. Hirsch- ladung zum Witzeln wendet sich die Gruppe wieder der rosaroten geweih, Eberzähne, Weich- Substanz der Tischplatte zu, die sich über einen süßen, essbaren holz, gefärbtes Polyurethan. Brei, über Speiseeis, Zucker und Wachs in die Erstarrungsformen Privatbesitz, Wien menschlicher Sekrete und Exkremente transformiert. Schließlich setzt sich die Auffassung durch, dass man hier einen Fetisch vor sich habe, genauer gesagt einen Fee-Tisch und nicht einen Teetisch, wodurch die rosa Masse als gewaltiges Ejakulat identifiziert wird. Damit gelangt die Gruppe auch zur Schlussdiagnose ihrer Betrachtung: Zwei Onanie-Stühle und ein Fee-Tisch mit Samenerguss. Eindrücke der Gruppenmitglieder: • Erzwungene Anschmiegung von Leichenteilen, perverse Lust an der Trophäe, denkbar gemacht durch Anfügung des üppigen Gusses. • Ein unangenehmes Ensemble, mit dem ich mich am liebsten gar nicht beschäftigen möchte. Der rote Schaum als zeitgenössische Provokation auf die Reste einer bornierten und engstirnigen Männer-Jagd-Gesellschaft. • Verkitschte Onanie oder die Schaulust der nekrophilen Trophäenjäger. • Der Alptraum (das Grauen) des Jägers, Waidmanns Dank, Jagdtrophäen sind pervers, Jägerperversion, Totem und Tabu. • Über die Agonie der bereits toten, verkeilten Geweihe fließt das erstarrte Wachs, abgefeuert aus den Onaniersesseln. Ein Fe-Tisch lädt zum Schmausen. • a) Die Konversation der auf den Sesseln Sitzenden liegt als rosa Masse auf dem Tisch. b) Die rosa Masse könnte von einer abgebrannten Kerze sein und bedeutet dann Tod. Ebenso die toten Trophäen. Haben alle Trophäen mit dem Tod zu tun? • Kein Teetisch, sondern ein Fetisch. Verharmlosung der Gefahr. • Ich will mich ja nicht daran stoßen. • Tea time im nekrophilen Jägerstüberl. Wie man sich setzt, so lebt man! Ein Halali den wahnsinnigen Grünröcken. David Lynch bläst den Jägern einen rosa Marsch!
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Abbildung 6: Blick in die Ausstellung »Möbel als Trophäe«: Im Vordergrund Jerzsy Seymours »Primal Scum Table« (2009) und zwei Geweihstühle aus dem kaiserlichen Jagdschloss in Neuberg an der Mürz (Österreich, 1858), MAK, Wien (27.5.2009-28.2.2010)
A BSCHLIESSENDES Aus einer großen Zahl von psychoanalytischen Werkbetrachtungen mit verschiedensten Personenkreisen sind hier einige Beispiele aus einer wiederum kleineren Zahl von protokollierten Analysen vorgestellt worden. Es ist zu wünschen, dass nicht zuletzt durch diese Illustrationen deutlich geworden ist, dass auch »eine Psychoanalyse von Sachen« – wie Jean-Paul Sartre ihren nicht-klinischen Anwendungsbereich einmal genannt hat – nicht darin besteht, einmal und zumeist an Einzelfällen gewonnene Erkenntnisse als generell erachtete Deutungsmuster in stereotyper Weise jedem Analysegegenstand ohne Berücksichtigung der jeweils bedeutsamen Kontexte überzustülpen. Sicherlich trägt die Psychoanalyse oft selbst dazu bei, dass ihre theoretischen und insbesondere ihre triebtheoretischen Aussagen, welche sich in ihrer Verallgemeinerung nur auf strukturelle Gegebenheiten unter Hintanhaltung ihrer je konkreten und durchaus unterschiedlichen Erscheinungsformen beziehen können, zum Katalog einer starren Symbolik etwa im Sinne eines ägyptischen Traumbuches missbraucht werden. Unter einem solchen Aspekt kann die Psychoanalyse tatsächlich als ein monströses Lehrgebäude mit pansexualistischen Auswüchsen erscheinen und jene Spötter auf den Plan rufen, die behaupten, dass alles in der Psychoanalyse an den Haaren und vornehmlich an den Schamhaaren herbeigezogen sei. Damit soll aber auch nicht der der Psychoanalyse inhärente Skandal heruntergespielt werden, der in der Offenlegung unbewusster Motivationszusammenhänge und in der Enthüllung verdrängter, das heißt
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privat oder kollektiv tabuisierter Vorstellungen besteht. Auf jeden Fall ist auch zu bedenken, dass unser Zugang zur Welt, zu den Sachen und auch zu uns selbst grundsätzlich erotisch geprägt ist, da sich die Wahrnehmung der äußeren Welt nie von den Spuren einer elementaren Körpererfahrung, die zunächst einem einfachen Lust-Unlust-Prinzip unterworfen ist, loslösen kann. So kommt es, dass jeder Gegenstand die Erinnerung an das ihm vorausgegangene unfassbare Ding mit sich trägt, welches wiederum die unbewusste Repräsentanz eines körperlichen Partialobjekts als elementares Triebobjekt darstellt. In diesem Sinn stellt Lacan für das Erleben des werdenden Menschenkindes auch im Hinblick auf dessen Persistenz fest: »Es ist das Bild seines Körpers, das das Prinzip jener Einheit ist, die er an den Objekten wahrnimmt. Von diesem Bild nun nimmt er die Einheit nur außerhalb und in einer antizipierten Art und Weise wahr. Aufgrund dieser doppelten Beziehung, die er zu sich selbst hat, werden sich sämtliche Objekte seiner Welt immer um den irrenden Schatten seines eigenen Ich strukturieren. Sie werden alle einen fundamentalen anthropomorphen, wir wollen sogar sagen egomorphen Charakter haben«.4
Ein solches imaginäres Schwergewicht bildet immer einen Teil jener konnotativen Bedeutungshöfe, die an den Signifikanten in ihren Verkettungen haften und die in der Analyse als systematische Durchquerung von Phantasmen offenkundig werden. Um es in etwas anderer Wendung zu wiederholen: Eingedenk der Bedeutungsgesetze, welche die Mechanismen der Verdrängung regieren, schreitet die Psychoanalyse in ihrer Methode stets metaphorisch und metonymisch voran, um den im Unbewussten herrschenden Verdichtungen und Verschiebungen nachzuspüren: Ein Wort steht für ein anderes Wort (vertikale Bezugsachse) und ein Wort ergibt das andere (horizontale lineare Verkettung). Über den Diskurs des Einzelnen einschließlich seiner unbewussten privaten Konnotationen hinausgehend zeigen sich im Diskurs einer Gruppe neben dem Zusammentreffen vieler privater Phantasmen auch deutlicher und umfassender Anteile von Kollektivkonnotationen, welche in ihrer Gesamtheit die bewussten und unbewussten Mentalitäten einer jeweiligen Kultur wiedergeben. Sofern Künstler mit ihrer Sublimierungsarbeit an den Schnittflächen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen eine privilegierte Position einnehmen, indem sie intime Erfahrungen und unkonventionelle Zeichenverknüpfungen in verallgemeinernd wirkende ideale Formen umsetzen, schafft die Begegnung mit ihren Werken im Rahmen einer analysierenden und analytisch geleiteten Gruppe Resonanzen, welche sowohl die gemeinschaftsstiftende Funktion von Kunst als auch die Möglichkeit einer Vergesellschaftung individuellen Erlebens erfahrbar werden lässt, ohne dass sich dabei der Einzelne im Kollektiv verliert.
4 | Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan, 20 Bde., Bd. II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (1954-1955), Olten, Freiburg i.Br. 1980, S. 346.
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Dieser Text greift in seinem allgemeinen Teil auf mehrere bereits publizierte Beiträge des Verfassers zurück, wobei hier vor allem erwähnt sei: »Die Psychoanalyse geht ins Museum oder über das Begehren, Bedeutung zu sehen«, in: August Ruhs: Der Vorhang des Parrhasios. Schriften zur Kulturtheorie der Psychoanalyse, Wien 2003, S. 294-313 sowie »›Zum Verstehen eines Bildes braucht es einen Stuhl‹ (Paul Klee). Bemerkungen zur psychoanalytischen Werkbetrachtung in der bildenden Kunst«, in: Brigitte Verlic/ Adam Budak/Peter Pakesch (Hg.): Zeichen der Psyche. Psychoanalytische Perspektiven zur Kunst, Wien 2008, S. 13-28.
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Das Bett Vilém Flusser
»To bed, to bed: there’s knocking at the gate. Come, come, come, come, give me your hand. What’s done cannot be undone. To bed, to bed, to bed.« Macbeth, Act V, Scene I.
I. Wir wohnen. Wir könnten nicht leben, wenn wir nicht wohnten. Wir wären unbehaust und schutzlos. Ausgesetzt einer Welt ohne Mitte. Unsere Wohnung ist die Weltenmitte. Aus ihr stoßen wir in die Welt vor, um uns auf sie wieder zurückzuziehen. Von unserer Wohnung aus fordern wir die Welt heraus, und wir fliehen vor der Welt in unsere Wohnung. Die Welt ist die Umgebung unserer Wohnung. Unsere Wohnung ist das, was die Welt befestigt. Der Verkehr zwischen Wohnung und Welt ist das Leben. Ein Pulsieren zwischen Horizont und Mitte. Ein Ausgießen und ein Sammeln, ein Sichgeben und ein Sichfinden, ein Handeln und ein Betrachten, Abschied und Heimkehr. Die Welt ist das Alphabet, das wir entziffern. Die Wohnung ist das Alpha und das Omega. Wir wohnen. Wir wohnen? Wo? Was beschützt uns? Was bewirkt, dass wir nicht ausgesetzt sind? Wo ist unserer Welten Mitte? Worauf stützen wir uns, um gegen sie vorzustoßen? Haben wir einen Ort, wohin wir uns zurückziehen können? Ist das, was uns umgibt, die Welt, und ist es gefestigt? Was ist unser Leben? Hat es eine Richtung? Haben wir Horizonte und Mitte? Können wir uns ergießen? Und sammeln? Können wir uns geben? Und finden? Handeln wir betrachtungslos und betrachten wir, ohne zu handeln? Können wir Abschied nehmen, wenn wir nicht heimkehren können? Können wir heimkehren, ohne Abschied genommen zu haben? Was für ein Alphabet ist denn das, ohne Alpha und ohne Omega? Können wir eine unendliche Reihe von Ziffern entziffern? Ist denn das noch ein Alphabet, wo es keinen Sinn gibt? Wir wohnen? Die Fragen zernagen die Behauptungen, so dass sie zerbröckeln. Sie
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nagen, vernünftige Ratten, an den übervernünftigen Grundlagen unserer Wohnung. Sie zerstören Unterbauten. Und sie gebären andere Fragen. Unsere Wohnung ruht jetzt auf einer Menge von explosiv fruchtbaren Fragen. Die Fruchtbarkeit der Fragen ist der Boden unserer Wohnung. Wir sind keine bodenlosen Wesen. Aber es ist ein schwankender und ein wogender Boden. Die Schnauzen und Schwänze der fruchtbaren Fragen sind jetzt der Ort, von dem aus wir in die Welt vorstoßen, und wir fliehen vor der Welt auf die Rücken der Ratten. Wie auf einem Boot, das im Sturme tanzt, sehen wir unsere Horizonte steigen, fallen und sich verzerren. Uns erfasst eine wilde Seekrankheit auf der Woge der Ratten. Wir erbrechen, von Ekel gepeinigt, auf den Rücken der Ratten, auf den Boden unserer Wohnung. What’s done cannot be undone. To bed, to bed, to bed. Es gibt noch Betten. Wohnungen, streng, eng und strikt gesprochen wohnen wir in Betten. Wir wohnen in der Strenge und Enge der Betten. Und von Betten handelt darum dieser Versuch, etwas eigenartig zu philosophieren.
II. Die Eigenart dieses Philosophierens erfordert, unglücklicherweise, einige Bemerkungen über die Methode. Noch ist es leider nicht möglich, ohne Methode zu philosophieren. Noch können wir nicht, strukturlos, untertauchen in den entfesselten Strom des Bewusstseins. Noch ist das Philosophieren an den Diskurs gebunden. Dies ist ein Versuch, den Diskurs zu brechen oder ihn wenigstens zu verbiegen. Aber die Zwangsjacke der Grammatik, also der Logik, drückt sich doch dem Zusagenden auf, und wie sie das tut, muss ich gestehen: Das Bett als Wohnung im engen und strengen Sinne des Wortes ist eine Weltenmitte. Es ist Mitte zahlloser Welten. Ich muss unter diesen Welten wählen. Wie kann ich wählen, was gibt mir ein Kriterium, wie kann ich mich entscheiden? Ich kann es, weil ich nicht, vom Bette aus, zahllose Welten erfahren habe. Meine Erfahrung aus dem Bett ist eine begrenzte Erfahrung. Und unter begrenzten Fällen kann ich wählen. Ich kann mich für die für mich entscheidendsten entscheiden. Mein Kriterium ist autobiographisch. Ich wähle folgende Welten, deren Mitte das Bett ist: Geburt, Lesen, Schlaf, Liebe, Schlaflosigkeit, Krankheit und Tod. Dies ist der Versuch, diese auserwählten Welten zu schildern. Bevor ich sie schildere, muss ich sie ordnen. Ein weiteres methodologisches Problem ist zu meistern. Ich wähle als Kriterium des Ordnens das Leiden. Ich will die zu beschreibenden Welten nach dem Leiden ordnen. So, dass sich in ihnen das Leiden steigert. Warum das Leiden? Weil das Leiden, das Passive, die Passion, die Stimmung des Bettes ist, zum Unterschied zum Beispiel vom Tisch, an dem die Handlung, das Aktive und die Aktion besser stimmen. Aber das Leiden allein genügt nicht als Kriterium des Ordnens. Es ist kein vernünftiges Kriterium und für Geometrie nicht gut zu gebrauchen.
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Aber die Vernunft ist, wie Descartes mir beweist, eine Schwester der Geometrie, und ich will mich brüderlich zu ihr stellen. More geometrico will ich vorgehen und ihr zu Ehren eine Pyramide errichten. An deren Spitze werde ich die Liebe stellen, an ihre Flanken parallele Welten. Also, von der Spitze aus nach rechts und links gesehen, Schlaf und Schlaflosigkeit als erstes Paar, Lesen und Krankheit als zweites und Geburt und Tod als das grundlegende Paar auf der Hypotenuse. So gelingt es mir, eine Hierarchie aufzustellen. Eine mehrwertige Hierarchie, möchte ich hoffen. Vektoren verbinden die erlesenen Welten und deuten auf die Liebe als Spitze. Aber andere Vektoren verbinden homomorphe Welten. Pythagoras, unverhofft hast du dich eingeschlichen. Und noch ein methodologisches Problem muss ich eingestehen. Die fünf erhobenen Welten auf der Pyramide können reflexiv angegriffen werden, denn sie sind erlebbar. Aber die Grundwelten der Geburt und des Todes können wir nicht erleben. Wir müssen gestehen, dass wir unsere Geburt und unseren Tod nicht erkennen können. Wir kennen nur die Geburt und den Tod des anderen. Das ist nicht zu ändern. Und dies ist also mein methodologisches Geständnis.
III. Ich sehe zwei Betten. In einem liegt eine Frau, sagen wir, meine. Das andere ist eine Wiege. Ich versuche, aus dieser Wiege Weltmitte zu machen. Ich entwerfe mich auf die brüllende Sache dort in der Wiege. Der Entwurf ist schwierig. Ich muss mich aufzugeben versuchen. Was habe ich aufzugeben? Vor allem wohl meine Erfahrung. Ich will versuchen, sie auszuklammern. Was habe ich auszuklammern? Folgende Erfahrung: Die brüllende Sache dort in der Wiege ist Mensch, weil sie Menschensohn ist. Ein aus drei Keimblättern bestehendes vielzelliges Wesen. Ein Wirbeltier, vom Typus der anthropoiden Säugetiere. Sie besteht, wenn analysiert, hauptsächlich aus Wasser, aus Polymeren auf Karbonbasis und aus anderen Elementen. Sie ist ein System, verbraucht Energie und ist bedingt von Luft, Wasser und einigen, »Nahrung« genannten Stoffen. Dieses System wird zerfallen, und zwar wird es in Luft, Wasser und Nahrung zerfallen. Es ist ein Mensch in diesem Sinne. Die brüllende Sache ist ein Mensch, weil sie Menschensohn ist. Ihre drei breiartigen Kilos beinhalten ein Nervensystem, das von inneren und äußeren Einflüssen gereizt wird. Vorläufig sind nur die inneren am Werke. Bald wird es sich den äußeren öffnen, und das Feld der äußeren Einflüsse wird riesenhafte Dimensionen haben. Äußerst reich gegliederte Einflüsse von sehr verschiedenem Ursprung und sehr verschiedener Stärke werden es reizen. Das System wird diese Einflüsse zu Erlebnissen, Strebungen, Gedanken und Handlungen verwandeln. Es wird unter den Reizen wählen, sie werten, und es wird sich Modelle bauen, um sich den Reizen anzupassen. Schließlich wird es nachdenken, sich von den Reizen distanzieren und aus der Distanz die Modelle von den Reizen nicht gut unterscheiden
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können. Es wird zweifeln und philosophieren. Es ist ein Mensch in diesem Sinne. Die brüllende Sache ist ein Mensch, weil sie Menschensohn ist. Jetzt ist sie nur ein Punkt in meinem Feld, also ein Gegenstand, der für mich ist. Aber bald wird sie sich von mir nicht so verdingen lassen. Bald wird sie, ihrerseits, mich zu ihrem Gegenstand machen wollen. In dieser gegenseitigen Vergegenständigung werden wir beide, die Sache dort und ich, uns verständigen und einander anerkennen. Wir werden miteinander sprechen. Miteinander: denn eins wird dem anderen der andere werden. Und so wird die brüllende Sache in den Strom des Gespräches tauchen, in jenen Strom, den wir »Kultur« und »Geschichte« nennen. Das große Gespräch wird die Sache dort programmieren. Es wird das Netz sein, in dem die Sache dort eingefangen wird, um darin zu existieren. Nie wird es diesem Netze entkommen. Die Geschichte, die Kultur, wird sie bedingen. Diese Kultur, diese Geschichte. So viel sich die Sache dort auflehnen wird, sie wird ein Gefangener bleiben. Aber auflehnen wird sie sich, allem zum Trotze. Diese Rebellion wird sie aus dem Gefängnis nicht befreien, aber sie wird das Gefängnis bereichern. Die Sache dort ist ein Mensch in diesem Sinne. Die brüllende Sache ist ein Mensch, weil sie nicht nur Menschensohn ist. Ich kann ihre Zukunft nicht voraussehen, und das nicht nur, weil ich nicht alle ihre Bedingungen kenne. Die Nahrungen, die Reize und die Geschichte, und wären sie mir zur Gänze bekannt, würden die Handlungen und die Zukunft der brüllenden Sache nicht ganz erklären. Es wird immer einen Rest von Ursprünglichem, Überraschendem und Unerwartetem geben. Und dieser Rest wird etwas ganz Neues sein, etwas Unerklärliches und Unersetzliches, also etwas Geheimnisvolles. Etwas noch nie Dagewesenes steckt in dieser brüllenden Sache. Die Sache dort ist ein Mensch in diesem Sinne. Also diese und ähnliche Erfahrungen habe ich auszuklammern, um mich auf die Wiege zu entwerfen. Um die brüllende Sache zur Weltmitte zu machen. Was ist geblieben? Das Brüllen. Was sagt dieses Brüllen? Ich will nicht! Niemand hat mich befragt, bevor ich in diese Wiege geworfen wurde. Ich habe nicht gewählt, geboren zu werden. Man hat mich nicht vor die Wahl gestellt, Säugetier oder etwas anderes zu werden. Dass ich Mensch bin und Mitglied dieser Kultur und dieses Volks und dieser Klasse und Sohn dieser Eltern, das ist nicht meine Wahl, und ich lehne ab, mich so bedingen zu lassen. Ich akzeptiere nicht das Leben unter solchen Bedingungen. Ich will zurück zu dem Platz, aus dem ich gerissen wurde. Ich will nicht! To bed, to bed, to bed.
IV. Nacht, und Zeit der Passion, des Erleidens. Die große Stadt ist unter meine Horizonte untergegangen. Das rhythmische Pulsieren ihrer Apparate, das meine Welt strukturiert, ist untergegangen. Die Nacht hat meine Welt verschlungen. Tat und Tätigkeit hat sie verschlungen. Das Feld ist nun der
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Passivität, der Leidenschaft und dem Leiden geöffnet. Ich liege im Bette und lese. Tagsüber, dort draußen in der Welt, war ich eine Faust, die sich ballte. Ich habe gegen Tische und Wände gehämmert, um mir Wege zu öffnen. Jetzt hat sich die Faust geöffnet. Auf der offenen Handfläche, die ich bin, liegt das Buch, das ich lese. Ich lebe nun in umgekehrter Richtung. Ich strahle nicht aus, ich absorbiere. Ich drücke nicht auf, ich werde beeindruckt. Ich rede nicht, ich horche. Ich handle nicht, ich fasse. Ich bin nicht exzentrisch, ich bin konzentrisch. Meine Konzentration ist meine offene Handfläche: ich bin konzentriert, denn ich habe mich geöffnet. Die offene Handfläche ist eine Muschel. Sie sammelt, Schale die sie ist, das Lesen. Sie sammelt informative Sätze. Ich bin ein Netz für Informationen, eine Spinne für informative Fliegen. Mein Mund hat sich geöffnet. Mich dürstet. Ich bin offen, also dürftig. Ich bedarf der Informationen, die in meine Öffnung fließen, in das Nichts in meiner Mitte. Ich kann lesen, denn das Nichts in mir saugt Informationen. Wäre ich kompakt, wie die Faust am Tage, dann brächen sich die Wellen der Information an meiner Insel. Ich horche und gehorche dank meiner Leere. Mein Nichts ist das Organ meines Leidens, meines Zulassens, meines Lernens. Ich lese, ich horche. Ich horche, ich gehorche. Ich gehorche, ich lasse. Ich lasse, ich gewähre Einlass. Ich gewähre den Informationen Einlass. Ich gewähre dem Buche Einlass. Das Buch ist der andere. Ich gewähre dem anderen Einlass. Ich lasse zu, dass der andere mich ändert. Ich lese, um mich zu ändern. Ich habe mich dem anderen geöffnet, um mich zu ändern. Ich bin plastisch. Ich lasse mich vom anderen auf meinem Plasma brandmarken. Nicht, ohne mich zu wehren. Ich bin nicht unförmig. Ich habe Strukturen. Ich habe schon gelesen. Andere haben mich schon früher gebrandmarkt. Ich habe deswegen Programme. Ich kann daher die jetzigen Informationen nicht vorurteilslos lesen. Ich habe Urteile von früher. Diese Vorurteile diskriminieren. Sie wählen. Sie lehnen einige Informationen als »falsch« ab. Und »falsch« heißt: nicht im Einklang mit meinen Programmen. Andere Informationen lehnen sie als »sinnlos« ab. Und »sinnlos« heißt: nicht in meinen Programmen. Ich lese also drei Typen von Informationen: »falsche«, »sinnlose« und »wahre«. Meine Programme erlauben mir nicht, alle Informationen aufzunehmen. Sie erlauben mir nicht, alle Sätze zu lesen. Aber einige dieser Sätze ändern meine Programme. Manche »sinnlosen« Sätze werden zu Informationen. Ich habe solche Sätze erlernt. Manche »falschen« Sätze werden zu »wahren«. Ich habe diese Sätze begriffen. Manche »wahren« Sätze werden zu »falschen«. Ich habe diese Sätze verstanden. Die Sätze des Buches haben die Sätze in meinen Programmen gesondert. Sie sind auf meine Programme gestürzt und haben ihre Sätze verwandelt. Was für mich früher wahr war und falsch war und sinnlos war, ist jetzt nicht mehr so, sondern teilweise anders. Meine Vorurteile sind jetzt anders und schwächer. Ich bin zum Teil ein anderer geworden. Dank die-
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sem meinem Lesen. Ich bin ein anderer geworden, denn ich habe gelernt, begriffen und verstanden. Was hat sich in mir geändert? Mein Glaube. Glaube heißt Erwartung und Hoffnung. Mein Lesen hat meine Erwartung und Hoffnung geändert. Da ich anders geworden bin, erwarte ich etwas anderes und hoffe auf etwas anderes. Ich erwarte, für morgen früh, wenn ich aufstehen werde, eine andere Welt, und hoffe, sie anders vorzufinden. Da mein Lesen meinen Glauben verändert hat, hat es meine Welt verändert. Morgen, als geschlossene Faust, werde ich andere Tische und andere Wände hämmern. Mein morgiges Hämmern wird eine Artikulation meiner heute erlittenen Veränderung sein, also meine Antwort auf das Buch, das ich lese. Morgen werde ich ins Gespräch mit dem heutigen Buche treten. Ich hämmere die Welt, um sie zu ändern. Um sie zu ändern, so wie ich mich geändert habe. Das ist meine Antwort: die Welt nach meiner erlittenen Veränderung zu ändern. Im Leiden habe ich mich verändert, im Handeln soll ich danach die Welt verändern. Morgen werde ich handelnd antworten, heute die Verantwortung übernehmen. Mein Leiden, meine Leidenschaft, mein Lesen sind die Verantwortung, mein Handeln und meine Tätigkeit, mein Engagement sind darauf die Antwort. Ich lese, um Verantwortung für Antworten zu haben. Ich lese: Ich lasse zu, dass Worte für Verantwortung und Antwort in meine innere Leere strömen und in diesem Strom meinen Glauben ändern. Ich bin ein saugender Wirbel. Morgen werde ich Zentrifuge. Ich werde meine Veränderung gegen meine Horizonte entwerfen. Der Entwurf zu meinem Entwerfen ist in meinem Lesen. Das Lesen ist ein Erleiden von Entwürfen. Das Lesen ist eine Leidenschaft, denn es lässt mich entwerfen. Ich lese leidenschaftlich. Die Leidenschaft, die ich erleide, wird die Welt ändern. Es ist eine weltverändernde Leidenschaft, denn sie ändert den Glauben. Ich lese, um meinen Glauben zu ändern, also leidenschaftlich. Mein Glaube wird vom anderen geändert. Ich lese in Richtung des anderen. Des anderen, der an mein Tor klopft. To bed, to bed: there’s knocking at the gate.
V. Ich schlafe. Morgen werde ich wieder zu mir kommen. Wo bin ich jetzt? Im Bett zwar, aber ich warte auf meine Rückkehr. Ich bin außer mir. Wo? Ich bin in Schlaf gefallen. Ich weiß, dass ich in Schlaf fiel, weil ich mich habe fallen lassen. Ich weiß, dass ich zurückkehren werde, weil ich gerufen werde. Aber es ist ein Abgrund zwischen diesen beiden Wissen. Ich kann von diesem Abgrund nicht sprechen, denn ich bin außer mir, wenn ich ihn durchschreite. Ich bin im Bett, wenn ich im Abgrund wandle. Im Abgrund bin ich nicht gegenwärtig. Aber ich vergebe auch nicht im Abgrund, noch komme ich zu mir. Der Abgrund ist zeitlos. Ich kann vom Abgrund nicht sprechen, aber ich kann ihn besingen.
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O Abgrund, der du mein Bett begründest. O Abgrund, auf dem ich wohne. O Abgrund in meinem Innern. O Schlaf, süßer Bruder meiner Geburt und meines Todes. Wenn ich dir verfalle, verlasse ich mich, und wenn ich dich verlasse, finde ich mich wieder. Oder: Wenn ich in dich falle, finde ich mich wieder, und wenn ich dich verlasse, entfremde ich mich von mir? Das Fallen in dich, ist es nicht die Lösung eines Krampfes? Und das Erwachen, ist es nicht eine Verkrampfung? O Schlaf, du verwirrst meine Begriffe. Du bist unbegreiflich. Ich kann dich nicht begrifflich fassen. Ich kann dich nur negativ erreichen. Nur, wenn ich nicht begreifen will, dann kommst du. Du bist das Geheimnis, worin ich verfalle. Du machst mich schläfrig. Und doch: Ich muss mich für dich entscheiden. Ich muss dich anrufen: komm! Ich muss mich dir öffnen. Ich muss mich entschließen, dich sein zu lassen. Ein Entschluss zum Unterdrücken des Willens. Ein Wille gegen den Willen. Ein Widerspruchsentschluss, ein dialektisch gespannter Bogen. Der Bogen ist meine Öffnung. Durch den Spalt des Widerspruchs falle ich in den Schlaf, in den Abgrund der Negation, die keine Position ist. Ein Entschluss ist Wahl, also Annahme einer Möglichkeit und Verlust aller anderen. Ich gewinne etwas, und ich verliere etwas, wenn ich mich entschließe. Was gewinne ich in meinem Entschluss zum Schlafe? Nichts, ich gewinne nichts, es ist das Nichts, das ich gewinne. Ich gewinne den Ozean der Vernichtung. Die Aufhebung, die Befreiung, die Zerstörung der Last, die Pause, époché, das Wesentliche. Die Rast, quiem in pace. Was verliere ich? Alles. Ich verliere mich, und ich verliere die Welt, die Kraft zur Entscheidung und das Feld der Entscheidung. In meinem Entschluss zum Schlaf verliere ich das Entscheidende und die Entscheidung. Ich verliere meine Würde, denn meine Würde ist meine Freiheit, mich zu entscheiden. Der Fall in den Schlaf ist die Dekadenz meiner Würde. Ich bin würdelos, wenn ich schlafe. Ich kann meinen Entschluss zum Schlaf als Verlust meiner Würde verharmlosen, indem ich sage: Es ist ein vernünftiger Entschluss und darum würdevoll. Ich falle in Schlaf, um Kräfte dort unten zu sammeln, mich desto besser nach dem Erwachen entscheiden zu können. Mein Schlafen ist ein réculer pour mieux sauter, ein strategischer Rückzug. Mein Entschluss zum Schlaf ist kein letzter Entschluss, wie der Entschluss zum Tode. Der Schlaf ist nur der jüngere Bruder des Todes. Also gut: Der Schlaf ist harmlos geworden. Ich habe ihn vernünftigerweise vergegenständlicht. Dort steht er, hier bin ich, und alles ist zum Besten. Das ist eine Erklärung. Aber ist der erklärte Schlaf mein Schlaf? Ist das, was mir zum Beispiel die Naturwissenschaft vom Schlaf erzählt, die Erklärung meines Schlafes? Ist mein Schlaf wirklich mein Gegenstand, den ich erklären kann und also auch behandeln und ändern? Oder ist es nicht vielmehr so, dass ich ein Gegenstand meines Schlafes bin, eine objektive Oberflächenerscheinung meines Schlafes? Sind nicht meine wachen Tage ein schwebendes Archipel auf dem Ozean des Schlafes? Bin ich nicht eine Perlenkette von wachen Augenblicken, der die dunkle Schnur des Schlafs die Struktur gibt? Bin ich nicht ein periodisch aus dem Schlaf Vertriebener, ist nicht eben mein Vertriebensein aus dem Schlaf die Seinsform meines Daseins? Bin ich nicht da, weil ich vom Schlafe komme und zum Schlafe
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gehe? Die warme Umarmung des Verborgenen umfängt wieder mein Spekulieren. Der Eintritt in den Abgrund des Schlafs ist von einem Schleier verdeckt, und diesen Schleier kann ich öffnen oder zerreißen. Es ist der Schleier der Träume. Ich will ihn jetzt nicht zerreißen, wie die Psychoanalyse es tut, sondern ich will ihn ein wenig philosophisch lüften. Jetzt ist er etwas, jetzt ist er nichts, denn er ist schon Welt und nicht mehr Welt, denn er ist noch ich, und schon bin ich es. Ich und Welt, extreme Träume, Grenzfälle von Träumen. Wache Welt des wachen Ich: extrem vom Schlaf entfernte Träume. Wache Welt des wachen Ich: extreme Entfremdung. Kann man, angesichts dieses Schleiers, überhaupt ontologisch denken? Hat das Wort »Wirklichkeit« eine nur in Verbindung mit dem Schlaf sinnvolle Bedeutung? Ist es relativ zum Schlaf, so dass »wirklich« ist, was am weitesten vom Schlaf ist? Und doch: Man muss ontologisch denken. Denn man muss sich finden. Man muss sich finden, um sich geben zu können. Und die Ontologie beginnt mit dem Schleier der Träume. Je dichter der Schleier, desto mehr finde ich mich. Ich befinde mich am dichtesten Punkt des Schleiers. Wirklichkeit ist verdichteter Schleier. Aber Wirklichkeit ist nicht. Wirklichkeit wird, und zwar wird sie aus Träumen. Wirklichkeit ist verdichteter Traum, und ich bin es, der ihn verdichtet. Ich hämmere, wenn ich erwache, wirkliche Tische und wirkliche Wände, denn ich komme vom Traum, und ich hämmere sie, um sie meinen Träumen anzugleichen und dadurch noch wirklicher zu machen. Ich bin ein Ausgesandter der Träume im Felde der Wirklichkeiten, und so erst Gesandter der Träume im Felde der Wirklichkeiten, und ich bin es, der das Feld in Wirklichkeit verwandelt. Durch Träume hindurch gehe ich zur Welt, wenn ich erwache. Durch Träume hindurch falle ich in Schlaf, den Abgrund ohne Träume. Wenn ich erwache, entreiße ich dem Schlaf seine oberflächlichen Träume, um sie wirklich zu machen. Wenn ich dem Schlaf verfalle, verliere ich alle Träume. Träume sind Modelle. Wirklichkeit ist ausgeführte und also vernichtete Modelle. Wenn ich in Schlaf falle, verlasse ich alle Modelle. Wenn ich in Schlaf falle, stehe ich, wittgensteinisch, jenseits aller Modelle. Aber worüber man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen. Der Abgrund des Schlafs ist unter dem Bette offen. Er ruft mich, dass ich falle. Dass ich mich nicht mehr gebe, sondern mich ergebe. Dass ich mich lasse und mich verlasse. There’s knocking at the gate. Come, come, come, come.
VI. Die andere. Ich erkenne mich in dir, du bist mein Beben, Beben der anderen. Wir beben, ich und du, meine andere. Wir beben in der Umarmung. Etwas hat uns umarmt. Was ist dieses Etwas, dieses ganz andere Etwas? Dieses ganz andere macht, dass wir »wir« sind. In unserem »Wir« haben wir unser »Du« und unser »Ich« verloren. Vielleicht ist dieses »Wir«,
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das wir sind, eben das ganz andere, das uns umarmt. Hat das ganz andere einen Namen? Liebe? Verlangen und Tod des Verlangens? Wille, zu sein, und Wille, zu vergehen? Sein wollen und die andere sein lassen wollen? Tat und Leidenschaft, Handeln und Leiden? Aber vielleicht ist ganz einfach »wir« der Name des ganz anderen. Ich bedarf deiner, meine andere, in meiner Einsamkeit, zu meinem Troste. Ich erkenne an deiner Einsamkeit meine Einsamkeit, so lass uns gemeinsam einsam sein, zu gemeinsamem Troste. Jetzt bin ich nicht mehr einsam. Die andere ist jetzt bei mir einsam. Wir sind gemeinsam. Ich bin einsam, denn einsam bin ich geboren, und einsam werde ich sterben. Niemand hat mich bei meiner Geburt vertreten, und niemand wird mich bei meinem Tode vertreten. Ich kann meine Macht in Geburt und Tod nicht weitergeben und Bevollmächtigte ernennen. Meine Macht ist einsam. Ich kann auch niemanden bei seiner Geburt oder Tod vertreten oder als sein Bevollmächtigter handeln und leiden. Darum sind alle Vollmachten und Verantwortungen, die ich in meinem Leben annehme oder vergebe, vor dem Tode nichtig. Sie sind von meiner grundlegenden Einsamkeit vernichtet. Ich bin einsam, denn ich kann niemanden grundlegend ersetzen oder von ihm ersetzt werden. Ich bin unersetzlich. Alles um mich herum ist ersetzlich. Alles ist tauschbar. Und darum ist alles wertvoll. Der Wert einer Sache um mich herum ist aus dem Tausch ersichtlich. Dass ich sie ersetzen kann, macht eine Sache wertvoll. Ich selbst bin eine Sache für andere. Sie können mich ersetzen für einen Wert, den ich für sie habe. Ich habe für sie einen Wert, denn ich bin für sie eine Sache. Wenn ich sterbe, haben sie etwas verloren. Denn sie wertschätzen mich, so wie ich sie wertschätze. Wir lieben einander nicht, ich und die anderen. Aber du, meine andere, bist vollkommen wertlos. Ich kann dich nicht ersetzen. Ich weiß von deiner Einsamkeit, deiner Unersetzlichkeit, deiner Unaustauschbarkeit, weil ich mich in dir erkenne. Weil ich dich anerkenne. Du hast für mich keinen Wert, meine andere, weil ich dich liebe. Wenn du stirbst, habe ich keinen Verlust an dir, sondern durch deinen Tod gehen die Werte aller Dinge verloren. Die Dinge haben Wert, weil ich sie tausche. Und ich tausche sie, weil ich mich in dir erkenne. Du, meine andere, bist die wertlose Grundlage aller Werte. Wir werden, jeder für sich, einsam sterben. Wir werden nicht gemeinsam sterben, denn wir können nicht gemeinsam sterben. Nur »ich« und »du« kann sterben. »Wir« kann nicht sterben. Wir sind unsterblich. Über das Wir hat der Tod jede Macht verloren. Denn der Tod ist nur Richter des unersetzlichen Ich, und er richtet es scharf und richtig. In unserem »Wir« haben wir den Tod überwunden. Komm, lass uns gemeinsam den Tod vernichten. Sag mit mir »wir«, und, obwohl wir jeder für sich einsam sterben werden, sind wir unsterblich. Wohl weiß ich dabei, wie sterblich unser Wir ist. Denn es haften so viele Ich und Du an ihm und zerren es in den Abgrund. Aber ich weiß von keinem anderen Versuch, den Tod zu überwinden. Ich weiß wohl, dass du einsam bist und dass du zum Tod bist. Ich weiß wohl, dass ich einsam bin und dass ich zum Tod bin. Lass uns unser
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Wir dem Tod ins Antlitz werfen. Come, come, come, come, give me your hand.
VII. Ich liege im Bett, zum Schlaf entschlossen. Entschlossen zum Schlaf seit Ewigkeiten. Ich bin ganz Öffnung hin zum Schlaf. Er aber kam nicht. Seit Ewigkeiten warte ich, und rings um mich erstarrt die Zeit zu Ewigkeiten. Das nunc stans der Alten. Die erstarrte Zeit hat den Raum verschluckt, verdaut und vernichtet. Die versumpfte, unendliche Zeit, der Stausee der Zeiten. In diesem Morast erlebe ich die Bedeutung des Wortes »Gnade«. Ich bin verworfen. Die Gnade des Schlafs ward mir entzogen. Ich habe mich geöffnet, voll Erwartung und Hoffnung, aber der Schlaf kam nicht. Ich bin nicht in Schlaf gefallen. Ist das die Hölle? Verschluckter Raum und Stausee der Zeiten? Der sich weigernde Abgrund, und ich verschlossen trotz meiner Öffnung? Verweigerte Öffnung? Warum bin ich verworfen? Weil ich bestehe. Ich bestehe auf meinem Bestehen. Ich behaupte mich, ich bin meine Behauptung. Ich behaupte, dass ich bin, und der Schlaf antwortet: So sei denn. Meine Schlaflosigkeit ist meine Behauptung. Und wenn ich mich behaupte, wenn ich bin, dann bin ich eine denkende Sache. Das ist die Schlaflosigkeit: eine denkende Sache ohne ausgedehnte Sachen. Die Hölle. Ein Riesenrad denkender Gedanken. Gedanken, die sich verbinden, und Gedanken, die sich spalten. Gedanken, die rollen, und Gedanken, die, lawinenartig, stürzen. Gedanken, die sich gegenseitig begraben. Und all das ohne ausgedehnte Dinge. Ohne Raum und im Stausee der Zeiten. In der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Ich versuche, mich zu retten. Ich argumentiere vernünftig mit meinen Gedanken. Ich will ihnen beweisen, dass sie nichts sind. Meine Gedanken behaupten sich, denn sie sind meine Gedanken. Sie behaupten sich, weil ich sie behaupte. Sechshundertundvierundsiebzig mal tausendundachtundzwanzig ist wie viel?, fragen meine Gedanken. Gleichgültig, wie viel, ist meine Antwort. Ja, ganz gleichgültig, sagen meine konzilianten Gedanken, aber wie viel ist es? Ich rechne, um mich zu befreien. Ich kann aber nicht rechnen. Ich bin müde. Komm, süßer Schlaf, befrei mich vom Rechnen. Du willst nicht? Ich, das behaupte ich, werde dich schon zu zwingen wissen. Ich zähle Schafe. Ich simuliere den Schlaf. Ich nehme Pillen. Ich kenne doch schließlich die Technik des Schlafes. Ich kann dich, du rebellisches Instrument, mir schon dienstbar machen. Und tatsächlich: ich schlafe. Ich schlafe endlich. Ich schlafe synthetisch. Ich schlafe mit Absicht. Ich habe die Schlaflosigkeit überwunden. Ich habe die Hölle überwunden. Ich habe den Schlaf erzwungen. Ich habe das Paradies erzwungen. Sind alle erzwungenen Paradiese so geartet? Synthetisch? Hat jede Technik des Heils, Yoga, Zen, Marxismus, ein solches Paradies zur Folge? Sind sie alle so wie der Schlaf der Pillen und der gezählten Schafe? Also Höllen, die Paradiese simulieren? Warum ist aber der erzwungene Schlaf ein falscher? Weil er mich ein-
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engt. Weil er mir den Zugang zu meinem Ursprung versperrt. Weil er mich auflöst, ohne mich zu erlösen. Weil er mich befreit, ohne mich zu retten. Der falsche Schlaf, und sollte es da nicht auch den falschen Tod geben? Ist vielleicht der Selbstmord ein Tod der Pillen? Das ist die Frage aller Fragen. Die alleräußerste Frage. Denn sollte der Selbstmord nur falscher Tod sein, wie steht es um meine Freiheit? Wie kann ich mich zum Tode entschließen, ohne ihn zu verfälschen? Kann ich mir denn nicht den ersten Anstoß zu ihm geben? Muss ich mich, wie beim Schlaf, auch da nur fallen lassen? Ich bin verworfen. Ich kann aber ohne Schlaf nicht leben. Ich kann nicht leben, wenn mir der Zugang zu dem mich gründenden Abgrund versagt bleibt. Ich kann nicht, denn ich wurde geboren, ich komme aus dem Abgrund. Der Abgrund ist meine Heimat, ich bin ein abgründiges Wesen, ein schläfriges Wesen. Und ich kann nicht, denn ich werde sterben, ich gehe in den Abgrund. Der Abgrund ist mein Ziel, mein Sinn, meine Utopie, ich bin ein abgründiges Wesen, ein schläfriges Wesen. Wenn sich mir der Schlaf versagt, muss ich ihn wohl zwingen. Schließlich: Was ist denn Kultur, wenn nicht Pillen? Kunst, Wissenschaft, Philosophie, wenn nicht Pillen, die den Schlaf erzwingen? Religion, wenn nicht Simulation des Schlafes? Wir sind schlaflos, wir kultivierten Wesen, denn wir zwingen den Schlaf: Wir sind verworfen. Klar: Alles das ist reiner Wahnsinn, in der Schlaflosigkeit ausgeheckt, und es dreht sich wie diese. Es ist eine hoffnungslose Provokation der Gnade. Denn die Hoffnung wurde betrogen. Also müssen wir mit Würde unsere Verworfenheit tragen. Die letzte Entfremdung. Ich kann nicht schlafen, also will ich nicht schlafen. Ich will entweder wachen oder simulieren. Ich behaupte mich und schließe damit den Kreis der Hölle. What’s done, cannot be undone.
VIII. Ich bin krank, zu Bett. Ich leide Schmerzen. Ich bin Körper. Ich bin ganz hier, im Bett. Meine Schmerzen beweisen, dass ich ganz hier bin. Mein Sein ist ganz konzentriert in meinen Schmerzen. Mein Sein sind meine Schmerzen. Ich bin ganz Körper. Die Schmerzen isolieren mich, denn sie sind gänzlich privat und unveröffentlichbar. Ich kann sie nicht publizieren. Publizierte Schmerzen, mitgeteilte Schmerzen, sind schon nicht mehr Schmerzen. Sie haben sich schon vergeistigt. Aber Schmerzen, in ihrer totalen Körperlichkeit, lassen es nicht zu, vergeistigt zu werden. Es kann keine Theorie der Schmerzen geben. Man kann sie nicht denken, man muss sie erleiden. Schmerzen sind das eigentliche, das unmittelbare und darum unvermittelbare Erlebnis. Man kann und muss Schmerzen erleben, aber man kann sie nicht denken. Darum kann man sie sich nicht merken. Schmerzen sind sofort vergessen. Sie sind nicht zeitlich, sondern völlig räumlich. Es kann und soll ihrer nicht gedacht werden. Sie sind die letzte Schmach und Schande, denn sie sind
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privat und deutlich. Sie verdammen mich zu extremem Empirismus. Denn sie sind ekelhaft, und ich bin ekelhaft, der ich Schmerzen leide. Schmerzen vergegenständlichen mich, denn durch sie übernimmt der Körper die totale Herrschaft über die Sache, die ich wurde. Nur noch der Körper ist von Interesse. Dieser ekelhafte, schmerzende Körper. Die Zeit ist verschwunden. Ich bin eine ausgedehnte Sache. Die Dimensionen des Raums sind meine Schmerzen. Diese Dimensionen sind alles. Ich bin nicht Geschichte, ich bin nicht Kultur, ich bin nicht Denken. Ich bin Ausdehnung, ich bin Natur, ich bin Sache. Ich bin gänzlich objektiv, meinem Empirismus zum Trotz. Nichts an mir ist problematisch. Meine Schmerzen beweisen das Gegenteil des cartesischen Diskurses. Ich leide Schmerzen, darum bin ich. Ich leide Schmerzen, darum denke ich nicht. Ich bin eine ausgedehnte Sache. Oh, ekelhafter Positivismus. Das Christentum sagt, dass das fleischgewordene Wort die schimpflichen Schmerzen am Holze erlitt und also eine ausgedehnte Sache wurde. Das Christentum sagt, dass Gott sich so ekelhaft objektivierte. So ekelhaft, wie ich jetzt im Bett. Was für ein Gott ist das? Ist es der Abgrund, aus dem ich kam, als ich geboren wurde? Ist es der Abgrund, in den ich falle, wenn ich in Schlaf falle? Ist es der Abgrund, in den ich mit meinem Tode schreite? Ist es der Abgrund hier unter meinem Bett, über dem ich wohne? Ist es der Abgrund, von dem ich weiß, wenn ich »wir« sage? Der Abgrund ist Fleisch geworden und erleidet, in extremem Positivismus, ekelhafte Schmerzen? Also etwas ganz Unabgründiges, etwas, was ekelhafterweise ganz und gar hier ist? Was das Christentum sagt, kann ich nicht glauben. Oder doch: Ich kann es glauben, wenn ich es umkehre wie einen Handschuh. Dazu kann mir vielleicht meine Erfahrung des Lesens helfen. Im Lesen erleide ich die Änderung durch den anderen. Es ist, als triebe mir der andere Wundmale in meine offenen Hände. Die Stigmata des Lesens sind eine umgekehrte Krankheit. So ist vielleicht der Gott, der ekelhafterweise ganz hier ist mit seinen Schmerzen, eine Antwort auf den Abgrund, der ganz anderswo ist. Eine verneinende Antwort. Eine Antwort, die beweist, was mich meine eigenen Schmerzen lehren: Alles ist Unsinn. Wenn ich das Christentum beim Wort nehme, dann kann ich daran glauben. Gott ist tot, und der Beweis dafür sind seine Schmerzen. Also in diesem Sinn ist meine Krankheit eine Imitatio Christi. Aber das Christentum wird mir sagen, es sei eine Verzerrung Christi. Ich sei, da ich krank bin, ein Affe des Messias. Denn der Messias habe gewählt, Sache zu sein, aber ich bin sie wahllos. Dann ist er also doch nicht Mensch gewesen? Denn wenn ich Krankheit wähle, ist sie nicht mehr Krankheit. Was an der Krankheit entwürdigt, ist ihre Sinnlosigkeit und Wahllosigkeit, ihre Zufälligkeit, und wie sie mich anfällt. Nichts als Schmerzen und dabei kein Rätsel. Hier gibt es kein Geheimnis. Das Argument des Christentums schlägt sich selbst zu Boden. Und dann, schließlich und zuletzt, muss ich dem Christentum glauben. Denn in der geheimnislosen, rätsellosen, sinnlosen Krankheit bin ich, als Sache, die ich bin, der andere des anderen. Dass ich mir selbst zum Ekel bin, ist der Beweis, dass ich der andere bin und dass mich der andere
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ändert. Aber das ist ja wohl kaum mehr denkbar. Hier bleibt nichts anderes übrig, als die Schmerzen Schmerzen sein zu lassen. Denn eben dass es kein Geheimnis gibt, ist das Geheime. Also muss ich mich, würdelos, ekelhaft, eine Sache, dahingleiten lassen. What’s done, cannot be undone. To bed, to bed, to bed.
IX. Sterbebett, Agonie, hoffnungsloser Kampf, also nur nicht ins Sentimentale verfallen. Die Sache hier im Bett, die mir Gegenstand ist, will absurderweise Sache bleiben. Wie die brüllende Sache. Aber, belustigenderweise, ist es das umgekehrte Nein, das sie ausdrückt. Das also ist der Tod des anderen. Ein Schmierentheater. Es soll Mitleid und Furcht erwecken. Was es erweckt, ist das Gefühl unserer Ohnmacht. Und des Absurden. Das Theater des Absurden. Aber Obacht. Hier wird etwas gespielt, hier wird etwas uns mitgespielt, das nicht ganz an der Oberfläche liegt, aber doch zu sehen ist. Man sieht da irgendwo eine Spalte. Da vor uns ist ein Körper. Das war doch früher ein Mensch, dieser Körper? Wir haben doch miteinander gesprochen, ich und dieser Körper? Was ist damit geschehen, nämlich mit dem, was wir sprachen? Es ist ja wohl in mir aufbewahrt und damit vor diesem Tod da gerettet. Das, was Mensch war an diesem Körper, ist aufgehoben. In mir und in seinen anderen Partnern gegen den Tod, in seinen anderen Mitverschworenen. Das ist doch wohl die Unsterblichkeit dieses Exmenschen hier, dass er in unserer Verschwörung gegen den Tod sich aufhebt. Aber der Körper da vor mir scheint vehement diese Erklärung zu leugnen. Er sagt, er wolle nicht sterben. Warum nicht? Es ist doch alles in der besten Ordnung! Er ist aufgehoben. Das scheint diesen Körper da gar nicht zu interessieren. Er scheint jedes Interesse an seinen Partnern verloren zu haben, wiewohl sie seine Unsterblichkeit sind oder sein sollen. Anscheinend interessiert sich dieser Körper da nicht für Monumente. Und seien es selbst Monumente zu seinem eigenen Angedenken. Die Unsterblichkeit in der Zeit scheint nichts zu tun zu haben mit diesem Kampf hier im Bett. Angesichts dieses Kampfes ist sie nichts als leeres Gerede, das Interesse ist ganz woandershin gerichtet. Nämlich auf den Spalt, von dem ich sprach und der nichts mit Zeit, mit Geschichte, mit Kultur, mit der Sprache zu tun hat. Auf das »Transzendente«. Die Spalte hinter dem Totenbett ist eine ontologische Spalte. Der Körper hier im Bett hat durch diese Spalte bereits sein Menschsein verloren. Und er kämpft agonisch, um sein Körpersein nicht zu verlieren und eine Sache zu werden. Wohin ist das Menschsein dieses Körpers hier durch diese Spalte verschwunden? Und wohin wird das Körpersein verschwinden, bis sich der Kampf entschieden haben wird und das da hier Sache sein wird? Und warum will dieser Körper Körper bleiben? Mir, dem Betrachter aus ironischer Distanz, scheinen alle diese Fragen etwas mit System, mit Organisation, mit Information zu tun zu haben. Der
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Tod scheint mir, dem Beobachter, als gradativer Verlust von Information durch die gähnende Spalte. Menschsein heißt komplexes System sein. Körpersein heißt weniger komplexes System sein. Sache sein heißt weitere Vereinfachung des Systems. Die Leiden des Todes sind Informationsverlust erleiden. Entropie, das ist der Tod für mich als Außenseiter. Für mich ist die gähnende Spalte ganz einfach die Zeit, im Sinne von Vektor nach dem zweiten Prinzip der Thermodynamik. Das heißt, so erscheint mir die Spalte, wenn ich nicht sentimentalisiere. Also ist mir der Tod des anderen ungefähr das Gegenteil des Lesens. Der Tod ist ein Entlernen. Aber der Körper hier, in seinem Kampf, scheint anderes anzudeuten. Es ist, als ob er von jenseits der Spalte kämpfen würde. So, als ob das Menschsein dieses Körpers hier von außen her diesen Kampf hier leiten würde. Er ist mehr drüben als hüben. Das vielleicht ist der Kampf: ein Kampf um die Unsterblichkeit auf der anderen Seite. Was heißt das? Hat nicht Unamuno gesagt, er wolle Unsterblichkeit gegen alle Vernunft? Und meinte damit die Agonie auf dem Totenbett? Aber das alles ist schließlich der Tod des anderen. Ein Verlust für mich, also etwas ganz anderes als mein Tod, der ja kein Verlust ist. Wie wird mein Tod sein? Wie werde ich sein, in der Stunde der Einsamkeit? In der Stunde der Auflösung aller menschlichen Würde? Wenn alles Gespräch in Gerede zerfällt, alle Geschichte in bloßes Geschehen, alle Kultur in Pose? Wenn alle Werke zu Schaum verlaufen und alle Werte entwerten? Ist das die Erlösung, von der mir die Religionen erzählen? Ich kann meine Geburt nicht erleben. Sie ist »vergangen«. Ich kann meinen Tod nicht erleben. Er »kommt zu« mir. Aber die Vergangenheit entwirft mich und die Zukunft ist Sinn des Entwurfes. In meinen Eingeweiden fühle ich meine Geburt als Entwurf und meinen Tod als Ziel. Ich bin Geburt und Tod, und sie sind mir immer gegenwärtig. In diesem Sinn erlebe ich eigentlich immer nur Geburt und Tod, die beiden Seiten aller meiner Gegenwarten. Eigentlich weiß ich nur von Geburt und Tod, und alles andere ist Gerede. Gerede, um die Geburt zu vergessen und den Tod zu verschweigen. Die Geburt ist meine einzige Grundlage, und der Tod ist mein einziges Thema. Der Tod als Abgrund unter meiner Wohnung. Der Tod hier unter meinen Füßen, und nicht jener andere »Tod« hier vor mir auf dem Totenbett. Ich kenne diesen meinen Tod sehr genau, denn ich habe täglich und stündlich intimen Verkehr mit ihm, wann immer ich mich auf mich selbst besinne. Ich kam aus ihm, er ist in mir, er ruft mich immer. Gleichgültig, wie ich sein werde in der Stunde des Todes. Jetzt und hier ist meine Stunde des Todes. Der agonische Körper dort spielt nicht die Vorstellung meines Todes. Mein Tod bin ich, und alles, was ich tue, ist die Vorstellung meines Todes. Was getan ist, kann nicht ungetan werden. Was ich tat, kann ich nicht ungetan machen. Was ich tat, in der Schlaflosigkeit des Schläfrigen, kann nicht ungetan werden. Was ich tat, war eine Vorstellung meines Todes. Aber eben darum war es eine Verneinung des Todes. Es stellt sich jetzt vor meinen Tod, da es ihn vorstellt. Was ich tat, ist meine Behauptung angesichts des Todes. Es ist ein Trotz dem Tode. In diesem Sinn
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ist, was ich tat, ich, und es ist mehr ich als mein Sterben. Ich bin ich, wenn ich in Vorstellung meines Todes tue. Ich kann nicht ungetan werden. Und es gibt meinen Tod nicht, in diesem Sinne. Der Tod ist hier und jetzt, und ich stehe ihm offen. Er komme. Er führe mich ins Jenseits aller Modelle. Aber was ich tat, was ich modelte, das hat nichts zu tun mit dem Tode, obwohl es ihn vorstellt. Was ich tat, kann nicht ungetan werden. Das ist meine Würde. What’s done, cannot be undone. To bed, to bed, to bed.
Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: Vilém Flusser: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, Wien, München 1993, S. 89-109. © 1993 Carl Hanser Verlag München.
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Hannes Böhringer ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, zu seinen Publikationen zählen u.a.: Auf der Suche nach Einfachheit. Eine Poetik, Berlin 2000; Harte Bank, Berlin 2004; einfach, hrsg. zusammen mit Hans Hansen und Axel Kufus, Berlin 2009 und zuletzt Enger Spielraum. Über Bauen und Vorbauen, München 2010. Hajo Eickhoff studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Geschichte; er arbeitet als Ausstellungsmacher, Autor, Berater und lebt in Berlin. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a.: Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München 1993; sitzen. Eine Betrachtung der Bestuhlten Gesellschaft, Ausst.-Kat. Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, Frankfurt a.M. 1997; Form Ethik. Ein Brevier für Gestalter, hrsg. zusammen mit Jan Theunen, Ludwigsburg 2006; Essenz der Zukunft. Über den Möglichkeitssinn, Hamburg 2009. Darüber hinaus schreibt er Texte zur Geschichte der Kultur, zu Kunst und Design, zu Literatur und zum inneren Design des Menschen. Klaus Engelhorn ist Kunsthändler, Galerist und Sammler. Von 1999 bis 2004 führte er die beiden Galerien für Gegenwartskunst und Design »20/22« am Wiener Stubenring; von 2003 bis 2009 war er Teilhaber der Gegenwartskunstgalerie »EngholmEngelhorn« in Wien. Zudem hat er sich im GT-Motorsport engagiert, wo er zweimal Weltmeister der Ferrari-Challenge Coppa Shell wurde (2001 und 2003). Außerdem bestritt Klaus Engelhorn zahlreiche Langstreckenrennen mit seinem eigenen Rennstall BE-Racing, darunter die 24 Stunden von Daytona 2004 (3. Platz) und die 1000 km von Les Mans 2003 (Klassensieg). Zu seinen Publikationen zählen u.a.: Non-Sites, Wien 2002, und 20/22, Wien 2009. Vilém Flusser (1920-1991) war Kommunikations- und Medienphilosoph. Nach dem Studium der Philosophie in Prag wanderte er 1940 nach Brasilien aus, wo er ab 1962 als Professor für Kommunikation in São Paulo tätig war. 1972 kehrte er nach Europa zurück. Nach zahlreichen Forschungsprojekten, Publikationen und Vorträgen in aller Welt war er zuletzt Gastprofessor an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Texte schrieb er vor allem in
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M ÖBEL ALS M EDIEN
Englisch, Französisch, Portugiesisch und Deutsch. Auf Deutsch sind u.a. erschienen: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, Düsseldorf 1991; Dinge und Undinge. Essays, München 1993; Medienkultur, Frankfurt a.M. 1997 sowie Schriften in 9 Bänden, hrsg. von Edith Flusser und Stefan Bollman, Bensheim, Düsseldorf 1993ff. und Edition Flusser, hrsg. von Andreas Müller-Pohle, 10 Bde., Berlin 1994ff. Sebastian Hackenschmidt studierte Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Hamburg, wo er von 2000 bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Seminar war und mit einem Thema zur Materialverwendung in der zeitgenössischen Kunst promoviert wurde. Nach einem Volontariat am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ist er seit 2005 Kustos für Möbel und Holzarbeiten am MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst in Wien. Er ist Mitherausgeber des Lexikon des künstlerischen Materials, München 2002. Zuletzt erschien sein Buch Sechsundzwanzig Wiener Tankstellen, Amsterdam 2010. Friedrich W. Heubach studierte Psychologie, Soziologie und Kunstwissenschaft. 1968 gründete er die Kunst/Künstler-Zeitschrift >interfunktionen]_]foYjlÛZjYm[`lÛ e]`jÛ\]ffÛb]Ûj]^d]cla]jl]ÛBmdlmjÛ`aklgjak[`Ûkalma]jl]kÛmf\ÛkgraYdÛn]jYflogjl]l]kÛNakk]fÛ8mkÛ \]fÛ]k[`a[`l]Ûmf\Û>]\[`lfakÛngfÛ