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German Pages 274 Year 2014
Janet Boatin Dichtungsmaschine aus Bestandteilen
Lettre
Janet Boatin (Dr. phil.) lehrte Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen, der Humboldt-Universität und der TU Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind experimentelle Literatur und InterArt.
Janet Boatin
Dichtungsmaschine aus Bestandteilen Konrad Bayers Werk in einer Kulturgeschichte der frühen Informationsästhetik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Dank | 7 Aesthetica. Experimente in Literatur, Wissenschaft und Gesellschaft | 9
»du schwein willst mich in die fänge der wissenschaft treiben«: Methode und Gegenstand | 27 Aufbau | 33 abenteuer im weltraum. Die Wiener Gruppe und Regelkreise | 37
Diskursivitätsbegründer: George Birkhoffs und Norbert Wieners Kybernetik | 40 Literarischer Regelkreis? Die Wiener Gruppe als literarische Gruppe | 50 Verfahren der Selbstkontextualisierung | 60 Das (un)sichtbare literarische cabaret der Wiener Gruppe | 70 Science Fiction auf der Bewußtseinsbühne | 79 Wissenschaftsgeschichte ästhetischer Informationen | 85
Formierung einer Fachdisziplin. Informationsästhetik am Anfang | 88 Grundlagen der informationsästhetischen Forschungskonzeption | 97 Max Benses Aesthetica. Programmierung des Schönen | 101 Offene Provokation. Benses Wissenschaftsverständnis | 107 In-Formation der Schriftzeichen | 115
Ästhetische Information. Metasprache der Abgrenzung | 117 Informationsästhetik = »kybernetischer Strukturalismus« | 126 Tentatives Entwerfen in der sechste sinn | 132 Geometrie des gerahmten Blick(en)s in Sonne halt! | 141 ›Kriegslinie‹ flucht | 149
Kinesis der Schrift. Die lesesäule | 153
Analogrechner und Anfänge der Computerkunst | 161 Original oder Repro? | 166 Konkreter Krieg. Diskurse über die ästhetische Undarstellbarkeit von Krieg | 170 Das/Sich Bewußtsein. Diskurse über Mensch und Maschine in den 1960er Jahren | 175
Die Bewußtseinsfrage in Kybernetik und Informationsästhetik | 176 Erkenntnistheorie als Sprachexperiment in Konrad Bayers Werk | 184 »BUMSTI«. der stein der weisen | 191 Rechenkunst als literarisches Verfahren. methodischer inventionismus | 199
»Mechanisierung der Imagination« | 200 Zufall und Ordnung | 207 Kunst und Wissenschaft im Ideenverbund | 209 Modelle und Programme. Rechenmaschinen – Literatur in den 1960er Jahren | 217
eine dichtungsmaschine in 571 bestandteilen. Literarische Konstruktionspläne | 218 Lesen nach Plan? der vogel singt und Stochastische Texte | 224 Poetik als Rückkopplung im literarischen Kreis | 232 Abbildungsnachweise | 237 Literaturverzeichnis | 239
Dank
Das vorliegende Buch ist eine für den Druck stark überarbeitete Fassung meiner im Jahr 2011 an der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommenen Arbeit. Mein Dank gilt allen voran Claudia Stockinger für die stete Förderung, die große Unterstützung und die intellektuelle Freiheit, in der sich mein Projekt an ihrem Lehrstuhl entwickeln durfte. Simone Winko hat nicht nur als Zweitgutachterin meinen akademischen Weg sehr bereichert. Für das kluge und aufmerksame Lektorat, als es schnell gehen mußte, danke ich Matthias Beilein. Peer Trilckes und Kai Sinas Lektüren waren wie immer wertvoll. Interessante Impulse erfuhr das Manuskript schließlich von Prof. Dr. Hans-Christian von Herrmann und Prof. Dr. Christoph Hoffmann. Ihnen allen sei gedankt. Ich bedanke mich bei der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg, sowie bei der FAZIT-STIFTUNG für großzügige Druckkostenbeihilfen. Ein besonderes Dankeschön gilt denen, die an meinen Forschungen mitgewirkt und den zuweilen mühsamen Denk- und Schreibprozeß begleitet haben. All die lebhaften Gespräche und Spaziergänge mit Euch waren unverzichtbar. Ohne meine Familie – meine Eltern, Carol, Julian und Tommy – wäre dieses Buch nicht entstanden; Euch gilt mein herzlichster Dank.
Berlin, im Mai 2014
Aesthetica. Experimente in Literatur, Wissenschaft und Gesellschaft
1967 veröffentlichte Herbert W. Franke seine kleine Monographie Phänomen Kunst, in der er die Bedeutung naturwissenschaftlich orientierter Denkmuster für die Ästhetik analysierte. Frankes Wortwahl und Schreibstil zeugen davon, mit welcher Emphase die Kybernetik seit Ende der 1950er Jahre diskutiert wurde: »Die theoretische Durchdringung des Kunstphänomens wird nicht ohne Folgen bleiben. Aus der Geschichte haben wir Beispiele genug dafür, welche Entwicklungsstufen zu erwarten sind. Sie entsprechen dem Auftreten einer Technik – Technik im Sinne einer praktischen Nutzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit all ihren Konsequenzen, wie etwa Maschinisierung oder Automation. An die Stelle des manuell arbeitenden Künstlers tritt der Konstrukteur, der Ingenieur. Der Effekt des Kunstwerks wird steuerbar. Der Kunst steht eine entscheidende Wandlung bevor.«1
Wer immer, ob Gegner oder Anhänger, von der Kybernetik sprach, verstand sie als epochale Schwelle. Man mag Frankes Zeitanalyse für mittlerweile überholt halten. Bei genauerer Betrachtung jedoch werden die epistemologischen wie wissenschaftstheoretischen Auswirkungen der Kybernetik auch am Anfang des 21. Jahrhunderts erkennbar. Die Kybernetik ist als Lehre von sich selbst steuernden Regelungsvorgängen in Maschinen und Organismen nicht nur ein basaler Denkbaustein der Systemtheorie.2 Methodische Ansätze, die sich auf die Wahr1
Franke, Herbert W.: Phänomen Kunst. Die kybernetischen Grundlagen der Ästhetik, Köln: DuMont Schauberg 21974, S. 10.
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Vgl. Luhmann, Niklas: »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Herr (Hg.), Epochenschwellen und Epo-
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nehmungsforschung berufen, arbeiten häufig mit kybernetischen Sender-Empfänger-Modellen.3 Nicht zuletzt sind heutzutage die kybernetischen Semantiken Rückkopplung und Information omnipräsent;4 sie haben sich sowohl in den Bio-, Human- und Sozialwissenschaften als zentrale Kategorien durchgesetzt, als sie auch in den nichtwissenschaftlichen Sprachgebrauch Einzug hielten. Obwohl diese Beispiele nicht ohne weiteres verglichen werden können (handelt es sich schließlich um Begriffe, Logiken, Methoden und Wissenschaftsmoden), deuten sie auf eine stille ›Erfolgsgeschichte‹ der Kybernetik hin, die sich bis heute unter veränderten Rahmenbedingungen formiert und fortschreiben läßt.5 Wie alle Wissenschaften ist auch die Kybernetik ein historischer Aushandlungsprozeß, an dem viele und vieles teilhaben:6 Norbert Wiener eröffnete mit seinen Publikationen über die Kybernetik seit den 1940er Jahren eine Perspektive, die sowohl in der scientific community als auch in anderen Öffentlichkeiten auf breite Resonanz stieß, sich zu einem wissenschaftlichen Paradigma entwickelte und Mitte des letzten Jahrhunderts auf die Ästhetik übertragen wurde. Während 1959 der vieldiskutierte Vortrag von Charles Percy Snow The Two
chenstrukturen im Diskurs der Sprach- und Literaturhistorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 11-33; Dotzler, Bernhard: »Unsichtbare Maschinen. Irritationsbestände aus der Geschichte der Kybernetik erster Ordnung«, in: Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.), Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin: Akademie 1999, S. 121-132. 3
So nimmt es auch nicht wunder, daß Herbert Werner Franke von 1979 bis 1980 an der Fachhochschule Bielefeld einen Lehrauftrag zur »Einführung in die Wahrnehmungspsychologie« erhielt und diesen von 1979 bis 1980 im Fachbereich Design übernahm.
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Vgl. Hagner, Michael: »Alles ist Rückkopplung. Die Kybernetik als kulturhistorisches
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Lily E. Kay zeichnet in ihrer bahnbrechenden wissenschaftsgeschichtlichen Unter-
Phänomen«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 3.04.2005, S. 68. suchung der ›Sprache der DNA‹ nach, daß die heutige Vorstellung vom Gen als Informationsträger oder vom genetischen Code als entschlüsselbarem Programm (nicht allein) ein metaphorisches Erbe aus den Anfängen der Kybernetik ist. Vgl. Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 6
Vgl. Aumann, Philipp: Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen: Wallstein 2009.
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Cultures and the Scientific Revolution7 zuerst im angelsächsischen Raum, dann auch in Deutschland eine wirkmächtige Kontroverse über den Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ausgelöst hatte, arbeiteten die Anhänger der technikphilosophischen Stuttgarter Gruppe an einer Kunsttheorie, die ästhetische Phänomene exakt beschreiben, messen und bewerten sollte. Die Tiefendimensionen dieser Kunsttheorie beschrieb der prominenteste Akteur innerhalb der Stuttgarter Gruppe, Max Bense, in seiner vierbändigen Aesthetica. In Stuttgart bildete sich eine insofern interessante kulturelle Formation heraus, als in diesem Forschungsraum ein enger Dialog zwischen international vernetzten Akteuren in Wissenschaft und künstlerischer Praxis gepflegt wurde. Max Bense kann in diesem Kontext die Funktion einer Integrationsfigur zugeschrieben werden, »die den Graben zwischen verschiedenen Wissenskulturen zu überbrücken vermochte und sehr früh die medial und technologisch bedingte Herausforderung der Künste reflektierte.«8 Die Stuttgarter Gruppe nutzte die sich zeitgleich rasant
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Vgl. Snow, Charles P.: »Die zwei Kulturen«, in: Helmut Kreuzer (Hg.), Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die »zwei Kulturen«, Stuttgart: Klett 1969, S. 11-25. Snows Hauptanliegen mit seiner in Cambridge gehaltenen Rede Lecture war eine Reform des englischen Bildungssystems, das er verantwortlich machte für eine zu früh in der Jugendentwicklung eingreifende Spezialisierung und Aufspaltung in zwei separate Sphären, die natur- und geisteswissenschaftliche. Problematisch sei eine solche Aufspaltung nicht nur, weil sie erstens zu der Verarmung einer Intellektuellenkultur führe oder zeitgenössische Phänomene wie die »naturwissenschaftliche Revolution« in ihrer vollen Dimension zu verstehen erschwere. Snows Vortrag stellt auch eine schillernde Quelle zur Geschichte des Ost-West-Konflikts dar, in dem ein Rüstungswettbewerb nicht allein über Waffen vollzogen wurde. Denn der Physiker leitete zweitens aus dieser nationalpolitischen Bildungsproblematik einen globalpolitischen Appell an westliche Gesellschaften ab: »Es ist technisch möglich, innerhalb der nächsten fünfzig Jahre die naturwissenschaftliche Revolution in Indien, Afrika, Südostasien, Lateinamerika und dem Mittleren Osten durchzuführen. Es gibt keine Entschuldigung für Menschen im Westen, wenn sie sich dieser Einsicht verschließen. Und der Einsicht, daß dies der einzige Weg ist, den drei Bedrohungen unserer Zeit zu entgehen: dem Atomkrieg, der Überbevölkerung und der Kluft zwischen arm und reich. […] [W]enn wir es nicht tun, die kommunistischen Länder tun es bestimmt irgendwann.« Ebd., S. 23f.
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Geulen, Eva: »Selbstregulierung und Geistesgeschichte. Max Benses Strategie«, in: MLN 123 (2008), Nr. 3, S. 596.
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entwickelnde Technologie von Rechenmaschinen, den späteren Computern, dazu, statistisch meßbare Gesetzmäßigkeiten in Kunstwerken zu ermitteln, auf deren Basis wiederum Computerprogramme für neue literarische Texte, musikalische oder bildliche Kompositionen produziert wurden. Die Informationsästhetik, um deren Kulturgeschichte es in diesem Buch auf der einen Seite gehen soll, entstand in einem dynamischen Zusammenspiel zwischen verschiedenen Akteuren, Diskursen, Praktiken, Normen und Institutionen. »Wir haben heute in Deutschland experimentelle Literatur.«9 Mit dieser Zeitanalyse Max Benses aus dem Jahre 1960 soll die andere Seite vorliegender Untersuchung eingeleitet werden. So schwierig die Definition, was experimentelle Literatur denn eigentlich ist, so unstrittig die Beobachtung, daß die 1950er und 60er Jahre eine Blütezeit ästhetischer Erscheinungen mit experimentellem Charakter gewesen sind, denen eine Gemeinsamkeit attestiert werden kann: Sie verwendeten alle außergewöhnliche Verfahren. In diesen doch so unterschiedlichen Werken beispielsweise der Konkreten Poesie, Computerkunst, Visuellen Poesie und Akustischen Kunst wurde nichts Geringeres verhandelt als neue Vorstellungen und Normen darüber, was erstens Kunst ist, welcher Mittel und Kommunikationsformen sie sich zweitens bedienen darf, und drittens welche Funktion Kunst und ihre Rezipienten in einer Nachkriegsgesellschaft inmitten des Kalten Kriegs übernehmen sollten. Benses Diagnose einer experimentellen Literatur traf zeitgenössisch nicht allein auf Deutschland, ja vielleicht besonders auf Wien zu. Der Autor des im folgenden zur Analyse stehenden literarischen Werks ist ein Vertreter der österreichischen Avantgarde, die im Untersuchungszeitraum, den sich vorliegende Studie steckt, produktiv das deutschsprachige literarische Feld mitbestimmte. Konrad Bayer war Mitglied des losen Literaten- und Künstlerkollektivs, dem Friedrich Achleitner, Gerhard Rühm und Oswald Wiener, zunächst auch Hans Carl Artmann, angehörten. Obgleich als primärer Referenzrahmen für die Arbeiten der sogenannten Wiener Gruppe ein nationalliterarischer Voraussetzungs- und Wirkungskontext geltend gemacht werden muß,10 sollte beachtet werden, daß die
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Bense, Max: »Movens. Experimentelle Literatur«, in: Grundlagen aus Kybernetik und Geisteswissenschaft 1 (1960), Nr. 1, S. 122-126.
10 Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München: Beck 2004, S. 9. Rühm zufolge stellte Konrad Bayer Ende der 1950er Jahre eine »vaterländische liste« mit von ihm geschätzten Künstlern, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Komponisten auf, die auf
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Kohorte derjenigen um 1930 geborenen Autorinnen und Autoren sowie Künstler und Künstlerinnen, die in den 1950er Jahren experimentell mit Text, Bild, Foto, Film und Musik arbeiteten, transnational interagierten und sich auch über Landes- und Kulturgrenzen hinweg identifizierten. Dies zeigt sich insbesondere an der Entwicklung der Konkreten Kunst, mit der der Name Max Bense für gewöhnlich assoziiert wird, weil er eng mit einzelnen Vertretern dieser auf Verfahren der Regelhaftigkeit und Kombinatorik ausgerichteten Kunst- und Literaturrichtung kooperierte.11 Trotz eines »ideellen Austausch[s]« zwischen den Konkreten Poeten Mayröcker, Gomringer und Jandl und einzelnen Wiener Gruppenmitgliedern läßt sich Konrad Bayers Werk hingegen nicht der Konkreten Poesie zuordnen.12 Doch obwohl Bayers Werk nicht konkret war, lassen sich auf verschiedenen Wegen Verbindungen zu Max Benses Ästhetik aufzeigen.
eine gewisse nationalkulturelle Verbundenheit schließen lassen könnte. Vgl. Rühm, Gerhard: »vorwort«, in: Konrad Bayer: Sämtliche Werke. Überarbeitete Neuausgabe, hg. von Gerhard Rühm, Wien: Klett-Cotta 1996, S. 9-19, hier S. 16. Im Folgenden zitiert: SW 1996. Vorliegende Studie arbeitet mit der jüngsten Werkausgabe, deren Kommentar nützliche, lektüremoderierende Hinweise enthält. Es erweist sich als problematisch, daß die Textvarianten in den Werkausgaben sich in Wortlaut und Interpunktion unterscheiden. In der Edition werden weder die Gründe des Herausgebers erläutert, in Texte einzugreifen, noch Auswahlkriterien für die veröffentlichten Textfassungen transparent gemacht. Dort, wo semantische Verschiebungen durch hohe Varianz entstehen, werden mehrere Fassungen eines Textes für die Analysen und Interpretationen herangezogen. 11 »[die konzeption der konkreten kunst] hängt am begriff der struktur […]: zu verstehen als das bewusste ordnungsprinzip, das kontrollierte und kontrollierbare organisationsschema des gestaltungsvorganges.« Staber, Margit: »verzeichnis der ausgestellten werke«, in: Zürcher Kunstgesellschaft (Hg.), konkrete kunst. 50 jahre entwicklung. Ausstellungskatalog, Zürich: Genossenschaftsdruck 1960, S. 9-57, hier S. 57; vgl. Gomringer, Eugen: zur sache der konkreten. eine auswahl von texten und reden über künstler und gestaltfragen 1958-2000. Bd. 3. Wien: Ed. Splitter 2000. 12 Insofern widerspreche ich Kiesels These, daß der Austausch zwischen der Wiener Gruppe und einzelnen Konkreten Poeten »eine konzeptionelle Annäherung [bewirkte], die es erlaubt, die Wiener Gruppe und die von Gomringer inaugurierte ›Schule‹ der Konkreten/Visuellen Poesie gemeinsam zu behandeln.« Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, S. 284. Meines Erachtens lassen sich lediglich an den Tex-
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Die »arbeitsgemeinschaft«13 Wiener Gruppe beabsichtigte mit ihren Texten, Aktionen und Performances, mit Oswald Wiener gesprochen, »einen Aufbruch zu beschreiben«.14 Wie bereits Oliver Jahraus feststellte, ist die »Radikalität der Avantgarden in Österreich […] eine Funktion der Radikalität gesellschaftlicher Restriktion.«15 Die Vorstellung, die Wiener Gruppenmitglieder hätten sich gegen die restaurative Gesellschaft Österreichs zur Wehr gesetzt, ist zugleich simplifizierende Verkürzung wie Selbstinszenierungszutat der literarischen Gruppe. Zahlreiche zeitgenössische Kritiker beteiligten sich bereitwillig am Spiel der männlich-gegenbürgerlichen Kulturszene, indem sie die Beiträge der Wiener Gruppe als Absurdität oder sinnlose Formzerstörung verrissen.16 Die Radikalität der Wiener Gruppe findet ihren drastischsten Ausdruck in Konrad Bayers Werk.17 Daß eine handschriftliche Notiz auf einem Manuskript
ten von Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner konzeptionelle Parallelen schlüssig aufzeigen. 13 Bayer, Konrad: »die wiener gruppe (1964)«, in: Peter Weibel (Hg.), die wiener gruppe. ein moment der moderne 1954-1960. die visuellen arbeiten und die aktionen, Wien/New York: Springer 1997, S. 30. 14 Wiener, Oswald: »Einiges über Konrad Bayer. Schwarze Romantik und Surrealismus im Nachkriegs-Wien«, in: Die Zeit, Nr. 8 vom 17.02.1978, S. 39-40, hier S. 39. 15 Jahraus, Oliver: »the vienna group up to date. Eine Rezension zu: Peter Weibel (Hg.): die wiener gruppe. ein moment der moderne 1954-1960. die visuellen arbeiten und die aktionen«,
http://www.medienobservationen.uni-muenchen.de/artikel/kritik/Wiener.
html vom 31.03.2014. 16 Vgl. zum Beispiel folgende Leserbriefe, die Bayers und Rühms Texte nach ihrer Veröffentlichung in Wort in der Zeit 1964 scharf kritisieren: »Sind wir eine Literaturboutique?«, in: Wort in der Zeit 10 (1964), H. 7/8, S. 1-8; »Die Wiener Gruppe. Eine Kontroverse«, in: Neues Forum (März/April 1968), S. 237-244; Steinlechner, Gisela: »Ehrenwerte Rebellen? Die Wiener Gruppe als ein Streit- und Vorzeigeobjekt in der Debatte um eine neue österreichische Literatur«, in: Wendelin Schmidt-Dengler/Johann Sonnleitner/Klaus Zeyringer (Hg.), Konflikte – Skandale – Dichterfehden in der österreichischen Literatur, Berlin: E. Schmidt 1995, S. 202-214. 17 Bayer hinterläßt zwei Romane (der stein der weisen aus dem Jahre 1963, 1965 ist posthum der kopf des vitus bering erschienen), ein Romanfragment (der sechste sinn [1966]), Theatertexte, Kurzprosa, wenige Gedichte, Chansons, Sketches, Konkrete Texte, Projektskizzen, Hör- und Filmmaterial. Radiomitschnitte und Mitschnitte der Lesungen vor der Gruppe 47 sind veröffentlicht. Bayer war Darsteller in Mosaik im
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zu seiner bekanntesten selbständigen Publikation der kopf des vitus bering lautet: »ansprüche stellen an den hörer«,18 nicht etwa an den Leser eines Textes, der nie als Hörbuch erschienen ist, deutet an, daß seine literarischen Texte zugleich die rezeptiven Sinne beanspruchen wie Lektüregewohnheiten strapazieren. Beanspruchend ist das in dreifacher Hinsicht. Mit der impliziten Grundannahme hermeneutischer Theoriemodelle, der zufolge eine Idealbeziehung zwischen Text und Leser vorliegt, in der sich der Rezipient auf die soziale Konvention verlassen kann, Sprache und (literarische) Texte als Instrumente kommunikativer Verständigung aufzufassen, stößt man in Bayers Arbeiten an Grenzen. Wie bei vielen anderen sprachexperimentierfreudigen Autoren dieser Zeit ist in seinem Werk nicht gewährleistet, daß Textabschnitte in sich kohärent sind oder Schriftzeichen eine Bedeutung haben. Stattdessen wird die Kontingenz von Kommunikationsereignissen innerhalb der ›sozialen Konvention Literatur‹ vorgeführt. Anspruchsvoll für die Rezeption erweist sich darüber hinaus ein typisches Charakteristikum avantgardistischer Literatur: ihre fragmentarische Überlieferung.19 Damit ist nicht primär ein editionswissenschaftliches Problem gemeint, sondern Leerstellen im zugleich semantischen, materialen, rezeptionsästhetischen und wahrnehmungspsychologischen Sinne. Bayers Gesamtwerk zeichnet sich zwar durch eine kaleidoskopische Verweisungsstruktur aus, die separate Texte mittels wörtlich oder leicht variiert redundanter Sätze oder Textpassagen miteinander in
Vertrauen (AUT, 1955, R: Peter Kubelka) und in Sonne halt! (AUT, 1959-62, R: Ferry Radax). Er hat zahlreiche Gemeinschaftsarbeiten mit seinen Gruppenkollegen, besonders Oswald Wiener und Gerhard Rühm, verfaßt und ist in mehrere Sprachen übersetzt. Alle vier Sammelausgaben (das Hardcover bei Rowohlt 1966, das RowohltTaschenbuch 1977, das zweibändige Sämtliche Werke mit Vorwort, Nachwort und Bibliographie bei Klett-Cotta 1985, und die erweiterte Fassung 1996) sowie Bayers Theatertexte (Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1992) wurden von Gerhard Rühm ediert. 18 Österreichisches Literaturarchiv (ÖLA), Sammlung Konrad Bayer 175/W1, Blatt Nr. 2 (Rückseite). 19 Vgl. Thierse, Wolfgang: »Thesen zur Problemgeschichte des Werk-Begriffs«, in: Zeitschrift für Germanistik 4 (1985), S. 441-449, insb. S. 446; Schütterle, Annette: Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als ›System des Teilbaues‹, Freiburg i.Br.: Rombach 2002, S. 51-57.
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Beziehung setzt.20 Große Sinnlöcher, deplatziert wirkende Absätze und unmotivierte Sprünge in der Handlung setzen dagegen aufs Spiel, daß Lesen eine prozessuale Praxis ist, bei der für gewöhnlich »die Leervorstellungen der einzelnen Korrelate zunächst einmal die Aufmerksamkeit für das Kommende« zu wecken haben.21 Wo die Aufmerksamkeit vergeht, schließt unter Umständen die Lektüre. Wer weiterliest und das auf der narrativen Ebene vorgeführte, kursorische Hin und Her adaptiert, droht den durchaus vorhandenen Gesamtzusammenhang zu über-lesen. Damit ist bereits eine weitere Anforderung an den Rezipienten angesprochen, der sich in Bayers Texten mit dem Problem der Unverständlichkeit auseinandersetzen muß. Nur rudimentär gibt es in den Texten einen paraphrasierbaren Handlungsablauf. Sie sprengen auch die Schemata und Muster phantastischen wie grotesken Erzählens. »Systematisch bedeutet Unverständlichkeit«, nach Moritz Baßler, »einen Störfall im Verstehensprozeß, ein Versagen der eingeführten Methode des Verstehens, der Hermeneutik. […] Entweder bildet sich gar nicht erst ein Vorverständnis oder – wahrscheinlicher – die Teile sperren sich ganz oder teilweise der aufhebenden Integration durch einen zentralen Gesamtsinn.«22 Ihre Unverständlichkeit erklärt, warum sich Bayers Texte einem rein hermeneutischen Zugriff versperren. Begeisterung für das Experiment mit Schrift, Sprache und dem Lesen selbst wird stattdessen vorausgesetzt. Michael Tötebergs kritischer Einwand, Bayer habe »die Grammatik der Moderne wesentlich erweitert, doch sein Werk besteht größtenteils aus Entwürfen, die keine eindeutige Lesart zulassen«,23 verfehlt insofern das Charakteristische: Entwerfen, Verwerfen und Uneindeutigkeit sind in Konrad Bayers Œuvre Programm. Es regt zu einer methodischen Reflexion über kunsttheoretische Fragestellungen an, genauge-
20 Walter Ruprechter bezeichnet diese Werkstrategie als »Intertext«. Vgl. Ruprechter, Walter: »Alles und Nichts. Über einige Positionen im Werk Konrad Bayers«, in: Walter-Buchebner-Gesellschaft (Hg.), die wiener gruppe, Wien: Böhlau 1987, S. 120-130, hier S. 120ff. 21 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 4
1994, S. 182.
22 Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 4. 23 Töteberg, Michael: »Konrad Bayer«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Loseblattsammlung, München: Ed. Text & Kritik 1978, S. 10.
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nommen darüber, wie man liest, wie man literarische Texte verstehen und sinnvoll über sie sprechen kann, obgleich sie teils jeglichen Sinn liquidieren und sich konventionellen Lesarten verwehren. Der Forschungsstand über den österreichischen Autor ist überschaubar geblieben, die Beschäftigung mit seinem Werk insbesondere national begrenzt. 1986 veröffentlichte Kurt Strasser eine Monographie,24 die Bayers experimentelle Poetik als »Erstellen von Fiktionen mittels automatisierter Vorstellungen bis zum semantischen, grammatischen und syntaktischen Kodieren« darstellt. Mit Recht hebt Strasser zwar die Bedeutung der späten Wittgensteinschen Sprachauffassung für Bayers poetologische Reflexion hervor, die den Gebrauch gesprochener Sprache ins Zentrum rückt, und das Abbildungsverhältnis zwischen Welt und Sprache disqualifiziert, wenn es heißt, es gehe »nicht um die Sprache selber, sondern um daß [sic] Mißverhältnis zwischen realer und sprachlicher Wirklichkeit, um die Unzulänglichkeit unserer geistigen Vorstellungen, die einengende ›Ordnung des Diskurses‹ und um den – nicht zuletzt durch die Sprache – behinderten Zustand unserer Erkenntnis«.25
Doch Strasser übersieht die zentrale Bedeutung des Mediums Schrift in Bayers künstlerischer Produktion. Ungeachtet kulturgeschichtlicher Kontexte werden in seiner Dissertation werkimmanente Deutungen vorgestellt, die Kriterien, nach denen die untersuchten Texte ausgewählt wurden, werden dabei jedoch nicht erläutert. Als kritisch erweist sich an Kurt Strassers Untersuchung nicht nur der Eindruck willkürlichen Ermessens in der Entscheidung für bestimmte Texte, sondern auch das Problem einer Hypothese, die in der interpretatorischen Überprüfung ihre Unzulänglichkeit offenbart, so daß die Studie das ambitionierte Ziel, Bayers Gesamtwerk poetologisch zu reflektieren, verfehlen muß. Die erste fundierte, textnah operierende Untersuchung von Bayers Werk legte Ulrich Janetzki 1982 vor.26 Janetzki konzentriert sich in vier Kapiteln anhand von Einzelinterpretationen auf die spezifische Sprachkritik sowie den Zusammenhang von Subjektivität (als sprachlicher Fiktion) und literarischer Wirklich-
24 Strasser, Kurt: Experimentelle Literaturansätze im Nachkriegs-Wien. Konrad Bayer als Beispiel, Stuttgart: Heinz 1986. 25 Ebd., S. 9 (Herv. i. O.). 26 Vgl. Janetzki, Ulrich: Alphabet und Welt. Über Konrad Bayer, Königstein: Hain 1982.
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keitsverarbeitung in Bayers Werk. Im Anschluß an diese Studien über das Erzählwerk rückten Bayers Dramen stärker in den Fokus.27 1979 und 2004 wurden in Wien Symposien über den Autor abgehalten.28 Der 2002 publizierte Sammelband zum vierten Symposium der jungen ungarischen Germanisten im Jahre 2000 konzentriert sich mit Einzelbeobachtungen auf den zu Lebzeiten erschienenen Langtext der kopf des vitus bering.29 2012 widmete sich eine gesamte Ausgabe der Reihe Schreibheft Konrad Bayers ›Spiel auf Leben und Tod‹ und seiner ›Auferstehung‹.30 Die vorliegende Untersuchung stützt sich vornehmlich auf jüngste Forschungsbeiträge über Bayers Werk, die sich durch eine methodische Sensibilität für kulturgeschichtliche Fragestellungen auszeichnen. Die wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte zu diesem Autor leidet nämlich unter einem Sehfehler, der die Perspektive solcher Interpreten lenkt, die ein »sollipsistisches [sic] Leitmotiv«31 ausmachen oder Spuren suizidaler Tendenzen
27 Vgl. Bucher, André: Die szenischen Texte der Wiener Gruppe. Bern/Berlin: Lang 1992; Schmidt-Dengler, Wendelin: »Die Einsamkeit Kasperls als Langstreckenläufer. Ein Versuch zu H. C. Artmanns und Konrad Bayers Dramen«, in: Wendelin SchmidtDengler (Hg.), verLOCKERUNGEN. Österreichische Avantgarden im 20. Jahrhundert. Studien zu Walter Serner, Theodor Kramer, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Peter Handke und Elfriede Jelinek. Ergebnisse eines Symposions Stanford Mai 1991, Wien: Ed. Praesens 1994, S. 75-93. 28 Vgl. Rühm, Gerhard (Hg.): Konrad Bayer Symposion Wien 1979, Linz: Ed. Neue Texte 1981; Stepina, Clemens K. (Hg.): »ich habe den sechsten sinn«. Akten des Konrad-Bayer-Symposiums 2004, Wien: Ed. Art & Science 2006. 29 Siehe die Beiträge von Edit Kovács (»Prolepsis, Katalepsis, Epilepsis. Reisen in der Zeit in Konrad Bayers der kopf des vitus bering«), Csaba Szabó (»Zum Fallenlassen. Zu Konrad Bayers der kopf des vitus bering«), Robert Steinle (»›die bordwache sang das alphabet...‹. Scharniere im kopf des vitus bering«) und Judit Ecsedy (»Chaos und Ordnung im kopf des vitus bering«), in: Klaus Bonn/Edit Kovács/Csaba Szabó (Hg.), Entdeckungen. Über Jean Paul, Robert Walser, Konrad Bayer und anderes, Frankfurt a.M.: Lang 2002. 30 Vgl. Smedt, Erik de/Wehr, Norbert (Hg.): Spiel auf Leben und Tod. Die Auferstehung des Konrad Bayer (= Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 79), Essen: Rigodon 2012. 31 Schwarz, Waltraut: »Die österreichische Literatur der letzten 50 Jahre«, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur, Teil 1, Graz: Akademische Druck- und Verlags-Anstalt 1989, S. 51-93, hier S. 79; Einhaus, Ulrich: »Wir die Einzigen. Zum
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in den Texten suchen. Daß die Bayer-Forschung vermehrt Lesarten biographischer Provenienz Vorschub leistete,32 mag mit Konrad Bayers frühem Tod zu tun haben. Ursula Krechels Lakonie erfaßt den zeitgenössisch symbolträchtigen Aspekt seines Suizids am 10.10.1964: »Er drehte den Gashahn auf.«33 Obwohl die Kopplung von Textinterpretationen an Deutungen der Lebenswirklichkeit des Autors ein Erkenntnisinteresse ist, das häufig von Autoren selbst begründete Mythen reproduziert, unter Umständen teleologische Auslegungen installiert und deshalb unter dem Komplexitätsgrad bleibt, der dem des Analysegegenstands entspräche, ist es bis heute stark in der Bayer-Forschung anzutreffen. Auffällig ist außerdem, wie wenig in den Forschungsbeiträgen die Einbettung seines Werks in zeitgenössische Diskurse über Kunsttheorie oder das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur Beachtung findet. Ein Beispiel für diese Dominanz und den Einfluß autorphilologischen und kontextentbundenen Argumentierens innerhalb Bayers Rezeptionsgeschichte ist die bis heute fortgeschriebene Überlieferung von den Auftritten des österreichischen Autors bei der Gruppe 47 auf der Saulgauer Tagung 1963 und der Auslandstagung in Sigtuna 1964. Heinz Ludwig Arnold spricht von einer »doppelten Zäsur« in der Geschichte der Gruppe 47, als Autoren wie Wellershoff, Harig, Becker, Bichsel, Piwitt, Fichte oder der im offiziellen österreichischen Literaturbetrieb verrufene Bayer ihre Texte vorzutragen eingeladen wurden, weil sich damit nicht nur ein Generationenwechsel und andere Schreibweisen ankündigten, sondern auch neue Erwartungen geschürt wurden.34 Daß Hans Werner Richter und die Gruppe 47 der jungen Schriftstellerkohorte ein Forum boten, resultierte nicht nur aus reinem Interesse an innovativen Schreibweisen. Als Scout die schriftstellerische Nachwuchsförderung im deutschsprachigen Raum aktiv zu ge-
Verhältnis von Konrad Bayer und Oswald Wiener zur Philosophie Max Stirners«, in: Stepina, »ich habe den sechsten sinn« (2006), S. 25-34. 32 Beispielsweise in Schmid, Georg: »Konterstrategien zum Totschweigen. Wie sich die Ekritüre dem Ersticktwerden widersetzt«, in: Walter-Buchebner-Gesellschaft, die wiener gruppe (1987), S. 9-29; Böning, Marietta: »Jenseits des Avantgardismus. Der Freitod als ästhetische Konsequenz. Eine Überschreitung der Avantgarde?«, in: Stepina, »ich habe den sechsten sinn« (2006), S. 11-24. 33 Krechel, Ursula: »Fragen und keine Antworten in der Luft«, in: FAZ, Nr. 127 vom 2.06.1979 (Frankfurter Anthologie). 34 Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Die Gruppe 47, München: Ed. Text & Kritik 21987, S. 130.
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stalten, warf schließlich bei Erfolg eines Neulings potentiell auf die Entdecker ein positives Licht zurück. Zeitgleich zum Generationenwechsel bei den Tagungen der Gruppe 47 verfolgte Richter Bestrebungen zur Professionalisierung der Gruppe 47.35 Ihre Publizität sollte durch verschiedene Maßnahmen gesteigert
35 Der Sicherung des Standings im Feld durch eine nicht nur lokale, sondern auch kulturpolitisch zentralistische Neuausrichtung und der Vision, die Tagungen in WestBerlin ansässig werden zu lassen, kam jedoch Walter Höllerer zuvor. Wie Michael Kämper-van den Boogaart darstellt, war es das mit viel Verhandlungsgeschick und Geschäftssinn realisierte Unternehmen des langjährigen Mitglieds, das sich im Zeitraum der 1960er Jahre in der Geschichte der Gruppe 47 als sowohl neuer institutioneller Kooperationspartner als auch Konkurrent zu Richters Literaturbörse erweisen sollte. Wie man nicht unerheblich an der backlist erkennen kann, hielt Höllerer als regelmäßiger Tagungsteilnehmer zum einen im Auftrag des Suhrkamp Verlags Ausschau nach jungen Autoren. Zum anderen stellte der Berliner Literaturprofessor das Literarische Colloquium Berlin auf die Beine, das Jungautoren Stipendien wie Schreibkurse anbot und dessen Geschäftsführender Direktor er wurde. Höllerers Berliner Projekt kooperierte mit der Gruppe 47, indem regelmäßig aus den Reihen des LCB am Wannsee Vortragende zu Gruppentagungen rekrutiert wurden. Das LCB stand aber als Entscheidungsinstanz bei der Sichtung und dem Mentoring des Autorennachwuchses vor Richters Gruppe 47 und wurde im Eröffnungsjahr von seiten der westdeutschen Presse wie Politik lobend zur Kenntnis genommen. Insofern hatte die Konstituierung des LCB am 30. Juni 1963, im Sommer vor Bayers erster Lesung, großen Einfluß nicht nur auf »die unbescheidenen Berlin-Ambitionen Richters, sondern auch die Perspektiven der Gruppe 47. […] War insbesondere die Gründungsideologie der von Richter dominierten Gruppe 47 auf die Vorstellung gerichtet, dass die Gruppe eine informelle Assoziation literarischer Einzelgänger ist, so verwies Höllerers Förderungsprogramm im Gegensatz hierzu auf Potentiale kooperativer Produktion, was insbesondere das Projekt des Gemeinschaftsromans von 15 Autoren, Das Gästehaus, 1965 signalisierte.« Kämper-van den Boogaart, Michael: »›Und einmal muß es gesagt werden …‹. Der Autor und Germanist Walter Höllerer im Dienste der Gruppe 47. Ein Vorfall aus dem Jahr 1966«, in: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), H. 1, S. 108-127, hier S. 112. Vgl. hierzu die erhellende, an epistemologischen Fragestellungen über die Entstehung des LCB orientierte Lesart von Greite, Till: »Eine Agentur des Kreativen. Walter Höllerers Literarisches Colloquium als Schule des Schreibens im Zeichen von Information und Störung«, in: Kultur & Gespenster 13 (Winter 2012), S. 201-220.
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werden, die bei den alteingesessenen Mitgliedern umstritten waren, z.B. der dokumentarischen Begleitung des Treffens in Saulgau durch ein Fernsehteam um Sebastian Haffner im Auftrag des Südwestfunks. Die Gruppe 47 wurde somit im Zeitraum, in den Konrad Bayers Einladungen fallen, nicht mehr nur als Literaturforum, sondern zugleich als Spektakel und Politikum wahrgenommen. Die 25. Tagung der Gruppe 47 fand vom 25. bis 27. Oktober 1963 im Hotel Kleber-Post im württembergischen Saulgau bei Ulm statt. Die Teilnahme brachte Konrad Bayer die Aussicht auf einen Vertrag mit dem Rowohlt-Verlag ein.36 Bayer stellte bei seinem Debüt vier Textauszüge aus dem sechsten sinn vor (die birne, im wirtshaus, der empfang und chymische hochzeit). Der Eröffnungstext die birne ist eine aus Sicht eines heterodiegetischen Erzählers vermittelte Kurzgeschichte, welche der im Text selbst benannten Grundidee folgt, daß »die ganze erde sich pausenlos um sich selbst drehte«.37 Mit dem Biß in eine Birne und der Erinnerung des Erzählers an die Herkunft des Obsts wird eine Zeitspule in die Vergangenheit angekurbelt, die zufällige Begebenheiten auf unterschiedlichen Vergangenheitsniveaus wie von einer höheren Ordnung geleitet miteinander in Beziehung setzt. Die Geschichte ist von konkreten Angaben zur Zeit- und Raumsemantisierung (»montag den 14. oktober«, »linke alszeile 24«, »abfahrt wien 16 uhr 41 richtung tulln«, »1938«) durchzogen, die der schematischen Figurencharakterisierung entgegenstehen. Individuelle Schicksale werden somit als flüchtige Ereignisse in der Zeit dargestellt, der kulinarische Genuß einer Birne wird als gleichbedeutend neben Gewalt, Sexualität und sozialkritische Themen wie Arbeitslosigkeit, Alkoholismus oder kapitalistische Arbeitsmarktentwicklungen gestellt. Einerseits resultiert daraus eine Nivellierung von historischer Relevanz und die Relativierung ethischen Wertens, andererseits findet eine Aufwertung eines individuellen Akteurs statt, indem die Geschichte von einem die Begebenheiten wie Bausteine frei zusammensetzenden und distanzierten Erzähler vermittelt wird, der sich immer wieder mit der zynischen Entschuldigung »wenn der ausdruck gestattet ist« zu Wort meldet und am Ende der Erzählung fließend in die feste Sprecherposition eines hedonistischen Ich kulminiert:
Vgl. Böttiger, Helmut: Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs. Ausstellungsbuch, Berlin: Literaturhaus 2005. 36 Am 31. Oktober 1963 wurde der schriftliche Vertrag mit Rowohlt geschlossen. Vgl. U. Janetzki: Alphabet und Welt, S. 128. 37 Bayer, Konrad: »die birne«, in: SW 1996, S. 403-405, hier S. 404.
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»und dann legte er die birne wieder hin angebissen wie sie war und die fliegen setzten sich drauf und am nächsten tag da sah er sie wieder an und dachte da sitzen die fliegen drauf weil sie angebissen ist und da habe ich nicht mehr weitergegessen die schmeckt aber auch bitter.«38
Die Verbindung aus einer distanzierten Erzählperspektive und grotesker Handlung findet sich auch in den drei anderen Texten wieder, die Konrad Bayer vor dem Publikum in Saulgau so vorlas, wie die Kurzgeschichte die birne auf dem Papier daherkommt:39 Ohne Punkt und Komma las der Österreicher die vier Kurztexte. Begleitet wurde Bayers Lesung von teils ausgelassenem Gelächter seiner Zuhörerschaft. In der anschließenden Diskussion lobten Walter Jens, Hans Mayer, Erich Fried, Ernst Bloch, Reinhard Baumgart und Carl Amery Bayers eigentümliche wie literaturgeschichtlich anspielungsreiche Erzählweise. Peter Weiss hingegen kritisierte, mit breitem Zuspruch, die Plattheit und übertriebene Zuspitzung der Texte in eine kabarettistische Pointe. Bei seinem zweiten Auftritt während der zweiten Auslandstagung in der Geschichte der Gruppe 47, die vom 10. bis 13. September 1964 in der Volkshochschule im schwedischen Sigtuna stattfand, las Konrad Bayer fünfzehn, inhaltlich disparate Passagen aus der sechste sinn. Auf seinen Vortrag reagierte das große Publikum im Vergleich zur vorjährigen Lesung verhalten. In der zwanzigminütigen Diskussion fanden insbesondere Hans Mayer und Erich Fried deutliche Worte. Mayer warf Bayer vor, mit der Wahl der Figurennamen wie Goldenberg, Wertheimer oder Braunschweiger eine »Sphäre des jüdischen Witzes«40 bewußt evozieren zu wollen und mit Anleihen bei Brechts Keuner-Geschichten zu arbeiten, deren Komik Bayer mittels einer kühlen Bildsprache eliminiert habe. Mayer empfand insbesondere die »übermenschliche«41 Erzählhaltung in den gelesenen Passagen am bedenklichsten, weil sie »sehr grausame und scheußliche Prosa«42
38 Ebd., S. 405. 39 Vgl. Bayer, Konrad: »aus: der sechste sinn. die birne, im wirthaus, der empfang, chymische hochzeit«, in: Akzente 11 (1964), H. 1, S. 52-58. Der Text die birne, erstveröffentlicht im ersten Heft der edition 62 (1962), ist außer dem Schlußpunkt frei von jeglichen Satzzeichen. 40 Bayer, Konrad: der sechste sinn. Originaltonaufnahmen 1962-1964, hg. von Klaus Sander, CD 2, Köln: supposé 2002, Track 16, 1:55 Min. 41 Ebd., 3:26 Min. 42 Ebd., 3:56 Min.
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produziere. Erich Fried empörte sich über eine Antimenschlichkeit in Bayers Texten. So wie die Figuren in der sechste sinn konzipiert seien und handelten, könnten auch Vorgänge in Auschwitz beschrieben werden. Das Vorgetragene bediene sich darüber hinaus eines banalen Witzes auf Stammtischniveau. Walter Jens kritisierte die Durchschaubarkeit des redundanten Erzählschemas, worauf er bereits im vorherigen Jahr hingewiesen hatte. Doch blieben diese Kritikpunkte keineswegs ohne Widerworte in der Gruppendiskussion. Joachim Kaiser warf Fried offen, Mayer eher versteckt, analytisch schwache Herleitungen vor und hielt geradezu ein Plädoyer für den »kalkulierten Schwachsinn«43 eines an der Welt Rache nehmenden Autors und zugunsten der schriftstellerischen Freiheit, »frivol und herzlos und unmenschlich zu sein in einer Zeit, wo also doch nun wirklich das Wort ›Menschlichkeit‹ doch im Allgemeinen benutzt wird, um Schweinereien zu lancieren.«44 Konrad Bayer selbst schien die Auftritte und anschließende Kritik der Gruppe 47 nicht allzu ernstgenommen zu haben, wovon eine kurze Korrespondenz mit H. C. Artmann vor der Sigtunaer Tagung zeugt: »Nun hörte ich schon in Berlin, dass du dem ruf der 46er (er erging auch an mich, nur will ich mich da lieber heraushalten) schurkisch_verschlagen (stell ich mir vor) gefolgt seiest. […] lass dich nicht zu viel mit die 46ka ein. tu was, was sie versäuert, du hast sie nicht nötig.«45
Bayer notierte auf der Rückseite des Umschlags von Artmanns Brief: »ReichRanitzky (Trottel)/Raddatz (Feind)/Walter Jens (beschränkt)/Grass Günther (eingleisig)/Mayer (redegewandt, aber doch beschränkt)/Rühmkorf (Depp)«46. Etwa einen Monat später war Konrad Bayer tot.
43 Ebd., 17:16 Min. 44 Ebd., 19:48 Min. 45 H. C. Artmanns Brief an Konrad Bayer zum Treffen der Gruppe 47 nach Sigtuna (Vorderseite. Archiv Steiger/Bayer Wien) vgl. Kastberger, Klaus: »Alchemie des Ganzen. Konrad Bayers sechster sinn«, in: Bernhard Fetz/Klaus Kastberger (Hg.), Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich, Wien: Zsolnay 2003, S. 129. 46 Konrad Bayers Notizen auf dem Umschlag eines Briefes von H. C. Artmann anläßlich des Treffens der Gruppe 47 in Sigtuna 1964 (Archiv Steiger/Bayer Wien) vgl. ebd., S. 130.
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Daß in der Zeit am 23. Oktober 1964 ein von Dieter E. Zimmer verfaßter Nachruf auf Konrad Bayer abgedruckt wurde, in dem es heißt: »Bayer hatte [Ausschnitte aus der sechste sinn] im vorigen November in Saulgau gelesen, vor der Gruppe 47, die erstaunt war und vielleicht zu überschwenglich lobte (›eine neue Kosmologie!‹), als daß die Reaktion ausbleiben konnte (›Kabarett!‹): In diesem Jahr, in Sigtuna, soll harte Kritik an Bayer verübt worden sein«,47
und Zimmer hierbei nicht von geübter, sondern verübter Kritik sprach, bringt die rezeptionsgeschichtliche Engführung von Bayers persönlichem Schicksal und seiner zweiten Lesung vor der Gruppe 47 auf den Punkt. Von einem Eklat, den Bayers Texte auf der Tagung in Schweden ausgelöst haben sollen, kann nur reden, wer die Ereignisse vom Zeitpunkt seines Suizids aus betrachtet. Denn anhand der Diskussionsbeiträge im Anschluß an Bayers Auftritte werden binnendynamische Prozesse offenkundig, die Grund zur Annahme geben, daß die Diskussionen der Gruppe 47 nicht allein von Einzelmeinungen über ästhetische Fragen, sondern von Stellungskämpfen und Kleingruppentaktiken innerhalb der renommierten Literaturbörse abhingen. Es herrschte eine Redepolitik, die über Redeanteile und die Relevanz der Wertung mitentschied. Als Einflußfaktoren für diese galten nicht nur die Stichhaltigkeit von Argumenten, spezifische Wertmaßstäbe oder literaturgeschichtliches Wissen, sondern auch das symbolische Kapital des Diskutanten innerhalb der Gruppe 47. Auf die Äußerungen von Fritz Raddatz, Walter Jens oder Joachim Kaiser wurde im Gruppenzusammenschluß deutlich mehr Wert gelegt als auf beispielsweise Erich Fried. Obwohl in beiden Diskussionen von Bayers Texten verschiedene Gesichtspunkte (wie seine Schreibverfahren, die Genrespezifität oder der philosophische Gehalt der Texte) zur Sprache gebracht und bereits beim Debüt des Autors negative Kritikpunkte geäußert wurden, löste sich rezeptionsgeschichtlich die Vielschichtigkeit der Beiträge auf. Die Überlieferung der Ereignisse um Bayers Lesungen vor der Gruppe 47 wurde zu einem Narrativ mit zwei Seiten kondensiert: Auf der einen Seite wurde die Saulgauer Tagung als symbolischer Erfolg für Bayer verbucht, der insbesondere im Urteil Ernst Blochs zum Ausdruck gekommen sei; auf der anderen Seite habe der Auftritt 1964 einen Skandal ausgelöst, der aus der Fehldeutung moralisch argumentierender Kritiker resultierte − und die Selbsttötung des
47 Zimmer, Dieter Eduard: »Erinnerung an Konrad Bayer«, in: Die Zeit, Nr. 43 vom 23. 10.1964, S. 17-18, hier S. 17.
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Autors begünstigte. Noch zwei Jahrzehnte später nannte Gerhard Rühm in einer öffentlichen Rede im Wiener Volkstheater Erich Fried einen »literarischen notenverteiler«.48 Bis heute kommt es vor, daß die differenten Argumentationen von Mayers und Frieds Kritik dem jeweils anderen in den Mund gelegt werden.49 Nicht nur marginalisierte die Anschlußkommunikation die positiven Urteile beteiligter Kritiker, sie überlagerte auch Erich Frieds ausdrückliches Lob. Diese rezeptionssteuernde Marginalisierung setzte damit ein, daß 1979 anläßlich des Sammelbandes vom ersten Konrad-Bayer-Symposion nur die Diskussion der Lesung von 1963, nicht hingegen die Kontroverse in Sigtuna transkribiert wurde. Selbst als 2002 die Tonmitschnitte zu Bayers Lesungen vor der Gruppe 47 veröffentlicht und ihr Ablauf somit rekonstruierbar wurden, blieben eine Revision und Richtigstellung aus. Klaus Kastberger spricht in seiner Rezension des akustischen Dokuments zunächst vom »nasalen Tonfall« des Kritikers Fried, bevor er darauf eingeht, wie unhaltbar die Einwände gegen Konrad Bayers Texte gewesen seien. Der Autor habe es 1963 »mit den versammelten Moralisten noch bedeutend einfacher« gehabt, denn »[u]nter den Zuhörern befand sich damals der Philosoph Ernst Bloch. In seinem Statement hielt er die erkenntnistheoretischen Implikationen von Bayers Texten in einer Art und Weise fest, gegen die kein Widerspruch aufkam.«50 Blochs Ausführungen nach Bayers Lesung in Saulgau blieben nicht nur ohne Widerspruch, sie setzten einen Maßstab für die gängige Interpretationspraxis im literaturwissenschaftlichen Umgang mit Bayers Œuvre: Es wurde zur unverrückbar scheinenden Regel, seine inhärente Sprachskepsis hervorzuheben, seine erkenntnistheoretische Qualität zu verfolgen oder den Einfluß der Philosophen Wittgenstein, Mauthner oder Stirner zu belegen.
48 Rühm, Gerhard: Text – Bild – Musik. Ein Schau- und Lesebuch, Wien: Jaschke 1984, S. 77f. 49 Austauschbar erscheinen Mayers und Frieds Kommentare zum Beispiel bei Johann Sonnleitner, wenn er meint: »Geradezu aufgebracht reagierte Erich Fried auf die Lesung Bayers in Sigtuna; der sechste sinn sei eine sinnleere, sehr bedenkliche, sehr grausame, scheußliche Prosa.« Diese Formulierungen stammten jedoch von Mayer. Sonnleitner, Johann: »Die Literatur der Wiener Gruppe und der Zivilisationsbruch«, in: Thomas Eder/Juliane Vogel (Hg.), verschiedene sätze treten auf. Die Wiener Gruppe in Aktion, Wien: Zsolnay 2008, S. 87-96, hier S. 90. 50 Kastberger, Klaus: der sechste sinn (Rez.), http://www.literaturhaus.at/buch/hoerbuch/ rez/konradbayer/ vom 31.03.2014.
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Vorliegende Studie wird Konrad Bayers Werk konstellativ in seinen Gegenwartsbezügen mit ästhetischen und wissenschaftlichen Tendenzen analysieren. Die Relevanz eines solchen Unterfangens begründet sich nicht etwa mit der Wiederentdeckung eines wenig beachteten literarischen Werks, sondern mit der Neuverortung von Bayers Texten in ein anderes methodisches Design, um ein Panorama der komplexen Art-and-Technology-Bewegung der 1950er und 60er Jahre erstellen zu können. Erst vermittels dieses kontextuellen Rundblicks wird die Attribuierung von Bayers Werk als skandalös und subversiv plausibel, da ein Skandalon schließlich »nicht dadurch entsteht, daß der betreffende Künstler seiner Zeit und seiner Gesellschaft voraus ist, wie man gewöhnlich meint, sondern daß er im Gegenteil in dieser seiner Zeit in besonderem Maße integriert, mit ihrem gründlichsten Leiden vertraut und verhaftet ist.«51
In Bayers Texten wird, wie ich zeigen will, nicht nur montiert, vielmehr werden zeitgenössische Strömungen in Literatur, Kunst und Wissenschaft ›absorbiert‹. Bayers Werk hatte trotz oder gerade aufgrund seiner fragmentarischen Reflexionsform stets eine doppelte Adressierung: Es stand im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch auf Dialog mit gegenwärtigen Prozessen und dem Anspruch auf künftige Wirkung als Werk, das eine sehr eigene Vernetzungsstruktur unterhält. Konrad Bayers Texte fordern ein analytisches Instrumentarium ein, das, mit Peter Bürger gesprochen, die »Aufmerksamkeit auf die die Werkkonstitution bestimmenden Konstruktionsprinzipien richte[t], um in ihnen einen Schlüssel zu finden für die Rätselhaftigkeit des Gebildes.«52 Im Mittelpunkt stehen deshalb die Texte selbst: ihre Materialität,53 Poetik und diskursive Kontextgebundenheit.
51 Matt, Peter von: »Die Hamlet-Interpretation«, in: Peter von Matt, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, Stuttgart: Reclam 2001, S. 10-36, hier S. 33 (Herv. i. O.). 52 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 109. 53 Hierin stimme ich mit Clemens Stepinas These überein, wonach »das übergreifende Moment [des Werks der Wiener Gruppe, JB.] die Arbeit mit dem Sprachmaterial an sich [ist]. Wird diese nicht als Teil der gesamten literarischen Arbeiten und sprachphilosophischen Reflexionen um das Phänomen der Präsentation von Sprache begriffen, gehen historisch und biographisch bemühte Interpretationen nur allzu leicht fehl.« Stepina, Clemens K.: »›Ich habe den sechsten Sinn‹. Zu Konrad Bayers Werkprinzip unter Berücksichtigung der Wiener Gruppe«, in: Stepina, »ich habe den sechsten sinn« (2006), S. 64-71, hier S. 68f. In der vorliegenden Studie wird hingegen ein das gesam-
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» DU SCHWEIN WILLST MICH IN DIE FÄNGE DER 54 WISSENSCHAFT TREIBEN «: M ETHODE UND G EGENSTAND Diskursanalytisch ergründet vorliegende Studie die Beziehungen zwischen ästhetischen Schreibweisen, epistemologischen Vorstellungen und technologischen Neuerungen im deutschsprachigen Raum der 1950er und 60er Jahre. Dabei werden Parallelen zwischen Bayers Texten und den wissenschaftstheoretischen und -praktischen Entwicklungen, die von Max Bense und dem Stuttgarter Kreis zum theoretischen Gerüst der Informationsästhetik errichtet wurden, sichtbar. Den Blick auf diese Kunst, Wissen und Technik verbindenden Dimensionen lenkten die Mitglieder der Wiener Gruppe in ihrem Schaffen selbst, insbesondere Konrad Bayer und Oswald Wiener. Sie verstanden sich in einer wissenschaftsnahen Tradition, diskutierten regelmäßig über Sprachphilosophie, kunsttheoretische Fragen, literaturgeschichtliche Strömungen und: Kybernetik. Die Nennung vierer Namen, dokumentiert in einem »beschluss bei einer zusammenkunft«55 1958, wonach Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener mit einer Reihe von »entwicklungsfähigen« Leuten Kontakt aufnehmen wollten, die »historisches verdienst um unsere ziele« gehabt hätten, verwundert insofern nicht. Sie listeten unter anderem »m. bense«, »n. wiener«, »w. weaver« und »shannon« auf. Ein bislang nur zaghafter Faden in Forschungsbeiträgen über Konrad Bayers Werk wird hier aufgegriffen, aber in andere Richtung weitergesponnen. Bereits 1975 hat Harald Hartung in einer Publikation über experimentelle Literatur und Konkrete Poesie den Konnex zwischen Bayers Schreibweisen und der Informationsästhetik hergestellt.56 Dagmar Winklers Studie aus dem Jahr 1996 spitzt die These einer Wechselwirkung von Wissenschaft und literarischem Produzieren
te Spektrum dieser methodischen Zugriffe vereinender Ansatz gewählt. Vgl. zum Materialitätsbegriff Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: Beck 2001. 54 Bayer, Konrad: »idiot«, in: Konrad Bayer, Theatertexte, hg. von Gerhard Rühm, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1992, S. 103-111, hier S. 109. 55 Achleitner, Friedrich/Bayer, Konrad/Rühm, Gerhard/Wiener, Oswald: »beschluss bei einer zusammenkunft in achleitners unterkunft in wien 1958«, in: Kunsthalle Wien/ Wolfgang Fetz/Gerald Matt (Hg.), Die Wiener Gruppe, Wien: Kunsthalle 1998, S. 92. 56 Vgl. Hartung, Harald: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 74-83.
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weiter zu, indem sie die Werke österreichischer Autorinnen in einer literarischen Schreibtradition mit Bayer wie Elfriede Gerstls als »neo-kybernetische Literatur« klassifiziert, die »für das anbrechende Jahrtausend von großer Wichtigkeit sein« werde.57 Beide Zugänge sind jedoch durch eine Übertragungsproblematik geprägt, die der vorliegende Ansatz vermeiden will. Hartung wendet Max Benses theoretische Annahmen, ästhetischen Wert numerisch darstellbar zu machen, schlichtweg an einem literarischen Fallbeispiel an. Winklers Studie zeichnet dieselbe Emphase aus, die in Herbert W. Frankes Zitat zum Tragen kommt, das dieser Einleitung vorangestellt wurde. Anstelle einer Analogiebildung tritt eine die disparaten Untersuchungsgegenstände in ihrer Andersartigkeit ernstnehmende Perspektive, die es dennoch erst ermöglicht, Wissenschaft und Literatur in Kombination zu sehen und Bayers Texte als ästhetische Experimente »auf das zu begreifen, was in [ihnen] zur Disposition steht: Gesellschaft, Wirklichkeit und Bewußtsein«.58 Das Argument, auch der vorliegende Zugriff auf die Gegenstände entbehre nicht der Machtgeste ihrer Sezierung und Aneignung, die hermeneutischen Verstehensvorgängen stets eignet, wie Roland Barthes in Reich der Zeichen zeigt,59 und die ihnen immer wieder mit gutem Recht vorgeworfen wird, kann nicht entkräftet werden. Mein Ziel ist es allerdings, Konrad Bayers Werk im Zueigenmachen einen Spielraum zu gewähren, der andere Horizonte, Sinn hin oder her, erst freilegt. Der diskursanalytischen Methodik widerspricht längst nicht mehr, daß sich im Folgenden der Autor Konrad Bayer im Diskurs um Kybernetik, Informationstheorie und Ästhetik nicht auflöst. Mit Roger Chartier sucht diese Kulturgeschichte »nicht mehr die Strukturen und Mechanismen, die jenseits der subjektiven Einwirkung die sozialen Beziehungen steuern, sondern die Rationalitäten und Strategien, welche die Gemeinschaften, Familien und Individuen verwirklichen«. 60
57 Winkler, Dagmar: Die neo-kybernetische Literatur, Amsterdam: Rodopi 1996, S. d (Einleitung). 58 Jahraus, Oliver: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins, München: Fink 2001, S. 61. 59 Vgl. Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. 60 Chartier, Roger: »Zeit der Zweifel. Zum Verständnis gegenwärtiger Geschichtsschreibung«, in: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Post-
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Ohne einen emphatischen Subjektbegriff vorauszusetzen, wird der Akzent auf das Gestaltungspotential eines einzelnen Autors gelegt, der sich mit seinem Werk einerseits zu den poetologischen Annahmen und Praktiken einer Literatengruppe, andererseits zu einem spezifischen Diskursfeld verhält, dort einreiht und hierzu in Kontrast stellt. Literarische Verfahren werden somit als Handlungsoptionen verstanden, die Deutungsmuster einer Zeit zum Ausdruck bringen. Nur so können Diskurse »als Praktiken [behandelt werden], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.«61 Die angestrebte Kontextualisierung erscheint insofern produktiv, als sie zum einen die Ermöglichungsbedingungen von Literatur veranschaulicht. Der Beginn der Computertechnologie führte Ästhetikern (wie beispielsweise im Umfeld von Max Bense) die Historizität von Wahrnehmung und (Kunst-)Erfahrung vor Augen, veränderte aber auch das Denken über und die Organisation von ästhetischer Produktion. Dies in einer Studie zusammenzuführen, macht ein historisches Netz von Techniken beschreibbar: Techniken des wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Experimentierens, des Computers, des Kommunizierens zwischen Theorie und Praxis, des Lesens, Sehens und Hörens. Zum anderen verhilft das diskursanalytische Vorgehen, die Komplexität des Verhältnisses von Wissenschaft und Dichtung im deutschsprachigen literarischen Feld von 1954/55 bis 1964 adäquat abzubilden.62 Eine Differenzierung, wie sie einst Robert Musil vornahm, als er schrieb: »Die Unterscheidung selbst ist einfach: Dichtung vermittelt nicht Wissen und Erkenntnis. Aber: Dichtung benutzt Wissen u. Erkenntnis«63, greift angesichts Konrad Bayers Werk zu kurz. Durch den Austausch mit Oswald Wiener, der von 1963 bis 1967 in der Datenverarbeitungsabteilung bei der Computerfirma Olivetti beschäftigt war, hat Bayer Kenntnisse über kybernetisches Wissen erlangt, sein literarisches Werk weist zahlreiche Belegstellen für kybernetische Termini und informationsästhetische Denkfiguren auf. Es stellt sich in umgekehrter Richtung auch die Frage nach der Rolle der Imagination und
moderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart: Reclam 1994, S. 83-97, hier S. 85. 61 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 74. 62 Vgl. grundlegend Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971. 63 Robert Musils verworfenes Vorwort zum Nachlaß zu Lebzeiten (1935). Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 7: Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, hg. von Adolf Frisé, Reinbek: Rowohlt 1978, S. 967.
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Narrativität für wissenschaftliche Praktiken.64 Die Kulturgeschichte der frühen Informationsästhetik, eines epistemisch auf der Kybernetik beruhenden Forschungsansatzes, und ihre starke Korrelation mit experimentellen Künsten veranschaulicht, daß auch natur- und technikwissenschaftliches Wissen als Denkweise verstanden werden sollte, die Evidenzen erst produziert und erfindet.65 Das wissensgeschichtliche Vorgehen legt nicht die These nahe, Bayer habe die Programmatik der Informationsästhetik literarisch umgesetzt, noch wird hier argumentiert, die Informationsästhetiker hätten ihr Wissen aus Bayers Werk gezogen. Umgangen werden soll außerdem die Falltür diskurstheoretischer Ausrichtungen, Bayers Texte lediglich auf Belegstellen für die übergreifende Diskursmacht der Kybernetik abzusuchen oder selektiv nur solche Texte aus seinem Gesamtwerk in den analytischen Blick zu nehmen, die ins Konzept passen. Die Auswahl aus Bayers Werk ist breit gestreut und umfaßt auch solche Texte, die nichts mit einer Kulturgeschichte der frühen Informationsästhetik zu tun haben. Die Studie erschreibt sich diese Geschichte nicht chronologisch, sondern leuchtet das literarische Werk und seine kultur-, wissenschafts- und mediengeschichtlichen Kontexte punktuell aus. Für eine Analyse von Konrad Bayers Werk ist der angesetzte Untersuchungszeitraum von Mitte der 1950er Jahre bis 1964 naheliegend, da in diesem Dezennium der quantitative Großteil seines Werkkomplexes, seiner Prosa-, Lyrik- und Theatertexte sowie der Filme, an denen er beteiligt war, entstanden ist. Bayers Texte und die Schreibweisen der Wiener Gruppenmitglieder in diesem
64 Vgl. Macho, Thomas/Wunschel, Annette: Science & Fiction, Frankfurt a.M.: Fischer 2004. William Gibsons Romane bieten sich als gutes Beispiel an. Vgl. Tabbert, Thomas T.: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons. Avatare, Künstliche Intelligenzen, Telematische Cyborge, Virtuelle Idole, Hamburg: Artislife Press 2008, bes. S. 57-61. Die US-amerikanische Luft- und Raumfahrtbehörde NASA baute sogar einige von Gibsons Ideen in seinen Cyberspace-Romanen Neuromancer, Count Zero und Mona Lisa Overdrive nach. 65 Grundlegend zur Geschichte wissenschaftlicher Objektivität vgl. Daston, Lorraine: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a.M.: Fischer 2001; Gamper, Michael: »Zur Literaturgeschichte des Experiments«, in: Michael Gamper/Martina Wernli/Jörg Zimmer (Hg.), »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580-1790, Göttingen: Wallstein 2009, S. 930; Borck, Cornelius/Hess, Volker/Schmidgen, Henning (Hg.): Maß und Eigensinn. Versuche im Anschluss an Georges Canguilhem, München: Fink 2005.
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Zeitraum können als wegbereitend oder, in Sigurd Paul Scheichls Worten: »wachablösend« für eine neue österreichische Literatur gelten, die sich deutlich anders als die deutsche Literaturgeschichte nach 1945 entwickelte. »Der Bruch in der Geschichte der neuesten Literatur in Österreich erfolgt«, so Scheichl, »fast zwanzig Jahre später als das Auftreten neuer Schreibweisen (im übrigen auf andere Art neuer Schreibweisen) und einer neuen Schriftstellergeneration in Deutschland«.66 Mitte der 1960er Jahre, um 1965 etwa, läßt sich demnach eine literaturhistorische Zäsur in der österreichischen Literatur ansetzen. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive mag die hier gewählte Zeitschneise hingegen verwundern. Schließlich haben verschiedene Studien zur germanistischen Fachgeschichte belegt, »dass, auf welche Weise und warum die Geschichte der Germanistik bis in die Mitte der 60er-Jahre hinein weitestgehend die Geschichte einer ungebrochenen Kontinuität und Dominanz einer sich mit Literatur beschäftigenden Praxis ist, die von der unterstellten 67
Dignität der ›Dichtung‹ und damit des eigenen Deutungsamtes geprägt bleibt.«
Trotz einiger Brüche und Diskontinuitätsanzeichen seit den späten 1950er Jahren scheint dieser Zeitraum demnach überraschungsresistent. Außerdem bleibt die Zuordnung von Max Bense − er war immerhin der Leiter des Stuttgarter Instituts für Philosophie und Wissenschaftstheorie − die Zuordnung dieses Wissenschaftlers also zur Germanistik erst einmal erklärungsbedürftig. Bense nahm eine randständige Position nicht nur in Bezug auf die deutschsprachige Germanistik, sondern die geisteswissenschaftliche Großlandschaft ein. Daß, wie und warum Benses Literatur(wissenschafts)affinität dennoch innerhalb der Germanistik diskutiert wurde und die Informationsästhetik zu teils starker Gegenwehr reizte,
66 Scheichl, Sigurd Paul: »Weder Kahlschlag noch Stunde Null. Besonderheiten des Voraussetzungssystems der Literatur in Österreich zwischen 1945 und 1966«, in: Albrecht Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Tübingen: Niemeyer 1986, S. 37-51, hier S. 46. 67 Kaiser, Gerhard: »›Dichtung als Dichtung‹. Die langen 50er-Jahre der westdeutschen Germanistik«, in: Der Deutschunterricht (2001), H. 5, S. 84-94, hier S. 85. Vgl. Voßkamp, Wilhelm: »Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft. Thesen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft nach dem zweiten Weltkrieg«, in: Wolfgang Prinz/Peter Weingart (Hg.), Die sog. Geisteswissenschaften. Innenansichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 240-247.
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gibt allerdings Aufschluß über fachliche Rederegeln und Selbstthematisierungsmuster. Die Periodisierung dieser Studie erklärt sich für den wissenschaftsgeschichtlichen Anteil daraus, daß sich die Ausrichtung der Informationsästhetik ab Mitte der 1960er Jahre verlagerte. Während die konzeptionellen Anfänge der Informationsästhetik von kybernetischen und informationstheoretischen Einflüssen geprägt sind, beschäftigte sich Max Bense ab etwa 1965 »eingehend mit den Beziehungen zwischen Semiotik und Ästhetik«.68 In den im Agis Verlag publizierten Monographien entwickelten Bense und Elisabeth Walther bis in die 1980er Jahre eine stark an Charles Sanders Peirce orientierte semiotische Ästhetik, die »als Komplement der numerischen Ästhetik« gedacht war, »deren allgemeine, im wesentlichen metaphysikfreie, aber mathematisch orientierte Grundlagen [Bense] in dem Buch ›Aesthetica‹ 1965 zusammenfassend« beschrieben hatte.69 Der Fokus auf die Medialität und Materialität von Bayers experimenteller Literatur hebt das Triadenverhältnis zwischen Text, Rezipienten und Autor hervor. In seinen Texten wird meines Erachtens zugleich der Lese-, Verstehens- und Erkenntnisprozeß des Rezipienten provoziert, irritiert und immer wieder desorientiert. Sie stellen die vielschichtige Kulturtechnik ›Lesen von Literatur‹ so auf die Probe, daß der Um- und Zugang zu literarischen Texten neu erfahren werden kann. Das Irritationsarsenal in und von Bayers Texten bewirkt eine Dynamisierung der Beziehung zwischen Autor, Werk und Leser. Die Konzeption des Gesamtwerks und der Einzeltexte läßt dem Rezipienten mal mehr, mal weniger Wahlmöglichkeiten, was er mit dem Text, will er ihn verstehen, machen soll. Beispielsweise kann die bereits erwähnte werkstrategische Verweisungsstruktur von sich wiederholenden Sätzen als eine wenn nicht primär materiale, so doch handlungsoptionale Vorform von Links, als interaktiv avant la lettre, gedeutet werden.70 Obwohl Konrad Bayer nie computergenerierte Literatur schrieb, er-
68 Walther, Elisabeth: »Henri Michaux – geplanter Zufall«, in: Barbara Büscher/HansChristian von Herrmann/Christoph Hoffmann (Hg.), Ästhetik als Programm. Max Bense. Daten und Streuungen, Berlin: Vice Versa 2004, S. 102-105, hier S. 105. 69 Bense, Max: Die Unwahrscheinlichkeit des Ästhetischen und die semiotische Konzeption der Kunst, Baden-Baden: Agis 1979, S. 9. 70 Vgl. Winko, Simone: »Hyper-Text-Literatur. Digitale Literatur als Herausforderung an die Literaturwissenschaft«, in: Harro Segeberg/Simone Winko (Hg.), Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der Literatur im Netzzeitalter, München: Fink 2005, S. 137-157.
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schließen sich über die hier vorgeschlagene Rekonstruktion eines diskursiven Panoramas Zusammenhänge beispielsweise zur visuellen Repräsentation der zeitgleich entstehenden analogen Computerkunst oder zur Konstruktionsweise von Texterzeugnissen, die zum ersten Mal mit Rechenmaschinen produziert wurden, oder zu Wissensbeständen aus informationsästhetischen wie kybernetischen Diskursen. Ein von der Forschung bislang unbeachtetes Experimentierund Provokationspotential von Bayers Werk entfaltet sich darin, wie diese zwar aufgegriffen, aber letztlich immer parodiert werden. Das Experimentelle an Bayers Kybernetisierung der Literatur, besser: an der Kybernetisierung seiner antikybernetischen Literatur ist, daß in den Texten zeitgenössisch wirksame Logiken der Mathematisierung von Kunst und der rückkopplungsgeleiteten Organisation des Denkens über Literatur ästhetisch verarbeitet werden. Wie diese Ordnung versprechenden Wissensregime in Texten, die eher Desorientierung beim Rezipienten verursachen, hinterfragt werden, zeugt vom avancierten Stellenwert von Konrad Bayers Werk.
AUFBAU Das Buch ist in sieben inhaltliche Kapitel untergliedert. Im folgenden Kapitel wird anhand des Textes abenteuer im weltraum zunächst die intertextuelle Verknüpfung zu einer wichtigen Vorlagenarbeit von Max Benses Informationsästhetik, zu George Birkhoffs Versuch, den ästhetischen Wert eines Kunstwerks mathematisch ermitteln zu können, hergestellt. Danach wird eine Einordnung von Bayers Werk im Kollektivhandeln einer literarischen Gruppe vorgenommen. Die literatursoziologische Annäherung, die Wiener Gruppe habituell zu begreifen,71
71 Habitus wird nach Bourdieu verstanden als »Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix«, d.h. als eine im Verlauf von Sozialisationsprozessen angeeignete und eingeprägte Kombination an Dispositionen. Die erworbenen Dispositionen strukturieren Bourdieus Konzept zufolge wiederum die Wahrnehmungen und Praktiken von Individuen und sozialen Gruppen. Diese Strukturierung ist allerdings nicht statisch zu denken. Das Konzept des Habitus hilft dabei, stets die Wandelbarkeit von Gruppenbildungsprozessen in den Blick zu nehmen, da die Erfahrungshorizonte von historischen Akteuren durch unterschiedliche Rahmenbedingungen mitbestimmt werden und somit auch verschiedene Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrizes aktiviert werden können. Bourdieu, Pierre: »Struktur, Habitus, Praxis«, in: Pierre Bourdieu,
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macht auf strukturelle Probleme in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihrer Kunst aufmerksam. Die Wiener Gruppe schrieb und schreibt nämlich an ihrer Geschichte mit. Über die Analyse der Aufführung von abenteuer im weltraum als Sketch beim 2. literarischen cabaret wird im Anschluß das spezifische performative Potential in Bayers Gesamtwerk illustriert und schließlich dessen intermediale Verflechtungen zum zeitgenössischen Science-Fiction-Kino dargestellt. Das Kapitel Wissenschaftsgeschichte ästhetischer Informationen skizziert, unter welchen historischen Voraussetzungen Max Bense seinen Philosophielehrstuhl in Stuttgart erhielt, mit welchen Prämissen die Informationsästhetik begründet wurde, welche zentrale Thesen in Benses vierbändiger Aesthetica vertreten wurden, warum die dort vertretenen Ansichten Aufsehen erregten und wie sich Bense habituell im zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb in Szene setzte. Polyperspektivisch sollen auf diese Weise die theoriegeschichtlichen und wissenschaftssoziologischen Voraussetzungen für die Formierung der Informationsästhetik als Forschungsrichtung erklärt werden. Das Kapitel In-Formation der Schriftzeichen expliziert zunächst zentrale Begriffe von Benses Ästhetik, die Semantiken der Termini ›Ästhetische Information‹, ›Entropie‹, ›Redundanz‹ und am Rande ›literarischer Stil‹. Die Informationsästhetik kann als prototypische Umsetzung der ab Mitte der 1960er Jahre weithin diskutierten Forderung nach einer Szientifizierung in den Geisteswissenschaften, insbesondere der Germanistik, verstanden werden. Danach erfolgt die Rückbindung an Bayers Poetik anhand der Analyse des Romanfragments der sechste sinn, in dem eine Strategie des Nicht-Erzählens vorgeführt wird. Der Roman diente darüber hinaus als Tonspur für die filmische Adaption von Ferry Radax’ Experimentalfilm Sonne halt!, in dem Bayer in einer Doppelrolle mitspielte. Mittels Bayers sechstem sinn thematisiert Radax’ Film illusionäre Wahrnehmung und inszeniert über filmsprachliche Mittel die Geometrisierung gerahmter Perspektiven. Im Zentrum des Kapitels ›Kriegslinie‹ flucht steht die Entwicklung von Rechenmaschinen und der damit einhergehenden Computerkunst in den 1950er und frühen 60er Jahren. Konrad Bayers Text flucht, 1964 zu dem kinetischen Objekt
Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 139-202, hier S. 169. Vgl. Bourdieu, Pierre: »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis«, in: Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 41991, S. 125-158.
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lesesäule umgearbeitet, wurde zwar in einer Berliner Galerie neben Exponaten von Vertretern der Op-Art, eben nicht Computerkünstlern, präsentiert. Das bewegliche Ausstellungsstück, welches das sinnliche Erfassen des literarischen Textes entautomatisiert, reiht sich deshalb vordergründig in Diskurse über den Forschungskomplex zu menschlicher Wahrnehmung ein, die Einfluß auf avantgardistische Kunst der Neuen Tendenzen hatten. Die lesesäule und der Text flucht stehen allerdings ebenso mit der frühen Computerkunst in enger Verbindung. Das Exponat und der Text verweisen einerseits auf Praktiken des Sekundären, sie hinterfragen den Status von Originalität in ästhetischen Erscheinungen. Andererseits legt Bayer mit der transformierten Variante des Textes in ein kinetisches Objekt ein Beispiel vor für die ästhetische Darstellung von etwas programmatisch ›Nicht-Darstellbarem‹: von Krieg. Im darauffolgenden Kapitel wird es am Beispieltext der stein der weisen aus dem Jahre 1963 um einen dominanten Diskurs im Kontext der Art-and-Technology-Bewegung der frühen 1960er Jahre gehen, welcher der technologischen Weiterentwicklung von Rechenmaschinen auf dem Fuße folgte. In fächerübergreifenden Debatten und Sammelbänden wurde zur Disposition gestellt, ob Maschinen ein Bewußtsein haben können. Wer den Rechenmaschinen dem Menschen vergleichbare kognitive Fähigkeiten zuschrieb, erschütterte nicht nur das Fundament der modernen Philosophie, Religion und Biologie. Solche Positionen hatten weitreichenden Einfluß auf ästhetische Debatten und die Einschätzung, welche Bedeutung neue Technologien und Medien auf die Kunstrezeption nahmen. Nach einem Überblick über die Bedeutsamkeit des (Ich-)Bewußtseins in Bayers Gesamtwerk wird eine Deutung von der stein der weisen angeboten. Am Beispiel des unter anderem von den Wiener Gruppenmitgliedern begründeten lyrischen Verfahrens des methodischen inventionismus, einer an die Lautgedichte der Dadaisten angelehnten und auf mathematischen Zufall als Konstruktionsprinzip bauenden Technik, geht es im Kapitel Rechenkunst als literarisches Verfahren um die zentrale Rolle des Zusammenspiels von Zufall und Ordnung in der zeitgenössischen Computerkunst, Fluxus oder Op Art. In diesen Kunstbewegungen entstanden in den 1960er Jahren Artefakte, die den Rezipienten in einer Art Versuchsanordnung so verorteten, daß er auf verschiedenen Wegen aufgefordert war, das Kunstwerk selbst hervorzubringen. Die Gestaltungsmacht seitens des Rezipienten wurde somit in den Kunstwerdungsprozeß integriert. Als Ziele dieser Tendenzen in Kunst wie Literatur wurden zum einen politische Vorstellungen einer breiten Partizipation an gesamtgesellschaftlichen Pro-
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zessen, zum anderen die Umbildung eines spezifischen Künstler- und Kunstverständnisses ausgegeben. Im Abschlußkapitel werden diese zeitgenössischen Manifeste und Proklamationen mit einer von Konrad Bayers textuellen Versuchsanordnungen und seinem spezifischen Verständnis von Autorschaft in Bezug gesetzt. Die im kybernetischen Denken angelegte Nähe von Menschen, Maschinen und Modellen wird in Bayers Werk verhandelt, was sich am Beispiel von der vogel singt. eine dichtungsmaschine in 571 bestandteilen und den dem Text zugrundeliegenden Konstruktionsplänen veranschaulichen läßt. Programmierer erstellten zur selben Zeit bereits computergenerierte Texte und Literatur, wie anhand von Theo Lutz’ Stochastischen Texten oder Gerhard Stickels Autopoemen exemplifiziert wird. Im Vergleich zu diesen Unternehmungen, mit Rechenmaschinen nach Plan Kunst zu machen, weist Bayers der vogel singt deutliche Unterschiede auf. Bei Ansicht der zahlreichen Inkongruenzen, die zwischen dem Bauplan und dem fertigen Text samt seiner geplanten Veröffentlichungsform bestehen, wird deutlich, daß der vogel singt weder der Mathematisierung von Literatur noch der Transparentmachung produktionsästhetischer Vorgänge diente, sondern im Gegenteil dazu, eine Autorfunktion als unumgängliche Schaltzentrale des eigenen Œuvres einzurichten. Konrad Bayer subvertierte mit seinem Autorschaftskonzept die zeitgenössischen Debatten über partizipatorische Mitbestimmung in der Trias aus Rezipient, Artefakt und Künstler und widersprach in seinem Werk der Gleichstellung von Rechenmaschinen und Kunstproduzenten. Er verfolgte stattdessen steuernd wie desorientierend eine Poetik des communication & control, die Literatur als komplexes Vermittlungssystem und medialen Übertragungsraum demonstriert, der weder errechen- noch modellierbar ist.
abenteuer im weltraum. Die Wiener Gruppe und Regelkreise
Literatur, Wissenschaft und Technik bilden in abenteuer im weltraum1 eine thematische Allianz. 1958 in Zusammenarbeit zwischen Konrad Bayer und Oswald Wiener entstanden, war der Text als kurzer Sketch im abendfüllenden Kabarett der Wiener Gruppe geplant. Er handelt von und in Science Fiction. Stofflich bedient sich abenteuer im weltraum eines topischen Musters dieses Genres: in einer an Shakespeares The Tempest erinnernden Insularkonstellation begegnen sich fremde Intelligenzen und werden sich ihrer Alterität gewahr. Ein Raumfahrer namens Franz Xaver eröffnet eine Rede und wendet sich mittels eines Mikrofons, unter Angabe der genauen Raumzeit 21.05 Uhr, an Zuhörer auf der Erde. Von dort wiederum werden Meldungen über ein Ofenrohr an Franz Xaver zurückgesandt. Der Astronaut vermittelt, daß ihm im »unbekannte[n] panorama« eine »strahlend« »schön[e]«, »still[e]«, »bizarre landschaft« und »würzige atmosfäre« erscheint. »menschlicher pioniergeist und technische perfektion«, so Franz Xaver, »schufen die voraussetzung für diesen historischen augenblick.« Nachdem sich der Raumfahrer bei »den konstrukteuren und all den unbekannten helfern« für all das bedankt hat, was den reibungslosen Ablauf der Raketenlandung gesichert habe, nämlich »das haupttriebwerk«, »nebentriebwerk«, die »seitenflossen, die heckflossen, die bugflosse«, der »lichtquantenmotor«, das »hydraulische pressschallwerk«, der »eingebaute wandkonsistor«, die »schwerefeldturbinen« und der »turboverdrängungsakkomodator«,2 tritt Oswald Wiener auf. Franz Xaver erhält aus dem Ofenrohr einen Auftrag:
1
SW 1996, S. 113-117.
2
Ebd., S. 114.
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»tätigkeit ist auf reine aufklärung der verhältnisse im weltraum zu beschränken. beschädigungen oder veränderungen in der planetarischen landschaft sind in jedem fall zu vermeiden. der weltraum steht unter wissenschaftlichem naturschutz. bezügliche planetarische erscheinung ist […] zu erforschen. ende.«3
Der Mission folgend betrachtet Franz Xaver, wie ein Biologe eine unbekannte Spezies, in sicherem Abstand Wieners Gestalt und Verhaltensweisen. Er leitet seine Beschreibungen an die Erde weiter: »liebe hörer und hörerinnen, vor mir – gefährlich und drohend – steht ein unbekannter körper. ich erkenne einen röhrenförmigen, aufstrebenden, doch verzweigten aufbau, die winkel zueinander sind unterschiedlich. […] natur oder konstruktion? ist es ein mechanismus? […] (der raumfahrer betrachtet mit seiner brille aufmerksam den schädel wieners) diese halme sind blattlos und weisen keinerlei verästelungen auf. es steht also (laut) im rahmen der möglichkeiten, dass wir es mit einer lebensform aufzunehmen haben. (leiser und abschwächend) vielleicht in verbindung mit einer konstruktion. ja, sie haben mich richtig verstanden, liebe hörer und hörerinnen, lebensformen auf fernen planeten. denn mechanik oder leben ist hier die frage. maschine oder bios!«4
Die Figur Oswald Wiener, die laut Nebentext bislang nur wortlos reagiert hat,5 nähert sich dem Raumfahrer und begrüßt ihn höflich. Franz Xaver berichtet vom unfaßbaren Ereignis der Kontaktaufnahme und erwidert den Gruß, um der »biologischen[n] erscheinungsform niederer ordnung« einen weiteren Laut zu entlocken. Als Wiener nach der Uhrzeit fragt, hält ihm der Raumfahrer das Mikrofon an den Mund. Eine Meldung von der Erde bestätigt daraufhin: »das ausserirdische, vermutlich biologische funktionsgeräusch wurde im original übernommen. wir werten aus. strikte befolgung des auftrags. erde.«6 Als Wiener ein zweites Mal die Angabe der Uhrzeit verwehrt wird, nähert er sich seinem Gegenüber und versucht, indem er den Ärmel des panisch reagierenden Raumfahrers zurückschiebt, einen Blick auf seine Uhr zu werfen. Plötzlich tritt Gerhard Rühm auf
3
Ebd., S. 116.
4
Ebd., S. 115f.
5
»wiener hebt kindhaft-verlegen ein stück holz vom boden und wirft es mit chaplineskem gestus wieder fort«. Ebd.
6
Ebd., S. 117.
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und legt Oswald Wiener nahe: »los eam gee, ea kend hoid di ua ned.«7 Wiener und Rühm gehen ab und lassen den erstarrten Raumfahrer zurück. Typisch für Sketche zeichnet sich abenteuer im weltraum durch ein einfaches Handlungsschema an einem nicht näher definierten, einheitlichen Schauplatz aus.8 Darstellungszeit und dargestellte Zeit kommen fast zur Deckung, das Personal ist mit drei Figuren übersichtlich. Typenhaft und zugespitzt skurril wird insbesondere der Raumfahrer dargestellt. Die Possenhaftigkeit seines Typus ergibt sich über seine Requisiten, die eine tiefe Technikgläubigkeit ausdrücken. Er ist dem Nebentext zufolge mit Schutzanzug, Druckhelm, Raumpistole, Magnetofon, Mikrofon, Brille und Armbandchronometer ausgestattet. Ein charakterliches Profil des Astronauten gestaltet sich gerade über seine Rede. Franz Xaver ist derjenige, der dominant monologisiert. Seine ersten Worte lauten zwar: »so, da wär ma«,9 er drückt sich aber fortan in einem hochdeutschen, zum Pathetischen neigenden Sprachgestus aus. Bevor es zu der dialogischen Konfrontation mit Oswald Wiener kommt, sind an Franz Xavers Redebeiträgen ankündigende Beschreibungen von Handlungen auffällig, die er erst danach vollzieht. Der Aussage »ich blicke auf die raumkarte« folgt erst im Nebentext: »(er blickt auf die raumkarte)«. Auch Franz Xavers Beschreibung der Geräuschkulisse auf dem fernen Planeten ist das Geräusch selbst nachgeordnet, d.h. er sagt erst: »ein hohles sausen«, bevor der Nebentext »(ein hohles sausen)« vermerkt. 10 Sein Reden ist also dem Handeln von Franz Xaver zeitlich vorgelagert. Die Figurencharakterisierung ist dichotom angelegt: Der redselige Astronaut beobachtet, befolgt und verläßt sich autoritätshörig auf die Anweisungen aus dem Ofenrohr. Die Figur Oswald Wiener hingegen reagiert anfangs mimisch oder gestisch und faßt sich sprachlich äußerst kurz. Die Wende vollzieht sich im Sketch im Moment der entgegengesetzten Bewegungen der beiden Figuren. Während Franz Xaver vor dem unbekannten Körper zunächst zurückweicht und dann in Panik erstarrt, nähert sich Wiener dem Raumfahrer und wird handgreiflich. Mit dem Auftritt von Gerhard Rühm, der nicht im Personenverzeichnis aufgeführt wird, findet ein Wechsel in den Dialekt statt, der die Sprechsituation zwischen dem Raumfahrer und Wiener in eine sprachliche, ja identitäre Schlußpointe münden läßt, schließlich wird die Mundart wenn auch nicht in der späte-
7
Ebd.
8
Vgl. Müller, Ralph: Theorie der Pointe, Paderborn: Mentis 2003, S. 263-305.
9
SW 1996, S. 113.
10 Ebd.
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ren Aufführungssituation beim literarischen cabaret der Wiener Gruppe, so doch auf der Textebene als phonetisches Distinktionsmittel zum bisherigen Sprachgebrauch eingesetzt. Bedeutung trägt außerdem die Titulierung des Personals im Sketch, mit einem − wie in der nachdadaistischen Literaturtradition typisch − austauschbar wirkenden Namen Franz Xaver und den Figuren Oswald Wiener und Gerhard Rühm, die auf ihre realen Namen referieren. Auf Deutungsmöglichkeiten der Namensgebung komme ich im späteren Verlauf zurück. Komik wird zum einen dadurch erzeugt, daß ein technisch perfekt ausgestatteter Astronaut auf einem unbekannten Planeten auf zwei Figuren trifft, die sowohl in der irdischen Zeit rechnen als auch unsere Sprache sprechen. Sie halten dem Raumfahrer letztendlich vor Augen, daß er sein einfachstes technisches Instrument, seine Uhr, nicht gebrauchen kann, und konstatieren dies mit einer sprachsymbolischen Geste, die im oberdeutschen Dialekt eher dann ausgeführt wird, wenn es sich um Kinder handelt, die noch nicht gelernt haben, die Uhr zu lesen. Zum anderen resultiert die Komik erzeugende Inkongruenz aus der Deutung, daß ein Dichter in seiner simplen Frage nach der Uhrzeit nicht von seinem Gesprächspartner verstanden wird, sondern erst von einem weiteren Dichter, einem alltagserprobten deus ex machina gleich, aus diesem Mißverstehensprozeß erlöst werden kann. Von welcher Seite auch die Inkongruenz gesehen wird, ist das der Handlung zugrundeliegende Kommunikationsmodell, oder in diesem Fall Mißkommunikationsmodell, ein kybernetisches, da zum einen auf die Prämissen und zentralen Begrifflichkeiten der Kybernetik, zum anderen auf George Birkhoffs Phasenmodell des ästhetischen Maßes angespielt wird.
D ISKURSIVITÄTSBEGRÜNDER : G EORGE B IRKHOFFS N ORBERT W IENERS K YBERNETIK
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Um diese textübergreifenden Spuren der historischen Anfänge der Kybernetik in den Blick zu nehmen, muß historisch ausgeholt werden. Wenn die meisten Studien den internationalen Aufstieg der Kybernetik in den späten 1940er Jahren beginnen lassen, wird übersehen, daß bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Debatten über den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik strukturell das verhandelt wurde, was zur Basis des kybernetischen Denkmusters wurde. 1865 führte der deutsche Physiker Rudolf Clausius den Begriff ›Entropie‹ in die zeitgenössischen Debatten über Wärmelehre ein. Man ging seinerzeit davon aus, daß es unmöglich sei, bei der Wärmeübertragung von einem kälteren
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zu einem wärmeren Medium Arbeit zu gewinnen. Clausius’ zweiter Hauptsatz der Thermodynamik besagte,11 daß Energie, sei sie im historischen Analyseobjekt Dampfmaschine oder in der Natur vorhanden, endlich ist; daß sie ferner beim Ausgleich von Temperaturdifferenzen irreversibel verloren gehe, somit »die thermischen Verluste auf der Welt und im Universum zunehmen würden, und daher in ferner Zukunft der Wärmetod unabwendbar sei.«12 Während der erste Hauptsatz der Thermodynamik die »Erhaltung der Kraft«13 propagierte und damit, wie Maria Osietzki plausibel kommentiert, der »Vorherrschaft eines leistungswilligen, bürgerlich-männlichen Kräfteideals« in die Hände spielte, traf die Aussage des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes einen wunden Punkt in zeitgenössischen Wissenschafts- und politischen Gesellschaftsdebatten.14 Denn irreversibler Kraftverlust widersprach dem (proto-)kapitalistischen Grundgedanken immerwährenden Fortschritts, in dessen Rahmen die Vorstellung einer Marginalisierung von Energie keinen Platz hatte. Mit seiner Endlichkeitsprognose traf der zweite Hauptsatz der Thermodynamik deshalb auf starken Widerspruch. Das nachhaltigste Gegenangebot zu diesen Erkenntnissen der Thermodynamik war das Gedankenexperiment des schottischen Physikers James Clerk Maxwell. 1871 stellte er ein epochemachendes Denkmodell vor:15 Ein mit Luft gefülltes Gefäß sei durch eine Trennwand mit einem winzigen Loch unterteilt. In diesem fiktiven Gefäß herrsche eine vorerst gleichbleibende Lufttemperatur. Die
11 Vgl. Clausius, Rudolf Julius Emmanuel: Ueber den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie, Braunschweig: Vieweg 1867; Müller, Ingo: »Entropy. A Subtle Concept in Thermodynamics«, in: Andreas Greven/Gerhard Keller/Gerald Warnecke (Hg.), Entropy, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2003, S. 19-36. 12 Osietzki, Maria: »›Energie‹ und ›Information‹. Denkmodelle einer thermodynamischen Konstruktion des Wissens«, in: Heike Franz et al. (Hg.), Wissensgesellschaft. Transformationen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag, Bielefeld: IWT 2001, S. 143-156, hier S. 150. Vgl. auch Smith, Crosbie: The Science of Energy. A Cultural History of Energy Physics in Victorian Britain, Chicago: University of Chicago Press 1998, S. 77-306. 13 Vgl. Helmholtz, Hermann von: Ueber die Erhaltung der Kraft. Eine physikalische Abhandlung [1847], Frankfurt a.M.: Deutsch 2011. 14 Vgl. Rabinbach, Anson: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien: Turia und Kant 2001. 15 Vgl. Leff, Harvey S./Rex, Andrew F. (Hg.): Maxwell’s Demon. Entropy, Information, Computing, Bristol: Hilger 1990.
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warmen und kalten Luftmoleküle sind in ständiger Bewegung, kalte Moleküle allerdings viel langsamer als warme. Vor das Loch der Trennwand würde nun ein ebenso winziges Wesen postiert, das die Bewegung der Luftteilchen zwischen beiden Gefäßhälften zu kontrollieren beauftragt sei. Es solle die heiße Luft, also schnelle Teilchen, von der kalten Luft, den langsamen Molekülen, trennen, ohne aber dabei selbst Energie zu verbrauchen. In der Gefäßhälfte mit langsamen Teilchen würde daraufhin die Temperatur sinken und der Temperaturunterschied Energieherstellung ermöglichen. Das bewachte Bewegungsspiel der schnellen und langsamen Luftmoleküle werde einem perpetuum mobile gleich immerzu fortgesetzt. Im Zentrum des Gedankenexperiments, das bis heute reine Fiktion geblieben ist und später als Maxwell’s Demon in die Geschichte einging, stand der kleine Türsteher, der »die Wärme sozusagen ›konzentrieren‹, sie von einem ausgeglichenen Niveau in eine Temperaturdifferenz überführen und damit die Konsequenzen des zweiten Hauptsatzes, also den Wärmetod, abwenden« sollte.16 Das Wesen hätte der Grundannahme zufolge in der Lage sein müssen, sich darüber zu informieren, ob ein Molekül schnell oder langsam ist. Und genau diese Idee erklärte die Attraktivität des Gedankenexperiments, weil sie nämlich »auf die Konstruktion eines menschlichen Vermögens [setzte], das sich durch die Verfügung über ›Information‹ charakterisierte.«17 Maxwells Dämon leitet zur Charakteristik kybernetischer Modelle über, die − unabhängig vom Inhalt −18 die Funk-
16 Osietzki, Maria: »›Energie‹ und ›Information‹. Denkmodelle einer thermodynamischen Konstruktion des Wissens«, in: Franz, Wissensgesellschaft (2001), S. 151. 17 Ebd., S. 153. 18 Warren McCulloch bildete beispielsweise die Funktionsweise von Synapsen im menschlichen Gehirn in Form von Diagrammen als maschinelle Schalteinheiten ab. Um die historische Sprengkraft des kybernetischen Ansatzes deutlich zu machen: Wiener ging Ende der 1940er Jahre sogar davon aus, die »modernen, hochentwickelten Rechenmaschinen verfügen über ein Gedächtnis, besitzen ein Assoziationsvermögen sowie die Fähigkeit, eine Wahl zu treffen, und viele andere Gehirnfunktionen.« Wiener, Norbert: »Kybernetik«, in: Norbert Wiener, Futurum Exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie, hg. von Bernhard Dotzler, Wien/New York: Springer 2002, S. 15-29, hier S. 15. Im Original: »Cybernetics«, in: Scientific American 179 (1948), S. 14-18.
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tionsweise der »Organisiertheit von Organisation«19 modellieren, mit dem Konzept der Information operieren und homöostatisch, d.h. auf ein dynamisches Gleichgewicht ausgerichtet sind. Die von äußeren Einflüssen herbeigeführte Unordnung wird innerhalb eines kybernetischen Systems durch seine Einzelteile immer wieder ausbalanciert, geordnet und selbstreguliert. Norbert Wiener führte den Begriff Cybernetics 1948 ein als Oberbegriff für die »Erforschung dessen, was im Zusammenhang mit dem Menschen manchmal etwas vage als Denken beschrieben wird und was auf technischem Gebiet als Steuerung und Kommunikation bekannt ist. Mit anderen Worten unternimmt die Kybernetik den Versuch«, so Wiener, »gemeinsame Elemente in der Funktionsweise automatischer Maschinen und des menschlichen Nervensystems aufzufinden und eine Theorie zu entwickeln, die den gesamten Bereich von Steuerung und Kommunikation in Maschinen und lebenden Organismen abdeckt.«20 Wiener arbeitete seit Anfang der 1940er Jahre mit Julian H. Bigelow in einem Forschungsprogramm am Massachusetts Institute of Technology zur Entwicklung von Flugabwehrsystemen. Wiener und Bigelow konstruierten komplexe Geräte, die beispielsweise den Kurvenverlauf eines gegnerischen Flugzeugs zu prognostizieren und selbständig eine Kette von Operationen zu kontrollieren vermochten, so wie der dämonische Wächter von Maxwell das Molekularsystem im Modell des Luftgefäßes regulieren sollte. Diesen Regulationsmechanismus, mittels dessen »die Differenz zwischen aktuellem Zustand und Sollzustand eines Systems wieder in dieses eingespeist wird«,21 bezeichneten sie als Rückkopplung. Wiener und Bigelow waren des weiteren der Auffassung, daß die militärische Aufgabenstellung nicht allein apparatetechnisch gelöst werden, sondern auch biofunktionell verstanden werden müßte. Nicht nur die Geräte arbeiteten rückkoppelnd, ihrer Ansicht nach unterlagen auch die »Willenshandlungen«22 ih-
19 Vogl, Joseph: »Regierung und Regelkreis. Historisches Vorspiel«, in: Claus Pias (Hg.), Cybernetics. The Macy-Conferences 1946-53, Bd. II, Zürich/Berlin: diaphanes 2004, S. 67-80, hier S. 67. Vgl. die aufschlußreiche Studie von Borck, Cornelius: Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie, Göttingen: Wallstein 2005, S. 263-312. 20 Wiener, Norbert: »Kybernetik«, in: Wiener: Futurum Exactum (2002), S. 15. 21 Pias, Claus: »Zeit der Kybernetik«, in: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA 1999, S. 427-431, hier S. 428. 22 Wiener, Norbert: »Kybernetik«, in: Wiener: Futurum Exactum (2002), S. 17.
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rer Nutzer, genaugenommen: das neuronale System der Piloten, diesem Prinzip.23 Angesichts dieser maschinelle und menschliche Prozesse analogisierenden Grundannahme wird verständlich, worin unter anderem das große Interesse an der wissenschaftstheoretischen und -praktischen Begründung der Kybernetik bestand. Sie bot ein »Modell für soziale, ökonomische oder politische Steuerungsoder Interventionsweisen [an], d.h. für machines à gouverner, die den veränderten Anforderungen des Regierens nach 1945 gerecht zu werden in Aussicht stellten.«24 Und ihre Zukunft zeigte, daß die Kybernetik in das Planungs- und Ordnungsdenken sehr unterschiedlicher Regierungsvorstellungen – über ideologische Grenzen hinweg – eingepaßt werden konnte,25 da sie versprach, die Komplexität gesellschaftlicher Vorgänge beherrsch- und steuerbar zu machen.26 abenteuer im weltraum sind diese diskursiven Ausgangspunkte kybernetischen Wissens in mehrfacher Hinsicht eingeschrieben. Intertextuell wird sowohl auf zentrale Axiome angespielt als auch auf Konzepte wichtiger Vorläufer der
23 Vgl. Bigelow, Julian H./Rosenblueth, Arturo/Wiener, Norbert: »Behaviour, Purpose and Teleology«, in: Philosophy of Science 10 (1943), S. 18-24; vgl. Ashby, William Ross: Design for a Brain, London: Chapman & Hall 1952. 24 Pias, Claus: »Zeit der Kybernetik. Eine Einstimmung«, in: Pias, Cybernetics, Bd.2 (2004), S. 9-41, hier S. 10. 25 Vgl. Klaus, Georg: »Der Plan als kybernetische Kategorie«, in: Georg Klaus, Kybernetik und Gesellschaft, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 31973, S. 266279. Die Kybernetik ist demnach auch für die Erforschung eines politischen Planungsund Steuerungsbewußtseins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von großem Interesse. Daß sie ideologisch blind war, ist damit zu erklären, daß das social engineering selbst ein ideologisches Konzept ist. Planung ist, wie Doering-Manteuffel feststellt, »ein in sich selbst ideologisch grundiertes Element bürokratischen Handelns von Experten, und infolge dieser Eigenart unterläuft sie die von den politischen Ideologien her geprägten Gegensätze des 20. Jahrhunderts. Planung ist im Westen und Osten, im Faschismus und Kommunismus gleichermaßen ein Konstitutivum für die Kontrolle und Beherrschung von Komplexität. Deshalb begleitet sie nach dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung in allen Ländern der industriellen Ersten und Zweiten Welt und wird von hier aus in die Dritte Welt exportiert.« Doering-Manteuffel, Anselm: »Ordnung jenseits der politischen Systeme. Planung im 20. Jahrhundert«, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), H. 3, S. 398-406, hier S. 403. 26 Vgl. Etzemüller, Thomas (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2009.
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Informationsästhetik verwiesen. Zunächst ruft die formale Anlage des Textes die Prämissen der kybernetischen Denkfigur auf. Die im Sketch dargestellte Kommunikationssituation zwischen dem Raumfahrer Franz Xaver, Oswald Wiener und Gerhard Rühm gleicht einem einfach schematisierten, informationellen System.27 Ein solches Kommunikationsschema »beschreibt das modell der (sprachlichen) zeichenvermittlung zwischen einem sender und einem empfänger (expedient und perzipient) über einen kommunikationskanal, der störungsanfällig sein kann«, definierte Max Bense in seiner kleinen abstrakten ästhetik aus dem Jahre 1969. »[D]amit eine vermittlung im sinne der konventionalisierbaren verständigung zustande kommt, müssen die zeichenrepertoires des senders und des empfängers in gewissem umfang übereinstimmen, also dieselben zeichen besitzen. vor eintritt der vom sender (expedient) gegebenen zeichen in den kommunikationskanal müssen sie in geeigneter, d.h. den transportmöglichkeiten des kanals angepasster weise transformiert bzw. kodiert werden, um vor eintritt in den empfänger (perzipient) wieder rückübersetzt, dekodiert zu werden.«28
Benses Erläuterung schließt sich ein Diagramm an, das die unidirektionale Funktionsweise eines solchen Kommunikationsschemas vom Sender zum Empfänger abbildet: Abbildung 1: Kommunikationsschema
Bense, Max: kleine abstrakte ästhetik, Stuttgart: Ed. rot 1969, unpaginiert. 27 Vgl. Moles, Abraham A.: Théorie de l’information et perception esthétique, Paris: Flammarion 1958; Meyer-Eppler, Werner: Grundlagen und Anwendungen der Informationstheorie, Berlin: Springer 1959. 28 Bense, Max: kleine abstrakte ästhetik, Stuttgart: Ed Rot 1969, unpaginiert.
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Verstärkt durch die Richtungsangabe der Pfeile bildet dieses Prozeßschema den Übertragungsvorgang von Zeichen ab, die vom Sender über einen Kommunikationskanal, möglichst störungsfrei, als Signal verschickt und vom Empfänger dekodiert werden. Wie in diesem ikonisierten Plan geht es auf Franz Xavers Expedition in abenteuer im weltraum nur in eine Richtung. Der Text führt auf diese Weise das Scheitern von Kommunikation vor, das Mißverständnis des Raumfahrers aufgrund ebendieser unidirektionalen Ausrichtung eines Signalübertragungsvorgangs. Franz Xaver behandelt Oswald Wiener wie einen Analysegegenstand und er leitet die empfangenen Informationen, in einem möglichst objektiv anmutenden Vokabular verfaßt, als Nachricht durch das Ofenrohr an die Erde weiter. Mit der Erde scheint Franz Xaver störungsfrei kommunizieren zu können. Doch das informationssystemische Gleichgewicht wird in abenteuer im weltraum gestört. Diese Störung wird nicht von außen herbeigeführt, denn verstanden werden die Zeichen auch von der ihm gegenüberstehenden Figur Oswald Wiener, sondern dadurch, daß die Figur Wiener wiederum selbst eine Information benötigt. Das Erfragen der Uhrzeit macht auf eine symbolische Leerstelle aufmerksam, die im einfachen nachrichtentheoretischen Diagramm durch Pfeile, die Expedient und Perzipient beidseitig verbinden, abgebildet wäre. Franz Xaver scheitert laut dem von Max Bense sprachlich und grafisch erläuterten Schema an der Polydirektionalität von Kommunikation. Der Raumfahrer scheint Oswald Wiener nicht zu verstehen aufgrund der informationstheoretischen Unterscheidung von Signalen und Zeichen in kommunikativen Prozessen, die der Sketch sprachlich darstellt: »›Signale‹ sind physische Substrate der Weltobjekte, ›Zeichen‹ jedoch phänomenale Substrate des Bewusstseins.«29 Der Raumfahrer kann zwar die Substanz, Form und Töne des ›Objekts Wiener‹ aufnehmen und vermessen. Da er ihm jedoch ein Bewußtsein abspricht, haben Wieners Sprachzeichen innerhalb der fiktiven Welt nur den Status eines wahrnehmbaren Signals für den Astronauten. abenteuer im weltraum thematisiert insofern auch die für die Kybernetik typische Bewußtseins- und Funktionsanalogie zwischen Mensch und Maschine, die sich auch im Untertitel zu Norbert Wieners paradigmatischer Studie Control and Communication in the Animal and the Machine (1948) ausdrückt. Die Kybernetik hob die Differenz zwischen Mechanismus und Organismus auf, indem
29 Bense, Max: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Grundlegung und Anwendung in der Texttheorie, Reinbek: Rowohlt 1969, S. 10.
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sie der Theorie nach keinen Unterschied machte, ob Information zwischen einem mechanischen oder lebendigen Objekt wie Subjekt ausgetauscht wird. Die Aufhebung dieser für die westliche Philosophie zentralen Unterscheidung äußert sich in den Monologen des Raumfahrers. Er vermutet schließlich, es handele sich bei Oswald Wiener um eine Lebensform »in verbindung mit einer konstruktion«. Er erklärt das unbekannte Objekt in anderen Worten zum Hybriden aus Mensch und Maschine: zum Cyborg. Noch bevor sich Kybernetik in das heute allenthalben präsente Präfix Cyber verwandelte, bevor Max Bense erklärte, daß jede »ästhetische Realisation den Charakter einer Nachricht, einer Botschaft, einer Information, nicht den Charakter einer neuen Wesenheit oder Substanz besitzt und dem Schema der Kommunikation, der Vermittlung unterliegt«30, und vor Norbert Wieners Untersuchungen schrieb sich ein anderer Wissenschaftler in das Archiv der Kybernetik ein. Die Pionierarbeit leistete der US-amerikanische Mathematiker George David Birkhoff, der bereits 1933 eine Rechenformel für das aesthetic measure aufgestellt hatte. Birkhoffs frühe Studie verfolgte die ambitionierte Absicht »to determine, within each class of aesthetic objects, those specific attributes upon which the aesthetic value depends«.31 Einer naturwissenschaftlichen Systematisierung wegen unterteilte Birkhoff die Erfahrung eines ästhetischen Objekts in einen dreifachen Phasenkomplex. Zur sinnlichen Erfassung eines Kunstwerks sei erstens »a preliminary effort of attention«, eine primäre Anstrengung erforderlich, »which increases in proportion to what we shall call the complexity (C) of the object«.32 Komplexität ist in Birkhoffs Modell eine numerisch bestimmbare Eigenschaft eines Objekts, welche die Gesamtheit der Merkmale umfaßt, die der Perzipient wahrnimmt. Die Aufmerksamkeitsleistung des Perzipienten werde im zweiten Schritt durch das »feeling of value or aesthetic measure« belohnt.33 Der Kommunikationsprozeß zwischen Betrachter und ästhetischem Objekt würde sich emotional aufladen, indem unterschiedliche Merkmale des Kunstwerks im Betrachter Empfindungen und mit diesen Empfindungen assoziierte Vorstellun-
30 Bense, Max: Ungehorsam der Ideen. Abschließender Traktat über Intelligenz und technische Welt, Köln: Kiepenheuer & Witsch 21966, S. 47. 31 Birkhoff, George D.: Aesthetic Measure, Cambridge: Harvard University Press 1933, S. 3. 32 Ebd. (Herv. i. O.). 33 Ebd.
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gen wachrufen könnten, die nach Erkenntnissen assoziationspsychologischer Studien auf die Kunstwahrnehmung zurückwirkten: »These sensations, together with the associated ideas and their attendant feelings, constitute the full perception of the object. It is in these associations rather than in the sensations themselves that we shall find the determining aesthetic factor. In many cases of aesthetic perception there is more or less complete identification of the percipient with the aesthetic object. This feeling of ›empathy‹, whose importance has been stressed by the psychologist Lipps, contributes to the enhancement of the aesthetic effect.«34
Ob ästhetische Erscheinung erfahrungsbedingt positive Assoziationen und damit verbundene Ideen im Perzipienten evozierten, sei demnach relevant für den Erfahrungs- und Bewertungsvorgang von Kunst. Ästhetisches Gefallen kompensiere allerdings die Anstrengung der Komplexität.35 In der dritten Phase realisiert der Betrachter Birkhoffs Ausführungen zufolge eine spezifische Anordnung von Harmonien, seien es Reime und Assonanzen in einem Gedicht oder die Symmetrien von Polygonformen, und damit die Ordnung des Kunstobjekts. Aus dem Ablauf dieses Phasenmodells leitete Birkhoff die Formel für das ästhetische Maß M ab, das sich aus der Division von order (O) durch complexity (C) ergibt:36 M = O : C.
34 Ebd., S. 6. 35 Birkhoff führte zur Überprüfung seiner Thesen über die Komplexitäts- und Ordnungswahrnehmung statistische Befragungen von Versuchspersonen (zumeist Studenten) durch, aus denen er z.B. auf die Präferenz von Rezipienten für Symmetrien in Polygon- und Gedichtformen Rückschlüsse zog. 36 Birkhoff klassifizierte ästhetische Objekte anhand dieses Maßes. »Nach dieser Formel wäre ein ästhetisches Objekt das schönste innerhalb seiner Klasse, wenn es ein möglichst großes Ordnungsmaß bei möglichst kleiner Komplexität besitzt.« Gunzenhäuser, Rul: Maß und Information als ästhetische Kategorien, Baden-Baden: Agis 2
1975, S. 26. Auf die Problematik einer Ermittlung von Ordnung und Komplexität
wird an späterer Stelle eingegangen. Vorerst sei darauf hingewiesen, daß Birkhoffs Unternehmung zur formalisierten Analyse des ästhetischen Maßes einem ahistorischen Verständnis von literatur- und kunstgeschichtlichen Entwicklungen aufsitzt.
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Der Handlungsverlauf des vorliegenden Texts abenteuer im weltraum läßt sich strukturhomolog zu Birkhoffs Phasenmodell lesen.37 Nachdem Wiener den Raumfahrer höflich gegrüßt hat, ist Franz Xavers investigativer Tatendrang geweckt: »ich werde (ernst, verhalten) eine darstellung, ich meine, den versuch einer wiederholung, auf lautlicher ebene versuchen. (oswald wiener steht erstaunt vor dem raumfahrer) der raumfahrer (mit grösster anstrengung, wobei er sich blau verfärbt, seine adern treten hervor): guten tag. erdmeldung: wir bitten um weitere informationen!«38
Nachdem der Raumfahrer Wieners Erfragen der Uhrzeit mit dem Mikrofon eingefangen und die Erfolgsbestätigung von der Erde erhalten hat, heißt es weiter: »wiener (beugt sich vor): verzeihung, bitte, wie spät ist es? der raumfahrer (zittert): hallo hier franz xaver, hallo hier franz xaver! (etc.)
37 Strukturelle Isomorphie liegt (interessanterweise in Hinblick auf die im folgenden beschriebenen Selbstinszenierungs- und Kontextualisierungsstrategien) auch in Oswald Wieners Beschreibung des verlorengegangenen coolen manifests vor. Dieser programmatische Text von 1954 wurde von allen Gruppenmitgliedern und anderen Künstlern unterschrieben und war in Wieners Erinnerung folgenden Inhalts: »Postuliert werden drei Stufen der Wahrnehmung (wie ich heute in didaktischer Absicht formuliere). Auf der ersten sortiere der Körper die ihn erreichenden Energiemodulationen und offeriere, wem?, dem Bewußtsein (sich selbst) Gestalten. In dieser Phase sind alle Emotionen zu unterdrücken; wo das nicht möglich ist, sind sie als Unbotmäßigkeiten zu ignorieren. Auf der zweiten Stufe konstruiere das Bewußtsein (möglichst viele) verschiedene Lagen durch (a) Dekomposition der Gestalten auf möglichst verschiedene Weisen und (b) Umordnung der Komponenten zu neuen Beziehungen. Auf der dritten betrachtet, wer?, man (der Körper) diese Lagen (Beziehungsgefüge) und trifft eine Auswahl, falls (wie zu erwarten) der gegebenen Kapazität eine vollständige Superposition nicht gelingt. Erst jetzt setze man Emotion hinzu und gestatte sich, wenn auch befristet, Identifikation mit der ausgewählten Interpretation.« Wiener, Oswald: »Bemerkungen zu einigen Tendenzen der ›Wiener Gruppe‹«, in: Kunsthalle Wien, Die Wiener Gruppe (1998), S. 20-28, hier S. 25. 38 SW 1996, S. 116.
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wiener (schüttelt den kopf. er beugt sich über den arm des raumfahrers. er versucht den ärmel des raumfahrers zurückzuschieben. es ist nicht einfach. es dauert. zu dieser manipulation verwendet oswald wiener zwei hände. sehr ruhig. sehr sachlich): verzeihung. raumfahrer: hier franz xaver. mein körper ist von fremdmasse umschlossen. fremdenergie wirkt auf mich ein. ich vermute saugnäpfe. das gewächs.«39
Von Interesse ist in dieser Textpassage nicht nur die Verwendung des kybernetischen Schlüsselbegriffs ›Information‹. Die Figur Franz Xaver betrachtet den objektivierten Wiener, um akribisch alle seine wahrnehmbaren Merkmale zu erfassen und mit größter, sogar am Gesicht ablesbarer Anstrengung (blaue Verfärbung, hervortretende Adern) in direkte sinnliche Verbindung zu ihm zu treten. Hiernach schließt sich das an, was Birkhoff als emotionale Phase bezeichnete, nur mit dem Unterschied, daß sich die Reaktion des Raumfahrers nicht in ästhetischem Gefallen, sondern bis zur körperlichen Erstarrung steigernder Panik ausdrückt, als sich ihm Oswald Wiener nähert. Zu guter Letzt erfaßt der Astronaut die Ordnung des Objekts. Das fremdenergetische Objekt »wirkt auf [ihn] ein«. Er setzt seinen eigenen Körper als »von Fremdmasse umschlossen« in Relation zum anderen Körper. Dergestalt durchläuft abenteuer im weltraum alle drei Phasen, aus denen Birkhoffs mathematischer Entwurf der sinnlichen Erfassung eines Kunstwerks besteht.
L ITERARISCHER R EGELKREIS ? D IE W IENER G RUPPE ALS LITERARISCHE G RUPPE Daß sich laut Textvorlage zwei der drei Figuren in abenteuer im weltraum, die zugleich Mitglieder der Autorengruppe waren, in der Aufführungssituation selbst spielen sollten, ist bislang außer acht gelassen worden. Dabei drängt sich die Frage auf, ob der Text nicht auch metareflexiv Handlungs- und Kommunikationsweisen im Autorenkollektiv verhandelt, ob, anders gewendet, die illusionsbrechende Namensgebung im Sketch abenteuer im weltraum nicht nur der Sichtbarwerdung von ästhetischer Konstruiertheit dient, sondern auch einem Verweis darauf, daß in der Aufführungssituation der Mikrokosmos der Wiener Gruppe auf die Bühne gebracht wurde. Im Folgenden tritt deshalb der Themenkomplex
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Kybernetik in den Hintergrund zugunsten einer Nahansicht des ›Systems Wiener Gruppe‹. Den Erinnerungen von Gerhard Rühm und Konrad Bayer zufolge begann alles 1951.40 Das damals auf Initiative des Art-Club-Vorsitzenden Albert Paris Gütersloh eröffnete Vereinslokal der strohkoffer entwickelte sich zu einem öffentlichen Treffpunkt kulturellen Austauschs, an dem sich Kunstschaffende zusammenfanden, wo Lesungen und Konzerte abgehalten wurden, über Kunst diskutiert und gefeiert wurde. »der gesellig exklusive ›strohkoffer‹«, erinnert sich Rühm, »zog – nicht zuletzt durch einige turbulente feste – neue besucher an, fast ausschließlich jugendliche.«41 Konrad Bayer, der soeben die Matura abgeschlossen hatte und kurz davor stand, auf väterlichen Rat eine Bankkaufmannslehre zu beginnen, obwohl er an der Akademie der bildenden Künste studieren wollte, war Stammgast im Art-Club und lernte Hans Carl Artmann kennen. Artmann hatte sich innerhalb dieses Soziotops bereits einen Namen gemacht, weil er »wichtige Arbeiten zu der Zeit noch unübersetzter fremdsprachiger Literaturen [las,] informative Übersetzungen an[fertigte]« und darüber Lesungen hielt.42 1952 lernte Bayer in einer Musikband Oswald Wiener kennen und über Artmann machte er mit dem an der modernen Avantgarde interessierten Gerhard Rühm Bekanntschaft. Bayer kündigte seine Stelle in der Bank. Man traf sich fortan täglich. 1955/56 gesellte sich schließlich der Architekt Friedrich Achleitner dazu. Die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen für die Entstehung dieses kleinen Freundes- und Arbeitskreises im literarischen Feld sind gut erforscht.43
40 Rühm, Gerhard: »vorwort«, in: Gerhard Rühm (Hg.), Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Erweiterte Neuausgabe, Reinbek: Rowohlt 1985, S. 7-36; Rühm, Gerhard: »das phänomen ›wiener gruppe‹ im wien der fünfziger und sechziger jahre«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 16-29; Bayer, Konrad: »die wiener gruppe«, in: ebd., S. 30 (zuerst abgedruckt in: Times Literary Supplement vom 3. September 1964); Bayer, Konrad: »hans carl artmann und die wiener dichtergruppe«, in: ebd., S. 32-39 (zuerst abgedruckt in: werkstatt aspekt 1 [1964], S. 13-18). 41 Rühm, Gerhard: »vorwort«, in: Rühm, Die Wiener Gruppe (1985), S. 8. 42 Chotjewitz, Peter O.: »Der neue selbstkolorierte Dichter«, in: Gerald Bisinger (Hg.), Über H. C. Artmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 13-31, hier S. 17f. 43 Vgl. Vocelka, Karl: Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, Graz: Styria 2000, S. 286-336; Kramer, Helmut/Liebhart, Karin/Stadler, Friedrich (Hg.): Ös-
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Der von vielen subkulturellen Künstlern und unter anderem von »Rühm attackierte Provinzialismus und Konservativismus im Kulturleben Österreichs beruht auf einer politisch-gesellschaftlichen Konstellation, die nach Ende des 2. Weltkrieges in erster Linie restaurativen Kräften Raum gab«,44 resümieren Ernst Fischer und Georg Jäger. Nährboden für die restaurativen Kräfte in weiten Teilen der österreichischen Gesellschaft bot, daß die Alliierten Österreich offiziell als Opfer der nationalsozialistischen »Anschluß«-Politik ab 1938 anerkannten. In der Moskauer Erklärung von 1943 war zwar von einer Mitverantwortung Österreichs am Nationalsozialismus die Rede, dennoch begünstigte der erste Teil der Deklaration, die Darstellung Österreichs als Opfer der NS-Angriffspolitik, eine nationale Identitätssuche, die bis in die 1970er Jahre eine kritische Auseinandersetzung mit dem österreichischen Nationalsozialismus umging. Von hoher stabilisierender Kraft war das Geschichtsnarrativ der Opfernation, das den Gründungsmythos für das Selbstverständnis der Zweiten Republik darstellte. Auf dieser geschichtsnarrativen Grundlage wurden nicht nur politische und verfassungsrechtliche Entscheidungen getroffen (oder unterlassen). Die Stabilität einer Erinnerungskultur, die Österreich als Opfernation verstand, drückte sich darin aus, daß eine breite gesellschaftliche Aufarbeitung der Mitverantwortung am Zweiten Weltkrieg und der Shoa nicht erfolgten und erst in der intensiven Debatte um die »Causa Waldheim« im Präsidentschaftswahlkampf 1986 aufs medienöffentliche Tapet gebracht wurden.45 Die österreichische Nachkriegszeit ist wie die deutsche dadurch geprägt, daß Personen des öffentlichen Lebens in Führungs- und Entscheidungspositionen, die eine nationalsozialistische Vorgeschichte hatten, rehabilitiert wurden und mentalitätsgeschichtlich nahtlos an die Zeit vor 1938 angeknüpft wurde.46 Der Konservativismus in der österreichischen Literatur, der sich
terreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand. In memoriam Felix Kreissler, Wien: Lit 2006. 44 Fischer, Ernst/Jäger, Georg: »Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus. Problemfelder zur Erforschung der Wiener Avantgarde zwischen 1950 und 1970«, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, Teil 1, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1989, S. 617-683, hier S. 618. 45 Vgl. Göllner, Siegfried: Die politischen Diskurse zu »Entnazifizierung«, »Causa Waldheim« und »EU-Sanktionen«, Hamburg: Kovac 2009. 46 Vgl. Klösch, Christian: Des Führers heimliche Vasallen. Die Putschisten des Juli 1934 im Kärntner Lavanttal. Wien: Czernin 2007.
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sowohl in Schreibweisen als auch in Mechanismen im Literaturbetrieb aufzeigen läßt, reicht indes historisch zurück in die Zeit des Austrofaschismus. Schon »die ausgehenden 40er Jahre waren gekennzeichnet von der Restauration einer traditionalistischen Literaturauffassung, die sich am rückblickend verklärten Altösterreichertum der k.u.k.-Zeit oder an der bereits im Ständestaat obrigkeitlicherseits verordneten ›Österreich-Ideologie‹ sowie an den stilkonservativen Schreibweisen der Zwischenkriegszeit orientierte. […] Hinzuzufügen ist«, so erneut Fischer und Jäger, »daß eine Rezeption der im Exil entstandenen Literatur kaum erfolgte; ohnedies ist für das Emigrationsschrifttum (wie übrigens auch jenes der Inneren Emigration) die Rückwendung zu älteren, von der Tradition beglaubigten Stilidealen charakteristisch gewesen, so daß auch die Rückkehr einzelner Autoren wenig an dem im Zeichen einer obsoleten Kunstauffassung stagnierenden literarischen Leben änderte.«47 Obwohl eine »Programmatik der Erneuerung […] rasch von Stimmen wie denen Doderers und Lernet-Holenias übertönt« wurde, sollten Beispiele von durchaus verfolgten Erneuerungsansätzen nicht ungenannt bleiben.48 Bis 1949 bemühte sich zum einen der kommunistische Wiener Stadtrat für Kultur und Volksbildung Viktor Matejka um eine Politik, die sich um die Rückkehr von Emigranten und die Wiederentdeckung marginalisierter Literatur bemühte.49 Zum anderen trat mit Otto Basils Zeitschrift Plan ab 1945 ein wirkmächtiges Organ für Diversifizierung und Neuorientierung in der österreichischen Literatur auf den Plan. Die Beispiele für solche Bestrebungen fallen deshalb so mager aus, weil die österreichische Literaturgeschichte seit den 1970er Jahren einer problematischen rezeptionsgeschichtlichen Festschreibung unterliegt: »Mit den immer gleichen Zitaten und dem Bezug auf die Berichte einiger weniger Zeitgenossen haben sich im Laufe der Jahre zwangsläufig literarhistorische Klischees verfestigt. Gerade in der Wahrnehmung der fünfziger Jahre scheinen die Definitionen, was als fort-
47 Fischer, Ernst/Jäger, Georg: »Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus. Problemfelder zur Erforschung der Wiener Avantgarde zwischen 1950 und 1970«, in: Zeman, Die österreichische Literatur (1989), S. 619f. 48 Scheichl, Sigurd Paul: »Weder Kahlschlag noch Stunde Null. Besonderheiten des Voraussetzungssystems der Literatur in Österreich zwischen 1945 und 1966«, in: Schöne, Kontroversen, alte und neue (1985), S. 41. 49 Vgl. Reiter, Franz Richard (Hg.): Wer war Viktor Matejka? Dokumente, Berichte, Analysen, Wien: Ephelant 1994.
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schrittlich und damit für den literaturhistorischen Prozeß relevant gilt, recht eindeutig festgelegt.«50
Die Aufgabe der Forschung besteht deshalb weiterhin darin, die kanonische Rezeption österreichischer Nachkriegsliteratur als eine in die sprachexperimentelle und formal konservative Linie unterteilte Schablone nicht zu reproduzieren. Korrekturbedürftig und diskutabel erscheint darüber hinaus, wie die Wiener Gruppenmitglieder selbst die zeitgenössische Bedeutung Wiens auslegten. Der Lebensalltag von Nonkonformisten, die wie die Gruppenmitglieder nicht der offiziösen Literaturdoktrin entsprachen und sich (kultur-)politisch aktiv in Szene setzten,51 brachte Unannehmlichkeiten mit sich. Eine Konsequenz aus der gewollten Außenseiterposition war ökonomischer Natur. Im subkulturellen Umfeld der Wiener Gruppe konnten viele Künstler von ihrer Kunst nicht leben, weil beispielsweise ihre Texte in Österreich nicht veröffentlicht wurden. Sodann ereilte die Wiener Gruppenmitglieder das bekannte Schicksal progressiver Künstler, die erst im nachhinein, oft posthum, zu Reputation gelangen. Wenngleich sich dieses »Umfeld abweichender künstlerischer Ausdrucksformen«52 als Bohème53 ver-
50 Polt-Heinzl, Evelyne/Strigl, Daniela: »Einleitung«, in: Evelyne Polt-Heinzl/Daniela Strigl (Hg.), Im Keller. Der Untergrund des literarischen Aufbruchs nach 1945, Wien: Sonderzahl 2006, S. 7. 51 Artmann verfaßte am 17. Mai 1955 vor dem Hintergrund der Debatten zur Wiederbewaffnung Österreichs ein Pamphlet, das von 25 Künstlern und Künstlerinnen unterschrieben wurde. Darin heißt es: »wir protestieren mit allem nachdruck/gegen das makabre kasperltheater/welches bei wiedereinführung einer/wie auch immer gearteten wehrmacht/auf österreichischem boden/zur aufführung gelangen würde…//wir alle haben noch genug/vom letzten mal-/diesmal sei es ohne uns! […]«. Bayer, Konrad: »hans carl artmann und die wiener dichtergruppe«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 37. Mit Transparenten gingen einige wenige der Signateure auf die Straße. 52 Kastberger, Klaus: »Wien 50/60. Eine Art einzige österreichische Avantgarde«, in: Thomas Eder/Klaus Kastberger (Hg.), Schluß mit dem Abendland! Der lange Atem der österreichischen Avantgarde, Wien: Zsolnay 2000, S. 4-26, hier S. 11. Kastberger nennt René Altmann, Marc Adrian, Hertha Kräftner, Ernst Kein und Elfriede SkorpilSamset als Einflußgrößen für die Wiener Gruppe, zumindest wichtige Akteure im zeitgenössischen literarischen Feld. 53 Vgl. Kinne, Irene Marianne: »Zwischen Tradition und Avantgarde. Die österreichische Literaturszene seit 1945«, in: Imprint 2 (1978), S. 7-11.
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stand, die in der sie umgebenden Hegemonialgesellschaft benachteiligt war, sollte nicht unterschlagen werden, daß sie in einem spezifischen Wiener Milieu durchaus Gehör und Anerkennung fanden; sogar so viel, daß der anscheinend interne Art-Club-Kreis im strohkoffer 1952/53 Mühe hatte, »uns vor unerwünschte[m] zustrom zu schützen. als es unerträglich wurde, übersiedelte der artclub schliesslich in das wesentlich stillere domcafé in der singerstrasse, dessen besitzer die obere etage für ausstellungen und veranstaltungen zur verfügung stellte.«54
Wer sich vor unerwünschtem Zustrom schützen muß, verfolgt ein nach spezifischen Kriterien aus- und abgrenzendes Programm. Auch die Enklave übte Exklusionsmacht aus. Untersucht werden muß demnach, wie die Wiener Gruppe ihre Fremdheit aufrechtzuerhalten bestrebt war. Unter literatursoziologischen Gesichtspunkten bot das Laboratorium Wien ausreichend soziales Kapital. Daß sich die Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Ausrichtungen – Bayer war beispielsweise mit den Malern Friedensreich Hundertwasser, Arnulf Rainer, Ernst Fuchs, dem Bildhauer Marc Adrian, den Musikern Gerhard Lampersberg und Peter Greenham,55 den Filmemachern Ferry Radax und Peter Kubelka und dem Galeristen Kurt Kalb befreundet – in Cafés trafen und diskutierten, »wirkte sich fruchtbar aus und war für unseren wiener kreis spezifisch.«56 Fruchtbar waren die Zusammenkünfte, welche die gemeinsame Rezeption verschiedener Kunstströmungen beförderten, nicht allein hinsichtlich kreativer Anregungen. Die Bedeutsamkeit des Kaffeehauses in der (bürgerlichen) Kulturgeschichte Wiens läßt sich an der Omnipräsenz dieses Schauplatzes in den Werken namhafter österreichischer Autoren wie Heimito von Doderer oder Karl Kraus ablesen,57 die lebenswirkliche Kaffeehausgeselligkeit war dem Aufbau eines Netzwerks förderlich, das den Wiener Gruppenmit-
54 Ebd. 55 Greenham stellte auch die Verbindung zu Times Literary Supplement für Konrad Bayer her. 56 Rühm, Gerhard: »vorwort«, in: Rühm, Die Wiener Gruppe (1985), S. 17. 57 Vgl. Portenkirchner, Andrea: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt. Das literarische Kaffeehaus in Wien 1890-1950«, in: Michael Rössner (Hg.), Literarische Kaffeehäuser, Kaffeehausliteraten, Wien: Böhlau 1999, S. 31-65; Hubmann, Franz: Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien: Brandstätter 1982.
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gliedern dabei half, mit den inländischen Publikationsschwierigkeiten bestmöglich umzugehen.58 In den von Andreas Okopenko herausgegebenen publikationen einer wiener gruppe junger autoren wurden Texte von Bayer abgedruckt. Die Zeitschrift Neue Wege veröffentlichte 1957 mehrere Beiträge von Artmann, Rühm und Bayer. Bis 1964 entstanden zahlreiche Kollektivschriften, die in Zeitschriften (wie manuskripte) oder Anthologien untergebracht werden konnten. Konrad Bayer arbeitete 1960 redaktionell an dem Literatur- und Kunstmagazin Eröffnungen59 mit und übernahm 1961 die Redaktion der Zeitschrift edition 62, die von seinem Freund Lampersberg finanziert wurde. Das Projekt wurde allerdings nach nur zwei erschienenen Ausgaben beendet. Das Netzwerk der Wiener Bohème funktionierte auch über Landesgrenzen hinweg und ermöglichte internationale Begegnungen. »Als Jean Cocteau in Wien weilte«, heißt es 1955 in einem Zeitungsartikel über die »Wiener Existentialisten«, »versäumte er es nicht, den Jüngern seiner Kunst einen kurzen Besuch abzustatten. […] Der Barkeeper des ›[Stroh]Koffers‹ erzählte gerne allen, die es wissen wollten, daß hier einst auch Orson Welles und Graham Greene verkehrten.«60 Kontakte ins Ausland erhöhten die Publikationschancen. Konrad Bayer fand in Deutschland einen Verleger für seine erste selbständige Publikation, veröffentlichte 1960 in dem von Franz Mon herausgegebenen Band movens und wurde beispielsweise in der Zeit besprochen. Artmann und Rühm standen seit 1956 in Verbindung mit Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, die sich wiederum stark am deutschen Literaturbetrieb orientierten und dort verlegt wurden.61
58 Es gab von unterschiedlichen Seiten immer wieder Versuche, die Texte der Gruppenmitglieder in Publikationen unterzubringen; mal waren sie erfolgreich, mal nicht. An dieser Stelle wird meistens die Anekdote eines Mitarbeiters »der offiziösen kulturzeitschrift ›neue wege‹« reproduziert, der »die abwesenheit eines leitenden herrn dazu [nutzte], gedichte von rühm und jandl einzuschmuggeln; er muss die mitarbeit einstellen.« Rühm, Gerhard/Wiener, Oswald: »berlin, 17.9.1970«, in: Kunsthalle Wien, Die Wiener Gruppe (1998), S. 31. 59 Vgl. Kulterer, Hubert Fabian (Hg.), Eröffnungen, Wien: Kulterer 1960ff. 60 Z.-F.: »Wiener Existenzialisten flüchten ins ›Exil‹«, in: die presse vom 22.01.1955 (abgedruckt in: Weibel, die wiener gruppe [1997], S. 22. Herv. i. O.). 61 Zu diesem angespannten Verhältnis vgl. Pfoser-Schewig, Kristina: »›… keine Figur in einem gemeinsamen Spiel‹. Ernst Jandl und die ›Wiener Gruppe‹«, in: Walter-Buch-
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Rühm und Achleitner veröffentlichten in Ulm ihre konstellationen. Enger Kontakt bestand ebenso zu internationalen Konkreten Poeten und Poetinnen. Und wie bereits erwähnt, las Konrad Bayer zweimal vor der Gruppe 47. Das Wiener Schriftsteller- und Künstlermilieu erweiterte kurzum den Aktions- wie Wirkungsradius und war den Mitgliedern der Wiener Gruppe durchaus von individuellem Vorteil. Es deutet sich hier die laut Uwe Baur mittlerweile zum Gemeinplatz gewordene, aber nicht unumstrittene These an, »daß die österreichische Literatur als deutschsprachige weitgehend vom literarischen Leben Deutschlands, von dessen Verlegern, Kritikern, Germanisten […] und Lesern abhängig ist und daß diese Institutionen daher prägenden Einfluß haben«.62 Der deutsche hatte zwar prägenden Einfluß auf den österreichischen Literaturbetrieb, dennoch darf die Eigenlogik des nationalliterarischen Feldes, in dem sich die historischen Akteure bewegten, nicht aus dem Blick geraten. Zum einen war es schließlich nicht das bundesrepublikanische, sondern primär österreichische Publikum, das den Resonanzraum für die veröffentlichten Schriften oder provokativen Aktionen der Wiener Gruppe darstellte. Zum anderen standen die Wiener Gruppenmitglieder zuerst österreichischen Kritikern, Verlegern und Rezensenten gegenüber, die der Doktrin eines konservativen Einheitsmythos mehrheitlich in ihren Bewertungen folgten, zumindest unkonventionellen Äußerungsformen in der Kunst skeptisch gegenüberstanden und sich während der Zweiten Republik vom deutschen Kulturbetrieb abwandten. »Literatur aus Deutschland wurde noch in den späten fünfziger Jahren in ›Wort in der Zeit‹ wenig rezipiert, wo dann selbst 1964 Rudolf Feldmayr das Adjektiv ›reichsdeutsch‹ zur Diskriminierung von Rühm, Bayer u.a. verwendet, durch deren Veröffentlichung der
ebner-Gesellschaft, die wiener gruppe (1987), S. 69-82; Jandl, Ernst: »Von Konrad Bayer«, in: Protokolle (1983), Nr. 1, S. 30ff. 62 Baur, Uwe: »Prozesse der Kanonisierung österreichischer Literatur«, in: Wendelin Schmidt-Dengler/Johann Sonnleitner/Klaus Zeyringer (Hg.), Die einen raus – die anderen rein. Kanon und Literatur. Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte Österreichs, Berlin: Schmidt 1994, S. 204-207, hier S. 206.
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Herausgeber Rudolf Henz die Zeitschrift ›in die Hände der hiesigen Nachäffer der reichsdeutschen Nachäffer einer […] Eintopfliteratur‹ gespielt habe.«63
Aller Gegenwehr von bürgerlicher Presse und Publikum zum Trotz erlangte die Wiener Gruppe sehr früh den Status einer Autorengruppe von symbolischem Gewicht innerhalb Wiens. 1953 formulierte Artmann in surrealistischer Tradition eine sogenannte Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes, der man ideelle Inklusionskraft für die Gruppenmitglieder zuschreiben kann.64 Am 20. Juni 1957 organisierten sie gemeinsam im Wiener Intimen Theater eine Lesung, bei der sie »einen querschnitt unserer bisherigen arbeit [brachten] – einzel- und simultanlesungen, tonbänder und projektionen, zwischendurch auch theoretisches – bis wir nach eintritt der sperrstunde um mitternacht von der polizei zum abbruch gezwungen wurden. während der pausenlos ablaufenden veranstaltung gärte es im voll besetzten saal, und mehrmals kam es fast zu schlägereien«,65
erinnert sich Gerhard Rühm. Dieser Gärungsprozeß war eine Weiterentwicklung dessen, was im Dadaismus begründet worden war.66 Bereits die Dadaisten schufen ihre Kunst im Kollektiv, verstanden sich antibürgerlich, traten mit provokanten Aktionen in die Öffentlichkeit, spielten mit dem Montage- und Collageprinzip und der Auflösung von Gattungen. »Die neue Wiener Dichtergruppe«, wie Dorothea Zeemann sie in einer Wiener Tageszeitung taufte,67 existierte weiter, auch nachdem Artmann sie 1958 ver-
63 Scheichl, Sigurd Paul: »Weder Kahlschlag noch Stunde Null. Besonderheiten des Voraussetzungssystems der Literatur in Österreich zwischen 1945 und 1966«, in: Schöne, Kontroversen, alte und neue (1985), S. 43. 64 Vgl. Backes, Michael: Experimentelle Semiotik in Literaturavantgarden. Über die Wiener Gruppe mit Bezug auf die Konkrete Poesie. München: Fink 2001, S. 132-156. 65 Rühm, Gerhard: »das phänomen ›wiener gruppe‹ im wien der fünfziger und sechziger jahre«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 25. 66 Vgl. Partsch, Cornelius: »The Mysterious Moment. Early Dada Performance as Ritual«, in: Dafyd Jones (Hg.), Dada Culture. Critical Texts on the Avant-Garde, Amsterdam/New York: Rodopi 2006, S. 37-65. 67 Zeemann, Dora: »Die neue Wiener Dichtergruppe. Untersuchung an der Sprache. Vorlesung in der Galerie St. Stephan«, in: Neuer Kurier vom 23.06.1958, S. 5.
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ließ und fortan eigenständig arbeitete. Janetzkis Klassifikation einer frühen (Artmann, Bayer, Wiener und Rühm) und späten Formation (Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener), die sich darin unterschieden, daß die erstere »die gemeinsamen Aktivitäten noch nicht unter einem Namen« zusammenfaßte, während letztere »die Bezeichnung ›Wiener Gruppe‹ bewußt übernahm und beibehielt«,68 erscheint nicht nur in Hinblick auf Artmanns Auffassung, die Wiener Gruppe sei lediglich Rühms Erfindung, plausibel.69 Obwohl die Gruppenmitglieder in vielen Kommentaren auf der Differenz ihrer Poetologien und dem losen Charakter des Zusammenschlusses bestanden, inszenierten sie sich ab 1958 im öffentlichen Raum als Gruppe. Sie gaben sich exklusiv und folgten Gruppenritualen. »wir schlossen uns noch hermetischer zusammen«, so Rühm, »gemeinsam mit oswald wiener begründeten wir die tikletie, über die wir uns aber weder öffentlich noch freunden und unseren frauen gegenüber zu äussern beschlossen.«70 Was immer »tikletie« genau bedeutete, bleibt zwar bis heute ungeklärt.71 In Rühms Zitat deutet sich allerdings an, daß es sich um einen Verhaltenskodex handelte, dem rituelle Kraft für die Gemeinschaft zugeschrieben wurde. In Bayers Nachlaß finden sich des weiteren Pläne für eine festwoche der wiener gruppe und für Sammelbände, die ausschließlich Texte von Gruppenmitgliedern beinhalten sollten.72 »Aus dem anfänglichen Freundeskreis«, folgert Janetzki, »wird nicht zuletzt durch Bayer ein aufeinander eingeschworener Zirkel, der sich nach und nach zur Institution erhebt. Bayer, der die ›Exklusivität‹ des Freundeskreises nach außen hin deutlich macht, wird durch Oswald Wiener darin unterstützt.«73 Ein Exklusivitäts- und Distinktionsmerkmal war Konrad Bayers Auftreten und spezifischer Kleidungsstil, die von vielen als Ersteindruck betont werden. Bayer inszenierte
68 U. Janetzki: Alphabet und Welt, S. 162. 69 Kastberger, Klaus: »Wien 50/60. Eine Art österreichische Avantgarde«, in: Eder/Kastberger, Schluß mit dem Abendland! (2000), S. 12. 70 Gerhard Rühm: »vorwort«, in: Konrad Bayer, Das Gesamtwerk, hg. von Gerhard Rühm, Reinbek: Rowohlt 1966, S. 14. 71 Gerhard Rühm verweigerte Ulrich Janetzki in einem Interview noch in den 1980er Jahren eine Antwort auf die Frage, was unter »tikletie« zu verstehen ist. 72 Vgl. Kunsthalle Wien, Die Wiener Gruppe, S. 90; Kastberger, Klaus: »Wien 50/60. Eine Art österreichische Avantgarde«, in: Eder/Kastberger, Schluß mit dem Abendland! (2000), S. 18f. 73 U. Janetzki: Alphabet und Welt, S. 19.
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sich als Dandy,74 was gruppenintern, abgesehen von einem Vorfall, der mit Ausschluß aus der Gruppe geahndet wurde,75 toleriert wurde. Daß in Peter Weibels Sammelband über die visuellen Arbeiten der Wiener Gruppe Ferry Radax’ Fotos vom »improvisierte[n] nachtlager direkt neben de[m] gasherd«76 und Bayers aufgebahrtem Leichnam mit einer Rose auf der nackten Brust aufgenommen wurden, steht stellvertretend für eine vom Freundeskreis um den Autor unterstützte Tendenz, alles, was Bayers Leben und Schaffen dokumentiert, als Teil eines Gesamtkunstwerks zu verstehen und somit zu ästhetisieren. Nicht nur hieran, sondern auch anhand ihres Habitus läßt sich die Inszenierung der Wiener Gruppe mit gebrochener Perspektive auf den literarischen Kreis um Stefan George beziehen,77 wie das folgende Kapitel zeigen wird.
V ERFAHREN
DER
S ELBSTKONTEXTUALISIERUNG
»Gerade das Beispiel des vermeintlich zeitentrückten George zeigt«, Thomas Wegmann zufolge, »dass Autorschaft nicht nur eine Diskurse bündelnde Größe, sondern auch eine symbolisches Kapital akkumulierende Marketingstrategie dar-
74 Vgl. Ihrig, Wilfried: Literarische Avantgarde und Dandysmus. Eine Studie zur Prosa von Carl Einstein bis Oswald Wiener, Frankfurt a.M.: Athenäum 1988. 75 Der Exklusionsgrund ist nicht eindeutig dokumentiert. Entweder bestand Bayers Fehlverhalten aus Sicht der Gruppenmitglieder darin, daß er sich von seinem Freund Kurt Regscheck portraitieren lassen wollte, oder die Freunde nahmen daran Anstoß, daß Bayer »als Modell für Angerer-Brillen Geld verdient hatte«. http://www.ferryradax.at/ film/kommentare/radax%20autorensolidarit%C3%A4t.pdf vom 31.03.2014. 76 Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 724. 77 Vgl. für folgende Thesen grundlegend Groppe, Carola: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln: Böhlau 1997; Kolk, Rainer: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890-1945, Tübingen: Niemeyer 1998; Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München: Blessing 2007; Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.
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stellt.«78 Die Forschung zu Stefan George hat in den vergangenen Jahren die Ritualität seines Kreises untersucht und verschiedene (poetologische) Strategien der Selbstkontextualisierung vom Früh- bis zum Spätwerk herausgearbeitet. Steffen Martus führt die unterschiedlichen Forschungszugriffe auf das Werk Georges und seinen Jüngerkreis zusammen und verdeutlicht, wie der Autor »dem Leser Anweisungen für adäquate Beobachtungshaltungen im Vollzug« anbot, ohne eine eindeutige Interpretation zu legitimieren, sondern vielmehr »unterschiedliche Perspektiven auf sein Werk [vorzugeben], die in ihrer Multiperspektivität auf die Probleme der Einheit des Unterschiedenen aufmerksam machen.«79 Solche produktionsästhetischen Anleitungen zum vielschichtigen Verstehen finden sich auch, so die These, im disparaten Werk der Wiener Gruppe. Die Konstituierung des engeren George-Kreises begann, als Stefan George dem jungen Maximilian Kronberger begegnete, den der Dichter zum gottähnlichen Kultobjekt stilisierte. Kronbergers früher Tod wurde im Maximin-Zyklus und insbesondere im Siebenten Ring poetologisch wie kreishabituell funktionalisiert. Im Siebenten Ring wurden einerseits die primär adressierten Kreismitglieder darin angewiesen, wie man »göttergleiche Menschen umfassend zu beobachten« hatte, andererseits bot der Gedichtband einem erweiterten auserwählten Adressatenkreis ein Schema »rückhaltloser Bewunderung, die das Bedrohungspotential einer umfassenden Beobachtung mindert.«80 Im Maximin-Kult war, so erneut Martus, »derselbe Mechanismus am Werk, der es bereits in den GestaltBiographien erlaubte, in wechselnden Biographien das ›gleiche‹ zu sehen. In jedem Fall machen sie fraglich, wo eigentlich der von George verkündete Gott zu finden ist: in Maximin oder in seinem dichtenden Propheten.«81 Ein wichtiges Verfahren der Selbstkontextualisierung im Kreis um den Dichter George war erstens die paratextuelle Kommentierung ihrer eigenen Arbeiten, wie sie etwa von Ernst Robert Curtius oder Edith Landmann bewerkstelligt wurde. Laut Jäger sind die kontinuierlich produzierten Paratexte »Teil des kommunikativen Aufwands, den die Avantgarden zur Selbstexplikation betreiben muss-
78 Wegmann, Thomas: »›Bevor ich da war, waren all die Gedichte noch gut‹. Über Stefan Georges Marketing in eigener Sache«, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), Stefan George, München: Ed. Text & Kritik 2005, S. 97-104, hier S. 97. 79 Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2007, S. 514-708, hier S. 527. 80 Ebd., S. 647. 81 Ebd., S. 646.
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ten.«82 Die Avantgarde mußte sich selbst beschreiben und erklären, da die zeitgenössische Literaturkritik und Literaturwissenschaft ihrem Werk nicht gerecht wurden. Auch die Mitglieder der Wiener Gruppe interpretierten sich immer wieder gegenseitig, und gestanden nur wenigen außerhalb der Gruppe Deutungskompetenz zu.83 Nachhaltig wirkte sich diese Praxis auf die Rezeptionsgeschichte aus, die sich die Wiener Gruppe als ihre eigene Vermittlerin materialreich selbst erschrieb. Die zirkuläre Macht dieser Selbsthistorisierung ist auch für vorliegende Studie ein Problem. Beispielsweise steht von der Aufführung des Sketches abenteuer im weltraum beim 2. literarischen cabaret neben Fotos und kurzen Zeitungskritiken im Katalog zur Biennale-Ausstellung84 ausschließlich eine ausführliche Schilderung der Veranstaltung zur Verfügung. Und diese Ausführungen stammen von Oswald Wiener.85 Auch die Archivierung der Arbeiten, nachdem die Gruppenmitglieder am 10. April 1964 mit der Aufführung der kinderoper ihre letzte gemeinsame Aktion aufgeführt hatten und sich fortan in Soloprojekten artikulierten, ist herausfordernd für die Forschung. Während sich Friedrich Achleitner etwa ab 1961 wieder der Architekturtheorie, Dialektlyrik und Konkreter Poesie zuwandte, stellte Oswald Wiener 1959 »unter dem eindruck der hoffnungslosigkeit der situation das schreiben ein«.86 Seinen eigenen Angaben zufolge vernichtete er den Großteil seines Œuvres, seine Texte gelten zumindest als verloren. Aus avantgarde-
82 http://www.medienobservationen.uni-muenchen.de/artikel/kritik/Wiener.html vom 31. 03.2014. Vgl. Jäger, Georg: »Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese«, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Band 33), Tübingen: Niemeyer 1991, S. 221-244. 83 »unsere kritiker waren völlig inkompetent.« Wiener, Oswald: »das ›literarische cabaret‹ der wiener gruppe«, in: Rühm, Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen (1985), S. 401-418, hier S. 417. 84 Vgl. Weibel, die wiener gruppe (1997). 85 Wiener, Oswald: »das ›literarische cabaret‹ der wiener gruppe«, in: Rühm, Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen (1985), S. 401-418. 86 Rühm, Gerhard/Wiener, Oswald: »berlin, 17.9.1970«, in: Kunsthalle Wien, Die Wiener Gruppe (1998), S. 31.
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theoretischer Sicht ist diese antiarchivarische Praxis als Absage an die Vorstellung eines ›Werks‹ samt ihrer Implikationen von Ganzheit, Konservierung und Ordnung deutbar. Als performativer Akt eignet der Werkzerstörung dennoch durchaus traditionsbildendes Potential, da zwar nichts schriftlich Fixiertes überliefert wird, wohl aber die zur Schau gestellte Aktion der Negation.87 Anders verliefen hingegen die Geschichten der Sicherung und Verwaltung der Werke Artmanns, Bayers und Rühms. Es ist zum einen »in erster Linie Konrad Bayer zu danken, daß gegenwärtig so viele Texte von Artmann verfügbar sind. Wo immer Bayer Texte von Artmann vermutete, versuchte er, sie sich zu beschaffen. Dies nicht«, so noch einmal Janetzki, »aus privater Liebhaberei und Sammelleidenschaft, sondern um die Texte für eine spätere Publikation – an die Bayer immer glaubte – verfügbar zu halten.«88 Zum anderen kommt Gerhard Rühm, der bereits 1967 eine erste Kompilation der Gemeinschaftsarbeiten der Wiener Gruppe herausgab, eine entscheidende Rolle als ihr Chronist zu. Rühm edierte außerdem Konrad Bayers Werk, das 1977, 1985 und 1996 in drei überarbeiteten Gesamtausgaben erschien. Angesichts dieser gruppenhermetischen Editionspraxis, die erst 1997 mit dem von Peter Weibel vorgelegten Katalog zur österreichischen Ausstellung der Biennale in Venedig durchbrochen wurde, ist es geboten, den Werkbegriff zu reflektieren, auf den sich vorliegende Untersuchung stützt. Konrad Bayers Werk kann nicht als homogene Einheit verstanden werden. Da die Gemeinschaftsarbeiten aufgrund ihres Ereignischarakters ohnehin einer Dokumentationsproblematik unterliegen und die editorischen Parameter in Rühms Werkfassungen nicht transparent gemacht wurden, wird der Werkbegriff vielmehr als heuristisches Instrument verwendet, um mit Foucault danach zu fragen, wie diese »komische Einheit« zustande kam.89 Eine weitere Verbindung zwischen der Wiener Gruppe und der Kreistradition um Stefan George zeigt sich im und am Material. Die Sensibilität für Schriftlichkeit, die Schriftbild, Typographie und Buchgestaltung eine zentrale Bedeu-
87 Vgl. Klocker, Hubert (Hg.): Wiener Aktionismus, Bd. 2: Wien: 1960-1971. Der zertrümmerte Spiegel, Klagenfurt: Ritter 1989; O. Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus. 88 U. Janetzki: Alphabet und Welt, S. 15. 89 Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 194-229, hier S. 205. Daß diese Einheit überhaupt in konventioneller Buchform zustande kam, könnte als Gerhard Rühms Mißverständnis von Bayers Werkvorstellung ausgelegt werden.
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tung zumaß und der George unter anderem in seiner »zur Drucktype stilisierte[n] Handschrift«90 Ausdruck verlieh, teilten auch die Mitglieder der Wiener Gruppe. Die Kleinschreibung in ihren Texten sollte, wie Wiener hervorhebt,91 Protest auf dem Trägermedium sein. Konrad Bayer kommentierte das gruppeninterne Gestaltungsprinzip wie folgt: »die kleinschreibung ermöglicht den ankauf dieses blattes auch dem leser, welcher der grossbuchstaben noch nicht mächtig ist. ich bitte den fortgeschrittenen leser um verständnis.«92
Minuskeln wurden allerdings nur von Rühm und Achleitner konsequent verwendet.93 In Texten, die in Kooperation zwischen Bayer und Wiener entstanden, zeigt sich ein wohlüberlegter Einsatz des orthographischen Regelverstoßes, wie zum Beispiel im 1962 in Kleinstauflage erschienenen Text starker toback. kleine
90 Roos, Martin: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, Düsseldorf: Grupello 2000, S. 21-57, hier S. 23. 91 Vgl. Wiener, Oswald: »Eine Art Einzige«, in: Verena von der Heyden-Rynsch (Hg.), Riten der Selbstauflösung, München: Matthes & Seitz 1982, S. 35-78. 92 SW 1996, S. 712 (Herv. i. O.). 93 Auch Ernst Jandl bediente sich einer bewußt eingesetzten Kleinschreibung, die er, wie ein Brief vom 30. September 1973 an die Österreichische Gesellschaft für Sprachpflege und Rechtschreiberneuerung Auskunft gibt, in der Tradition Rühms und Artmanns verstand, obwohl sie eher den Verwendungsmustern Bayers und Wieners entsprach: »sehr geehrte damen und herren, seit 16 jahren bediene ich mich, einer anregung der schriftsteller h. c. artmann und gerhard rühm folgend, mit denen ich damals in engeren kontakt kam, meine literarische arbeit nahezu ausschliesslich der kleinschreibung, wodurch die grossbuchstaben, vom dienst an einer blossen konvention befreit, neue aufgaben verfügbar wurden, vor allem für die hervorhebung einzelner wörter. was mich bis dahin hatte zögern lassen, die gross-kleinschreibung zugunsten einer konsequenten kleinschreibung aufzugeben, war in erster linie meine abneigung gegen exklusivität oder auch nur den anschein einer solchen. so sehr ich etwa stefan george als dichter schätzte, ohne mich von ihm beeinflusst zu fühlen, so fremd war mir seine weltsicht und sein aristokratisches gehabe. mit einer haltung dieser art wollte und durfte ich nicht im entferntesten in verbindung gebracht werden.« Jandl, Ernst: Texte, Daten, Bilder, hg. von Klaus Siblewski, Frankfurt a.M.: Luchterhand 1990, S. 40-43, hier S. 40.
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fibel für den ratlosen, der sich wie eine numerierte Gebrauchsanweisung ausnimmt. Der Text ist durchzogen von orthographisch konformen Passagen, typographisch von Majuskeln und Minuskeln repräsentiert, wie dieser: »Oswald Wiener beschreibt einem anderen die Welt. Die Welt, sagt Oswald Wiener, hat Ähnlichkeit mit einem bestimmten Stück von Konrad Bayer. Wenn ich mich ausdrücken darf, sprach der andere. Ihm war schlecht. Die Welt ändert sich wie ein bestimmtes Stück von Konrad Bayer, sagt Oswald Wiener. Und dabei bleibt es.«94
An anderen Textstellen wird hingegen Kleinschreibung verwendet: »basic bayer./basic bayer ist eine kunstsprache./sie enthält alle zeichen, deren wir habhaft werden./[…] oswald wiener ist der erfinder von basic bayer.«95 Der ortho- und typographische Bruch dieser Textpassage in Kleinbuchstaben korrespondiert mit ihrer Aussage: Eine alle Zeichen umfassende Kunstsprache habe Oswald Wiener erfunden, die Bayers Namen trägt, und diese typographisch in Szene gesetzte Kunstsprache kommt dem buchstäblichen Sinn von Fibel (fibula) sehr nah. In der medialen Form des Schriftmaterials ist sie wie eine Kleidernadel, welche die Kunstwelt der Wiener Gruppe zusammenhält. Aus dieser Kunstwelt ist in starker toback kein Entkommen, da Oswald Wiener nicht nur der Erfinder der Sprache »basic bayer« ist, sondern zugleich der Erklärer der Welt selbst, die einem Stück von Bayer gleicht – und »dabei bleibt es.« In dieser Pointe verbirgt sich ein ironischer Kommentar auf die Suche nach Wahrheit in hermetischer Kunstfiktion, die in literarischen Gruppen wie dem Kreis um George praktiziert wurde. Im Vergleich dazu genügt sich die Kunstwelt und -sprache der Wiener Gruppenmitglieder nicht selbst. Weder unterlag Schriftlichkeit, wie gezeigt, einer strikten Normregulierung, noch dienten künstlerische Sprache und Welt einer in geschlossenen Literatengruppen vollzogenen Sozialabschottung, wie die Gruppenlesungen, Performances und Kabaretts der Wiener Gruppe vor großem Publikum verdeutlichen – es blieb also nicht dabei. In Konrad Bayers Werktektonik tritt ein ›rückkoppelndes‹ Prinzip in Aktion, dessen sich auch der Lyriker George für die poetologische Konstruktion seines Œuvres bediente und das durch Zyklenbildung die Rezeption explizit lenken
94 Bayer, Konrad/Wiener, Oswald: »starker toback. kleine fibel für den ratlosen«, in: Rühm, Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen (1985), S. 327-339, hier S. 328f. 95 Ebd., S. 332.
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sollte. George erklärte sein Gesamtwerk zum notwendigen Kriterium, um Einzeltexte ›richtig‹ verstehen zu können. Daß Bayers Werk ein vergleichbares selbstkontextualisierendes Referieren ermöglicht, läßt sich anhand der Onomastik im Sketch abenteuer im weltraum darstellen. Der Figurenname Franz Xaver setzt ein hermeneutisches Parallelstellenverfahren in Gang. Wie die anderen Figuren des Sketches verweist nämlich auch der Name des Raumfahrers auf Außertextuelles: Er referiert auf Don Francisco Javier de Jassu y Azpilcueta, der nach seiner Kanonisation als Heiliger Franz Xaver in die christliche Religionschronik eingegangen ist. Francisco de Xavier war im Zuge der Gegenreformation im 16. Jahrhundert Mitbegründer des Jesuitenordens, der als »erste[r] nach Übersee entsandte[r] Missionar aus der Gesellschaft Jesu« in mehreren Kolonien Asiens tätig war.96 Über den Figurennamen Franz Xaver wird in abenteuer im weltraum auf die Ordensgemeinschaft der Societas Jesu angespielt und somit Religion ins Spiel gebracht. Deshalb ist eine intertextuelle Optik auf die Verhandlung des Themas in Konrad Bayers Gesamtwerk vonnöten: »religion ist die form des glaubens und nicht der glaube selbst. sie ist der kult um die sache selbst und berührt die sache selbst keineswegs. […] religion ist eine angelegenheit, die ihre sozialen funktionen erfüllt. sie dient dem menschen, indem ihr der mensch dient. sie fügt, aber sie fügt sich auch. die sache wird gefährlich, wenn kranke menschen eine in sich ruhende, sich im gleichgewicht haltende institution infiltrieren und kraft ihrer faszination, die geisteskranke stets ausüben, ihre krankheit weiterverbreiten. eine gefährliche waffe in ihren händen ist der buchstabe. […] der religiös wahnsinnige schädigt das ansehen der religionsgemeinschaft, die er vertritt. er bringt sie in gefahr.«97
Religion wird laut diesem Auszug aus einer »gelegenheitsschrift«, wie Rühm rubriziert, durchaus eine gesellschaftsrelevante Funktion zugestanden, weil sie Glauben in eine spezifische Verfassung bringe und ihn in ritualisierter Praxis erlebbar mache. Die Institution gründet nach dieser kurzen Stellungnahme Bayers auf einem gleichgewichtigen Machtverhältnis, da sie den Menschen nicht zum
96 Sievernich, Michael: »Einführung. Franz Xavers Mission in Asien«, in: Michael Sievernich (Hg.), Franz Xaver. Briefe und Dokumente. 1535-1552, Regensburg: Schnell & Steiner 2006, S. 15-41, hier S. 15. 97 Bayer, Konrad: »religiöser wahnsinn, eine ansteckende krankheit«, in: SW 1999, S. 712f. (Herv. v. JB.). Eine Waffe wird auch im unten besprochenen Text franz relevant.
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Diener mache, sondern ihm selbst im Vergemeinschaftsprozeß dienlich sei. Eine Gefahr jedoch gehe von der Außerkraftsetzung des ›gesunden‹ Gleichgewichts zwischen Institution und Individuum durch einzelne »[G]eisteskranke« aus. So faszinierend der Wahnsinnige auch sei, der Gemeinschaft und der Sache (dem Glauben nämlich) zuträglich sei er nicht. Der religiöse Fanatiker verkehre die Vorteile der Institution, durch Rituale verbunden zu sein, Ideen zu repräsentieren und sie über Schrift zu verbreiten, in ihr Gegenteil. Die ironische Spitze dieses Textes blitzt dort auf, wo die in einer Gruppe verbreitete Glaubens-Schrift zum potentiellen Gefahrgut und Kampfgerät wird, denn ihrem gegenkulturellen Selbstverständnis nach war schließlich auch der Wiener Gruppe der Buchstabe eine gefährliche Waffe. Mit dieser kurzen Einlassung Bayers läßt sich zusammenfassen, daß er letztlich als entscheidend verstand, welcher Glauben in einer Gesellschaft einerseits als krank und gesund gilt und wie sich andererseits eine Gemeinschaft im Gleichgewicht hält, d.h. anhand »welcher Wahrheitsspiele […] sich der Mensch sein eigenes Sein zu denken [gibt], wenn er sich als Irren wahrnimmt, wenn er sich als Kranken betrachtet, wenn er sich als lebendes, sprechendes und arbeitendes Wesen reflektiert«.98
Jesuiten, auf die in abenteuer im weltraum rekurriert wird, legen nicht nur die für Ordensgemeinschaften konventionellen Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ab, sondern leben und richten ihre seelsorgerische Arbeit nach vier Gelübden aus. Sie verpflichten sich zusätzlich zum Gehorsam gegenüber dem Kirchenoberhaupt und stehen demzufolge in einem persönlichen Abhängigkeits- und Rechenschaftsverhältnis zum Papst. Daß das Personal in Bayers Sketch drei, nicht etwa vier Figuren zählt, ist, so gesehen, aussagekräftig. Denn der Kollektivgedanke des Wiener Freundeskreises um Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener beruhte eben nicht auf einem Bekenntnis zum Gehorsam gegenüber einem Gruppenführer, sondern ironisierte ideelle Verfassungen obrigkeitshöriger Lebens-, Kunst- und Glaubensgemeinschaften. Ein kritischer Unterton in abenteuer im weltraum gegenüber dem Katholizismus eröffnet sich in der Sichtweise, daß die vierte Figur, im übertragenen Sinne das vierte Gelübde, sowohl in der Textgrundlage als auch auf der Bühne eine Leerstelle bleibt. Die Verbindung von geistiger Krankheit, Wahnsinn und Religion tritt in Bayers Werk auch in folgendem Gedicht zutage, das den Titel franz trägt:
98 Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 51997, S. 13.
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franz war. war franz? franz. war. wahr. war wahr. wirr. wir. franz, wir! wir, franz. ihr. franz war wirr. war franz irr? wirrwarr.99 Das wortspielende Arrangement der gleichlautenden Sprachzeichen »war/wahr«, »wir/wirr« und »ihr/irr« betont den Gebrauch der spezifischen Zeichensetzung. Es heben sich drei Verse ab, die nicht mit einem Punkt enden. Im ersten dieser drei Verse wird die Existenz von Franz in Frage gestellt. Im zweiten der interpunktionsdifferenten Verse folgt dem Namen Franz, der vom Adjektiv ›frei‹ abgeleitet ist, eine Anredeformel im Plural, ein Wir. Bevor die poetische Rede bezichtigt wird, mental-kognitives Durcheinander oder Chaos (»wirrwarr«) zu sein, läßt der letzte Vers mit signifikantem Satzzeichen eine für Konrad Bayers Werk zentrale Frage unbeantwortet. Die Frage danach, ob Franz dem Wahnsinn verfallen ist. Der Suche nach religionskritischen Implikationen des Namens Franz in Bayers Gesamtwerk kann um einen Prosatext erweitert werden, der 1963 in der siebten Nummer der Zeitschrift Texturen erschien. Die Erzählsituation von franz (1958)100 gleicht der beschriebenen Kommunikationssituation in abenteuer im weltraum (1958): Hier wie dort spricht eine Stimme, die sich in eine seltsam unbekannte Umwelt versetzt fühlt; hier wie dort hat sie Schwierigkeiten, sich mit anderen Figuren zu verständigen. Und in beiden Texten gerät die Angabe der genauen Uhrzeit in den Vordergrund. Die Kurzgeschichte franz führt einen homodiegetischen Erzähler ein, der eine Kugel in der Hand hält. Sowohl der
99
SW 1996, S. 80.
100 Ebd., S. 386f.
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Schauplatz als auch die zeitliche Verortung des Geschehens werden in der Schwebe gehalten, Zeit und Raum werden phantastisch bebildert (»grosse blumen zerplatzen in den wolken«101, »es riecht nach verbranntem papier«, »vor mir brennt eine unerträglich heisse, weisse flamme«102). Das Ich ist nicht allein in dieser Welt. Auf die anfängliche Frage: »was kann man mit einer kugel und einer hand anfangen?«,103 reagiert der titelgebende Konterpart mit teilnahmslosem Achselzucken. Franz, der beruhigend auf den Erzähler einredet, »ist ganz weiss. er hat weisse hände, eine weisse nase, weisse lippen und weisse haare. sein anzug ist weiss.«104 Obgleich nicht explizit geäußert, gebietet die pragmatische Lektürekonvention die Annahme, daß die kurze Geschichte einen Selbstmordversuch umschreibt oder sich ab dem Wendepunkt: »es ist unerträglich hell geworden«105 in einem transzendenten Raum abspielt, wo die Figuren nach einem vollzogenen Suizid aufeinander treffen. Die Kurzgeschichte franz endet mit dem die Themen Freitod und Gottesbeweis zusammenführenden Geständnis: »ich gebe zu, franz ist gott.«106 Der Name Franz tritt in Bayers Werk kurzum nicht kontingent in Erscheinung, sondern ist poetologisch prädestiniert. Die erläuterten Beispiele legen nahe, wie durch redundante Markierungen in Bayers Gesamtwerk ein intratextuelles Gewebe aus Bedeutungsversatzstücken entsteht. Franz heißt an dieser Stelle eine Gottfigur, an jener ein trotteliger Astronaut auf wissenschaftlicher Mission. Der Name wird Vers an Vers mit dem Verhältnis von Fiktion und Faktizität (»war franz?«) in Verbindung gebracht und steht dicht neben dem inkludierenden Personalpronomen ›wir‹. Diese den Einzeltext übergreifende Auslegung der Namensgebung im abenteuer im weltraum untermauert die zugrundeliegende These dieses Kapitels. Der Sketch reflektiert auf einer metareflexiven Ebene die Selbstbeobachtung als Autorenkollektiv, das sich in Bezug zu anderen kultischen Vergemeinschaftungsformationen setzt und sich selbst textuell und performativ als Gruppe inszeniert:107 als Dreieck, ohne Gott, über Schrift- und Sprachakte.
101 Ebd., S. 386. 102 Ebd., S. 387. 103 Ebd., S. 386. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 387. 107 Bayer und Wiener hätten Friedrich Gundolfs Erörterung, wonach der Kreis um George »weder ein Geheimbund mit Statuten und Zusammenkünften, noch eine
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abenteuer im weltraum stellt in genau demselben Maße aus, daß Sprache nicht nur eine gefährliche Waffe für religiöse oder wissenschaftliche Fanatiker auf Mission darstellt, sondern immerzu selbst der Gefahr ausgesetzt ist, nicht verstanden zu werden.
D AS ( UN ) SICHTBARE W IENER G RUPPE
LITERARISCHE CABARET DER
Die Virtualität des Nachrichtensystems, das abenteuer im weltraum eingeschrieben ist, ging im Rahmen einer Veranstaltung am 6. Dezember 1958 in der künstlervereinigung Alte Welt in Physis über, der Text wurde als Sketch auf die Bühne gebracht. Mit dem angekündigten Titel 1. literarisches cabaret wollten Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener nicht bruchlos an die lange Tradition des österreichischen Kabaretts seit Ende des 19. Jahrhunderts anknüpfen, sie wollten anderes Kabarett,108 etwas ästhetisch Umfassenderes als eine gesellschaftskritische Aktionslesung veranstalten. Geprägt war ihr gattungsübergreifendes Abendprogramm durch Spontaneität, Dilettantismus in der schauspielerischen Leistung und die Ungewißheit, ob die Veranstaltung polizeilich beendet wird. Provokation und Obszönität mußten vom Publikum in Kauf genommen werden.109 Die Kaba-
Sekte mit phantastischen Riten und Glaubensartikeln, noch ein Literatenklüngel, sondern […] eine kleine Anzahl Einzelner mit bestimmter Haltung und Gesinnung [ist], vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines grossen Menschen, und bestrebt der Idee die er ihnen verkörpert (nicht diktiert) schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben oder durch ihre öffentliche Leistung zu dienen«, angesichts der eigenen Künstlergruppierung nur im Aspekt der gemeinschaftsstiftenden Haltung zugestimmt. Gundolf, Friedrich: George, Berlin: Bondi 1920, S. 31. 108 Die Wiener Gruppe konzipierte ihr cabaret in Abgrenzung zu den zeitgenössisch publikumswirksamen Kabarettformaten von Carl Merz oder Helmut Qualtinger. Vgl. Wiener, Oswald: »das ›literarische cabaret‹ der wiener gruppe«, in: Rühm, Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen (1985), S. 404f. 109 Ob sich das Publikum provoziert gefühlt hat, muß aufgrund der Quellenlage offen bleiben. Es spricht jedoch einiges dagegen, da nur wenige Zuschauer die Veranstaltungen verließen. Als beim 2. literarischen cabaret anläßlich der Klavierzerstörung die Polizei gerufen wurde und die Veranstaltung abgebrochen werden sollte, pfiff
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rettisten unterbrachen willkürlich ihre Nummern, beschimpften das Publikum und polemisierten gegen Personen des öffentlichen Lebens. Die Gruppenmitglieder trugen Chansons, Gedichte, Sketche und Aktionen im Publikumsraum vor. Dabei hatten einige Stücke Happening-Charakter, noch bevor die Zeit der Happenings begonnen hatte. Gegenstände wurden »aus dem Kontext gerissen, in eine neue Umgebung übertragen, und der Rezipient […] als Teilnehmer oder Zuschauer mit dem Ergebnis konfrontiert«.110 Beispielsweise wurde ein Radio auf die Bühne gestellt, das das Publikum mehrere Minuten mit einer beliebigen Sendung beschallte. Das Format des literarischen cabarets kann als Vorgänger all derjenigen aktionskünstlerischen Ereignisse gedeutet werden, welche über Performativität das ephemere Moment in Kunstwerken akzentuieren.111 Mit Judith Butler ist Performativität zwar »kein einmaliger ›Akt‹, denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen; und in dem Ausmaß, in dem sie in der Gegenwart einen handlungsähnlichen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist.«112 Die minutenlange Beschallung des Publikums beim 1. literarischen cabaret repetierte Praktiken, die kunsthistorisch auf die Konventionsverletzungen der Dadaisten anspielen und das Publikum mit zusammenhangslos in die Performances eingefügten Intermezzi konfrontieren. Doch wirkt die Gegenwärtigkeit von Aktionen in Performance Art sowohl in ihrer Wahrnehmung als auch Rezeptionsgeschichte markant nach, wie Peggy Phelan hervorhebt: »In einer manisch aufgeladenen Gegenwart stürzt die Live Performance in die Sichtbarkeit und verschwindet ohne Kopie im Gedächtnis, im Reich der Unsichtbarkeit und des Unbewußten, wo sie sich der Regulierung und
das Publikum die Beamten aus. Auch in den Zeitungskritiken ist von »allgemeine[r] Wohlmeinung« und dauerndem Lachen die Rede. Grimme, Karl Maria: »Dada plus Surrealismus, wienerisch akzentuiert. Literarisches Kabarett im Porrhaus bei steckvollem Saal. Eine Olla podrida von Gekonntem und Ungekonntem«, in: Österreichische Neue Tageszeitung vom 17. April 1959, S. 4 (abgedruckt in: Weibel, die wiener gruppe [1997], S. 422). 110 Schilling, Jürgen: Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben? Eine Dokumentation, Luzern/Frankfurt a.M.: Bucher 1978, S. 79. 111 Vgl. Blau, Herbert: The Audience, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1990. 112 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 36; vgl. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin: Berlin-Verlag 1998, S. 35f.
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Kontrolle entzieht.«113 Die Unkontrollierbarkeit im Reich des Unsichtbaren sollten die Zuschauer des literarischen cabaret am eigenen Leib zu spüren bekommen. Wie bedeutsam Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener die unwiederholbare Ereignishaftigkeit ihrer kabarettistischen Aufführungen war, hielten sie schriftlich fest: »unser cabaret wird nicht – wie man es missverstehen wird können – eine einkleidung von massnahmen, das heisst unter anderem moralischen aufforderungen, sein, sondern schlichte begebenheit.«114 Im Zitat erweist sich das Neue am kabarettistischen Ereignis der Wiener Gruppe nicht als unerhört, sondern als: schlicht. Da das 1. literarische cabaret aufgrund des hohen Improvisationsanteils bis zur ersten Pause drei Stunden andauerte und deshalb von den Saalinhabern abgebrochen wurde, planten die Mitglieder der Wiener Gruppe eine Fortsetzung ihres Kabaretts. abenteuer im weltraum wurde in von Bayer überarbeiteter Form beim 2. literarischen cabaret am 15. April 1959 im Wiener Porrhaus aufgeführt. Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener engagierten für diese Veranstaltung zwölf weitere Personen als Darsteller, darunter eine Balletttänzerin, einen Komponisten, Freunde wie Oswald Wieners zweite Ehefrau Ingrid Schuppan und einen Berufsschauspieler. Sie sollten »keine illusion anderer personen bringen (wie stanislawskis schauspieler), […] auch andere personen nicht markieren (wie brechts darsteller). sie bleiben sie selbst«, wie es im ›Waschzettel‹ zum 2. literarischen cabaret weiter heißt, »dennoch wird das publikum der illusion einer darstellung verfallen: das ist falsch und beabsichtigt.«115 Obwohl in den Aktionen des Wiener Aktionismus in den 1960er und 70er Jahren auf Sprache ganz verzichtet wurde, zeigt sich anhand von zwei Aspekten, wie stilbildend das literarische cabaret für die nachfolgende Aktionskunst Wiener Provenienz war:116 zum einen über den Stellenwert von Körperlichkeit, zum anderen über formulierte Wirkungsabsichten der Aktionskunst.
113 Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, New York/London: Routledge 1993, S. 148 (Herv. v. JB.). 114 Achleitner, Friedrich/Bayer, Konrad/Rühm, Gerhard/Wiener, Oswald: »›Waschzettel‹ zum literarischen cabaret, 15.4.1959 im Porrhaus«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 357. 115 Ebd. 116 »Der Übergang von der WG zum WA kann somit als ein Übergang von der Sprache zur Aktion beschrieben werden.« O. Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus, S. 100, 121.
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Der Wiener Aktionismus zeichnet sich durch eine Drastik aus, die sich in am Körper des Künstlers simulierter oder direkt an ihm ausgeübter Gewalt niederschlug. Aufsehen erregten allen voran Rudolf Schwarzkoglers Kastrations- und die darauffolgende Todesinszenierung,117 Günter Brus’ letzte autoaggressive Performance zerreißprobe 1970 in München, aufgrund derer der Künstler Österreich verlassen mußte, um einer Haftstrafe zu entgehen, sowie Otto Mühls und Hermann Nitschs Aktion oh tannenbaum, bei der live auf der Bühne zum Klang von Weihnachtsliedern ein Schwein geschlachtet und eine Frau mit Blut, Kot und Urin überschüttet wurde. Wenngleich die Wiener Aktionisten Körper viel radikaler funktionalisierten und in ihrer Kunst einsetzten, wurde die Bedeutung von Körperlichkeit auch den Zuschauern im 2. literarischen cabaret der Wiener Gruppe bereits bei ihrem Eintreffen demonstriert. Bis alle ca. 600 Zuschauer im Porrhaus ihren Platz eingenommen hatten, wurde im großen Saal ein Tonband
117 Interessant im Zusammenhang mit der hier diskutierten (Un-)Sichtbarmachung im literarischen cabaret der Wiener Gruppe sind Weibels Beschreibungen sowohl der Entstehungsgeschichte der Fotografien zu Schwarzkoglers Aktion, die 1972 auf der documenta 5 ausgestellt wurden, als auch der Reaktionen auf sie: »In dem Buch Idea Art, 1973 als Dutton Paperback von Gregory Battcock herausgegeben, ist ein Artikel von Robert Hughes mit dem Titel ›Abstieg und Fall der Avantgarde‹, ursprünglich erschienen in Time, 18. Dezember 1972, wieder abgedruckt. In diesem Artikel wird am Beispiel der Kunst von Rudolf Schwarzkogler der Abstieg der Avantgarde behauptet, weil Schwarzkoglers Selbstamputation des Penis unübertrefflich zeige, wie die moderne Kunst in eine tödliche Sackgasse führe: ›The game – under its present rules – is not worth playing‹. Und: ›In fact, the term Avantgarde has outlived its usefulness‹. […] In Wahrheit ist es nämlich nicht Schwarzkogler selbst, der auf diesen Fotos zu sehen ist, sondern sein Modell und Freund Cibulka. In Wahrheit waren natürlich die abgebildeten Vorgänge der Kastration nur vage angedeutet, ein Element unter vielen anderen. Die Vorgänge selbst waren simuliert, rein fiktiv für die Kamera gespielt. Die Fotos sind nicht Dokumente realer Aktionen, sondern von darstellender Kunst und Theater. In Wahrheit stammen nicht einmal die Fotos von Schwarzkogler selbst. Er hat die Fotos nicht selbst gemacht. Er hat nur die Szenerie vor dem Apparat für den Fotografen gestaltet. Der Fotograf selbst war Ludwig Hoffenreich, ein sechzigjähriger Veteran des Boulevard-Bildjournalismus.« Weibel, Peter: »Die Frage der Fotografie im Wiener Aktionismus als die Frage nach Autonomie in der Fotografie«, in: The Thing Hamburg. Plattform für Kunst und Kritik, http://www.thing-hamburg.de /index.php?id=706 vom 31.03.2014.
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mit den Geräuschen eines Ölbohrers über die Lautsprecher abgespielt. Die monoton dröhnende Geräuschkulisse wurde etwa eine Dreiviertelstunde lang aufrechterhalten. Auch ohne Augenzeugenbeleg kann dies eine physische, wenn nicht gar psychische Strapaze für die Zuschauer genannt werden. Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener hatten weitere Attacken auf das Bewußtsein des Publikums geplant. Die Idee, während eines Chansons Karbol im Zuschauerraum zu versprühen, war jedoch behördlich untersagt worden und ein »von Markus Prachensky bemalter Ortwin Kirchmayr, der [nackt] herumhopsend ein Naturgedicht rezitieren sollte, fiel der Polizeigewalt zum Opfer.«118 Oswald Wieners Schilderungen zufolge war »einer der grundgedanken« des literarischen cabarets, »›wirklichkeit‹ auszustellen, und damit, in konsequenz, abzustellen. ein anderer, das publikum als schauspieltruppe zu betrachten, und uns selber als die zuschauer.«119 Als nach dem Opening mit Ölbohrer der Vorhang aufgezogen wurde, saßen dem Publikum des 2. literarischen cabarets Bayer, Rühm und andere Schauspieler in zwei Reihen auf der Bühne gegenüber und beobachteten kommentarlos das Publikum. »Auf den einsetzenden Applaus [begannen] auch sie zu applaudieren.«120 Dieser Spiegelung von Fiktions- und Realitätsraum folgte die Nummer zwei welten, bei der Achleitner und Rühm auf einem Motorroller durch den Mittelgang zur Bühne fuhren. Dort legten sie Fechtmasken an und zerlegten ein zuvor angestimmtes Klavier mit Äxten. Die Zerstörung eines Klanginstruments, akustische Belästigung, lautes Eindringen in den Zuschauerraum mit einem Motorrad – all diese Zurschaustellungen im 2. literarischen cabaret nehmen das im Wiener Aktionismus fortgesetzte Anforderungsprofil an das Publikum vorweg: »Die Provokationen, Irritationen und Tabuverletzungen [im Wiener Aktionismus]«, so Jahraus, »dien[t]en einer Strategie der Überforderung des Bewusstseins«,121 die auf die Sinneswahrnehmung eines jeden Zuschauers ausgerichtet war. Auf eine systematische Überfor-
118 Bierbaumer, Ulf: »Die Wiener Gruppe und das Theatralische«, in: Hilde HaiderPregler/Peter Roessler (Hg.), Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945, Wien: Picus 1998, S. 329-339, hier S. 334. 119 Wiener, Oswald: »das ›literarische cabaret‹ der wiener gruppe«, in: Rühm, Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen (1985), S. 403. 120 Schneider, Walther: »Cabaret des Absurden«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 423. 121 O. Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus, S. 117.
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derung der Sinneswahrnehmungen und eine Erweiterung von Kunsterfahrung ihrer Zuschauer legte es auch die Wiener Gruppe an, wie der ›Waschzettel‹ zu ihrer Veranstaltung erläutert: »unser cabaret wird aus der gesamtheit der eindrücke bestehen, die unseren gast an unserem ort ansprechen können. haben wir vor, unser publikum zu erziehen, dann dazu, seinen wahrnehmungskreis zu erweitern, dazu, die eindrücke zu integrieren, kompliziertere gedankenverbindungen zu bewältigen. unser cabaret wird für jeden einzelnen genau das sein, was er an eindrücken davon heimzutragen vermag.«122
In ihren literarischen cabarets (1958/59) wurden alle Anwesenden, vom »fussboden, sitz nachbar« bis zur »garderobefrau«, als Teilnehmer einbezogen. Als Ziel wurde ausgegeben, »dass umstände im gedächtnis unserer zuschauer gespeichert werden, die er sonst immer so leicht übersieht.«123 Mit dem Publikum auf Tuchfühlung zu gehen, mehr noch: im Raum und auf den Körper der Zuschauer direkt einzuwirken und nicht wie im Wiener Aktionismus Autoaggressivität vorzuführen, war deshalb zweckdienliche Strategie. Insbesondere die visuelle Wahrnehmung stand im Mittelpunkt des Interesses der Performer. Was laut ›Waschzettel‹-Zitat so leicht übersehen wurde, waren nämlich Phänomene des Alltags, auf die eine neue Sicht erprobt wurde: »die konsumhaltung des publikums wird so am gründlichsten zerstört, wenn es das absurde und wertvolle erwartend dem alltäglichen vertraut gemacht wird. aus der empörung des zuschauers darüber, daß ja nichts zu sehen sei, folgt die einzige gesunde reaktion.«124
Konrad Bayer befand, daß solcherlei Verwirrungen des Publikums beim 2. cabaret »viel zu wenig gewagt« worden seien.125 Die Aufführung von abenteuer im weltraum hebt sich angesichts dieser Konzeption einer Wahrnehmungsschulung durch Empörung, bei der leicht zu Über-
122 Achleitner, Friedrich/Bayer, Konrad/Rühm, Gerhard/Wiener, Oswald: »›Waschzettel‹ zum literarischen cabaret, 15.4.1959 im Porrhaus«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 357. 123 Ebd. 124 Bayer, Konrad: »anweisungen nach dem cabaret«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 359. 125 Ebd.
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sehendes vergegenwärtigt und erinnert werden sollte, deutlich von den anderen Nummern ab. Der Sketch steht in einer Reihe von Programmpunkten, die nicht auf Visuelles, sondern auf die auditive Wahrnehmung der Zuschauer ausgerichtet waren: »es gab Nummern fast ohne Worte (vergeblicher versuch, das fliegen zu erlernen, das erwachen), es gab polemisch-parodistische Rezitationen (anrufung des großen bären: dichterehrung ingeborg bachmann), es gab die Chansons vor allem von Gerhard Rühm, die dazu da waren, das Publikum bei der Stange zu halten […]«.126
Von all diesen Aktionsbeiträgen der Wiener Gruppe stellt allein der Gemeinschaftstext abenteuer im weltraum eine Geschichte im Sinne einer kausalmotivierten histoire dar. Bayer nahm allerdings vor dem 2. literarischen cabaret eine eigenhändige Veränderung des Sketches vor. Die Geschichte Franz Xavers wurde nicht gespielt, also nicht physisch zur Aufführung gebracht, sondern von Herbert Schmid, der »ausschliesslich für die rolle des raumfahrers engagiert worden« war,127 vorgelesen. In dieser devisiblisierten Umsetzung wurde der Vorlage ein situationskomisches Moment wie Franz Xavers übertriebene Requisiten genommen. Bayers mise-en-scène von abenteuer im weltraum verstärkte stattdessen den Ton gegenüber dem Bild. In den Vordergrund traten die Stimmen der Figuren, die Geräuschkulisse der Diegese, mithin die jeweiligen Sprachen der drei Protagonisten, die sich dreier Varietäten bedienen: einer technik- und naturwissenschaftlichen Sprache (Franz Xaver), einer umgangssprachlichen Ausdrucksweise (Oswald Wiener) und eines Dialekts (Gerhard Rühm). Die Konzentration auf den Sprachvollzug in der unsichtbaren Inszenierung des Stücks abenteuer im weltraum legt außerdem eine Lesart des Textes frei, die eine mit Realpräsenz und Material arbeitende Darbietung weniger deutlich konturiert hätte. Daß dem Publikum weder Kulisse noch Requisiten dargeboten wurden, findet ihre Analogie im Vorlagentext selbst, der paratextuell keinerlei Angaben zum Schauplatz macht. Der Handlungsort wird nur über die Rede des Raumfahrers und zwar, wie erwähnt, auf unspezifische Weise semantisiert. Da auch Franz Xavers Übermittlungskanal zur Erde, das Ofenrohr, beim Vorlesen nicht zu sehen war, stellt sich umso mehr die Frage, wo die Handlung eigentlich
126 Strigl, Daniela: »Ihr Auftritt, bitte! Sprachingenieure als Entertainer«, in: Eder/ Vogel, verschiedene sätze treten auf (2008), S. 9-28, hier S. 21. 127 SW 1996, S. 758.
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spielt: ob der Raumfahrer Oswald Wiener und Gerhard Rühm auf einem fremden Planeten oder möglicherweise auf der Erde begegnet. Indem die Lesung nur von Herbert Schmid abgehalten und nicht etwa mit verteilten Rollen gelesen wurde, die Zuschauer demnach nur einer, nicht drei Stimmen zuhörten, fragt sich auch, wer spricht. Die Textvorlage sperrt sich nicht gegen die Deutung, den dialogischen Austausch zwischen Raumfahrer und der Erde als Inneren Monolog einer geisteskranken Figur zu verstehen. Bayers Inszenierung einer einstimmigen Lesung begünstigte die Lesart, der zufolge den Zuschauern beim 2. literarischen cabaret Einblick in das Bewußtsein und die mentalen Prozesse eines geistig Verwirrten gewährt wird, der mit einer Leitzentrale in Verbindung zu stehen und ein historisch bedeutsames Ereignis zu erleben imaginiert. Die devisibilisierende Zurschaustellung von abenteuer im weltraum führt ins literarische Archiv des späten 18. Jahrhunderts zurück. Konrad Bayers Bühnenfassung des Sketches wirft die bereits in Debatten frühromantischer Ästhetiker über Lesedramen verhandelte Frage auf, was dem Publikum auf der Theaterbühne gezeigt werden kann oder soll. Bayers Bearbeitung aktualisierte das in der Frühromantik entdeckte Wirkungspotential von inszenatorischen Versuchen, bei denen der auf Visuelles ausgerichtete, theatrale Raum dadurch neu erforscht wurde, daß er wenig oder gar nichts optisch erfahrbar machte. »Legt man das Wunderbare, die produktive Phantasie und die Verwirrung des Realitätsprinzips als strukturbildende Leitideen romantischer Literatur zugrunde, ist es wenig verwunderlich«, meint Stefan Scherer, »daß Friedrich Schlegel von der ›Unangemessenheit‹ der ›dramatischen Form‹ ›für das romantische Kunstwerk‹ spricht. […] Lektüre ist die angemessene Wahrnehmungsform einer szenischen Illusion, die die ›unbegreiflich schnelle Beweglichkeit der Imagination‹ vollziehen soll, wohingegen bei Dramen, die auf die Repräsentation gesellschaftlicher Wirklichkeit und die moralische Wirkung vorgestellter Affekte kalkuliert sind, die reale Anschauung auf der Bühne erfordert wird.«128
Ludwig Tieck beispielsweise legte großen Wert auf Rezeptionsbedingungen, in deren Rahmen seine Dramentexte im geselligen Rahmen gelesen wurden. Tieck war für sein virtuoses Rezitieren bekannt und veranstaltete regelmäßig Leseabende. Er selbst las trotz körperlicher Versehrtheit über Stunden Dramentexte
128 Scherer, Stefan: Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik, Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 111, 113.
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mit verstellten Stimmen vor exklusivem Publikum.129 Die Wirkungsabsicht hinter frühromantischen Positionen, die das Vorlesen von Dramentexten gegenüber einer bühnengestalterischen Umsetzung präferierten, bestand darin, daß Vorlesungen stärker als Vorführungen »auf die selbsttätige Phantasie des Rezipienten«130 abzielten. Die Zuhörer sollten sich im Kopf ein individuelles Bild von der dargebotenen Geschichte machen. Auch Bayer forderte durch seine Inszenierungsweise von abenteuer im weltraum im 2. literarischen cabaret die aktive Teilhabe des Zuschauers ein, das Vorgelesene durch seine Vorstellungskraft zu bebildern. Mit dem Konzept der inneren Bühne von Bayers abenteuer im weltraum werden die Zuschauer 1959 schon allein aufgrund ihrer medialen Sozialisierung durch das zeitgenössische Hörspiel vertraut gewesen sein. Mediengeschichtlich stehen die 1950er und 60er Jahre ganz im Zeichen des Neuen Hörspiels, das sich in Dialog- und Handlungsführung am Drama orientierte, dessen Darstellungsmodi rundfunkgerecht eingesetzt wurden. Im deutschsprachigen Raum waren es Autoren wie Günter Eich, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Wolfgang Weyrauch oder Ingeborg Bachmann, die Versuche zur Neukonzeptionalisierung der Gattung Hörspiel unternahmen. Die Bandbreite dieser Kunstprojekte reicht von konventionellen Sprechstücken bis zu experimentellen Tonmontagen.131 Erwin Wickert legte 1954 in der Zeitschrift Akzente eine kurze gattungstheoretische Definition vor, die nicht nur verdeutlicht, was das Neue Hörspiel vom Drama unterscheidet, sondern auch die Charakteristika von Konrad Bayers devisibilisierter Inszenierung beim 2. literarischen cabaret resümiert:
129 Vgl. Boatin, Janet: »Der Vorleser«, in: Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.), Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung, Berlin/New York: de Gruyter 2011, S. 177-189. 130 S. Scherer: Witzige Spielgemälde, S. 126. 131 1961 löste Friedrich Knillis Formalästhetik über Das Hörspiel eine Diskussion über die Möglichkeiten einer eigenständigen Radiokunst aus. Knilli definierte »die Eigenwelt des Hörspiels« als »Schallvorgänge« und zog daraus die Schlußfolgerung, es erscheine »hörerpsychologisch wichtig, daß im Hörspiel der Vorstellungsraum zurückgedrängt wird und die Realität des Hörspiels, die konkreten Schallvorgänge, stärker ins Bewußtsein des Hörer gehoben werden.« Knilli, Friedrich: Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels, Stuttgart: Kohlhammer 1961, S. 23, 103.
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»Das Hörspiel kann die äußere Zeit der Handlung zu einer inneren umwandeln. Das Hörspiel kann die Handlung assoziativ verbinden, vorantreiben und vertiefen. Die Handlung des Hörspiels spielt auf einer Inneren Bühne. […] Das Hörspiel spricht nur den einzelnen an.«132
Darum ging es bei der akustischen Inszenierung von Bayers Sketch: Äußeres wurde nach innen verdreht. Das Weltraumabenteuer spielte auf einer inneren Bühne, die jeden Einzelnen zugleich ansprechen wie aktivieren sollte.
S CIENCE F ICTION
AUF DER
B EWUSSTSEINSBÜHNE
Konrad Bayer schrieb allerdings keine Hörspiele. abenteuer im weltraum steht bezüglich seines Darstellungsinventars weniger mit dem Neuen Hörspiel als mit dem zeitgenössischen Film in Verbindung. Seit den 1950er Jahren boomte der technisch immer professioneller abgedrehte Science-Fiction-Film, der nicht mehr bloß wissenschaftlichen Erfindungsreichtum und Zeitreisen zum Thema hatte.133 In auffällig zeitlicher Nähe zur Entstehung von abenteuer im weltraum lief 1957 in deutschsprachigen Kinos die Metro Goldwyn Mayer-Produktion Alarm im Weltall an, die im amerikanischen Original unter dem Titel Forbidden Planet (1956) veröffentlicht wurde.134 Der Science-Fiction-Film ist nicht nur aufgrund seines Soundtracks, der als erster komplett elektronisch produziert wurde, oder seines ungewöhnlich kreativen Settings, sondern auch aufgrund seines plots, in dem mit Wortwitz in den
132 Wickert, Erwin: »Die innere Bühne. Zur Dichtungsgattung Hörspiel«, in: Akzente 6 (1954), S. 505-530, hier S. 509, 512. 133 Die Science-Fiction-Filme in den 1950er Jahren sind unter kulturpolitischen Gesichtspunkten interessant. Die meisten dieser in US-amerikanischen Studios produzierten Filme fungierten wie das parabelhafte War of the worlds (1953), in dem außerirdische Wesen die USA angreifen und zerstören wollen, als Propagandamittel im Kalten Krieg. Sie handeln darüber hinaus entweder von Fortschrittsoptimismus und expansiver Weltraumeroberung oder zeigen dystopisch Katastrophen auf der Erde wie die Invasion fremder Mächte. Vgl. Clute, John/Nicholls, Peter (Hg.): The Encyclopedia of Science Fiction, London: Orbit 1999. 134 Forbidden Planet (USA 1956, R: Fred M. Wilcox). Alarm im Weltall, DVD, Warner Home Video 2006.
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Dialogen und Ironie das Genre selbstreflexiv zum Thema gemacht wird, ein genrehistorischer Wendepunkt. Motivisch stilprägend für Nachfolgerfilme war beispielsweise die Eröffnungsszene von Forbidden Planet. Die Totale zeigt zunächst, mit unheimlichen Tönen unterlegt, einen dunklen galaktischen Raum, den ein Raumschiff kreuzt, während ein männlicher Erzähler aus dem Off die evolutionäre Vorgeschichte zusammenfaßt: Der Hyperantrieb ist erfunden, die Lichtgeschwindigkeit durchbrochen »und damit begann die Menschheit endlich die Eroberung und Kolonisation des tiefen Weltraums«.135 Im Jahre 2200 machen sich Kapitän Adams und seine Crew auf die Suche nach Überlebenden eines verschollenen Raumschiffs und stoßen dabei auf den Zentralstern »Altair 4«. Auf dem Planeten leben inmitten einer paradiesischen Oase mit wilden Tieren einsam und zurückgezogen der Philologe Dr. Edward Morbius und seine attraktive Tochter. Sie sind die einzigen Überlebenden einer ursprünglichen Kolonie. Im Alltag wird die geschrumpfte Familie von einem sprechenden, hochintelligenten und lernfähigen Roboter namens Robby unterstützt.136 Der technisch versierte Sprachwissenschaftler macht der Rettungsmannschaft klar, daß er sein Leben in Isolation schätzt, und erzählt, daß alle anderen Bewohner kurz nach seiner Landung auf dem Planeten vor geraumer Zeit »von einem teuflischen Wesen« getötet wurden, einer »dunklen, unerklärlich furchtbaren Kraft zum Opfer gefallen« seien.137 Hinter diesem Mysterium verbirgt sich die Geschichte einer Spezies, die auf Altair 4 vormals gelebt hat. »Ethisch und vor allem auch technologisch waren [die Krell, wie sie sich nannten,] der Menschheit um Jahrmillionen voraus. Denn bei der Erschließung der Naturgeheimnisse haben sie sogar ihre niedrigsten Instinkte besiegt«.138 Die
135 Ebd., 1:50 Min. 136 Robby beherrscht nicht nur 187 Sprachen »mit allen Dialekten und Abarten« (ebd., 12:50 Min.), er kann auch ethisches Verhalten innerhalb kürzester Zeit erlernen. Er ist beispielsweise imstande, eine atomare Strahlenwaffe nach der Einsicht in ihre zerstörerische Wirkung auf einen Gegenstand, nicht gegen ein Lebewesen einzusetzen (ebd., 17:20 Min.). An solchen Stellen reagiert der Science Fiction-Film nicht nur auf Diskursformationen über den Unterschied zwischen Mensch und Maschine, die im späteren Teil der Arbeit beschrieben werden, sondern bezieht, wenn auch ironisch gebrochen, mit dezent pazifistischem Unterton politisch Stellung in einer mit atomarer Gewalt wettrüstenden Zeit. 137 Ebd., 19:50 Min. 138 Ebd., 48:06 Min.
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»fast göttlich zu nennende Rasse«139 sei vor 2000 Jahrhunderten in einer einzigen Nacht zugrunde gegangen. Ein planetarisches Tunnelsystem beherbergt noch die Labore, Bibliotheken und selbstregulierenden Kraftanlagen der Krell, die ihre wissenschaftliche Fortschrittlichkeit, ausgeklügelte Nachwuchsförderung und technologische Perfektion deutlich machen. Die Archive dokumentieren das letzte Projekt, das die Krell verfolgten, nämlich als »Zivilisation ohne physikalische Abhängigkeit« zu leben.140 Kapitän Adams’ Mannschaft wird daraufhin von unsichtbaren Monstern angegriffen und sukzessive dezimiert. Es stellt sich heraus, daß die Krell durch die Unterdrückung von Trieben Ungeheuer »aus dem Id« wachriefen, die sie schließlich ausrotteten. Die Rettungscrew um Kapitän Adam wird letzten Endes von unsichtbaren Angreifern aus Dr. Morbius’ Es in Gefahr gebracht. Entgegen genrespezifischen Mustern siegen Physik, Biologie und Technik in Alarm im Weltall nur eingeschränkt, der Schlüssel zur Erkenntnis liegt vielmehr »in der Region des Unbewußtseins«.141 Gesellschaftsveränderndes Potential hat im zeitnah zum 2. literarischen cabaret publizierten Science-Fiction-Klassiker weder wissenschaftlicher noch technischer Fortschritt. Selbst hochentwickelte Zivilisationen können durch das Unterbewußtsein einzelner Individuen und die Kraft unterdrückter Gedanken vernichtet werden. Auch in abenteuer im weltraum wird die Vorstellung einer besseren Welt durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt hinterfragt. Diesbezüglich spricht Gerhard Rühms einziger Satz in abenteuer im weltraum vielsagend das letzte Wort: »los eam gee, ea kend hoid di ua ned.«142 Das Wortspiel »ea kend« meint eben nicht nur ›er kann die Uhr nicht lesen‹, sondern trägt auch das Wort ›Erkenntnis‹ in sich. Franz Xavers Expertenwissen erweist sich am Ende als sehr begrenzt und der technik- wie wissenschaftsgläubige Raumfahrer ist der Lächerlichkeit preisgegeben.143 Franz
139 Ebd., 48:47 Min. 140 Ebd., 55:52 Min. 141 Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Pforzheim: Flammer und Hoffmann 1846, S. 1. 142 SW 1996, S. 117. 143 abenteuer im weltraum steht innerhalb des 2. literarischen cabarets in direktem Zusammenhang mit Oswald Wieners Beitrag erfindung der elektrizität, in der sich Wiener »gegen die wissenschaft, und gegen die popularisierung abstrakter theorien in taschenbuchserien« richtete. Wiener, Oswald: »das ›literarische cabaret‹ der wie-
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Xavers naturwissenschaftlichem Vorgehen, auf der Grundlage einer sachlichen und genauen Beobachtung allgemeingültige Aussagen abzuleiten bzw. Erkenntnisse an die aufgeschlossene Zuhörerschaft auf der Erde weiterzuleiten, wird die Alltagstauglichkeit der Dichterfiguren Wiener und Rühm entgegengestellt. Diskurshistorisch fügt sich diese Absage an den menschheitsdienlichen Erfolg von wissenschaftlichen Weltraumreisen in den Trend der zeitgenössischen Pressereaktion auf den realhistorischen Beginn des kosmischen Zeitalters ein. Wie Alexander Geppert belegt hat, löste der Start des ersten künstlichen Trabanten Sputnik 1 im Jahre 1957 in der westeuropäischen Zivilbevölkerung weder einen Schock noch Weltraumhysterie aus. »Der ›Sowjet-Satellit‹ kam eher unspektakulär daher und vergleichsweise schlecht [in der westdeutschen Presselandschaft, JB.] weg.«144 Daß doch lediglich ein technologisch hochgerüsteter Blechball um die Erde kreiste, entzauberte aus Laiensicht den Traum vieler Forscher, dergestalt den Durchbruch in die Untiefen des Alls zu bewerkstelligen. Gleichermaßen entzaubert die Figur Rühm in abenteuer im weltraum den hightechausgestatteten Kosmonauten, entblößt ihn als kommunikativ Unfähigen und technisch letztlich Beschränkten. Das Wort ›Science Fiction‹ in der Überschrift dieses Kapitels rekurriert bezüglich des Sketches von Konrad Bayer somit auf zwei Aspekte. Der fiktionale Text positioniert sich auf der einen Seite kritisch gegenüber Erkenntnissen der Natur- und Technikwissenschaft, vollzieht durch die Devisibilisierung bei seiner Aufführung auf der anderen Seite ein bereits in frühromantischen Ästhethiken angelegtes Gedankenexperiment. Per Aktivierung von Vorstellungskraft waren die Rezipienten des 2. literarischen cabarets zur individuellen Gestaltung einer Bewußtseinsbühne angehalten, um das unsichtbare abenteuer im weltraum im Kopfkino ablaufen zu lassen. Ein Bilder- und Motivarsenal hierfür stellte der zeitgenössische Science-Fiction-Film bereit. Wirkungsästhetisch gewährte abenteuer im weltraum dem Rezipienten insofern die gedankliche Freiheit zur Imaginationsbewegung. Doch war dieser Assoziationsfreiheit ein Kontrollmoment inhärent. Bayer machte nach dem 2. literarischen cabaret einen für seine Poetik
ner gruppe«, in: Rühm, Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen (1985), S. 415. 144 Vgl. Geppert, Alexander C. T.: »Anfang oder Ende des planetarischen Zeitalters? Der Sputnikschock als Realitätseffekt, 1945-1957«, in: Igor J. Polianski/Matthias Schwartz (Hg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 74-94, hier S. 77.
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typischen Verbesserungsvorschlag für nachfolgende aktionskünstlerische Veranstaltungen der Wiener Gruppe: »die haltung unserer mitwirkenden ›als ob‹ stellt grundsätzlich etwas falsches dar. […] da unser dialog weder eine dichtung noch dramatisches handwerk sein soll, richtet sich das sprechen voll und ganz nach unseren anordnungen«.145
Klaren Anweisungen sollte Folge geleistet werden. Während der Abendveranstaltung im April 1959 waren auch die Rezipienten unter der Kontrolle aller Mitwirkenden. Jeder anwesende Rezipient war den Aktionen der Wiener Gruppe ausgeliefert, indem er sich während des literarischen cabarets immerzu selbständig die Inkongruenzen der Veranstaltung erklären mußte. »Man weiß nicht, wer ist wer und was ist von wem. Man weiß nicht, bewegen sie sich privat auf der Bühne oder gehört das zum Programm, sind das beabsichtigte endlose Pausen oder unbeabsichtigte«,146 lautete es in einer Kritik in der Österreichischen Neuen Tageszeitung, welche die Verwirrung der Rezipienten des literarischen cabarets bestätigt. Hierin äußert sich ein wichtiges Kriterium für die herausfordernde Kunsterfahrung der Zuschauer am 15. April 1959: »Während in anderen avantgardistischen Positionen der Rezipient mit der Frage konfrontiert wird, ob das Wahrgenommene noch Kunst ist oder nicht, wird er [im literarischen cabaret der Wiener Gruppe] noch radikaler mit dem im Moment der Wahrnehmung nicht mehr lösbaren Problem provoziert, ob das Wahrgenommene noch Aktion ist oder nicht.«147
Die Wiener Gruppe löste den Grenzverlauf zwischen Realem und Fiktionalem nicht mit Illusionsbrechungen in ihrem Kabarett aus, sondern signalisierte dem anwesenden Publikum vom ersten Eintreffen an eine allumfassende, von ihr gesteuerte Geschehensordnung. Die Grenzverwischung zwischen Bühnen- und Zu-
145 Bayer, Konrad: »anweisungen nach dem cabaret«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 359. 146 Grimme, Karl Maria: »Dada plus Surrealismus, wienerisch akzentuiert. Literarisches Kabarett im Porrhaus bei steckvollem Saal. Eine Olla podrida von Gekonntem und Ungekonntem«, in: Österreichische Neue Tageszeitung vom 17. April 1959 (abgedruckt in: Weibel, die wiener gruppe [1997], S. 422). 147 O. Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus, S. 92.
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schauerraum ist zwar theatergeschichtlich von der Wiener Gruppe nicht neu erfunden worden, neu ist allerdings die poetologische Funktionalisierung einer solchen sukzessiven Grenzverschiebung in Konrad Bayers Werk. Die Forschung ist bisher nur auf Bayers zumeist ethischen Themenhorizont wie Tod, Endlichkeit, Körper(verfall) eingegangen oder hat die Problematik des Scheiterns von Kommunikation wie in vorliegendem Sketch erörtert. Was nicht erkannt wurde, ist die Integration des Rezipienten, Lesers sowie Zuschauers, in ein Ordnungssystem, das autorschaftlich stark gesteuert wird, gleichwohl aber assoziative Freiheit und aktives Beteiligtsein des irritierten Rezipienten zuläßt, wenn nicht sogar einfordert. Während Ingenieure und Forscher seit den 1940er Jahren die Simulationsfähigkeit komplexer Systeme als Technik per Kommunikation und Kontrolle anstrebten, ist Konrad Bayers Œuvre eine sehr eigenwillige Poetik des communication & control implementiert. Als zentral stellt sich die regulative Systemkontrolle seitens eines Autors dar, der Kunstwerke anbietet, die nicht störungsfrei sind, sondern desorientieren, in anderen Worten: logische Entwicklungen oder erklärungsdienliche Aussagen selten beinhalten. Bayers Werk zeichnet sich immer durch einen Restwert an Unberechenbarkeit aus. Zeitgleich unternimmt Max Bense den Versuch, auf der Grundlage von Kybernetik und Informationstheorie sowie Vorarbeiten wie Birkhoffs ästhetischem Maß die Berechnung von Kunst und ihre Schreibbarkeit durch Rechenmaschinen theoretisch zu fundieren.
Wissenschaftsgeschichte ästhetischer Informationen
Eine Kulturgeschichte der Informationsästhetik hat die Eigenrhythmik der westdeutschen Geisteswissenschaften zu berücksichtigen, die keineswegs mit den Einschnitten und Entwicklungen der deutschen Politik- und Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts übereinstimmt. Weder nach 1918, noch 1933 oder 1945 sind Reformen in den Geisteswissenschaften zu konstatieren, die Phasen nach den politischen Systemwechseln und den Weltkriegen waren vielmehr durch sowohl personelle als auch wissenschaftskonzeptionelle Kontinuitäten gekennzeichnet. Brüche vollzogen sich zeitlich versetzt. Anhand fachspezifischer Wissenschaftsgeschichten läßt sich historischer Wandel erst am Beginn der 1960er Jahre registrieren. Jan Eckel begreift deshalb die frühen 1960er Jahre bis zu den frühen 80er Jahren als die »Achsenzeit der Geisteswissenschaften«1 im 20. Jahrhundert, in der sich auf mehreren Ebenen strukturelle Veränderungen abzeichneten. Ein seit Ende der 1950er Jahre verfolgter bildungspolitischer Strukturplan zeitigte einen quantitativen Ausbau des Schul- und insbesondere Hochschulsektors, den 1
Eckel, Jan: »Deutsche Geschichtswissenschaften 1870-1970. Institutionelle Entwicklungen, Forschungskonzeptionen, Selbstwahrnehmung«, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 353-395, hier S. 390. Eckel bezieht mit seiner These der Achsenzeit Position in einer zeitgeschichtlichen Debatte über die 1960er Jahre in Westdeutschland. Gegenstand der Debatte ist die Frage danach, ob ›1968‹ und die Studentenbewegung einschneidend und langfristig Strukturen in der westdeutschen Gesellschaft veränderten, oder ob sich nicht vielmehr über einen längeren Zeitraum von Ende der 1950er Jahre bis Anfang der 70er Jahre, in einem Zeitraum der langen 60er Jahre, tiefgreifende gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Umbrüche verzeichnen lassen.
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Christoph Oehlers Studie über die Hochschulentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 soziologisch nachzeichnet. Kurzschlüssig wäre die rein demographische Erklärung, daß ein geburtenstarker Jahrgang die Hochschulreife erreichte, das Bildungssystem sich dieser natürlich gewachsenen Nachfrage anpassen und sozial öffnen mußte, oder Gründe für die Expansion lediglich im Ökonomischen zu suchen, da »nach dem Abbau der Arbeitslosigkeit der zunehmende Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften für die wirtschaftliche Expansion einen Sog auf den Hochschulzugang aus[übte]«.2 Der Hochschulausbau war ebenso eine bildungspolitische Reaktion in einem transnationalen Spannungsgefüge auf »die Befürchtung, die Bundesrepublik sei gegenüber anderen Ländern und vor allem gegenüber dem Systemgegner im Kalten Krieg in einen Bildungsrückstand geraten, den es schleunigst aufzuholen gelte.«3 Sowohl die Anzahl der Professuren als auch der Studierenden in den Geisteswissenschaften stieg von Ende der 1950er Jahre fünfzehn Jahre lang exponentiell an. Die Geisteswissenschaften veränderten sich nicht nur institutionell grundlegend. Im Verlauf dieser Achsenzeit vollzog sich auch eine paradigmatische ›innere Wende‹. In zahlreichen Fächern ist die Tendenz zu einer »(Re-)Pluralisierung und Diversifizierung der theoretischen, methodischen und forschungskonzeptionellen Orientierungen«4 zu verzeichnen. Von einer Spezialisierung der geisteswissenschaftlichen Forschung en gros kann jedoch nur unter Vorbehalt gesprochen werden. »In erster Linie ist hier an die Geschichtswissenschaft und die Germanistik zu denken. In diesen Facheinheiten weisen die Teilbereiche, die am stärksten wachsen – Neuere/Neue Geschichte, Neuere Deutsche Literatur –, die detailliertesten Spezialisierungen auf«5. Die Bemühungen um eine innerdisziplinäre Methodenreflexion und daraus resultierende Spezialisierung der Fächer ist mitunter dadurch zu erklären, daß junge Wissenschaftler die Deutungsmacht in Frage stellten, welche die amtierenden Ordinarien der Vorgängergeneration
2
Oehler, Christoph: Hochschulentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, Frankfurt a.M.: Campus 1989, S. 18.
3
Eckel, Jan: Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 113.
4
Eckel, Jan: Deutsche Geschichtswissenschaften 1870-1970«, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 392.
5
Weingart, Peter et al.: Die sog. Geisteswissenschaften. Außenansichten. Die Entwicklung der Geisteswissenschaften in der BRD 1954-1987, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 273 (Herv. i. O.).
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noch beanspruchten und innehatten. Die theoretischen Neuausrichtungen der geisteswissenschaftlichen Fächer waren also zugleich Anlaß, Zweck und Ergebnis fächerinterner Positionierungskämpfe. In der Germanistenzunft entluden sich die unterschwelligen Machtkämpfe bekanntermaßen 1966 öffentlich auf dem Münchner Germanistentag.6 Die westdeutsche Hochschullandschaft bemühte sich seit Ende der 1950er Jahre darüber hinaus wieder an internationale, insbesondere US-amerikanische Wissenschaftsdebatten an- und aufzuschließen. Diese Öffnung ging mit einem interdisziplinären Austausch einher, der einen dynamischen Transfer von Wissenskonzepten in Gang setzte. Die transformatorische Dynamik von epistemologischen Konzepten wird eindrücklich im Anstieg einer metaphorisch geprägten Wissenschaftssprache deutlich, deren Terminologien wie beispielsweise der Informationsbegriff in verschiedenen Disziplinen eingeführt wurden. Die kulturpolitischen Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer neuen Kunsttheorie in den 1950er Jahren waren somit günstig. Die Informationsästhetik entstand, während (und weil) sich die deutschen Geisteswissenschaften neu formierten und institutionell einen enormen Strukturwandel durchliefen, von dem Max Bense zunächst dadurch profitierte, daß er auf einen neu eingerichteten Lehrstuhl an eine im Umbruch befindliche Hochschule berufen wurde.7 Seine Etablierung in Stuttgart fällt zeitlich mit den Bestrebungen um eine »Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft«8 zusammen, die von innen heraus eingefordert wurde. Mit Max Benses Position wird ein randständiges Phänomen innerhalb der Nachkriegsgermanistik untersucht und mit der Informationsästhetik ein genuin nicht-philologischer Theorieansatz, der Kybernetik und Philosophie verband, »als eine objektive und materiale Ästhetik gedacht« gedacht war und
6
Wiese, Benno von/Henss, Rudolf (Hg.): Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München 17.-22. Oktober 1966, Berlin: E. Schmidt 1967; Schönert, Jörg: »Versäumte Lektionen? 1968 und die Germanistik der BRD in ihrer Reformphase 1965-1975«, http://www.literaturkritik.de/public/rezen sion.php?rez_id=12169 vom 31.03.2014.
7
Die Technische Hochschule Stuttgart wurde 1967 zur Universität Stuttgart. Vgl. Becker, Norbert (Hg.): Die Universität Stuttgart nach 1945. Geschichte – Entwicklungen – Persönlichkeiten, Ostfildern: Thorbecke 2004.
8
Vgl. Danneberg, Lutz/Müller, Hans-Harald: »Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. Ansprüche, Strategien, Resultate«, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie X/1 (1979), S. 162-191.
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reklamierte, »nicht mit spekulativen, sondern mit rationalen Mitteln [zu] arbeit[en].«9 Die »Institutionalisierung der Bildungskybernetik« (Helmar Frank) in Stuttgart war nicht nur eine minoritäre in der Bundesrepublik seit Mitte der 1950er Jahre, sondern hatte auch im internationalen Vergleich Alleinstellung. Relevant ist der Fokus auf die Geschichte der Informationsästhetik und ihres Begründers insofern, als er die Eigenlogik wissenschaftlicher Diskurse vom Rand aus illustriert. Benses Ästhetik, deren frühe Ausformung in diesem Kapitel erörtert wird, ist des weiteren in mediengeschichtlicher Hinsicht von Interesse, weil sie, die Relevanz und Auswirkungen technologischer Umbrüche antizipierend, Wissenschaft, Technik und Literatur in eine Kunsttheorie zusammenführte. Der folgenden Darstellungslogik einer Wissenschaftsgeschichte, die Formierung der Informationsästhetik eng an Max Bense zu knüpfen, liegt zum einen die schreibökonomische Entscheidung zugrunde, Geschichte über einzelbiographische Erfahrungen narrativ zu bündeln. Der Gewinn dieser Fokussierung ist zum anderen die Erforschung eines kulturgeschichtlichen Settings, das potentiell andere inhaltliche Bezüge eröffnet und anschlußfähig macht.
F ORMIERUNG EINER F ACHDISZIPLIN . I NFORMATIONSÄSTHETIK AM ANFANG Max Bense wurde 1937 mit einer Arbeit über Quantenmechanik und Daseinsrelativität promoviert, nachdem er 1930 in Bonn Physik, Chemie, Mathematik, Geologie und Philosophie studiert, drei Jahre später sein Diplom als Geologe abgelegt und 1935 ein Zweitstudium in Köln aufgenommen hatte, dessen Fächerkombination Physik, Mathematik und Philosophie für seinen akademischen Werdegang wegweisend werden sollte. Benses Publikationstätigkeit für Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk setzte bereits während seines Studiums ein, die Liste seiner Veröffentlichungen umfaßt bis zu seinem Tod über tausend Titel10
9
M. Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, S. 8.
10 Max Bense war notorischer Vielschreiber. Eine von Elisabeth Walther herausgegebene Gesamtbibliographie umfaßt 70 philosophische und wissenschaftliche Bücher, 990 kleinere Schriften in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden, 97 wissenschaftstheoretische Beiträge, 37 Geleitworte und Übersetzungen, 28 selbständige, 97 unselbständige belletristische Texte, 226 Bücher mit und für bildende Künstler sowie 191 Rundfunkbeiträge.
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und weist eine für die deutsche Wissenschaftsgeschichte zugleich bezeichnende wie suspekte Kontinuität in den Kriegsjahren auf. Bense arbeitete von 1941 bis zum Kriegsende in dem von Hans Erich Hollmann geleiteten Laboratorium für Hochfrequenzphysik und Elektromedizin11, das »Verfahren zur Erzeugung und zum Empfang von elektromagnetischen Wellen im Zentimeterbereich«12 entwickelte, die für die Radartechnik der Kriegsmarine und Luftabwehr des »Dritten Reichs« gebraucht wurde. Als Hollmanns wissenschaftlicher Mitarbeiter hatte Bense eine zuarbeitende Behelfsfunktion im Hochfrequenzlabor inne, das nach einer Bombenzerstörung 1943 von Berlin ins thüringische Georgenthal verlegt wurde. Bense war weder NSDAP-Mitglied noch im Kriegsdienst, da er 1941, zwei Jahre nach seiner Einberufung und Ausbildung zum Meteorologen, aus der Wehrmacht entlassen und vom Militärdienst entbunden worden war. Dennoch stellt sich angesichts seiner Beschäftigung in Hollmanns Labor der Eindruck eines für die deutsche Technikwissenschaftsgeschichte typischen doppelten Profits ein: Im »kriegswichtigen« Labor war er sowohl bis als auch nach 1945 geschützt. In den Kriegsjahren konnte er relativ ungehindert forschen wie publizieren und verschaffte sich somit einen Wettbewerbsvorteil im Aufbau einer akademischen Karriere, die sich nach Kriegsende und dem Systemwechsel lückenlos fortsetzte. Hollmann blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig für Bense. Der seit Ende der 1940er Jahre in der US-amerikanischen Militärforschung arbeitende Physiker,13 mit dem Bense in Briefkontakt blieb, machte ihn
11 Vgl. Herrmann, Hans-Christian von/Hoffmann, Christoph: »›Der geistige Mensch und die Technik‹. Max Bense im Labor für Hochfrequenzphysik (1941-1945)«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 19-31. 12 Herrmann, Hans-Christian von/Hoffmann, Christoph: »Die Technik geistig in der Hand halten«, in: FAZ, Nr. 200 vom 28.08.2004, S. 39. 13 Mitchell G. Ash umschreibt den Migrationsvorgang deutscher Spezialisten der Technikwissenschaften, mit anderen Worten die bemerkenswerte Brain-Drain-Bewegung von Wissenschaftlern, Wissen, Laboren und Forschungspraktiken aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die westalliierten Staaten und die Sowjetunion ab den späten 1940er Jahren als »technokratische Unschuld«. Ash, Mitchell G.: »Verordnete Umbrüche, Konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 903-923, hier S. 923. Die Spezialisten konnten ihre Forschungstätigkeit an ihren neuen Arbeitsplätzen bruchlos fortführen; »sowohl für die sowjetischen als auch für die amerikanischen Militärbehörden und Geheimdienste spielte die NS-Vergangenheit
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frühzeitig auf Norbert Wieners Buch Cybernetics aufmerksam,14 das wiederum den zentralen Impuls für die Entstehung der Informationsästhetik gab. Max Bense habilitierte sich, wurde außerplanmäßiger Professor für Philosophische Propädeutik und Grundlagenforschung und kurz darauf zum Kurator der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der in der Sowjetischen Besatzungszone ersten neueröffneten Universität, ernannt.15 Als Bense in die engere Auswahl für einen Philosophielehrstuhl in Stuttgart kam und schließlich der Ruf an ihn erging, fiel dem Philosophen, dem es in der SBZ »nicht möglich schien, in einer vorgetäuschten Verbrüderung etwas anderes als einen Zerfall der menschlichen Würde zu erkennen«,16 der Weg in den Westen nicht schwer. Bense nahm zum
der deutschen Wissenschaftler und Techniker keine Rolle, ›wenn die Qualifikation der betreffenden Person selbst genutzt werden konnte und damit keinesfalls in die Hände der konkurrierenden Alliierten fallen sollte‹.« Ash, Mitchell G.: »Konstruierte Kontinuitäten und divergierende Neuanfänge nach 1945«, in: Michael Grüttner et al. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 215-245, hier S. 219 (Fußnote 12). 14 Vgl. Herrmann, Hans-Christian von: »Metatechnik«, in: Büscher/von Herrmann/ Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 44-48. 15 Das Landesamt für Volksbildung hatte im August 1945 vorgeschlagen, einen hauptamtlichen Kurator wiedereinzusetzen. Bense übernahm dieses Amt nach dem plötzlichen Tod von Carl Theil. Er erfüllte das Amt »eher als Mittler zwischen Land und Universität denn als Aufsichtsperson; 1946 wurde er auf sowjetischen Druck durch einen der SED angehörenden Kurator ersetzt.« John, Jürgen/Wahl, Volker/Arnold, Leni (Hg.): Die Wiedereröffnung der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1945. Dokumente und Festschrift, Rudolfstadt/Jena: Hain-Verlag 1998, S. 25 (Fußnote 31). 16 Bense, Max: »Vorbemerkung«, in: Max Bense, Literaturmetaphysik. Der Schriftsteller in der technischen Welt, Stuttgart: DVA 1950, S. 12. »Ursprünglich der ideologisch besonders überwachten Pädagogischen Fakultät angehörend mußte Bense seine Lehrveranstaltungen auf Anweisung des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung vom März 1948 im Rahmen der Philosophischen Fakultät abhalten, ohne ihr tatsächlich anzugehören. Die Bemühungen von Kollegen, ihm einen Lehrstuhl für Mathematische Logik und Theorie der exakten Wissenschaften an der weniger exponierten Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät zu verschaffen, blieben erfolglos. Im Juli 1948 verließ Bense daraufhin Jena heimlich in Richtung Boppard am Rhein.« »Philosoph in technischer Zeit. Stuttgarter Engagement. Interview mit Elisabeth Wal-
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Wintersemester 1949/50 die Gastprofessur für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Technischen Hochschule Stuttgart an, wurde 1950 verbeamtet und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung 1978.17 Hier nahm der ›Mythos Bense‹ seinen Anfang. Lange stand die Informationsästhetik im Schatten dieses Personenmythos, bis die methodische Weiterentwicklung, insbesondere von Helmar Frank, sie befreite. Bense lehrte in Stuttgart neben der Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger, dem Germanisten Fritz Martini und dem Historiker Golo Mann. Die Nennung speziell dieser Namen erklärt sich aus Benses explizit interdisziplinärer Forschungspraxis. Nicht nur setzte Bense sich stark für die Einführung des Studium Generale18 an der Technischen Hochschule Stuttgart ein, in dessen Rahmen er Leiter des Arbeitskreises Rhetorik war und die Studiengalerie betreute, die deutschlandweit sowohl die erste Galerie einer Universität war, als auch mit Georg Nees’ Arbeiten die ersten Computergraphiken als Kunstform ausstellte. Bense selbst legte weniger Wert auf binnenfachlichen Kontakt mit der zeitgenössischen Philosophie, als er vielmehr den regen Austausch mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen suchte; so zum Beispiel in der Zeit von 1953-58, als er eine Gastprofessur an der Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) bekleidete. Nachdem sich Bense Max Bill und Otl Aicher 1952 bei einem Vortrag kennengelernt hatten, luden sie ihn zu der Gastprofessur an die neue Ulmer Hochschule ein. Das Lehrprinzip an der HfG sah eine Verzahnung von Wissenschaft und gestalterischer Praxis vor. Die Studenten sollten zu Designern einer neuen, industriell produzierten Massenkultur ausgebildet werden. Als Bense nach Ulm kam, war er Mitgestalter eines wichtigen Konstituierungsprozesses der Hochschule für
ther am 28. November 2003 in Stuttgart, Teil 2«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann: Ästhetik als Programm (2004), S. 63. 17 Vgl. Thomé, Horst: »Einheit des Wissens im Zeichen der ›Technischen Existenz‹. Max Bense«. In: Becker, Die Universität Stuttgart nach 1945 (2004), S. 345-348. 18 Das Studium Generale war zwar durchaus eine an vielen Universitäten angestrebte Konzeption, die allerdings auch starken Widerspruch erregte gerade von denjenigen, die sich für die Spezialisierung der geisteswissenschaftlichen Fächer einsetzten: »Die Westdeutsche Rektorenkonferenz sprach in ihrer Entschließung vom 10.7.1951 zwar dem Studium generale eine ›persönlichkeitsbildende Macht‹ zu, insistierte gleichzeitig aber darauf, daß Studien- und Prüfungsordnungen fachwissenschaftlich auszurichten seien.« C. Oehler: Hochschulentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, S. 26.
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Gestaltung. Zur Diskussion stand damals die inhaltliche Ausrichtung des Lehrplans. In der Kontroverse ging es um mehr als curriculare Entscheidungen, es stand die philosophische Leitlinie der neuen Hochschule zur Debatte: ob die HfG der Bauhaustradition folgen oder etwas Neues begründen sollte.19 Bense traf in Ulm auf eine motivierte Studentenschaft, ein innovationsfreudiges Kollegium und ein außergewöhnliches Lehrkonzept: »Die Lehre konzentrierte sich auf die praktische Entwurfstätigkeit. Die Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse und Methoden begleitete den Prozess vom Entwurf bis zum Ergebnis. So wurden in der Abteilung ›Produktgestaltung‹ Gegenstände und Serien für die industrielle Produktion geplant und entworfen, innerhalb der Abteilung ›Bauen‹ Modulsysteme für industrialisiertes Bauen entwickelt und in der Abteilung ›Visuelle Kommunikation‹ mit den Mitteln der Typografie, Grafik und Fotografie an der Visualisierung komplexer Sachverhalte oder an kompletten Erscheinungsbildern gearbeitet.«20
Bense baute an der Ulmer Hochschule eine eigenständige Abteilung auf. Zur Eröffnung 1955 konnte er als Festvortragenden Norbert Wiener gewinnen. Der Lehrplan dieser Facheinheit, der Abteilung ›Information‹, zielte auf die Vermittlung informationstheoretischer Kenntnisse und publizistischer Praktiken, um »Publizisten für Presse, Funk, Fernsehen und Film auszubilden − für Kommunikationsmittel, welche die moderne Industriegesellschaft in immer stärkerem Masse prägen und ihr Funktionieren garantieren.«21 Namhafte Gastdozenten und bekannte Akteure im westdeutschen Literaturbetrieb der 1950er und 60er Jahre wie Eugen Gomringer, Albrecht Fabri, Käte Hamburger, Gert Kalow, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser hielten Lehrveranstaltungen ab. Man wird anhand dieser Auflistung der in kurzer Zeit entwickelten Bekanntheit des Lehrfachs ›Information‹ an der HfG ansichtig. Die Liste belegt, wie vernetzt Max Bense innerhalb des literarischen Feldes war. »Größerer Erfolg sollte der Informationsabteilung neben den Abteilungen für Produktform und Visuelle Gestaltung (später: Visuelle Kommunikation) allerdings aufgrund geringer Studen-
19 In dieser Konfrontation generationeller Designkonzepte wurde gleichsam die Justierung des Verhältnisses zwischen Designer, Produkt und Gesellschaft diskutiert. In letzter Konsequenz verließ der ehemalige Rektor Max Bill die Ulmer Hochschule. 20 http://www.hfg-archiv.ulm.de/die_hfg_ulm/geschichte_4.html vom 31.03.2014. 21 Krampen, Martin/Hörmann, Günther: Die Hochschule für Gestaltung Ulm. Anfänge eines Projektes der unnachgiebigen Moderne, Berlin: Ernst 2003, S. 152.
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tenzahlen nicht beschieden sein. Bense zog sich im März 1958 wieder aus Ulm zurück«.22 Die Abteilung ›Information‹ wurde 1964 geschlossen. An der Ulmer Zeit lassen sich drei Aspekte aufzeigen, die für die wissenschaftliche Praxis Max Benses sowie die Formierung der Informationsästhetik als eigenständiger Fachdisziplin Relevanz haben. Bense war erstens nicht nur in wissenschaftliche Kreise integriert, sondern bewegte sich in künstlerischen Milieus. An der Ulmer Designhochschule traf der Philosophieprofessor auf Josef Albers, Helene Nonné-Schmidt, Max Bill und Designstudenten, die später Karriere machen sollten. Almir Mavignier besuchte beispielsweise Benses Kurse. Wie in Ulm war Bense auch in Stuttgart in einem Milieu tätig, das Wissenschaft und Kunst eng zusammendachte und praktizierte.23 Bense kooperierte mit Schriftstellern, Malern, Computerkünstlern und Typographen wie Reinhard Döhl, Helmut Heißenbüttel, Manfred Esser, Elisabeth Walther, Klaus Burkhardt und Hansjörg Mayer. Sie veröffentlichten gemeinsam in außergewöhnlich gestalteten, von Bense herausgegebenen Reihen und Zeitschriften (augenblick, rot24) und wurden 1963 auf der Pariser Biennale als »l’école de Stuttgart« vorgestellt.25 Dieses Label bezeugte den Charakter einer lautstarken Marginalbewegung im Zeichen formal progressiver Künste, die sich in den 1950er und 60er Jahren in Stuttgart begründete. Die Stuttgarter Gruppe, namentlich Döhl und Bense, formulierten eine manifestartige Erklärung, in der es heißt: »Wir sprechen von einer materialen Poesie oder Kunst. An die Stelle des Dichter-Sehers, des Inhalts- und Stimmungsjongleurs ist wieder der Handwerker getreten, der die Materialien handhabt, der die materialen Prozesse in gang setzt und in gang hält. Der Künstler
22 Herrmann, Hans-Christian von: »Schreibmaschinenströme. Max Benses Informationsästhetik«, in: Wladimir Velminski (Hg.), Sendungen. Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht, Bielefeld: transcript 2009, S. 93-104, hier S. 97. 23 Bense hatte sodann zweimal an der Hamburger Hochschule für bildende Künste eine Gastprofessur für Ästhetik inne. Auch für die Wirkungsstätte Hamburg gilt die Verflechtung von Praxis und Theorie. 24 1955 begründete Bense die vierteljährlich im Agis Verlag erscheinende Zeitschrift augenblick. Aesthetica, Philosophica, Polemica, die ein Forum für experimentelle Literatur darstellte. Ab 1960 gaben Bense und seine Frau Elisabeth Walther die edition rot heraus. 25 Vgl. Döhl, Reinhard: »Stuttgarter Gruppe oder Einkreisung einer Legende (Wilhelmspalais, 8.12.1997)«, http://www.stuttgarter-schule.de/stuschul.htm vom 31.03.2014.
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heute realisiert Zustände auf der Basis von bewusster Theorie und bewusstem Experiment.«26
Max Benses Entwurf einer philosophischen Ästhetik fand Zuspruch bei Konkreten Poeten und Künstlern auch im Ausland. Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Gerhard Rühm und Franz Mon, das Grazer »Forum Stadtpark«, Bohumila Grögerová, Josef Hiršal, Jiri Kolar und Ladislav Novák in Prag, die brasilianischen »Noigandres« (insbesondere Haroldo de Campos), Shutaro Mukai in Japan standen beispielsweise eng mit dem Stuttgarter Kreis in Austausch und traten in gemeinsamen Ausstellungen auf.27 Bense war darüber hinaus mit der »Gruppe 11« und Reinhold Köhler verbunden. Obwohl er auch im persönlichen Kontakt zu Henri Michaux stand, ihm für seine zeichnerischen und textuellen Arbeiten Mitte der 1950er Jahre das in Frankreich bereits illegalisierte Meskalin schickte,28 und Informel-Künstler wie Georg Karl Pfahler im Umfeld der Stuttgarter Gruppe arbeiteten, orientierte sich sein informationsästhetisches Programm eher an der aufkommenden Computerkunst sowie den Neuen Tendenzen, die sich vom Tachismus und Informel absetzten. Bense war mit vielen Künstlern in Briefkontakt, Prominente aus dem europäischen Wissenschafts-, Kunst- und
26 Bense, Max/Döhl, Reinhard: »Die ›Stuttgarter Gruppe‹. Zur Lage«, in: manuskripte. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 13 (1965), Jg. 5, H. 1, S. 2. 27 Gemeinschaftsausstellungen spielten für diesen internationalen Austausch eine besondere Rolle sowohl für die Konkreten Poeten als auch für die Rezeption ihrer experimentellen Literatur. »Erste nationale Ausstellungen in São Paulo und Rio, zusammen mit Skulpturen, fanden bereits 1956 statt. Im Winter 1959 veranstaltete die Technische Hochschule in Stuttgart eine Ausstellung ›Konkrete Poesie‹, auf der neben den brasilianischen Beispielen auch schweizerische, österreichische und deutsche Autoren gezeigt wurden. Teile dieser Ausstellung kamen dann 1960 nach Tokio, wo L. C. Vinholes und João Rodolfo Stroeter im ›National Museum of Modern Art‹ eine Ausstellung zustande brachten. Im Dezember 1962 veranstaltete eine Prager Gruppe für moderne Literatur einen Lese- und Diskussionsabend für experimentelle Dichtung, auf dem in starkem Maße auf brasilianische Beispiele abgestellt wurde. Schließlich veranstaltete im Januar 1963 der lateinamerikanische Kreis der Universität Freiburg eine Ausstellung ›konkrete dichtung aus brasilien‹.« Bense, Max: »Konkrete Poesie«, in: Sprache im technischen Zeitalter 15 (1965), S. 1236-1244, hier S. 1238f. 28 Vgl. Walther, Elisabeth: »Henri Michaux – geplanter Zufall«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 102-105.
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Literaturbetrieb wie Francis Ponge, Nathalie Saurraute und Abraham Moles folgten Einladungen nach Stuttgart.29 Dem Philosophen kann angesichts dieser Vernetztheit eine Vermittlerposition innerhalb einer an ästhetischen Experimenten orientierten Bewegung zugesprochen werden. Ilse und Pierre Garnier erinnern sich demgemäß an ihre »Entdeckung der Weggefährten, die ebenso das Bedürfnis nach einem radikalen AndersSchreiben gefühlt hatten. Und unter diesen Weggefährten befand sich bald Max Bense, doch war er weit mehr als Weggefährte: er war der große Mittler – Stuttgart war der Ort, an dem sich die Wege kreuzten, ein Knotenpunkt, ein Brennpunkt, denn alle eintreffenden Informationen wurden verarbeitet, verschmolzen, theoretisch durchdacht.«30
An Benses Lehrplan in der Ulmer und Stuttgarter Zeit stellen sich zweitens institutionell und curricular bedingte Freiräume heraus, die Unkonventionelles erst erlaubten. ›Experimentelle‹ Lehrpläne konnte der Philosophieprofessor an beiden Hochschulen durchsetzen. Seit 1953 hielt er Kurse über »Grundlagen der Mathematik« und »Was ist der Mensch?« neben Seminaren zu »Moderner Ästhetik«, »Computer-Wissenschaft« oder »Textstatistik«.31 Benses Vorlesungen, die er stets montags abends um fünf abhielt, hatten aufgrund dieses heterogenen Forschungsprofils eine hohe Anziehungskraft nicht nur auf Studenten des Instituts für Philosophie und Wissenschaftstheorie, sondern auch auf Fachfremde. Es berichtet nicht allein Elisabeth Walther von vollen Hörsaalbänken und regem Zulauf: »Von der in seinen Schriften und Vorlesungen behandelten engen Abhängigkeit auch der Ästhetik von Mathematik bzw. der Verbindung von ›Mathematik und dem Schönen‹ wur-
29 Vgl. Walther, Harry: »…nur ein Ort meiner Füße«. Max Bense in Stuttgart, Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1994, S. 4. 30 http://www.stuttgarter-schule.de/spatialismus.htm vom 31.03.2014. 31 Vgl. Gunzenhäuser, Rul: »Max Bense – Leitbild meines Studiums«, in: Ulrich Sieber (Hg.), Zum Gedenken an Max Bense. Reden und Texte an seinem 90. Geburtstag, Stuttgart: Universitätsbibliothek 2000, S. 68f.
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den vor allem junge Mathematiker und Elektrotechniker (Rul Gunzenhäuser, Siegfried Maser) zu verschiedenen Arbeiten angeregt.«32
Benses rhetorisches Talent trug viel zur Attraktion seiner Vorlesungen bei. Nicht unerwähnt bleiben sollen die ebenso lauten Kritikpunkte von Fachkundigen an Benses Popularität und insbesondere daran, daß die Vorlesungen oft einer argumentativen Stringenz entbehrten. Die Zeit der Gastprofessur in Ulm verweist drittens auf einen Leitfaden in Benses Wissenschaftskonzept, der sich zuerst aus den Erfahrungen im Hollmannschen Labor während der Kriegszeit bildete, im Verlauf von Benses Lehrtätigkeit in Ulm und Stuttgart verfestigte und schließlich zur Ausdrucksform seines akademischen Selbstverständnisses wurde: Technik sollte einen besonderen Stellenwert einnehmen, sowohl in der Theorie (Informationsästhetik) als auch in der Praxis (im Umfeld von Benses Lehrstuhl). An der Ulmer HfG wie in Stuttgart wurde buchstäblich in Werkstätten gearbeitet. Das 1956 entstandene, hochsubventionierte Stuttgarter Rechenzentrum und spätere -institut33 ist der institutionelle Rahmen, in dem sich eine für Benses Wissenschaftspraxis stilprägende »Allianz zwischen Datenverarbeitung und philosophisch-ästhetischer Reflexion«34 entfaltet. In den Laboren fand sich in anderen Worten die handfeste Bestätigung von Benses These der technischen Ausprägung und Vorgängigkeit des Geistes.
32 Walther, Elisabeth: »Max Bense und die Kybernetik«, in: Gerhard Dotzler (Hg.), 10 Jahre Computer Art Faszination. Hersteller und Dienstleister, Frankfurt a.M.: dotVerlag 1999, S. 360. 33 Vgl. Hoffmann, Christoph: »Eine Maschine und ihr Betrieb. Zur Gründung des Recheninstituts der Technischen Hochschule Stuttgart 1956-1964«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 118-129. 34 »Maschinensprache – Nachrichten aus der ›Galeere‹. Interview mit Elisabeth Walther, Walter Knödel und Rul Gunzenhäuser am 27. November 2003 in Stuttgart«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 131-140, hier S. 131.
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G RUNDLAGEN DER INFORMATIONSÄSTHETISCHEN F ORSCHUNGSKONZEPTION Da Experimente »durch rhetorische, narrative und mediale Praktiken erläutert, repräsentiert und distribuiert werden« müssen,35 lassen sich bereits Schreibpraktiken von Wissenschaftlern als Repräsentationen ihrer epistemologischen Denkstile auffassen. Die Art und Weise, wie Wissenschaftler schreiben, ist somit von symptomatischer Potenz. In Benses ästhetik- und texttheoretischen Schriften wird etwas augenscheinlich, was dem Versprechen, die in den Natur- und Technikwissenschaften etablierten Kriterien für Wissenschaftlichkeit wie Präzision oder Explizität auf eine rationale Kunst- und Literaturphilosophie zu übertragen, entgegenzulaufen scheint. Der Philosoph gebrauchte weder eine auf Genauigkeit bedachte Metasprache noch waren seine kunsttheoretischen Ausführungen systematisch angeordnet. Max Bense verstand seine Forschung als künstlerischen Prozeß. Seine Publikationen sind durch einen experimentellen Schreibstil gekennzeichnet, der dem seiner Untersuchungsobjekte gleicht. Sie sind Versuche, essais. Allein im Essay konnte sich Bense zufolge der »Ausdruck der intellektuellen Tätigkeit«36 adäquat entfalten. Die Wahl seiner Schreibweise verlieh seiner zentralen Annahme Kontur, die er seit der Veröffentlichung der direkt nach Kriegsende (1946) an gleich drei Orten erschienenen Schrift Der geistige Mensch und die Technik verfolgte: Die gesamte menschliche Existenz werde durch Technik in eine neue Seinsform transferiert, Technik dringe in alle »Feinstrukturen der Welt« ein. Auch Kunst unterliege diesem enormen Reformprozeß. Schon 1935 vertrat der Philosoph die These, daß »[n]ur durch die Subjektivität […] die Objektivität gerettet« werden könne,37 was sich am besten im Essay umsetzen ließe, da der Textsorte charakteristisch der Duktus einer eigenen Stimme eignet.
35 Gamper, Michael: »Zur Literaturgeschichte des Experiments. Eine Einleitung«, in: Michael Gamper/Martina Wernli/Jörg Zimmer (Hg.), »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I, 1580-1790, Göttingen: Wallstein 2009, S. 930, hier S. 13. 36 Bense, Max: »Über den Essay und seine Prosa«, in: Max Bense, Plakatwelt. Vier Essays, Stuttgart: DVA 1952, S. 23-37, hier S. 27. 37 Bense, Max: Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis, Stuttgart/ Berlin: DVA 1935, S. 22.
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Seine wissenschaftlichen Beiträge als Essays zu verfassen, wirkte distinktiv im universitären Kontext der 1950er und 60er Jahre. Mindestens ein Kollege stand ihm in dieser Sache sekundierend zur Seite. Adorno sprach sich 1958 in seinen Noten zur Literatur für das Potential des Essays aus und setzte ihn auf die Liste gefährdeter Widerstandsformen: »In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt, die, seit dem Misslingen einer seit Leibnizischen Tagen nur lauen Aufklärung, bis heute, auch unter den Bedingungen formaler Freiheit, nicht recht sich entfaltete, sondern stets bereit war, die Unterordnung unter irgendwelche Instanzen als ihr eigentliches Anliegen zu verkünden. Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben. […] Die Aktualität des Essays ist die des Anachronistischen. Die Stunde ist ihm ungünstiger als je. Er wird zerrieben zwischen einer organisierten Wissenschaft, in der alle sich anmaßen, alle und alles zu kontrollieren, und die, was nicht auf den Consens zugeschnitten ist, mit dem scheinheiligen Lob des Intuitiven oder Anregenden aussperrt; und einer Philosophie, die mit dem leeren und abstrakten Rest dessen vorlieb nimmt, was der Wissenschaftsbetrieb noch nicht besetzte und was ihr eben dadurch Objekt von Betriebsamkeit zweiten Grades wird. Der Essay jedoch hat es mit dem Blinden an seinen Gegenständen zu tun. Er möchte mit Begriffen aufspringen, was in Begriffe nicht eingeht oder was durch die Widersprüche, in welche diese sich verwickeln, verrät, das Netz ihrer Objektivität sei bloß subjektive Veranstaltung.«38
Adornos aufklärerisches Konzept des Essays als Medium geistiger Freiheit, das sich der Ordnung eines organisierten Wissenschaftsbetriebs zu widersetzen imstande ist, entsprach der Haltung des Stuttgarter Philosophen. Bense bezog in seinen Veröffentlichungen dezidiert politische Positionen, er erregte damit Aufsehen innerhalb und außerhalb der akademischen Öffentlichkeit, worauf wir zurückkommen werden. Ab dem Beginn der 1950er Jahre kristallisierte sich in Benses Œuvre der Entwurf seiner Informationsästhetik heraus. Seine Publikationen kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs dokumentieren ein gewachsenes Interesse an Kybernetik, Kommunikations- und Informationstheorie:
38 Adorno, Theodor W.: »Der Essay als Form [1954-58]«, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 9-33, hier S. 10, 32.
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»Max Bense verfolgte seither die Publikationen auf diesem Gebiet und beschaffte sich die entscheidenden Schriften, z. B. von Claude A. Shannon [sic], Donald McKay [sic], Warren Weaver, Colin Cherry, Gotthard Günther und vielen anderen sowie auch die Berichte über die Kybernetik-Konferenzen, die Heinz von Foerster herausgegeben hat.«39
Er rekurrierte auf anwendungsorientierte Studien wie Birkhoffs Aesthetic Measure, die ihm jedoch »etwas willkürlich, ebenso subjektiv abhängig wie objektiv begrenzt« erschienen. Denn Birkhoffs »Auswahl der ordnungserzeugenden Faktoren [sei] von einem traditionellen vorentschiedenen Kunstbegriff und Kunstgeschmack abhängig« und somit »objektiv zufällig begrenzt«.40 Auch zeitgenössischen Forschungspositionen an der Schnittstelle zwischen Natur- und Geisteswissenschaften widmete sich Bense. Der Physiker Wilhelm Fucks arbeitete an der Entwicklung objektivierbarer Verfahren zur Untersuchung sprachlicher Phänomene.41 1953 gab er in seiner Mathematische[n] Analyse von Sprachelementen, Sprachstil und Sprachen als Ziel aus, »den Stil von sprachlichen Äußerungen mit mathematischen Darstellungsmitteln zu kennzeichnen. Es sollen dazu […] Methoden entwickelt werden, für deren Resultate in ähnlicher Weise Objektivität angestrebt wird, wie dies in den exakten Wissenschaften geschieht, und die also auch, einmal entwickelt, in ähnlicher Weise lehr- und erlernbar sind wie die exaktwissenschaftlichen Methoden.«42 Unter Zuhilfenahme mathematisch präziser Modelle ermittelte Fucks strukturelle Eigenschaften in Texten und griff zu diesem Zweck nicht etwa auf geisteswissenschaftliche Vorarbeiten, sondern auf die Atomtheorie der Materie zurück. Anhand kanonischer Text- und Autorenbeispiele sowohl der englischen als auch deutschen Literaturgeschichte legte der Physiker literarischen Stil als errechenbar dar. Fucks beabsichtigte einerseits, einen als nicht meßbar geltenden Gegenstand zu versachlichen. Die Entwicklung seiner Untersuchungsverfahren war andererseits detektivisch motiviert, da die mathematischen Verfahren auch der Identifizierung von Autorschaft und der Unterscheidung von Original und Kopie dienen sollten.
39 Walther, Elisabeth: »Max Bense und die Kybernetik«, in: Dotzler, 10 Jahre Computer Art Faszination (1999), S. 360. 40 M. Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, S. 50. 41 Fucks, Wilhelm: »On mathematical analysis of style«, in: Biometrika 39 (1952), Nr. 1/2, S. 122-129, hier S. 122. 42 Fucks, Wilhelm: Mathematische Analyse von Sprachelementen, Sprachstil und Sprachen, Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1955, S. 18.
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Daß der zugrundeliegende Textbegriff in Fucks’ Ansatz von einer gegliederten Wörtermenge ausging, die nicht als semantischer Bedeutungsträger definiert wurde, sich also seine Rechenexempel »jedenfalls primär nur mit den formalen Struktureigenschaften, nicht aber mit den Sinngehalten der sprachlichen Äußerungen befass[t]en«43, hatte ein Vorbild in der Mathematical Theory of Communication von Claude Shannon. Shannon legte mit seiner Studie Grundlagenforschung vor, in der mittels Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik die (möglichst verlustfreie) Übertragung von Nachrichten modelliert wurde. Ihm ging es um den »effect of noise in the channel, and the savings possible due to the statistical structure of the original message and due to the nature of the final destination of the information«.44 Seine mathematische Theorie stellte Formeln für Kommunikationsprozesse zwischen Maschinen und zwischen Menschen bereit, die Verstehen als Übertragungsprozeß von Information unter den Voraussetzungen vorhandener bzw. abwesender Störung zu untersuchen ermöglichten. Das Schema von Kommunikation, auf dem Shannons Theorie basiert, bestand aus einer fünfstelligen Relation aus information source, transmitter, channel, receiver und destination. Die kleinsten Informationseinheiten nannte er bits. Aus der Thermodynamik übernahm er die begriffliche Anleihe Entropie als Maß für eine zufallsbedingte Unvorhersehbarkeit (uncertainty) einer Informationsquelle, dafür also, daß »[f]or each possible state i there will be a set of probabilities pi (j) of producing the various possible symbols j. Thus there is an entropy Hi for each state. The entropy of the source will be defined as the average of these Hi weighted in accordance with the probability of occurence of the states in question«.45
Je größer die Entropie, desto geringer der Grad an Organisation. In Shannons Theorem besagte diese Korrelation: Je höher die Entropie in einer Kommunikationssituation ist, desto höher der Informationsgehalt der Mitteilung. »Damit sind wir zu jener Theorie vorgedrungen, die kürzlich Norbert Wiener […] unter dem Titel Cybernetics – or Control und Communication in The Ani-
43 Ebd. 44 Weaver, Warren/Shannon, Claude E.: The mathematical theory of communication [1949], Urbana: University of Illinois Press 1964, S. 31. 45 Ebd., S. 53.
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mal and The Machine 1949 publiziert hat«,46 referierte Bense 1951 in seinem Aufsatz Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine, nachdem ihn Hollmann zur Lektüre von Wieners Publikation animiert hatte. Mathematisch fundierte Theoriemodelle wie jene von Wiener, Shannon und Fucks, in denen die »medialen Funktionen Speichern, Berechnen, Übertragen«47 verhandelt werden, wirkten wie Katalysatoren auf Max Benses Forschung. Die Informationsästhetik schreibt sich von den Anregungen dieser Studien her, weil sie folgende Charakteristika verbindet: Erstens stützten sie sich alle auf die Prämisse, Kommunikation als meßbaren Gegenstand zu analysieren. Die Informationsästhetik ging von der Grundannahme aus, daß künstlerische Erscheinungen Träger ästhetischer Informationen seien, d.h. als Nachrichten, die von einem Sender an einen Empfänger übermittelt wird, verstanden und analysiert werden könnten. Zweitens operierten sie mit vergleichbaren Ordnungsprinzipien, denn Wiener, Shannon und Fucks arbeiteten numerisch. Drittens waren sie deshalb geeignet für eine in Benses Worten »geistige Bewältigung der Technik«48. Sie waren anschlußfähig an die auf mathematischen Funktionen und Algorithmen basierende, zeitgleich aufkommende Technologie von Rechenmaschinen.
M AX B ENSES A ESTHETICA . P ROGRAMMIERUNG DES S CHÖNEN Der deutschen Übersetzung von Louis Couffignals Les Machines à Penser aus dem Jahre 1955 ist ein Vorwort von Max Bense vorangestellt. »Nicht die Erfindung der Atombombe ist das entscheidende technische Ereignis unserer Epoche«, heißt es darin, »sondern die Konstruktion der großen mathematischen Maschinen, die man, vielleicht mit einiger Übertreibung, gelegentlich auch Denkmaschinen genannt hat«.49 Angesichts des Publikationsdatums ist Benses Prog-
46 Bense, Max: »Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine [1951]«, in: Büscher/ von Herrmann/Hoffmann: Ästhetik als Programm (2004), S. 51-61, hier S. 53. 47 Kümmel, Albert: »Mathematische Medientheorie«, in: Daniela Kloock/Angela Spahr, Medientheorien. Eine Einführung, München: Fink 22000, S. 205-236, hier S. 205. 48 Bense, Max: »Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine [1951]«, in: Büscher/ von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 51. 49 Bense, Max: »Vorwort«, in: Louis Couffignal, Denkmaschinen, Stuttgart: Klipper 1955, S. 7 (Les machines à penser, Paris: Ed. de Minuit 1952).
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nose bemerkenswert. Daß Rechenmaschinen die Geschichte des 20. Jahrhunderts stärker beeinflussen würden als die Atombombe, schrieb der Philosoph inmitten einer internationalen Debatte über die drohende Gefahr eines atomaren Weltkriegs und am Beginn des intellektuellen Widerstands in der Bundesrepublik Deutschland gegen die nukleare Aufrüstung der Bundeswehr.50 Die modernen Gesellschaften würden sich durch eine Technisierung neu gestalten, die in alle Lebensbereiche Einzug halte und sich weiter ausbreiten werde. Technik könne somit »in keiner Weise mehr isoliert (objektiviert) betrachtet werden vom Weltprozeß und seinen soziologischen, ideologischen und vitalen Phasen. Sie bezieht alles ein«:51 Literatur und Kunst eingeschlossen. In dieser technikbasierten Welt könne man fortan »nicht ohne Intellekt, ohne äußerste Rationalität beheimatet sein. Und dieser Intellekt, diese äußerste Rationalität können nicht im Mythos, nicht in Kunst bestehen – sie werden Theorie, reine Theorie sein müssen.«52 Daß die Kunst- und Literaturtheorie, wie Bense ihr vorwarf, diesen enormen Wandlungsprozeß nicht in den Blick nahm, veranlaßte ihn dazu, eine moderne Ästhetik zu schreiben. In der zwischen 1954 und 1960 in vier Bänden erschienenen Aesthetica baute er seine informationsästhetische Theorie als work in progress auf, das keinen Anspruch auf Systematik oder Abgeschlossenheit erhob.53 Bense
50 Vgl. Kraushaar, Wolfgang: Die Protest-Chronik. 1949-1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie, 4 Bde., Hamburg: Rogner & Bernhard 1996; Nehring, Holger: »Die nachgeholte Stunde Null. Plädoyers für einen anderen Staat in der Anti-Atom-Bewegung 1957–1964«, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik Deutschland 1960-1980, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 229-250. 51 Bense, Max: »Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 54. 52 Bense, Max: »Technische Existenz«, in: Max Bense, Technische Existenz. Essays, Stuttgart: DVA 1949, S. 191-231, hier S. 194. 53 Auf die Vorzüge, aber auch offensichtlichen Nachteile eines solchen wissenschaftlichen Vorgehens in Theoriebildung wird in einer Rezension zu Benses Aesthetica deutlich verwiesen: »Dadurch wird zum Programm gemacht, was sonst oft durch den Anspruch auf absolute Wahrheit vermieden werden soll, nämlich die Notwendigkeit ständiger Verbesserung und Präzisierung von Methoden, die zur Lösung von Problemen angewendet werden, die Notwendigkeit von Hypothesen und Experimenten, die sich gegenseitig modifizieren. Liest man Benses Arbeiten so, dann erhalten Widersprüche ihren angemessenen Stellenwert«. Haardt, Angela: »Max Bense. Ästhetische
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bezog sich in der Aesthetica in Detailanalysen auf Schriftsteller (Benn, Kafka, Gertrude Stein), Musiker (Schönberg) und bildende Künstler (Kandinsky, Klee, Chagall, Bill) der Moderne. Die Informationsästhetik sollte keine »interpretierende ›Gefallensästhetik‹«54, sondern eine Universaltheorie von Zeichengebrauch sein, die überprüfbare und möglichst präzise Aussagen über Kunst treffen wollte. In der Einleitung des ersten Aesthetica-Bandes mit dem Titel Metaphysische Beobachtungen am Schönen klärte Bense zunächst einen konzeptionellen wie erkenntnispraktischen Unterschied zwischen Kunstphilosophie und Ästhetik: »Die Kunstphilosophie setzt sie [= die Kunst, JB.] voraus, erklärt sie zu ihrem Gegenstand und unterwirft sie als solche der philosophischen Arbeit. Aber die Ästhetik stellt aus der vorausgesetzten künstlerischen Produktion die Gegenstände ihrer Untersuchung erst her. Dabei handelt es sich um den ästhetischen Gegenstand, um das ästhetische Urteil und um die ästhetische Existenz.«55
Die projektierte Ästhetik sollte über die Spezifität ihrer Gegenstände Aussagen über ihren Status, ihren Modus und mögliche Wertungskriterien ableiten. Damit war nicht nur das explorative und anwendungsorientierte Moment des Zugangs benannt, sondern auch Benses Anliegen formuliert, daß die Informationsästhetik zu neuer Kunst anregen wollte, indem sie sowohl operationalisierbare Prinzipien für zukünftige mögliche Kunstwerke bereitstellen als auch für die Wahrnehmung von ästhetischen Innovationen sensibilisieren wollte. Die Informationsästhetik richtete sich gegen den ontologischen Status von Schönheit. Kunstwerke seien nicht etwa von sich aus schön, sie würden erst in der wahrnehmenden Betrachtung dazu gemacht. Der Zustand des Schönen sei »weniger in Dingen als in Relationen manifestiert«.56 Ihre Mitrealität, d.h. die empirisch raumzeitlichen Konstellationen um das Werk, den Künstler, die Herstellung und Rezeption, sei »die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, daß das Kunstwerk Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung und
Theorien oder Beobachtungen zu einer teilweisen Ablösung der Ästhetik von der Philosophie«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft XV, 1 (1970), S. 19-36, hier S. 19. 54 M. Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, S. 9. 55 Bense, Max: Metaphysische Beobachtungen am Schönen. Stuttgart: DVA 1954, S. 21. 56 Ebd., S. 42.
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ästhetischen Urteils werden kann.«57 Dieser Einsicht in die Bedeutsamkeit der Mitrealität zum Trotz legte die Informationsästhetik der Benseschen Ausprägung den Schwerpunkt weniger auf die Analyse des empirischen Wahrnehmungs- und Rezeptionsvorgangs, sie fokussierte stattdessen die ästhetischen Gegenstände selbst und ihren Produktionsprozeß. Als »Theorie der realen Objekte«58 wurden Beobachtungen direkt am materialen Objekt gemacht, denn das »Problem der Existenz ästhetischer Gebilde [ist] in jedem Fall zunächst ein Problem ästhetischer Zeichen«.59 Kunstwerke waren im Rahmen der Ästhetik Benses Träger ästhetischer Informationen. Ihre Qualität konnte deshalb anhand der in ihnen auftretenden Ordnungsbeziehungen mathematisch ermittelt werden. Schön sei eine spezifische Zeichenfolge, die zwischen Ordnung und Chaos liege. Informationsästhetisch sollte eine Analyse und Interpretation von Literatur demnach nicht auf Semantik und Inhaltlichem gründen, sondern über die Bestimmung von Distribution und Relationen zwischen einzelnen Zeichen auf der materiellen Ebene (z.B. ihrer Form- oder Farbkomposition) vonstatten gehen, so daß »das Resultat der Kunst in die Nachbarschaft mathematischer Phänomene« rückte.60 Der Gefahr, in reine Deskription zu verfallen, wenn Form und Inhalt rigide voneinander getrennt würden, begegnete Bense mit der Einführung der Begriffe ›Mikroästhetik‹ und ›Makroästhetik‹. Seine Theorie konzentrierte sich auf die Ebene (sprach-)strukturaler Einzelelemente und mikroästhetischer Zustände, in der Inhalt und Form zurücktraten hinter solchen Vorgängen, die das Entstehen eines Kunstwerks »in eine diskrete Folge von Zuständen und Handlungen, die Zeichencharakter haben oder nicht haben«,61 zerlegen. Am zeitgenössischen Industriedesign, allen voran an den Werken von Max Bill, dem der dritte Band der Aesthetica gewidmet ist, erkannte Max Bense die allumfassende Technisierung seiner Zeit, auf die er im Vorwort zu Couffignals Buch über die Denkmaschinen angespielt hatte. Hier sah er Kunst und Technik zu Artefakten kulminiert, die nicht das Gefühl, sondern den Geist stimulierten.
57 Ebd., S. 23. 58 M. Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, S. 9. 59 M. Bense: Metaphysische Beobachtungen am Schönen, S. 159. 60 Ebd., S. 50. 61 Bense, Max: Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik, Baden-Baden: Agis 1965, S. 144. Makroästhetische Strukturen ließen sich, so Bense, durch das Wechselverhältnis von mikroästhetischen Elementen ermitteln.
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Der Konnex zwischen Kunst und Technik bestand Bense zufolge darin, daß es sich bei beiden um »Geschaffenes, Gemachtes, Hergestelltes«62 handelte. Künstlerischen wie technischen Gebilden sei gemein, daß sie ästhetisch wahrnehmbar sind und Schöpferkraft evozieren. Einen kategorialen Unterschied zwischen Kunst und Technik sah Bense allerdings in modaler Hinsicht. »Die technischen Gebilde, Instrumente, Maschinen, Aggregate, Industrien, usw. bestimmen eine zusammenhängende Sphäre, in der jedes Seiendes an einem notwendigen Platz ist und seine Funktion hat. Kein technisches Gebilde hätte als Einzelnes einen Sinn, es existiert nicht, sondern funktioniert.«63
Technische Konstruktionen besäßen deshalb notwendigerweise eine Mitrealität, wohingegen sich ein Kunstwerk durch den Unabhängigkeitsstatus ästhetischen Seins auszeichne. Ein Kunstwerk ist demzufolge nicht konstruiert, es »existiert, es funktioniert nicht, und die zusätzliche Modalität, die seine Mitrealität ergänzt, wäre der Modus der Zufälligkeit. Kunst ist zufällige Mitrealität.«64 Der erste Band der Aesthetica-Reihe war als »Mosaik von Beobachtungen, Erfahrungen, Folgerungen und Überlegungen«65 konzipiert, in dem die Seinsthematik der Kunst von verschiedenen Blickwinkeln verhandelt wurde. Zur Diskussion standen die Besonderheit der ästhetischen Wahrnehmung, das Verhältnis von Mimesis und Abstraktion in moderner Kunst oder die von Heisenberg aufgeworfene Problematik der Nicht-Exaktheit naturwissenschaftlicher Wissenschaftssprachen. Zwei rote Fäden lassen sich in diesem Beobachtungsmosaik nachzeichnen: Erstens legte Bense im ersten Band der Aesthetica das zeichentheoretische Fundament seiner Ästhetik, zweitens nahm der Band dort, wo Bense sich auf Beispiele aus Bildender Kunst und Literatur bezog, den Charakter eines Pamphlets für moderne, abstrakte Kunst im Besonderen und experimentelle Kunstformen im Allgemeinen an, die ihre Wirkung laut Bense »stärker in der Reflexion als in der Empfindung« offenbarten. »Wenn das ›objektive Korrelat‹ der klassischen Kunst der Nachahmung die Welt ist, so ist das ›objektive Korrelat‹ der modernen Kunst der Abstraktion das Bewußtsein«.66
62 M. Bense: Metaphysische Beobachtungen am Schönen, S. 23. 63 Ebd., S. 27. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 9. 66 Ebd., S. 164.
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Eine Schwerpunktverlagerung gegenüber den Überlegungen im ersten Band der Aesthetica-Reihe vollzog sich im zwei Jahre später veröffentlichten Band. Ästhetische Information adaptierte die begrifflichen und epistemologischen Konzepte von Wiener, Shannon und Carnap in eine neue Ästhetik, deren Profil somit kybernetisch und informationstheoretisch ausgerichtet wurde. Bense rekurrierte auf Shannons Prämisse, Information könne mathematisch formalisiert und besonders statistisch fundiert werden. Der Informationsbegriff schien die geeignete Ergänzung zum zeichentheoretischen Grundstein von Benses Informationsästhetik, da er als Maß für Zustände der Ordnung oder statistischen Anordnung im Kunstwerk verwendet werden konnte. Die Informationsästhetik wurde somit zu einer »Zeichen-Ästhetik, in der das Kunstwerk durch die Informationsstruktur definiert wird«,67 komplettiert. Der dritte Band Ästhetik und Zivilisation beschäftigt sich mit der Operationalisierbarkeit des ästhetischen Rezeptionsmodells und stellt die Analyse des zeichenhaften Kommunikationsprozesses vor, in den ein Empfänger bei der Betrachtung eines Kunstwerkes eintritt. Die um die Rezeptionsseite zu einer Theorie der ästhetischen Kommunikation erweiterten Überlegungen zu einer modernen Ästhetik wurden 1960 mit dem vierten Band Programmierung des Schönen abgeschlossen. In diesem letzten Band diskutierte Max Bense den innovativen Status und gesamtgesellschaftlichen Stellenwert seiner Kunst- und allgemeinen Texttheorie. Bense zufolge näherten sich in der »technischen Existenz« der beginnenden 1960er Jahre das klassische Verständnis der künstlerischen Schöpfung und die Idee der künstlerischen Programmierung an. Kunst und Technik spielten eine gleichermaßen tragende Rolle im Zivilisationsprozeß. Sie leisteten zivilisatorische Arbeit, indem sie nicht nur Welt vermehrten, sondern Bewußtseine veränderten. Die Kopplung von Zivilisations- und Texttheorie mündete in der Aesthetica IV in den Aufruf, daß »neue Formen für Texte notwendig [sind], Texte, in denen die neuen Informationen auftreten und mit denen die neuen Kommunikationen eingeleitet werden, also neue Realitäten des Worts und des Geistes, der das Wort hat.«68
67 Bense, Max: Ästhetische Information, Krefeld/Baden-Baden: Agis 1956, S. 50. 68 Bense, Max: Programmierung des Schönen, Krefeld/Baden-Baden: Agis 1960, S. 56.
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O FFENE P ROVOKATION . B ENSES W ISSENSCHAFTSVERSTÄNDNIS Die Vorstellung von einer Bewußtsein, Gesellschaft, ja die freiheitliche Welt verändernden Wirkung von Kunst scheint die Position des Stuttgarter Philosophen in die Nähe engagierter Kunst zu bringen. Und tatsächlich gebrauchte Bense das Wort ›Engagement‹ nicht nur einmal.69 Sein Konzept von Engagement ging jedoch nicht in der Überzeugung auf, politische Botschaften über Kunst transportieren und in gesellschaftliche Angelegenheiten eingreifen zu wollen. Obwohl Bense konstatierte, daß das »Engagement der Kunst im Interesse humanitärer Weltveränderung […] eine Folge des Einblicks in die politischen, sozialen und ökonomischen Miseren dieser Welt« sei, 70 ging es weder um die Mobilisierung politischen Bewußtseins noch um eine »Anleitung zum offenen Aufstand der Schriftsteller«. Benses Ästhetik sollte dazu dienen, »einen Einblick in die Geistesverfassung einiger Autoren, die in einem solchen Aufstand – der eine rein intellektuelle Handlung wäre – eine Rolle spielen könnten«,71 zu geben. An vorderster Front dieser intellektuellen Revolution sah der Philosoph 1950 noch Gottfried Benn: »Ich kenne zur Zeit in Deutschland niemanden, der tiefer als Benn begriffen hat, daß auch der ästhetische Genuß die menschliche Willensfreiheit zur Voraussetzung hat und daß die ästhetische Provokation dieser Willensfreiheit zur Aufgabe der Kunst gehört.«72
Mit ihren eigenen formalen Mitteln sollten Literatur und Kunst provozieren, um bestehende Realitäten zu reformieren. Ihre Interpreten wiederum sollten das revolutionäre Potential einzelner Künstler und Literaten über die Zeichenhaftigkeit ihrer Kunstwerke zutage fördern. Im 1963 veröffentlichten Band Schriftsteller der Gegenwart legte Max Bense ein Porträt von Alfred Anderschs Werk vor.
69 Bense, Max: Ptolemäer und Mauretanier oder die theologische Emigration der deutschen Literatur, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1950, S. 79f. 70 Bense, Max: »Über das Werk Paul Wunderlichs [1968]«, in: Dieter Brusberg (Hg.), Paul Wunderlich. Werkverzeichnis der Lithografien von 1949-1971 mit Texten von Max Bense, Hanns Theodor Flemming, F. J. Raddatz, Frank Whitford u.a., Berlin: Propyläen-Verlag 1973, S. 5-8, hier S. 5. 71 Ebd. 72 M. Bense: Ptolemäer und Mauretanier, S. 86.
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Bense zeigte anhand der statistischen Wahrscheinlichkeit von Anderschs Wortschatz im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Autoren, daß dessen Texte »vom Sprachkörper seiner Klassiker aus dem neunzehnten Jahrhundert abzuweichen beginnen; hier schon wird ihre moderne Struktur wahrnehmbar.«73 Die semantische Analyse von Anderschs Texten verdeutlicht das von Bense postulierte Engagement von Literatur- und Kunstinterpreten, Gesellschaftskritik am untersuchten Material selbst kenntlich zu machen: »Dieses subtile und raffinierte Verfahren, Narration in den Dienst der Analyse, Kritik und Liquidation gesellschaftlicher Miseren zu stellen und dabei die Banalität der Bedeutung mit der Fragilität der Schönheiten zu umstellen, führt ›In der Nacht der Giraffe‹ zu einem Typus der politischen Novelle, die an einer Textfolie, die der Machtübernahme de Gaulles und ihrer Widerspiegelung in seinem Bewußtsein gewidmet ist, das Problem des Widerstandes gegen den Übergriff der Macht in damals in Paris stattgefundenen Ereignissen und Gesprächen reflektiert. Es scheint an die Deutschen, diese großen Versager in revolutionärer Hinsicht, gerichtet zu sein, wenn Andersch seine Erzählung in zwei Maximen kulminieren läßt: ›Fortgehen, um zu erkennen, daß Freiheit nicht bedeutet, irgendeine Ideologie wählen zu können, sondern das Unrecht zu zerreißen, wo immer man es trifft‹ und ›Es gibt ein ganz sicheres Erkennungszeichen des Unrechts: dort, wo nichts mehr Sie auffordert, zu schreiben, wo nur ein einziger Gedanke Sie beherrscht: zu handeln, nichts als zu handeln: dort ist es, wo das Böse herrscht‹.«74
Der Philosoph schrieb aber auch selbst literarische Texte, die im Rahmen seines Gesamtwerks theorieäquivalenten Status einnahmen. Allem voran drückte sich in Streitschriften wie dem zweibändigen Descartes und die Folgen und medienöffentlichen Kontroversen sein Engagementverständnis aus. Daß sich Bense den Ruf eines streitbaren wie umstrittenen Intellektuellen in der bundesrepublikanischen Medienöffentlichkeit erarbeitete, hatte Folgen für seine wissenschaftliche Karriere. Anfang der 1960er Jahre schlug eine Episode politische Wogen, die Benses Ernennung zum Ordinarius trotz eines einstimmigen Senatsbeschlusses seiner Hochschule auf längere Zeit verhinderte. Aus einer Sitzung des badenwürttembergischen Kultusministeriums war ein Gerücht an die Presse gedrungen, die Beförderung eines Stuttgarter Lehrstuhlinhabers mit »starkem Gefälle nach Osten« sei »wegen seiner religionsfeindlichen Schriften« abgelehnt wor-
73 Ebd., S. 20. 74 Ebd., S. 27.
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den.75 Bense schwieg vorerst nach der Veröffentlichung dieser Pressemitteilung, auch nachdem sich ein weiterer Politiker über einen »Inhaber eines Lehrstuhls an der TH Stuttgart« ausließ, der mit dem »sowjetischen Gewaltsystem«76 sympathisiere. Der Disput zwischen Kultusministerium und Bense sollte daraufhin auf einer vom Stuttgarter AStA einberufenen Vollversammlung77 persönlich zwischen dem christdemokratischen Hochschulreferenten Heinz Autenrieth und Max Bense bereinigt werden.78 1961 sah sich auch Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger veranlaßt, in einer parlamentarischen Debatte zum Fall Bense Stellung zu nehmen. Er erklärte ihn zum »Desperado«79 und die Kontroverse um den Wissenschaftler zum gesellschaftlichen Probefall für die junge Bundesrepublik. Max Bense müßte ertragen werden, argumentierte Kiesinger, selbst wenn »derartige Existenzen«, wie es in der Stuttgarter Zeitung hieß, »gegen die Grundlage der Demokratie lehrten und arbeiteten.«80 Nachdem Bense im Folgejahr mit Ungehorsam der Ideen eine polemische Attacke nachlegte, wurde auf Drängen der SPD-Fraktion eine zweite Philosophieprofessur an der Stuttgarter Universität eingerichtet,81 auf die der konservativ-katholische Philosoph Robert Spaemann berufen wurde. Bense nahm schließlich 1963 seine Ernennung zum ordentlichen Professor entgegen. Sieht man von parteipolitisch motivierten Ressentiments in dem Skandal um Max Bense ab, ist sein Ruf als Provokateur nicht zuletzt auch
75 Vgl. Ropohl, Günter: »Der Fall Bense. Ein Rückblick in die sechziger Jahre«, in: Sieber, Zum Gedenken an Max Bense (2000), S. 40-48. 76 Bi: »›Nie Demokrat gewesen!‹ CDU-Kreisvorstand Leonberg gegen Lehrtätigkeit kommunistisch eingestellter Professoren«, in: Leonberger Kreiszeitung, Nr. 290 vom 15.12.1960. 77 »Protest des AstA gegen Äußerungen Dr. Autenrieths«, in: Stuttgarter Zeitung, Nr. 287 vom 12.12.1960; Ch. K.: »Eine Anfrage und zwei Antworten. Die Landesregierung zu den Äußerungen des Hochschulreferenten Dr. Autenrieth«, in: Stuttgarter Zeitung vom 14.01.1961. 78 StN: »Hochschulpolitik vor Studenten diskutiert. Ein Vortrag von Dr. Autenrieth führt zu lebhaften Erörterungen«, in: Stuttgarter Nachrichten vom 1.02.1961. 79 cam: »Kiesinger spricht von akademischen ›Desperados‹«, in: Stuttgarter Zeitung vom 17.01.1961. 80 Ebd. 81 [E]ru: »SPD- und FDP-Fraktion tadeln das Verhalten Autenrieths. Heftige Landtagsdebatte über den Fall Bense - SPD beantragt zweiten Lehrstuhl für Philosophie an der Technischen Hochschule«, in: Stuttgarter Zeitung vom 3.03.1961.
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ein Ergebnis des teils aggressiven Atheismus, den er in seinen Schriften vertrat. In den 1950er Jahren hatte sich Bense deutlich von religiösen und metaphysischen Sinnentwürfen verabschiedet und in der ersten Abhandlung Descartes und die Folgen gegen die »Remythologisierung unseres Geistes, die von gewisser Seite ohne Unterlaß vorangetrieben wird«, polemisiert. Jene Remythologisierung verhindere Bense zufolge, »die technische Zivilisation so vernünftig, so rationell für Vitalität und Intellekt zu gestalten, wie es im Interesse unseres Daseins notwendig wäre.«82 Bense hatte darüber hinaus weder gezögert, in seinen Schriften »sogenannte christliche Denker« namentlich anzugreifen,83 noch vor beispielsweise folgender Formulierung zurückgeschreckt: »Die größte Anklage […] gegen das Christentum, seine Kirchen und seine politischen Repräsentanten […] besteht in dem Hinweis, daß sie aus Gründen der Selbsterhaltung […] einer Schwächung der Rationalität das Wort reden, zu deren Folgen die Selbstbolschewisierung des modernen Menschen gehört. Um an der Macht zu bleiben, läßt man noch einmal das mythologische und eschatologische Bedürfnis des Menschen über seine aktive Intelligenz siegen und bereitet auf diese Weise den Weg des Henkers und des Märtyrers, der Folter und der Ausbeutung vor.«84
Max Bense inszenierte sich in der westdeutschen Medienöffentlichkeit als bekennender Atheist, wobei er eine Trivialisierung seiner philosophischen Position bezüglich Glaubensfragen in Kauf nahm. Er zeigte sich beispielsweise wiederholt in Fernsehdebatten, nachdem Spaemann den zweiten Philosophielehrstuhl in Stuttgart übernommen hatte, und diskutierte mit ihm über die (Nicht-)Existenz Gottes. Daß Bense besonders von kirchennaher Seite unter Beobachtung gehal-
82 Bense, Max: »Descartes und die Folgen I. Ein aktueller Traktat [1955]«, in: Max Bense, Ein Geräusch in der Straße, Baden-Baden: Agis 1960, S. 49-104, hier S. 62. 83 »Daß auch heute noch der sogenannte christliche Denker sich durch Verworrenheit auszeichnet und in dieser Eigenschaft den bolschewistischen Propagandisten nicht nachsteht, dafür sind auf der einen Seite Theodor Haecker und Emmanuel Mounier, auf der anderen Seite Ernst Bloch und Ilja Ehrenburg bedeutende Beispiele.« Ebd., S. 82. 84 Ebd.
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ten wurde, belegt die katholische Kulturzeitschrift Wort und Wahrheit, die eine der wenigen Besprechungen von Benses Aesthetica I abdruckte.85 Aufschlußreich ist das Provokationspotential des Philosophen in der Öffentlichkeit, weil es die lebenswirkliche Umsetzung dessen war, was Bense 1955 in seinem aktuellen Traktat von Vertretern seiner Disziplin eingefordert hatte, daß nämlich »die Philosophie mehr denn je die Rolle der Kritik […] der Wissenschaften wie auch der existentiellen Lagen, also des gesamten zivilisatorischen Prozesses«86 übernehmen sollte. Medienwirksame Kontroversen und eindeutige Positionen waren ihm ein wichtiges Vehikel im Aufbau der bundesrepublikanischen Nachkriegszivilgesellschaft. Wissenschaftler sollten diesen ›geistigen Aufbau‹ als kritisches Korrektiv begleiten. Als problematisch empfand Bense »jene ambivalente Intelligenz, die unselbständig in Fragen des Wissens und des Charakters, glänzend geeignet ist, die Gedankenlosigkeit als eine Freiheit des Geistes zu propagieren und damit der metaphysischen Barbarei den Weg zu ebnen.«87 Aufgabe einer der modernen Gesellschaft gewachsenen Intelligenz sei es, am Rationalismus in der technischen Welt mitzuarbeiten. Benses Gewohnheit, sich medienwirksam in Szene zu setzen und sowohl schriftlich als auch mündlich das Streitgespräch zu suchen, ist weniger als Ausweis akademischer Exzentrik zu deuten denn als Praxis in einem historischen Lernprozeß des öffentlichen Diskutierens am Ausgangspunkt aufkommender Diskussionen in Medien, die, wie Nina Verheyens Untersuchung der westdeutschen Diskussionslust in den langen 1960er Jahren aufgezeigt hat,88 »entgegen der Selbstdeutung vieler 68er –, lange bevor es zu den Studentenprotesten der späten 60er Jahre kam, eine zunehmende Aufwertung und vielleicht auch Verbreitung in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt erfahren haben. Eventuell wurde diese Tendenz von den Akteuren der Studentenbewegung lediglich auf die Spitze getrieben, d.h. sie fand
85 Vgl. Berghahn, Wilfried: »Rezension zu Max Bense: Metaphysische Beobachtungen am Schönen«, in: Wort und Wahrheit 9 (1954), S. 944. 86 Bense, Max: »Descartes und die Folgen I.«, in: Bense, Ein Geräusch in der Straße (1960), S. 58. 87 Bense, Max: Ein Geräusch in der Straße. Descartes und die Folgen II. BadenBaden/Krefeld: Agis 1960, S. 8. 88 Vgl. Verheyen, Nina: Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des »besseren Arguments« in Westdeutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010.
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in dieser Generation und in diesem Milieu einen besonders extremen und auffälligen Ausdruck.«89
Benses Bemühungen seit Mitte der 1950er Jahre, akademische Streitgespräche zu institutionalisieren, lassen sich zu dieser historischen Konsolidierungsphase der Kulturtechnik ›Diskutieren‹ im öffentlichen Raum rechnen. Zum Beispiel initiierte Bense die Baden-Badener Kunstgespräche, die zum ersten Mal am 30. und 31. Oktober 1958 abgehalten wurden. »Sie fanden beim Auftakt eine starke Resonanz in Presse und Literatur/Kulturbetrieb im In- und Ausland«90, heißt es in den Vorbemerkungen zum ersten Treffen, das mit dem Debütthema »Wird die moderne Kunst ›gemanagt‹?« viel Reibung versprach. Denn seit der documenta I, der ersten Großausstellung zeitgenössischer Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1955, stand abstrakte und nichtgegenständliche Kunst im Fadenkreuz von Anhängern gegenständlicher Kunst und solcher Kritiker, »die die Position vertraten, daß nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und der Greueltaten der Nationalsozialisten eine kritische, engagierte Kunst sich hätte durchsetzen müssen. […] Von dieser Seite wurde die These vertreten, daß die Durchsetzung der Nicht-Kritischen und Nicht-Gegenständlichen Kunst sich auf ein ›Management‹ von Seiten der Kunsthändler und Kunstkritiker gründe.«91
Bense leitete beim ersten Baden-Badener Kunstgespräch die Diskussion zwischen namhaften Vertretern des Kulturbetriebs über die Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst. In Vergleich und Abgrenzung zum zeitgenössisch bekannteren Debattierclub für Kunst und Literatur, der Gruppe 47, aber strebte Bense
89 Verheyen, Nina: »Diskutieren in der frühen Bundesrepublik. Zur Kulturgeschichte des ›besseren Arguments‹ zwischen Re-education und Studentenbewegung. Discussion Paper WZB Nr. SP IV 2003-504, http://www.econstor.eu/bitstream/10419/49758/1/ 374158266.pdf, S. 7 vom 31.03.2014. 90 Wird moderne Kunst ›gemanagt‹?, Baden-Baden/Krefeld: Agis 1959, S. 7; vgl. Drommert, Rene: »›Wird die moderne Kunst ›gemanagt‹?‹ Baden-Badener Gespräche. Manche Experten wurden vergebens erwartet«, in: Die Zeit, Nr. 45 vom 6.11.1959. Adorno hatte abgesagt, allerdings einen Beitrag eingesandt, der verlesen wurde. 91 Vgl. Wollenhaupt-Schmidt, Ulrike: Documenta 1955. Eine Ausstellung im Spannungsfeld der Auseinandersetzungen um die Kunst der Avantgarde 1945-1960, Frankfurt a.M.: Lang 1994, S. 247-248.
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eine Diskussionspraxis an, die auch ein nichtakademisches und ›kunstfernes‹ Publikum adressierte und inkludierte. Während die Gruppe 47 die Reputation eines der Öffentlichkeit verschlossenen Entre-Nous pflegte, legte Bense Wert darauf, möglichst viele und unterschiedliche Rezipienten über Radio und Fernsehen zu erreichen. Bereits früh hatte er den Rundfunk als Distributionsmedium von Features über populärwissenschaftlich aufbereitete Inhalte und Themen entdeckt, »[v]on Oktober 1933 bis Oktober 1936 war Max Bense ständiger Mitarbeiter des Reichssenders Köln, für den er kleine geologische, physikalische, mathematikhistorische und philosophische Sendungen schrieb, die er meistens auch selber sprach.«92 In den 1950er und 60er Jahren veröffentlichte er regelmäßig in Radiobeiträgen, schrieb auch Hörspiele. Ein Mitschnitt des ersten Baden-Badener Kunstgesprächs lief im Südwestfunk, erhalten ist zudem eine Fernsehaufzeichnung (27. Januar 1970) von einer als »ende offen. Kunst und Antikunst« angekündigten Podiumsdiskussion, bei der Max Bense, Joseph Beuys, Max Bill, Arnold Gehlen und der Moderator Wieland Schmied aufeinandertrafen und sich vehement über ihre Positionen zur zeitgenössischen Kunst austauschten.93 Max Bense machte sich somit über die Grenzen des Wissenschaftsbetriebs hinaus einen Namen. Diese mediale Selbstvermarktungsstrategie eines Geisteswissenschaftlers war damals mitnichten gang und gäbe. Vom Erfolg dieses Medieneinsatzes, um heterogene Rezipientengruppen für Wissenschaft und Kunst zu interessieren, zeugt nicht zuletzt die Popularität von Max Benses Vorlesungen, die auch nichtstudentische Zuhörer anzogen. »Der Andrang war meist überwältigend.«94 In eine (milieuabhängige) Gesprächskultur der westdeutschen Gesellschaft der langen 1960er Jahre reihen sich die hier vorgestellten Kontroversen im Umfeld von Max Bense ein. Mit den politischen Skandalen und institutionalisierten Kunstforen ging es allerdings um mehr als
92 Walther, Elisabeth: »Vorwort«, in: Caroline Walther/Elisabeth Walther (Hg.), Max Bense, Radiotexte. Essays, Vorträge, Hörspiele, Heidelberg: Winter 2000, S. VII. 93 Vgl. Stöckmann, Birgit (Red.): Joseph Beuys. Provokation Lebensstoff der Gesellschaft, Kunst und Antikunst. Dokumentation mit Begleitbuch, Köln: König 2003; Bohrer, Karl Heinz: »›Kunst und Antikunst‹. Streitgespräch in Düsseldorf«, in: FAZ, Nr. 24 vom 29.01.1970, S. 20. 94 Gunzenhäuser, Rul: »Begrüßung«, in: Sieber, Zum Gedenken an Max Bense (2000), S. 7.
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die Redefreiheit des Einzelnen95 oder die Verständigung über Kunstnormen. In diesen Debatten wurde gelernt zu diskutieren. Es wurden Praktiken eingeübt, die Ende der 1960er Jahre ein alltägliches Instrument einer demokratisches Handeln anvisierenden Zivilpädagogisierung darstellten.
95 Der AStA der Studentenschaft an der Technischen Hochschule Stuttgart führte dieses als Grund für die Einberufung der Vollversammlung an, bei der Bense und Autenrieth über die mißlichen Umstände vor der Berufung zum Ordinarius öffentlich Stellung beziehen sollten: Er sah durch das Verhalten des baden-württembergischen Landtags die Freiheit der Rede und die Freiheit der Universität in Gefahr.
In-Formation der Schriftzeichen
Die informationsästhetische Terminologie umging den zeitgenössisch »ordnungsstiftenden Hochwert- und Scharnierbegriff der Dichtung«1, ebenso wenig verwendete Max Bense in seinen Schriften den Begriff ›Literatur‹. Seine Metasprache diente der Abgrenzung. Er stellte den literaturwissenschaftlichen Leittermini einen historisch unbelasteten und auf den Konstruktionscharakter von Kunstwerken rekurrierenden Begriff entgegen. Bense sprach stets von: Text.2 In den Semantiken der informationsästhetischen Grundbegriffe ›ästhetische Information‹, ›Redundanz‹ und ›Entropie‹, die in diesem Kapitel erläutert werden, ist außerdem ihr kybernetisches, physikalisches, mathematisches und semiotisches Erbe präfiguriert. Die folgende glossarische Inventur kann schon deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit geltend machen, weil es sich bei Benses Termino-
1
Kaiser, Gerhard/Krell, Matthias: »Ausblenden, Versachlichen, Überschreiben. Ausblenden, Versachlichen, Überschreiben. Diskursives Vergangenheitsmanagement in der Sprach- und Literaturwissenschaft in Deutschland nach 1945«, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein 2002, S. 190-216, hier S. 203.
2
»Der Begriff Text reicht ästhetisch weiter als der Begriff Literatur. […] Literatur hat sicher keine schwächere Beziehung zur Zeichenwelt als Text, wohl aber eine andere. Ihre Darstellungsfunktion ist stärker als ihre Mitteilungsfunktion. Literatur hat es mit einem verschlossenen, Text mit einem offenen Sein zu tun. Darauf beruht es, daß Literatur einen ideellen, Text einen materialen Charakter besitzt und daß Literatur einen Zustand des Bewußtseins, Text jedoch einen Zustand außerhalb des Bewußtseins festlegt.« M. Bense: Programmierung des Schönen, S. 51f.
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logie um keine präzise definierte Begrifflichkeit handelt.3 Die informationsästhetische Wissenschaftssprache unterlag einer steten Revision und konnotativen Verschiebung sowohl in Benses Werk als auch in ihrer diversifizierenden Fortentwicklung durch Helmar Frank (Informationspsychologie), Rul Gunzenhäuser und Felix von Cube (Redundanztheorie in Pädagogik und Ästhetik) sowie weitere Wissenschaftler außerhalb des Stuttgarter Umfelds. Außerdem gebrauchte der in Straßburg lehrende Begründer der über die ästhetische Wahrnehmung räsonierenden Informationsästhetik Abraham A. Moles ein teils synonymes Vokabular mit anderer Bedeutung. Der Erörterung ihrer Termini schließt sich eine Einordnung der Informationsästhetik im fachdisziplinären Koordinatensystem an, die Forschungsdesiderate exponieren wird. Wurden die theoretischen wie praktischen Unternehmungen an der Technischen Hochschule Stuttgart von den akademischen Kollegen wahrgenommen? Haben auch Literaturwissenschaftler auf die Stuttgarter Position reagiert? Zielten Max Benses Inszenierungen in erster Linie auf ein außerakademisches Publikum oder fielen seine habituellen Abgrenzungspraxen auch innerhalb der scientific community auf? An zwei Fallbeispielen erfolgt danach die Rückbindung an die Analyse von Konrad Bayers Werk. Eine Brücke zwischen der informationsästhetischen Terminologie und Konrad Bayers Poetik schlägt bereits die Kapitelüberschrift mit einer Anspielung auf Vilém Flusser. Der Medienphilosoph reflektiert in Die Schrift über die Spezifität von Schriftcodes und den Unterschied zwischen alphanumerischem und digitalem Schreib- und Denkprozeß. Das Wort Schrift leitet sich vom lateinischen ›scribere‹ ab, etymologisch steckt somit in ihm der Akt des (Ein-)Ritzens.4 Schriftzeichen sind Flusser zufolge speichernde und speicherbare Spuren des kontemplativen Eingrabens (Inschriften) oder schnellen Auftragens (Aufschriften) von Informationen auf einer Unterlage. Konrad Bayer räumte Schriftlichkeit und der Anordnung seines Textmaterials hohen Stellenwert ein. Klaus Ramm wies als Rezensent der vom Klett-Verlag besorgten
3
Kritik an dieser Ungenauigkeit formuliert Haardt in ihrer Rezension: »Ausdrücke, die eine Fragilität bezeichnen, scheinen wenig geeignet, diejenige einer Theorie zu erweisen, die vor allem in den später geschriebenen Teilen auf Feststellungen aus ist und Objektivität beansprucht.« Haardt, Angela: »Max Bense. Ästhetische Theorien oder Beobachtungen zu einer teilweisen Ablösung der Ästhetik von der Philosophie«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft XV, 1 (1970), S. 21f.
4
Flusser, Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen: Ed. Immatrix 1987, S. 14.
I N -FORMATION
DER
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Werkausgabe von 1985 zu Recht auf verlegerische Nachlässigkeiten hin. Eine adäquate Rezeption vom Werk eines Autors, »für den Schriftbild und Typografie bewußter, kalkulierter, materialer Bestandteil seiner Dichtung ist«,5 wurde durch sorglose Setzung quasi unmöglich gemacht. Welche Informationen bereits Bayers Textträger dem Interpreten anbieten, soll an der Analyse des Romanfragments der sechste sinn und des kurzen Experimentalspielfilms Sonne halt! aufgezeigt werden.
ÄSTHETISCHE I NFORMATION . M ETASPRACHE DER ABGRENZUNG Die Provenienz von Information (informatio) reicht in antikes Wissen bis zu Platons Vorstellung der idea zurück. Der Zugang des Menschen zu Ideen ist im Sinne Platons »eine Bildung bzw. eine In-formation nicht nur seiner Erkenntnis, sondern zugleich seiner Sittlichkeit, da die höchste Stufe der Erkenntnis die Idee des Guten ist. Die Erkenntnis der Ideen dient letzten Endes der Orientierung im sittlichen Handeln, das dem Menschen eigentümlich ist.«6 In der Scholastik stand die informatio »für die Beformung, Gestaltung der Materie durch die Form«.7 Die ganzheitspädagogischen Konnotationen des Informationsbegriffs als sittlich wie kognitiv prägende Formung des Menschen verblaßten sukzessive in der europäischen Sprachverwendung, bis sich ab dem 17. Jahrhundert das Verständnis von Information als Wissensinhalt und Bedeutungsgehalt einer Mitteilung durchsetzte. In seiner Neudefinition durch die Nachrichtentheorie stieg die Information international zu einem wissenschaftlichen Zentralbegriff in vielen Fachdisziplinen in den Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaften auf.8
5
Ramm, Klaus: »der schwarze prinz und die klare zeit. Zur neuen Ausgabe der ›Sämtlichen Werke‹ Konrad Bayers«, in: Merkur 39 (1985), H. 441, S. 1011-1014, hier S. 1012.
6
Capurro, Rafael: Information. Ein Beitrag zur etymologischen und ideengeschichtli-
7
Schnelle, H.: »Information«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches
chen Begründung des Informationsbegriffs, München: Saur 1978, S. 32. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, Sp. 356f., hier Sp. 356. 8
Eine historische Zusammenschau des vielfältig verwendeten Terminus in unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Kontexten und seines semantischen Wandels bietet
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Ralph Hartleys Transmission of Information,9 Claude Shannons Mathematical Theory of Communication, George Birkhoffs Studien und Norbert Wieners Explikationsofferte, »information is information, not matter nor energy«10, markierten einen begriffsgeschichtlichen Wendepunkt. Diese Studien zielten darauf ab, Information aus nachrichtenökonomischen Gründen zu quantifizieren. Um mit einer möglichst geringen Anzahl an Signalen einen möglichst hohen Betrag an Nachricht zu übermitteln, mußte ein Informationsmaß gefunden werden. »Auf der Suche nun nach einem Begriff von Information, der nicht als Bedeutung, sondern als Betrag aufzufasssen war und gemessen, also zahlenmäßig bestimmt werden konnte«, so Bense, »ergab sich die Möglichkeit als Maß für Information den Grad ihrer Wahrscheinlichkeit einzuführen.«11 Max Bense übertrug letztgenannte Prämissen aus Nachrichtentechnik und Informationstheorie auf seine exakte Ästhetik, indem er Kunstwerke, wie im letzten Kapitel erläutert, als ästhetische Informationen auffaßte, »deren Schemata auf ästhetische Zeichen bzw. Zeichenreihen und Kompositionen zurückführbar sind, und diese ästhetische Information nimmt in dem Umfange den Charakter einer wirklichen Nachricht an, als es gelingt, die mitrealen ästhetischen Zeichen und ihre Kompositionen auf reale Signale und Signalketten zu reduzieren.«12 Benses ästhetischem Informationsbegriff ist dieselbe probabilistische Dimension eigen,13 die der Terminus in den theoretischen Annahmen von Hartley, Shannon,
Ott, Sascha: Information. Zur Genese und Anwendung eines Begriffs, Konstanz: UVK 2004. 9
Information ist von der unbestimmten Selektion des Empfängers abhängig, deshalb kann der Informationsgehalt einer Mitteilung durch die beseitigte Unbestimmtheit in der Übertragung zum Empfänger mathematisch ermittelt werden. Hartley übertrug diesen Grundgedanken bereits 1928 in besagter Studie und schlug für die Unbestimmtheit (H) den Logarithmus der Anzahl N der möglichen Mitteilungen vor: H = log N.
10 Wiener, Norbert: Cybernetics. Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge: MIT Press 1948, S. 155. 11 Bense, Max: »Der Begriff der Information. Hauptprobleme der Informationstheorie. Eine Einführung. Saarländischer Rundfunk Saarbrücken, 8. Dezember 1963«, in: Max Bense, Radiotexte (2000), S. 141-152, hier S. 145. 12 M. Bense: Ästhetische Information, S. 46. 13 Ein »Kunstwerk hat keine definitive Wirklichkeit – nur Wahrscheinlichkeit.« M. Bense: Programmierung des Schönen, S. 21; vgl. auch Bense, Max: »Informationstheore-
I N -FORMATION
DER
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Birkhoff und Wiener hatte. Information wurde, da sie eine statistisch ermittelbare Realisierung aus vielen möglichen Ergebnissen darstellte, an die Wahrscheinlichkeit einer Mitteilung geknüpft. Information war eine »Zufallsfolge in der Zeit«14. Der Unterschied zwischen ästhetischer und semantischer Information lag nach Bense an ihrer Nichtkodierbarkeit, ästhetische Information war in anderen Worten nicht übertrag-, sondern nur realisierbar.15 Ästhetische Strukturen seien genau dann informativ, wenn sie »innovationen aufweisen und diese natürlich stets nur eine wahrscheinliche, keine definitive wirklichkeit darstellen.«16 Was Kommunikation zwischen Sender und Empfänger auch im ästhetischem System potentiell informativ macht, ist demzufolge die Unvorhersehbarkeit einer Information: »Wo immer Zeichen, Zeichenwelten wahrnehmbar werden, dürfen wir Informationen erwarten«, erläuterte Bense. »Aber in dem Augenblick, in dem wir von einem Zeichen aus das präzise Auftreten des nächsten vorausbestimmen können, empfangen wir keine Information mehr.«17 Ästhetische Reize würden auf Überraschungseffekten im Bewußtsein
tische Grundbegriffe Max, in: Max Bense, Theorie der Texte. Eine Einführung in neuere Auffassungen und Methoden. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1962, S. 11-24. 14 Herrmann, Hans-Christian von: »Informationsästhetik«, in: Büscher/von Herrmann/ Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 76-83, hier S. 77. 15 Vgl. Bense, Max: »Über natürliche und künstliche Poesie«, in: Bense, Theorie der Texte (1962), S. 143-147, hier S. 146. Moles’ Explikation geriet hier präziser: »Wir nehmen also für sämtliche Nachrichten zwei Arten von Information an; sie ergeben sich aus der Art und Weise, wie ein außerhalb des Sendekanals befindlicher Beobachter die aufeinanderfolgenden Elemente der Nachricht einteilt und sie dem jeweiligen Repertoire zuweist://semantische Information, von universaler Logik, strukturiert, aussprechbar, übersetzbar; nach den Vorstellungen des Behaviorismus dient sie dazu, Handlungen vorzubereiten;//ästhetische Information ist nicht übersetzbar, bezieht sich nicht auf ein universales Repertoire, sondern auf ein Repertoire von Kenntnissen, die Sender und Empfänger gemeinsam sind; sie läßt sich theoretisch nicht in eine andere ›Sprache‹ oder in ein anderes System logischer Zeichen übersetzen, weil diese andere Sprache nicht existiert.« A. Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, S. 170. 16 Bense, Max: »projekte generativer ästhetik«, in: rot 19 (1965), S. 11-13, hier S. 13. 17 Bense, Max: »Der Begriff der Information. Hauptprobleme der Informationstheorie. Eine Einführung. Saarländischer Rundfunk Saarbrücken, 8. Dezember 1963«, in: Max Bense, Radiotexte (2000), S. 152.
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des Perzipienten und der Konfrontation mit unwahrscheinlichen Zeichen basieren.18 Überraschung stellt sich jedoch nur dort ein, wo Gewohntes herrscht. Die Abhängigkeit von sich wiederholenden und einmaligen Strukturen, also von wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Zeichen erfaßt das Maß der Redundanz (R). Auch dieser Begriff zeugt von der nachrichtentechnischen Präfiguration der Benseschen Terminologie. ›Redundanz‹ bildet den Komplementärbegriff zu ›Information‹, beide bestimmen die kommunikative Beschaffenheit des ästhetischen Gebildes. Die Selektion und Komposition von ästhetischen Zeichen in der Produktion eines Kunstwerks erfolgten zwar freiheitlich und »vom Zufall durchsetzt«19, dennoch weist ein Text eine vom Perzipienten wahrnehmbare Verteilung von syntaktischen, semantischen und pragmatischen Redundanzen auf. Das Maß an Redundanz verhält sich Benses Theorie nach proportional umgekehrt zum Maß an Information: Je größer die Ordnung in einem Text, desto größer die Redundanz; je größer die Redundanz, desto geringer die Information. Redundanz spielt in Benses und Moles’ Informationsästhetik eine entscheidende Rolle für das Gelingen ästhetischer Kommunikation zwischen Textmaterial und Empfänger sowie im individuellen Herstellungsprozeß von Artefakten. Denn einerseits sind redundante Strukturen ein notwendiges Kriterium für eine erfolgreiche Verständigung zwischen Kunstwerk und Empfänger, indem sie Verständlichkeit gewährleisten. In einem Kunstwerk mit möglichst vielen unwahrscheinlichen, innovativen und kreativen Elementen kann zwar rein rechnerisch der Höchstwert an ästhetischer Information ermittelt werden, doch wäre ein solches Artefakt aufgrund seiner absoluten Innovation »nicht mehr wahrnehmbar. Damit eine ästhetische Information, die ein Kunstwerk gibt, trotz der Forderung nach Neuheit und Ursprünglichkeit aufnehmbar, apperzipierbar bleibt, muß man ein Prinzip einführen, das den Höchstwert vermindert, man muß ihn beschweren, man muß die Unwahrscheinlichkeit dieser Information dadurch herunterdrücken, daß man sie mit wahrscheinlichen Elementen belastet, man muß der Information Redundanz hinzufügen, die das eigentliche Moment des Schönen als ›Ordnungen‹ zur Wahrnehmbarkeit bringt.«20
18 M. Bense: Ästhetische Information, S. 46. 19 M. Bense: Programmierung des Schönen, S. 21. 20 M. Bense: Ungehorsam der Ideen, S. 49.
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Andererseits bilden die wahrscheinlichen, redundanten Zeichenfolgen als Ordnungsgefüge von literarischen Texten und Bildender Kunst die Grundlage für die spezifische Signatur: für den Stil eines Autors und Künstlers.21 Bense erkannte die Schwierigkeit, Ordnung an Kunstwerken im Sinne Birkhoffs zu ermitteln. Die vom Mathematiker an Polygonformen und Vasen veranschaulichten Ordnungsfaktoren müßten angesichts abstrakter Kunst wesentlich um Aspekte erweitert und modifiziert werden, wie die achsenseitige Ausrichtung der Bildgestaltung, Konvexität, Berandung oder Verdichtungsmomente im Bild. Gunzenhäuser legte schließlich in seiner von Bense betreuten Dissertation eine Überarbeitung von Birkhoffs Formel vor, die er um jüngste Erkenntnisse aus der Wahrnehmungstheorie und statistischen Informationstheorie bereicherte. Er führte wahrgenommene Ordnungselemente auf subjektive Redundanzerzeugung zurück und stellte eine neue Gleichung für das ästhetische Maß auf, die auch auf Texte anwendbar sein sollte. Das ästhetische Maß ergebe sich aus der Division
21 Vgl. Herrmann, Hans-Christian von: »Der Philologe als Detektiv. Ermittlungen am Tatort der Handschrift«, in: Welsh/Hoffmann, Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde (2006), S. 35-47. Seit den 1880er Jahren wurde von verschiedenen Forschern eine mathematische Methode erprobt, um über die stochastische Ermittlung von Stilen Plagiate von originalen Werken in Literatur oder bildender Kunst (z.B. mithilfe der Morelli-Methode) unterscheiden zu können. Vgl. Ginzburg, Carlo: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin: Wagenbach 2002, S. 7-57. Am Fall von Bayers flucht wird es auch in vorliegender Studie um die Frage der Originalität gehen. Zwar ist nicht die Identifizierung eines Autors über seine spezifische Schreibweise von Interesse, sondern die über die auffällige Publikationshistorie von flucht transportierte Problematik der Originalität eines literarischen Textes. Dennoch könnte man die These plausibilisieren, daß flucht mit einer Denkfigur spielt, die seit der Frühgeschichte der statistisch-mathematischen Literaturwissenschaft verfolgt wurde. Wie von Hilgers betont, beruht »die Pointe der Geschichte der Markovketten […] gerade auf ihrer ersten Anwendung im Bereich poetischer Sprache. Denn erst vor dem Hintergrund dieses Bezugspunktes wird ersichtlich, dass Markovketten bis heute Prämissen der Schrift und Sprache in sämtliche Anwendungsgebiete, innerhalb derer sie Verwendung finden, hineintragen.« Hilgers, Philipp von: »Zur Einleitung. Eine Epoche der Markovketten«, in: Hilgers/Velminski, Andrej A. Markov (2007), S. 9-27, hier S. 10.
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des Wertes subjektiven Redundanzgewinns durch den Wert statistischer Information.22 Eine Lösung des Problems der Quantifizierung von Ordnung versprach noch ein anderer Zugang. Aus der physikalischen Wärmelehre war mit dem Begriff ›Entropie‹ eine kontrovers diskutierte Zustandsgröße verfügbar,23 »die in einem abgeschlossenen System solange ansteigt, bis der Maximalwert erreicht ist«,24 und auf diese Weise den Grad der Unordnung eines molekularen Verteilungszustands angibt. Unter gleichmäßiger Verteilung ist zu verstehen, daß ein Teilchen mit gleicher Wahrscheinlichkeit an einem bestimmten Ort in einem beobachteten Gasraum anzutreffen ist. Wenn die Entropie zunimmt, nimmt die gleichmäßige Verteilung der Teilchen zu und ihre geordnete Organisation im Gas zerfällt zunehmend. Ein abnehmender Entropiewert bedeutet dementsprechend eine ansteigende Ordnung der Gasmoleküle. Bereits Shannon hatte für die Herleitung seines Informationsmaßes mit Entropie als quantitativem Maß gearbeitet, sie stellte hier einen Meßwert für den Mangel an Information dar. Entropie war darüber hinaus eine in statistischer Sprachwissenschaft (Fucks) wie Medienphilosophien (Flusser, Bergson) verwendete Größe. Bense verwarf allerdings im zweiten Band der Aesthetica die Anleihe aus der Thermodynamik. Anhand zweier Argumente begründete er seinen Vorbehalt gegenüber dem Terminus. Zum einen definierten Entropie und Information Vorgänge gegensätzlicher Systeme:25 In der Physik spiele »die Kategorie der Schöpfung« keine Rolle, »es handelt sich bei physikalischen Vorgängen um Umwandlungsprozesse, aber
22 Bense, Max: »Allgemeine Grundlagen moderner Ästhetik«, in: Bense, Theorie der Texte (1962), S. 39-58, hier S. 55f. 23 Der Entropiebegriff wurde von Clausius eingeführt, »Boltzmann fand 1877 den Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeit von thermodynamischen Zuständen.« Völz, Horst: Information I. Studie zur Vielfalt und Einheit der Information. Theorie und Anwendung vor allem in der Technik, Berlin: Akademie 1982, S. 17. 24 Ebeling, Werner/Schweitzer, Frank: »Zwischen Ordnung und Chaos. Komplexität und Ästhetik aus physikalischer Sicht«, in: Gegenworte. Zeitschrift für den Disput über Wissen. Heft: Wissenschaft und Kunst (2002), S. 46-49, hier S. 47. 25 Das Verhältnis von Information und Ordnung wurde für weiterführende Fragen nach der Vorhersehbarkeit von Information relevant, die für die informationsästhetische Wahrnehmungspsychologie, nicht jedoch in Benses ästhetischem Ansatz verfolgt wurden.
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nicht um schöpferische Akte«.26 Deshalb wandele sich in physikalischen Prozessen mit höchster Wahrscheinlichkeit Ordnung in Unordnung um. Bei der Produktion von Kunst hingegen sei schöpferische Kraft am Werk, in Kunstwerken werde Unordnung in Ordnung umgewandelt. Alle auf Zeichenvorgängen, nicht physikalischen Signalvorgängen basierenden Ordnungen seien deshalb »nicht durch Entropie, sondern durch Neg-Entropie, durch Information charakterisiert.«27 Zum anderen herrscht nach Benses Auffassung in Sprachen keine Gleichwahrscheinlichkeit der Zeichenverteilung, wie er mit Fucks’ textstatistischen Studienergebnissen der Übergangswahrscheinlichkeit von Buchstabenfolgen in natürlichen Sprachen argumentierte. Benses Vorbehalte gegenüber dem Entropiemaß machen den Übergang von einem energetischen zum informationstheoretischen Prinzip in seinem Werk deutlich. Seine Zuwendung zu einer auf Statistik beruhenden Denkweise ist für die vorliegende Untersuchung durchaus von Gewicht, da es im späteren Verlauf am Beispiel von rechenmaschinell erzeugten, literarischen Texten um Verfahren geht, mittels deren Wahrscheinlichkeitstheorie auf Sprache appliziert werden. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden solche Verfahren von einem russischen Mathematiker begründet, der damit den Beweis für die Unterscheidung von abhängigen und unabhängigen Zufallsvariablen erbrachte. Von 1913-1916 führte Andrej Andreeviþ Markov am Beispiel von Puškins kanonischem Versroman Evgenij Onegin Berechnungen durch, deren Ergebnisse unter dem Titel Beispiel einer statistischen Untersuchung am Text ›Evgenij Onegin‹ zur Veranschaulichung der Zusammenhänge von Proben in Ketten veröffentlicht wurden und seitdem als Theorie verketteter Zufallsgrößen (›Markovketten‹) bekannt sind. Markov unterzog Puškins Roman, wie in folgender Abbildung zu sehen ist, einer »graphomanischen Zerlegung«28.
26 M. Bense: Ästhetische Information, S. 49. 27 Ebd. Den Terminus ›Negentropie‹ prägte mit Bezug auf Erwin Schrödinger Brillouin, Léon: »Negentropy Principle of Information«, in: Journal of Applied Physics 24 (1953), Nr. 9, S. 1152-1163. 28 Velminski, Wladimir: »Der Speck am Text. Die Entstehung der Genetik aus der Berechenbarkeit der Literatur«, in: Hilgers/Velminski, Andrej A. Markov (2007), S. 101126, hier S. 103.
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Abbildung 2: Andrej Markovs Rechentabelle zu Evgenij Onegin
Hilgers, Philipp von/Velminski, Wladimir (Hg.): Andrej A. Markov. Berechenbare Künste. Mathematik, Poesie, Moderne, Zürich/Berlin: diaphanes 2007, S. 64.
Ungeachtet aller Interpunktionszeichen und Spatien ordnete er tabellarisch »die ersten 20000 Buchstaben aus Evgenij Onegin in 200 Buchstabenblöcke mit jeweils 10 Zeilen und Spalten an. Markovs exegetische Sezierung des Untersuchungsobjekts ver-
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deutlicht, dass es dem Mathematiker um ein Modell [ging], dem die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Vokal und Konsonant zu entnehmen, und somit auch auf Grund des vorhergehenden Buchstabens Aussagen über den nächsten Buchstaben zu treffen sind.«29
Markov erkannte aus der zeitlichen Ereignisfolge der Textzeilen, ob einem Buchstaben ein Vokal oder Konsonant folgte, und erforschte damit das probabilistische Verhältnis von Vorsehbarkeit und Unvorhersehbarkeit einzelner Buchstabengruppen im Russischen. Die Befunde des Mathematikers waren das methodische Fundament der Textstatistik ab den 1950er Jahren; so fußte zum Beispiel Wilhelm Fucks’ Errechnung von sprach-, gattungs-, epochen-, autorund werkspezifischen Stilen auf Markovketten.30 Die Mathematisierung der Sprachwissenschaft stieß nicht überall auf Begeisterung. Ein prominenter Kritiker war Martin Heidegger, der seinen Unmut über diese methodische Tendenz in einem Brief äußerte: »Die rechnende Linguistik leistet – wissentlich oder unwissentlich – Vorarbeit für die Sicherung der Herrschaft der Informatik, d.i. die Wissenschaft vom Bau u. der Benutzungsart des Computers. Man spricht hier bereits von Computer-Generationen; das ist keine Angleichung des Technischen an den Bereich des Organischen, sondern bedeutet den Fortriß des Lebendigen in die technische Machbarkeit. Denselben Sinn hat die auch in der Philosophie sich breitmachende Rede von Vorstellungsmethoden und Modellvorstellungen.«31
29 Ebd. 30 Vgl. Fucks, Wilhelm: Mathematische Analyse von Sprachelementen, Sprachstil und Sprachen, Köln: Westdeutscher Verlag 1955; Fucks, Wilhelm: Nach allen Regeln der Kunst. Diagnosen über Literatur, Musik, bildende Kunst. Die Werke, ihre Autoren und Schöpfer, Stuttgart: DVA 1968; Fucks, Wilhelm/Lauter, Josef: »Mathematische Analyse des literarischen Stils«, in: Helmut Kreuzer/Rul Gunzenhäuser (Hg.), Mathematik und Dichtung. Versuche zur Frage einer exakten Literaturwissenschaft, München: Nymphenburger Verlags-Handlung 1965, S. 107-122. 31 »Brief von Martin Heidegger an Hugo Friedrich, 20. März 1971«, in: FAZ vom 23.05. 2006, zitiert nach Hilgers, Philipp von: »Zur Einleitung. Eine Epoche der Markovketten«, in: Hilgers/Velminski, Andrej A. Markov (2007), S. 21 (Fußnote 40).
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Max Bense hielt es hingegen Anfang der 1960er Jahre für »selbstverständlich«, daß die mathematische Methodik »nicht nur die gesamte Linguistik, sondern auch die stilistische Analyse von Texten beeinflussen wird.«32 Ob dies der Fall war, diskutiert das folgende Kapitel am Beispiel des wissenschaftlichen Gebrauchs von ›Stil‹, um hiermit die Informationsästhetik in der zeitgenössischen Germanistik zu verorten.
I NFORMATIONSÄSTHETIK = » KYBERNETISCHER S TRUKTURALISMUS « 33 Der Stilbegriff spielt eine zentrale Rolle in der zeitgenössischen Literaturtheorie und ist mit einem der renommiertesten Germanisten seiner Zeit verbunden, der die Stilkritik methodisch begründete. Emil Staiger funktionalisierte Stil auch in Auflagen der 1950er Jahre seiner vieldiskutierten Grundbegriffe der Poetik (1946) als Kategorie zur Beschreibung von ästhetischer Vollkommenheit. Im Stil nimmt der Ansicht des Schweizer Philologen nach nicht so sehr die individuelle Schreibweise eines Autors Gestalt an, der Stil literarischer Gattungen habe als Vermittler »des menschlichen Daseins überhaupt«34 anthropologischen Status. Idealtypisch zeichne sich lyrischer Stil durch die Absenz von grammatischer Logik, eine einheitliche musikalische Stimmung und eine über Formalaspekte wie Reime und Wiederholungen zusammengehaltene Flüchtigkeit aus. Da die Subjektivität des Autors in den Text eingehe und an den Leser emotional appelliert werde, schlußfolgerte Staiger, daß »in lyrischer Dichtung kein Abstand besteht.«35 Durch diese Nähe sei lyrischer Stil dazu prädestiniert, Erinnerung zu vergegenwärtigen. Im Vergleich zum »seelenvoll[en], aber geistlos[en]«36 lyrischen Stil haben in Staigers Poetik Epik und Dramatik die Funktion, nicht unmittelbar Momente einzufangen, sondern auf Abstand Geschichten zu erzählen.
32 Bense, Max: »Informationstheoretische Grundbegriffe«, in: Bense, Theorie der Texte (1962), S. 11-24, hier S. 21. 33 Vgl. Boden, Petra: »Kybernetischer Strukturalismus«, in: Hans-Harald Müller/Marcel Lepper/Andreas Gardt (Hg.), Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910-1975, Göttingen: Wallstein 2010, S. 161-193. 34 Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik, Zürich: Atlantis 1963, S. 185. 35 Ebd., S. 51. 36 Ebd., S. 81.
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Während sich an Homer das Potential des epischen Stils offenbare, Gegenwart bildlich zu beschreiben, präge sich im Drama seine zukunftsgewandte Logik aus. Emil Staiger nimmt in Grundbegriffe der Poetik keine Formalanalysen der Beispieltexte vor, um der typologischen Verfaßtheit oder dem ›Wesen‹ der Großgattungen nachzuspüren. Staigers Rekurs auf die Bedeutung der einzelnen Silbe37 für die Stilkategorie steht in Konkurrenz dazu, wie ab Anfang der 1960er Jahre solche Sprachwissenschaftler vorgingen, die ihre analytische Perspektive auf die Mikroebene von Silben, Wörtern und Sätzen richteten. So verfuhren beispielsweise Wilhelm Fucks und Josef Lauter. Unter Stil verstanden sie nämlich die Gesamtmenge aller statistisch erfaßbaren Gegebenheiten in den Formalstrukturen umfangreicher Textkorpora.38 Während die Germanistik der 1950er Jahre methodisch im Zeichen der Werkimmanenz steht, werden anhand von Diskussionen in literaturwissenschaftlichen Monographien, Sammelbänden und Periodika seit den beginnenden 1960er Jahren Brüche dieser Hegemonie sichtbar. Fucks arbeitete zusammen mit Josef Lauter an der Berechnung von Stil auf der Grundlage eines großen Korpus, in dem Texte von Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern mit Klassen literarischer Texte aus verschiedenen Epochen verglichen wurden. 1965 erschienen die Ergebnisse ihrer statistischen Stiluntersuchungen schließlich in einem Sammelband, der auch Beiträge von Max Bense und Elisabeth Walther umfaßt. Mathematik und Dichtung sorgte für hitzigen Diskussionsstoff innerhalb der zeitge-
37 »Die Silbe darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten. Sie bedeutet nichts, sie verlautet nur und ist so zwar des Ausdrucks, aber nicht der festen Bezeichnung fähig. […] Wo immer in der Sprache sich die Macht der Silben hervordrängt, dürfen wir von lyrischer Wirkung sprechen. Im epischen Stil dagegen behauptet das einzelne, einen Gegenstand bezeichnende Wort sein hohes Recht […]. Schon im Wortschatz der homerischen Epen glaubten wir, die Leistung des Epikers anerkennen zu müssen. Die Fülle der Worte stellt die Fülle des wechselnden Lebens fest, und wir schätzen den epischen Dichter, weil er uns die Fülle des Lebens vorstellt. Die Funktionalität der Teile, das Wesen des dramatischen Stils, ist ausgeprägt im Ganzen des Satzes, wo das Subjekt in einem Bezug zum Prädikat, der Nebensatz in einem Bezug zum Hauptsatz steht und ein Vorblick aufs Ganze nötig ist, um die einzelnen Teile zu verstehen.« Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik, Zürich: Atlantis 21951, S. 208f. 38 Vgl. Fucks, Wilhelm/Lauter, Josef: »Mathematische Analyse des literarischen Stils Josef, in: Kreuzer/Gunzenhäuser, Mathematik und Dichtung (1965), S. 107-122.
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nössischen Germanistik.39 In der Einleitung bestimmt der Herausgeber Helmut Kreuzer den Standort des Bandes in der Forschungslandschaft, indem er anhand von Franz Schmidts Beitrag ausführt, daß die dort verwendete exakte Methode an einem Material »ganz innerhalb des ›literarischen‹ Bereichs« Ergebnisse beförderte, die »einen überraschenden Zugang zur Typologie EMIL STAIGERS« eröffne.40 Im Vergleich zur gegenwärtigen Methodenpraxis allerdings würden es die in Mathematik und Dichtung vertretenen Wissenschaftler, welche die Phalanx mathematisch-statistischer Positionen abbildet, unterlassen, »aus ihren Formeln unmittelbar literarische Qualitätsurteile abzuleiten«.41 Kreuzers nachdrückliche Abgrenzung gegenüber qualitativ verfahrenden Methoden wie Staigers Stilkritik erinnert an Benses spitzzüngige Bemerkung: »Selbstverständlich« war der Einfluß statistischer Informationstheorie auf die zeitgenössische Sprach- und Literaturwissenschaft ganz und gar nicht. Das Erscheinungsdatum von Kreuzers Sammelband fällt wissenschaftsgeschichtlich in eine Phase, als in der (west-)deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft von vielen Stimmen Versachlichungsprinzipien reklamiert wurden. Doch nicht nur die Germanistik war in einem Wandel begriffen. Stefan Artmann spricht diesbezüglich von einer »Gruppe von Wissenschaften zwischen Mathematik und empirischer Forschung, zu der – um nur einige wichtige Beispiele zu nennen – die Kybernetik und die Informationstheorie, die Semiotik und die Spieltheorie, das Operations Research und die Komplexitätstheorie gehören. All diese Wissenschaften beschreiben wie Mathematik auf eine abstrakte Weise
39 Mit derselben Vehemenz und Bereitschaft zum akademischen Schlagabtausch, mit der Bense seine ästhetische Philosophie vertrat, behaupteten auch Kreuzer und Gunzenhäuser die Positionen der mathematischen Literaturwissenschaft als neue, als einzig zukunftsträchtige Theorie. Der Sammelband erlebte vier Auflagen bis 1971 und war Gegenstand zahlreicher Rezensionen, zum Teil hitziger Verrisse. Petra Boden rekonstruiert einige Positionen der Kritiker und die daraus resultierende Anschlußkommunikation. Vgl. Boden, Petra: »Literaturwissenschaft und Kybernetik. Deutsch-deutsche Begegnungen«, in: Gerhard Kaiser/Jens Saadhoff (Hg.), Spiele um Grenzen. Germanistik zwischen Weimarer und Berliner Republik, Heidelberg: Synchron 2009, S. 183206, hier S. 193-199. 40 Kreuzer, Helmut: »›Mathematik und Dichtung‹. Zur Einführung«, in: Kreuzer/Gunzenhäuser, Mathematik und Dichtung (1965), S. 9-20, hier S. 11 (Herv. i. O.). 41 Ebd., S. 12.
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relationale Ordnungen: also Strukturen. Aber im Unterschied zur Mathematik motiviert die konkrete Anwendbarkeit solcher Strukturbeschreibungen auf eine möglichst große Vielfalt von Erfahrungsgegenständen – und damit ihr Beitrag für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den empirischen Wissenschaften – die strukturwissenschaftliche Forschung.«42
Auch in der Nachkriegsgermanistik der 1960er Jahre kam das strukturalistische Paradigma auf, um »die ›Kunst der Interpretation‹ abzulösen«.43 Angesichts der ontologischen, epistemologischen und methodologischen Verwandtschaft, die Artmann in seiner Historischen Epistemologie der Strukturwissenschaften aufzeigt, datiert der Denktyp des Stuttgarter Theorieentwurfs den Beginn des scientific turn in der Literaturwissenschaft. Die bislang wenig beachtete These, die Informationsästhetik als Vorbereiter des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus zu verstehen, kann in vorliegender Studie nicht adäquat entwickelt werden; nicht zuletzt weil sie die Erschließung von Benses umfangreichem Nachlaß im Marbacher Literatur- und Stuttgarter Universitätsarchiv voraussetzte. Die These wird allerdings durch die fundierten Stellungnahmen von Petra Boden im Rahmen des vom Marbacher Arbeitskreis »Geschichte der Germanistik« projektierten Versuchs, Wissenschafts- als Theoriegeschichte zu schreiben,44 untermauert.45 Die Grundannahme bisheriger Fachwissenschaftsgeschichten, wonach die
42 Artmann, Stefan: Historische Epistemologie der Strukturwissenschaften, München: Fink 2010, S. 9. 43 Anna Kinder über Michael Titzmann in ihrem Tagungsbericht zu »Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910-1975«, in: Zeitschrift für Germanistik (2008), Nr. 2, S. 395-397, hier S. 395. 44 Vgl. Lepper, Marcel: »Wissenschaftsgeschichte als Theoriegeschichte. Ein Arbeitsprogramm«, in: Geschichte der Germanistik 29/30 (2006), S. 33-40. 45 Vgl. Boden, Petra: »Kybernetischer Strukturalismus«, in: Müller/Lepper/Gardt, Strukturalismus in Deutschland (2010), S. 161-193. Ebenso Christoph Hoffmanns Beitrag über die Bezüge zwischen computergenerierten Texten und neuen literaturwissenschaftlichen Methodenzugriffen der 1960er Jahre. Theo Lutz’ Programm für Stochastische Texte wurde laut Hoffmann 1959 eingeführt »als neue Möglichkeit von Philologie, die zu den etablierten hermeneutischen Verfahren der Lektüre und zu deren Voraussetzungen über die Sinnhaftigkeit sprachlicher Gebilde in Konkurrenz tritt.« Hoffmann, Christoph: »Kein Haus ist nah. Philologische Programme 1960«, in: Weimarer Beiträge 54/4 (2008), S. 485-499, hier S. 489.
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Etablierung des linguistischen und semiotischen Strukturalismus ab Mitte der 1960er Jahre durch eine verzögerte Rezeption des russischen (Tynjanov, Šklovskij) und tschechischen (Jakobson) Formalismus befördert wurde, wird hiermit nicht in Abrede gestellt. Dennoch wird betont, daß Max Benses Informationsästhetik in ihrer Zwitterstellung zwischen Literaturwissenschaft, Linguistik und Philosophie noch vor der »zeitweilige[n] Überschätzung der Linguistik für Literaturinterpretation«46 einen inländischen Anstoß zur strukturalen Methodenentwicklung gab. Obwohl ihr keine lange Lebensdauer beschieden war, warb die Stuttgarter Position mit einem Exaktheitsversprechen, das später im Zerlegen von Strukturen sowie im textbasierten Analysieren von Syntagmen, Paradigmen und Konstruktionsprinzipien eingelöst wurde. Die Spezialbegriffe ›Information‹, ›Entropie‹ und ›Redundanz‹ zogen zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht ins Sachregister der Bibliographie der deutschen Literaturwissenschaft ein, doch war prototypisch in der Informationsästhetik zu großen Teilen angelegt, was strukturalistische Theorieansätze weiterentwickelten. So etablierte sich schließlich einer ihrer Schlüsselbegriffe, die Information, zu einem operationalisierbaren Instrument für poetologische Anwendungen wie zum Beispiel in Manfred Pfisters bis heute gebräuchlichem Konzept der Informationsvergabe im Drama,47 auch das Komplementärpaar Information vs. Redundanz überlebte in Jurij Lotmans Basisterminologie.48 Max Benses Informationsästhetik bietet somit ausblickend den Stoff, aus dem eine integrative Literatur-, Medien-, Intellektuellen-, Netzwerk- und Wissenschaftsgeschichte der 1950er Jahre in Deutschland gemacht ist. Da ist zunächst der geglückte Versuch, in Stuttgart eine brückenschlagende kulturelle Formation um Max Bense zu versammeln, die sich nicht nur aus Germanisten und Schriftstellern, sondern auch Fachvertretern technischer Disziplinen zusammensetzte und ihren eigenen Angaben zufolge gegenseitig in Theorie und
46 Voßkamp, Wilhelm: »Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft. Thesen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft nach dem zweiten Weltkrieg«, in: Prinz/Weingart, Die sog. Geisteswissenschaften (1990), S. 245. 47 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink 1977, S. 67148; Cube, Felix von/Reichert, Waltraud: »Das Drama als Forschungsobjekt der Kybernetik«, in: Kreuzer/Gunzenhäuser, Mathematik und Dichtung (1965), S. 333-345. 48 Vgl. Fleischer, Michael/Fricke, Harald: »Information«, in: Reallexikon der deutsche Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 142-144, hier S. 143.
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Praxis beeinflußte. Da ist der frühe Einsatz eines Wissenschaftlers von massenmedialer Präsenz in der bundesrepublikanischen Medienöffentlichkeit. Da ist des weiteren der kontinuierliche Austausch zwischen Vertretern differierender Poetiken und kunsttheoretischer Ansätze,49 die in zahlreichen, von der Forschung selten zur Kenntnis genommenen Periodika und Ausstellungskatalogen dokumentiert ist. Allein in der von Max Bense herausgegebenen Zeitschrift augenblick ist das Who is Who der deutschsprachigen Avantgardeliteratur abgedruckt. Ferner ist da der enge personelle Kontakt zu Intellektuellen im Ausland und das programmatische Wiederanknüpfen an eine (französische) Tradition der Moderne, bevor intellektueller Austausch mit Deutschen nach dem Nationalsozialismus salonfähig war. Das Widerständige, das Bense inszenatorisch umgab, gehörte zum Fremd- und Selbstbild dieses Milieus um die beteiligten Akteure. Da ist schließlich eine Kunsttheorie, die verschiedene epistemologische Wissensstränge ineinander verschränkte. Auch die Verbindung zwischen Max Bense und dem späteren Leitkybernetiker der DDR Georg Klaus, der in seiner Jenaer Universitätszeit bei ihm promovierte, birgt Potential für eine bis auf weiteres ungeschriebene Wissenschaftsgeschichte in deutsch-deutscher Gesamtschau.50 Die bisherigen Ergebnisse der hier entfalteten Kulturgeschichte der frühen Informationsästhetik sollen nun in die Analyse von Konrad Bayers Werk eingehen. Denn genauso wie das Werk des Österreichers Experimente mit Schrift und Sprache wagte, die Wahrnehmung, Sinne und Konventionen provozierten, war die Informationsästhetik eine »›Provokationsästhetik‹«, die vom Rand des wissenschaftlichen Feldes »durch Schocks die ästhetischen Konventionen […] verletzt[e], erstarrte Wahrnehmungsmuster durchbr[ach] und den Rezipienten innovativen Tendenzen und Experimenten aussetzt[e].«51
49 Auf den engen Zusammenhang von Konkreter Kunst und Strukturalismus gehen Schröder und Holz ein. Vgl. Schröder, Britta: Konkrete Kunst. Mathematisches Kalkül und programmiertes Chaos, Berlin: Reimer 2008, bes. S. 64-66; Holz, Hans Heinz: Seins-Formen. Über strengen Konstruktivismus in der Kunst, Bielefeld: Aisthesis 2001. 50 Vgl. Eckardt, Michael: »Angewandte Wissenschaftsrevision – Überschneidungen und Parallelen im Schaffen von Max Bense und Georg Klaus«, in: grkg/Humankybernetik 43 (2002), H. 4, S. 143-152. 51 Kreuzer, Helmut: »Über Max Bense«, in: Jean Perrot (Hg.), Polyphonie pour Iván Fónagy. Mélanges offerts en hommage à Iván Fónagy par un groupe de disciples, collègues et admirateurs, Paris: L’Harmattan 1997, S. 277-288, hier S. 281f.
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T ENTATIVES E NTWERFEN
IN DER SECHSTE SINN
Konrad Bayer arbeitete über einen längeren Zeitraum an seinem Roman der sechste sinn.52 Ein unvollendet gebliebenes Korpus uneinheitlich numerierter Manuskriptblätter ist überliefert, das erstmals 1966 unter dem Titel der sechste sinn bei Rowohlt erschien, dort auch 1969 in zweiter Ausgabe neuaufgelegt und schlußendlich in die Gesamtausgaben übernommen wurde. Gerhard Rühm war es, der die 131 Druckseiten umfassende Letztfassung »in die wahrscheinlich von Bayer gewünschte Reihenfolge« brachte und ab der zweiten Ausgabe »noch einige Fragmente beigefügt [hat], die zwar zum ›sechsten sinn‹ gehören, aber nicht genau einzuordnen sind.«53 der sechste sinn wurde schnell zum Schlüsseltext sowohl für Konrad Bayers gesamtes Schaffen als auch die moderne Literatur der österreichischen Nachkriegszeit erklärt. Bis in die 1990er Jahre griffen Interpreten wohlwollend den von Bayers Weggefährten eingebrachten Impuls auf, der Text sei autobiographisch. Die autobiographischen Züge des Textfragments wurden damit belegt, daß Eindrücke aus Bayers in Berlin entstandenem literarischen Tagebuch die klare zeit in den sechsten sinn eingingen und die Romancharaktere realen Figuren aus dem Wiener Bekanntenkreis nachempfunden seien. Die Hauptfigur Franz Goldenberg stelle das Alter Ego des Autors dar; seine damalige Lebensgefährtin Gertraude Hutter habe zur Erfindung der weiblichen Protagonistin Nina inspiriert; H. C. Artmann habe für die Figur Neuwerk Vorlagen gegeben; der Maler Hundertwasser zum geizigen Weintraub; Ferry Radax’ Mutter soll den Satz: »Ich habe den sechsten Sinn« ausgesprochen haben; der Name Goldenberg stamme von Bayers gleichnamigem Lieblingsrestaurant in Paris ab und so fort. Vorliegende Lesart schließt sich Johann Sonnleitners Einwand an, diese spekulativen Überlegungen sind »für das Verständnis der vielfältigen Bedeutungen des Romans doch unerheblich oder sogar hinderlich, denn Bayer legt es darauf an, die fiktiven Figurenidentitäten und damit verbundene Geschichten wieder abzubrechen und vermeintliche Gewissheiten des Lesers zu unterlaufen.«54
52 Von etwa 1959 bis zu seinem Suizid 1964. 53 Drews, Jörg: »Kaleidoskop der Sinnlosigkeit. Neu aufgelegt: Konrad Bayers Romanfragment«, in: Die Zeit, Nr. 17 vom 25.04.1969, S. 23. 54 Sonnleitner, Johann: »Die Literatur der Wiener Gruppe und der Zivilisationsbruch«, in: Eder/Vogel, verschiedene sätze treten auf (2008), S. 87-96, hier S. 89.
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Bereits viele Beobachtungen am Text sind zusammengetragen worden. Die Lesart, er stelle die Unhintergehbarkeit von Sprache aus, ist Legion. Wiederholt ist auf die Demonstration solipsistischer Denkfiguren in actu hingewiesen worden. Burghard Damerau macht auf die traditionsbeladene Motivik der Gegenüberstellung von Stadt/Land und einem apokalyptischen Motivbestand aufmerksam, ebenso zeichnet er die literaturhistorisch vertrauten Erzählstrukturen tragischer Liebesgeschichten und typisch moderne Thematiken wie dissoziierte Identitätsbrechung in der sechste sinn nach.55 Daß »das Vokabular Keile in die Identitäten«56 treibt und die literarische Rede Kommunikation und Erkenntnisgewinn als gestört, wenn nicht sogar unmöglich vorführt,57 darauf geht Franz Schuh ein. Die Geschichte des Franz Goldenberg handelt Jahraus zufolge »von den Bedingungen der Wahrnehmung und der Sprache, wie sie für das Ich und seine Identität als Subjekt bestimmend sind.«58 Klaus Kastberger vergleicht die Schreibtechnik im sechsten sinn mit der auch in der kopf des vitus bering angewandten »alchemistische[n] Methode des Lösens und Bindens von Welt«, indem die Geschichte »ihrer Chronologie beraubt« wird und »die Gesetze der Perspektive« aufgehoben werden.59 Diesen Deutungen soll ein Zugang zum Text beigestellt werden, der die Mediatisierung des Textes in den Fokus nimmt. In Bayers der sechste sinn wird eine Experimentalanordnung beschrieben, in der immer wieder, so die These, der Versuch zum Erzählen eines Romans als kohärent wahrnehmbare Geschichte unternommen wird. Doch diese tentativen Entwürfe werden stets verworfen. Der Roman thematisiert ferner das Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung im phä-
55 Vgl. Damerau, Burghard: »Das Alte im Neuen. Konrad Bayers sechster sinn«, in: Literatur für Leser (1996), H. 2, S. 126-136. 56 Schuh, Franz: »Kommentar zu einer Lesung aus Konrad Bayer: der sechste sinn (1966)«, in: Klaus Kastberger/Kurt Neumann (Hg.), Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945, Wien: Zsolnay 2007, S. 71-76, hier S. 75. 57 »oft fragte sich goldenberg auf parkbänken oder in kaffeehäusern sitzend irgendetwas. in den seltensten fällen fand er eine antwort. und wenn, dann revidierte er sein urteil innerhalb von stunden. so alterte goldenberg.« Konrad Bayer: der sechste sinn. ein roman. In: SW 1996, S. 573-685, hier S. 627. 58 Jahraus, Oliver: »Konrad Bayer: der sechste sinn. Roman«, in: Kastberger/Neumann, Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945 (2007), S. 77-83, hier S. 77. 59 Kastberger, Klaus: »Alchemie des Ganzen. Konrad Bayers sechster sinn«, in: Fetz/ Kastberger, Die Teile und das Ganze (2003), S. 132, 115.
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nomenologischen Sinne und ihrer exakten Repräsentation im naturwissenschaftlichen Sinne. Er bedient sich hierzu genau der Mittel, welche die informationsästhetische Theorie erfand und gebrauchte, nämlich einer Ordnung von Redundanz und Komplexität. Diese physikalisierte und mathematisierte Ordnung wird in der sechste sinn aber als unzulänglicher Zugang zu Welt ausgestellt. Daß die titelgebende Zahl 6, die den Bereich außersinnlicher Wahrnehmung umschreibt, als Sprachzeichen, nicht etwa als Ziffer zum Ausdruck kommt, gibt die Parole des Textes aus:60 Bestimmte Wahrnehmungsinhalte sind nicht zahlenmäßig repräsentier- oder gar meßbar. Den Ausgangspunkt meiner Lesart bilden die strukturbildenden Redundanzen im Textmaterial. Wovon der sechste sinn handelt, läßt sich schwierig auf das Niveau eines Nachschlagewerks kondensieren. Bereits die Zuschreibung als Roman ist unter Umständen problematisch, da der Text mit Gattungskonventionen mittels der Kompilation von Reflexionseinheiten und Textblöcken, die zum Teil nur aphoristische Länge haben, bricht. Zusammengehalten werden die Blöcke durch wiederkehrende Figuren und Wiederholungen auf der Ebene von Wörtern, Satzteilen, Satzstrukturen, Motiven und Handlungselementen. In der sechste sinn taucht der identische Satz »wo leben und eigentum bedroht werden, hören alle unterscheidungen auf« beispielsweise an mehreren Stellen auf. Goldenberg, Nina, Georg Braunschweiger, Marcel Oppenheimer, Menasse Dobyhal und andere Nebenfiguren nehmen regelmäßig in Anspruch, den sechsten Sinn zu besitzen, als müßten sie sich immerwährend daran erinnern, worum es eigentlich geht. Mehrfach zeigt sich zudem eine Konstellation, die sich auf den ersten Romanseiten andeutet, wenn in einer Handlungssequenz ein überschaubares Personal mit verteilten Rollen und minimalen Abänderungen dasselbe zu tun oder zu unterlassen wiederholt. Dergestalt wirkt das Gelesene wie arrangierte Satz- und Textbausteine, die lediglich geringfügig verschoben wurden. Der heterodiegetische Erzähler bestätigt den Eindruck eines Arrangements, wenn es heißt: »ein vibrieren der wände, die versatzstücke wenden sich um ihre achsen, zwischen breiten
60 Von der Signifikanz dieser Notation zeugt folgende Textpassage, in der zunächst das Zahlzeichen, drei Sätze darauf das Sprachzeichen verwendet und explizit auf Unterscheidungen (von Schriftzeichen) hingewiesen wird: »franz goldenberg ging ins kino. plötzlich erinnerte er sich seiner 6 sinne und die ereignisse erscheinen in einem anderen licht. wo leben und eigentum bedroht werden, verlieren sich die unterscheidungen. […] als er die hose auszog, sah nina über seinen schamhaaren die inschrift in gotischen lettern: ›ich habe den sechsten sinn.‹« SW 1996, S. 584.
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gewundenen säulen sind grosse spiegel eingelassen«.61 Die Darstellung der Liebesgeschichte zwischen Goldenberg und Nina und anderer Erzählstränge unterläuft vermöge dieser redundanten Konstitution ein geordnetes und voranschreitendes Erzählen wie im Roman des 19. Jahrhunderts. Das Erzählte in der sechste sinn ist zwar durchaus angeordnet, doch statt einer progredierenden Handlung, deren Verlauf durch den Filter einer Instanz dargeboten wird, hebt der Roman durch die Komposition der textuellen Einheiten immer wieder seinen Konstruktions- und Experimentalcharakter hervor. Das äußert sich zum Beispiel in folgender Darstellung der Iterativität von Erfahrung: »franz goldenberg geht an seinen wackligen schreibtisch und schreibt in sein notizbuch: freitag 10 uhr 30 aufstehen, städtische badeanstalt, 20 dkg leberwurst, 1 liter frischmilch, ½ laib schwarzbrot, butter, tomaten und zigaretten einkaufen. 14 uhr 30 postamt miete einzahlen. 15 uhr städtische bibliothek. 19 uhr nina bei leskowitsch (bis 19 uhr 30 warten!) oder 20 uhr 15 mirjam kino. tief einatmen! kein schweineschmalz! nachdem goldenberg um 10 uhr 30 aufgestanden war, ging er in die städtische badeanstalt, kaufte 20 dkg leberwurst, 1 liter frischmilch, einen halben laib schwarzbrot, butter, tomaten und zigaretten. um 14 uhr 30 zahlte er die fällige miete ein. um 15 uhr war er in der städtischen bibliothek. von 19 uhr bis 19 uhr 30 wartete er bei leskowitsch auf nina, dann traf er mirjam und ging mit ihr um 20 uhr 15 ins kino. wenn er daran dachte holte er tief atem. an diesem tag ass franz goldenberg kein schweineschmalz und nahm sich vor, es auch in zukunft nicht zu tun, der genuss von schweineschmalz fördert den haarausfall. dann geht er zum spiegel, betrachtet die reflexion seines körpers und kratzt dem beweglichen foto die barthaare vom kinn, während er sich selbst wahrscheinlich ein gleiches oder gleichnis tut. hernach in sein notizbuch (in der nacht): samstag 10 uhr 30 aufstehen, städtische badeanstalt, 20 dkg leberwurst, 1 liter frischmilch, ½ laib schwarzbrot, butter, tomaten und zigaretten einkaufen. 15 uhr städtische bibliothek. 19 uhr nina bei leskowitsch (bis 19 uhr 30 warten!) oder 20 uhr 15 mirjam kino. tief einatmen! kein schweineschmalz!«62
Goldenbergs Planung und Durchführung geregelter Tagesabläufe wirkt neurotisch. Der Erzähler repetiert kommentarlos, wie die Figur wiederholt, was sie zu Papier gebracht hat. Die Wiedergabe des Aufschreibakts nimmt bezeichnender-
61 Ebd., S. 586f. 62 Ebd., S. 586.
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weise genauso viel Raum ein wie die zeitraffende Vermittlung der späteren identischen Handlungen. Der Eindruck eines Automatismus – sowohl von nüchterner Routine auf seiten der Figur Goldenberg als auch von mechanischer, effizienzorientierter Monotonie auf seiten des Erzählers – wird dadurch verstärkt, daß der Erzähler die Notizen in den narrativen Modus schlicht spiegelt. Die Erzählinstanz kann oder will sich nicht die Mühe machen, eigene oder andere Worte zu verwenden. Darüber hinaus ist der Wechsel der Tempora zu beachten, der anzeigt, daß die Handlungspassage der Umsetzung des schriftlich fixierten Tagesablaufs zeitlich nachgeordnet ist. Die Planung des Zukünftigen wird als das gegenwärtige Geschehen vermittelt, als ob Präsens nicht im Ausführungs-, sondern im Entwurfsmodus stattfindet, als ob jeder folgende Tag derselbe ist und an jedem Tagesende die Erinnerung an den vorherigen abgebrochen wird.63 Denn man fragt sich, warum der Protagonist, obgleich er die Wartezeit auf Nina prognostizieren kann, nicht auf die Verspätung (in welcher Weise auch immer) emotional reagiert oder daraus irgendwelche Konsequenzen gezogen werden, warum er kurzum auch beim zweiten Mal auf Nina wartet. Goldenberg wirkt wie eine zur Wiederholung beinah verdammte Figur: Er unterliegt einem oder ist ein Automatismus. Ein Fortschreiten in der Handlung wird auf diese Weise gehemmt. Dabei ist der Erzählakt von geringer Selbstbestimmtheit. Denn daß die Figur ihre (körperliche) Reflexion im Spiegel beschaut, faßt in Worte – und zwar in Schriftzeichen im Kontrast zu den vorher dominanten Zahlen –, was auf der Ebene des discours passiert: Er dreht sich um seine eigene Achse, die in erlebter Rede (»der genuss von schweineschmalz fördert den haarausfall«) als unmittelbarste Annäherung von Erzähler- und Figurenstimme geäußert wird. Der Satz, der den Blick in den Spiegel beschreibt, ist auch deshalb eine zentrale Achsenstelle, weil er die Beweglichkeit eines statischen Abbilds (»bewegliche[s] foto«) mit
63 An späterer Stelle werden Goldenbergs merkwürdige Erinnerung und sein routinierter Tagesablauf wiederaufgegriffen: »im nichts, im chaos, im urnebel, ein zittern der grauen farbe, die ahnung einer bewegung, ein riesiger schatten, er wächst nicht, er dehnt sich nicht, er gewinnt gestalt, nimmt form an, schlägt in die dritte dimension um, uns entgegen, erinnert sich goldenberg, und wir stehen an unserem fenster frei schwebend im raum, gerahmt von venezianischen steinranken, in kimonos gewickelt, der schwertmeister und seine liebe nina, erinnert sich goldenberg, und wir starren in die erscheinung, den ozeandampfer, der sich durch den kanal schiebt./ich will auf einem nebelhorn blasen, schrie goldenberg den verkäufer an, der ihm schweigend 20 dkg leberwurst in ein stück pergament verpackte.« Ebd., S. 656.
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mathematischer Beweglichkeit (»wahrscheinlich«) von Übereinstimmung (»gleiches«) parallelisiert. Nicht so sehr der vagen Konturierung der Diegese ist geschuldet, daß eine Orientierung des Lesers in der Geschichte erschwert ist. Die Desorientierung wird durch die Nichtlokalisierbarkeit begünstigt, auf welcher Ebene erzählt wird. Auf diesen eng ineinander verschränkten Erzählebenen ist die Mediatisierung zudem diffus gebrochen. Die Perspektive wechselt zwischen einem heterodiegetischen Erzähler mit Nullfokalisierung, Goldenberg als Ich-Erzähler und Erzählungen von anderen Figuren. Neben der steten perspektivischen Verunsicherung, die im sechsten sinn der These, daß es noch nicht einmal eine Frage des Standpunktes ist, was gesehen wird, in die Hände spielt, findet ein Bäumchen-wechsele-dich auch in verschmelzenden figuralen Identitäten statt, wenn beispielsweise Goldenberg Nina zunächst von einem Mann im Regenmantel erzählt, der sie beobachten würde, und nur wenige Zeilen später sich selbst als Regenmantelträger ausgibt.64 Es geht an dieser Stelle weniger um paranoides oder schizoides Denken. An dieser Textpassage erweist sich, daß in Konrad Bayers Erzählungen eine Vorstellung vom Subjekt verneint wird, das ein kohärentes, identisches Selbst ist und als solches andere kennenlernen und auf die Welt zugreifen kann. Noch prägnanter aber zeigt sich an diesem Beispiel, wie in Bayers Texten immerzu die Position der Einzelstimme im Verhältnis zum Diskurs reflektiert wird. Ständig stellt sich das Erzählte nämlich selbst die Frage, wer spricht, durch wessen Filter erzählt und von wo aus gesehen wird. Jörg Drews verglich diesbezüglich die erzählerische Strategie in der sechste sinn mit einem Kaleidoskop, schließlich wirkt das Dargestellte sowohl in der Figurengestaltung als auch der raumzeitlichen Semantisierung der Geschichte parzelliert.65 Daß die erzählte Welt das »bewußtseinstheater«66 oder der »panoramakasten«67 der Hauptfigur ist, wie der heterodiegetische Erzähler erklärt, bietet nur auf den ersten Blick einen Anhaltspunkt, die Geschichte als fortschreitende Dissoziationserfahrung zu verstehen. Ein Psychogramm irgendeiner Figur erstellt der sechste sinn nicht. Stattdessen dreht sich die Geschichte über weite Strecken im Kreis, den man nicht einmal konkret verorten kann. Der Roman setzt dennoch immer wieder
64 Ebd., S. 577. 65 Zeit ist im sechsten sinn »nur zerschneidung des ganzen und durch die sinne«. Ebd., S. 636. 66 Ebd., S. 585. 67 Ebd.
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beim Fortgang eines möglichen Geschichtsaufbaus an, bevor die Energie zur Progession erneut schwindet oder sich das Erzählen in Exkurse verfängt. Auf diese Weise wirkt der Erzählakt fragil, dominant bleibt die Ausstellung eines Nicht-Erzählens im Romanfragment der sechste sinn.68 Daß nie auserzählt wird, was angefangen wurde, ist zudem am Mantra der Figuren, sie hätten eine übersinnliche Wahrnehmung, verfügten über den sechsten Sinn und könnten Ereignisse in einem anderen Licht sehen, ablesbar. Mehrfach kommt in Texteinheiten eine Schreibweise zum Einsatz, die Qualia versprachlicht. Wiederkehrend werden entweder in erzählter Rede oder direkter Figurenrede subjektive Erlebnisqualitäten vermittelt, so zum Beispiel Goldenbergs allmorgendliches Erwachen: »und ich gehe hin und ziehe den vorhang zur seite und da trifft mich gleich der sonnenstrahl mit zirka 300 000 km pro sekunde ins
68 Carola Gruber beschreibt anschaulich anhand von Ror Wolfs Kurzprosa die Inszenierung von scheiterndem Erzählen: »Erstens, die einzelnen Texte in Mehrere Männer werden inszeniert als Reihe einer iterierten und variierten Versuchsanordnung, die, zweitens, einen bestimmten Materialvorrat aus unterschiedlichen Medien- und GenreKontexten verwendet. Drittens stellt sich das Erzählen als tentativer, prekärer und labiler Prozess dar, der immer wieder von seinem vermeintlichen Gegenstand, den intradiegetischen Gegebenheiten und Geschehen, abgebracht wird und stattdessen mit den eigenen Voraussetzungen experimentiert. Es lässt sich also von einem scheiternden Erzählen sprechen. Denn die verwendeten Stoff- und Sprachpartikel werden in ihrer Referenzialität auf die erzählte Welt durch verschiedene textuelle/erzählerische Strategien gestört, wie etwa durch ungewohnte Zusammenstellungen und durch den wortspielerischen Hinweis auf die lautlichen Eigenschaften und Bedingtheiten des Erzählens. Auch die ausufernde Selbstreflexion und die Thematisierung der Erzählsituation stellen sich gewissermaßen zwischen den Leser und das intradiegetisch Erzählte. Versteht man Erzählen als die Tätigkeit, ein Geschehen herbeizuerzählen, d.h. abwesende Begebenheiten zu vergegenwärtigen und somit eine mimetische Illusion in Bezug auf das (intradiegetisch) Erzählte anzuregen, dann scheitert Erzählen hier. Zwei weitere Aspekte lassen das Erzählen in Ror Wolfs Männer-Texten als scheiternd erscheinen: der Verstoß gegen grundlegende Erzählkonventionen und der wiederholte Abbruch des Erzählens.« Gruber, Carola: »Nichterzählen? Erzählen als scheiterndes Experiment in Ror Wolfs Kurzprosa«, in: Christoph Zeller (Hg.), Literarische Experimente. Medien, Kunst, Texte seit 1950, Heidelberg: Winter 2012, S. 319-342, hier S. 336.
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auge und da drehe ich mich um und leg mich wieder ins bett.«69 Die Angabe der Lichtgeschwindigkeit genügt zwar einem szientistischen Präzisionsanspruch, ändert jedoch nichts am gewohnten Gang und der Langeweile, mit der Franz Goldenberg diesem Wissen begegnet. Der sechste Sinn befähigt das Ich zwar zu einem Denken in objektiven Parametern, vergrößert allerdings weder seine Einsicht noch verändert es sein Verhalten. Es siegt in anderen Worten nicht die naturwissenschaftliche Präzision, sondern die Unmittelbarkeit subjektiven Erlebens und besonders die Müdigkeit des Ich (gegenüber der Welt). Die Existenz solcher Erlebnisgehalte gilt in Bewußtseinsdiskursen seit dem 18. Jahrhundert als Argument für einen epistemischen Rest, der mithilfe naturwissenschaftlicher Verfahrensweisen nicht ermittelt werden kann. »am ende des 18. Jahrhunderts«, heißt es an einer zentralen Stelle im Romanfragment, »blendete der gelehrte abt spallanzani, der sich durch seine wertvollen physiologischen untersuchungen einen geachteten namen in der wissenschaft erworben hat, fledermäuse durch lackieren der augen und auf andere weise, liess sie dann frei fliegen und war erstaunt, dass sie mit unglaublicher sicherheit das anstossen an hindernisse vermieden, noch immer erstaunt nahm spallanzani den sechsten sinn an«.70
Der Textabschnitt ist deshalb zentral, weil nur einmal in der sechste sinn mit Lazzaro Spallanzanis Tierversuchen und physiologischen Abhandlungen, die bereits E.T.A. Hoffmann inspirierten, auf Realhistorisches rekurriert und der sechste Sinn als eine Erweiterung der räumlich-visuellen Wahrnehmungskompetenz erläutert wird. Hiermit ist eine wissenshistorische und poetologische Tradition markiert, die sich bezeichnenderweise um den Zusammenhang von Literatur und den Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts dreht. Die Herkunft der gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit des sechsten Sinns wird somit preisgegeben: die aufklärerische Schule. Die aufklärerische Naturwissenschaft verpflichtete sich mithilfe von unterschiedlichen Techniken, Apparaten und Darstellungsmodi einem stark an Visualisierung orientierten Präzisionsgebot. In der sechste sinn wird diese naturwissenschaftlich imprägnierte Kulturtechnik des Sehens in Bildern auf ein Sehen in Bildern über das Romanmaterial (Schriftzeichen, Zahlen, Foto) transponiert. Erstens bedient sich der Text häufig in phantastischen Passagen einer bildgesättig-
69 SW 1996, S. 592f. 70 Vgl. ebd., S. 607.
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ten Sprache, wenn beispielsweise »goldenberg [dachte], als er der geschwindigkeit seiner gedanken . . alles verschwand unter bildern«.71 Zweitens wollte Konrad Bayer der Titelei ein Foto, welches das Porträt einer lächelnden Frau abbildet, in zweifacher Ausführung als Positiv und Negativ voranstellen. In der Geschichte spielt Fotografie auch motivisch eine Rolle, da Goldenberg ein Bild von Nina bei sich trägt. Drittens durchziehen den Text Einheiten, in denen mal Majuskeln,72 mal andere Schriftarten,73 mal kursivierte Schrifttypen,74 mal fehlplatzierter Absatz,75 mal Auslassungspunkte inmitten eines Satzes, wie im vorherigen Zitat,76 vorkommen. Dort zeigt sich das Textmaterial als Schreibgeste, als ob das Schriftbild im Erzählvorgang eigenwillig mitagiert oder sogar Buchstaben ersetzt. Besonders augenscheinlich wird die Eigenwilligkeit des Materials anhand der »›unleserliche[n] pseudotypographie‹«77, die Konrad Bayer projektierte. Der Herausgeber fügte in der Gesamtausgabe von 1996 an besagter Stelle zur Simulation der »[P]seudotypographie« Auszüge aus der Exposition von Raymond Roussels Locus Solus78 in den sechsten sinn ein. Der fremde Text fällt auf, weil er nicht nur französisch, sondern in verschwommenen Schriftzeichen gesetzt ist. Die verschwommene Schrift greift direkt in das Geschehen ein, wenn Nina den lesenden Goldenberg auffordert, nun endlich seine Brille aufzusetzen. Die Schriftzeichen, die Ninas Rede und die des zunächst uneinsichtigen IchErzählers wiedergeben, sind hingegen in klarem Schriftbild gesetzt. Genauso unvorbereitet wie der Roman ansetzt,79 endet er auch. Eine weibliche Nebenfigur stürzt (sich) aus dem Fenster und erliegt ihren Verletzungen, der Protagonist löst sich »mitten im satz«80 auf und verschwindet. Die Liebes- und
71 Ebd., S. 582. 72 Vgl. ebd., S. 580, 590, 653f. 73 Vgl. ebd., S. 637. 74 Vgl. ebd., S. 630f., 651, 657. 75 Vgl. ebd., S. 605. 76 Vgl. ebd., S. 582. 77 Rühm, Gerhard: »Anmerkungen«, in: SW 1996, S. 809. 78 Vgl. Roussel, Raymond: Locus Solus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 21-23. 79 »damit begann der abend, der ganz unter blumen verschwand.« SW 1996, S. 577. 80 »wir können in die welt nicht eindringen, wir haben nichts mir ihr zu tun, wir schaffen bilder von ihr, die uns entsprechen, wir legen methoden fest, um uns in ihr zu verhalten und nennen es die welt oder wenn es kracht, ich in der welt, es ist hochmütiger als man denkt, wenn wir also einen bemalten vorhang brauchen, vor dem wir unsere ges-
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Bildungsgeschichte des Franz Goldenberg scheitert somit performativ, im Sprechakt. Ganz zum Schluß fordert Dobyhal resigniert angesichts der Zwecklosigkeit des gesamten Unterfangens dazu auf: »machen Sie das buch zu!«81 Am Ende scheint die Suche nach Erkenntnis trotz zusätzlichen Sinns fehlgeschlagen. Doch das letzte Wort hat ein überlegener Erzähler auf der Extradiegese. Die Worte Dobyhals stehen ohne Anführungsstriche in der oberen Seitenhälfte und werden in der unteren Seitenhälfte in etwas kleineren Schriftzeichen interpunktionslos als Figurenzitat entlarvt: »sagte dobyhal«. Deuten läßt sich ausgehend von dieser letzten Seite des Romanfragments, daß Figuren vielleicht an Erkenntnis scheitern mögen, doch was bleibt, sind Erzählinstanzen, das Material der Literatur und die Handlung des Lesers, der über die Metalepse »machen Sie das buch zu!« direkt angesprochen wird. Der Leser wird so zum adressierten Bestandteil eines tentativen Erzählens.
G EOMETRIE DES GERAHMTEN IN S ONNE HALT !
B LICK ( EN ) S
Die Integration des Rezipienten in eine Versuchsanordnung, die bildgebende Techniken, Perspektivität und verschiedene Notationssysteme zusammenbringt, vollzieht sich auch in Ferry Radax’ Sonne halt! (1959-62). Der in 35mm abgedrehte Experimentalfilm ist eine filmsprachliche Interpretation von der sechste sinn, dessen Autor als Hauptdarsteller in einer Doppelrolle beteiligt war.82 Die
ten und persönlichen wünsche, die wir als dinge, zusammenhänge und ähnliches bezeichnen, nennen, tragieren, dann nehme ich den bunten schleier der fröhlichkeit und was ist dahinter? fragte dobyhal./goldenberg lachte.//plötzlich war goldenberg verschwunden. mitten im gespräch, mitten im satz hatte er sich in nichts aufgelöst, war vor den augen dobyhals verschwunden.« Ebd., S. 664. 81 Ebd., S. 666. 82 Konrad Bayer stand mit den Regisseuren Ferry Radax, Kurt Kren, Marc Adrian und Peter Kubelka in Kontakt. Adrian produzierte 1963 mit random den ersten computergenerierten Film. Bayer war nicht nur mit den seit Anfang der 1950er Jahre renommierten Absolventen der Filmakademie befreundet, sondern war auch an der Produktion einiger Filme beteiligt. Zum Beispiel an Krens Klavier Salon 1.Stock (1956), einem anderthalbminütigen, in schwarz/weiß abgedrehten Stummfilm. Er spielte zudem in drei Filmen selbst mit. 1955 war er Hauptdarsteller in dem Spielfilm Mosaik im
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Dreharbeiten zum Schwarzweißfilm fanden im Winter 1959 in den italienischen Küstenstädten La Spezia und Monterosso al Mare statt.83 Konrad Bayer arbeitete auch an der Vertonung des Films mit, er sprach Auszüge aus der sechste sinn ein, »die [Radax und ihm] als Kommentarsätze für den Film geeignet schienen«.84 Der kurze Film kommt ohne Dialoge und Figurenrede aus, folgt einem vage rekonstruierbaren Plot: Es geht um einen Dandy (Konrad Bayer), der eine junge Französin (Suzanne Hockenjos) vergeblich damit zu beeindrucken versucht, die Sonne mit einem Gewehr vom Himmel zu schießen. Die Bemühungen um eine andere Frau (Ingrid Schuppan), die er im wahrsten Wortsinne abschießt, laufen ebenso ins Leere, woraufhin der Dandy die Küstenstadt über den Seeweg wieder verläßt. Als Nebenhandlung taucht ein schweigender Matrose (Alberto Jolly/Konrad Bayer) auf, der die anderen Charaktere in öffentlichen Räumen beobachtet, ohne mit ihnen weiter zu interagieren. Der Film entfaltet ein breites Zitationsrepertoire aus allen Künsten. Literatur wird nicht nur in den vertonten Sequenzen aus Bayers der sechste sinn zitiert, sondern ist auch in Form von montierten Einstellungen zugegen, in denen mit Blockbuchstaben beschriebene Buchseiten abgebildet werden, die umgeblättert werden und die Erzählung gleichsam paratextuell gliedern. Ferner ist durch das Doppelgängermotiv die literarische Romantik präsent; die Handlung spielt am selben Tag wie Joyces Ulysses (16. Juni); auf den Prometheus-Mythos und die folgenschwere Begegnung von Aktaion und Artemis wird angespielt. John Everett Millais’ Gemälde Ophelia (1851) wird szenisch zitiert. Musikalisch werden zum Beispiel Billie Holiday, ein Schlaflied, ein jiddisches Chanson und javanischer Gamelan gesampelt. Ebenso wird auf Man Rays Fotogramme und auf Kriegsfotografie referiert. Filmgeschichtlich ist mit Maya Derens Meshes of the afternoon (1943) der filmästhetische Meilenstein eines ›Neuen Sehens‹ aufgeru-
Vertrauen, bei dem Kubelka und Radax Regie führten und für den sie im darauffolgenden Jahr in Paris den Internationalen Experimentalfilmpreis erhielten. Bayer spielte zudem 1961 neben Max Billeter, Padhi Frieberger und Armin Ackermann die Hauptrolle im experimentellen Dokumentarspielfilm Am Rand, der in Paris, Zürich, Rom, München und Wien gedreht wurde und in drei Fassungen überliefert ist. 83 Radax, Ferry: »Entstehung des Experimentalfilms ›Sonne halt!‹«, www.ferryradax.at/ film/film.htm vom 31.03.2014; vgl. Radax, Ferry: »Filmarbeit mit Konrad Bayer oder ›die filmkunst sich zu überleben‹«, in: protokolle 1 (1983), S. 16-21. 84 Kastberger, Klaus: »Alchemie des Ganzen. Konrad Bayers sechster sinn«, in: Fetz/ Kastberger, Die Teile und das Ganze (2003), S. 121.
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fen, was den Weg zur vorliegenden Lesart von Sonne halt! bereitet. Radax’ Film stellt, so die These, über eine Geometrisierung des gezeigten Raums gerahmte Perspektivik aus und legt auf diese Weise durch Zeigen wie Sehen (film-)illusionäre Wahrnehmung frei.85 Als Geometrisierung wird hier bezeichnet, daß in Sonne halt! mit verschiedenen Mitteln Eindimensionalität und Flächigkeit ausgestellt werden. Perspektivisch, motivisch und thematisch erweisen sich die geometrischen Strukturen Linie, Kreis und Quadrat als dauerpräsent. Schon das handschriftlich beschriebene Buchschild, das die erste Einstellung zeigt, ist liniert: Abbildung 3: Titelbild in Sonne halt!
Filmstill. Eigene Darstellung
Nicht nur die beiden Linien, welche die Schriftzeichen auf der Geraden halten, auch die Interpunktionszeichen sind eindimensional und linear. Im weiteren Verlauf des Films erscheinen die handschriftlichen Blockbuchstaben auf Blankoseiten kapitelweise wieder, einmal legt sich sogar eine umblätternde linke Hand so auf das Blatt Papier, daß die Finger als Geraden im Weißraum der Seite wirken.86 Die Lineatur setzt sich in Requisiten wie Gewehren, einer Querflöte und Angelrute fort, die verschiedene Figuren benutzen oder zweckentfremden. Der 85 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Evidenz des Films, Berlin: Brinkmann und Bose 2005. 86 Zwischen 1959 und 1962 entstanden drei verschieden lange Versionen in 35mm-Format. Die Negative der ersten und zweiten Fassung wurden nach Angaben von Ferry Radax 1964 zerstört. Zur Analyse steht die 1962 entstandene, sechsundzwanzigminütige Endfassung. Sonne halt! (AUT 1962, R: Ferry Radax), Wien: Hoanzl 2007, 23:07 Min.
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Horizont ist im Blick aufs Meer wiederholt der motivische Hintergrund des Films. Die Darsteller laufen über Waldwege oder lange Treppen, die im Teleobjektiv wie Achsen im Bildraum erscheinen, was perspektivspielerisch auf einer Reißverschlußtreppe, wo sich der Dandy und die Frau in der Mitte begegnen, eskaliert. In der von schräg oben gefilmten Einstellung erkennt man keine Höhenunterschiede zwischen der aufsteigenden Frau und dem herabsteigenden Mann, als liefen sie parallele Linien ab.87 Auch der Abschuß des Himmelskörpers Sonne gestaltet sich wie auf einem kurvenförmig herabfallenden Graph von der Vertikalen in die Horizontale.88 Flächigkeit entsteht wiederum über die Omnipräsenz von Kreisen und Quadraten in Sonne halt!. Die erwähnten Buchseiten oder eine leere Leinwand eines Freilichtkinos bilden solche Flächen in Weiß, dunkle Flächigkeit kommt unter anderem mithilfe eines Feldfotos aus dem Zweiten Weltkrieg und fehlbelichteter Fotonegative ins Spiel. Runde Teller, eine Schallplatte an der Wand oder ein frontal gezeigter Ball sind Beispiele für rund geschlossene Linien im Film. Die in einigen Einstellungen dargestellte Sonne ist ferner kein bewegter Körper, sondern ein hell leuchtender Kreis, der wie das Positiv der Schallplatte aussieht. Als zweidimensionale Zeichnung ist die Sonne zudem auf einer Buchseite abgebildet. In einer bestimmten Szene wird Suzanne Hockenjos vom Kamerablick lange dabei beobachtet, wie sie auf dem Bett liegend die Bewegung einer kreisenden Deckenlampe verfolgt. Ihre Augenlider bilden hierbei die Rahmung ihrer Pupillen. Kadrierte Perspektiven prägen den Film. In langen Einstellungen observiert der Kamerablick die Figuren dabei, wie sie in die Ferne, zum Horizont oder an der Kamera vorbeischauen. Sie sehen durch (Schau-)Fenster, Glastüren, Spiegel; sie schauen über Gemäuer, in Schornsteine oder in ein Verlies hinein. Ihre Augen und ihr Blick sind dabei stets gerahmt von Fenster-, Tür-, Bett- oder Spiegel-
87 Ebd., 23:10 Min. 88 Raumfahrt spielt als ein am vertikalen Aufstieg orientiertes Bewegungsmotiv eine große Rolle. Während der Dandy in den Himmel schießt, ertönt aus dem Off folgender originaler Radiomitschnitt vom Main Missile Test Center Cape Canavarel: »Cape Canavarel. Ten years ago this was a name known only to a few people. Now it is known all over the world.« (Ebd., 9:57 Min.) Am Geschehen ist Raumfahrt somit nicht beteiligt, sie bleibt unsicht-, doch hörbar im Hintergrund. In einer Szene wird außerdem ein Spielzeugroboter gezeigt, der den kybernetischen Robby aus Alarm im Weltall in Erinnerung ruft.
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rahmen, ihr Gesichtsfeld wird durch Mauerwerk, geschwungene Äste, Brillengestelle oder Ausgucke begrenzt. Das eindrucksvollste Beispiel dieser Perspektivbündelung durch Rahmen wird von Inge Schuppan in Szene gesetzt, wenn sie, nur mit einer weißen Ganzkopfmaske bekleidet, am Bach sitzend gezeigt wird: Abbildung 4: Schuppans gerahmtes Gesicht
Filmstill. Eigene Darstellung
Eine dreifach gefaßte Ansicht entsteht, als der Dandy durch das Mundstück einer Querflöte eine (möglicherweise geträumte) Kußszene von ihm und der umgarnten Frau sieht. Zum einen sieht der Zuschauer deren Köpfe durch einen Fensterrahmen, zum anderen wird der Blick in die Querflöte von einem Trickeffekt begleitet: Die Fensterszene wird mit einem »in die Filmemulsion gekratzt[en]«89 Stift umrandet. Ein letztes Beispiel für die signifikante Einrahmung des filmisch Gezeigten ist eine Szene, in der aus einem abgedunkelten Raum durch eine geöffnete Tür in einen hellen Raum gefilmt wurde, in dem der Dandy ein Bild aufhängt. Die erste Rahmung im Kader entsteht durch den Türbogen, der den dunklen Raum vom hellen abgrenzt und damit den Fokus auf die Figur lenkt. Der Dandy wiederum blickt auf das gerahmte Bild einer historischen Napoleon-
89 Tscherkassky, Peter: »Die rekonstruierte Kinematografie. Zur Filmavantgarde in Österreich«, http://www.tscherkassky.at/download/kinemato.pdf vom 31.03.2014, S. 13f.
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Abbildung, das er an die weiße Wand nagelt. Indem kurz zuvor die Szene eines Museumsbesuchers zwischengeschaltet wird, der gerahmte Gemälde anschaut, verhandelt der Film dergestalt, wie Bilder über Rahmengebung und über kontextuelle Zwischenräume zugleich konserviert und fixiert wie flexibilisiert und bewegt werden können. Sonne halt! hebt mit verschiedenen Mitteln darüber hinaus den Konstruktionscharakter von filmischer Raum- und Zeitbewegung hervor. Die Zeitangabe auf den Seiten stimmt weder mit der erzählten Zeit überein, die mehr als einen Tag umfaßt, noch liegen Ton- und Bildspur passend übereinander, was besonders in solchen Szenen einen komischen Effekt erzeugt, wo zu Musik getanzt oder ein Instrument gespielt wird.90 Die Raumangabe der Erzählerstimme, der zufolge sich die Geschichte in Buenos Aires abspielt, wird zwar von einer Bootsaufschrift bestätigt, doch von den handschriftlichen Texten der montierten Buchseiten stets konterkariert, auf denen wiederum variable Raumangaben erfolgen: »MTE.RO«, »MONTE ROSSO«, »MTE.R.«, »ROSSO«, »M. ROSSO« oder auch Leerstellen bleiben. Weder Raum noch Zeit stehen in anderen Worten fest. Sodann sehen wir den Darstellern dabei zu, wie sie Strecken ablaufen, Treppen besteigen oder am Strand Golf spielen, doch ihre Bewegung nie vollständig ausführen können. Die Handlungen der Darsteller werden mit StopMotion-Effekten unterbrochen, die damit vorführen, daß eine bestimmte Sequenz von Ereignissen von A nach B, anders formuliert: Zeit zerlegbar ist. Über filmtechnische Mittel wird die Aufmerksamkeit ebenso auf illusionäre Wahrnehmungsmodalitäten gelenkt. Den Film kennzeichnen harte Wechsel zwischen Hell und Dunkel. Die Geschichte eröffnet mit einem Blick aufs Meer als ungewöhnlich gleißend helle Einstellung, hernach folgen schwarze Schnitte und Abblenden. Das Spannungsverhältnis zwischen Schwarz und Weiß entfaltet auch einen Zwischenraum zwischen analogen und digitalen Techniken, nämlich dort, wo Ferry Radax’ Sonne halt! auf die Technik der Solarisation anspielt. Der gewaltsame Untergang der Sonne wird mithilfe der »von Man Ray in der Fotografie schon Ende der 20er Jahre angewandte[n] Solarisation«91 in Szene gesetzt.
90 Der Dandy spielt in einer Szene auf dem Balkon Banjo und singt ein makabres Einschlaflied. In der nächsten Einstellung sieht man durch die Fellbespannung eines Banjos die rechte Hand, deren anschlagende Bewegung, Takt und Rhythmus jedoch nicht mit dem Schlaflied übereinstimmt. Sonne halt! (2007), 6:40 Min. 91 Scheugl, Hans: Erweitertes Kino. Die Wiener Filme der 60er Jahre, Wien: Triton 2002, S. 24.
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Bei diesem fotografischen Verfahren werden Negativ und Positiv übereinander kopiert, »was theoretisch das Bild schwärzt und das Projektionslicht zum Verschwinden bringt. Da ein [filmisches, JB.] Negativ aber niemals die dafür nötige Dichte besitzt, wirken die Bilder, als wären sie solarisiert.«92 In Sonne halt! geht es jedoch nicht nur um Illusionsverfahren im Film. Daß das filmische Experiment in schwarz/weiß abgedreht und nicht koloriert wurde, ist von metareflexiver Aussagekraft. Im Schwarzweiß ist das Dargestellte eines illusionären Scheins entledigt, dem das menschliche Auge stets erliegt, wenn es Farbe wahrnimmt. Farben sind, physiologisch betrachtet, vom Licht hervorgerufene Reize in einem elektromagnetischen Frequenzbereich zwischen Hell und Dunkel, die über Rezeptoren vom Wahrnehmungsapparat individuell verarbeitet werden. Demnach folgt der Zuschauer von Sonne halt! nicht nur geometrisch gerahmten Blicken – es ist vielmehr dieser individuelle Blick selbst, dessen Wahrnehmungskapazität vermessen wird.
92 Tscherkassky, Peter: »Die rekonstruierte Kinematografie. Zur Filmavantgarde in Österreich«, http://www.tscherkassky.at/download/kinemato.pdf vom 31.03.2014, S. 14.
›Kriegslinie‹ flucht
Der Problemhorizont Krieg, der sich in der sechste sinn mit der Präsenz von Soldaten, Gardisten, Kriegspfaden oder -teilnehmern1 Bahn bricht und in Sonne halt! dadurch Gestalt annimmt, daß ein Feldfoto aus dem Zweiten Weltkrieg montiert, ein Schutzgemäuer mit Ausguck gezeigt und der Abschuß der Sonne verhandelt werden, findet in Konrad Bayers Werk gehäuft seinen Ausdruck. Auf welche Art und Weise die Auseinandersetzung mit Krieg erfolgte, wird in diesem Kapitel am Text flucht vertieft. In den Werkausgaben ist der Text in die Rubrik ›konkret‹ einsortiert, er erfüllt typische Kriterien dieser experimentellen Schreibweise.2 Unter der ›Konkretisierung‹ des Materials verstanden Konkrete Künstlerautoren wie Eugen Gomringer, daß das Schriftsprachliche defunktionalisiert und gewohnten Kontexten enthoben werden sollte, um somit eine neue Wahrnehmung seitens des Rezipienten zu ermöglichen.3 Bayers flucht stellt vordergründig ein Experiment mit einer Gestaltung von materieller Oberfläche dar, die dergestalt sensorisch wahrnehmbar wurde.4
1 2
SW 1996, S. 600-603, 614, 629. Vgl. Vollert, Lars: Rezeptions- und Funktionsebenen der Konkreten Poesie. Eine Untersuchung aus semiotischer, typographischer und linguistischer Perspektive, phil. Diss., Würzburg 1999; Beetz, Manfred: »In der Rolle des Betrachters. Zur Aktivierung und Sensibilisierung des Lesers in der visuell-konkreten Poesie«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 419-451.
3
Vgl. Schmidt, Siegfried J.: »Konkrete Dichtung. Theorie und Konstitution«, in: Poetica 1 (1971), S. 13-31; Schmidt, Siegfried J.: konkrete dichtung. texte und theorien, München: Bayerischer Schulbuch-Verlag 1972, S. 141-148.
4
Vgl. Lechtermann, Christina/Wagner, Kirsten/Wenzel, Horst (Hg.): Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin: Schmidt 2007.
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Mit »gewehrlaufschrittweisendrahtverhautnahebeinahelmesserwacht[…]«5 setzt das 1962 entstandene und 1963 veröffentlichte flucht ein. Der Text besteht aus einer fortlaufend verketteten Zeile zusammengesetzter Minuskeln. Es sind Wörter, die in Kleinschreibung ohne Leer- und Interpunktionszeichen hintereinander angeordnet sind und als zusammenhängendes, lineares Zeichengebilde ineinander oszillieren. Bayer plante, die »wortkette« als »›rollenbuch‹«6 zu layouten. Auf einer Pergamentrollen ähnlichen, flexiblen Trägeroberfläche sollte die Textzeile abgedruckt und reproduziert werden, um die Zeichenkette weder durch Absätze noch Trennungsstriche zu unterbrechen. Bayers Publikationsidee ist wahrscheinlich wegen zu hoher Herstellungs- und Distributionskosten nie realisiert worden. Das kompositionale Produktionsverfahren von flucht basiert auf der Verlängerung von Wörtern: Die letzte Konstituente des vorangehenden Worts bildet die Anfangssilbe des folgenden Kompositums. Es werden hierzu alle Wortarten verwendet, neben Nomen werden Adjektive, Partikeln und flektierte Verben ineinander verschränkt. »detonatiohnmacht« stellt die einzige Verletzung orthographischer Regeln dar, dank des langen ›o‹ in ›Detonation‹ bleibt unterdessen die phonologische Korrektheit des Kompositums unberührt. Der Text diente Rühms editorischen Ausführungen zufolge der rhetorischen Übung für Bayers szenisches Singspiel bräutigall & anonymphe, das im Juni 1963 auf der Wiener Bühne studio experiment am lichtenwerd uraufgeführt wurde.7 flucht entfaltet bei lautem Verlesen eine Sogkraft, die sowohl aus dem akustischen Wiedererkennen einzelner semantischer Versatzstücke als auch dem Umstand resultiert, daß sich die Wortkette zu einem inhaltlich kohärenten Zusammenhang verbindet. Wenn der sechste sinn die Reflexion darüber vorführt, unter welchen Bedingungen ein Text zum Roman wird, dann wird in flucht zur Diskussion gestellt, was und ab wann er eine Geschichte ist. Denn unter bestimmten Umständen erzählt flucht eine Geschichte. Dem spielerischen Charakter der textuellen Architektur steht entgegen, wovon flucht handelt.8 Die Wortbausteine bewegen sich mit »gewehr-
5
SW 1996, S. 457f.
6
SW 1996, S. 798.
7
K. Bayer: Theatertexte, S. 218.
8
Verglichen mit anderen Erzähltexten, die in den 1950er Jahren Krieg thematisieren, zeichnet sich flucht durch eine Parallele in der Wegmetaphorik aus, die sowohl auf der Handlungsebene als auch in der materialen Setzung des Textes manifest wird. Beispielsweise in Georg Hensels Nachtfahrt, Jens Rehns Feuer im Schnee, Werner Wa-
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lauf«, »kettenpanzer«, »sprengstoff«, »schützengraben«, »periskop« oder »selbstschuss« im semantischen Feld moderner Kriegsführung. Mit »sandstrand losstürzen«, »endlossprengstoff« und »atemlosstürzen« werden ferner Scharnierelemente sinnfällig, welche die Wortverbindungstechnik brechen; in ihnen spiegelt sich die SS. Der Imperativ zahlreicher Verben unterstreicht zuletzt einen militärischen Befehlston. flucht bringt durch das Unterlaufen einer ereignissukzessiven Geschichte Unbestimmtheit ins Spiel. Zwar bekunden die Zeitadverbien ›bevor‹ (»gewölbevorsicht«, »webschiebevorschein«) und ›ehe‹ (»garbehelm«), daß etwas retrospektiv in eine zeitliche Ordnung gebracht wurde. Der Text präsentiert jedoch keinen Satz, das Geschehen wird lediglich abstrakt vermittelt. Weder ist die Erzählinstanz näher zu bestimmen noch anhand der Verbmodi erkennbar, ob über eine oder mehrere Figuren erzählt wird.9 Die Konturen der erzählten Welt bleiben also sehr durchlässig. Potentiell werden auf der Grundlage dieses Textes mehrere Geschichten von flucht erzählbar, und zwar von seiten eines sie erst zusammensetzenden Rezipienten. Bayer schrieb und veröffentlichte in den 1960er Jahren zwei formalästhetisch ähnliche Texte.10 Es handelt sich um den in der Zeitschrift werkstatt aspekt untergebrachten Text stadt11 und das 1962 publizierte Wortverschränkungsmaterial
rinskys Kimmerische Fahrt oder Herbert Zands Letzte Ausfahrt führen alle Wege die Figuren teleologisch in den Tod oder in einen Zustand der Verlorenheit. Vgl. Louis, Raffaele: »Gleichnisse vom verlorenen Sinn«, in: Jürgen Egyptien (Hg.), Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 und 1965, München: Iudicium 2007, S. 125-156. 9
Schmid trägt die verschiedenen Forschungspositionen über die Notwendigkeit eines Erzählers für eine Erzählung und seine spezifische Markiertheit zusammen. Ich teile seine Auffassung, daß ein Erzähltext »immer irgendwelche Symptome enthalten [muss], so schwach sie auch sein mögen«, für eine Erzählinstanz, halte aber die Rolle des realen Rezipienten und seines Vorwissens um textuelle Indizien für mitentscheidend. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie, Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 82.
10 Obgleich Gerhard Rühm die drei Texte als zusammengehörig und zu Vorbereitungen von bräutigall & anonymphe erklärt, muß betont werden, daß sich die Texte deutlich voneinander unterscheiden: stadt ist ein in Verse gesetztes Gedicht, wohingegen signal mit Absätzen und reduzierter Interpunktion das Erzählmittel des stream of consciousness nutzt, um den Inneren Monolog eines Täters darzustellen. 11 Vgl. Bayer, Konrad: »stadt«, in: werkstatt aspekt (1964), H. 1.
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signal12. Beide Texte fordern ein vergleichbares ›Zwischen-den-Zeilen-Lesen‹ ein. In signal diente die oszillierende Technik, wie Bayer bei Einreichen seines Manuskripts dem Herausgeber der Zeitschrift erklärte, zur Darstellung einer Geschichte über eine nicht näher spezifizierte Tat, ein folgenschweres »geschehen«: »dabei ist es nicht notwendig es in seinen details zu erkennen. ich habe versucht das gedankenstenogramm des täters zu entwerfen in ein fremdes gehirn einzudringen. ich wollte die gedankenbilder in ihrer zähflüssigen verbindung zeigen ›das was er davon hatte‹ und keinen objektiven tatbestand.«13
Einen objektiven Tatbestand bildet auch flucht nicht ab. Der Eindruck von Unmittelbarkeit zu einem figuralen Assoziationsstrom, als würde der bildreiche Gedankenbericht eines flüchtigen Kriegsteilnehmers geschildert, stellt sich ein, indem zum einen Räume wie »erdreich«, »sandstrand« und »wachtturm« montiert, zum anderen angedeutete Handlungen und Bewegungen wie »aufspring«, »eindring«, »beschützen«, »zurückzucken«, »ringsumheraufbrech« oder »rechtsum heraufsteig« in Bezug zueinander gesetzt werden. Mittels der Wiederholung von »ertöne« oder »gesumme« werden dabei akustische Sinneseindrücke eingebracht. Nicht zuletzt ist mit »entlangsandstrand« ein Gefühl (Angst) angedeutet, das bezeichnenderweise nicht ausgeschrieben wird, als dürfe in diesem Kontext keine Rede davon sein. Dadurch daß scheinbar niemand erzählt, die Stimme zumindest nicht zuzuordnen ist, und das Erzählte perspektivisch neutral dargestellt wird, bleibt im Unklaren, ob flucht den Bewußtseinsstrom eines Soldaten wiedergibt, der vom »gewehrlauf« am Anfang bis zum ins Aktiv gesetzten »töten« am Schluß über Kriegsszenen nachdenkt und zum Teil assoziativ abschweift; oder ob die Gedanken eines Kriegsopfers auf der Flucht stenografisch erfaßt und in eine punktlose Leere geleitet wird. Dem assoziativen Ereignisverlauf in flucht wohnt etwas flüchtig Bewegtes inne, was sich bereits im Titel ankündigt.14 Auch
12 Vgl. Bayer, Konrad: »signal«, in: edition 62 (1964), H. 1. 13 SW 1996, S. 797f. 14 Bayers Titelgebung spielt mit der Mehrdeutigkeit des Wortes ›flucht‹. Es kann sowohl vom Verb ›fluchen‹ als auch ›fliehen‹ abgeleitet werden. Im ersten Fall ist die Ausgangsbedeutung »wohl ›stoßen, schlagen‹; daraus die deutsche Bedeutung […] und in einem anderen Bild ›die Hände zusammenschlagen‹ im Englischen; dies als Zeichen der Trauer und Verzweiflung im Gotischen« (Art. fluchen, in: Friedrich Kluge, Ety-
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die bauähnlichen Texte stadt und signal handeln wie flucht von Bewegung. Konrad Bayer verknüpfte kurzum die Wortverkettungstechnik in einer Serie Konkreter Texte mit dem Thema Mobilität. Das Besondere am vorliegenden Text im Vergleich zu den formalästhetisch verwandten Variationen ist seine Umarbeitung in ein kinetisches Exponat.
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1964 ist flucht als »lesesäule«15, wie Konrad Bayer sie nannte, in einer Berliner Galerie ausgestellt worden. Anläßlich einer Gruppenausstellung angesagter Op Art und Kinetischer Kunst wurde die Textzeile auf ein zylindrisches Trägermedium übertragen, das etwa 70 cm hoch ist und einen Durchmesser von 35 cm hat.16 Bayer klebte die Wortkette mit Letraset-Buchstaben in einer von oben nach unten verlaufenden, ungeraden Spiralform auf den weißen Grund des Zylinders; das Ergebnis sieht wie folgt aus:
mologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York: de Gruyter 24
2002, S. 304, Herv. i. O.). Im zweiten Fall wohnt dem Wort als Substantiv bereits
seiner Sprachgeschichte nach (fugere, ahd. fliohan, mhd. vliehen, ags. fleon, engl. flee) Bewegung inne. Die fuga nimmt zeitgenössisch auch in Celans Todesfuge Gestalt an. ›Flucht‹ steht darüber hinaus etymologisch der Wortfamilie ›fliegen‹ nahe: »von mischung des fliegens und fliehens war sp. 1781 die rede, so nah verwandt müssen beide sein, als das fliegen dem laufen und springen ist.« (Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig: S. Hirzel 1854, Sp. 1792, Herv. i. O.). Es steht für eine »zusammenfliegende Schar Vögel, Zimmerflucht«. »Hierher auch Fluchtlinie […], ›Gerade‹, Zimmerflucht und der technische Ausdruck fluchten ›in einer Linie stehen‹«. (Art. fluchen, in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2002), S. 305, Herv. i. O.). 15 Auf einer Archivalie wird das Objekt als »fluchtrolle« bezeichnet. 16 Vgl. Angaben in Kellein, Thomas: »Fröhliche Wissenschaft«. Das Archiv Sohm. Katalog zur Ausstellung vom 22.11.1986 bis 11.1.1987, Stuttgart: Staatsgalerie Stuttgart 1986, S. 125.
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Abbildung 5: lesesäule
Kellein, Thomas: Fröhliche Wissenschaft. Das Archiv Sohm, Stuttgart: Staatsgalerie Stuttgart 1986, S. 125.
Die einzelnen Buchstaben stehen in der Horizontalen in relativ gleichen Abständen zueinander, das letzte Wort ›töten‹ sticht nicht nur aufgrund seiner Schlußstellung, sondern größerer Zwischenräume zwischen den Buchstaben hervor. Der beklebte Zylinder wurde von Bayer auf einer 5,5 cm breiten Plexiglasscheibe befestigt und auf einen 78 cm hohen, weiß lackierten Holzsockel montiert, in den ein Motor eingebaut wurde, um Scheibe und Zylinder im Uhrzeigersinn drehen zu können. Das Wortmaterial auf der lesesäule zirkulierte langsam und in gut lesbarer Größe entgegen der Leserichtung von rechts nach links. Die Idee zu bewegten bzw. den Leser in Bewegung versetzenden (literarischen) Texten wurzelt literaturgeschichtlich tief. Bereits im Barock finden sich
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skripturale Werke, die sich »nur durch permanente Rotation der Textfläche lektional erschließen« und aufgrund von Drehung oder Vor- und Zurückblättern eine »Verlangsamung des usuellen Aufnahmeprozesses« bewirkten. 17 Lesen wurde auf diese Art und Weise formal wie medial bedingt zu einem spielerischkreativen Akt, der Augen und Hände in Bewegung hielt. Fernab jeglicher Spielerei, die das dreidimensionale kinetische Exponat lesesäule durchaus war, machte sie den Ausstellungsbesuchern Parameter sichtbar, die bei jedem Lektürevorgang mitwirken: daß das Trägermedium, auf dem ein literarischer Text abgedruckt ist, am Zugang zum Text und dem Verstehensprozeß teilhat. Denn die lesesäule entautomatisiert den Leseakt des ohnehin unkonventionellen Texts flucht noch zusätzlich. Während Trägermedien literarischer Texte für gewöhnlich im Lektüreprozeß stillstehen oder ihre Mobilität allein vom Leser kontrolliert wird, bewegte sich das Objekt selbsttätig, automatisch. Die Drehbewegung bewirkt eine Steigerung des perzeptiven Desorientierungspotentials des Texts. Navigationsprobleme waren in der Ausstellung zumindest vorprogrammiert, was dem in der Wortkette dreifach wiederholten »achtung« eine augenzwinkernde Bedeutung verlieh. Stellte es bereits für einen Leser der immobilen Textzeile eine Herausforderung dar, im Lesevorgang nicht den Faden zu verlieren, da die Komposita schließlich nur durch eine Vor- und Zurückbewegung in der Leserichtung parzelliert werden können, erzwang die rotierende lesesäule vom Leser viel Konzentration und verkomplizierte den Wiedereinstieg in den kontinuierlichen Lesevorgang. Eine wahrnehmungspsychologisch begründete Erschwernis ergab sich zudem aus der optischen Aufnahmefähigkeit des Lesers: Das menschliche Auge erfaßt ein Suchfeld nicht nur in der Horizontalen, also entlang der linearen Wortkette, sondern zugleich in der Vertikalen. Die Ausstellungsversion von flucht als lesesäule baute somit ein Spannungsverhältnis auf zwischen der spielerisch-experimentellen Form und dem verstörend sozialkritischen Inhalt. Einerseits handelte die mögliche Geschichte in flucht nicht nur von Flucht, Wahrnehmung und Gewalt, sondern regte als Exponat zu kontrollierter Bewegung (der betrachtenden Augen) an. Andererseits übte das rotierende Material des Konkreten Texts Macht über die Spuren seiner Bedeutungsgehalte aus. Daß den Rezipienten nicht mehr die Semantiken in flucht, sondern primär die Zeichen auf dem Zylinder und die rotationsbedingten Effekte
17 Ernst, Ulrich: »Lesen als Rezeptionsakt. Textpräsentation und Textverständnis in der manieristischen Barocklyrik«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 15 (1985), H. 57/58, S. 67-94, hier S. 79, 87.
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des Objektes erreichten, kann als politisches Statement nach dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) verstanden werden. Bevor wir allerdings das diskursive Umfeld von flucht betreten, soll die Ausstellungssituation des Exponats näher untersucht werden. Die lesesäule wurde 1964 im Rahmen der Gruppenschau mobile elemente in der Berliner situationen 60 galerie neben Exponaten unterschiedlicher Medienkünstler gezeigt.18 In der Ausstellung waren Henryk Berlewi, Ludwig Gosewitz, Jürgen Graaff, Hans Haacke, Bernhard Höke, Ferdinand Kriwet, Wolfgang Ludwig und Gerhard Rühm vertreten.19 So standen Ausstellungsobjekte von jungen Künstlern wie Kriwet neben solchen bereits etablierter wie Berlewi, Exponate dezidiert engagierter Künstler wie Haacke neben den Werken von Künstlern, die sich eher mit unpolitischen Themen auseinandersetzten. Trotz der heterogenen Mischung kunsttheoretischer Positionen verband alle vertretenen Künstler sowohl die Multimedialität ihrer Projekte als auch die Auseinandersetzung mit (synästhetischen) Wahrnehmungsprinzipien. Die Ausstellung drehte sich, ihr Titel legt es nahe, um das Thema Bewegung und Mobilität der oder mittels der präsentierten Exponate.20 Insbesondere die Namen Berlewi und Ludwig stehen repräsentativ für eine boomende Kunstströmung der 1960er Jahre, infolge derer Artefakte bezeichnet wurden als »pictures that attack the eye«:21 die Optical Art. »Das wichtigste Merkmal der Optical Art liegt darin, daß ihre Wirkung auf bestimmten physiologischen Prozessen in Auge und Gehirn beruht, deren wir uns normalerweise nicht bewusst sind, weder beim alltäglichen Sehen, noch beim Betrachten andersartiger Kunstwerke.«22 Künstler, die der Op Art und Kinetischen Kunst häufig in Überschneidung zuzurechnen sind, beschäftigten sich seit den 1950er Jahren mit physiologischen Abläufen der menschlichen Wahrneh-
18 An anderer Stelle ist von einer »Ausstellung eines ›Mobilen Salons‹« die Rede. Vgl. T. Kellein: »Fröhliche Wissenschaft«. Das Archiv Sohm, S. 124. 19 SW 1996, S. 798. 20 Auf einen Katalog, der wichtige Auskunft darüber erteilen könnte, erstens welche Exponate ausgestellt wurden, zweitens wie sie hingen und platziert wurden, drittens ob die Ausstellungsstücke möglicherweise über längere oder kurze Legenden erläutert wurden etc., kann nicht zurückgegriffen werden. 21 Weinhart, Martina: »Im Auge des Betrachters. Eine kurze Geschichte der Op Art«, in: Martina Weinhart/Max Hollein (Hg.), Op Art, Köln: König 2007, S. 18-40, hier S. 18. 22 Barrett, Cyril: Op Art, Köln: DuMont Schauberg 1974, S. 10.
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mung.23 Obwohl Op Art auch aktionskünstlerisch in Erscheinung trat,24 lag der Schwerpunkt dieser Kunstbewegung auf dem Experimentieren mit geometrischen Formen und optischen Effekten, wobei durch »Licht und Bewegung«25 Immaterialität aufgewertet wurde und Betrachter in und an Installationen beteiligt werden sollten. Um die »Erfahrung der Immaterialisierung, der Auflösung körperlicher Fassbarkeit«26 ging es beispielsweise in Victor Vasarelys großformatigen Installationen, die durch gezielten Farb-, Licht- und Spiegeleinsatz als taktiles Ästhetikerlebnis erfahrbar gemacht wurden. In Vasarelys Installationen sollte der Rezipient Wahrnehmungstäuschungen ausgesetzt und zumeist auch sensuell überfordert werden. Indem »sich die ästhetische Kraft des Werkes vor allem in dessen Wahrnehmung und Gefühlswelt realisiert, [findet] eine Entgrenzung zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt statt«,27 lautete die Theorie. Für die Praxis zogen Kunstschaffende der Neuen Tendenzen wissenschaftliche Ergebnisse der zeitgenössischen Wahrnehmungspsychologie, Medizin und Neurologie heran. »[R]esearch was the dominant factor«.28 Um die Funktionsweisen des menschlichen Wahrnehmungsapparats, Sinnestäuschungen oder die Wirkung von beispielsweise Irradiation oder Anamorphose zu verstehen,29 befaßten sie sich mit wissenschaftlichen Studien wie den Arbeiten des Grazer Psy-
23 Vgl. Pakesch, Peter/Magnaguagno, Guido: Bewegliche Teile. Formen des Kinetischen, Köln: König 2004. 24 Op Art, »die erstmals das Publikum als essentielle Größe miteinbezieht, ging auch schon mal auf die Straße mit Aktionen. Dabei unterschied sich deren ungebrochen menschenfreundlicher und spielerischer Gestus stark von der provokanten anarchischen Energie des Aktionismus, von Happening und Fluxus.« Curiger, Bice: »The Expanded Eye. Sehen − entgrenzt und verflüssigt«, in: Bice Curiger, The Expanded Eye. Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich, Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 11-24, hier S. 14. 25 So lautete ein zeitgenössischer Ausstellungstitel der Neuen Tendenzen. Vgl. Bonin, Wibke von: Licht und Bewegung, Baden-Baden: Staatliche Kunsthalle 1966. 26 Dinkla, Söke: »Kinetische Kunst. Ein mentales Übungsfeld für den mobilisierten Betrachter«, in: Pakesch/Magnaguagno, Bewegliche Teile (2004), S. 94-110, hier S. 98. 27 Ebd., S. 99. 28 Popper, Frank: KunstLichtKunst, Eindhoven: Stedelijk van Abbe Museum 1966, unpaginiert. 29 Vgl. Türr, Karin: Op Art. Stil, Ornament oder Experiment?, Berlin: Mann 1986.
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chologen Benussi, der 1912 Versuchsreihen über Scheinbewegungen durchführte, die ab den 1950er Jahren weiterentwickelt wurden. »Muster von Kreisen auf rotierenden Scheiben«, fand Benussi heraus, »erzeugen die optische Täuschung von sich bewegenden Kegeln und damit die Illusion eines dreidimensionalen Gebildes in Bewegung. Bewegung in Verbindung mit Tiefenwahrnehmung (Stereo-Erscheinungen) führt zu einem kinetischen Tiefeneffekt oder zum ›stereokinetischen Effekt‹, wie C.L. Musatti aus Padua, ein Schüler von Benussi, die stereokinetischen Raumbilder und Scheinkörper in Bewegung nannte.«30
Obwohl Op-Künstler für ihre Arbeiten wissenschaftliche Abhandlungen zu Rate zogen, richteten sie sich weder an ein explizit akademisches Fachpublikum, noch war ihr Erkenntnisinteresse mit einem naturwissenschaftlichen gleichzusetzen. Es ging ihnen nicht um die Präsentation von wissenschaftlich fundierten Antworten, sondern darum, weitere Fragen im Kunstrezipienten aufzuwerfen. Ließ sich der Rezipient »durch die am Werk gemachte irritierende Erfahrung zu einer solchen gedanklichen Erörterung anregen, so w[u]rden ihm zugleich bestimmte allgemeine Eigenschaften der Wahrnehmung, etwa ihr hypothetischer Charakter, aber auch ganz konkrete, elementare Mechanismen der visuellen Organisation bewusst.«31 Durch das Betrachten sollte der Betrachter in anderen Worten verstehen, wie er betrachtet. Es ist nicht belegt, ob Konrad Bayer sich zwecks der Überarbeitung seines Exponats mit wahrnehmungsphysiologischen Fragen auseinandergesetzt hat. In der Reihe der vertretenen Künstler sticht indes Ferdinand Kriwet als derjenige hervor, dessen Werk sowohl an Bayers lesesäule als auch an die Stuttgarter Gruppe anschlußfähig ist. Kriwet beteiligte sich 1963 an einer Veranstaltung der Gruppe, zudem kann seine »visuell wahrnehmbare Literatur«32 kunsttheoretisch
30 Weibel, Peter: »Kinetic Art und Cyber Art. Vom virtuellen Volumen zum virtuellen Environment«, in: Pakesch/Magnaguagno, Bewegliche Teile (2004), S. 150-158, hier S. 153. 31 Zschocke, Nina: Der irritierte Blick. Kunstrezeption und Aufmerksamkeit, München: Fink 2006, S. 142. 32 »Bewußt spreche ich und schreibe ich nie von bloß visueller, sondern immer von visuell wahrnehmbarer Literatur, da nicht so sehr die sichtbare graphische Gestalt des Textes, sondern seine visuelle Wahrnehmung in all ihren möglichen Formen wichtig
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dem weiteren Kreis um Bense zugerechnet werden.33 Er veröffentlichte 1961 eine Serie seiner Rundscheiben, bei denen es sich um kreisförmig angeordnete Schriftzeichen auf einer weißgrundigen Blattoberfläche handelt. Konrad Bayer hatte Anfang der 1960er Jahre eine Glasplatte mit einem wortverschränkenden Text bedruckt,34 die verblüffende Ähnlichkeit mit den Rundscheiben des Düsseldorfer Künstlers hat. Kriwets Sehtexte sollten eigenen Angaben zufolge »gelesen und nicht als autonome Graphik an-gesehen werden«.35 Da Bayers lesesäule vom eingebauten Motor langsam entgegen der Leserichtung gedreht wurde, verlangte auch dieses Objekt, auch ohne Gebrauchsanleitung, nach Lektüre. Mit leserattenfaenge legte Kriwet 1965 einen poetologischen Kommentar zu seinen Sehtexten vor, der von einem starken Traditionsbewußtsein für avancierte Literaturformen zeugt.36 Daß Kriwets Werke und Bayers lesesäule nicht nur in produk-
ist«. Kriwet, Ferdinand: leserattenfaenge. Sehtextkommentare, Köln: DuMont Schauberg 1965, S. 17. 33 »Bei den Tel-Quel-Leuten (Faye, Foucault, Sollers) und der italienischen Gruppe 63 (Sanguineti) setzen 63 mit Freudentränen Esser & Harig den möglichen Index STUTTGARTER SCHULE an, ein, durch. Texte von Bense und Heißenbüttel, Döhl und Harig selbst erscheinen auf dem Arts-Festival der Poesie in Paris (29.10.[1963]), eingeleitet von Esser. Bazon Brock tut sich, Kriwet und Mon hinzu.« Esser, Manfred: »Unter aller Kritik der Kritik? Bense und die Linke in den Stuttgrader 60er Jahren«, in: Elisabeth Walther/Ludwig Harig (Hg.), muster möglicher welten. eine anthologie für max bense, Wiesbaden: Limes 1970, S. 35-40, hier S. 36. 34 Die Glasscheibe befindet sich im Privatbesitz von Georg Fritsch. 35 F. Kriwet: leserattenfaenge, S. 29. 36 Der direkte Seh- und Wahrnehmungskontakt mit dem Rezipienten sollte nicht nur zu einer Emanzipation der Umgangsformen mit Literatur führen. Schriftsprachlicher Ausdruck sollte sich Kriwet zufolge von denjenigen historischen Vorfahren emanzipieren, die sich dasselbe Programm auf ihre Fahnen geschrieben hat, nämlich den klassischen Avantgardisten. »Will man, auf material-fetischistische Demonstrationen verzichtend, die in der Schriftsprache latenten kompositorischen Möglichkeiten, nein: Wirklichkeiten heute, also nach Porfyrius, nach den Manieristen, nach Mallarmé, nach den Typogedichten und Schriftcollagen der Futuristen, nach den Plakatgedichten, optophonischen Gedichten der Dadaisten sowie den späteren Decollagen der Lettristen, heute also verwirklichen, will man die spezifischen Ausdrucksfähigkeiten der Schriftsprache in der neuen Poesie produktiv und nicht länger nur reproduktiv verwenden, so müssen deren einzelne Konstituenten erst einmal emanzipiert werden, auf
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tionsästhetischer Hinsicht Parallelen, sondern auch poetologische Übereinstimmungen aufweisen, zeigt sich anhand von drei Aspekten. Kriwet verfolgte mit seinen Rundscheiben erstens das Ziel, neue Umgangspraktiken mit Literatur zu befördern. Die u.a. in der Berliner Galerie präsentierten Exponate sollten Folgendes demonstrieren: »nicht das Gelesene, sondern das Lesen selbst wird komponiert; mithin wird die Wahrnehmung zum wesentlichen Parameter und mit ihr der Wahrnehmende, der Betrachter und Leser.«37 Kriwet produzierte seine Objekte zweitens in kleinen Serien. Zu zehn numerierten und teils betitelten Rundscheiben bietet seine Poetik Kommentare und Erläuterungen.38 Serielles Produzieren sowie Rezipieren einer zusammenhängenden Serie sind auch für die Deutung von Bayers flucht und der lesesäule relevant, was im folgenden Unterkapitel erläutert wird. Drittens räumte Kriwet in seinen poetologischen Reflexionen assoziationsbasiertem Wahrnehmen auf seiten des Betrachters einen hohen Stellenwert ein. Seine Texte seien »keine Finalformen, wenngleich sie, je nach Maßgabe der intendierten Lesevorgänge, Streckenformen sein können«.39 Mit Rekurs auf sprachphysiologische und psychologische Prämissen hob Kriwet die Bedeutung von assoziativen Prozessen bei der Lektüre hervor. Lesen wurde eine unkalkulierbare Freiheit eingeräumt, indem dem Leser die Empfehlung ausgesprochen wurde: »zu beginnen und zu enden, anzufangen und aufzuhören wo und wann er will, bis er eines Tages vielleicht durch diese seine eigene Aktivität des gesamten Textes habhaft wird, immer wieder von neuem, in immer wieder neuen Aspekten.«40
daß sie selbst die Konzeptionen bestimmen, kurz, zu deren Parametern werden.« F. Kriwet: leserattenfaenge, S. 17f. 37 Ebd. 38 Rundscheibe Nr. I. WER WEN WENN EIN JAEGER (1960), Rundscheibe Nr. III. ANSCHLUESSE ZUNEHMEND EINWAERTS (1961), Rundscheibe Nr. IV. AUFGEROLLTE REISE (1961), Rundscheibe Nr. VI. TYPE IS HONEY (1962), Rundscheibe Nr. VII. ZUVERSPAETCETERAND FIGURINNENNENS WERT OLLOS (1962), Rundscheibe Nr. IX. LIRUM DARUM (1962), Rundscheibe Nr. X. SPOTSTOPS (1962), Rundscheibe Nr. XII (1963), Rundscheibe Nr. XIII. WEN LEBAL NEW (1963), Rundscheibe Nr. XIV. ZWANZIG UND VIER MOTIVE (1963). 39 F. Kriwet: leserattenfaenge, S. 19. 40 Ebd., S. 20.
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Der Unterschied zwischen Ferdinand Kriwets und Konrad Bayers Ausstellungsstücken könnte an dieser Stelle größer nicht sein. Die lesesäule ist zwar zum einen hinsichtlich ihrer Spiralform, ihrer Kinetisierung und räumlichen Dreidimensionalität, zum anderen hinsichtlich ihrer Konzipierung als interagierendes Exponat zwischen Kunstobjekt und Betrachter mit Kriwets Sehtexten und Rundscheiben zu vergleichen. Während jedoch ein Rezipient der Rundscheiben selbst aktiv werden und sie »mal schnell, mal langsam, mal links, mal rechts herum drehen« konnte,41 war die Variationsbreite im Lektürevorgang der lesesäule beschränkt. Das Exponat drehte sich in eine Richtung, stets im gleichen monotonen Rhythmus, in der vom Autor verfügten Rotation. 1964 sind Kriwets und Bayers Exponate nur zwei Beispiele aus einer hohen Dichte an ästhetischen Experimenten mit Lesegewohnheiten und Wahrnehmung, deren Theorie und Praxis sich in ein transnationales diskursives Feld einfügen. Weniger auf der Hand liegt, daß Bayers lesesäule mit jenen ästhetischen Experimenten Gemeinsames aufweist, die einige Jahre zuvor an analogen Rechenmaschinen erzielt wurden. Um dies zu erläutern, ist eine weitläufigere Begehung des kontextuellen Umfelds geboten, die uns an den Anfang der modernen Computertechnologie und Computerkunst zurückversetzt.
ANALOGRECHNER
UND
ANFÄNGE
DER
C OMPUTERKUNST
Der Beginn der 1950er Jahre läutete das Computerzeitalter ein.42 Genaugenommen wurde der Ausdruck ›Computer‹ erst im Verlauf der 1960er Jahre gebräuchlich; ihn also für die 1950er Jahre zu funktionalisieren, wäre nicht nur ahistorisch
41 Ebd., S. 30. 42 Die Periodisierung ist nicht nur technikgeschichtlich zu plausibilisieren, weil ab den 1950er Jahren eine zweite Generation von Rechenmaschinen entwickelt wurde, die statt Elektronenröhren mit Transistoren arbeiteten, und die Produktion der ersten kommerziellen Computer ein- und sich durchsetzte. Sie ist auch insofern sinnvoll, als Alan Turings Arbeiten eine Zäsur innerhalb des Diskurses über Künstliche Intelligenz markieren. Vgl. Swedin, Eric G./Ferro, David L.: Computers. The Life Story of a Technology, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2007, S. 47-63; Güntsch, Fritz-Rudolf: »Konrad Zuse und das Konzept des Universalrechners«, in: Hans Dieter Hellige (Hg.), Geschichten der Informatik. Visionen, Paradigmen, Leitmotive, Berlin: Springer 2004, S. 43-59.
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gedacht, sondern begründete eine aus heutiger Sicht klare Vorstellung davon, was die Maschinen alles können, wofür sie verwendet und wo eingesetzt werden. Das galt es jedoch zunächst einmal herauszufinden. Der technologische Fortschritt der frühen programmgesteuerten Großrechenanlagen wurde wesentlich durch die Finanzierung und Auftragslage seitens der Raumfahrt, des Militärs und der Industrie vorangetrieben. Die Zugriffs- bzw. Zugangsmöglichkeiten zu Großrechnern waren noch sehr begrenzt. Unter einem Verfügbarkeitsvorbehalt standen die ersten Rechenmaschinen in mehrerlei Hinsicht: In der Bundesrepublik wurden im Verlauf der 1950er und frühen 60er Jahre nur wenige Institutionen mit Großrechenmaschinen ausgestattet. Das von Walter Knödel geleitete Recheninstitut an der Technischen Hochschule Stuttgart,43 in dem Frieder Nakes und Georg Nees’ Computergrafiken entstanden und Theo Lutz seine Stochastischen Texte schrieb, war eine rühmliche Ausnahme. Darüber hinaus setzte der Umgang mit den Maschinen Spezialwissen voraus. Daß die Pionierleistungen der ersten Computerkunst, die Hand in Hand mit der rasanten Weiterentwicklung rechenmaschineller Technologie entstand, nicht von Künstlern, sondern Technikern und Ingenieuren erbracht wurden, ist daher wenig verwunderlich. Obwohl Computer nicht zu ästhetischen Zwecken bestimmt waren, wurde mit ihnen bereits in dieser Frühphase Kunst geschaffen, die mal bewußt aus Versuchsreihen, mal als Nebenprodukt eines fehlgeschlagenen Programmierauftrags hervorging. Die ersten ästhetischen Experimente mit oder an Rechenmaschinen waren somit selbst zweifache Experimente, weil sie Versuche mit dem Potential der Maschine waren, die wiederum experimentelle Ergebnisse zeitigten. Analoggrafiken prägten maßgeblich die Ansicht der ersten Ausstellungen computergenerierter Kunst. Als Computergrafik kann man die »algorithmische Bearbeitung von Daten« bezeichnen, »die vor oder nach dieser Behandlung eine sichtbare bildliche Darstellung erlauben.«44 Von Computern erstellte Werke beruhen auf einem Algorithmus, der von einem Programm verarbeitet wird. Das Programm zeigt das Ergebnis des Rechenvorgangs entweder auf einem angeschlossenen Monitor an und/oder steuert verschiedenartige Peripheriegeräte wie Plotter
43 Vgl. Hoffmann, Christoph: »Eine Maschine und ihr Betrieb. Zur Gründung des Recheninstituts der Technischen Hochschule Stuttgart 1956-1964«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 118-129. 44 Nake, Frieder: »The Display as a Looking-Glass. Zu Ivan E. Sutherlands früher Vision der grafischen Datenverarbeitung«, in: Hellige, Geschichten der Informatik (2004), S. 339-365, hier S. 342 (Fußnote 8).
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oder Drucker, die das Bild gezeichnet ausgeben. In ihrer Studie Apparative Kunst (1973) erläutern mit Herbert W. Franke und Gottfried Jäger zwei der Vorbereiter der Computerkunst im deutschsprachigen Raum die unterschiedlichen Techniken, technologischen Mittel sowie soziologischen Aspekte der Computergrafik. Aus einem genuin wissenschaftlichen Grundinteresse heraus habe sie sich entwickelt, da an Rechenmaschinen anfangs Grafiken, Tabellen und Planzeichnungen entworfen wurden. Ein ästhetisches Moment habe deshalb schon bei der Programmierung der Kurvendarstellungen von Rechenergebnissen mitgespielt, weil »beispielsweise die Frage der Übersichtlichkeit [einer Grafik oder Planzeichnung, JB.] eher in den Bereich der Ästhetik als in den der Wissenschaft oder Technik« gehöre.45 Die ersten dokumentierten Computergrafiken wurden vom US-amerikanischen Mathematiker Ben F. Laposky entworfen, der einen Kathodenstrahloszillograph als Ausgabegerät an einem analogen Großrechner betrieb. Der Unterschied zwischen einem analogen und digitalen Rechner besteht darin, daß ein Analogrechner »nach dem Prinzip einer Simulation mathematischer Prozesse durch elektrische Vorgänge [arbeitet]; so können beispielsweise Zahlenwerte durch elektrische Spannungen ausgedrückt werden.«46 Ein Analogrechner kann Addition, Subtraktion oder Multiplikation durch elektrische Spannungen zum Erscheinen bringen. Entscheidend ist, »daß die Ergebnisse von Analogrechenprozessen als kontinuierliche Folgen, beispielsweise in Form von mathematischen Kurven, ausgegeben werden.«47 Oszilloskope fungieren in der Elektrotechnik als Meßgeräte, die den Zeitverlauf von elektrischen Spannungen anzeigen. Angeschlossen an einen Analogrechner können sie auf dem Monitor Formen bilden, die aus der Modulation von Elektronen und elektromagnetischen Feldern entstehen. Im Rahmen seiner Versuche mit dem Kathodenoszillographen erstellte Laposky beispielsweise hellgrün leuchtende Lissajous-Figuren, die »die Wirkung [des Elektronenstrahls] beim Aufprall der Elektronen auf die Fluoreszenzschicht des Monitors« abbildeten.48 Laposky nannte diese computergenerierten Erscheinungen, die »auf der Überlagerung von elektronischen Schwingungen
45 Franke, Herbert W./Jäger, Gottfried: Apparative Kunst. Vom Kaleidoskop zum Computer, Köln: DuMont Schauberg 1973, S. 102. 46 Ebd., S. 86. 47 Ebd. 48 Drott, Hajo: Computerbild. Wirklichkeit und Fiktion, Frankfurt a.M.: dot 1997, S. 101.
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verschiedener Zeitfunktionen, z.B. von Sinusschwingungen und Rechteckkurven« beruhen,49 Oscillons. Abbildungen 6 & 7: Ben F. Laposkys Oscillon No. 27 und No. 34 (Electronic Abstractions, 1952)
Piehler, Heike M.: Die Anfänge der Computerkunst, Frankfurt a.M.: dot-Verlag 2002, S. 438 (Abb. 26 und 27).
Während Oszilloskope eigentlich dazu dienen, den temporalen Verlauf von elektrischen Spannungssignalen zu dokumentieren, nutzte Laposky sie zur Erzeugung von optischen Momentaufnahmen. Die bewegten Leuchtlinien des Kathodenstrahls wurden als Standbilder vom Monitor abfotografiert. Der Mathematiker brachte ihre Aufzeichnungen in anderen Worten entgegen der technologischen Natur der Oszillographen zum Stillstand. 1953/54 stellte er die erste Fotoserie seiner Oscillons unter dem Titel Electronic Abstractions in einer durch mehrere US-Staaten wandernden Ausstellung, beginnend im Sanford Museum in Cherokee (Iowa), einer größeren Öffentlichkeit vor.50 49 Guminski, Karin: Kunst am Computer. Ästhetik, Bildtheorie und Praxis des Computerbildes, Berlin: Reimer 2002, S. 77. 50 Die Ausstellung war 1953 und im Folgejahr in Nebraska, Michigan, Wisconsin, Connecticut, New York, Massachusetts und Oklahoma zu sehen und wurde danach bis in die 1960er Jahre von zahlreichen Kuratoren wiederaufgenommen. Vgl. Laposky, Ben
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Im deutschsprachigen Raum führte der Österreicher Herbert W. Franke Versuche mit analogen Rechnern und Kathodenoszillographen durch. Die Hardware, mit der Franke arbeitete, entwickelte er mit dem Physiker Franz Raimann oder baute sie zum Teil selbst. 1955/56 bestand Frankes Weiterentwicklung von Laposkys Technik darin, die elektronischen Grafiken der Werkgruppe Oszillogramme nicht statisch vom Monitor abzufotografieren, sondern eine Spiegelreflexkamera selbst, eine »Contaflex, deren lichtstarkes Sucherbild die Scharfeinstellung an der lichtschwachen Oszillationsfigur ermöglichte«,51 bei den Aufnahmen vor dem 5 cm kleinen Oszillographenmonitor pendeln zu lassen. Unterschiedliche Belichtungszeiten erzielten weitere ästhetische Effekte. Franke hatte außerdem »die Möglichkeit, direkt in den Rechenprozess und damit in die Bildgestaltung einzugreifen. Er konnte zum Beispiel die von einem analogen Rechensystem generierten Kurven an einem Mischpult verändern, so dass neue Figurationen entstanden.«52 Die frühen elektronischen Grafiken und Fotoexperimente wurden 1959 in Wien als Einzelausstellung Experimentelle Ästhetik im Museum für Angewandte Kunst gezeigt.53 1962 entstanden in Erlangen weitere Serien von Analoggrafiken, die wie folgende Abbildung vom Bildschirm eines Siemens-Oszillographen fotografiert wurden.
F.: Electronic Abstractions. Ausstellungskatalog, Cherokee 1953. www.vasulka.org/ archive/Artists3/Laposky,BenF/ElectronicAbstractions.pdf vom 31.03.2014; Laposky, Ben F.: »Oscillons. Electronic Abstractions«, in: Leonardo 2 (1969), S. 345-354; Nierhoff-Wielk, Barbara: »Ex Machina. Die Begegnung von Computer und Kunst. Ein Blick zurück«, in: Wulf Herzogenrath/Barbara Nierhoff-Wielk (Hg.), Ex Machina. Frühe Computergrafik bis 1979. Die Sammlung Franke und weitere Stiftungen in der Kunsthalle Bremen. Herbert W. Franke zum 80. Geburtstag, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, S. 20-57, hier S. 25. 51 Franke, Herbert W.: Kunst und Konstruktion. Physik und Mathematik als fotografisches Experiment, München: Bruckmann 1957, S. 23. 52 Nierhoff-Wielk, Barbara: »Ex Machina. Die Begegnung von Computer und Kunst. Ein Blick zurück«, in: Herzogenrath/Nierhoff-Wielk, Ex Machina (2007), S. 27. 53 Vgl. http://www.art-meets-science.info/experimentelle-aesthetik/index.php vom 31. 03.2014.
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Abbildung 8: H. W. Frankes Elektronische Grafik (1962)
Herzogenrath/Nierhoff-Wielk: Ex Machina (2007), S. 341.
Herbert W. Frankes Elektronische Grafiken weisen mit dem soeben vorgestellten, kinetischen Skripturalobjekt lesesäule einige Parallelen auf. Es tritt zunächst die ähnliche Optik und Zeichenformation der Kunstwerke hervor. Hier Linien, dort Schrift werden in beiden Artefakten oszillierende Zeichen in rotierenden Schwingungsformen dargestellt. Dann besteht eine Verbindung in der Konfrontation von zeitlichem Verlauf vs. Stillstand, die sich in den Produktionsverfahren vollzieht und thematisch im Text verhandelt wird. Ein Vergleich der Kunstpioniere an analogen Rechenmaschinen und Konrad Bayers lesesäule/flucht birgt noch eine weitere bezugnehmende Dimension, die sich erst angesichts der medienspezifischen Schriftlichkeit und Datenstrukturiertheit von Rechenmaschinen erschließt – und dem daraus folgenden Umdenken, was ein Original ist.
O RIGINAL
ODER
R EPRO ?
Kunst mit analogen Rechenmaschinen herzustellen war nicht nur technikgeschichtlich einschneidend, da Laposky, Franke und nachfolgende Programmierer
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durch die ›Zweckentfremdung‹ der Rechenmaschinen ihren Einsatzort erweiterten und die Reflexion über maschinelle Funktionsweisen angeregt wurde. Bahnbrechend war dies auch in kunsttheoretischer Hinsicht. Daß Computerkunst, wenn auch nicht die ersten Versuche auf analogen Rechnern, auf Algorithmen basiert, hat Auswirkungen auf das ontologische Konzept des künstlerischen Originals. Originalität ist seit der Entstehung des Systems Kunst in den westlichen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts ein zentrales Kriterium, das die Anspruchshaltung gegenüber Kunst ausdrückt, sie möge innovativ, ursprünglich und authentisch sein. Originalität ist unter juristischen wie ökonomischen Gesichtspunkten eines der folgenschwersten Prädikate, ein Urteilsspruch über die Originalität eines Artefakts hat großen Einfluß auf seinen Markt- und ideellen Wert.54 Theoriegeschichtlich sind für das 20. Jahrhundert Benjamins Überlegungen zum reproduzierten Kunstwerk tonangebend, ihm zufolge büßten Kunstwerke durch ihre technische Kopierbarkeit eine dem originalen Einzelexemplar anhaftende »Aura« ein.55 An Benjamins Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist weniger die kulturpessimistische Diagnose interessant als die Einsicht in die »Befreiung von einer obsoleten Ideologie des Originalen«.56 Seit den 1970er Jahren diversifizierte sich der Originalitätsdiskurs in Theoriedebatten zur Postmoderne, der »neben der Architektur die Fotografie als Paradebeispiel für die Überwindung eines traditionellen, ›modernen‹ Selbstverständnisses von Kunst als Abfolge von originalen bzw. authentischen Werken schöpferischer Genies« diente.57 Die ideelle Aufwertung der Kopie sowie des künstlerischen Kopierens zu Lasten des Originals, die insbesondere im US-amerikanischen Ästhetikdiskurs theoretisch gestützt wurde, war von künstlerischen und
54 Vgl. Vollhardt, Friedrich: »Originalität«, in: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 768771. 55 Vgl. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I,2, hg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 471-508, hier S. 481f. 56 Wirth, Uwe: »Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung«, in: Gisela Fehrmann et al. (Hg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln: DuMont 2004, S. 18-33, hier S. 26. 57 Vgl. Häseler, Jens: »Original/Originalität«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 638-655, hier S. 638f.
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literarischen Bewegungen der 1960er Jahre wie Konzeptkunst und Appropriation Art in Gang gesetzt worden, die mit produktionästhetischen Verfahren wie Cutup und Montage arbeiteten.58 Bei dieser Infragestellung von traditionellen Vorstellungen von Originalität war auch Computerkunst mit von der Partie, was medial und technologisch bedingt ist. Denn ein Algorithmus ist eine aus einer Folge von Anweisungen bestehende Rechenvorschrift, mittels derer eine Vielzahl gleichartiger Aufgaben gelöst werden kann. »Unter einer Rechenvorschrift oder einem Algorithmus soll ein Verfahren verstanden werden, dessen Ausführung bis in die letzten Einzelheiten hinein eindeutig vorgeschrieben ist«, so der Stuttgarter Walter Knödel im Jahre 1964. »Dazu gehört insbesondere, daß die Vorschrift in einem endlichen Text niedergelegt werden kann (eine unendlich lange Vorschrift kann man nicht konstruieren).«59 Die algorithmische Basis von Rechenmaschinen musste all diejenigen, die computergenerierte Kunst entwarfen, zu einer Reflexion über die Originalität eines Werks veranlassen. Wie Frieder Nake pointiert formuliert, verfolgt nämlich ein traditioneller Kunstschaffender »die eine Zeichnung. Der Programmierer [hingegen] beschreibt das Schema aller Zeichnungen.«60 Obgleich Pioniere wie Laposky und Franke nur wenige Variationen als Einzelbilder realisierten,61 arbeiteten Computerkünstler in der Folgezeit eben nicht an einer einzelnen Originalzeichnung, sondern an Bildklassen reproduzierbarer Varianten in hoher Anzahl. Denn das Original einer Computergrafik liegt im Datensatz oder Quellcode des Programms verborgen und dieses ›unsichtbare Original‹ ist beliebig oft reproduzierbar. Die Abbildung auf einem Bildschirm stellt bereits die erste Kopie des Originaldatensatzes dar, die je nach Einstellungen des Monitors
58 Vgl. Gilbert, Annette (Hg.): Wiederaufgelegt. Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern, Bielefeld: transcript 2012; Römer, Stefan: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln: DuMont 2001. 59 Knödel, Walter: »Turing Maschinen, Schalt-Algebra und Rechenautomaten [1964]«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 142-150, hier S. 143. 60 Nake, Frieder: »Die künstliche Kunst der algorithmischen Bilder«, in: Frieder Nake, Die präzisen Vergnügen. Die frühen grafischen Blätter und neue interaktive Installationen. Ausstellungskatalog, Bremen: Kunsthalle 2004, unpaginiert. 61 Vgl. Nierhoff-Wielk, Barbara: »Ex Machina. Die Begegnung von Computer und Kunst. Ein Blick zurück«, in: Herzogenrath/Nierhoff-Wielk, Ex Machina (2007), S. 23.
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Abweichungen vom Original aufweisen und (ästhetisch) manipuliert werden kann. Die ersten Analoggrafiken waren Erscheinungen auf dem Bildschirm, die, wenn sie unabhängig von diesem Medium ausgestellt werden sollten, entweder vom Monitor abfotografiert oder gefilmt werden mussten. Computergrafiken, die als Ausdruck oder Foto vorliegen, waren demnach Kopien auf zweiter Ebene. Die kopierten Originale unterlagen wiederum Variablen wie der Qualität des Papiers, der Farben, der Kontraste und der Einstellungen des Ausgabegeräts oder etwa Belichtungszeiten einer Kamera. Vereinzelt thematisierten Künstler ab etwa 1965 in ihren Arbeiten explizit den von Computerkunst angestoßenen Evaluierungsprozeß der tradierten Vorstellungen vom ›Original vs. Kopie‹, indem sie entweder originale Siebdrucke anfertigten oder die Ausdrucke der Zeichnungen signierten und somit autorschaftlich als Original beglaubigten.62 Daß Computerkunst das konventionelle Verständnis von einem Original aufweichte, während zeitgleich Textwissenschaftler wie Wilhelm Fucks antraten, um mithilfe von Rechenvorgängen und Statistik die Identifizierung eines Originals oder Plagiats festzustellen, ist ein interessanter Ungleichzeitigkeitsmoment in der Geschichte der Kybernetik: Zwei Denkweisen mit demselben mathematischen Erbe, die sich in der Frage nach Originalität ab den 1950er Jahren diametral fortschreiben lassen. Mehr noch kann die vermittels der durch Computerkunst und andere Kunstbewegungen der Zeit angeregte, medienspezifische Neubewertung der Beantwortung »Was ist das Original, was die Reproduktion?« zur weiteren Interpretation von flucht herangezogen werden. Die lesesäule ist nicht nur das Ergebnis eines Übertragungsvorgangs von Zeichen in ein anderes Medium. Der Text flucht existiert in zwei Varianten mit derselben Überschrift. Konrad Bayer hatte ihn in sich nur geringfügig unterscheidenden Fassungen an zwei Orten publiziert, zuerst 1963 im achten Heft der Zeitschrift manuskripte, die eine Fassung von flucht abdruckte, die anders eröffnet, aber streckenweise identisch ist. Ein Jahr später wurde flucht dann in der Berliner Galerie ausgestellt. Desorientierungspotential besteht bei flucht also auch in der paratextuellen Identität zweier Texte, die an zwei verschiedenen Orten vom Autor veröffentlicht wurden. Konrad Bayer unterlief mit der Doppelveröffentlichung von flucht ebenso wie Computerkünstler die Forderung nach Einmaligkeit und Authentizität des emphatischen Originalitätskonzepts. Ob das Original die erstveröffentlichte Druckversion in manuskripte oder aber der auf-
62 »Bei einigen Arbeiten wird die Autorenschaft doppelt ausgewiesen sowohl im Druck/ in der Zeichnung als auch durch die handschriftliche Signatur«. Ebd., S. 24.
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geklebte Text auf der lesesäule ist, wurde vom Autor nicht letztgültig festgesetzt. Die Frage der Originalität wurde stattdessen in der nachfolgenden Editions-, Reproduktions- und Rezeptionspraxis entschieden, da in den Gesamtausgaben der Text auf der lesesäule zum originalen bestimmt wurde, obwohl publikationschronologisch dem in manuskipte abgedruckten Text, den Rühm dann in der Werkausgabe von 1996 im Anhang anführt, die Originalität zugesprochen werden müßte.
K ONKRETER K RIEG . D ISKURSE ÜBER DIE ÄSTHETISCHE U NDARSTELLBARKEIT VON K RIEG Der Text flucht ist nicht nur Speicherort und Vermittler von Wissen, wie jedes Medium kommuniziert sich der Text selbst als Ereignis. Vor dem Hintergrund einer in Deutschland wie Österreich geführten Debatte darüber, ob und wie der Zweite Weltkrieg und der Holocaust ästhetisch dargestellt werden können, bezog vorliegendes Exponat einen festen Standpunkt. 1962 bekräftigte Adorno in einem Radiobeitrag: »Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern«.63 Sein Diktum aus dem Jahre 1951 hatte diskursmächtig den Impuls für eine Debatte gesendet,64 wie Kunst an der Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung der deutschen Schuld teilhaben sollte. Die Veröffentlichungen von flucht und der lesesäule sowie Konrad Bayers Berlinaufenthalt65 sind in der deutschen Nachkriegsgeschichte bewegte Jahre. Im Dezember 1963 begann der erste Auschwitz-Prozeß in Frankfurt. Bei diesem mehrjährigen juristischen Verfahren handelte es sich nicht nur um den »zweifellos historischpolitisch bedeutsamsten Versuch, dem verbrecherischen Geschehen im größten der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager mit Mitteln
63 Adorno, Theodor W.: »Engagement oder künstlerische Autonomie. Vortrag im Radio Bremen, 28. März 1962«, in: Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, Bd. III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 109-135, hier S. 125. 64 Adorno, Theodor W.: »Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft [1951]«, in: Adorno, Theodor W., Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften, Bd. 10,1, hg. von Rolf Tiedemann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 30. 65 1963 lebte Bayer längere Zeit in Berlin und schrieb dort zusammen mit dem befreundeten Psychiater Achim Dehne sein Berliner Protokolltagebuch die klare zeit.
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des Strafrechts beizukommen.«66 Die Frankfurter Gerichtsprozesse stellten insofern einen Wendepunkt dar, als sich im Verlauf der 1950er Jahre in weiten Teilen der westdeutschen Gesellschaft eine indifferente Haltung gegenüber einer Verfolgung und Verurteilung von NS-Tätern kultiviert hatte.67 Eine Zäsur markierten die Frankfurter Gerichtsverhandlungen auch für die kollektive Erinnerung und den Umgang mit dem Nationalsozialismus im öffentlichen Raum, da zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte explizit Publizität und Transparenz gewährleistet sein sollten. Forschungsbeiträge über die Prozesse veranschaulichen, daß sie einer inszenatorischen Strategie zur Sichtbarwerdung der Vergangenheit und Narrativierung von Erinnerungen folgten. Es wurden Schriftsteller und Philosophen eingeladen, an den Gerichtsverfahren teilzunehmen, um über die Verhandlungen zu berichten. Mirjam Wenzel untersuchte die zahlreichen »Streitschriften, Berichte, Essays, Erzählungen, Dramen und Gedichte, die die Eingeladenen in der Folge verfassten. Die Disposition ihrer (Er-) Zeugnisse gibt die strategischen Absichten wieder, die mit der Ein- und Vorladung verbunden waren: Die Texte unterstanden dem didaktischen Auftrag, das Geschehen öffentlich darzustellen.«68 In dieses Diskurspanorama – von der Ausblendung des Zweiten Weltkriegs in der breiten Bevölkerung bis zur beauftragten Einblendung der Vergangenheit durch die Darstellung von Schriftstellern, Künstlern und Philosophen – fügen sich Bayers flucht und lesesäule. Sowohl das Exponat als auch der Text gesellen sich zu Werken, die vehement zweierlei proklamierten und als Ereignis kommunizierten: einerseits die ästhetische Darstellbarkeit von Krieg und Gewalterfahrung, andererseits die Inanspruchnahme dieser Kompetenz für experimentelle Kunst und Literatur. Denn experimentellen Künsten wurde politische Aussagekraft vielerorts abgesprochen. 1961 kam beispielsweise eine große Anthologie
66 Frei, Norbert: »Der Frankfurter Auschwitz-Prozeß und die deutsche Zeitgeschichtsforschung«, in: Fritz-Bauer-Institut (Hg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung, Frankfurt/New York: Campus 1996, S. 123-138, hier S. 123. 67 Vgl. ebd., S. 124. 68 Wenzel, Mirjam: Gericht und Gedächtnis. Der deutschsprachige Holocaust-Diskurs der sechziger Jahre, Göttingen: Wallstein 2009, S. 10; vgl. Weisbrod, Bernd: »Die ›Vergangenheitsbewältigung‹ der NS-Prozesse. Gerichtskultur und Öffentlichkeit«, in: Eva Schumann (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im ›Dritten Reich‹ und in der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein 2008, S. 247-270.
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über internationale Gedichte gegen den Krieg69 auf den westdeutschen Buchmarkt, die keinen einzigen Vertreter experimenteller Literatur beinhaltet. Auch an Konrad Bayers Werk wurde immer wieder das Apolitische betont, seine Prosa, Gedichte, Dramen und Performances seien von »Gewalt, Nötigung, Mord und Totschlag, von apokalyptischen Szenarien durchzogen, vom Grauen, das wiederum mit einer jedes Pathos zerstörenden Komik einhergeht, ohne in irgendwelcher Form auf die erfahrene Geschichte, auf den Zivilisationsbruch zu referieren«.70 Wie die Analyse von flucht herausgearbeitet hat, lotet der satz- und interpunktionslose Text die narratologischen Grenzen des Erzählens einer fiktionalen Geschichte aus. Auf dem Papier wird das Geschehen nur angedeutet und die Strategie des Bewußtseinsstroms so weit getrieben, daß der Leser zum Konstrukteur einer geschichtlichen Kohärenz werden muß. flucht und lesesäule postulierten ein Vergegenwärtigen der zurückliegenden Weltkriegserfahrung auf ganz andere Art und Weise, als es beispielsweise engagierte Literatur tat. Konturierte Bilder oder zeitgenössisch gängige Darstellungsklischees über Krieg entbehrt der Text. Welche Geschichte von Krieg vermittelt wird, löst erst der Leser als Medium von flucht ein. Weder der Text noch das skripturale Exponat zielen auf die Referenz von Wirklichkeitsaussagen, sondern auf die metakognitive Leistung des Lesers. Das kinetische Exponat betrieb hierbei eine Aufmerksamkeitsschulung unter erschwerten Bedingungen. Die lesesäule lockte den Betrachter in der Berliner Galerie mit rotierendem Spiel und Spaß zur Teilnahme an der Lektüre gegen den Strich und konfrontierte ihn mit assoziativem Kriegsgeschehen. Die unbestimmte Personalität und vorherrschende Neutralität zum Erzählten spiegel-
69 Vgl. Fassmann, Kurt (Hg.): Gedichte gegen den Krieg, München: Kindler 1961. So auch in folgenden Anthologien, die an eine breitete Leserschaft adressiert waren: Bingel, Horst (Hg.): Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945, Stuttgart: DVA 1961 und Bingel, Horst (Hg.): Deutsche Prosa. Erzählungen seit 1945, Stuttgart: DVA 1963. In akademischen Kreisen wurde zeitgenössisch das politische Moment in experimentellen Texten diskutiert, wie man an Karl Krolows Poetikvorlesungen an der Universität Frankfurt [1960/61] sehen kann, in denen er unter anderem Texte von Jandl, Gomringer, Heißenbüttel, Brock und Kriwet vorstellt. Vgl. Krolow, Karl: Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik, Gütersloh: Mohn 1961. 70 Sonnleitner, Johann: »Die Literatur der Wiener Gruppe und der Zivilisationsbruch«, in: Eder/Vogel, verschiedene sätze treten auf (2008), S. 87.
›K RIEGSLINIE‹
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te die systematische Auflösung des Ich im nationalsozialistischen Massenmord wider. Der veröffentlichte Text flucht und die lesesäule weisen darüber hinaus formsprachlich und publikationspraktisch Parallelen zur kybernetischen Kunst mit analogen Rechenmaschinen auf, die traditionelle Konzepte im Kunstsystem nachhaltig verunsicherte. Die Verbindung zwischen Konrad Bayers Werk und Computerkunst wird uns in einem späteren Kapitel noch wiederbegegnen. Am Beispiel des 1964 in Berlin ausgestellten Exponats zeigt sich, daß es sich nicht nur um einen Entwurf experimenteller Skripturalkunst handelt, der den Rezipienten Literatur anders wahrnehmen und lesen ließ. Die lesesäule erprobte ein Gedankenexperiment: Was unter Krieg vor- und darstellbar ist, sollte sich nicht auf dem Trägermedium, sondern im Bewußtsein des Lesers eröffnen. Geistesbewegung und Bewegung durch Technik finden demnach in Bayers ausgestelltem Text flucht zusammen, ohne dabei geistige und technische Vorgänge gleichzusetzen, wie es Kybernetiker seit dem Zweiten Weltkrieg betrieben und Max Bense 1951 im Merkur mit Metatechnik einer Maschine ausgerufen hatte.
Das/Sich Bewußtsein. Diskurse über Mensch und Maschine in den 1960er Jahren
Was unterscheidet den Menschen von der Natur, von anderen Lebewesen oder von einer denkbaren Instanz wie Gott? Den Unterschied macht, wie die westliche Philosophie seit alters aussagt, das menschliche Bewußtsein, eben jener Ort, an dem verschiedene Wahrnehmungsinhalte der Sinne gebündelt werden, sich eine das Denken begleitende Kenntnis des eigenen geistigen Zustands vollzieht und eine die geistigen Operationen begleitende Fähigkeit zum moralischen Handeln entwickelt. Die moderne Vorstellung vom Bewußtsein in der Nachfolge des Rationalismus wurzelt fest in der cartesischen Annahme cogito ergo sum1 und Descartes’ Verdienst der Loslösung des Bewußtseins vom Gewissen. Seit Descartes gilt der Mensch als das denkende Seelenwesen, das über den Logos verfügt und aufgrund des Denkvollzugs grundsätzlich von der ›seelenlosen Maschine Tier‹ zu differenzieren ist. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg publizierte der Brite Alan Turing einen Aufsatz mit brisantem Inhalt. Hand in Hand mit der Weiterentwicklung technischer Standards und leistungsstarker Rechenmaschinen stellte der Turing-Test nämlich fest, daß keine mathematisch belegbare Differenz zwischen der Denkleistung eines Menschen und der Leistung einer Rechenmaschine besteht.2 Tu1
Vgl. Kemmerling, Andreas: Ideen des Ichs. Studien zu Descartes’ Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 82-117.
2
Vgl. Turing, Alan M.: »Computing Machinery and Intelligence [1950]«, in: Robert Epstein/Gary Roberts/Grace Beber (Hg.), Parsing the Turing Test. Philosophical and Methodological Issues in the Quest for the Thinking Computer, Dordrecht: Springer
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rings Befund, mentale Vorgänge mit maschinellen zu korrelieren, belebte die Debatte über die philosophische Zentralkategorie ›Bewußtsein‹ neu. In vorliegendem Kapitel werden zunächst verschiedene Positionen zur Bewußtseinsfrage von Wissenschaftlern in den 1960er Jahren zusammengeführt. Danach wird der Stellenwert des thematisch und motivisch präsenten Bewußtseins in Bayers Gesamtwerk hinterfragt, um schließlich an der einzigen, zu Lebzeiten des Autors veröffentlichten Monographie der stein der weisen aufzuzeigen, wie es für Bayers Poetik funktionalisiert wurde.
D IE B EWUSSTSEINSFRAGE IN K YBERNETIK UND I NFORMATIONSÄSTHETIK Helmar Frank sagt der Informationsästhetik nach, Subjektivität als wissenschaftliche Thematik wieder aufs Tapet gebracht zu haben.3 Die Bewußtseinsthematik ist auch in Moles’ behaviouristischer Informationsästhetik, die nicht weniger als eine ästhetische Wahrnehmungstheorie auf quantitativer Datenbasis bereitstellt, zentral.4 Max Bense siedelt im zweiten Band der Aesthetica die semiotische Welt
2008, S. 23-65; Turing, Alan M.: »Kann eine Maschine denken?«, in: Kursbuch 8 (1967), S. 106-138. Turing gab keine Definition vom Denken einer Maschine, sondern bildete ein Modell in Form eines Nachahmungsspiels, an dem drei Personen A, B und C beteiligt sind. Während A und B im selben Raum sind, befindet sich C in einem anderen. Alle drei ›kommunizieren‹ über Fernschreiber und C soll herausfinden, an welchem der beiden Fernschreiber A und B sitzen. Während A die Lösung der Aufgabe verhindern soll, wird C Unterstützung von B zuteil. Sollte C also richtig raten, haben C und B gewonnen; wenn C falsch rät, hat A den Sieg eingefahren. Turing argumentiert daraufhin wie folgt: Sollte man A durch eine Maschine ersetzen können, was er unter wahrscheinlichkeitstheoretischen Gesichtspunkten und auf der Grundlage einiger statistischer Ergebnisse aus empirischen Tests mit Personen in dieser Situation als theoretisch möglich vorführt, gleicht das Denkvermögen der Maschine dem eines Menschen. 3
Vgl. Frank, Helmar: Informationsästhetik, Kybernetische Ästhetik, Aesthetokybernetik. Eine Einführung, Paderborn/Berlin: IfK 1997.
4
Vgl. Frank, Helmar/Frank-Böhringer, Brigitte: »Zur geschichtlichen und systematischen Bedeutung der Informationsästhetik für die kybernetische Pädagogik«, in: Walther/Harig, muster möglicher welten (1970), S. 46-53, hier S. 46.
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der Sprachzeichen im menschlichen Bewußtsein an und erklärt es somit zu einem wichtigen Gegenstand der Informationsästhetik.5 Auch in Benses literaturtheoretischen Überlegungen spielt der Bewußtseinsbegriff eine tragende Rolle. Der Stuttgarter Philosoph führt das Gegensatzpaar einer natürlichen vs. künstlichen Poesie ein, um den Innovationsgehalt von Werken der Konkreten oder Visuellen Poeten zu erläutern. Als natürliche Poesie bezeichnet Bense solche literarischen Texte, die »ein personales poetisches Bewußtsein, wie es Hegel schon nannte, [voraussetzen]; ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., kurz, eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag«.6
Künstliche Poesie hingegen transponiere weder Welthaltiges in sprachliche Zeichen noch benötige sie den Erfahrungsschatz des bewußten Ich-Seins. Während für die traditionelle natürliche Poesie eine sprachlich verfaßte Intentionalität entscheidend sei, drücke sich künstliche Poesie in ihrem Material aus. Im Wintersemester 1955/56 eröffnete Gotthard Günther seinen Vortrag Die klassische Metaphysik und das Problem der Kybernetik, den er an der Universität Hamburg und der Technischen Hochschule in Stuttgart hielt, mit der Beobachtung, daß »[s]elbst in den Tageszeitungen und einigen auf Sensationsmache geschriebenen Büchern [die kybernetische Theorie] unter dem populären Namen der Theorie der ›mechanical brains‹ teils neuigkeitslüstern, teils mit einem gewissen Schauder diskutiert« werde.7 Die Annahmen der Kybernetik erregten seines Erachtens zu Recht Aufsehen und riefen außerhalb wie innerhalb der Wissenschaft empörte Reaktionen hervor, weil sie zentrale Vorstellungen über die Identitäts- und Seinsfrage erschütterten. Die Kritiker würden allerdings dem weitverbreiteten Mißverständnis erliegen, die Kybernetik beabsichtige, die traditionelle Trennung von Geist und Materie aufzuheben. Ganz im Gegenteil, so Günther, setzten ihre metaphysischen Prämissen die selbständige Existenz von Subjektivität und Selbstbewußtsein zunächst einmal voraus. Subjektivität sei oh-
5
M. Bense: Ästhetische Information, S. 46f.
6
Bense, Max: »Über natürliche und künstliche Poesie«, in: Bense, Theorie der Texte
7
Günther, Gotthard: Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik,
(1962), S. 143. Krefeld/Baden-Baden: Agis 1957, S. 14.
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ne den Kontrast zu einer gegenständlich transzendenten Objektwelt nicht zu denken. Diese dichotome Logik werde jedoch um eine eigenständige Komponente erweitert, nämlich die Information, die weder der Objektseite der phänomenalen Wirklichkeit noch der Subjektseite vollständig zuzurechnen sei und den Reflexionsprozeß zwischen Objekt und Subjekt produziere: »Das philosophische Problem, das uns die Kybernetik aufgibt, entsteht nun dadurch, daß erstens die klassische Isomorphie von Sein und Denken, also das absolute Identitätsprinzip, auf dem Boden der Informationstheorie hinfällig wird. Zweitens aber, daß durch die Ablösung des Kommunikationsprozesses vom Selbstbewußtsein bisher eminent metaphysische Kategorien, zumindest partiell, in die Empirie übergeführt werden und damit einem fast blasphemisch anmutenden technischen Zugriff des Menschen unterliegen.«8
Ende der 1950er und Anfang der 60er Jahre wird zwar die akademische Diskussion über eine neue Metaphysik der Technik, das Wesen der Maschine, den Wandel der menschlichen Bewußtseinsstruktur unter den Bedingungen der neuen Technik oder die Konstruktion einer Bewußtseinsanalogie in einem Mechanismus nicht ausschließlich im Umkreis der Stuttgarter und Straßburger Informationsästhetik geführt. Dennoch trugen ihre Vertreter viel zur Reanimation der Bewußtseinsdebatte bei, wie der Sammelband Bewusstsein. Zentralproblem der Wissenschaften bestätigt, der 1975 im Agis Verlag erschien. Obwohl die Publikation dieses Sammelbands außerhalb des Untersuchungszeitraums vorliegender Studie liegt, wird er einbezogen, da sich an der Kompilation von zum Teil wiederabgedruckten Aufsätzen gegensätzliche Auffassungen von renommierten Forschern aus Sicht der Logik, der Informatik, der Kybernetik, der Neurophysiologie und der Evolutionsbiologie zur Frage des (menschlichen) Bewußtseins aufzeigen lassen. Neben Benses Referat wird näher auf die Stellungnahmen von Karl Steinbuch, Professor an der TH Karlsruhe und damaliger Direktor des Instituts für Nachrichtenverarbeitung und Nachrichtenübertragung, vom Direktor am MPI für Verhaltensphysiologie Konrad Lorenz, vom Freiburger Neurologen Richard Jung, vom Münchner Neurochemiker Norbert Matussek und schließlich von Helmar Frank, Professor für kybernetische Pädagogik, eingegangen. Interessant ist der Sammelband auch deshalb, weil Max Bense Mitte der 1970er Jahre nicht mehr als Informationsästhetiker in Erscheinung trat. Sein Beitrag im erwähnten Sammelband macht deutlich, wie sich der Stuttgarter Philosoph unter-
8
Ebd., S. 28.
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dessen von der Kybernetik zur Zeichentheorie von Charles Peirce hin orientiert hat. Bense fordert in seinem Aufsatz eine semiotische Bewußtseinstheorie, »um auf ihrer Basis gewisse wichtige Grundzüge einer semiotischen Erkenntnistheorie zu entwickeln.«9 Nicht der Objektbezug, also die Intentionalität oder Urteilsfunktion des Individualbewußtseins, sollten seines Erachtens im Zentrum erkenntnistheoretischer Überlegungen stehen, sondern der Funktionscharakter des Bewußtseins. Semiotische Matrizen könnten den Zusammenhang des erkennenden Ich und der erkennbaren Umwelt genau abbilden, wie also aus dem Repertoire aller möglichen Vermittlungen ein bestimmtes Ereignis selektiert und zu einem Sinnzeichen wird.10 Bereits an früherer Stelle grenzte sich Bense eindeutig von der reduktionistischen Annahme der Bewußtseinsanalogie von Mensch und Maschine ab. Er tritt für die »Einzigartigkeit des menschlichen Geistes« ein und plädiert stattdessen für eine funktionelle Betrachtungsweise, in der der Geist am längeren Hebel der Maschine sitzt, die zwar »gewisse Fähigkeiten des Hirns nachahmt und rationale Urteile, Beweise und Kalküle aufbaut, aber prinzipiell nicht imstande ist, die Mechanik dieser Vorgänge auf Zweifel oder Entscheidungen, kurz auf Selbstbewußtsein zurückzuführen und letzteres technisch zu reproduzieren.«11
Karl Steinbuch betrachtet in seinem Beitrag die phänomenologische Frage nach dem Bewußtsein als physikalisch lösbare Herausforderung. Der Informationstechniker, der 1971 mit Automat und Mensch12 reüssierte, hält für das Bewußtsein, ob im Automaten oder Menschen, »weder materielle noch energetische Kategorien wesentlich, sondern die Kategorien der Information.«13 Nervenbahnen würden im Organismus das materielle Substrat bilden, in dem alle Informationen verarbeitet werden, und seien somit meß- und beschreibbar. Beim Informations-
9
Bense, Max: »Bewußtseinstheorie und semiotische Erkenntnistheorie«, in: HansWerner Klement (Hg.), Bewusstsein. Ein Zentralproblem der Wissenschaften, BadenBaden: Agis 1975, S. 31-36, hier S. 31.
10 Vgl. ebd., S. 35. 11 M. Bense: Descartes und die Folgen I, S. 100. 12 Vgl. Steinbuch, Karl: Automat und Mensch, Berlin: Springer 1961. 13 Steinbuch, Karl: »Bewußtsein und Kybernetik«, in: Klement, Bewusstsein (1975), S. 37-49, hier S. 38.
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fluß zwischen den von Rezeptoren empfangenen Umweltreizen und von Effektoren abgegebenen Aktions- und Reaktionsweisen könnten fünf Grundfunktionen ausgemacht werden: die »reine Wahrnehmung«, die »reine Handlung«, die »unbewußte Reaktion«, die »bewußte Reaktion« und schlußendlich die »Reflexion«.14 Auf der Basis dieses Funktionsmodells ist es Steinbuch zufolge nur eine Frage von technischem Fortschritt und gesellschaftlicher Bereitschaft, ob und daß »man Automaten die Möglichkeit gibt, durch direkte Kommunikation mit der Außenwelt ihre ›Intelligenz‹ zu verbessern«,15 damit sie auf das menschliche Bewußtseinsniveau oder sogar darüber hinaus wachsen könnten. Die im Sammelband vertretene Position des Verhaltensphysiologen Konrad Lorenz drückt dahingehend eher Skepsis aus: »Mein Wissen um das subjektive Erleben meiner Mitmenschen und meine Überzeugung, daß auch ein höheres Tier, etwa ein Hund, ein Erleben hat, sind miteinander nahe verwandt. Beide beruhen nicht auf Analogieschlüssen, wie das von Geisteswissenschaftlern sehr lange angenommen wurde.«16 Beispielgesättigt zeigt Lorenz auf, daß neurophysiologische Vorgänge zwar alles menschliche Erleben als Korrelat abbildeten und es somit meßbar machten, der Umkehrschluß aber weder in Bezug auf das menschliche Ich-Bewußtsein in Relation zu seiner Umwelt noch in Bezug auf das Verhältnis zwischen menschlichem Ich und tierischem Du funktioniere, denn »[w]as von all dem inneren Geschehen in unserem Bewußtsein aufleuchtet, hängt von ganz anderen Umständen ab, die sowohl bei einfachsten wie bei komplexesten Vorgängen obwalten können.«17 Die Stellungnahme des Neurophysiologen Richard Jung zu Mechanismen der Bewußtseinsregulation gründet hauptsächlich auf Tierversuchen. Die hirnphysiologische Definition von Bewußtsein sei »nicht nur durch den subjektiven Aspekt bestimmt, sondern [stelle] auch eine übergeordnete Selektion aktueller Verhaltensregulationen für komplexe Beziehungen zwischen höheren Organismen und Umwelt« dar.18 Jungs Ausführungen münden in psychiatrische Befunde und Beobachtungen über dissoziative Veränderungen in Träumen, über erinne-
14 Ebd., S. 42. 15 Ebd., S. 45. 16 Lorenz, Konrad: »Haben Tiere ein subjektives Erleben?«, in: Klement, Bewusstsein (1975), S. 227-242, hier S. 228. 17 Ebd., S. 230. 18 Jung, Richard: »Neurophysiologie von Bewußtsein, Schlaf und Traum«, in: Klement, Bewusstsein (1975), S. 165-218, hier S. 168.
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rungsordnende und -fixierende Abläufe sowie bewußte Gedächtnisvorgänge selbst im Schlafzustand. Der Neurochemiker Norbert Matussek beschäftigt sich mit dem Einfluß von Drogen auf das Bewußtsein. Der Forschungsstand, resümiert Matussek, werde hier längst noch nicht der Komplexität des Gegenstands gerecht: »[W]enn ich als Neurobiologe, -chemiker oder -pharmakologe am Hirngewebe arbeite, erhalte ich physikalisch-chemisch-molekularbiologische Antworten. Wenn ich dagegen mit psychiatrisch-psychologischen Untersuchungsmethoden an ein Individuum herangehe, erfahre ich die geistig-seelischen Vorgänge. Den Übergang von einem Bereich in den anderen hat man jedoch noch nicht erfaßt.«19
Der Beitrag des ehemaligen Stuttgarters Helmar Frank referiert die Anknüpfungspunkte zwischen Bewußtseinsphänomenologie und Kybernetik, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg stark binnendifferenzierte und institutionalisierte. Insbesondere die Informationsästhetik habe, Frank zufolge, nachgewiesen, daß Kunst mehr als die Vorstellung eines Individualbewußtseins benötige. Zudem zeige sich beim Lernen die Komplexität von Denkprozessen und deren Abhängigkeit von Erfahrungen. Die moderate Auffassung des Kybernetikers Frank im Jahre 1975, »der personale Bezug zum Mitmenschen [sei] nicht auf unsere Beziehung zum Automaten übertragbar: auch der größte Rechner ist für uns kein Du sondern ein Es«,20 klingt deutlich leiser als der Trommelwirbel ebenjener Parolen, die Kybernetiker in den 1950er Jahren öffentlich vertraten. Wenn Neuronen im menschlichen Gehirn Signale wie elektrische Schaltungen umsetzten, wenn sich Denkvorgänge wie nachrichtenverarbeitende Systeme oder Algorithmen verhielten, dann würde eine Maschine über kurz oder lang imstande sein, das menschliche Bewußtsein vollständig zu simulieren, die Bewußtseinsfrage dementsprechend als unbeantwortbar in den Hintergrund treten und die Definition lauten:
19 Matussek, Norbert: »Drogen und Bewußtsein«, in: Klement, Bewusstsein (1975), S. 219-226, hier S. 226. 20 Frank, Helmar: »Das Bewußtsein als ›Ding an sich‹ der Kybernetik«, in: Klement, Bewusstsein (1975), S. 51-61, hier S. 58.
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»A computer is a person or machine that is able to take in information (problems and data), perform reasonable operations on the information, and put out answers. A computer is identified by the fact that it (or he) handles information reasonably.«21
Eine Ausnahme in diesem Orchester der Kybernetik bildet John von Neumanns 1958 unter dem Titel The Computer and the Brain erschienene und 1960 ins Deutsche übersetzte Studie, die im direkten Vergleich zwischen dem »Wesen moderner Rechenmaschinen« und »dem menschlichen Nervensystem […] die Punkte, in denen die beiden Automaten einander ähnlich sind als auch die Punkte, in denen sie sich unterscheiden«,22 diskutiert. Andersartig und nicht zu vergleichen mit der modernen Rechenmaschine sei das menschliche Hirn nicht nur aufgrund seiner Größe, Geschwindigkeit und Funktion, sondern auch wegen seiner komplexeren Steuerung und Organisation als digitalem System. Anfang der 1960er Jahre kamen zahlreiche Publikationen auf den deutschen Buchmarkt, die sich mit Titeln wie So denken Maschinen23 oder Was denkt ein Elektronengehirn?24 an ein Laienpublikum richteten. Auf der einen Seite intendierten solche populärwissenschaftlichen Monographien, was im »Nachwort für den Fachmann« in Lohbergs und Lutz’ Einführung ausgesprochen wurde: nämlich »den gefährlichen mythischen Nimbus, der sich um die ›Elektronengehirne‹ gebildet hat, zu zerstören«.25 Dem provokativen Moment von reduktionistischen Prämissen, die das Innen eines Apparats und mit dem eines Subjekts gleichsetzten, sollte mit breitenwirksam verständlichen Argumenten entgegengewirkt werden. Die Studien explizierten mit verschiedenen Mitteln, wie das menschliche neuronale System »seine Daten kreuz und quer nach dem Prinzip der Assoziation [speichert], in einem keineswegs planmäßigen Netz aus Zusammenhängen und Vergleichen«.26 Seine Bau- und Funktionsweise stelle somit einen Hybridtypus zwischen einem Analogrechner und einer digitalen Rechenmaschine dar,
21 Berkeley, Edmund Callis/Wainwright, Lawrence: Computers. Their Operation and Applications, New York/London: Reinhold 1956, S. 3. 22 Neumann, John von: Die Rechenmaschine und das Gehirn, München: Oldenbourg 3
1970, S. 44.
23 Vgl. Adler, Irving: So denken Maschinen, Wiesbaden: Brockhaus 1962. 24 Vgl. Lohberg, Rolf/Lutz, Theo: Was denkt sich ein Elektronengehirn? Eine verständliche Einführung in die Arbeitsweise der Elektronenrechner, Stuttgart: Franck 1963. 25 Ebd., S. 202. 26 Ebd., S. 196.
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der auf Reize situativ reagieren könne. Insofern sei das menschliche Gehirn in seiner Gedächtnisarbeit zwar weniger bestimmbar und »unzuverlässiger als das elektronische«27, aber auch ungefähr zehntausendmal leistungsfähiger als jede gegenwärtig existierende Elektronenschaltung. Das Nervensystem eines Menschen hinke zwar der operationalen Geschwindigkeit einer Rechenmaschine hinterher, sei aber in der Lage, mehr zu speichern. Die »Gedächtniskapazität des Gehirns«, hob Adler hervor, »hat man auf 280 Trillionen Bits geschätzt. Somit ist die Gedächtniskapazität des Gehirns 280 Billionen mal so groß wie die jeder existierenden Maschine«.28 Außerdem sei das menschliche Gehirn dazu in der Lage, vielfältigere Verknüpfungen herzustellen und aus Erfahrungswerten zu lernen. Der Mensch stelle deshalb den »kybernetischen Idealfall«29 dar, an dem sich die Datenverarbeitung und Automation zu messen habe. Die populärwissenschaftlichen Sachbücher über Kybernetik, die in den 1960er Jahren erschienen, sollten Berührungsängste (im Umgang) mit Rechenmaschinen nehmen, weil den Verfassern zufolge die Automatisierung der Welt Großes in Aussicht stellte. All diesen Publikationen war nämlich die Prophetie eingeschrieben, »das komplette Bewußtsein einzelner Menschen – also Gedächtnisinhalte und Denkfähigkeit – in einem Elektronenrechner festzuhalten. Der Mensch, dessen Bewußtsein in der Maschine kopiert ist, könnte dort, gewissermaßen, unabhängig von sich selbst weiterdenken. […] Über eines ist man sich allerdings klar: nie wird unsereins wissen, ob ein Roboter jemals von den spezifisch menschlichen Zu- und Unzulänglichkeiten etwas verspüren wird.«30
Adler verlieh am Ende seiner kleinen Monographie der Hoffnung Ausdruck, die viele seiner Mitstreiter für die kybernetische Utopie mit ihm teilten. Sollten die deduktiv operierenden Fächer wie Kybernetik und Informationstheorie sowie die vorwiegend induktiven Disziplinen Neurologie und Medizin zukünftig mehr voneinander lernen, diente diese interdisziplinäre Zusammenarbeit der Auflösung eines menschheitsgeschichtlichen Rätsels. Denn der »Traum vom Homunculus«31 setzte dort an, wo aus Sicht der Kybernetiker beispielsweise Psycholo-
27 Ebd. 28 I. Adler: So denken Maschinen, S. 182. 29 R. Lohberg/T. Lutz: Was denkt sich ein Elektronengehirn?, S. 198. 30 Ebd., S. 190f. 31 Ebd., S. 199.
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gie oder Anthropologie versagten.32 Die Tage ihres wirkmächtigen Deutungsamtes seien gezählt: »Je weiter wir Rechenmaschinen entwickeln, um so besser verstehen wir sie. Je besser wir aber unsere Rechenmaschinen verstehen, um so besser verstehen wir uns selbst.«33
E RKENNTNISTHEORIE ALS S PRACHEXPERIMENT IN K ONRAD B AYERS W ERK In Konrad Bayers Werk wird auf unterschiedlichem Weg das Phänomen Bewußtsein und eine das Denken begleitende Kenntnis von den eigenen Gedanken ästhetisch verarbeitet. Sei es über die Konfrontation von Assoziations- und subjektivem Erlebnisgehalt mit einer absenten Ich-Perspektive wie in flucht, sei es über die Versuche, in der sechste sinn Qualia sprachlich zu fassen, sei es über die Reizung der rezeptiven Sinne durch die Radiobeschallung beim literarischen cabaret, immer steht der Zugang zu mentalen Vorgängen, gleichsam das Verstehen vom Verstehen zur Diskussion. In avantgardekünstlerischer Tradition testete Konrad Bayer die Wirkung von bewußtseinsverändernden Drogen auf sein literarisches Schaffen.34 Zwar scheuten vor drogeninduzierten Selbstversuchen auch die anderen Mitglieder der Wiener Gruppe nicht zurück, Bayer testete jedoch re-
32 »Es gilt als ein striktes methodisches Prinzip der kybernetischen Arbeitstechnik, daß kein ›psychologischer‹ Begriff gebraucht werden darf, solange nicht ein objektives Modell desselben in einem ›non-living-system‹ aufgewiesen werden kann. […] [D]as setzt aber umgekehrt voraus, daß ein Subjekt resp. Selbstbewußtsein angenommen wird, aus dessen Reservoir jene ›psychologischen‹ Begriffe, die man in technischen Modellen zu wiederholen beabsichtigt, abgeschöpft werden.« G. Günther: Das Bewußtsein der Maschinen, S. 17. 33 I. Adler: So denken Maschinen, S. 183. 34 Vgl. Bender, Beate: Freisetzung von Kreativität durch psychische Automatismen. Eine Untersuchung am Beispiel der surrealistischen Avantgarde der 20er Jahre, Frankfurt a.M.: Lang 1989. Eine nähere Untersuchung der Experimente der Surrealisten, ihrer Technik der écriture automatique und insbesondere André Bretons monistischer Weltauffassung könnte für die folgende Analyse von Bayers der stein der weisen gewinnbringend funktionalisiert werden.
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gelmäßig seine Körper- und Sinnesgrenzen mit verschiedenen Substanzen aus.35 Zuhauf bestimmen trance- oder traumähnliche Zustandsbeschreibungen motivisch seine Texte. Bayer beschäftigte sich des weiteren mit der Subjektivitätsphilosophie Max Stirners und Walter Serners. Innerhalb der Wiener Gruppe herrschte ein reger Austausch über Wittgenstein,36 dessen 1953 veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen in den 1950er Jahren vorwiegend im angelsächsischen Raum Bekanntheit erlangten. Das Spätwerk des »kurzfristig Mode«37 gewordenen Philosophen beeinflußte Konrad Bayer stark. Sprache scheint in Bayers Werk stets von der Praxis und von menschlichen Handlungsweisen herausgefordert. Sie erklärt nicht und dient der Verständigung, sondern beschreibt oftmals nur Vorstellungswelten, die grammatisch in eine bestimmte Ordnung gebracht werden, wie z.B. in idiot (1960): »ah, wie er denkt, denkt, dieses stinktier. er denkt das denkbare. und was ist das? das ist das was nicht ist, was unmöglich ist, weil es nicht ist, weil es denkbar ist. er macht sich seine gedanken, dieses schwein, dieses stinkende schwein. ah ich ersticke. du schwein willst mich in die fänge der wissenschaft treiben, du willst dir die physik zunutze machen, du willst sie erfinden, nur damit ich dich sehen, dich hören, zur kenntnis nehmen muss, ah, da hast du (schlägt [den mensch] wieder nieder).«38
35 »Konrad hat, der erste in meinem Bekanntenkreis, auch mit Rauschgift experimentiert, doch hat ihn das meines Wissens nicht befriedigt. Ich erinnere mich an Versuche, zu denen er mich überredete, deren Ergebnisse, eine gewisse Gelähmtheit, ›alberne Euphorie‹, Regression und ›experimentelle Oligophrenie‹, zwar Einsichten in das von uns nicht verachtete Gebiet des infantilen Protests gebracht haben; sie haben aber nie zu der gesuchten Beschleunigung geführt, wie wir sie in gewissen Phasen des Alkoholrausches und viel einprägsamer und gültiger im Zustand völliger Nüchternheit erlebt haben.« Wiener, Oswald: »Einiges über Konrad Bayer«, in: Die Zeit vom 17.02.1978, S. 40. 36 Vgl. Wiener, Oswald: »Wittgensteins Einfluß auf die ›Wiener Gruppe‹«, in: WalterBuchebner-Gesellschaft, die wiener gruppe (1987), S. 46-59; Einhaus, Ulrich: »Wir die Einzigen. Zum Verhältnis von Konrad Bayer und Oswald Wiener zur Philosophie Max Stirners«, in: Stepina, »ich habe den sechsten sinn« (2006), S. 25-28. 37 Savigny, Eike von: »Einleitung«, in: Eike von Savigny (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen, Berlin: Akademie 22011, S. 1-5, hier S. 3 38 Bayer, Konrad: »idiot«, in: Bayer, Theatertexte (1992), S. 103-111, hier S. 109.
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Das 1972 uraufgeführte Stück steht in der Tradition avantgardistischen Sprachreflexionstheaters, das psychologische Figurenführung annulliert, das sich gegen utopisches Sinnpotential sperrt und eine Orientierung auf eine Lösung des Konflikts durch eine Entwicklung (des Helden), die dem klassischen Drama eignet, in Frage stellt. Es handelt von einem Mann, einem »menschenähnliche[n] wesen«, das im Prolog »a« genannt wird. In der ersten Szene begegnet »a« in einer nicht näher beschriebenen Welt verschiedenen Gegenüber, die alphabetisch »b«, »c« und so weiter heißen; »a« will zwar mit ihnen Kontakt aufnehmen, scheitert aber immer wieder mit oder an seiner Rede. Er wird grundlos niedergeschlagen, verprügelt und getreten, verteilt daraufhin selbst Kinnhaken, feuert Revolver ab und läuft massakrierend Amok. Sobald das Subjekt seine innere Welt und Isolation verläßt, so scheint es in idiot, ist es Gewalt ausgesetzt. Diese Gewalt ist jedoch bereits in der Rede mit sich selbst verankert, denn das erste Wort des Protagonisten spricht er »(zu sich): verdammt.«39 Jegliches Sprechen, schon das Selbstgespräch (»seien sie kein träumer, herr ich; scheissdreck halts maul!«40), scheint insofern geradezu schicksalhaft verurteilt, zum Scheitern. Stattdessen tritt die Präsenz von starken Körpern als einzig durchsetzbare Herrschaft in den Vordergrund. In der zweiten Szene ergießt sich »a« in einer monologischen Haßtirade, die selbst der Verbrüderungswille des ersten Menschen, der ihm friedlich gegenübertritt und der ihn verschiedentlich dazu aufruft, sein ›wahres‹, gewaltfreies Ich zu suchen, nicht unterbrechen kann: »die kunst ist ein scheissdreck/die wissenschaft ist ein scheissdreck/die religion ist ein scheissdreck/die politik ist ein scheissdreck/der staat ist ein scheissdreck/die gemeinschaft ist ein scheissdreck/das mitleid ist ein scheissdreck […] ich bin ein idiot. idiot sein, heisst, für sich sein.«41
Bayers Diegesen sind von Figuren geradezu bevölkert, deren Rede die gemeinschaftsstiftende Funktion von Kommunikation (wenn auch nicht immer so gewaltsam wie in idiot) enthebelt, Figuren, die im buchstäblichen Sinne aneinander vorbeireden. Insbesondere in szenischen Dialogen fällt das Fehlschlagen der figuralen Verständigung ins Gewicht. Die Figuren können ihren eigenen Bewußt-
39 Ebd., S. 103. 40 Ebd., S. 110. 41 Ebd., S. 106, 108.
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seinshorizont nicht überwinden, nicht mittels oder gerade wegen Sprache. Sie sind in sich gefangen. Der/Das Andere ist unerreichbar oder sogar ausgelöscht. Gesteigert wird die Auflösung des Du im totalen Ich darüber hinaus in Werken wie karl ein karl, mit dem 1962 im fünften Heft der manuskripte ein Text erschien, in dem alle Substantive durch den Namen Karl repräsentiert werden: »der verzweifelte karl greift zum karl. aber schon hat karl karl genommen. da erscheint karl mit karl auf dem karl und wirft karl auf karl in den karl. karl kommt und findet karl. da stösst karl auf karl. karl stösst auf. […] und im karl erscheint karl.«42
Wittgenstein reflektiert in den Philosophischen Untersuchungen u.a. die Relation zwischen Namen und Benanntem und die Frage danach, ob Namen das Einfache bezeichnen.43 Bayers karl ein karl führt sprachspielerisch die Beschränktheit des Referenzverhältnisses von Wirklichkeit und Fiktion vor: Nominal durch Sprache abgebildet werden kann nur noch Karl, dem jeglicher Bezugsrahmen verlustig gegangen ist (, was seine Verzweiflung erklären könnte). Die Verben und Konjunktionen halten prozeßhaft eine Verkettung des Namens in Gang, bei der alles mit dem Signifikanten Karl identisch ist und auf nichts außerhalb von Karl Liegendes verwiesen wird. Da schließlich auch im Karl Karl »erscheint«, dient der philosophische Gegensatzbegriff zur objektiven Welt (Erscheinung) einer Potenzierung der Unzulänglichkeit von Sprache. Wittgensteins werkgenealogische Umkehrung sprachphilosophischer Annahmen, die im Tractatus noch von einer fixierten Relation zwischen Signifikant und Signifikat ausgeht und sich in Zitaten wie: »Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung. (3.203)« ausdrückt,44 in seine späte Sprachauffassung in Philosophische Untersuchungen, wonach Welt nicht durch Zeichen und Sätze abgebildet werden kann, kommt in karl ein karl zum Tragen. Alle Bewußtseinsinhalte von Karl erschöpfen sich in Karl, können der Welt aber nicht mehr vermittelt werden. Denn Karl ist zugleich ›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹.
42 Bayer, Konrad: »karl ein karl«, in: SW 1996, S. 450-452, hier S. 450, 452. 43 Zum Beispiel in § 50 c: »Was es, scheinbar, geben muß, gehört zur Sprache. Es ist in unserm Spiel ein Paradigma; etwas, womit verglichen wird.« Vgl. Lange, Ernst Michael: Ludwig Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen. Eine kommentierte Einführung, Paderborn: Schöningh 1998, S. 133-167. 44 Wittgenstein, Ludwig: »Tractatus logico-philosophicus«, in: Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 121999, S. 7-85, hier S. 11.
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Der Begrenztheit von Sprache als Repräsentationsmedium konstratiert in Bayers Werk die Inszenierung ihrer Eigenmächtigkeit und durchaus Eigenwilligkeit. Ein Prosatext wie argumentation vor der bewusstseinsschwelle (1962) hebt zugleich die Unmöglichkeit hervor, »einen Gegenstand oder Sachverhalt unabhängig von seinem sprachlichen Korrelat zu begreifen«, sowie die Fähigkeiten, die »Sprache als ordnender Faktor« hat:45 »an der der für den und an der dass trotz des von keinem eine einzig der ist ist das eines ein würde die an die und den der und das zur im der dazu die einen für jeweils oder und der sollte diesen dem zu was wäre auf die über die das jeweils in von einem oder zu hätte im dazu ein einen haben bereits gehabt und an das mit dabei allerdings dass in dieses für den waren die dann nie zu dem waren auch dass dieses den nicht und dass es eine weder war eine noch ein vom ein vom würde sich auch auf die zur ist eine dass sind den der auf vom zu aber die in das hatte unter zur dass die von der und gegen die und sogar sich zu der habe den die und wollten dass nach den andrerseits sich die über die worauf müssten sich eine ? auf den der der und der der und untereinander müssten eine aber auf die und seine die der vor jener an der des in denen eine ist werden die dieser sich mit den der die des werden für einen der in die werden von dort vor wo diese über die der in in denen und in sich mit dem der die eines die der hier sich wo ein kein ist die auch wo der mit ist die eines wäre auch für die keine denn das hat auch der den und und eben bei der denen über die und wahrscheinlich auch über den würden wäre noch eine«46
Obwohl kein grammatischer Satz entsteht, obwohl das einzige Satzzeichen eine Frage aufwirft, obwohl erzähltheoretische Unterschiede zwischen dem Anfang, einer Mitte und dem Ende eines Textes aufgehoben sind und obwohl sich schließlich kein propositionaler Gehalt ermitteln läßt, äußert sich dort die Eigendynamik der Sprache, wo trotz einer willkürlich anmutenden Zusammenstellung von Partikeln und Artikeln Sinn entsteht. Hier spricht Sprache (sich) selbst. Beispielsweise sind die Wortfolgen »dass es eine weder war eine noch ein«, »worauf müssten sich eine ?« oder »eines wäre auch für die keine« von einem Leser, der Deutsch versteht, rudimentär zu verstehen. Sinn erschließt sich hierbei sowohl über den textuellen Zusammenhang als auch über Ableitungen aus pragmatischen Kontexten, was gemeint sein könnte. Der Text demonstriert in seinem logische Aussagen negierenden, Kohärenz aufkündigenden, an dadaistischen
45 U. Janetzki: Alphabet und Welt, S. 41. 46 Bayer, Konrad: »argumentation vor der bewusstseinsschwelle«, in: SW 1996, S. 459.
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Nonsens erinnernden und sprachmelodisch stotternden Format, wie eine dem Bewußtsein vorgeschaltete Sprache an sich koordiniert, noch bevor ein Satz oder eine Argumentation zustande kommt. Schrift erweist sich als ihr Komplize, der als Abstraktion befördernder Agent eigenständig Argumente anführt. Konrad Bayers der kopf des vitus bering47 (1960) eröffnet mit einem Vorwort,48 das die folgende Geschichte des historisch verbürgten Arktisreisenden Vitus Bering umschreibt als ein »mosaik aus fakten, das sich zu einer meinung zusammenschliesst […]. so ist auch hier alles, was zu überprüfen wäre, getrost zu überprüfen, es sind sogenannte historische tatsachen. und so bleibt frei, was nicht zu überprüfen ist: berings oder irgendjemandes gedanken, zusammenhänge.«49
Der Geschichte ist mit dem »index« ein Peritext beigeordnet, der das Verhältnis von Faktizität und Fiktion ermißt, er stellt nämlich medizinische, kulturgeschichtliche wie biographische Informationen und Sekundärliteratur über beispielsweise die Person Vitus Bering, Schamanismus, Veitstanz oder Epilepsie bereit. In dem hermetischen Text wird der historische Stoff von Berings Entdeckungsreise in eine Erzählung umgeschrieben, in der sich die Figur Vitus Bering als Epileptiker auf eine schamanische Reise zur Erleuchtung begibt. Bering weiß viel, wie der Text vermerkt, laut Janetzkis plausibler Interpretation versteht er aber erst im Verlauf der Geschichte seine Visionen und traumähnlichen Zustände als Berufung zum Schamanen.50 Der Leser liest nicht nur Berings Gedanken: »gedanke/hierdurch entsteht tag und nacht//gedanke/wie breit ist dieselbe?// gedanke/also ist dort herbst«.51 Er vollzieht die Wandlung zum Schamanen in Berings Bewußtsein nach, indem der Text durch eine achronologische Textkomposition von zum Teil asyntaktischen Texteinheiten Vitus Berings Verwirrtheit
47 Vgl. Bayer, Konrad: der kopf des vitus bering, Olten/Freiburg: Walter 1965. 48 Genaugenommen macht das Buch »auf Wunsch des Autors ohne eine sie erklärende Bemerkung« (SW 1996, S. 806) mit einer historischen Fotografie auf, die einen Mann abbildet, der ein Mussolini-Denkmal stürzt. Die Dokumentationskraft von historischen Zeugnissen und Fakten wird in Bayers Text mit der Unumstößlichkeit literarischer Zeugnisse kontrastiert. 49 Bayer, Konrad: »der kopf des vitus bering«, in: SW 1996, S. 531-572, hier S. 532f. 50 Vgl. U. Janetzki: Alphabet und Welt, S. 93-110. 51 SW 1996, S. 548.
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wiedergibt. Bering kann sich zu Beginn noch an naturwissenschaftlichem Wissen orientieren, koordiniert sich in der »betrachtung allgemeiner natur« mithilfe von Rechenoperationen und beantwortet (sich) anhand einer mathematischen Schlußfolgerung, daß es: »11 uhr 28 minuten morgens […] in petersburg« ist.52 Sukzessive lösen sich jedoch Zeit, Raum und geographische Koordination auf, bis sich ein Denken in Sprache und (Grad-)Zahlen schließlich als haltlos erweist. Die Hauptfigur tritt als »sein eigener herr« in einen »urzustand aufgelösten stoffes« über.53 Kurz vor seiner rîte de passage in Immaterialität fällt Vitus Bering eine »inschrift, mit einem scharfen gegenstand aus dem lukendeckel herausgestochen«,54 auf, die er bereits zuvor entdeckt und betrachtet hatte, »ohne die inschrift in verständnis umzusetzen, da er diese mühe/JETZT/nicht auf sich nehmen will.«55 Die Inschrift auf dem Lukendeckel ruft »eine kleine schwarze Luke« in Foucaults Oberflächen-Beobachtung von Raymond Roussels Werk (1963) in Erinnerung: »Wie die Luke für den Blick, ist die Sprache dieser Zwischenraum, durch den das Sein und sein Double vereint und getrennt werden; sie ist jenem verborgenen Schatten verwandt, der die Dinge sichtbar werden läßt, indem er ihr Sein verbirgt. Sie ist stets mehr oder weniger ein Rebus.«56
Die Lösung des Bilderrätsels, d.h. die Aussage der Inschrift bleibt sowohl Vitus Bering als auch dem Leser vom kopf des vitus bering verborgen. Während Bering sich jedoch materiell auflöst, hat die Inschrift als herausstechendes, eingeritztes Zeichen Bestand – und zwar nicht nur innerhalb der erzählten Welt, sondern auch als Element von Bayers Werk. Mario Grizelj versteht dies als den Kern eines Textes, der die prozessuale Auflösung eines Figurenbewußtseins mit sprachlichen Mitteln abbildet, daß nämlich hiermit »der Prozesscharakter der
52 Ebd., S. 544. 53 Ebd., S. 557, 569. 54 Ebd., S. 557. 55 Ebd., S. 552. Vgl. hierzu Szabó, Csaba: »Zum Fallenlassen. Anmerkungen zu Konrad Bayers der kopf des vitus bering«, in: Klaus Bonn/Edit Kovácz/Csaba Szabó (Hg.), Entdeckungen. Über Jean Paul, Robert Walser, Konrad Bayer und anderes, Frankfurt a.M.: Lang 2002, S. 57-81, hier S. 69. 56 Foucault, Michel: Raymond Roussel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 139f.
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Wirklichkeitsher(aus)stellung als Werk, als vitus bering, sichtbar wird.«57 Die Sichtbarkeit und besonders rebushafte Qualität von Konrad Bayers Werk wird in der folgenden Analyse der einzigen Monographie nachgezeichnet, zu welcher der Autor Imprimatur erteilt hat. Die Bewußtseinsfrage ist in Konrad Bayers der stein der weisen gleichsam zeichen- und bildhaft ›inkorporiert‹.
»BUMSTI«.
DER STEIN DER WEISEN
Der stein der weisen, an dem Konrad Bayer von 1954 bis 1962 arbeitete, ist 1963 im Berliner Fietkau Verlag in der auf moderne und avantgardistische Literatur spezialisierten Reihe Schritte erschienen. Der Prosatext ist, wie das Inhaltsverzeichnis angibt, in neun Textabschnitte unterteilt, die als »vorwort«, »heroische geometrie«, »hermetische geografie«, »zwischenspiel«, »einiges über otti bozol«, »lapidares museum«, »topologie der sprache«, »die elektrische hierarchie« und »nachwort« überschrieben sind. Es bereitet auch bei diesem Text Schwierigkeiten wiederzugeben, worum es in den Kapiteln geht und wovon der stein der weisen handelt. An anderer Stelle wurde erläutert, daß im Text »formale und inhaltliche Analogien zu der alchimistischen Schrift Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz 1459 bestehen.«58 Über zahlreiche kompositorische Elemente verweist der stein der weisen ferner auf die Geheimwissenschaft Alchemie. Alchemisten experimentierten mit geheimnisumwobenen Substanzen und schilderten in ihren Studien chemische Wandlungsprozesse. Das Ziel alchemischer Versuche war die Erforschung des Steins der Weisen, der unterschiedliche (Heils-)Versprechen machte: beispielsweise aus jedem unedlen Metall Gold herstellen und hämmerbares Glas schmieden zu können, oder auch geistige Güter wie Erlösung und ein höheres Bewußtsein zu erlangen. Materielles und Immaterielles ist demnach dem experimentellen Wissensbestand der Alchemie in Praxis und Theorie eingegeben. Um 1900 erfuhr die Erkundung der Arkanwissenschaft Alchemie im westlichen Europa nicht allein in theosophisch-esoterischen Kreisen oder bei Adepten okkulter Phänomene eine Konjunktur, alchemistische Wissensbestände zogen
57 Grizelj, Mario: »Epilepsie und Schamanismus in Konrad Bayers ›der kopf des vitus bering‹«, in: Jahrbuch Literatur und Medizin 3 (2009), S. 89-119, hier S. 103. 58 Vgl. Janetzki, Ulrich: »Versuch, das Unsagbare zu zeigen. Konrad Bayer, der stein der weisen«, in: Sprache im technischen Zeitalter 68 (1979), H. 1, S. 330-344, hier S. 339.
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das Interesse von tiefenpsychologisch ausgerichteten Wissenschaftlern wie Carl Gustav Jung an. Zusammen mit Herbert Silberer bereitete Jung einer Hermeneutik der Alchemie die Bühne. Sie versuchten, »in grundlegenden und dokumentierten Untersuchungen die Bemühungen der Alchemisten um die Herstellung des ›Steins der Weisen‹ als innerpsychisches, sich im Unbewußten vollziehendes Geschehen zu deuten.«59 Es wäre zu weit gegriffen, die Studien des Schweizer Psychoanalytikers, insbesondere Psychologie und Alchemie, als Impuls zu Bayers stein der weisen zu erklären. Doch ein genuines Interesse an Psychologie, und zwar gerade nicht an den nach dem Zweiten Weltkrieg und in kybernetischen Kreisen etablierten behavouristischen Tendenzen, sondern tiefenpsychologischen Ausrichtungen innerhalb des Faches, ist bei dem Studienabbrecher der Psychologie Konrad Bayer nicht von der Hand zu weisen. Sigmund Freud rangiert auf der »vaterländischen liste« Bayers direkt nach »paracelsus« und »wittgenstein« an vorderster Stelle, noch vor Kafka, Kraus, Serner, Musil und anderen.60 Die vorliegende Lesart von der stein der weisen setzt an einem anderen Punkt an.61 Sie ist weniger auf textinhärente Aussagepotentiale ausgerichtet, son-
59 Maillard, Christine: »Die ›mythologische apperzipierende Wissenschaft‹. Alchemie in Theorie und Literatur (1890-1935): Das sonderbar anhaltende Fortleben einer ›unzeitgemäßen‹ Wissensform«, in: Christine Maillard/Michael Titzmann (Hg.), Literatur und Wissen(schaften) 1890-1935, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 165-191, hier S. 169. 60 Rühm, Gerhard: »vorwort«, in: SW 1996, S. 16. 61 Anhand der vorherigen Beobachtungen über den Zusammenhang von Alchemie und der um die Jahrhundertwende prominenten Psychoanalyse in Jungs Tradition ließe sich eine zweite Interpretationsofferte von der stein der weisen machen, welche die vorliegende Lesart flankieren soll: Konrad Bayers stein der weisen geht auf den tiefenpsychologischen Ansatz von Jung zurück, der die psychische Natur in der Wissenschaftspraxis des alchemistischen Verfahrens und Wandlungsprozesses in den Vordergrund rückte. Jung vertrat die Auffassung, »daß die wirkliche Wurzel der Alchemie weniger in philosophischen Anschauungen zu suchen ist als vielmehr in den Projektionserlebnissen der einzelnen Forscher. Damit drücke ich die Meinung aus, daß der Laborant während der Ausführung des chemischen Experimentes gewisse psychische Erlebnisse hatte, welche ihm aber als ein besonderes Verhalten des chemischen Prozesses erschienen. Da es sich um Projektionen handelte, war es ihm natürlich unbewußt, daß das Erlebnis mit dem Stoff an sich (das heißt wie wir denselben heute
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dern versteht die Publikation als Gesamtkomplex aus Form, Inhalt und Material. Im Folgenden soll das Sichtbare von der stein der weisen sichtbar gemacht werden: die Gestaltung des Textes als Gesamtkunstwerk Buch. Daß Konrad Bayer im verlegerischen Arbeitsprozeß am Manuskript intensiv mitwirkte, belegt ein Antwortbrief auf Änderungsvorschläge von seiten des Verlegers und zugleich Lektors Wolfgang Fietkau vom 14. Oktober 1963: »lieber herr fietkau nach langem und gewissenhaftem überlegen bin ich dafür es bei der stein der weisen als titel ohne jeden zusatz zu lassen. jeder zusatz wird entweder farblos oder ein gag. beides möchte ich vermeiden. das manuskript ist ohne änderung druckfertig. auch die hermetische geografie soll so bleiben. das ganze will ja keine aneinanderreihung möglichst gleichartiger oder mitreissender oder erfreulicher oder brillant gearbeiteter texte sein, sondern eine mögliche entwicklung zu einer auffassung andeuten (man könnte auch ›zeigen‹ sagen, aber gezeigt wird nur für den bemühten leser, für den, der einige anstrengung auf sich zu nehmen bereit ist, und für den ist der text geschrieben!). der zugang zu dieser auffassung führt durch eine summe von herausforderungen, also kann er auch stilistisch nicht popularisiert werden. die hermetische g[eografie] ist die ahnung einer gleichzeitigkeit des raumes, die koordination dieser erkenntnisdaten zu einem neuen ganzen. die abfolge ist eine bestimmte, also kann die hermetische geografie nicht klarer ja nicht einmal klar wie das lapidare museum aufscheinen, das eine sekunde vor BUMSTI liegt.«62
Der Leser sollte demzufolge über einige Herausforderungen eine Entwicklung nachvollziehen und dadurch zu einer Auffassung gelangen. Um diese Sekunde vor »BUMSTI« zu erreichen, entwirft der stein der weisen als Buchobjekt, so meine These, einen Weg zum Bewußtseinsdiskurs, indem der Text die Grundzüge verschiedener Bewußtseinserklärungen und -begriffe konturiert. Wie der am Anfang dieses Kapitels vorgestellte Sammelband Bewußtsein führt Bayers Text
kennen) nichts zu tun hatte. Er erlebte seine Projektion als Eigenschaft des Stoffes. Was er in Wirklichkeit erlebte, war sein Unbewußtes.« (Jung, Carl Gustav: Psychologie und Alchemie, Olten/Freiburg: Walter 1972, S. 285.) Bayer könnte auf ein ebensolches Projektionserlebnis von seiten des Rezipienten gezielt haben und als erhofftes »BUMSTI« den unbewußten Erkenntnisgewinn gemeint haben. 62 ÖLA 190/W I, Blatt 47. Kastberger, Klaus: »Bumsti! Einige beste Augenblicke der österreichischen Avantgarde«, in: Eder/Vogel, verschiedene sätze treten auf (2008), S. 192-209, hier S. 195f.
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wesentliche Merkmale zusammen, die in kontroversen Erklärungsansätzen des Zentralproblems der Wissenschaften geltend gemacht wurden. der stein der weisen skizziert die Bewegung nach, die das Bewußtseinsphänomen im kontinentalphilosophischen Diskurs vollzog, und vereint in einem literarischen Entwurf die epistemische Uneinheitlichkeit von naturwissenschaftlichen Theorien, die das Bewußtsein funktional als physikalisch meß- und objektivierbaren Zustand beschreiben, und geisteswissenschaftlichen Positionen zum phänomenalen Bewußtsein, in deren Rahmen auch die Innenperspektive eines erlebenden Subjekts Platz findet, und zwar: über sein Material. der stein der weisen beginnt mit Körpern, die auftreten: »jeder dieser mehrerer körper hat ein bewußtsein./[…] jetzt ertönt einer dieser mehrerer körper mit hilfe seines bewußtsein reflexiv./[…] alle diese mehreren echten körper und alle diese mehreren metaphysischen bewußtsein./[…] die bewußtsein der körper heinzi, wolfi und brunhilde heißen ich und sind sehr verschieden.«63
Im »vorwort« werden somit erstens problemgeschichtlich auf den Leib-SeeleDualismus rekurriert, zweitens der Subjektbezug bzw. das reflexive Wissen um die inneren Zustände angeführt, drittens Metaphysik und zuletzt auch Intentionalität ins Spiel gebracht als Bewußtsein, das sich auf Dinge außerhalb des Ich bezieht. Im darauffolgenden Kapitel werden die Körper raumzeitlich in einem geometrischen Koordinatenystem vermessen: »der körper tritt auf und zeigt eigenschaften./die oberfläche ist die grenze des körpers./der körper steckt im raum. […]/der körper steckt in der weile.«64 Sätze, die mathematisches Wissen zum Ausdruck bringen, treten auf diese Weise neben Sätze, die philosophische Grundannahmen über das Bewußtsein wiedergeben, denen zufolge der Körper entsteht und, wie es heißt: »da« ist. In hermetische geografie werden assoziativ aus der Innensicht eines IchErzählers, dessen Existenz erst nach drei eng bedruckten Seiten Text preisgegeben wird, Beschreibungen von Ländern, Städten und ihrer Kultur gegeben, wodurch sich der naturwissenschaftlichen Deskription von Raum das subjektive Erleben des Raums hinzufügt. In den Kapiteln »einiges über otti bozol« und »topologie der sprache« wird das Verhältnis des Bewußtseins zur Sprache thematisiert und damit auf sprachphilosophische Auffassungen über den Zugang zu mentalen
63 Bayer, Konrad: der stein der weisen, Berlin: Fietkau 1963, S. 7. 64 Ebd., S. 9.
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Zuständen referiert, wenn es heißt: »es gibt nichts gemeinsames. nur die sprache schafft gemeinsamkeiten.«65 Oder: »*) jedes bewußtsein hat viele grammatische personen, mit denen es sich ansprechen kann, wenn es keine lust hat sich beim namen zu nennen.«66 Historisch folgerichtig wird im Anschluß daran der Einzug von physikalischen Erklärungsmodellen und der Einfluß von Technik im Bewußtseinsdiskurs verhandelt. Die Wahrnehmung der Farbe Blau wird als eine »farbempfindung durch die wellenlänge 0,00044-0,00049 mm verursacht«67 beschrieben, und der homodiegetische Erzähler konstatiert daraufhin: »meine elektrischen sinne, meine elektrischen gedanken, die schaltbahnen, der hirnakkumulator: ein elektrischblauer funken springt über«.68 Der Text zeichnet auf diese Weise Standpunkte über einen kontroversen Begriff in der Philosophiegeschichte nach. Bayers Text enthält sich jedoch einer Positionierung zugunsten eines bestimmten Beschreibungsmodells. Die Kontroverse über das ›Bewußtsein‹ wird stattdessen zu einem materialen Blockkörper, zum stein der weisen, verschmolzen. Das 36-seitige, kleinformatige (14x16 cm) broschierte Heft wurde von Christian Chruxin grafisch designt. Ein weißer Kunstdruckumschlag ummantelt den Buchblock. Auf ihm sind ohne Interpunktionszeichen die Angaben von Autornamen, Buchtitel, Verlagsnamen, Reihentitel und -nummer in schwarzen und blauen Minuskeln untereinander in fünf Zeilen angeordnet, die einzelne Schriftzeichen durch Zeilensprünge zerlegt: konrad bayer d er stein der we isen wolfgang f ietkau verlag sc hritte sieben Dem Kartonumschlag folgt eine Titelei auf blauem Papier, welche die Ansicht des Kartonumschlags kopiert. Auffällig ist die Paginierung, die mit der Titelei beginnt und somit außer dem Kartonumschlag den gesamten Buchblock in die Seitenzählung einschließt. Er bildet ein Ganzes. So wie an der einheitlichen
65 Ebd., S. 27. 66 Ebd., S. 19. 67 Ebd., S. 27. 68 Ebd.
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Schriftart und Proportionalität von Schriftzeichen und Zahlen läßt sich Blockbildung auch an dem textuellen Aufbau veranschaulichen. Die Überschriften stehen stets auf der linken Doppelseite im oberen Seitenrand exponiert, so daß die Seiten, die Kapitelüberschriften ausweisen, außer der Seitenzahl im unteren Seitenrand viel Weißraum lassen und sich im Buch somit blanke Seiten befinden. Der Fließtext der einzelnen Kapitel setzt auf der rechten Doppelseite ein. Der Text ist in einigen Kapiteln linksbündig gesetzt, in anderen im Blocksatz, der die gesamte Textfläche umfaßt. Der Blocksatz wird in solchen Textpassagen verwendet, die Assoziationsströme und inneres Erleben erzählerisch abbilden. Zum einheitsstiftenden Bild tragen auch die Paratexte bei. Die Überschriften bauen ein intratextuelles Referenzsystem auf: Der Titel ist über den einzigen bestimmten Artikel mit »die elektrische hierarchie«, über das Attribut (lapis = Stein) mit »lapidares museum« und über den Alchemieverweis (Hermetik) mit »hermetische geografie« verbunden. Geografie paßt wiederum zur »topologie der sprache«. Das Vorwort, Zwischenspiel und Nachwort bilden nicht nur als Präpositionen eine Einheit. Es geht in »vorwort« und »zwischenspiel« tatsächlich um das Wortspiel mit einem Wort: Wort-Spiel. Die Themenkomplexe Theater, Identität und Bewußtsein werden textkompositionell so verschränkt, daß aus Sicht des oder möglicherweise eines der verschiedenen Ich-Erzähler, der sich als sprechende Instanz im Vorwort sozusagen selbst gebiert: »auftreten mehrere körper./jeder dieser mehrerer körper hat ein bewußtsein./diese mehrere bewußtsein sind unsichtbar./[…] jedes dieser bewußtsein heißt ich./[…] ich heißen die bewußtsein noch vieler anderer körper, die aber heute nicht auftreten.«,69 und im Zwischenspiel die Erschreibbarkeit eines theatrum mundi erwägt. Das Ich erzählt von einem Theaterstück »die sonne brennt«, das es zukünftig schreiben will. Das Stück handelt – in Anleihe bei Maxwells Dämonenfiktion – davon, daß in einem großen Kellerraum Platz für die gesamte Menschheit geschaffen wird. Der Raum wird mit einem Vorhang unterteilt; jedes Raumabteil über einen eigenen Eingang zugängig gemacht, um die Menschheit hälftig in jeweils einem der Zuschauerräume Platz nehmen zu lassen. »durch ein raffiniertes spiegelsystem werden die optischen konsequenzen der erdkrümmung ausgeglichen und ein anblick des vorhangs für alle gewährleistet.«70 Wenn die Menschheit sich versammelt gegenübersitzt, wird der Vorhang gezogen – und hiermit ist die Maschinenkomödie in anderen Worten vollbracht. Entscheidend ist, daß der Ich-Erzähler
69 Ebd., S. 7. 70 Ebd., S. 17.
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die schriftliche Fixierung einer solchen Welttheatervorstellung beabsichtigt. Er will das Stück »die sonne brennt« schreiben. Folgt man dem intratextuellen Leitsystem in der stein der weisen, liest man im »nachwort«: »alles kann dies und jenes heißen./alles mag auch etwas anderes heißen./der apfel zwischen den zähnen ist geschmack./der stein auf meinem schädel ist ursache einer beule./die dame vor deinen augen ist einstweilen noch ein anblick.«71
Das letzte Sprachzeichen der Geschichte drückt aus, worum es in der stein der weisen geht: um die Anblicke und die Ansichten, die im und durch den Text zum Gegenstand werden. Die verschiedenen Ansichten zum Bewußtseinsphänomen, die zur Sprache kommen, sind, anders gewendet, nicht nur ein Thema, das Konrad Bayers Literatur verhandelt, sondern sie werden zu einem Material, mit dem der Autor spielt. Der Anblick des Buches schließt mit der Rückseite des Umschlags. Dort sieht der Leser eine schriftbildliche Metamorphose: Denn im Vergleich zur Vorderseite wurden die Drucktypen der schwarzen Schriftzeichen aus der Titelei spiegelverkehrt sowie übereinander gesetzt. Während die blauen Schriftzeichen des Reihentitels »schritte sieben« im regulären, lesbaren Zeichenabstand zueinander stehen, sind die schwarzen Schriftzeichen (Autorname, Titel, Verlagsname) typographisch fehlerhaft zusammengerückt. Sie sind zu einem nur mit Mühe entzifferbaren Typoblock verschmolzen. der stein der weisen verrückt auf diese Weise zu einem ästhetischen Schrift-Komplex, der zum heldenhaften Ding und Kunstobjekt erkoren wird, indem er Text bestätigt: dieser »körper hat etwas heroisches.«72
71 Ebd., S. 31. 72 Ebd., S. 9.
Rechenkunst als literarisches Verfahren. methodischer inventionismus
Im Mai 1957 verfaßte Marc Adrian im Namen einer »diskussionsgruppe […], welche probleme der dichtung, musik und der bildenden künste erörterte«,1 eine kurzgefasste theorie des methodischen inventionismus. Dem losen Arbeitskollektiv im Umkreis des Art Club gehörten unter anderem Friedrich Achleitner, Hans Carl Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener an. Sie verständigten sich seit 1953 über ein »intellektuell vertretbares allgemein gültiges prinzip zur produktion von kunstwerken«.2 Bei den Treffen im Café Glory wurden Methoden zur Herstellung von Musik, Literatur und Kunst diskutiert, »welche die individuellen kohärenzfaktoren (k) jedes künstlers in der verschiedensten weise (v) im jeweiligen prozess sichtbar werden lassen«,3 heißt es in Adrians Manifest der inventionismus-Theorie. Transparent und planbar sollten die Methoden sein. Der Weg vom methodischen inventionismus zu Literatur- und Kunstbewegungen der 1950er und 60er Jahre wie Konzeptliteratur oder Computerkunst ist kurz. Vorliegendes Kapitel stellt die kalkulierte Regelpoetik von Marc Adrian und der Wiener Gruppe im Kontext ästhetischer Programmierung vor. Von der aleatorischen Verbindung von Ordnung und Zufall ging für viele Künstler im deutschsprachigen Raum die von Oswald Wiener wie folgt umschriebene Faszination aus, »selbst eine Maschine [zu] sein, die sich selber in neue Dimensionen weiterbaut und die Notwendigkeiten einer primitiveren Phase 1
Adrian, Marc: »kurzgefasste theorie des methodischen inventionismus [1957]«, in: Anna Artaker/Peter Weibel (Hg.), marc adrian. Ausstellungskatalog, Klagenfurt: Ritter 2007, S. 107-112, hier S. 107.
2
Ebd.
3
Ebd., S. 110.
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als Bausteine der Beliebigkeit verwertet.«4 Das lyrische Verfahren des methodischen inventionismus blieb in Konrad Bayers Gesamtœuvre eine Randerscheinung und die folgende Untersuchung seiner Grundzüge erklären, warum. Sie verhelfen darüber hinaus zu einer anderweitigen Verortung von Bayers Werk in einem kunsttheoretischen und poetologischen Kontext.
»M ECHANISIERUNG DER I MAGINATION « 5 Impulsgebend für die Erfindung des methodischen inventionismus war die Kunsttheorie des Malers und Schriftstellers Iván Contreras-Brunet, die nach der Grundfertigkeit, Kunst herzustellen, suchte. Contreras-Brunet wollte formale Regeln aufstellen, auf deren Basis jeder befähigt wäre, Gedichte zu schreiben, ja Lyriker zu werden. Seine Regelpoetik, »aus wörterbüchern willkürlich (oder nach ausgeklügelten zufallsmanipulationen?) vokabeln auszuwählen, die er nach wortarten (haupt-, zeit- und eigenschaftswörter) auflistete und dann, ergänzt durch die konventionellen füllwörter, in sätze brachte«,6 sagte sich einerseits deutlich von einem traditionellen Inspirationsprimat der Kunst los. Andererseits wohnte der Prämisse, Sprache auf das Format einer Liste zu reduzieren und aus dieser aufgelisteten Welt (eine eigengesetzliche) Kunst(-welt) zu schöpfen, vor einem historischen Hintergrund wie der bürokratischen Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus durchaus gesellschaftskritische Sprengkraft inne.7 Die Mitglieder der Wiener Gruppe folgten der theoretischen Position des chilenischen Anarchisten in der strikten Befolgung von vorab festgelegten Regularien für die Herstellung radikalpoetischer Texte. Marc Adrian ging soweit, seinem gesamten literarischen, filmischen und computergenerierten Œuvre mathematische Formalität zugrundezulegen. 1957 kursierte ein Flugblatt im Wiener Künstlermilieu, auf dem Marc Adrian »in fünf Sätzen mit 17 Unterpunkten […] eine auf mathematische Formelsprache reduzierte Definition der verschiedenen Fak-
4
Wiener, Oswald: »Einiges über Konrad Bayer«, in: Die Zeit vom 17.02.1978, S. 40.
5
Fischer, Ernst/Jäger, Georg: »Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus«, in:
6
Rühm, Gerhard: »nachwort über den ›inventionismus‹«, in: Weibel, die wiener gruppe
7
Vgl. Cotten, Ann: Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen,
Zeman, Die österreichische Literatur (1989), S. 631. (1997), S. 760-761, hier S. 760. Wien: Klever 2008.
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toren, die das Kunstwerk ausmachen und seine Wirkung beeinflussen«,8 vorlegte. Der methodische inventionismus ist ein aufs Handwerkliche fokussiertes Verfahren, bei dem alogische Wortfolgen nach arithmetischen Anordnungsprinzipien systematisiert werden, zum Beispiel in einer Fibonacci-Reihe.9 Die Arbeitsgruppe um Marc Adrian suchte in Wörterbüchern nach beliebigen Lemmata, die nach ihrer Wortart zunächst aufgelistet und dann zu Sätzen mit überraschender Wort- und Klangkombination zusammengefügt wurden. Die kombinatorischen Kunsttexte des Art Club-Kreises wurden zum Teil in Zeitschriften mit Kleinstauflagen publiziert und vor Publikum vorgetragen. Die Wiener Gruppe differenzierte zwischen einem methodischen und intuitiven inventionismus, doch sollte auch beim sogenannten intuitiven Vorgehen freies Assoziieren unterbunden werden, schließlich wollte es der inventionismus »dem verstehen, das ja meist auf einem eher primitiven assoziationsmechanismus beruht, […] so schwer wie möglich machen, er wollte die assoziationsfähigkeit aufs äusserste strapazieren und damit das bewusstsein erweitern, die vorstellungskraft steigern.«10
Konrad Bayer beteiligte sich auch am methodischen Inventionieren, es war in seinen Worten »dichtung als volkssport«11. Er erweiterte die Regelpoetik um die Zerlegung von Wörtern in Silben und Laute. Gerhard Rühm beschreibt im Vorwort zur Gesamtausgabe, daß Bayer zum Beispiel Silben aus dem Wortarsenal eines böhmischen Wörterbuchs segmentierte und die Wortneuschöpfungen metrisch und rhythmisch in Verse setzte, deren Silbenanzahl pro Vers und Strophe im voraus festgelegt war. Bayer erklärte während einer öffentlichen Lesung, daß das Textherstellungsverfahren ihm »zu einem besseren verständnis der reinen lautrelationen sowie der beziehungen der lautfarben verholfen« habe,12 es in an-
8
»Chronologie«, in: Artaker/Weibel, marc adrian (2007), S. 94.
9
Eine Fibonacci-Reihe ist eine unendliche Abfolge von Zahlen, welche die Summanden aus jeweils den beiden vorherigen Ziffern darstellen.
10 Rühm, Gerhard: »nachwort über den ›inventionismus‹ [1980]«, in: Weibel, die wiener gruppe (1997), S. 761. 11 Bayer, Konrad: »hans carl artmann und die wiener dichtergruppe«, in: Konrad Bayer, Sämtliche Werke in 2 Bänden, Bd. 1, hg. von Gerhard Rühm. Stuttgart: Klett-Cotta 1985, S. 347-355, hier S. 350. 12 SW 1996, S. 752.
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deren Worten für ihn als Sprachexperimentator erkenntnistheoretischen Wert habe. Er trug die Gedichte der neunertz specken klaster und balsader binsam vor, letztgenanntes wurde 1964 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift werkstatt aspekt publiziert: balsader binsam gunstert um die wiesel entloser das feilkriegal hatler was ganzer breiden. er rinen getiekelung – zerfaller man rinmuss. die isigung zerentfallden: rinfeil muss geigler! mer es fallser den man muss galge isung gamung entden das manfeil gehat isler und gung. der entserman es feilgal is obeler gament loser das feilkriegal hatler was gamder serein. das es galken hat obegam brander lodas bin es kriehat – um obe. was der sallo eines gunstkrieken obewiewas: – branloder ein binkrieërt – kenum wassel bransa? ein mer bin gunstkengel? – um wiebran? balsader binsam
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gunstert um die wiesel sager der mergunst lassert chel wiewer!13 In acht Strophen entsteht ein Text, der eine Syntax nur erahnen läßt und durch (variierende) Wortwiederholungen und Parallelismen abstrakte Bewegungen vollzieht. Die klangliche Dominanz (über Assonanzen auf das lange und kurze ›a‹) der freirhythmischen Verse hebt den sprech- und lautpoetischen Charakter des methodischen inventionismus hervor. Die Lexeme wurden so zergliedert, in neue Zeichengebilde gebaut und aneinandergefügt, daß sie zwar keine sinnhaltige Rede mehr darstellen, aber im pragmatischen Rahmen der Lesung verstanden werden konnten: als Lyrik. Dennoch forderten solche Texte die Definitionsmacht von Gattungspoetiken heraus: Ist das ein Gedicht? Reicht es aus, daß eine sinnlose Buchstabenfolge in eine Versstruktur gebracht wird? Welche Bedeutung hat darüber hinaus das enzyklopädische Wissen, auf dessen Grundlage der Text entstand, und welche Rolle spielt seine alphabetische Sortierung für die Neuordnung? Was passiert zudem mit der Information der Lemmata, indem ihre Zeichenträger zerschnitten wurden? Wie entscheidend ist ferner das regelhafte Herstellungsverfahren eines literarischen Textes, insbesondere eines lyrischen, für formalistische Gattungslehren? In seinem Transparenzpostulat folgte der methodische inventionismus ästhetischen Vorläufern wie Raymond Roussel, dessen 1935 posthum veröffentlichtes Comment j’ai écrit certains de mes livres seinen regelgeleiteten, kombinatorischen »procédé«14 erklärte. Roussel gab in seiner Schrift selbst an, daß er beispielsweise neue Wortverbindungen eines vorgegebenen Satzes durch Hinzufügen der Präposition ›à‹ erschaffen hat.15 Ihm sei es mit dem kombinatorischen
13 Bayer, Konrad: »balsader binsam«, in: SW 1996, S. 59. 14 Roussel, Raymond: Comment j’ai écrit certains de mes livres [1935], Paris: Gallimard 1995, S. 11. 15 »Je prenais le mot palmier et décidais de le considérer dans deux sens: le sens de gâteau et le sens d’arbre. Le considérant dans le sens de gâteau, je cherchais à le marier par le préposition à avec un autre mot susceptible lui-même d’être pris dans deux sens différents; j’obtenais ainsi (et c’était là, je le répète, un grand et long travail) un palmier (gâteau) à restauration (restaurant où l’on sert des gâteaux); ce qui me donnait d’autre part un palmier (arbre) à restauration (sens de rétablissement d’une dynastie sur un trône).« Ebd., S. 13f.
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Arrangement darum gegangen, Sprache von alltagsgebräuchlichen Implikationen zu befreien und sie zu poetisieren. Eine Erläuterung, auf welchem regulativen Konzept balsader binsam gründet, blieb Konrad Bayer den Zuschauern und der Nachwelt hingegen schuldig. Michel Foucault machte bereits auf die Doppelbödigkeit von Roussels poetologischem Transparenzgebot aufmerksam:16 eine Unsicherheit, die sich auch in Konrad Bayers seltenen Inventionen auftut. Wir kommen darauf zurück. Kunsthistorisch schreibt sich die Idee des methodischen inventionismus weniger von Contreras-Brunets Regelpoetik her, als sie sich in den permutativkombinatorischen Traditionsbestand der europäischen Moderne einreiht. Die dadaistische Lautpoesie weist Verfahrensparallelen auf, ebenso verdrehten die Surrealisten Sätze, Sinnsprüche und Redensarten, um neue alogische Ausdrucksmöglichkeiten zu erschaffen. Obwohl im Surrealismus dem »automatisme psychique« und der Assoziationskraft mehr Interesse zukam, liegt auch hier das Hauptaugenmerk auf eben den ›Kräften‹, die am (Kunst-)Werke waren. Die gleiche Vorstellung von Entfesselung und Entgrenzung, die den Surrealismus motorisierte, trieb die Wiener Gruppe beim methodischen inventionismus an, der danach fragt: Inwiefern kann Kunst kalkuliert, planbar wiederholt, inwieweit Imagination mechanisiert werden? Das im methodischen inventionismus zum Einsatz kommende Kalkül als mathematischer Zufall ist, so gesehen, ein konstitutiver Baustein der literarischen Aleatorik des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich gegen ein Verständnis von einer
16 »Der Spiegel, den Roussel im Moment des Todes mit einer unklar definierten Geste der Erhellung und der Sorgfalt seinem Werk vorhält und vor das Werk hält, ist von sonderbarer Magie: Er drängt die Hauptgestalt in den Hintergrund, wo die Linien sich verwirren, rückt den Ort der Offenbarung möglichst weit weg, holt aber, gleichsam für die extremste Kurzsichtigkeit, das heran, was dem Augenblick, in dem die Offenbarung spricht, am fernsten ist. Je näher die Offenbarung sich selber kommt, desto tiefer verstrickt sie sich in ein Geheimnis. […] Das Wie, das Roussel dem Haupt seines letzten und offenbarenden Werkes eingeschrieben hat, führt uns nicht nur in das Geheimnis seiner Sprache ein, sondern auch in das Geheimnis seines Verhältnisses zu einem solchen Geheimnis; nicht um uns damit bekannt zu machen, sondern um uns im Gegenteil ungewappnet und in vollkommener Verlegenheit zu belassen, wenn es darum geht, diese Form des Verschweigens näher zu bestimmen, die das Geheimnis in jener plötzlich aufgegebenen Zurückhaltung bewahrt hat.« Foucault, Michel: Raymond Roussel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 7-18, hier S. 8.
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genieästhetischen oder romantisch inspirierten Autorschaft richtet. Die »Zurückdrängung des Subjekts aus dem Schreibakt«17 sollte sich genau dort vollziehen, wo die Regel greift. Eine »Entmystifizierung des Autors, des Kreationsprozesses und des Werkes«18, bevor der ›Tod des Autors‹ ausgerufen wurde, findet ihren klarsten Ausdruck in Marc Adrians Gesamtwerk. Die restringierte Formalisierung, die den methodischen inventionismus auszeichnet, wurde schon in der Werkpraxis und -theorie Stéphane Mallarmés, Gertrude Steins oder in Kurt Schwitters’ MERZ verfolgt. Doch ist es die Conceptual Art und Konzeptliteratur der späten 1960er und 70er Jahre, welche die Kunstarbeit nach regulativen Vorgaben zuspitzte. Künstler wie Sol LeWitt legten einen programmatischen Unterschied zwischen dem künstlerischen Konzept und seiner Ausführung fest: »When an artist uses a conceptual form of art, it means that all of the planning and decisions are made beforehand and the execution is a prefunctory affair. The idea becomes a machine that makes the art.«19
Der ausführende Akt wurde zur mechanischen Nebensache im künstlerischen Produktionsvorgang, er wurde der kreativen Idee (Methode und Systematik) untergeordnet. Konzeptliteratur leistete diesem regelpoetischen Prinzip Folge. Dem fertigen literarischen Artefakt zog sie die gewöhnliche Aufmerksamkeit ab, indem Konzeptautoren ihre Arbeiten zusammen mit Paratexten wie Gebrauchsanweisungen,20 Anleitungen, Entwürfen, Skizzen oder Materialsammlungen publizierten, die seine Gemachtheit hervorhoben und seine Herstellung dokumentierten. Die Verwendung von Wörterbüchern und das regulative Konzeptdenken bringen den methodischen inventionismus zudem in eine Verwandtschaft mit dem französischen Künstlerkollektiv L’Ouvroir de Littérature Potentielle um
17 Fischer, Ernst/Jäger, Georg: »Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus«, in: Zeman, Die österreichische Literatur (1989), S. 631. 18 Rosen, Margit: »Programmierte Angriffe auf die Wirklichkeit. Das Computergenerierte Werk von Marc Adrian«, in: Artaker/Weibel, marc adrian (2007), S. 68-83, hier S. 69. 19 LeWitt, Sol: »Paragraphs on Conceptual Art«, in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.), conceptual art. a critical anthology, Cambridge/London: MIT Press 1999, S. 1216, hier S. 12. 20 Zum Beispiel vgl. Queneau, Raymond: »Gebrauchsanweisung«, in: Raymond Queneau, Cent mille milliards de poèmes, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1984.
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Raymond Queneau und den Mathematiker François Le Lionnais, die seit 1960 nach streng formalen Ideen arbeiten.21 Die Oulipiens experimentieren mit Literatur nach einem selbstauferlegten Formzwang, der Contrainte, der Marcel Bénabou zufolge »ein geeignetes Mittel [ist], von der Sprache zum Schreiben zu gelangen«, denn »[a]ll die Hindernisse, die man sich selbst in den Weg stellt, und all die Verbote, denen man sich unterwirft, indem man Form, Reihenfolge, Länge und Anzahl der Buchstaben, Silben und Wörter manipuliert, geben so plötzlich den Blick frei auf das, was ihr ureigenstes Verdienst ist: keine wie immer geartete Vorführung von Virtuosität, sondern Erkundung von Virtualität.«22
OuLiPo verschreibt sich bestimmten Restriktionen, um dem Sprachrepertoire in einer vorgegebenen literarischen Vorlage durch permutative Austauschverfahren oder Re-Alphabetisierung neue Ausdrucksmöglichkeiten hinzuzufügen und Sprachklischees aufzubrechen. Zunächst wird das vorgefundene Sprachmaterial einer Selektion unterzogen, indem es auf die Auflistung bestimmter Buchstaben, Wörter oder Sätze heruntergebrochen wird. Die Methode »S+n« verändert beispielsweise einen bestehenden Text dergestalt, daß alle Substantive durch diejenigen Nomen ersetzt werden, deren Lemmata in einem Wörterbuch jeweils an n-ter Stelle weiter hinten stehen.23 Permutationen kommen ebenso semantisch zustande, indem zum Beispiel das n-te Substantiv in einem deutschen Wörterbuch durch dessen französische Übersetzung vertreten wird. Beim Substitutionsverfahren »Chimère« werden in einem vorliegenden Text die Nomen durch Nomen aus einem anderen Text, die Verben durch Verben aus einem weiteren und Adjektive durch Adjektive aus einem dritten ausgetauscht.24 Die Contraintes kommen in oulipotischen Werken seit 1960 auch in Kombination zum Einsatz.
21 Vgl. Schulze, Holger: Das aleatorische Spiel. Erkundungen und Anwendungen der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München: Fink 2000, S. 210-232. 22 Bénabou, Marcel: »Regel und Formzwang (Règle du jeu et contrainte [1983])«, in: Jürgen Ritte/Hans Hartje (Hg.), OULIPO. Affensprache, Spielmaschinen und allgemeine Regelwerke, Berlin: Ed. Plasma 1996, S. 51-63, hier S. 55. 23 Vgl. Grasshoff, Richard: Der Befreite Buchstabe. Über Lettrismus, phil. Diss. FU Berlin 2000, S. 246f., http://www.diss.fu-berlin.de/2001/9/ vom 31.03.2014. 24 Vgl. Mathews, Harry: »Chimera«, in: Harry Mathews/Alastair Brotchie (Hg.), Oulipo Compendium, London: Atlas Press 2005, S. 124f.
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Oskar Pastior bezeichnete es 1994 in seinen Frankfurter Vorlesungen als »Glücksfall«25, wenn die oulipotische Restriktion in den Hintergrund der Versuchsanordnung tritt, sobald der Text sein literarisches Eigenleben beginnt; wenn ein Text hervorgebracht wird, der ohne Regeln zwar nicht hätte entstehen können, aber ohne das Wissen um sie funktioniert; wenn sich also oulipotischer Form- und Regelzwang und Material »notwendig und möglich machen«26.
Z UFALL
UND
O RDNUNG
In diesen verschiedenen Traditionslinien, die im methodischen inventionismus entweder nachwirkten oder von ihm mitvorbereitet wurden, kommt eine Variable zum Tragen, die seit den späten 1950er Jahren in der deutschsprachigen Kunst- und Literaturszene in aller Munde ist: der Zufall. Angesichts der wachsenden Relevanz von Randomisierung lag es Adorno zufolge nahe, das Zeitphänomen als »desperate Antwort auf die Ubiquität des Scheins zu deuten [...]: das Kontingente soll ins Ganze übergehen ohne das Pseudos prästabilierter Harmonie. Damit indessen wird einerseits das Kunstwerk einer blinden Gesetzmäßigkeit ausgeliefert, die von seiner totalen Determination von oben her gar nicht mehr zu unterscheiden ist, andererseits das Ganze dem Zufall überantwortet und die Dialektik von Einzelnem und Ganzem zu Schein entwertet: indem nämlich ein Ganzes gar nicht resultiert.«27
Im Kapitel über die Wissenschaftsgeschichte ästhetischer Informationen wurde schon am Rande erwähnt, daß Max Bense Henri Michaux mehrere Dosen des Halluzinogens Meskalin besorgte, dessen Ankauf und Konsum in Deutschland noch legal, im Nachbarland bereits verboten waren.28 Michaux legte 1956 seine
25 Pastior, Oskar: »Spielregel, Wildwuchs, Translation«, in: Ritte/Hartje, OULIPO (1996), S. 73-81, hier S. 76. 26 Ebd. 27 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 166. 28 »Ein ganz im Stil eines ärztlichen Rezepts gehaltener Brief Michaux’ an Bense vom 18. Juni 1955 gibt im Gegenzug eine genaue Anleitung zur Einnahme von LSD, das seit 1949 von der Baseler Sandoz AG unter dem Namen Delysid vertrieben wurde. Dem folgt unter Punkt 2) der bibliographische Hinweis auf einen Bericht des Peruaner
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Erfahrungen mit der Wirkung der synthetischen Droge auf Körper, Wahrnehmung, Bewußtsein und Kreativität im Herstellungsprozeß seiner Zeichnungen schriftlich nieder.29 Das Interesse des Stuttgarter Philosophen an Michaux’ rauschgiftinduzierten Selbstversuchen gründete in der Nähe dieser Experimente zu Abläufen kybernetischer Natur, denn es handelte sich Bense zufolge »um eine Kunstproduktion, in der random-Elemente, wie sie in der kybernetischen Technik zur Konstruktion von Maschinen verwendet werden, die annähernd die Bewußtseinsfunktion willkürlicher Entscheidung reproduzieren, vorkommen; also um random-Kunst, deren Theorie zwangsläufig einen hohen Grad von Verwicklung besitzt.«30 Die Strukturwissenschaft Kybernetik schloß den Zufall nicht etwa aus ihren Modellen aus, sondern räumte ihm als mathematisch errechenbarem Faktor beim Schreiben von Computerprogrammen einen hohen Stellenwert ein. Mathematiker bezeichnen »ein Ereignis [als] ›zufällig‹, wenn es als Ergebnis eines genügend oft wiederholten Versuches nach erkennbaren Wahrscheinlichkeitsgesetzen auftritt.«31 In der zeitgenössischen Computerkunst spielten Zufallsgeneratoren eine wesentliche Rolle, um Resultate von Rechenoperationen nicht restlos zu determinieren. Bei der Programmierung von Software wurden zwar eindeutige Vorschriften festgelegt, wie Strukturen von der Maschine angeordnet werden sollten, doch dem künstlerischen Ergebnis wurde dadurch, daß über Zufallsgeneratoren unabsehbare Ereignisse ermöglicht wurden, im Prozeß eine gewisse Unvorhersehbarkeit verliehen; sie kreierten den »sogenannten ›Pseudozufall‹. Er läßt sich durch einfache mathematische Operationen erzeugen, beispielsweise durch das Ausrechnen beliebig vieler Dezimalstellen der
Neuropsychiaters Carlos Gutiérrez-Noriega über die Wirkungen eines aus dem Kaktus Opuntia cylindrica gewonnenen, dem Meskalin verwandten Alkaloids.« Herrmann, Hans-Christian von: »Informationsästhetik«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 80. 29 Vgl. Weibel, Peter (Hg.): Die Meskalinzeichnungen von Henri Michaux (1954-1959, 1966-1969). Neue Galerie Graz am Landesmuseum Johanneum, Köln: König 1998. 30 Bense, Max: Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik, Baden-Baden: Agis 21982, S. 184. 31 Nake, Frieder: Ästhetik als Informationsverarbeitung. Grundlagen und Anwendungen der Informatik im Bereich ästhetischer Produktion und Kritik, Wien/New York: Springer 1974, S. 50.
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Zahl Pi.«32 Die Automatisierung von Zufall war im Produktionsprozeß kybernetischer Künstler wie Herbert W. Franke, Ben Laposky, Frieder Nake, Georg Nees oder Marc Adrian von gleichgroßer Bedeutung wie andere medienspezifische Gestaltungselemente, weil sie einen ›natürlichen Vorgang‹ simulieren sollte, nämlich die künstlerische Intuition.33 Der Rechenmaschine wurde dergestalt ein kreativer Spielraum eingeräumt und eine eigenständige Aktionsmöglichkeit zugestanden. Auf den Zufall setzte die zeitgenössische Intermedia Art zudem in wirkungsästhetischer Hinsicht. Weder konnten noch sollten in Fluxus oder Performance Art Reaktionen von Zuschauern, die genaue Abfolge einer Performance, die Länge von Happenings oder die Reaktion des Publikums festgelegt sein. Zufall war im Rahmen dieser Kunstbewegungen im situativen Moment einkalkuliert.
K UNST
UND
W ISSENSCHAFT
IM I DEENVERBUND
Beginnen wir in der Zukunft dieser Random-Kunstbewegung, genaugenommen im Jahre 1969. Marc Adrian reüssierte damals in der Computerkunst, weil seiner Meinung nach hier das größte medienästhetische Potential steckte, um das in Contreras-Brunets Theorie angelegte kunstpolitische Programm umsetzen zu können. Vielen Poetologien und kunstästhetischen Positionen der 1960er Jahre ist gemein, was bereits im Gründungsmanifest der Wiener Gruppe, in der sogenannten Acht-Punkte-Proklamation des poetisches Actes (1953), als Slogan ausgegeben worden war: »jeder kann dichter sein«. In den Happenings von Fluxus, Installationen von Op Art, in Computerkunst oder eben im methodischen in-
32 H. W. Franke/G. Jäger: Apparative Kunst. Vom Kaleidoskop zum Computer, S. 90, 91. 33 »Wir haben erkannt, daß Intuition jene Gabe, Fähigkeit, Technik des Künstlers ist, die es ihm erlaubt, im Rahmen einer ›inneren Notwendigkeit‹ freie Entscheidungen zu treffen. Wir haben weiter gesehen, daß Zufallsgrößen es uns erlauben, aus vorgegebenen Möglichkeiten eine bestimmte mit vorgeschriebener Wahrscheinlichkeit auszuwählen. Danach sollte es unmittelbar einleuchten, daß man zumindest in einem ersten operationalen Modell die Intuition durch eine endliche Menge von Zufallsvariablen beschreiben kann. […] Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß betont werden, daß Intuition und Zufall nicht etwa gleichgesetzt werden.« F. Nake: Ästhetik als Informationsverarbeitung, S. 53.
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ventionismus der Wiener Gruppe wurde schließlich nicht nur neu zu fassen versucht, was Kunst alles sein kann oder für Kriterien erfüllen muß, um als Kunst zu gelten, sondern auch darüber diskutiert, wer an ihr beteiligt ist. Usancen der Inklusion bzw. Exklusion und eine soziale Hermetik des sogenannten Kunstbetriebs sollten somit hinterfragt und anders gestaltet werden. Einerseits wurden in den späten 1950er Jahren deshalb in allen Künsten – wie beschrieben in der Literatur, »in der Musik (John Cage), im Tanz (Merce Cunnigham), in Theater und Performance (Allan Kaprow)« –34 neue Formen der Teilhabe des Betrachters an Kunst erkundet. Dem Rezipienten wurde in vielen dieser Kunstwerke lediglich eine Versuchsanordnung dargereicht, die er (angeleitet) selbst hervorbrachte und somit das ästhetische Werk mitbestimmte. Andererseits richteten Künstler, Musiker und Literaten das Augenmerk auf die Produktionsbedingungen der Künste, um dank allgemeingültiger Regeln potentiell jeden zum Künstler, Schriftsteller, Musiker und Tänzer zu machen. Die Kollektivarbeiter des Fluxus nahmen diesen sozialen Auftrag beispielsweise dahingehend ernst, daß sie die Schönen Künste sukzessive aushöhlen, Kunstobjekte ihres Verkaufswerts als funktionslose Luxusware entledigen und die Profession des Künstlers zerstören wollten.35 Das computerästhetische Manifest von Marc Adrian im Jahre 1969 argumentierte in anderer Richtung. Adrian rief eine politische Reform mithilfe der Kunst aus, die dank der neuen Computertechnologie stark befördert würde: »daß sich der komputer als werkzeug zur herstellung von ästhetisch relevanten objekten in steigendem maß durchzusetzen beginnt, beweist nicht nur die unrichtigkeit einer akademischen anschauung, welche zur erzeugung von kunstwerken spezielle handwerkliche fähigkeiten voraussetzt, die schwer zu erwerben sind und daher privilegien verleihen.«36
Die Etablierung von Kunst, die mit Rechenmaschinen hergestellt wird, sei »eine echte, d. h. politische«37 Revolution nicht etwa, weil Adrian die Verwendung des Computers per se als politisch oder revolutionär verstand. Die gesellschaftspoli-
34 Dinkla, Söke: »Kinetische Kunst. Ein mentales Übungsfeld für den mobilisierten Betrachter«, in: Pakesch/Magnaguagno, Bewegliche Teile (2004), S. 100. 35 Wick, Rainer: Zur Soziologie intermediärer Kunstpraxis. Happening – Fluxus – Aktionen, phil. Diss. Köln 1975, S. 96. 36 Adrian, Marc: »komputer und die demokratisierung des ästhetischen bewußtseins [1969]«, in: Artaker/Weibel, marc adrian (2007), S. 252-253, hier S. 252. 37 Ebd.
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tische Sprengkraft von Rechenmaschinen (in der Kunst) mache die unendlich vielfältige Reproduzierbarkeit (von Kunstwerken) auf Grundlage nur eines Programms aus: Eines für alle! »dieser vorgang bringt notwendigerweise die zerstörung des nimbus, der ›aura des kunstwerks‹ mit sich«, so Adrians Argumentation, »und zwar sowohl als die geniale einzelleistung handwerklicher vollkommenheit, als die das kunstwerk heute noch gesehen wird, wie auch als repräsentationsgegenstand und standardausweis für eine privilegierte schicht.«38 Die Programmierung von Kunst spiele potentiell einer »Demokratisierung« in die Hände, da mithilfe eines Computerprogramms möglichst viel Kunst zu möglichst kleinem Preis einem möglichst großen Publikum zur Verfügung gestellt werden kann. Herbert W. Franke lieferte 1957, ganz am Anfang der Geschichte der modernen Rechenmaschinen, eine dazu passende Vision. Das eidos dieses Zukunftsbilds bestand aus einem ästhetischen Schatz für die lesende Menschheit, der dank des Computers und seiner Berechnungen eines Tages geborgen werden könnte: »Alle Worte, Sätze, Absätze und auch die Dramen Shakespeares entstehen durch Kombinationen von Buchstaben. Wenn wir eine Maschine aufstellen, die nichts anderes tut, als alle möglichen Aufeinanderfolgen von Buchstaben aufzuschreiben, dann brauchen wir nur die besten herauszusuchen, und haben Literatur beliebiger Qualität maschinell erzeugt. […] Das ist prinzipiell durchaus möglich, allerdings noch nicht heute, und auch für die Zukunft bezweifle ich, daß jemand dieses Projekt finanziert. Aber denken wir doch einmal an ein Goldenes Zeitalter, in dem der Mensch nichts zu tun und Geld im Überfluß hat. Warum soll er dann nicht ein paar Dutzend Beamte ihr ganzes Leben lang Werke lesen lassen, die von einem Elektronengehirn auf Streifen gestanzt wurden? Und was käme da nicht alles zum Vorschein! Von den übelsten Kriminalreißern bis zu hebräischen Bibeltexten, von Steuererklärungen bis zu Existentialphilosophie, von den Liebesgedichten Hölderlins bis zu einer Reportage über ein Ereignis, das erst im nächsten Jahr stattfindet – und noch mehr: Alles was von Menschen einst geschrieben wurde, jetzt geschrieben wird und in Zukunft geschrieben werden wird. Ja, noch mehr: auch das, was von Menschen nie geschrieben wurde und auch nie geschrieben werden wird.«39
38 Ebd., S. 253. 39 H. W. Franke: Kunst und Konstruktion. Physik und Mathematik als fotografisches Experiment, S. 65, 66.
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Sowohl Adrians prognostizierte Demokratisierung als auch Frankes Archivierung all dessen, was der Mensch jemals geschrieben hat oder schreiben wird, vermittels der Rechenmaschine bleiben bis auf weiteres Visionen, die polarisieren. Auch das Egalitätsversprechen in Ästhetiken der 1950er und 60er Jahre erwies sich in der Praxis oftmals als fehlbar. Das zeigt sich auch – mal mehr, mal weniger gewollt – in Konrad Bayers und Max Benses Schaffen. Benses informationsästhetischem Ansatz ist mitnichten Elitedenken vorzuwerfen,40 ihrem Selbst- und Fremdbild nach vertraten die Stuttgarter eine demokratische, progressive und politisch linke Position in Kunst und Wissenschaft.41 Benses mass appeal, seine Anziehungskraft auf eine große Zuhörerschaft in Vorlesungen und bei Vorträgen läßt erahnen, was Weggefährten bestätigen: »Max Bense sprudelte in seinen Seminaren nur so von diesen neuen Ideen und ihrer Bedeutung für die Ästhetik und die Wissenschaftstheorie«, meint Rul Gunzenhäuser und schließt an: »Aber man hat immer Leute gebraucht, die das im Detail ›nachbuchstabiert‹
40 Elisabeth Walther betont in einer Radiosendung, Max Bense sei »kein Vertreter elitären Denkens [gewesen]. Er war – ganz im Gegenteil – der Meinung, dass auch das Allerschwierigste für jeden verständlich formuliert werden könne. Er zitierte oft den Kölner Jargon, in dem es heißt, ›man muß alles der Großmutter erklären können‹ und fügte hinzu, wenn er selbst etwas ›kapiert‹ habe, könne er es ›jedem Erstsemester‹ verständlich machen.« Gerhardt, Marlis: »›Modern ist, wer seiner Zeit gewachsen ist.‹ Max Bense. Porträt eines Philosophen«, SWR 2 vom 19.06.2007, Manuskript, S. 7. 41 »Weltrevolution von Links bedeutet in der Sprache dieser Intellektuellen im wahren Sinne des Wortes eine Bewegung von Marx zu Hegel zurück, eine methodische Ersetzung der Probleme des Eigentums durch die Probleme des Selbstbewußtseins, der Probleme der Macht durch Probleme der Intelligenz; die innerhalb der technischen Welt sachlich regressiven Diktaturen des Proletariats oder des Kapitals werden in ihrem Verlauf ebenso methodisch zerstört werden müssen, wie eine Diktatur der Intelligenz sich als eigentlicher Sinn der Progression enthüllt. Nicht im Sinne von Marx, wohl aber im Sinne Hegels gibt es heute eine Linke Intelligenz, deren Sinn für die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wächst und die das ›Kapital‹ nur im Namen der ›Phänomenologie‹ zu suspendieren imstande ist und die die Weltrevolution, wie die Herrschaft der Manager in aller Welt beweist, zwar vielleicht im Sinne von Marx verloren hat, aber wie die Anti-Naturalisierung des Bewußtseins in der modernen Kunst, Wissenschaft und Philosophie es bestätigt, im Sinne von Hegel faktisch zu gewinnen beginnt.« M. Bense: Descartes und die Folgen I, S. 57.
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ALS LITERARISCHES
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haben. Man mußte bei Bense sehr aufpassen; er war kein Freund der Details.«42 Benses Hang zur Ungenauigkeit ist nur ein Element in einer weit größeren Vermittlungsproblematik seiner Theorie von der technischen Existenz. Seiner theoretischen Sensibilität für Technik zum Trotz ging der Philosoph zur Maschinenwelt an sich auf Abstand. Weder erlernte er eine Programmiersprache noch die Bedienung einer Rechenmaschine. Die Forschung im hauseigenen Recheninstitut nahm Bense nur am Rande zur Kenntnis, was ihm bereits seit Ende der 1950er Jahre in regelmäßigen Abständen harsche Kritik einbrachte, auch von seiten seiner Schüler. 1959 veröffentlichte der Stuttgarter Programmierer Theo Lutz in der Zeitschrift augenblick einen Aufsatz, in dem er an die zeitgenössische scientific community appellierte, daß es »für den modernen Wissenschaftler unerläßlich [sein werde], zu wissen, wie man eine elektronische Rechenanlage programmiert und welches ihre Strukturen sind. […] Für die Benutzer einer solchen Anlage ist nicht entscheidend, was die Maschine tut; wichtig ist allein, wie man die Funktion der Maschine interpretiert.«43
Computerästhetiker wie Franke und Adrian sollten nicht nur darin recht behalten, daß etwaige Befürchtungen von einem Ende der Kunst im Zeitalter der Wissenschaft?44 (1969) unberechtigt waren, sondern auch damit, daß sich der Computer als Instrument im alltäglichen Gebrauch vieler durchsetzte. Das Wissen darum, was die Maschine ausführt, und das Wissen, wie sie es tut, spaltete ihre Benutzer jedoch früh in der Geschichte der modernen Rechenmaschine in Steuernde und Gesteuerte. Ein auf das Ergebnis fokussierter Umgang mit der ›Oberfläche‹ des Computers verbreitete sich stärker als die Kenntnis über seine Funktionsweise, insbesondere Programmierung und Datenverarbeitung, die sich somit zum (Herrschafts-)Instrument von Experten entwickelte. Diese bis heute gültige Schieflage in der Erfolgsgeschichte des Computers setzte bereits in der Geburts-
42 »Maschinensprache – Nachrichten aus der ›Galeere‹. Interview mit Elisabeth Walther, Walter Knödel und Rul Gunzenhäuser am 27. November 2003 in Stuttgart«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 138. 43 Lutz, Theo: »Stochastische Texte«, in: augenblick (1959), H. 1, S. 3-9, hier S. 3. Wiederabgedruckt in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 164-169, hier S. 165. 44 Vgl. Bihalji-Merin, Oto (Hg.): Ende der Kunst im Zeitalter der Wissenschaft?, Stuttgart: Kohlhammer 1969.
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stunde des Computerzeitalters ein, wie der Hiatus zwischen Theorie und Praxis am Beispiel von Max Bense zeigt. Auf die Fehlbarkeit mathematischer Regularität und formalisierter Konzepte wie dem methodischen inventionismus machte Konrad Bayer selbst aufmerksam. Die erwähnte Lesung der Klanggedichte der neunertz specken klaster und balsader binsam eröffnete der Autor mit einer Entschuldigung: »weil ich sie nicht enttäuschen möchte, und weil auf dieser einladung EXPERIMENTELLE dichtung versprochen wurde, will ich ihnen nun zwei gedichte anbieten, welche rein formale und lautliche funktionen haben und nach einem mathematischen prinzip durchgearbeitet sind, das ich vergessen habe.«45
Im nachgeschobenen Relativsatz scheint die parodistische Doppelbödigkeit von Bayers Umsetzung der Regelpoetik auf. Die lyrischen Texte seien zwar von mathematisch regelgeleiteter Machart, das regulative Prinzip aber sei nicht mehr verfügbar, da sich sein Urheber nicht mehr daran erinnert. Konrad Bayer stellte einer »Philosophie der Komposition und […] Systematik des Schöpferischen«46 die Qualität eines Kunstwerks entgegen, das weder anhand eines schriftlich fixierten Regelwerks wiederholbar noch rekonstruierbar ist. Sein Vorgehen stellte nicht prinzipiell die Programmierung von Artefakten in Frage, den Vorgang also, daß »einem kalkulierten Entwurf zu planende Effekte, vorhersehbare und berechenbare (menschliche) Reaktionen und Verhaltensweisen entsprechen« sollten.47 Sein methodischer inventionismus zielt vielmehr auf eine erkenntnistheoretische Haltung, die in Walter Serners Regelverständnis mitschwingt: »Jede Regel hat ihre Ausnahme, zweifellos. Also regelmäßig. Deshalb höchste Vorsicht: jede Regel ist als Ausnahme zu setzen, denn die Regel ist die Ausnahme. (Wichtige Re-
45 SW 1996, S. 752. 46 Benn, Gottfried: »Probleme der Lyrik [1951]«, in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. von Dieter Wellershoff, Bd. 1: Essays, Reden, Vorträge, Wiesbaden: Limes 21962, S. 494-532, hier S. 496. 47 Büscher, Barbara: »Vom Auftauchen des Computers in der Kunst«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 229-243, hier S. 240.
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ALS LITERARISCHES
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gel!) […] Es gibt nur relative Feststellungen von relativen Zusammenhängen. Und auch die gibt es nicht.«48
48 Serner, Walter: Letzte Lockerung. Manifest dada, München: Renner 41982, S. 32. Vgl. Lehner, Dieter: Individualanarchismus und Dadaismus. Stirnerrezeption und Dichterexistenz, Frankfurt a.M.: Lang 1988.
Modelle und Programme. Rechenmaschinen – Literatur in den 1960er Jahren
Bayers Subversion des methodischen inventionismus fällt in eine kulturhistorische Konstellation, in der sich sowohl in der Wissenschaft als auch in den Künsten das Simulieren in Modellen etablierte. Für die immense Zunahme des Modellierens war seit den 1950er Jahren die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Organismen, Maschinen und Organisationen maßgeblich mitverantwortlich. Abraham Moles zufolge war es nämlich die Kybernetik, die eine Frage, was ein beliebiger Gegenstand ist und tut, »von dem Tag an beantworten [kann], an welchem sie ein Modell bauen kann.«1 Zwischen den 1950er und 80er Jahren erstellen Kybernetiker dementsprechend eine Unzahl an Regelkreisen, Diagrammen, Tabellen oder Schemata, die komplexe Zusammenhänge visuell darstellen, prozessuale Abläufe simulieren und als Instrumente zu Analogiebildungen herangezogen werden.2 Modelle dienten zwar »kontrastierend zur Einmaligkeit des Kunstwerks als wiederholbares Mittel zur Herstellung und Verbreitung von Kunst« im gesamten 20. Jahrhundert dazu, »abstrakte Ordnungsregeln als
1
Moles, Abraham A.: »Die Kybernetik, eine Revolution in der Stille«, in: Ludwig Albert (Hg.), Kybernetik, Elektronik, Automation (= Epoche Atom und Automation, Band 7), Genf: Kister 1959, S. 8.
2
Vgl. Pias, Claus: »Der Op Art-Generator«, in: Weinhart/Hollein, Op Art (2007), S. 60-72.
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Methoden künstlerischer Produktivität fruchtbar zu machen«,3 im Kontext der Computerkunst und -literatur erfuhren sie jedoch eine neue Aufwertung. Textgenerierende Rechenmaschinen waren schließlich auf ein Denken angewiesen, das in Markovs diagrammatischen Zerlegungsmatrizen von Puškins Evgenij Onegin seinen grundlegenden Ausdruck fand. Konrad Bayer gab seinem ersten längeren Prosatext der vogel singt (1957/58) den Untertitel eine dichtungsmaschine in 571 bestandteilen. Im Schlußkapitel dieses Buchs werden die strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Bayers literarischem Dichtungsmaschinentext und der apparatetechnischen Entwicklung von ›Dichtungsmaschinen‹ zur Analyse stehen.
EINE DICHTUNGSMASCHINE IN 571 BESTANDTEILEN . L ITERARISCHE K ONSTRUKTIONSPLÄNE Dietrich Segebrecht bezeichnete Konrad Bayers der vogel singt 1966 im Literaturblatt der FAZ als »wahrhaft exemplarisches Rechenkunststück«. Ein »umfangreiche[r] und komplizierte[r] technische[r] Plan« sei vom Österreicher als Modell verwendet worden, »in ein zuvor entworfenes Gitter aus mechanisch wiederkehrenden Wortarten und Sprachelementen (die Raum, Zeit, Maß u.a. markieren) eine später dazuerfundene ›Handlung‹ einzuflechten.«4 Die Lektüre von der vogel singt5 macht schnell deutlich, was Segebrecht in seiner Rezension beschreibt: »er schlägt seine flügel über den wind. eine elektrisiermaschine erleuchtet das getriebe der landschaft. leuchtziffern steigen auf und fallen. die farne verbergen kürbisse. sie zeigen die angewandte geometrie in ihrer entfaltung.«6
3
Manchanda, Catharina: »Modelle und Prototypen. Ein Überblick«, in: Ingeborg Reichle/Steffen Siegel/Achim Spelten (Hg.), Visuelle Modelle, München: Fink 2008, S. 179-196, hier S. 179.
4
Segebrecht, Dietrich: »Sprachlose Wortwelt«, in: FAZ vom 11.10.1966 (Literaturblatt).
5
Bayer, Konrad: »der vogel singt. eine dichtungsmaschine in 571 bestandteilen«, in: SW 1996, S. 496-519.
6
Ebd., S. 496.
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Semantisch zusammenhanglose Sätze wie diese reihen sich aneinander und bilden einen mittellangen Prosatext, der keinem kohärenten Handlungsschema folgt, keine Geschichte (histoire) erzählt, sondern eine alogisch-groteske Phantasiewelt entstehen läßt. Der unsinnig anmutende Inhalt lenkt den Fokus auf die Form des Textes, dessen Kompositionscharakter stark durchscheint: Zur Herstellung von der vogel singt wurde ein vorab festgelegtes Sprach- und Strukturinventar aus Sätzen, Satzteilen, Silben und Lauten losgelöst von ihrer Bedeutung permutiert und in unterschiedliche textuelle Umgebungen gebracht. Dabei wiederholen sich die Syntagmen »die vögel singen auf des messers schneide«, »er beugt die arme«, »es regnet«, »er dreht seine hände in den gelenken« und »er bricht das eis von seinen lippen« übereinstimmend an verschiedenen Positionen im Textverlauf. Durch die Identität des ersten und letzten Satzes wird der vogel singt zyklisch eingerahmt und ist in sechs Abschnitte untergliedert, deren Überschriften Gegenüberstellungen der vier Elemente vornehmen: »erde – luft (1.-95. bestandteil)«, »erde – feuer (96.-190. bestandteil)«, »erde – wasser (191.-285. bestandteil)«, »wasser – feuer (286.-380. bestandteil)«, »feuer – luft (381.-475. bestandteil)« und »luft – wasser (476.-570. bestandteil)«. Bayers Text ist sodann von kreisläufigen Zeitangaben durchsetzt, die »es ist eins«, »es ist zwei« und so fort bis »es ist zwölf« lauten und zu guter Letzt wieder mit ein Uhr von vorne beginnen. der vogel singt schließt mit einem aus nur fünf Zeilen bestehenden Abschnitt, der nicht mit einer auf die vier Elemente rekurrierenden Überschrift titelt, sondern als der eingeklammerte »(571. bestandteil)« etikettiert ist: »die vögel singen auf des messers schneide. er bricht das eis von seinen lippen. der nebel löst sich von den fingern. er dreht die hände. er beugt die arme. er schlägt seine flügel über den wind.«7
Einige Skizzenentwürfe des in der FAZ-Kritik erwähnten technischen Plans sind erhalten. Sie sind unter Mitarbeit des in kybernetischer Praxis bewanderten Oswald Wiener entstanden und untermauern die These, daß Bayer in der vogel singt Verfahrensweisen textgenerierender Rechenmaschinen nachgeahmt hat. Sie scheinen die modellhafte Konstruktion eines Kurzprosatexts zu belegen. Bayers überlieferte Rechennotizen, Tabellen und Entwürfe machen den Anschein von
7
Ebd., S. 519.
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intensiver Vorbereitung und Komplexität, die diese Konstruktion erforderte. Sie zeigen, wie es sehr passend im fünften Satz von der vogel singt heißt, »die angewandte geometrie in ihrer entfaltung«, da für jeden diagrammatischen Entwurf »ein Denken in und auf der Fläche kennzeichnend [ist], die ganze Konstruktion operiert in der Fläche. Die dabei entstehende bildliche Struktur entfaltet ein aperspektivisches räumliches Nebeneinander, das zwar bildhaft, nicht aber abbildhaft zu verstehen ist.«8 Abbildung 9: Mathematische Reihenbildung
Kastberger, Klaus: »Konrad Bayer (1932-1964). der vogel singt«, in: Fetz/Kastberger, Der literarische Einfall (1998), S. 144.
8
Voorhoeve, Jutta: »Technische Zeichenmanöver. Verfahren der Konstruktion«, in: Jutta Voorhoeve, Welten schaffen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Konstruktion, Zürich: diaphanes 2011, S. 7-16, hier S. 15.
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Deutungen der Rechenvorgänge, die diese Tabelle abbilden, und der mathematischen Regulative, denen Bayers dichtungsmaschine Folge geleistet haben soll, legten Kastberger und Janetzki vor. Klar ist, daß die Tabelle Eigenschaftsrelationen zwischen Daten herstellt: Auf der horizontalen Zeilenachse sind dreizehn Zahlenreihen aufgeführt, auf der Vertikalen elf Reihen, die mit vier multipliziert die Zahl 528 ergeben. Dieser Zahl wird laut der Rechenmatrix 44 hinzuaddiert, was 572 ergibt. Zum Ergebnis 571 gelangt man über die Multiplikation von 11 x 13 x 4, wobei die Zahl 13 die Anzahl der Titelbuchstaben und die Zahl 4 die Anzahl der, wie rechts separat hinzugefügt, »raumquotient[en]« Erde, Feuer, Wasser und Luft in den Abschnittsüberschriften repräsentiert. Die Ableitung der in den Skizzen mehrfach auftauchenden Zahl 11 bleibt nach Meinung aller bisherigen Interpreten im Unklaren. »Auf einem weiteren Notizblatt […] scheint eine Rechenoperation auf, die auf die tatsächliche Gesamtzahl verweist. Ihr zufolge ergibt sich die 571 aus der Multiplikation von 95 x 6, dem Resultat 570 wäre dann noch eine 1 hinzuzufügen.«9 Janetzki erörtert darüber hinaus, daß sich der Text an kabbalistischer Zahlenmystik orientiert. Die räumlichen Adverbien in der vogel singt basierten ihm zufolge auf nachvollziehbaren Summen, deren Bildung »sich relativ simpel« ergebe, »wenn man unter bestimmten Gesichtspunkten verschiedene Folgeglieder einfach eliminiert und die verbliebenen zusammenschiebt.«10 Unter der Tabelle wird als »sinn dieser arbeit« die Verdrängung und Zersetzung von R durch p erklärt, »Raum verdünnt [sich] auch (durch p wird er aufgelöst)«. Konrad Bayer selbst hat eine Art Erläuterung seines mathematischen Modells in einem auf Schreibmaschine verfaßten Brief festgehalten, den er vor einer Einladung zu einer Lesung an den Veranstalter richtete: »sehr geehrter pater focke ich habe leider noch nicht alles ins reine geschrieben. die ihnen vorliegende abschrift umfasst 4/6. […] die handlung hat sich aus der konstruktion entwickelt. zeit und raum in der handlung werden durch die entsprechenden umstandsworte dargestellt, welche sich auf die ihnen vorgeschriebenen einheiten beschränken.
9
Kastberger, Klaus: »Konrad Bayer (1932-1964). ›der vogel singt‹«, in: Bernhard Fetz/Klaus Kastberger (Hg.), Der literarische Einfall. Über das Entstehen von Texten, Wien: Zsolnay 1998, S. 137-146, hier S. 143.
10 U. Janetzki: Alphabet und Welt, S. 113.
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z.b. jede 10. einheit (kann satz, satzteil, wort, silbe, laut oder satzgruppe sein) trägt den vermerk R, wodurch ich gezwungen bin in dieser einheit, den raum mit hilfe eines umstandswortes auftreten zu lassen. die reihe 10, 20, 30, 40 ist nur ein vergleich, ich habe die tatsächliche reihe im augenblick nicht greifbar. […] für konstruktion (ungefähr):
p für poetisches element b für banales element (unregelmässige reihe)
[…] ich hoffe, ihnen einige ungefähre anhaltspunkte gegeben zu haben und verabschiede mich hochachtungsvoll [Unterschrift Konrad Bayer] p.s.: die katastrofe hat sich für mich zwangsläufig in der 95er-einheit feuer und wasser ergeben. die beiden nachfolgenden abschnitte führen zu einer immer weiteren abkehr von den äusseren geschehnissen und reduzieren sich auf betrachtung und ganz einfache bewegungen der zentralfigur. in der letzten abteilung steht er im zufrierenden meer«11
Auch dem Brief ist eine tabellarische Aufstellung beigefügt, die den Anschein mathematischer Akribie vermittelt und von Rühm in den Anmerkungsapparat der Gesamtausgabe aufgenommen wurde. Sie an dieser Stelle nicht zitiert. Denn selbst wenn man Bayers Brief an einen Pater Focke ernst nähme, weiß man angesichts sämtlicher Interpretationsofferten nur bedingt, wie genau das vorgegebene Modell aussah und der daraus resultierende Text entstanden ist. Bayers Erklärungen sind keine autoritative Festsetzungen, sondern absichtlich unklare Meinungsäußerungen des Autors über seinen eigenen Text. Bayer fertigte neben Rechenskizzen und weiteren Notizen zudem eine Illustration an: der sogenannten »Zeittrompete«, die als Anhang zusammen mit dem Text der vogel singt veröffentlicht werden sollte. Obgleich es nicht zu Lebzeiten des Autors dazu kam, ist Bayers Idee einer (multimedialen) Doppelpublikation von Text und Bild interessant. Nicht die diagrammatischen Entwürfe und Tabellen sollten Leser mitlesen, sondern folgende farbliche Zeichnung ansehen. Die
11 Brief an Pater Focke. Privatbesitz Traudl Bayer, Wien. Kastberger, Klaus: »Konrad Bayer. ›der vogel singt‹«, in: Fetz/Kastberger, Der literarische Einfall (1998), S. 142. Auf dem Briefbogen, der im Österreichischen Literaturarchiv vorliegt, sind mehrere handschriftliche Zusätze und Korrekturen vermerkt, zum Beispiel der Randvermerk: »171 ist schon außerhalb des stücks«.
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»Zeittrompete« ist zwar als eigenständig anzusehen, kann und soll aber der autorschaftlichen Setzung nach direkt auf der vogel singt bezogen werden: Abbildung 10: Die Zeittrompete
Kastberger, Klaus: »Konrad Bayer (1932-1964). der vogel singt«, in: Fetz/Kastberger, Der literarische Einfall (1998), S. 140.
Ins Auge fällt, daß Bayer in die Illustration die Kolorierung und Sequenzierung der Rechentabelle (Abb. 9) übernahm. Allerdings ist der Zeichnung im Vergleich zur Rechenmatrix, in der zwei Farben zur Anwendung kommen, mit dem Schwarz eine dritte Farbe hinzugefügt, genauer gesagt: eine Farbempfindung, die physiologisch erst aus der Absenz eines Farbreizes resultiert. Die Linienführung geht gegenüber den durch Senkrechten und Waagerechten definierten Tabellenräumen in eine Zirkularformation über, die mit der identisch eröffnenden und abschließenden Textkomposition von der vogel singt korrespondiert. In römischen Zahlzeichen ist die Gliederung in sechs Abschnitte, in lateinischen Zahlen die elf Reihen und im Innenkreis weitere Wertrelationen zu erkennen. Des weiteren treten in der Zeichnung, Richtung und Struktur gebend, Pfeile und Mengenklammern in Erscheinung. Im Unterschied zur tabellarischen Datenzusammenstellung sind in der illustrierten »Zeittrompete« Zahl- und Sprachzeichen räumlich voneinander getrennt, sie kommen sich nicht so nahe wie im Tabellen-
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fuß, der in das Ergebnis mündet: »R (528) als/= < nähe & ferne«. Mehr noch findet sich Schrift nur noch im Titel wieder: »Die Zeittrompete«. Die Ergebnisvariabilität zwischen 571 und 572 wird schließlich durch eine gestrichelt linierte Trichteröffnung dargestellt. Anhand all dieser verfügbaren Notizen, Tabellen, Entwürfen und der Illustration sollte sich bestätigen, wie der vogel singt. eine dichtungsmaschine in 571 bestandteilen das simuliert und nachahmt, was Oswald Wiener als große Faszination diagnostizierte: die maschinelle Produktion eines literarischen Texts. Zeitgenössisch proklamierte eine Koryphäe wie Victor Vasarely, daß alle seine Werke »aufgrund von Programmierungen geschaffen [sind], in denen Farben, Nuancen und Formen auf die einfachste Weise verschlüsselt sind. […] Auf der Grundlage meiner Programmierungen wird man dann in der Lage sein, alle meine Werke nachzuschaffen, aber auch gleichzeitig alle diejenigen unzählbaren, die die Maschine von sich aus vorschlagen wird.«12
Dieser Programmierung von zeitgenössischer Kunst und Literatur mithilfe digitaler Rechenmaschinen soll im Folgenden nachgegangen werden, um sie mit der ›Programmierung‹ von Bayers vorgestellter dichtungsmaschine zu vergleichen. Denn nebensächlich ist es nicht, daß die Zeittrompete ein Kunst-, eben kein Recheninstrument als Signifikant in sich trägt, und zufällig noch weniger, daß es an Bayers Kommentar zur Vorführung seiner methodisch inventionierten Gedichte erinnert, wenn er, wie es im Brief lautet, »die tatsächliche reihe im augenblick nicht greifbar« habe.
L ESEN NACH P LAN ? DER VOGEL SINGT UND
S TOCHASTISCHE T EXTE
Ab Ende der 1950er Jahre war es technisch möglich geworden, Computerprogramme nicht nur mit Zahlen, sondern auch mit Sprache operieren zu lassen. Der im vorherigen Kapitel bereits eingeführte Theo Lutz veröffentlichte 1959 in der Zeitschrift augenblick einen Beitrag, in dem er einen an einer elektronischen Re-
12 Joray, Marcel (Hg.): Vasarely, Bd. 2, Neuchâtel: Griffon 1973, S. 198.
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chenmaschine hergestellten Text vorstellte.13 Ein Jahr lang saß der Stuttgarter Programmierer an der Entwicklung eines Programms, das die im Recheninstitut der Technischen Hochschule eingerichtete ZUSE Z 22 Texte schreiben und durch einen Fernschreiber ausdrucken ließ:14 Abbildung 11: Lutz’ Stochastische Texte
Büscher/von Herrmann/Hoffmann: Ästhetik als Programm (2004), S. 164. 13 Vgl. Lutz, Theo: »Stochastische Texte«, in: augenblick 4 (1959), H. 1, S. 3-9; Lutz, Theo: »Über ein Programm zur Erzeugung stochastisch-logistischer Texte«, in: Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft 1 (1960), S. 11-16. 14 »Gerade die Z 22 ist ausgesprochen geeignet für Anwendungen im außermathematischen Bereich, sie eignet sich besonders für Programme mit vorwiegend logischer Struktur, für Programme also, die viele logische Entscheidungen enthalten. Sehr vorteilhaft für wissenschaftliche Probleme ist die Eigenart der Maschine, auf Wunsch die Ergebnisse sofort durch einen Fernschreiber ausdrucken zu können.« Lutz, Theo: »Stochastische Texte [1959]«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 165.
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Aus einer vorgegebenen Wortmenge – für das Lutz auf Benses Vorschlag Kafkas Das Schloß aussuchte und der Erzählung wahllos sechzehn Substantive im Singular und sechzehn Adjektive entnahm – und dem flektierten ›ist‹, verschlüsselt als Dualzahlen, bildete die Z 22 mithilfe eines arithmetischen Zufallsgenerators grammatisch korrekte Elementarsätze. Jedes der gegebenen Subjekte und Prädikate, so der Auftrag an die Maschine, konnte bei diesem Neuarrangieren gleich häufig auftreten. Die ZUSE Z 22 simulierte, was genauso gut hätte erwürfelt werden können. Ihre Ergebnisse waren syntaktisch nach dem Zufallsprinzip kompilierte Syntagmen aus dem Wortmaterial von Kafkas Schloß. Als Ergebnisse wurden die abgebildeten, mittlerweile kanonischen Syntagmen ausgedruckt, die als »Stochastische Texte« den Beginn der Geschichte deutscher Rechenmaschinen-Literatur markieren. Theo Lutz’ Pionierleistung folgten die Stochastischen Texte des am Darmstädter Rechenzentrum tätigen Programmierers Gerhard Stickel. Er ließ 1964 die IBM 7090/94 zufallsmäßig angeordnete Texte herstellen, die er »Monte-CarloTexte« oder »autopoeme« nannte. Das in Fortran II geschriebene Hauptprogramm beinhaltete ein Lexikon aus 1.200 Verben und Substantiven, von denen jedes Wort »eine Kennzahl als grammatische Bestimmung besaß. Die mitgelieferte Syntax bestand aus 280 Satzmustern mit Bezeichnern für die Satzglieder, die zufallsgeneriert durch Wörter aus dem Lexikon« substituiert wurden.15 Über einen IBM-Schnelldrucker gab die IBM 7090/94 Texte auf Endlospapier aus, die zwischen vier und sechsundzwanzig Zeilen lang waren. Die so entstandenen Texte wurden daraufhin von Stickel thematisch sortiert. Das im folgenden abgebildete Autopoem wurde auf ein Format von 20,3 cm x 21cm zugeschnitten.16
15 Steinhaus, Ingo: Die Poesie des Zufalls, http://blog.denkschriften.de/?p=22 vom 31.03.2014. 16 Bereits die Erstellung des Wortrepertoires aus Verben und Nomen ist ein zeittypisch erstelltes Zufallsprodukt. In einer Art Performance riefen Stickel Zuschauer Wörter zu einem semantischen und thematischen Oberbegriff zu. Vgl. Bülow, Ralf: »Der Traum vom Computer. Literatur zwischen Kybernetik und konkreter Poesie«, in: Erhard Schütz (Hg.), High-Tech – Low Lit? Literatur und Technik. Autoren und Computer, Essen: Klartext 1991, S. 35. Die Zuordnung der »autopoeme« zu Themenkreisen wie »Natur und Empfindungen« (Nr. 312) ist insofern interessant, als mit der Systematisierung der Stochastischen Texte eine für philologisches und literaturhistorisches Arbeiten zentrale Technik angewendet, gleichsam simuliert wurde. Vgl. Schmitz-Emans, Monika: »Maschinen-Poesien. Über dichtende Automaten als Anlässe poetologischer
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Stickels Autopoeme unterscheiden sich von Lutz’ Stochastischen Texten erstens durch eine weiterentwickelte Software, einer höheren Programmiersprache, zweitens aufgrund bestimmter formaler Anzeichen wie Überschriften, Unterschriften oder Lochkartenmarkierungen auf den Ausdrucken und drittens durch eine serielle Numerierung der Texterzeugnisse, die schon in der analogen Computergrafik üblich war. Auch die Bezeichnung »autopoeme« zeugt von einem Selbstbewußtsein des Urhebers, das sich in Lutz’ Wahl eines neutralen Terminus, der die zentrale Frage, ob es sich bei den Maschinenprodukten um Literatur handelt, umgeht, nicht wiederspiegelt. Abbildung 12:autopoem Nr. 121 (1966)
Herzogenrath/Nierhoff-Wielk: Ex Machina (2007), S. 467.
An der ZUSE Z 23 im Münchner Oskar-von-Miller-Polytechnikum schrieben 1967 die Ingenieure Manfred Krause und Götz Friedemann Schaudt ein Programm, dem sie Reimstrukturen und metrische Regeln beibrachten. Ein Wortschatz, der sich sowohl aus Gedichten von Goethe, Schiller, Droste-Hülshoff, Claudius oder Rühmkorf als auch aus ebenso willkürlich ausgewählten wissenReflexion«, in: Norbert Oellers (Hg.), Das Selbstverständnis der Germanistik. Aktuelle Diskussion, Tübingen: Niemeyer 1988, S. 375-393.
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schaftlichen Texten speiste, wurde in Verse gesetzt und 1967 in dem Band Computer-Lyrik. Poesie aus dem Elektronenrechner17 als Gedichtserie in Paar-, Kreuz- oder Schweifreimform veröffentlicht. Kraus und Schaudt gingen nach der Publikation in die Offensive und waren darauf vorbereitet, daß die Benutzung eines Computers zum Schreiben von Poesie »von den meisten Dichtern als Mißbrauch der Lyrik empfunden werden – doch auch von nicht wenigen Technikern als Mißbrauch des Computers«.18 Rechenmaschinen-Literatur reüssierte und provozierte aber nicht nur in Deutschland, sie war ein internationales Phänomen. Beispielsweise ›schrieb‹ John M. Coetzee Computer Poems und Kurzprosa, die mit einem eigens entwickelten Programm für die Univac 1401 generiert und in englischsprachigen Lyrikzeitschriften abgedruckt wurden.19 Marc Adrian erkundete eine neue Gattung für das hier besprochene Textgenre. 1968 ließ der Österreicher mit einem in SNOBOL von Horst Wegscheider geschriebenen Programm auf der IBM 1620 II am Wiener Institut für Höhere Studien ein
17 Vgl. Krause, Manfred/Schaudt, Götz F. (Hg.): Computer-Lyrik. Poesie aus dem Elektronenrechner, Düsseldorf: Droste 1967. 18 Krause, Manfred/Schaudt, Götz F.: »Goethe gelocht«, in: Der Spiegel, Nr. 46 vom 6.11.1967. 19 Zum Beispiel in: The Lion and the Impala 2,1 (1963). »Als Struktur gab er Ort, Zustand und Handlung in Gegenwart und Vergangenheit ein, als Wortschatz begnügte er sich mit etwa 800 Wörtern, die er dem Thesaurus-Programm entnahm, und damit würde der Rechner, so Coetzee, mit einer Geschwindigkeit von 75 Gedichten pro Minute etwa 2100 Gedichte schaffen, bevor alle Varianten erschöpft seien. […] Zehn Jahre später, 1973, berichtet Coetzee in der Zeitschrift Computers and the Humanities von seinem an der Universität Kapstadt durchgeführten Experiment, die Konstruktion einer Kurzgeschichte von Samuel Beckett mit Hilfe eines Univac 1106 zu systematisieren. In dieser Kurzgeschichte hatte Beckett im zweiten Teil dieselben Sätze wie aus dem ersten Teil verwendet, nur in anderer Reihenfolge. Die Computerlesbarkeit und Programmierbarkeit von Texten interessierte Coetzee damit auch noch dann, als er am Roman Dusklands schrieb. Konstruktion und Dekonstruktivismus sollten Coetzee anhaltend fesseln. Noch 1979 versuchte Coetzee, computergestützt einfache Sätze nach Textvorgaben aus Übersetzungen von Pablo-Neruda-Gedichten zu erstellen, wie er in einem Aufsatz für die Zeitschrift Journal of Literary Semantics schildert.« Loimeier, Manfred: J. M. Coetzee, München: Ed. Text & Kritik 2008, S. 25f.
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Drama mit dem Titel Syspot erstellen.20 Das Wortmaterial des Theaterstücks bestand aus Einzelheften der Zeitschriften Eltern, Jasmin und dem Spiegel. Ein Spezifikum der Geschichte maschinell generierter Texte im Vergleich zum Einsatz von elektronischen Rechenanlagen in Musik und Bildender Kunst ist, daß dieser Experimentalbereich und die Liste der mit ihm verbundenen Protagonisten seit etwa 1958 überschaubar blieb, wie Siegfried J. Schmidt 1971 in seiner Schrift Ästhetische Prozesse konstatierte. Schmidt sah diese Tatsache zum einen darin begründet, »daß solche Texte in den üblichen Medien wenig veröffentlicht worden sind«. Er ging aber zum anderen der Vermutung nach, »daß wohl bei keiner anderen Kunstgattung die Erwartungen und Vorurteile so groß und so verfestigt sind wie auf dem literarischen Sektor. […] Der Grund für diese fast apriorisch behauptete Insuffizienz technischer Systeme liegt gemäß dieser Vormeinungen darin, daß im Bereich der Sprachkunst die Rolle der Bedeutung (genauer: der Aussage) deutlicher als in allen anderen Künsten dominiert, mit anderen Worten daß hier Inhaltliches, Gefühls- und Gedankenhaftes vor dem bloß Kompositorischen und Formalen rangiert.«21
Sosehr Schmidts Erklärung plausibel erscheint angesichts eines an konventionellen Schreibweisen orientierten Kunst- und Literaturverständnisses, das in bundesrepublikanischen Hörsälen befördert und von einer großen Leserschaft bevorzugt wurde, sowenig vermag sie auseinandersetzen, warum auch experimentaffine Autoren eine reservierte Haltung gegenüber computergenerierter Literatur einnahmen. Schließlich orientierte sich auch Computerkunst an der Leitvorstellung des künstlerischen Einzelobjekts, auch wenn es nur ein Bestandteil aus einer Klasse möglicher und algorithmisch gleichartiger Objekte war. Die Gründe für ihre Vorbehalte lagen woanders. Daß Computerkünstler darauf bestanden, »not works of art but models for works of art« zu erstellen,22 zeigte gleichermaßen auf, daß sie sich nicht mehr als
20 http://www.gangan.com/ebooks/maschinentexte/Marc.syspot.1.html vom 31.03.2014. 21 Schmidt, Siegfried J.: »Computopoeme. Einige kritische Aspekte«, in: Siegfried J. Schmidt, Ästhetische Prozesse. Beiträge zu einer Theorie der nicht-mimetischen Kunst und Literatur, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971, S. 176-189. 22 So zitiert Jasia Reichardt, Kuratorin der ersten internationalen Computer Art-Ausstellung Cybernetic Serendipity im Jahre 1968, Georg Nees. Reichardt, Jasia: »In the Beginning…«, in: Paul Brown et al. (Hg.), White Heat, Cold Logic. British Computer Art 1960-1980, Cambridge, Mass.: MIT Press 2008, S. 71-81, hier S. 73.
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alleinige Inspirationsquelle verstanden. Mit der Modellierung in Computerkunst und -literatur standen das Deutungsamt und die Steuerungsfähigkeit des Künstlers zur Disposition. Die zentrale Frage stand im Raum, wer denn eigentlich das schöpferische Subjekt ist: der Künstler oder die Maschine. Die Bandbreite von Antworten reichte »from the naive belief that computers will take the place of human artists to the more sophisticated belief that soon the Leonardo of computer art will come. This person would be scientist, programmer, humanist, and artist – the true universal person.«23
In den frühen Diskursen der 1960er Jahre über das Programmierhandwerk des Computerkünstlers brachen sich oftmals Ressentiments gegenüber dieser Vision einer Universalmenschmaschine Bahn, so daß sich eher die Attitude etablierte, die danach fragte: »what can this machine do for me?«, weniger eine Aneignungshaltung, die zu reflektieren versuchte: »what can I do with this machine?«.24 Die Bestrebung, sowohl Künstlerschaft neu zu definieren, als auch ein transparentes Kunstwerk zu schaffen, dessen Herstellung, wie Theo Lutz’ Aufsatz in augenblick veranschaulicht, als rekonstruierbar dokumentiert wird, vereint die in vorliegender Arbeit herangezogenen Kunstbewegungen, sei es Fluxus, Op Art, Kinetische Kunst, Konkrete Poesie oder internationale Computerkunst. Der Rückgriff auf die zeitgenössischen Diskurse über die Literaturproduktion per elektronischer Rechenmaschine, in denen Grundsatzdebatten über Autorschaft entfacht wurden, führt uns ins Zentrum von Konrad Bayers dichtungsmaschine in 571 bestandteilen. Zwar weist sein Untertitel den Prosatext, in dem ein endlicher Bestand an Wörtern wie in rechenmaschinell erzeugten Texten, nämlich frei von semantischen Aspekten und in sich wiederholender Variation, zu neuen Strukturen permutiert wurde, als eine Dichtungsmaschine aus. Jedoch müssen alle Interpreten vor der Entschlüsselung der Konstruktion kapitulieren: Alle Versuche, die Rechenvorgänge am fertigen Textprodukt nachzuvollziehen, scheitern. Modell und literarischer Text stimmen nicht überein. »Eine weitere handschriftliche Notiz weist in einer geradezu verdächtig-direkten Weise«, so Kastberger, »den ›Sinn‹ von der vogel singt aus. Dieser bestehe demnach darin, daß die poetischen Elemente (p) langsam aber stetig den Raum (R) verdrängen
23 Leavitt, Ruth (Hg.): Artist and Computer, Morristown: Creative Computing Press 1976, S. VIII. 24 Ebd.
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würden, welcher im Text durch die Umstandswörter des Ortes (gegen, über …) angezeigt ist. Im Laufe des Textes käme es zu einer ›crystallisation des poetischen‹«.25 Bei der Ausführung der rechentabellarischen Denkform stehen Zeichen an einem ihnen nicht zugewiesenen Ort. Es sind in anderen Worten die »poetischen elemente«, die in der vogel singt den vormals mathematisierten Raum zeichensetzend ›annektieren‹. Auch die Erläuterung im Brief an den Veranstalter, ein Bestandteil könne zugleich »satz, satzteil, wort, silbe, laut oder satzgruppe sein«, spricht dahingehend Bände, daß die epistemische Aussagekraft von mathematisierenden Verfahren in Frage gestellt wird. Ein diagrammatisch definiertes Wissen wird für das Textverständnis als obsolet erklärt. Im Leseprozeß wäre dieses Obszoleszieren anhängig geworden, indem dem Leser und Betrachter der »sinn des stücks« eingetrichert worden wäre:26 In der Illustration schließt die »Zeittrompete« nicht mit Zahlen oder Sprachzeichen, sondern mit einem dreidimensionalen Körper. Die trichterhafte Öffnung simuliert nicht nur Räumlichkeit, sondern auch eine nicht mehr numerisch darstellbare Tiefe im Vollzug der Zeichenübertragung. Im nachvollziehenden Vergleich zwischen Bauplan und Text wird deutlich, wie sich Bayers der vogel singt der im Untertitel angekündigten Annahme widersetzt, es handele sich um einen Dichtungsgenerator, der die literarischen Textexperimente mit Computern einfach nachahmt. In dem unerklärlichen Zwischen-Raum von Zahlen im Modell (571 572) soll sich etwas anderes als Mathematik oder Kybernetik eröffnen. Die Textstrukturen in der vogel singt sind nämlich nicht sinnlos arrangiert, es erschließt sich eine zumindest grobe rekonstruierbare Ereignisabfolge: Mit großem Abstand wird aus heterodiegetischer Perspektive, die nur vereinzelt den Eindruck von Unmittelbarkeit zu den Figuren zuläßt, erzählt, wie in einer phantastischen Welt verschiedene Figuren wie ein Er, eine Königin und ein Jüngling zunächst in einer Landschaft aus Fauna (»ameisen«, »vögel«) und Flora (z.B. »pilze«, »sonnenblumen«, »wachsblumen«), dann in einer urbanen, technik- und arbeitsweltlichen Kulisse (»fabrik«, »akkordarbeiter«, »elektrisiermaschine«, »automobil«) aufeinandertreffen. Ein weiterer Aspekt unterscheidet Bayers Vorgehen kategorial von dem einer Maschine. Wie Christoph Hoffmann in einem Beitrag über Philologische Pro-
25 Kastberger, Klaus: »Konrad Bayer. ›der vogel singt‹«, in: Fetz/Kastberger, Der literarische Einfall (19898), S. 145. 26 Das Problem ungewollter Rechenfehler von seiten des Autors ist deshalb von geringerem Gewicht für meine Lesart von der vogel singt.
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gramme 1960 festhält, zeichnet maschinell generierte stochastische Sätze vor allem aus, »dass ihre Bildung nur ein Abbrechen kennt«.27 Theo Lutz beschrieb es 1959 lakonisch mit den Worten: »Die Maschine arbeitet, bis sie abgestellt wird.«28 Konrad Bayers Dichtungsmaschinentext der vogel singt braucht keinen Schalter; den Abschluß macht der Autor selbst.
P OETIK
ALS
R ÜCKKOPPPLUNG IM
LITERARISCHEN
K REIS
Die Textstrategie in Konrad Bayers der vogel singt, durch die Inkongruenz von Modellvorlage und Endprodukt zunächst zu desorientieren, um danach dem Leser eine Neuorientierung anzubieten, ist kein Einzelfall, wie vorliegende Studie mit weiteren Fallanalysen untermauert hat. In der vogel singt wird ein Kunstverständnis affirmiert, wonach Artefakte einen weder in Zahlen erfaßbaren, noch mit Sprache restlos auslegbaren Restwert besitzen. Diese Deutung setzt einen aktiven Leser voraus, der Konstruktionsplan und Text miteinander in Bezug setzt und Vergleiche zieht. Um den Vogel und das Musikinstrument zum Ertönen zu bringen, muß sie ein mitdenkender Rezipient erst erhören. Gerade dort, wo sich die Vermeintlichkeit der Plausibilität von Lektüreanweisungen auftut, wird Entscheidendes für Konrad Bayers Poetik des communication & control sichtbar. Texte wie der vogel singt, balsader binsam oder der neunertz specken klaster spielten zwar auf die Mathematisierung, Formalisierung wie Programmierung von Kunst an, doch blieb der Autor die Schaltzentrale seines Werks, das gar nicht erst so tat, als seien die Texte selbstausführend,29 sondern Instrumente in der Hand einer spielenden Autorinstanz. In der kybernetisch-informationellen Kommunikationswelt von abenteuer im weltraum, mit der intertextuellen Zitation von naturwissenschaftlichen Bildgebungsverfahren in der sechste sinn, mittels der Dynamisierung von Originalitätsvorstellungen im Text flucht und der lesesäule oder mithilfe der Rechentabellenentwürfe von der vogel singt wird in Konrad Bayers Werk nicht nur ein Brü-
27 Hoffmann, Christoph: »Kein Haus ist nah. Philologische Programme 1960«, in: Weimarer Beiträge 54/4 (2008), S. 491. 28 Lutz, Lutz: »Stochastische Texte [1959]«, in: Büscher/von Herrmann/Hoffmann, Ästhetik als Programm (2004), S. 166. 29 Vgl. Cramer, Florian: Exe.cut(up)able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts, München: Fink 2011.
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ckenschlag zwischen Literatur, Technik und Naturwissenschaften vollzogen. In diesen schriftlichen Experimentalanordnungen drücken sich Wissensbestände aus, die in der Art-and-Technology-Bewegung praktisch wirkten und von Max Bense theoretisch zur Informationsästhetik erschlossen wurden. So wird man eines wissenstheoretischen Zusammenhangs ansichtig, den Sybille Krämer als epistemisches Schreiben bezeichnet. Ein epistemischer Schreibprozeß »entfaltet immer auch einen kompositorischen und problemlösenden Operationsraum«, um »unsichtbare kognitive Sachverhalte zu vergegenständlichen, also ›Wissensdinge‹ dem Register der Sinnlichkeit zugänglich zu machen, dabei aber auch erst hervorzubringen.«30 Konrad Bayer rechnete über seine Texte Literatur eine unersetzbare Aufgabe im gesellschaftlichen Funktionsgefüge mit Wissenschaft und Technik zu. Er bediente sich der Denkfiguren informationstheoretischer, mathematischer und kybernetischer Erkenntnisse, um sich zugleich parodierend von ihnen abzugrenzen. Sein Werk erhebt einen Autonomieanspruch von Literatur als eigenständiger Wissens- und Denkmodus, der auf eine Art und Weise aufzeigt, was eben nicht dem Darstellungsrepertoire und Wissen von Wissenschaft obliegt. Konrad Bayer rüttelte mit seiner bewußtseinsexperimentellen Poetik an althergebrachten Kategorien des Literatursystems, indem das Werk sich durch ständiges Brechen von Gattungskonventionen, durch Ausloten von Grenzen der narrativen Konstitution, durch erzählerische Inkohärenz oder durch GenreEklektizismus als nicht ›störungsfrei‹ erweist; indem Erzählakte labil wirken (der sechste sinn); indem die Reflexion über point of view und Fokalisierung unter seiner Mitarbeit auch in anderen Medien zum Gegenstand gemacht werden (Sonne halt!); indem Texte als nicht-originale (flucht) ausgewiesen und ausgestellt werden; indem sich dabei Hochkulturelles mit Trivialkulturellem, Aufklärung mit Verklärung (der kopf des vitus bering), wissenschaftlicher Präzisionsanspruch mit künstlerischem Autonomieanspruch vermischen; indem direkter Einfluß auf das Publikum ausgeübt wird (abenteuer im weltraum) oder indem schließlich das Werk als Fragment überliefert ist. Mit der Publikation von der stein der weisen als Buchobjekt hebt Konrad Bayer die Relevanz des Phänomens Bewußtsein in seinem Werk hervor. Er legt hiermit eine Montage diskursiver Fetzen über die Bewußtseinsfrage vor, in der zwar kein Subjekt im emphatischen
30 Krämer, Sybille: »Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen«, in: Susanne Strätling/Georg Witte (Hg.), Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Fink 2006, S. 75-83, hier S. 80, 77.
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Sinne einer Identität, so doch ein konturiertes Ich existiert. Der Autor inszeniert somit, was wiederum die »Analysen von Bourdieu, Althusser und Foucault zeigen, dass die Selbstherrschung des Subjekts ihren primären Sitz nicht im Willen, im Bewusstsein, in der Seele oder einer anderen, wie auch immer zu denkenden inneren Instanz hat, sondern vom Körper ausgeht und auf ihn und durch ihn wirkt«:31 nämlich dem Text-Körper von Bayers Werk. Wenn in einem Text wie flucht nur noch die Möglichkeit oder Andeutung einer Geschichte dargeboten wird, die der Leser selbst erzählen muß, und in der sechste sinn ein extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler als Instanz vorgeführt wird, deren funktionale Kompetenz als erzählerische Ordnungsmacht angesichts von Automatismen Einbußen erleidet, dann diskutiert Bayers Werk auf diese Weise die Stellung der Einzelstimme im diskursiven Gesamtzusammenhang. Es geht mittels solcher Erzählverfahren darum, wie weit man eine Sprecherposition auflösen kann, bevor das Dargestellte unverständlich wird, wo individuelle Rede beginnt und ›wieviel Ich‹ für funktionierende Kommunikation eigentlich vonnöten ist. Diese Fragen sind die werkinhärente Waagschale, die das Verhältnis des ästhetischen Einzelwerks sowohl zum Diskurskomplex der Artand-Technology-Bewegung als auch zum diskursiven Bezugsrahmen seiner Schriftstellerkollegen austariert. Denn zugleich kommunizieren und kontrollieren wollte Konrad Bayer auch die Wiener Gruppe. Bayers Werk kann nur unter Vorbehalt wie das seines späteren Herausgebers der Konkreten Poesie zugeordnet werden, welche zeitgenössisch die »›Physiognomie‹ der Begriffe«32 und Reduktion auf Sprachmaterialität in den Mittelpunkt stellte. Mit Oswald Wiener, der in den 1960er Jahren in manuskripte Auszüge publizierte aus seinem später bei Rowohlt als Roman erschienenen die verbesserung von mitteleuropa, roman, arbeitete Bayer enger zusammen. In einem in der Zeit abgedruckten Artikel porträtierte Wiener Konrad Bayer als einen Menschen, der ein großes Interesse hatte,
31 Füssel, Marian: »Die Rückkehr des ›Subjekts‹ in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive«, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.), Historisierte Subjekte – subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York: de Gruyter 2003, S. 141-159, hier S. 155. 32 Gappmayr, Heinz: »Was ist konkrete Poesie?«, in: Jörg Drews/Helmut Heißenbüttel/Horst Lehner (Hg.), Konkrete Poesie I, München: Ed. Text & Kritik 31978, S. 5-9, hier S. 7.
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»seinen Einfluß auf andere Menschen zu studieren. Er war häufig mit dem Arrangement einer Szene oder einer Situation beschäftigt, um andere zu für ihn vorhersagbaren Handlungen zu bringen (nicht vorwiegend Handlungen, die einen außerhalb des Experiments liegenden Vorteil für ihn bedeutet hätten) […]. Er trachtete danach, einen umfassenderen Überblick über die jeweilige Lage zu haben als die Menschen, die diese Lage mit ihm zu teilen schienen, und vergewisserte sich darüber durch kleinere und größere Eingriffe oder Akzentverschiebungen. […] Auch ich bin immer wieder, bis zu seinem Tod, wie ich glaube, ein Opfer solcher Erprobungen der Tüchtigkeit seiner Vorstellungen gewesen, ja manchmal sogar der Anlaß zu besonderen Abgrenzungen, neben seinen Selbstversuchen ein Objekt, das er vielleicht besonders gut zu kennen meinte.«33
Zwar ist die künstlerische Gemeinschaftsarbeit für Bayers Gesamtwerk von enormer Relevanz, doch verstand sich der Autor innerhalb der sozialen Struktur der Wiener Gruppe stets als Solitär. Seine Beschäftigung mit und Subvertierung von naturwissenschaftlichem, mathematischem und technischem Wissen in seinen Texten ist demzufolge auch als Markierung einer individuellen, auf Eigenständigkeit plädierenden Position im Wiener Künstler- und Autorennetzwerk zu deuten, insbesondere als Offensive gegen Oswald Wiener, der ihm die Wissensbestände um die Kybernetik näherbrachte. Konrad Bayer entwarf seinem Editor Rühm zufolge »für sich, flüchtig auf einem notizblatt«34 einen Text, der »EINMANNSTAAT« betitelt ist, und hinterließ einen kurzen Prosatext aus dem Jahre 1958, der nicht nur seiner Bestrebung nach künstlerischer wie habitueller Selbstbeherrschung und Handlungsfreiheit im Freundeskreis unmißverständlich Ausdruck verleiht, sondern auch einer daraus resultierenden Hybris, das Prinzip des Fingierens lebensweltlich verabsolutieren zu können: »seit ich weiss, dass alles meine erfindung ist, vermeide ich es, mit meinen freunden zu sprechen. es wäre albern. allerdings hüte ich mich, ihnen zu sagen, dass ich sie erfunden habe, weil sie schrecklich eingebildet sind und glauben, dass sie mich erfunden haben. es würde ihre eitelkeit verletzen. ich staune über die eitelkeit und die überheblichkeit meiner erfindungen.«35
33 Wiener, Oswald: »Einiges über Konrad Bayer«, in: Die Zeit vom 17.02.1978, S. 40. 34 Rühm, Gerhard: »vorwort«, in: SW 1996, S. 17. 35 Bayer, Konrad: »seit ich weiss«, in: SW 1996, S. 393.
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Die hier vorgestellte rückgekoppelte Poetik stellt nicht zuletzt eine Ermächtigungsstrategie nach ›innen‹ dar: Sie ist als (Re-)Inthronisierung einer schreibenden Instanz in einem ordnenden, regulativen und disziplinierenden Gruppendiskurs zu verstehen. Konrad Bayers Poetik des communication & control stand im Dienste eines Autor-Ich, das nicht nur über seine Texte waltete und seine Leser schaltete, sondern auch die Ansichten im Kollektiv unterlief.
Abbildungsnachweise
Die Abbildungen sind wissenschaftliche Zitate nach §51 UrhG und dienen der Auseinandersetzung ihres Inhalts. Wenn nicht anders angegeben, liegt das Copyright für die Abbildungen beim betreffenden Künstler selbst oder einem Rechtsnachfolger. Die Verfasserin bittet ggf. um Nachricht, sollten Rechteinhaber trotz sorgfältiger Recherche im folgenden keine Erwähnung finden. Abbildung 2: Faksimile im Archiv der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften. Bestand 173, Verzeichnis 1, Akte 118, Blätter 1-12 (R). Abbildungen 3 & 4: Filmstills aus Sonne halt! (AUT 1962, R: Ferry Radax), Wien: Hoanzl 2007. Abbildung 5: Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Archiv Sohm. Abbildungen 6 & 7: Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Sprengel Museum Hannover. Abbildungen 9 & 10: Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Dominik Steiger.
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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß August 2014, ca. 260 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6
Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Dezember 2014, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Oktober 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2
Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.
www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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