Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt: Grundlagen einer künstlerisch-philosophischen Forschungspraxis 9783839436677

'Artistic research' in practice: based on everyday and environmental aesthetics, installation art, and percept

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German Pages 496 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Teil I
1. Der gemeinsame Ausgangspunkt: Philosophische Ästhetik
Teil II
2. Alltags- und Umweltästhetik – eine kurze Einführung
3. Exemplarische Ansätze: Gernot Böhmes Aisthetik
4. Exemplarische Ansätze: Arnold Berleants Alltags- und Umweltästhetik
5. Thematisch-konzeptionelle Verdichtungspunkte
Teil III
6. Architektur- und ortsbezogene Installation – eine kurze Einführung
7. Architektur- und ortsbezogene Installation als künstlerisches Arbeitsmittel
8. Künstlerische und philosophische Ansätze – eine kontextualisierende Betrachtung
Teil IV
9. Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt
10. Anwendungsbezogene Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt
11. Aisthetisches Grundlagenforschen im erweiterten disziplinären Kontext
Literatur
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Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt: Grundlagen einer künstlerisch-philosophischen Forschungspraxis
 9783839436677

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Benno Hinkes Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt

Architekturen | Band 39

Benno Hinkes (Dr. phil. in art.) ist Bildender Künstler und Theoretiker. Er arbeitet, forscht und lehrt an unterschiedlichen Orten im In- und Ausland. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet. Weitere Informationen: www.benno-hinkes.de

Benno Hinkes

Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt Grundlagen einer künstlerisch-philosophischen Forschungspraxis

Das Buch entstand zwischen 2008 und 2014 im Rahmen einer Dissertation am Goldsmiths College, University of London/der HfbK-Hamburg (promovierende Hochschule), gefördert durch den DAAD – Deutschen Akademischen Austauschdienst. Dank an: Martin Honert, Michael Lingner, Martina Löw, Thomas Rentsch, Silke Steets, Regina Weiss sowie die hilfsbereiten MitarbeiterInnen der folgenden Institutionen/Bibliotheken: DAAD London, Goldsmiths College London, Humboldt Universität Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin, University of Chicago.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Robert Straube Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3667-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3667-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 11 Einleitung | 17

TEIL I Kapitel 1 Der gemeinsame Ausgangspunkt: Philosophische Ästhetik | 45

1.1 Was ist Ästhetik? | 47 1.2 Probleme eines traditionellen Ästhetikverständnisses | 58 1.3 Konsequenzen für die Ästhetik, die Künste und deren wechselseitiges Verhältnis | 69 1.4 Schlussfolgerungen für diese Untersuchung | 92

TEIL II Kapitel 2 Alltags- und Umweltästhetik – eine kurze Einführung | 99

2.1 Der angloamerikanische Diskursraum – Everyday und Environmental Aesthetics | 100 2.2 Alltags- und Umweltästhetik im Kontext der deutschsprachigen Ästhetik | 111 2.3 Ansätze beider Diskursräume zur (gebauten) menschlichen Umwelt | 121 Kapitel 3 Exemplarische Ansätze: Gernot Böhmes Aisthetik | 129

3.1 3.2 3.3 3.4

Allgemeiner Ansatz | 129 Philosophische Grundlagen einer Neuen Ästhetik | 134 Aisthetik als Wahrnehmungslehre | 140 Aisthetik als Philosophie der (gebauten) menschlichen Umwelt | 148

Kapitel 4 Exemplarische Ansätze: Arnold Berleants Alltagsund Umweltästhetik | 161

4.1 4.2 4.3 4.4

Allgemeiner Ansatz | 161 Zentrale Begriffe | 166 Ästhetik und aisthesis | 172 Ästhetik und environment | 180 4.4.1 Verständnis von environment | 180 4.4.2 Human environment und built environment | 185

4.5 Wahrnehmen und (gebaute) menschliche Umwelt | 186 4.5.1 Zum Wahrnehmen (gebauter) menschlicher Umwelten | 187 4.5.2 Zur wahrgenommenen (gebauten) menschlichen Umwelt | 191 Kapitel 5 Thematisch-konzeptionelle Verdichtungspunkte | 197

5.1 Das Verhältnis von Ästhetik und Aisthetik | 197 5.2 Wahrnehmen als sinnliche Erkenntnis | 204 5.2.1 Sinnliches Wahrnehmen bei Arnold Berleant | 206 5.2.2 Gernot Böhmes Modell des sinnlichen Wahrnehmens | 209 5.2.3 Wahrnehmungsmodelle im Kontext einer Aisthetik | 212 5.2.4 Erkenntnistheoretische Implikationen | 219 5.3 aisthesis und (gebaute) menschliche Umwelt | 221 5.4 aisthesis und Gesellschaft | 226 5.5 Aisthetik und Künste | 236

TEIL III Kapitel 6 Architektur- und ortsbezogene Installation – eine kurze Einführung | 247 6.1 Vorbemerkungen | 247

6.2 Architektur- und ortsbezogene Installation – mögliche Merkmale | 249 6.3 Beispiele architektur- und ortsbezogener Installationen | 255 6.4 Grenzen und fließende Übergänge | 257 Kapitel 7 Architektur- und ortsbezogene Installation als künstlerisches Arbeitsmittel | 263

7.1 Bruce Nauman: Von der physischen Erfahrung zum Umraum | 266 7.1.1 Frühe Arbeiten: Einfache Handlungen und Performances | 267 7.1.2 Von unterschiedlichen Medien zu einem synthetischen Medium | 270 7.1.3 Von der Limitierung der Erfahrung zur Schaffung eines spezifischen Erfahrungsumraums | 273 7.2 Ilya Kabakov: Die Totale Installation als komplexes Wirkungsgefüge | 277 7.2.1 Einfache Replik oder künstlerische Umsetzung? | 279 7.2.2 Die Mittel der Totalen Installation | 284 7.2.3 Rolle der RezipientInnen | 286 7.3 Das Verhältnis zu Orten und Architekturen des Alltags | 289 7.3.1 Bruce Nauman und Ilya Kabakov | 290 7.3.2 Gregor Schneider | 293 7.3.3 Rachel Whiteread | 296

7.4 Bezug von architektur- und ortsbezogenen Installationen zur Umgebung | 299 7.4.1 Die physische Wirkung der Arbeiten Rachel Whitereads | 299 7.4.2 Wirkung in die räumliche Umgebung | 300 Kapitel 8 Künstlerische und philosophische Ansätze – eine kontextualisierende Betrachtung | 307

8.1 Gemeinsamkeiten künstlerischer und philosophischer Ansätze | 307 8.2 Untersuchende Aspekte in künstlerischen und philosophischen Ansätzen | 316 8.2.1 Zu untersuchenden Aspekten des installativen Arbeitens | 317 8.2.2 Zu untersuchenden Aspekten aisthetiktheoretischer Positionen | 322 8.3 Wechselseitige Annäherung von künstlerischen und philosophischen Ansätzen | 325 8.3.1 Empirie und Reflexion im Verbund: Dan Graham und Gernot Böhme | 325 8.3.2 Der wechselseitige Blick | 330 8.4 Zur Möglichkeit eines kollaborativen Forschens | 338

TEIL IV Kapitel 9 Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt | 345 9.1 Gegenstandsgebiet | 348 9.2 Probleme und Fragestellungen | 351 9.3 Methodische Mittel und Herangehensweisen | 355 9.4 Zur Frage des Forschungscharakters | 369 Kapitel 10 Anwendungsbezogene Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt | 377 10.1 Beispiele von In-situ-Installationen | 378 10.2 Mittel und Wege von In-situ-Installationen | 385

10.3 In-situ-Installationen im Kontext einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt | 391 10.4 In-situ-Installationen als Instrument der Untersuchung und Veränderung | 396 10.4.1 In-situ-Installationen als Instrument der Untersuchung | 397 10.4.2 In-situ-Installationen als Instrument der Veränderung | 399 10.5 Reflexive Orte | 400 10.5.1 Reflexive Orte in der Gestaltung | 400 10.5.2 Reflexive Orte in der Stadt | 403 10.5.3 Reflexive Orte in der Gesellschaft | 407

Kapitel 11 Aisthetisches Grundlagenforschen im erweiterten disziplinären Kontext | 415

11.1 Zum Verhältnis natürlicher Leib und sozialisierter Körper | 420 11.2 aisthesis und mikro-physiologisches Forschen | 441 11.3 Zum Problemfeld Wahrnehmen und Sprache | 460

Literatur | 479

„Denken ist kein unkörperlicher Vorgang […]“ Ludwig Wittgenstein

Vorwort

Bei der Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt handelt es sich um einen transdisziplinär verfassten Forschungsbereich, der die Wahrnehmung alltäglicher menschlicher Umgebungen zum Gegenstand hat. Untersucht wird die Art und Weise, wie Interieurs und Innenräume, Straßenzüge und öffentliche Plätze, urbane und ländliche Bereiche wahrnehmend erfahren werden bzw. wie diese auf den wahrnehmenden Menschen mittels eines alltäglichen physischen Umgangs einwirken. Der Gedanke einer Aisthetik, abgeleitet von altgr. ‚aisthesisʻ (‚wahrnehmenʻ, ‚mit den Sinnen verstehenʻ) zielt dabei nicht auf die Erforschung gesellschaftlicher oder physiologischer Bedingungen ab. Vielmehr steht die Erfahrungsrealität des menschlichen Umweltwahrnehmens selbst im Zentrum. Dieser kommt Erkenntnisrang zu – dem sensorisch-kognitiven Prozess, auf dem sie basiert, epistemische Bedeutung. Transdisziplinär verfasst ist eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt insofern, als sie sich aus mehr als einem disziplinären Kontext speist. Insbesondere sind es Ansätze aus dem Bereich der philosophischen Alltags- und Umweltästhetik sowie der architektur- und ortsbezogenen Installationskunst, die gemeinsam das Fundament für eine disziplin-überschreitende Erforschung der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten liefern.

Zu sagen, dass es sich bei der Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt als einer einerseits, in thematischer Hinsicht, bereichsspezifischen – nämlich: sich mit der spezifischen Fragestellung der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten befassenden – andererseits selbst, der eigenen Verfasstheit nach, grenzüberschreitenden – da sich einer bilateralen disziplinären Öffnung verdankenden und auch darüber hinausgehend auf einen trans- und interdisziplinären Dialog angelegten – Art des Forschens um eine vergleichsweise junge Entwicklung handelt, wäre untertrieben. Genauer gesagt wäre es falsch. Denn: Eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, so sehr Bedarf für ein derartiges, nicht entweder empirisches oder theoretisch-reflexives, sondern gleichermaßen empirisches und theoretisch-reflexives, ein ebenso künstlerisch wie philosophisch basiertes Forschen in besagtem Bereich besteht, existiert bislang nicht. Die obigen Zeilen können in dieser Hinsicht als programmatische Aussage verstanden werden, wie sie, im Sinn der Beschreibung eines Ist-Zustandes, einem zweiten Band zur hier vorliegenden Untersuchung einleitend mit auf den Weg gegeben werden könnten. Ein solcher Nachfolgeband, dessen Ermöglichung das eigentliche Ziel der hier und jetzt vorliegenden Untersuchung darstellt, könnte zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung idealerweise bereits auf ein Fülle von Einzelstudien zurückgreifen. Mit Sicherheit würde er Abbildungen enthalten, von künstlerischen Installationen, oder

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richtiger: von den empirischen Untersuchungsmitteln, die diese zur Verfügung stellen, um (gebaute) menschliche Umwelten in der Art und Weise, wie diese im Alltag wahrnehmend erfahren werden, zu erforschen. Vielleicht läge ihm auch ein digitaler Datenträger bei, auf dem installative Arbeitsmittel im Atelierraum oder vor Ort, im Kontext umgebender Gebäude und Außenräume, filmisch dokumentiert sind. Die physische Bewegung durch derartige Installationen hindurch sowie durch das spezifische Umfeld, in dem diese sich verankern, könnte darauf festgehalten werden, ebenso wie visuelle und akustische Eindrücke. Ein Dokumentationsmedium, das es erlaubt, Wahrnehmungserfahrungen nicht auf einzelne Aspekte zu reduzieren, sondern einen anschaulichen Eindruck von möglichst vielen Aspekten, von Gerüchen, Temperaturen, haptischen Qualitäten, Umraumatmosphären zu vermitteln, wird hingegen erst noch zu erfinden sein. Textbasierte Beiträge werden sich in einer weiten Fülle finden: Manche dürften von PhilosophInnen, andere von KünstlerInnen stammen; viele jedoch von Personen, die sich mit derartigen Schubladenverortungen gar nicht erst länger befassen. Sicher werden die Beiträge, ihrem Grundtenor nach, phänomenologisch motiviert sein. Zu hoffen ist jedoch, dass sie stets mit der nötigen kritischen Distanz zur eigenen Verortung und mit wachem Auge für andere philosophische Strömungen sowie andere ‚kultur-ʻ, ‚sozial-ʻ und ‚naturwissenschaftlicheʻ Forschungsfelder entwickelt werden. Ganz sicher sollten neben Artikeln, die zu grundsätzlichen konzeptionellen Fragestellungen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt Stellung nehmen, so viele konkrete Einzelfalluntersuchungen wie möglich Eingang in einen derartigen Sammelband finden. Um schon jetzt einige Beispiele zu nennen: An die Untersuchung der spezifischen sakralen Wirkung einer Dorfkirche wäre potentiell ebenso zu denken wie an eine Studie zur wahrnehmungsbezogenen Wirkungsweise der Autobahntrasse, die das Dorf durchschneidet (wobei gleich zwei Standpunkte zu berücksichtigen wären: der der Fahrenden und der der Anwohner); der periphere Speckgürtel einer deutschen Großstadt könnte auf seine aisthesis-bezogenen Qualitäten hin untersucht werden, genauso wie das alltägliche Wohnumfeld einer Familie, die in den schier unüberschaubaren Weiten einer südamerikanischen Megacity beheimatet ist. (Beide bedürften dabei gleichermaßen einer genauen, ortsspezifischen und so weit wie irgend möglich vorurteilsfreien Analyse unter wahrnehmungsbezogenen Gesichtspunkten); Untersuchungen privater und institutionalisierter Innenräume (Wohninterieurs, Schulzimmer, Büros), die deren Qualitätsverbesserung anstreben, könnten Aufnahme finden, nicht anders als Studien, die sich analytisch-kritisch mit der Wirkung einer ökonomisch dominierten Fußgängerzone oder einer politisch inszenierten Architektur und ihrer subtil oder offen manipulativen Wirkungsweise auseinandersetzen. All dies liegt in der Zukunft. Nun zur Gegenwart: Nicht virtuell – in seiner thematischen Ausrichtung sogar alles andere als dem Virtuellen zugewandt – ist die vorliegende Untersuchung. Diese befasst sich, auf einen einfachen Nenner gebracht, mit dem, was heute nötig ist, um ein kollaboratives künstlerisch-philosophisch basiertes Forschen im oben beschriebenen Sinn zu ermöglichen. Worum es nicht gehen wird, da es darum noch nicht gehen kann, ist der Forschungsalltag einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt. Worum es gehen wird, da gehen muss, sind dessen allgemeine wie besondere Voraussetzungen. Oder, als Inhaltsangabe in einem Satz formuliert: Die vorliegende Untersuchung wird sich mit der Möglichkeit einer bereichsspezifischen, künstlerisch-philosophisch basierten Forschung, genannt ‚Ais-

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thetik der (gebauten) menschlichen Umweltʻ befassen, wobei das Spektrum der Arbeit sich von einer Auseinandersetzung mit den – keineswegs transzendental, sondern vielmehr ganz konkret aufzufassenden – Bedingungen der Möglichkeit eines kollaborativen Forschens bis hin zu dessen potentiellem Anwendungsbezug erstreckt. Zugleich wird es, gewissermaßen hinter den Kulissen, oder richtiger gesagt: auf einer zweiten Ebene, jedoch noch um etwas anderes gehen. Denn die Frage der Möglichkeit eines kollaborativen, künstlerisch-philosophisch basierten Forschens, so leicht die Formulierung sich sprachlich, mittels eines einfachen Bindestrichs, herstellen lässt, berührt inhaltlich tiefer liegende, historisch sedimentierte und komplex miteinander verwobene Bereiche, die in der Zielvorgabe eines bereichsspezifischen Forschens, welches sich mit der Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten befasst, allein nicht aufgehen: So stellt sich die Frage, wie die philosophische Ästhetik, als einer der beiden Bereiche, welcher maßgeblich zu einer aktuellen Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt beitragen könnte, auf Grund seiner disziplinären Verortung überhaupt dazu in der Lage ist, sich der Frage des menschlichen Wahrnehmens auf adäquate Weise zuzuwenden. Denn als Teilbereich der Philosophie gehört er einem epistemischen Feld zu, das traditionellerweise mit theoretischreflexiven und nicht mit empirischen Mitteln arbeitet. Kann ein Gegenstandsgebiet wie das menschliche Umweltwahrnehmen aber mit nicht-empirischen, mit ‚rein philosophischenʻ Mitteln untersucht werden? Analog ist die Frage zu stellen, ob und inwiefern die Installationskunst, als zeitgenössische Artikulationsform der Bildenden Künste, welche ihrerseits maßgeblich zu einer aktuellen Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt beitragen könnte, ebendieses zu leisten vermag. Die Künste werden gemeinhin als praktisch-poietischer, also als machend-hervorbringender Bereich aufgefasst. Wie kann ein derartiger Bereich nun nicht exklusiv empirisch, sondern auch theoretisch-reflexiv agieren? Und, last but not least, gilt es zu fragen, inwiefern Philosophie und Künste, selbst wenn sie ein reines ‚Nachdenken überʻ und ‚Machen vonʻ überschreiten mögen, als Forschen, vergleichbar einem wissenschaftlichen Forschen, begriffen werden können – bzw. umgekehrt gefragt: so man von Künsten und Philosophie in der Tat sagen können sollte, dass sie ‚forschenʻ, was würde dies für einen aktuellen Wissenschaftsbegriff bedeuten? Auf einer zweiten Ebene wird es im Weiteren also auch in einem grundsätzlicheren, in einem recht wörtlich Grund-legenden Sinn, um das Verhältnis Künste-Philosophie-Wissenschaft gehen, bzw. um die Möglichkeit einer – punktuellen, innerhalb eines kleinen und spezifischen Bereichs vonstattengehenden – Rekonfiguration dieses komplizierten Dreiecksverhältnisses. Mehr hierzu später. Bevor zur Einleitung übergegangen wird, vorab noch einige Anmerkungen allgemeiner Art: Intention der vorliegenden Untersuchung ist es nicht, Erkenntnisse für ein bereits existentes Forschungsfeld zu liefern, sondern im Hinblick auf ein potentiell mögliches. Dementsprechend richtet sich dieses Buch nicht an ein bereits heute konstituiertes Fachpublikum, sondern vielmehr an Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund, an KünstlerInnen, ArchitektInnen, PhilosophInnen, SoziologInnen, Stadt- und LandschaftsforscherInnen, die Interesse und Freude an transdisziplinären Grenzüberschreitungen haben.1 Sprachlich ist der Text so gehalten, 1

Ein Hinweis vorweg: Es mag zuweilen, etwa in der Einleitung, so wirken, als richte sich diese Untersuchung gegen andere Bereiche. Dem ist nicht so. Im Gegenteil: Differenzie-

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dass keine unnötigen Hürden aufgebaut werden. Wenn Fachbegriffe oder Namen von Personen, in der Regel PhilosophInnen oder KünstlerInnen, die im Kontext der Untersuchung öfter Erwähnung finden, auftauchen, so werden diese bei der ersten Nennung erläutert bzw. kurz vorgestellt (wenn nicht im Text selbst, dann in der Fußnote2). Was ein geschlechtsneutrales Formulieren betrifft, so ist es leider nicht immer gelungen, eine Gender-korrekte Ausdrucksweise zu verwenden. Die Leser, Leserinnen, LeserInnen oder auch Leser_innen mögen dies verzeihen. Allgemein wird der Versuch gemacht, in der dritten genannten Variante, also mit großgeschriebenem Binnen-I, zu formulieren, was jeden Menschen gleichermaßen einschließen soll. Stellenweise, wo es die Sachlage erfordert, etwa im Kontext traditioneller künstlerischer oder ästhetiktheoretischer Ansätze, wird gezielt die maskuline oder feminine Form verwendet. (Vom Klischee des männlichen Malers und seiner weiblichen Muse als ‚KünstlerInnen und Diesen-als-Muse-dienenden-Mitmenschenʻ zu sprechen macht nicht viel Sinn, wenn auf ebendieses Klischee als Klischee Bezug genommen wird.) In methodischer Hinsicht geht die Untersuchung fallspezifisch vor: Philosophische Texte bedürfen einer anderen Art der Auseinandersetzung als künstlerische Vorgehensweisen. Jeder der involvierten Bereiche muss dementsprechend mit einer eigenen, adäquaten Methodik behandelt werden. Im Feld Philosophie ist es möglich, schriftlich fixierte Gedanken wörtlich zu zitieren, sie hinsichtlich spezifischer Fragestellungen sachlich-neutral zusammenzufassen und Argumentationsketten, wo nötig, einer kritischen Analyse zu unterziehen. Angesichts der installativen Kunstpraxis gilt es dagegen, eine eigene Methodik zu entwickeln: Mittel der Wahl ist hier nicht das Heranziehen von Sekundärquellen – philosophischen oder kunsthistorischen Reflexi-

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rungen (gegenüber anderen Bereichen), sind notwendig, sollten aber nicht mit Differenzen (zu anderen Bereichen) verwechselt werden. Vielmehr wird, was bspw. die Soziologie oder ein naturwissenschaftliches Wahrnehmungsforschen betrifft, von einer potentiell wechselseitig befruchtenden Beziehung ausgegangen. Dies dürfte mit dem Fortschreiten der Untersuchung sukzessive, bis zum Schlusskapitel hin, in dem es explizit um die Möglichkeit einer erweiterten trans- und interdisziplinären Vernetzungsmöglichkeit geht, auch hinreichend deutlich werden. Was den Bereich Architektur anbelangt, so ist das im Weiteren Verhandelte nicht als Absage an diesen zu verstehen. Kritisiert wird Architektur allein im Sinn eines universellen Betrachtungs- und Beschreibungsparadigmas. Was Architektur als Baupraxis anbelangt, so kann eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt vielmehr als produktiver Beitrag zu einem bestimmten (anderen) Architekturverständnis, einer bestimmten (anderen) Herangehensweise innerhalb der Architektur aufgefasst werden bzw. als Bestärkung spezifischer Positionen und Haltungen gegenüber anderen innerarchitektonischen Positionen und Haltungen. Das Spektrum, in dem Ausführungen zu Fachbegriffen und Personen erfolgen, ist weit: Es reicht von der Hinzufügung eines erklärenden Adjektivs bis zur Wiedergabe eines längeren Zitats oder Lexikoneintrags. Im Hinblick auf die Rolle von Fußnoten bedeutet dies: Sie werden zahlreich sein, nicht aber für das Textverständnis unerlässlich. Vielmehr stellen sie ein Angebot dar, selbst zu entscheiden, ob im Fließtext etwas Erklärungsbedürftiges auftaucht bzw. ein Detailpunkt besondere Neugier weckt und zu einem Weiterlesen im Subtext animiert. In diesem Sinn sind auch Querverweise zu verstehen: als rein optionales Angebot für ein Nachschlagen oder Weiterlesens an anderem Ort.

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onen, die über die Künste angestellt werden –, sondern das Arbeiten mit künstlerischen Primäraussagen. Gemeint sind damit Ausführungen von KünstlerInnen, die diese im Rahmen von Interviews, Skizzenbucheinträgen, Texten oder Buchveröffentlichungen selbst tätigen. Der Gedanke, ein jeweiliges Gebiet gleichsam aus sich selbst heraus sprechen zu lassen, beruht auf der Grundverortung dieser Arbeit, die nicht unerwähnt bleiben sollte. Die vorliegende Untersuchung orientiert sich an einem Anti-Essentialismus wittgensteinscher Prägung. Oder in anderen Worten: Es geht nicht darum, möglichst schnell zum Ziel zu gelangen und dabei Dinge so verknappt wie möglich auf ‚den einen Punktʻ zu bringen; sondern vielmehr darum, das aufzudecken, was sich beim Durchgang durch ein jeweiliges Themengebiet von selbst zeigt. Dies muss keineswegs immer der harte Kern einer Sache sein, es kann sich auch um Beziehungsgefüge, Vernetzungen, Querverbindungen handeln. Das treffende Bild für den Charakter der Untersuchung wäre somit nicht das teleologische des Pfeils, der sich gradlinig auf ein Ziel ausrichtet und dieses auf kürzestem Weg erreicht, sondern das topologische des Weges. Dieser führt im Lauf der einzelnen Kapitel durch unterschiedliches Terrain, wobei stets der Umgebung, in der man sich gerade befindet, die notwendige Aufmerksamkeit zuteilwerden muss (was auch den Hinweis auf mögliche Weggabelungen und Sackgassen einschließt, ohne dass dies im Umkehrschluss bedeutet, dass in alles, was aufgezeigt wird, eingelenkt werden müsste). Eine solche bildhafte Beschreibung mag für den Augenblick abstrakt anmuten. Was damit gemeint ist, dürfte im Lauf des Lesens aber schnell klar werden. Zudem hat das Beschriebene zwei konkrete Konsequenzen, die sich bereits jetzt, vorab, angegeben lassen: Eine erste betrifft den Gebrauch von Begriffen: Es werden prinzipiell keine Definitionen gegeben, da diese Untersuchung davon ausgeht, dass ein Begriff seine nähere Bedeutung erst durch einen konkreten Kontext erhält, somit der Versuch einer genauen Begriffsbestimmung, bevor ein solcher Kontext gegeben ist, weder möglich noch förderlich wäre. Was im Hinblick auf zentrale Termini der Untersuchung an Stelle von Definitionen gegeben wird, sind operative Bestimmungen, die den allgemeinsprachlichen Horizont eines Ausdrucks umreißen und einen potentiell möglichen spezifischeren Horizont vorskizzieren bzw. angesichts von Benennungen (im Sinn von Eigennamen, etwa einer philosophischen Schule oder Kunstform) mögliche Merkmale als solche, also als allein mögliche Merkmale, anführen. Die zweite konkrete Konsequenz betrifft die möglichen Rezeptionsweisen dieses Buches. Wer sich für die übergeordnete Fragestellung interessiert, nämlich: wie man heute zu einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt gelangt, der sollte sich auf den gesamten, durchaus mühsamen, hoffentlich aber lohnenden Weg machen und das komplette Buch von vorn bis hinten durchgehen. Wer dagegen eher an spezifischen Themengebieten und Fragestellungen interessiert ist, der kann sich auch einzelnen Abschnitten zuwenden. So setzt sich der erste Teil des Buches mit dem historischen und aktuellen Verhältnis von Philosophie und Künsten anhand der Frage ‚Was ist Ästhetikʻ auseinander. Teil II gibt eine Einführung in das vergleichsweise junge – und im deutschsprachigen Raum als solches leider noch allzu wenig beachtete – Feld der philosophischen Alltags- und Umweltästhetik, die mittels der exemplarischen Vorstellung zweier signifikanter Einzelpositionen, derjenigen Gernot Böhmes und Arnold Berleants, vertieft wird. Teil III setzt sich mit architektur- und ortsbezogener Installationskunst – also etwa den Arbeiten einer Rachel Whiteread, eines

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Bruce Nauman oder Ilya Kabakov – nicht im Sinn eines ‚Genresʻ, das ‚Kunstwerkeʻ produziert, auseinander, sondern im Sinn eines Feldes, innerhalb dessen im Zuge künstlerischer Arbeitsprozesse Erkenntnisse generiert werden. Das letzte Kapitel dieses Abschnitts und Teil IV thematisieren schließlich die Frage, wie eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, im Sinn einer kollaborativen Forschungspraxis, die sich aus den zuvor behandelten Bereichen konstituiert, konkret aussehen könnte. Dies bezieht auch einen Ausblick in die künftig mögliche anwendungsorientierte Forschungspraxis und das disziplinäre Umfeld mit ein, in dem sich ein derartiges Forschen künftig verorten könnte. Nun zur Einleitung: In dieser möchte ich, zunächst noch recht allgemein und weitgehend vortheoretisch, in das alltägliche Wahrnehmen (gebauter) menschlicher Umwelten als thematisches Gegenstandsgebiet einführen. Eine solche Einführung ist aus zweierlei Gründen sinnvoll: Zum einen kann hierdurch vorab, noch bevor die eigentliche Untersuchung beginnt, ein Eindruck davon vermittelt werden, womit eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sich befasst; zum anderen wird in diesem Zug sogleich deutlich werden, inwiefern aktuell nicht allein die Möglichkeit für ein kollaboratives, künstlerisch-philosophisch basiertes Forschen gegeben ist, sondern echter Bedarf für dieses besteht. (Wohlgemerkt handelt es sich bei dem im Weiteren thematisierten Gegenstandsgebiet aber nicht um den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung im engeren Sinn, sondern um das, was die Forschung, die die vorliegende Untersuchung zum Ziel hat, als ihr Gegenstandsgebiet identifiziert. Diese Differenzierung ist wichtig. Eine detailliertere Darstellung des Weges, der zu besagter Forschung führt, somit des konkreten Inhalts der vorliegenden Untersuchung, schließt gegen Ende der Einleitung an.)

Einleitung

Die (gebaute) menschliche Umwelt (Gebaute) menschliche Umwelten treten im Alltag in unterschiedlichster Form und auf unterschiedlichste Weise in Erscheinung. Naheliegend ist es, in diesem Kontext an materiell Gebautes, im Sinn von Zimmern und Gebäuden, zu denken; und dies in einer weiten Spanne, von privaten Zimmern und Wohnungen, über öffentlich zugängliche Innenräume wie Cafés, Buchhandlungen, Friseursalons, bis hin zu Kirchen, Bahnhofshallen oder Einkaufszentren. Auch innerstädtische Bereiche mit ihren Straßen und Plätzen, Infrastruktureinrichtungen wie Autobahnen, Eisenbahntrassen, Kanälen, oder Siedlungen als ganzes, Dörfer und Städte in ihrer Gesamtheit, mögen einem in diesem Kontext in den Sinn kommen. Beispiele wie die genannten bilden einen wichtigen und nicht zu vernachlässigenden Bestandteil der (gebauten) menschlichen Umwelt. Allerdings lässt sich diese nicht auf ‚Gebautesʻ im herkömmlichen Sinn beschränken: Setze ich mich in mein Auto und schließe die Tür, befinde ich mich bereits in meiner eigenen, kleinen Umwelt. Diese befindet sich ihrerseits in einer weiteren, den eigenen Mikrokosmos umgebenden, Makro-Umwelt. Aber jedenfalls für die Zeitspanne, in der ich mich in der geschlossenen Kapsel meines Wagens aufhalte, kümmert mich dies wenig. Denn in dem Moment, in dem ich die Autotür schließe, habe ich inmitten meiner eigenen kleinen Mikro-Umwelt Ruhe vor dem umgebenden Trubel ‚da draußenʻ. Fahre ich nun mit dem Auto zu einem nahe gelegenen Park oder Wald, steige aus und gehe spazieren, mache ich erneut all das, was mich umgibt, und sei es erneut nur für die Zeitdauer der eigenen Anwesenheit, zu einer menschlichen Umwelt (i.e. einer Welt, die mich, als Mensch, umgibt). Freilich ist diese Umwelt nicht ‚gebautʻ in dem Sinn, wie es Häuser sind. Aber während es sich beim Auto noch eindeutig um ein menschliches Artefakt handelt, erweist sich auch der Park, mit seiner wohl abgewogenen Mischung aus Bäumen und Grünflächen, Wegen und Wasserläufen, bei genauerem Hinsehen als Effekt menschlichen Tuns. Ja, selbst der vermeintlich so natürliche Wald zeigt sich auf den zweiten Blick von künstlichen Schneisen, von Spazierund Holzwegen durchzogen, während seine Bewohner, Tiere und Pflanzen, der menschlichen Artenregulierung, dem Einsatz von Pestiziden, dem Einfluss sauren Regens oder dem durch den Menschen herbeigeführten Klimawandel ausgesetzt sind. Kurz: Der menschlichen Umwelt ist, dies gilt jedenfalls für den Menschen, schwer zu entkommen. (Und dies gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen, da sich auf der Erde heute kaum mehr ein Ort finden lassen dürfte, der wirklich gänzlich frei von mensch-

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licher Beeinflussung ist; zum anderen, weil Menschen die Eigenart an sich zu tragen scheinen, ihr Menschsein überall dorthin, wo sie sich hinbewegen, mitzunehmen.) Desgleichen gilt allerdings auch in umgekehrter Richtung: Denn die ‚natürliche Umweltʻ macht ihrerseits vor dem Menschen nicht halt. Sie mag sich in Gestalt eines Waldes, eines Parks oder eines Blumenbeets temporär, unter ständiger Beaufsichtigung, domestizieren lassen. Dennoch schleicht sich unerwünschtes Unkraut in den akkurat gepflegten Vorgarten, Efeu klettert ungefragt Hauswände empor, Grün macht sich zwischen Gehwegplatten breit, Wespen nisten unter dem Dach, Hausstaubmilben starten gleich zu Tausenden eine Invasion in reinlich gepflegte Wohnräume. Und nicht nur Klima und Wetter – Hagel, Stürme, Hitze, Kälte, Schwüle – lassen sich vom Menschen nicht einfach abstellen. Letztlich ist es auch ‚die Naturʻ am und im Menschen selbst, die sich in Form von Wachstum, Alterung, Krankheit, Genesung, Gebrechen, Tod nicht kurzerhand ausschließen lässt. So wie der Mensch noch den letzten Winkel der Erde, und sei es in einer homöopathischen Dosis, beeinflusst, so dringt umgekehrt die Natur in den letzten Winkel des Menschseins vor (oder richtiger: Sie hat dort einen festen Platz, ein Dauerabonnement gewissermaßen, das trotz aller post-humanen Visionen, sich in ,reine Seeleʻ, ‚reinen Geistʻ, ‚reinen Diskursʻ, ‚reine Virtualitätʻ verwandeln zu können und sich somit auf ein körperloses, naturfreies Etwas hin zu transzendieren, unkündbar bleibt1). Macht man sich diese wechselseitige Verwobenheit vollends bewusst, so erscheint der Versuch, eine Grenze im Sinn einer strikten Trennlinie zwischen natürlichen und gebauten menschlichen Umwelten zu ziehen, kaum sinnvoll. Allenfalls können die Regionen, mit denen man sich befassen möchte, im Sinn einer Ortsangabe näher spezifiziert werden. Aus diesem Grund (der später noch genauer erläutert werden wird) soll im Weiteren von ‚(gebaute) menschliche Umweltʻ, bzw. von ‚(gebaute) menschliche Umweltenʻ in dieser speziellen Form die Rede sein. Das InKlammern-Setzen der spezifizierenden Ortsangabe ist dabei nicht als Unentschiedenheit, sondern im Gegenteil als Präzisierung zu verstehen und durchaus wörtlich, um nicht zu sagen, programmatisch zu nehmen: Denn um sich der menschlichen Umwelt als alltäglichem menschlichen Wahrnehmungskontext auf forschende Weise anzunähern, gilt es, auch wenn der Aspekt des ‚Gebautseinsʻ eine durchaus nicht zu unterschätzende Rolle spielen mag, eben diesen einzuklammern (nicht, ihn zu streichen, aber: ihn einzuklammern2). ‚(Gebaute) menschliche Umweltʻ und ‚Architekturʻ Nicht entlegene Regionen des Menschseins, Urwälder, die Tiefsee oder Mondlandschaften, sind also gemeint, wenn im Weiteren von der ‚(gebauten) menschlichen Umweltʻ die Rede ist, sondern Umgebungen, mit denen viele Menschen in ihrem alltäglichen Umgang regelmäßig konfrontiert sind. Dies ist, zugegeben, eine weiche 1

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Inwiefern eine Angebundenheit an ‚das Natürlicheʻ nicht, im Sinn eines naturalistischen Fehlschlusses (also eines Denkens, das das, was sich als aktueller Status quo beobachten lässt, zur allgemeinen Regel und Norm erhebt) mit einer naturgegebenen Determiniertheit zu verwechseln ist, wird später noch zu diskutieren sein. Siehe hierzu allgemein Kap. 3-5, insbesondere Kap. 11. Zur auf Edmund Husserl zurückgehenden phänomenologischen Methode der ‚Einklammerungʻ siehe: Kap. 4.1.

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und durchaus dehnbare Begrenzung des Gegenstandgebiets. Um eine Definition, die ‚essentielleʻ, also auf das Wesen einer Sache gerichtete Merkmale zu bestimmen sucht, handelt es sich hierbei gezieltermaßen nicht. Eben dieser Punkt ist es auch, der unmittelbar zu jenem Begriff überleitet, der sich im gegebenen Kontext nur allzu leicht aufdrängt – und zwar zu jenem der ‚Architekturʻ. Inwiefern unterscheidet sich das Gegenstandsgebiet der (gebauten) menschlichen Umwelt von dem der Architektur? Zur Klärung dieser Frage sollte theoretisch ein Blick auf die Begriffe weiterführen. Allerdings: So sehr mit einer einfachen Begriffsbestimmung angesichts der Omnipräsenz des Ausdrucks ‚Architekturʻ in der Alltagssprache zu rechnen ist, so unterschiedlich nehmen sich diesbezügliche Bestimmungen, gerade von ExpertInnen-, sprich: ArchitektInnenseite her, aus. Manche wollen unter ‚Architekturʻ die Schaffung von Nutzbarem, Schönem, Dauerhaftem verstanden wissen (Vitruv); andere betonen den Aspekt des Umgangs mit dreidimensionalen Baukörpern (Le Corbusier)3 oder jenen eines Arbeitens mit Raum (Philip Johnson)4; wieder Andere weisen auf die gesellschaftliche Rolle oder das Berufsbild der ArchitektIn hin, wie in folgendem Lexikoneintrag nachzulesen: „Architektur kann definiert werden als die Gemeinschaftsleistung der im Bauwesen Tätigen, als deren Resultat dauerhafte Bauten für die verschiedensten Lebensnotwendigkeiten entstehen [...]“.5 Auch die etymologische Herleitung gibt keinen eindeutigen Hinweis, denn ‚architectusʻ (lat.) oder ‚architéctonʻ (altgr.) meint nicht etwa, wie zuweilen von ArchitektInnen selbst zu hören, so etwas wie eine erste, grundlegende oder vorrangige Kunst (von altgr. ‚archéʻ = ‚altʻ), sondern ‚oberster Zimmermannʻ (von ‚archeinʻ/‚archosʻ = ‚Ober-ʻ, ‚Haupt-ʻ, ‚Führerʻ und ‚téktonʻ = ‚Zimmermannʻ).6 Ebendies, nämlich Handwerker, sind ArchitektInnen von heute aber nicht. Die Meinungen darüber, was ein vermeintliches ,Wesen der Architekturʻ ausmacht, mögen divergieren. Bezüglich des Verhältnisses von ‚Architekturʻ und ‚(gebauter) menschlicher Umweltʻ dürften aber vor allen Dingen zwei Aspekte von Bedeutung sein: Erstens jene Tatsache, auf welche der oben wiedergegebene Lexikoneintrag hinweist, nämlich, dass es mit dem Aufkommen des Berufsbildes und der Bezeichnung des ‚Architektenʻ und der ‚Architekturʻ im Zeitalter der Moderne (etwa seit dem 16. Jahrhundert und somit der Epoche der Renaissance7) zu einer zuneh3 4 5 6 7

Vgl. Kap. 3, Fn. 92. Vgl. Kap. 3, Fn. 74. Wolf Stadler (Hrsg.), Lexikon der Kunst in zwölf Bänden – Malerei, Architektur, Bildhauerkunst, Bd. 1 (Freiburg: Herder, 1987) S.239. Siehe: Bernhard Schäfers, Architektursoziologie (Opladen: Leske+Budrich Verlag, 2003) S.14-18. Vgl. Bernhard Schäfers: „Vitruvs ‚Zehn Bücher [über Architektur – Einfügung B.H.]ʻ gehören zu den ersten gedruckten Schriften seit Erfindung der Buchdruckerkunst mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (um 1400-1468). Bereits 1487 lag die erste Buchausgabe vor; 1497 die dritte (Fensterbusch 1976: 13). Durch Vitruvus Werk und Leone Battista Albertis (1404-1472) einflussreiche Abhandlung ‚De re aedificatoriaʻ (Von der Baukunst), die 1452 veröffentlicht wurde und die die erste der dann zahlreichen Schriften über die Architektur in der Renaissance war, wurden die Begriffe ‚Architektʻ und ‚Architekturʻ gebräuchlich. Im deutschsprachigen Raum blieben jedoch die Bezeichnungen

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menden Professionalisierung kommt, was innerhalb heutiger industrialisierter bzw. postindustrieller Gesellschaften, die in großem Umfang arbeitsteilig organisiert sind, mit sich bringt, dass ArchitektInnen nicht mehr, wie noch die Baumeister von einst, selbst Hand anlegen. Vielmehr sind sie für die Planung, die Konzeption, das Design, die Visualisierung, die Kostenberechnung – kurz: für eine Fülle an Aufgaben zuständig, nicht aber für die eigenhändige Ausführung. (Dieser Punkt wird später, im Kontext künstlerisch-installativer Ansätze zur (gebauten) menschlichen Umwelt, die sich diesbezüglich anders verhalten, noch eine Rolle spielen.) Zweitens erscheint beachtenswert, dass es im Wandel vom architécton als oberstem Handwerker zum modernen Berufsbild der ArchitektIn zu einer, wie man sagen könnte, seltsamen Doppelung kommt: So werden mit der Trennung von Ersinnendem und Ausführenden allerhand Mittel und Methoden notwendig, um eine möglichst exakte Vorstellung des zu Bauenden an andere weiterzugeben. Präzise Darstellungen und Pläne werden benötigt: Gebäudeansichten, Aufsichten, perspektivische Darstellungen, Grundrisspläne, Aufrisse, Schnitte durch Gebäude hindurch, bis hin zu aufwändigen Visualisierungen und dreidimensionalen Computeranimationen. Dabei wird von der alltäglichen, erfahrbaren Realität der (gebauten) menschlichen Umwelt gleichsam eine Haut abgezogen. Sie wird geschieden in ‚wesentliche Aspekteʻ und ‚unwesentliche Aspekteʻ. Alles, was leicht mathematisierbar, mit Maßen und Zahlen zu versehen ist, was in geometrische Formen übersetzt oder berechnet werden kann, wird wesentlich. Alles, was keine sogenannten ‚primären Qualitätenʻ (wie Zahl, Größe, Härte), sondern ‚sekundäre Qualitätenʻ (Geruch, Geschmack, Farbe u.a.) besitzt, wird zweitrangig. Das, was nicht statisch, materiell, dauerhaft ist, wird schlichtweg irrelevant.8 Wollte man diesen nicht-unwesentlichen, da selbst auf einen vermeintlich festen Wesenskern hin gedachten Aspekt der eigenen Denkungsart entsprechend definitionsartig zusammenfassen, man könnte sagen: Architektur, das ist der Versuch, die (gebaute) menschliche Umwelt zu essentialisieren; ihr neben einer realen, einmaligen, physisch erfahrbaren Präsenz, eine zweite Realität im Reich der Ideen zu geben; das Unüberschaubare und Materielle, in eine überschaubare geistige Schöpfung zu verwandeln. 9 Die Allumfassendheit, mit der alltägliche menschliche Umgebungen

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‚Baumeisterʻ und ‚Baumeistereiʻ bis ins 19. Jh. üblich.“ Bernhard Schäfers, Architektursoziologie; a.a.O., S.15. Zur Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten siehe Kap. 3.2. Tiefere Einblicke in die metaphysisch grundierte, philosophische, später auch wissenschaftliche Aufspaltung des Wahrnehmbaren in ‚wesentlicheʻ und ‚unwesentlicheʻ Aspekte gibt Thomas Rentsch, in: Thomas Rentsch, Die Autonomie der Phänomene. – Zur Rehabilitierung der Farbe in der modernen Philosophie, in: ders., Negativität und praktische Vernunft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000) S.335-350. Platon, in seiner bekannten Geringschätzung der Künste, wäre mit dieser Darstellung sicherlich einverstanden, hielt er doch die Baukunst (als herstellende, rechnende – und nicht allein ,nachahmendeʻ Kunst) für weniger trugbildhaft und somit weniger potentiell schädlich als andere Künste. Hegel hingegen konnte einer Kunstform, die derart offensichtlich am Materiellen haftete wie die Architektur, nur wenig Geistiges abgewinnen und stufte sie dementsprechend niedrig ein. Die oben erwähnte, zuweilen von ArchitektInnen zu hörende Selbstbeschreibung als ‚erste Kunstʻ, dürfte in diesem Sinn auf Hegel zurückgehen, der in der Tat eine entsprechende Einordnung vornimmt. Sie überliest jedoch die deutliche

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nicht allein im Begriff der ‚Architekturʻ gedacht und in deren konzeptionellem Spiegelbild betrachtet, sondern letztlich, in der Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung, auch nach deren Vorstellung geformt werden, sollte jedoch – und hier findet sich ein erster Ansatzpunkt für eine kritische Unterscheidung zwischen den Ausdrücken ‚Architekturʻ und ‚(gebaute) menschliche Umweltʻ – nicht vergessen lassen, dass es sich bei ‚Architekturʻ als einem qualitativ-beschreibenden wie normativ-wertenden Begriff um ein durchaus spezifisches Betrachtungsparadigma handelt, wie es insbesondere in den urbanen Kontexten unserer eigenen, also der sogenannten ‚westlichen Weltʻ (von New York bis Tokio, von Sydney bis Helsinki) anzutreffen ist und wie es vielleicht erst wirklich mit der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts zur vollen Entfaltung gelangen konnte. Um einige Beispiele zu geben: Während der Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann zur Zeit Napoleons III. – also Mitte des 19. Jahrhunderts – noch Breschen in Form breiter Avenuen in das gewachsene Stadtbild von Paris schlug, um Übersicht und Einsicht in das Unüberschaubare zu erhalten, sah Le Corbusier, als Vertreter der klassischen modernen Architektur des 20. Jahrhunderts, gleich den Totalabriss der Pariser Altstadt vor. Was an deren Stelle treten sollte, war ein uniformes Raster an identischen Hochhäusern, das keinerlei organischgewachsene Unüberschaubarkeit mehr duldet. (Selbst auf Le Corbusiers eigenem Plan nimmt sich dieses Raster – mit seiner regelmäßigen Verteilung kreuzförmiger Gebäudegrundrisse – eher wie eine Schraffur, eine abstrakte Chiffre für Stadt aus, wobei die Grundrisse der Gebäude den Tod der alten, gewachsenen Stadt zu symbolisieren scheinen.) Sicher handelte es sich bei Le Corbusiers Entwurf um einen gezielt provokanten und von vornherein utopischen Konzeptvorschlag. Gleichwohl kommt darin auf drastische, letztlich aber nur bezeichnende Weise eine architektonische Haltung gegenüber der alltäglichen (gebauten) menschlichen Umgebung zum Ausdruck, die nichts, was sich ihrer Einflusssphäre entzieht, neben sich duldet, und nichts, was in ihrer Einflusssphäre liegt, ungestaltet lässt. Eine real verwirklichte Vision der Architektur der Moderne findet sich in der von Oscar Niemeyer und Lúcio Costa synthetisch, da komplett auf dem Zeichentisch entworfenen Stadtneugründung Brasilia, als designiertem Regierungssitz Brasiliens. Die totale Übersicht, die der Architekt hier, als frei über dem Plan oder Modell schwebendes Auge (und nicht etwa als realer physisch-verfasster Mensch, der in einer konkreten Umgebung eingebettet ist), zum Einsatz bringt, findet in dieser eine metaphorische Entsprechung in der Gestalt der geplanten Stadt: Denn nicht nur ist diese, gemäß dem architektonischen Programm der Moderne, säuberlich hinsichtlich unterschiedlicher Funktionen getrennt, auch bildet ihr Grundriss, von oben gesehen, die Umrissform eines Vogels oder Flugzeugs nach. Der Architekt, der frei über den Dingen schwebt, projiziert hier gleichsam seinen eigenen Standpunkt der absoluten Ordnung und visuellen Übersicht aus der Luft heraus in die von ihm entworfene Stadt und tritt dabei in einen Dialog mit sich selbst. Während die urbane Umrissform den Bewohnern, die sich ‚dort untenʻ im städtischen Gefüge bewegen, in ihrem AllNegativzeichnung der Architektur, die damit bei Hegel einhergeht, etwa wenn dieser formuliert: „Das Material dieser ersten Kunst ist das an sich selbst Ungeistige, die schwere und nur nach den Gesetzen der Schwere gestaltbare Materie“. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986); S.258f; Platon, Politeia (Stuttgart: Reclam, 2000). Siehe auch Kap. 3.4.

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tag zwangsläufig verschlossen bleiben muss, ist sie auf Plänen, für andere ArchitektInnen, sowie aus der Vogelperspektive heraus – dem eingeborenen Standpunkt des planenden Auges des Architekten – klar zu erkennen.10 Architektur im Spiegel der (gebauten) menschlichen Umwelt Der Gedanke der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts, Städte und Gebäude gleich Maschinen in unterschiedliche Funktionen zu zergliedern, hat mittlerweile, im Zuge der architektonischen Postmoderne und weiterer selbstreflexiver Wendungen, eine kritische Brechung erfahren. Dies ändert aber nichts daran, dass sich bestimmte Maximen – absolute Planbarkeit (respektive: Ausschluss des Nicht-Planbaren, des Nicht-Statischen, des Nicht-Dauerhaften), Reduktion auf essentielle, wesenhafte Momente (mathematisch angebbare Größen, geometrisch erfassbare Formen, technisch beschreibbare Materialien), totale gedankliche Übersicht (von einem frei schwebenden, nirgends konkret verorteten Standpunkt aus) – bis heute als architektonische Leitprinzipien erhalten haben. Weicht man dagegen von einem der oben angesprochenen Parameter – also jenem der Verortung in der westlichen Welt und in der eigenen unmittelbaren Gegenwart – ab, so beginnt die Differenz zwischen ‚Architekturʻ und dem, was die alltägliche Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelt ausmacht, deutlich zu Tage zu treten. Denn weder in der Geschichte noch in anderen Regionen der Erde zeig(t)en sich Städte, Dörfer, Siedlungsgefüge derart massiv von planvollen, architektonischen Eingriffen bestimmt wie im Hier und Heute westlicher Städte. 11 Hierzu folgt ein 10 Der Denker, Philosoph, Historiker und Jesuit Michel de Certeau beschreibt den allumfassenden Blick des planenden, dabei selbst nirgends verorteten architektonischen Auges wie folgt: „Der Wille, die Stadt zu sehen, ist den Möglichkeiten seiner Erfüllung vorausgeeilt. Die Malerei [...] der Renaissance zeigte die Stadt aus der Perspektive eines Auges, das es damals noch gar nicht gab […]. Die Maler erfanden gleichzeitig das Überfliegen der Stadt und den Panoramablick, der dadurch möglich wurde. Bereits diese Fiktion verwandelte den mittelalterlichen Betrachter in ein himmlisches Auge. […] hat sich daran etwas geändert, seitdem technische Prozeduren eine ‚alles sehende Machtʻ organisiert haben […]? Das alles überschauende Auge, das von den alten Meistern erdacht wurde, überlebt in unseren heutigen Errungenschaften. Die Benutzer der architektonischen Schöpfungen werden immer noch von demselben skopischen Trieb geleitet, indem sie heute die Utopie verwirklichen, die früher nur gemalt war. […] Die Panorama-Stadt ist ein ‚theoretischesʻ (das heißt visuelles) Trugbild, also ein Bild, das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustande kommt. Der Voyeur-Gott [gemeint sind ‚Raumplaner, Stadtplaner oder Kartographenʻ, sprich, wie im Kontext dieser Einleitung gesagt wird: ‚der architektonische Blickʻ – Anmerkung B.H.], der diese Fiktion schafft […], muß sich aus den undurchschaubaren Verflechtungen des alltäglichen Tuns heraushalten und ihm fremd werden.“ Michel de Certeau, Kunst des Handelns (Berlin: Merve-Verlag, 1988) S.181. 11 Sicher finden sich Stadtgründungen, die mit einem Mal einen Ort nach geplantem Schema entstehen lassen, bereits in römischer und griechischer Zeit, ebenso wie im Alten Ägypten, in China oder Lateinamerika. Allerdings zerfiel dieses Schema in der Regel bald wieder und wurde durch zivilisatorische Prozesse überformt. In diesem Sinn schildert Richard Sennett in seinem Buch Fleisch und Stein die Situation, wie sie sich im Europa des Mittel-

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Zitat, in welchem eine Person (der genauere Kontext tut an dieser Stelle nichts zur Sache) von Europa her kommend einen Landeanflug auf Kinshasa, die Hauptstadt des Kongo, erlebt: Vom Flugzeug aus gesehen ähnelt Kinshasa einer Termitenkönigin, aufgebläht bis zur Unförmigkeit und zitternd vor Emsigkeit, immer beschäftigt, immer weiter anschwellend. In der flirrenden Hitze erstreckt sich die Stadt am linken Flussufer. Gegenüber liegt ihre Zwillingsschwester Brazzaville, kleiner, frischer, glänzender. Die Bürotürme dort haben verspiegelte Fensterscheiben. [...] in Brazzaville sieht Kinshasa freilich sein eigenes armseliges Bildnis widergespiegelt. [...] Ein Schachbrett aus rostigen Wellblechdächern [...] Grundstücke mit dunkelgrünem Laub [...] die Grisaille der cite, der einfachen Wohnviertel von Kinshasa, die scheinbar nie enden [...]. Die Avenue Lubumbashi [...] eine schnurgerade Achse, in die zahlreiche kleine Straßen und Gassen münden, die jedoch nie asphaltiert wurde. Es ist Regenzeit, manche Pfützen sind groß wie Schwimmbecken. Selbst der geschickteste Taxifahrer bleibt hier stecken. Der pechschwarze Schlamm spritzt dann unter den quietschenden Reifen hoch und beschmutzt den klapprigen [Wagen des – Einfügung B.H.] fluchenden Taxifahrer[s].12

In dieser Schilderung nähern wir, die Lesenden, uns zunächst in gewohnter architektonischer Manier der (gebauten) menschlichen Umwelt Kinshasa aus der Luft heraus: Wir überfliegen eine schnurgerade Achse und schachbrettartige Gebäudearrangements – als in architektonischen Maßstäben immerhin noch fassbaren Ordnungsstrukturen –, um schließlich, recht abrupt, mitten zwischen Wellblechdächern in einer schwimmbeckengroßen, schwarzschlammigen Pfütze zu landen. Diese kurze Darstellung verrät viel; und dies gleich in doppelter Hinsicht: So holt uns die Schilderung innerhalb weniger Sätze aus der freien Übersicht der Vogelperspektive herab auf den harten – in diesem Fall schlammigen Boden der Tatsachen. Die real erfahrbare Umwelt Kinshasa erweist sich dabei bereits beim ersten Bodenkontakt als alles andere, als jene eigenschaftslose zweidimensionale Fläche, auf welcher Oscar Niemeyer, Lúcio Costa, Le Corbusier ihre Städte planen. Schön an dieser Schilderung, im Sinn von aufschlussreich, ist freilich zudem, dass uns der Berichterstatter die eigene alters darbot, wie folgt: „Nur in römischer Zeit gegründete Städte besaßen einen Straßenund Gesamtplan, und die römischen Gitterpläne waren, außer in wenigen Städten wie Trier und Mailand, vom Wachstumsprozeß in unzusammenhängende Teile auseinandergebrochen worden. Weder König noch Bischof noch Bürger hatten eine Vorstellung davon, wie die Stadt als Ganzes aussehen sollte. […] Es wurde völlig willkürlich und regellos gebaut.“ Die Tatsache, dass manche europäischen Städte auf eine geplante Gründung zurückgehen, ist also nicht zu verwechseln mit einem Denken in architektonischen Maßstäben der allumfassenden Planbarkeit, wie es heute nicht nur im Bereich der Errichtung von Gebäuden und Städten zum Ausdruck kommt, sondern auch in deren Erhalt und Wiederinstandsetzung. Unterschiedlichste Reglementarien, in Form von Grundstücks- und Abwasserverordnungen, Denkmalpflegerichtlinien, eines Baurechts etc. greifen tief in die (gebaute) menschliche Umwelt ein, wobei öffentliche Räume, Plätze, Parks, Straßen, Wasserwege, Fahrradwege, Gehwege, Parkplätze, Fußgängerzonen bis ins Detail hinein, bis hin zu Sitzbänken, Zäunen, Schildern, Mülleimern, Straßenmarkierungen durchgeplant werden. Zitat: Richard Sennett, Fleisch und Stein (Berlin: Berlin-Verlag, 1994) S.242. 12 David Van Reybrouck, Kongo – Eine Geschichte (Berlin: Suhrkamp, 2012) S.15.

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Bruchlandung in einer matschigen Pfütze im Spiegel des Vertrauten, nämlich der wohlgeordneten Wolkenkratzerstadt nach westlichem Vorbild (der Schwesterstadt Brazzaville) miterleben lässt. Gleichsam durch den Spiegel unseres eigenen Vorstellungsrasters hindurch blicken wir hier auf eine uns fremde Alltäglichkeit, um uns dieser erst allmählich, sukzessive, dann abrupt, mit einem Schlag, anzunähern. Nun muss man nicht bis nach Afrika reisen, um auf architektonisch Ungeplantes oder Unplanbares, wie schlammige Pfützen, zu stoßen. Mit einem anderen Autor kann man einen kleinen Gang durch eine Gasse der eigenen, nicht allzu weit entfernt liegenden Vergangenheit (konkret der des England des 19. Jahrhunderts) wagen: [...] die Häuser oder vielmehr Cottages sind in schlechtem Zustand, nie repariert, schmutzig, mit feuchten und unreinen Kellergewölben versehen; die Gassen sind weder gepflastert noch haben sie Abzüge, dagegen zahlreiche Kolonien von Schweinen, die in kleinen Höfen und Ställen abgesperrt sind oder ungeniert an der Halde spazieren gehen. Der Kot auf den Wegen ist hier so groß, dass man nur bei äußerst trockenem Wetter Aussicht hat durchzukommen, ohne bei jedem Schritt bis über die Knöchel zu versinken.13

Auch in dieser Schilderung ist mitzuerleben, wie im Handumdrehen, innerhalb eines einzigen Satzes, der Versuch einer architektonischen Darstellung (welche ein Haus einem bestimmten Gebäudetyp, nämlich der Bauform Cottage zuweist) angesichts der zu schildernden Wirklichkeit, dem Erleben eines „nie repariert[en]“, „schmutzig[en]“, „feuchten“ Etwas, kapituliert, um sich bereits einen Satz weiter auf der ungepflasterten Straße in noch unerfreulicherem als allein einer matschigen Pfütze wiederzufinden.14 13 Friedrich Engels, Die Lage der Arbeiterklasse in England; veröffentlicht 1845. Zitiert nach: Martina Löw/ Silke Steets/Sergej Stoetzer (Hrsg.), Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie (Framington Hills: Verlag Barbara Budrich, 2007) S.26. 14 Eine Randbemerkung: Interessant – auch und nicht zuletzt hinsichtlich der Verwandtschaft zu aktuellen künstlerisch-installativen Herangehensweisen, wie sie später diskutiert werden – ist in diesem Kontext, dass, während traditionelle europäische Städte sich offenbar in einem Spannungsverhältnis zwischen totalem Chaos (mit teils menschenverachtenden Zuständen als Folge) und, in der weiteren Entwicklung, totaler, architektonisch-geplanter Übersicht bewegen, manche außereuropäische Stadt von vornherein auf andere, ‚nichtarchitektonischeʻ Weise funktioniert zu haben scheint. Manche muslimisch geprägten Städte etwa scheinen auf einem immanenten (und nicht von oben und außen her übergestülpten) Wahrnehmungs- und Beziehungsgefüge aufzubauen. Hierzu noch einmal Richard Sennett: „Das mittelalterliche Kairo und das mittelalterliche Paris bildeten einen interessanten Gegensatz, auch wenn sie unserem Auge heute gleichermaßen chaotisch erscheinen mögen. Der Koran gibt genaue Anweisungen für die Platzierung von Türen und die räumliche Beziehung zwischen Türen und Fenstern. […] Gebäude mußten sich zudem in ihrer Form aufeinander beziehen, mußten einander sozusagen wahrnehmen; man konnte zum Beispiel nicht die Tür eines Nachbarn versperren. Die Religion schrieb eine kontextuelle Architektur vor [...]. Die Häuser im mittelalterlichen Paris unterlagen keinem solchen göttlichen […] Gebot […] jedes wurde ganz nach dem Willen des individuellen Eigentümers mit Fenstern und Stockwerken versehen; es kam nicht selten vor, daß ein Bauwerk den Zugang zu anderen Häusern versperrte.“ Richard Sennett, Fleisch und Stein; a.a.O., S.242.

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Die (gebaute) menschliche Umwelt aus Akteursperspektive Ein Blick in die weitere Ferne, sei sie geografisch oder historisch, kann in Erinnerung rufen, was eine gewohnte, architektonisch geprägte Sicht auf die (gebaute) menschliche Umwelt nur allzu leicht vergessen lassen könnte: Nämlich inwiefern urbane, ebenso wie suburbane, periphere oder ländliche Regionen sich durch Aspekte bestimmt zeigen, die letztlich rein ‚architektonischʻ, mittels eines essentialisierenden, die Dinge auf einen vermeintlich harten Wesenskern reduzierenden Blicks, gar nicht zu erfassen sind. Oder anders ausgedrückt: Obwohl ‚Architekturʻ in der westlichen Welt der Gegenwart ein ebenso wirkmächtiges Beschreibungsparadigma wie aktiv Einfluss nehmendes Gestaltungparadigma darstellt, ändert dies nichts an dem Rest, der bleibt, und der für die alltägliche Erfahrungsrealität des in eine konkrete Umwelt eingebetteten Menschen doch oft das Entscheidende ist. Um sich diesen Sachverhalt weitergehend – und nicht allein anhand eines unwegsamen Untergrundes – zu verdeutlichen, können Erlebnisberichte wie die soeben wiedergegebenen, die ein alltägliches Umweltwahrnehmen aus einer AkteursPerspektive heraus (bzw., wie später gesagt werden wird: aus einer Erste-PersonPerspektive) darstellen, aufschlussreich sein. In diesem Sinn noch einmal zurück nach Kinshasa: Der Verfasser obiger Schilderung ist mittlerweile gelandet und lässt seinen Blick nun, vom Boden aus, frei umherschweifen. Geleitet wird dieser nicht etwa durch bauliche Ordnungsstrukturen, durch spezifische Bauformen oder Architekturtypen, sondern die Aufmerksamkeit wird durch etwas anderes in den Bann gezogen. Und zwar: die Farben Kinshasas. Denn die Farbpalette der Stadt ist [...] abwechslungsreich, aber es sind nicht die hellen Pigmente anderer sonnenüberfluteter Städte. Nie sieht man die satten Farben von Casablanca, nie das warme Kolorit von Havanna, nie die tiefroten Töne von Varanasi. In Kinshasa verblasst jeder Farbtupfer so schnell, dass sich die Menschen anscheinend keine Mühe mehr geben: fahle Farben sind zur ästhetischen Norm geworden. Pastell dominiert, das Kolorit, auf das schon die Missionare so versessen waren. Vom kleinsten Kiosk, der Seife oder Handyguthaben verkauft, bis hin zum voluminösen Gebäude einer neuen Kirche der Pfingstbewegung, immer sind die Mauern fahlgelb, fahlgrün oder fahlblau angestrichen. Es wirkt so, als würden auch tagsüber Neonlampen brennen. Die Kästen Coca-Cola, die auf dem Innenhof der Bralima-Brauerei zu riesigen, wie Festungen wirkenden Blöcken gestapelt sind, sind nicht scharlach-, sondern mattrot. Die Hemden der Verkehrspolizisten sind nicht knallgelb, sondern urinfarben. Und auch im grellsten Sonnenlicht wehen die Farben der Nationalflagge eher stumpf. Nein, Kinshasa ist keine farbenfrohe Stadt. Die Erde hier ist nicht rot, wie anderswo in Afrika, sondern schwarz. Hinter der dünnen Schicht Pastellfarbe scheinen immer graue Mauern durch. Wenn Maurer am Boulevard Lumumba ihre Steine zum Trocknen in die Sonne legen, sieht man einen Farbfächer von Grautönen: nasse, dunkelgraue Steine neben mausgrauen, die schon lederhart sind, daneben aschgraue Exemplare. Die einzige Farbe, die wirklich hervorsticht, ist das Weiß des getrockneten Maniok.15

Beide Passagen, zunächst die Sicht des denkenden Auges aus der Luft, die von Europa her kommend nach klaren überschaubaren Ordnungsstrukturen sucht, das andere Mal die Sicht vom Boden aus, die sich von dem leiten lässt, was sich den sehenden Augen aufdrängt, nämlich den Farben Kinshasas, unterscheiden sich deutlich vonein15 David Van Reybrouck, Kongo – Eine Geschichte; a.a.O., S.15.

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ander: Während der Eindruck einer Stadt, die zunächst – im Spiegel der architektonischen Sicht – allein aus einer geraden Avenue und einem Raster aus Dächern zu bestehen schien, noch weitgehend oberflächlich blieb und eher das Klischeebild einer afrikanischen Stadt evozierte, als einen echte Impression zu vermitteln, stellt sich mittels einer vom Gesichtspunkt der Farbe geleiteten Schilderung, die sich mit den alltäglichen Dingen befasst, an welchen diese Farben haften („schwarz[e]“ Erde; „pechschwarz[er]“ Schlamm in schwimmbeckengroßen Pfützen; „dunkelgraue“, „aschgraue“ oder „mausgraue[]“ Steine, die zum Trocknen ausliegen; ein weiß herausleuchtender Haufen Maniok; graue Mauern, die dünn mit „verblasst[en]“ Pastellfarben überstrichen sind; Stapel von „mattrot[en]“ Coca-Cola-Kisten; „urinfarben[e]“ Hemden von Polizisten), ein anderer, ein auch im übertragenen Sinn nuancenreicherer Eindruck ein. Dabei sind die Farben Kinshasas, wie der Berichterstatter verrät, keineswegs exzeptionell, im Sinn von außergewöhnlich oder beeindruckend. Was sie sind, ist: spezifisch. Nun dürften es nicht die Farben allein sein, die (gebaute) menschliche Umwelten voneinander unterschieden und die das alltägliche Erleben einer Stadt – sie mag Kinshasa oder Casablanca, Havanna oder London, Berlin, Braunschweig oder Wolfenbüttel heißen – prägen. Der Autor des folgenden Tagebucheintrags nimmt uns, als Lesende, mit in das Paris der vorigen Jahrhundertwende, wobei es in diesem Fall nicht visuelle Aspekte sind, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern akustische. Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.16

Ähnlich wie angesichts der Schilderung der Farbpalette Kinshasas der Fall finden wir uns auch in diesem Erlebnisbericht bereits nach wenigen Sätzen in das intensive Erleben einer Stadt absorbiert. Obwohl es sich dabei um ein kleines, stark ausschnitthaftes akustisches Panorama handelt, vermittelt dieses – möglicherweise auch gerade auf Grund der Reduzierung auf wenige Details – dennoch den Eindruck des Paris einer ganz bestimmten Epoche. (Wobei es sich keineswegs um ein akustisches Klischee handelt. Oder wer hätte gedacht, dass im Paris des Fin de Siècle noch Hähne krähten?) An das Paris der jüngeren Vergangenheit erinnert sich hingegen der Verfasser der folgenden Zeilen, wobei abermals eine andere Sinnesdimension in den Vordergrund rückt:

16 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge; zitiert nach: Manfred Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als ‚Textʻ (München: W.Fink-Verlag, 1992) S.135.

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Früher hatte die Metro in Paris einen ganz besonderen Geruch. Man hätte mich im Schlaf nach Paris versetzen können, und ich hätte an diesem Geruch erkannt, wo ich bin. Heute würde ich etwas darum geben, wenn mir jemand noch einmal ein Fläschchen von diesem Geruch verschaffen könnte. Ich würde daran schnuppern und aus diesem Geruch jenes Paris von damals herausschnüffeln [...]. Aber vielleicht sind es heute nur andere Gerüche, an denen nun andere, jüngere ihr Paris erkennen, während ich in nostalgischer Laune mich weigere, sie aufzunehmen [...].17

Farben, Geräusche, Gerüche – dies alles scheinen erste Puzzlesteine in dem vielschichtigen und komplexen Gesamtzusammenhang, welchen ein alltägliches Umweltwahrnehmen darzustellen scheint. Allerdings wäre es verfehlt, von diesem im Umkehrschluss nun wiederum all dasjenige, was üblicherweise als ‚Architekturʻ bezeichnet wird, nur weil es üblicherweise als Architektur bezeichnet wird, konzeptionell isolieren und ausschließen zu wollen. Dass auch architektonisch geplante Bestandteile der (gebauten) menschlichen Umwelt in der Alltagswahrnehmung eine wichtige Rolle spielen, was jedoch nicht bedeuten muss, dass sie deshalb auch gemäß architektonischer Kriterien erfahren würden, dies verdeutlicht der folgende Bericht, der das Erleben einer Berliner Eisenbahnunterführung schildert: Dicht beim Bahnhof Charlottenburg zieht sich unter den Gleisen eine schnurgerade Straße hin, die ich oft passiere, weil an ihr jenseits des Bahndamms der Bahnhofseingang liegt. Ich gestehe, daß ich diese Unterführung nie ohne ein Gefühl des Grauens durchmesse. [...] Backsteinmauern grenzen die Unterführung ein, verrußte Mauern, die mit zwei Reihen eiserner Stützen zusammen die niedere Decke tragen. Diese Decke besteht aus zahllosen Eisenträgern, die einander in winzigen Abständen folgen und mit unendlich vielen Nietnägeln versehen sind. Zwischen ihnen sitzt eine graue Betonmasse, die nicht minder massiv wirkt wie die Träger selber. In der Dämmerung scheint die Unterführung nicht aufhören zu wollen. Die Mauern zu beiden Seiten dehnen sich bis zum Fluchtpunkt, die eisernen Stützen, die an den Rändern der Fußgangersteige eingerammt sind, vermehren sich und werden bedrohlich, und die Decke senkt sich allmählich immer tiefer herab. Eine klirrende Höllenpassage, ein düsterer Zusammenhang von Backsteinen, Eisen und Beton, der für alle Zeiten gefügt ist.18

Materialien, nicht in einem technisch-konstruktiven Sinn, sondern in ihrer unmittelbaren Präsenz, als „verrußte[r]“ Stein, nietenübersähter Stahl, hervorquellender 17 Was die an Gerüche gebundene Wahrnehmung von Paris betrifft, so lässt Rilke seinen Protagonisten Malte Laurids Brigge (vgl. Fn. 16) diese um die Jahrhundertwende herum noch ganz anders erleben. Brigges erster Tagebucheintrag zu Paris beginnt wie folgt: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin aus gewesen. [...] Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. […] ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. [...] Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst.“ Zitat: Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre (München: Wilhelm Fink Verlag, 2006) S.127f. 18 Siegfried Kracauer, Die Unterführung; in: ders., Straßen in Berlin und anderswo (Berlin: Das Arsenal, 1987) S.38.

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Beton, dazu die Enge der Wände, die niedere Decke, der lange, düstere Tunnel, durch den der Berichterstatter sich in der Dämmerung hindurchzubewegen hat – all dies verdichtet sich im alltäglichen Erleben einer Berliner Eisenbahnunterführung zu einer Atmosphäre des Unwirtlichen, Unheilerweckenden – oder kurz, wie der Erlebende selbst sagt: zu einer Atmosphäre des „Grauens“. Eine ganz anders geartete Erfahrung macht hingegen der Berichterstatter des folgenden literarischen Exzerpts auf seinem alltäglichen Gang durch ein Treppenhaus: So stieg ich denn die […] Treppen [...], diese durch und durch bürgerlichen, gebürsteten, sauberen Treppen eines hochanständigen Dreifamilienmiethauses [...], wo es nach etwas Terpentin und etwas Seife riecht und wo man erschrickt, wenn man einmal die Haustür laut ins Schloß hat fallen lassen oder mit schmutzigen Schuhen hereinkommt. Ich liebe diese Atmosphäre [...]. Ich habe das gern, auf der Treppe diesen Geruch von Stille, Ordnung, Sauberkeit, Anstand [...] zu atmen [...]. Und nun kam ich an der Araukarie vorbei. Nämlich im ersten Stockwerk dieses Hauses führt die Treppe am kleinen Vorplatz einer Wohnung vorüber, die ist ohne Zweifel noch tadelloser, sauberer und gebürsteter als die andern, denn dieser kleine Vorplatz strahlt von einer übermenschlichen Gepflegtheit, er ist ein leuchtender kleiner Tempel der Ordnung. Auf einem Parkettboden, den zu betreten man sich scheut, stehen da zwei zierliche Schemel und auf jedem Schemel ein großer Pflanzentopf, im einen wächst eine Azalee, im andern eine ziemlich stattliche Araukarie [...] und noch die letzte Nadel am letzten Zweig strahlt von frischester Abgewaschenheit. Zuweilen, wenn ich mich unbeobachtet weiß [...], setze mich über der Araukarie auf eine Treppenstufe, ruhe ein wenig, falte die Hände und blicke andächtig hinab [...].19

Erneut sind es Gerüche und Geräusche sowie, in diesem Fall hinzukommend, spezifische Beschaffenheiten und Zustände von Oberflächen – jene der „gebürsteten“ Treppenstufen, des „sauberen“ Absatzes oder die der „Abgewaschenheit“ der Topfpflanze, die sich im physischen Begehen der räumlichen Situation zu einer intensiven (wenn auch in der literarischen Schilderung ironisch gebrochenen) Gesamtwirkung verdichten. In beiden Beispielen, dem der Eisenbahnunterführung und dem des Treppenhauses, wird eine alltägliche Erfahrungsrealität also nicht primär durch stilistische oder konstruktive Merkmale von ‚Architekturenʻ, sondern durch andersgeartete wahrnehmungsbezogene Aspekte bestimmt. Dass Gebautes und Nicht-Gebautes, von Menschenhand Errichtetes und natürlich Vorgefundenes im Wahrnehmen eine intime Verbindung eingehen können, davon zeugt das folgende Beispiel. Hier ist es kein singuläres Gebäude, sondern eine ganze Stadt, und zwar Jerusalem, die eine spezifische, atmosphärische Wirkung entfaltet. Anfang des 20. Jahrhunderts äußert sich ein Augenzeuge dazu wie folgt: Jerusalem ist im wörtlichen Sinne eine auf Felsen gebaute Stadt. Aus diesem Felsen, der sich leicht hauen lässt, ist seit 3000 Jahren der leuchtend weiße Stein geschlagen worden, der mit der Zeit blau-grau oder bernsteinfarben anläuft, und dessen massive Mauern, Tonnengewölbe und Spitzbögen durch die Jahrhunderte eine heilige und zeitlose Tradition haben entstehen lassen.20 19 Hermann Hesse, Der Steppenwolf (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974) S.29ff. 20 Ronald Storrs, Britischer Militärgouverneur von Jerusalem, ca. 1917. Zitiert nach: Eyal Weizman, Sperrzonen (Hamburg: Nautilus-Verlag, 2008) S.35f.

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Mit „Tradition“ ist im gegebenen Kontext freilich keine Handwerkstradition gemeint, sondern vielmehr die spezifische Atmosphäre Jerusalems selbst. Diese ist, als „heilige“ und „zeitlose“, über Jahrtausende hinweg entstanden. Eine Unterscheidung zwischen dem Fels, aus dem Jerusalem einst errichtet wurde und der Stadt selbst ist dabei kaum mehr zu treffen. Eben diese intime Verbindung ist es auch, die heute, knapp hundert Jahre nach obiger Schilderung, zu einer Ausbreitung der atmosphärischen Wirkung Jerusalems geführt hat, wie der folgende, zeitgenössische Bericht erläutert: Da die Ausdehnung des Stadtgebiets zugleich die Grenzen der Zone festlegt, die als heilig angesehen wird, breitete sich die Heiligkeit Jerusalems als ‚sprawlʻ überall da aus, wo die Steinfassaden hochgezogen wurden. [...] alles, was in den neuen Vororten gebaut wurde [wurde versteinert – Einfügung B.H.]: Einkaufszentren und Kindergärten, Bürgertreffpunkte und Synagogen, Bürohäuser, Elektrizitätswerke und Sporthallen – und vor allem Wohnhäuser. Auf diese Weise wurde Vororten, die weit außerhalb der Grenzen der historischen Stadt erbaut wurden, der Stempel der alles durchdringenden Heiligkeit der Identität Jerusalems aufgedrückt.21

Obwohl die heilige Atmosphäre Jerusalems keinen architektonisch planbaren oder beschreibbaren Aspekt verkörpert, so geht sie doch mit einer bestimmten baulichen Substanz (dem weißen Jerusalem-Marmor als Gebäudeverkleidung) einher und kann in diesem Sinn, gleich einem sakralen „sprawl“, weit über das einstige Stadtgebiet hinaus verlängert werden. Dass umgekehrt spezifische Wirkungen (gebauter) menschlicher Umwelten durch architektonische Eingriffe auch unfreiwillig abgeschwächt, wenn nicht gar zerstört werden können, davon zeugt der folgende, historische Bericht zur einstigen Einbettung der Klagemauer auf dem Jerusalemer Tempelberg: Noch in der britischen Mandatszeit, vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges [...] konnte ich [...] die Klagemauer im Herzen der arabischen Altstadt sehen. Man ging durch ein engmaschiges Netz verwinkelter, enger Gäßchen und stand dann plötzlich vor einer steilen Wand riesiger Quadersteine. Hoch oben blieb ein schmaler Streifen blauen Himmels zwischen dem engen Gemäuer des Gäßchens. Die Enge ließ die Quadersteine noch viel größer und mächtiger vor dem kleinen Menschen erstehen. Davor konnte man nur zur Allmacht beten, die unerreichbar über dem unermesslichen Gestein schwebt.22

Allerdings erfuhr diese Situation später einen massiven, urbanistischen Eingriff: Nach dem Sechstagekrieg von 1968 wurde das Gäßchengewirr vor der Klagemauer freigelegt. Heute nähert man sich der Mauer über ein weites, großes Gelände, das tausenden von Besuchern Platz bietet, um zu beten und auch religiöse Feste zu feiern. Natürlich sind es dieselben Quadersteine von ehedem, aber ihre Sprache hat sich durch die neue Umgebung verändert. Der weite Raum, der sie aus den engen Gäßchen befreit hat, führt ihr klagendes Echo in die Breite und nicht in die Höhe und gibt so dem Gebet einen anderen Sinn. Ich werde mich hüten, die 21 Eyal Weizman, Sperrzonen; a.a.O., S.41. 22 Joseph Tal, Pianist, Komponist, Hochschullehrer an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zitiert nach: Martina Löw, Raumsoziologie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001) S.152.

30 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Klagemauer blasphemisch mit einem Museumsobjekt zu vergleichen, dazu sprechen diese Steine eine zu lebendige Sprache. Aber Raum und Materie wirken zusammen in der Bildung des Sinns.23

Die intensive spirituelle Wirkung, die sich einst im Kontakt mit der Klagemauer einstellte, scheint, wie dem Bericht zu entnehmen ist, keineswegs allein mit der Mauer und ihrer symbolischen Bedeutung (als letztem Rudiment des einstigen Tempels) verbunden gewesen zu sein, sondern auch auf die physische Bewegung durch das enge Gässchengewirr vor der Mauer und schließlich das abrupte Treffen auf eine im Kontrast gewaltig erscheinende, senkrecht in den Himmel ragende Wand, die den Blick steil nach oben, hinein in das offene Blau des Himmels leitete, sowie durch die Geräusche, die in den Gässchen geschluckt und erst an der Klagemauer frei in den Himmel aufstreben konnten, hervorgerufen worden zu sein. Dass es sich bei derartigen Wirkmechanismen nicht etwa um ‚rein subjektiveʻ, sondern um transindividuelle, potentiell auf diese oder ähnliche Weise von jedem Menschen zu machende Erfahrungen handelt, darauf gibt das zuvor geschilderte Phänomen eines sakralen sprawls Hinweis. Denn: Handelte es sich bei der heiligen Ausstrahlung Jerusalems tatsächlich um ein rein subjektiv empfundenes ‚psychischesʻ Phänomen, so wäre dieses wohl weder so effektiv zu touristischen Zwecken noch – wie der Autor obiger Passage in einer kritischen Studie zum Thema im Detail nachzeichnet – als effektives politisches Instrument (das die Einheit einer zwischen Israel und Palästina geteilten, dabei seit 1967 einseitig vom Staat Israel besetzten Stadt erfahrbar werden lassen soll) einsetzbar. Erlebnisberichte, die Umweltwahrnehmungen vom Standpunkt einer Person, die nicht frei über den Dingen schwebt, sondern die in einen konkreten Kontext eingebettet ist, somit aus einer Akteurs- bzw. Erste-Person-Perspektive heraus, beschreiben, können dazu beitragen, sich die Komplexität der (gebauten) menschlichen Umwelt als alltäglichem Erfahrungsraum vor Augen zu führen. Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, lautet allerdings: Wer ist für all dies, wie es in seiner ganzen Vielschichtigkeit soweit überhaupt ja erst ansatzweise angedeutet werden konnte, im Sinn eines wissenschaftlich zu untersuchenden Gegenstandsgebiets zuständig? Disziplinärer Kontext Die alltägliche Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten wird in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gerne in Schubladen gesteckt, die ihr zu klein sind. Das Problem ist dabei nicht, dass die Aufschriften, mit denen die jeweiligen Schubladen versehen sind, nicht interessant oder nicht relevant wären, sondern der Absolutheitsanspruch, mit dem komplexe Sachverhalte, wie die alltägliche wahrnehmungsgebundene Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten unter vorgefertigte Betrachtungsschemata subsumiert und dabei auf einzelne Aspekte reduziert werden sollen. Ein Beispiel bietet die Architektur: So komplex und anspruchsvoll diese als Tätigkeit sein mag, als universelles Betrachtungsparadigma auf die (gebaute) menschliche Umwelt angewandt geht ihr – wie oben zu sehen – vieles, wenn nicht gar das Entscheidende, verloren. Nun ist es allerdings nicht allein das ‚Beschreibungssystem Architekturʻ, unter dem (gebaute) menschliche Umwelten in 23 Ebd.

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der theoretischen Auseinandersetzung üblicherweise subsumiert werden. Weitere bzw. zu jener der ‚Architekturʻ hinzukommende Schubladenbeschriftungen, lauten – um nur einige prominente Beispiele zu nennen: ‚Spracheʻ, ‚Symbolʻ, ‚Bildʻ, ‚Raumʻ. Bereits den Begriffen ist dabei abzulesen, dass es sich bei diesen um potentiell vielversprechende und relevante Betrachtungsgesichtspunkte handelt. Aber eben letztlich um genau dies, nämlich: Gesichtspunkte. Weiter verstärkt wird eine Selektivität in der Betrachtung, wenn spezifische Betrachtungsparadigmen mit spezifischen disziplinären Hintergründen kombiniert werden. So machen sich in jüngerer Zeit – in manchen Fällen handelt es sich um Jahre, in anderen um Jahrzehnte – Tendenzen in unterschiedlichsten Bereichen bemerkbar, die ihren Blick, mehr oder weniger, in Richtung der alltäglichen Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten lenken. Dabei lässt sich beobachten, wie, um ein Beispiel zu nennen, die Begriffe ‚Psychologieʻ und ‚Architekturʻ in einer Art Baukastenverfahren kombiniert werden und man so zu einer ‚Architektur-Psychologieʻ gelangt. Die Soziologie wird ihrerseits wahlweise mit Begriffen wie ‚Stadtʻ, ‚Wohnenʻ, ‚Architekturʻ, ‚Raumʻ zusammenfügt, um im Ergebnis eine ‚Stadt-Soziologieʻ, ‚Wohn-Soziologieʻ, ‚Architektur-Soziologieʻ, ‚Raum-Soziologieʻ zu formieren. Nichts ist verkehrt an einer derartigen Vorgehensweise. Im Gegenteil: Gerade letztgenannte Forschungsbereiche scheinen höchst zeitgemäß in ihrer Auseinandersetzung mit dem, was sie qua Benennung zu erforschen suchen. Allerdings wäre es verfehlt, von derartigen Bereichen nun nicht eben das zu erwarten, was sie selbst zu sein suchen und, per Selbstbezeichnung, auch zum Ausdruck bringen, nämlich: ‚Architektur-Psychologieʻ, als Untersuchung intentional-geplanter Gebäude/Städte, deren Wahrnehmung als psychischer Vorgang interpretiert wird; ‚Architektur-Soziologieʻ, als Untersuchung intentional-geplanter Gebäude/Städte, die auf ihre Rolle als gesellschaftlicher Wirkfaktor, Ausdruck oder Spiegel von Gesellschaft hin befragt werden; ‚Raum-Soziologieʻ, als Untersuchung einer (im Alltagswissen gegebenen oder fachwissenschaftlich zu definierenden) Denkkategorie, genannt ‚Raumʻ, die auf ihre Rolle als gesellschaftlicher Wirkfaktor, Ausdruck oder Spiegel von Gesellschaft hin zu erforschen ist etc. Führt man sich das Prinzip vor Augen, nach dem (gebaute) menschliche Umwelten bislang untersucht und deren alltägliche Wahrnehmung (mit-)thematisiert wird, so ist dieses durchwegs deduktiv geprägt, d.h.: Es wird aus dem bereits Bestehenden (bzw. der Kombination des Bestehenden, nämlich einer Disziplin und einem singulären Betrachtungsparadigma) heraus ein selektiver Blick auf den designierten Untersuchungsgegenstand geworfen. 24 Eben dieses Prinzip ist es auch, das im Rahmen 24 Die stark empirisch agierende Kombination ‚Architektur-Psychologieʻ hat bislang nur bedingt ein eigenständiges theoretisch-konzeptionelles Rahmenwerk hervorgebracht. Anders verhält es sich mit dem Bereich Raumsoziologie, der im deutschsprachigen Kontext insbesondere durch Martina Löw geprägt wurde und dem es erfolgreich gelingt, sowohl vom Begriff des ‚Raumesʻ ausgehend der Soziologie neue Perspektiven zu eröffnen, wie umgekehrt aus soziologischer Perspektive heraus das Verständnis der Denkkategorie Raum zu erweitern. Auch die Architektursoziologie, als aktuell im Entstehen begriffener Bereich, vollzieht mit einer Hinwendung zu Fragen der Materialität bzw. der Wirkung des materiell Verfassten – zuweilen ist in diesem Kontext bereits von einem ‚material turnʻ, als nächster bevorstehender reflexiver Wendung der Kultur- und Sozialwissenschaften die Rede – eine

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eines aktuellen spatial turn 25 angewandt wird: Unterschiedlichste Disziplinen, die Geographie – insbesondere die kritische Humangeographie als Hebamme des spatial turn – , die Literaturwissenschaften, die Medienwissenschaften, die Ethnologie, die Geschichtswissenschaften, die Kunstwissenschaften (u.a.) synthetisieren sich mit dem Betrachtungsparadigma ‚Raumʻ in dem ambitionierten Bestreben, auf diese Weise einen Beitrag zu einer allgemeinen raumbezogenen Wende in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu leisten. Der Begriff des ‚Raumesʻ, als an sich spezifisches Betrachtungsparadigma, wird dabei auf sein Potential als universell einsetzbare Analysekategorie hin erprobt, wodurch er selbst freilich immer mehr an Bedeutung gewinnt. Letztlich kommt es so zu einem Effekt, der, bildhaft gesprochen, dem astronomischen Phänomen der Schwarzen Löcher im Universum (hier: dem Universum der Erkenntnissuche) gleicht: Je mehr (an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit) man hineingibt, desto stärker wird die Anziehungskraft des Phänomens und desto größer und wirkmächtiger erscheint es.26 Vergleichbares ließe sich angesichts anderer paradigmatischer Begriffe, die ihrerseits mit entsprechenden Wenden, also ‚turnsʻ, einhergehen, feststellen. So stimulierte der linguistic turn, die sprachbezogene Wende (als Mutter aller turns), in seiner langfristigen Wirkungsgeschichte im Gegenstandsgebiet der alltäglichen Wahrnehmung (gebauter) menschlicher Umwelten die Suche nach sprachverwandten Aspek-

für den Gedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt interessante Entwicklung. Siehe hierzu u.a.: Martina Löw, Raumsoziologie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001); Martina Löw, Soziologie der Stadt (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008); Heike Delitz, Architektursoziologie (Bielefeld: Transcript, 2009). 25 Zum spatial turn, siehe: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn – Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Bielefeld: Transcript, 2008); Zum wissenschaftlichen Phänomen der sogenannten ‚turnsʻ im Allgemeinen (vom linguistic turn bis hin zum spatial turn), siehe: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns – Neuorientierung in den Kulturwissenschaften (Hamburg: Rowohlt, 2006). 26 Die Frage, inwiefern es sich beim spatial turn um eine Wende von ähnlich fundamentaler Bedeutung wie jener des linguistic turn, als erster so bezeichneter Wende, handelt, ist bislang umstritten. So fragen TheoretikerInnen, wie Sigrid Weigel oder Stephan Günzel, ob der Begriff des spatial turn sich nicht bereits schon wieder überlebt habe und mittlerweile nicht besser von einem ‚topografischen Turnʻ (Weigel) oder ‚topologischen Turnʻ (Günzel) gesprochen werden sollte. Der Philosoph und Phänomenologe Bernhard Waldenfels merkt angesichts dieser Entwicklung treffend an: „Wenn heute vielfach von einem spatial, topographical oder topological turn die Rede ist, so betrifft dies vor allem Änderungen im Bereich wissenschaftlicher Paradigmen und im öffentlichen Bewusstsein. In der Philosophie ist es so, dass die einen dem Raum und dem Ort schon seit langem einen besonderen Platz einräumen, dass andere es dagegen bis heute nicht tun“. Zitate: Sigrid Weigel, Zum topographical turn – Topografie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften; in: KulturPoetik – Journal for Cultural Poetics, 2, 2002, S.151-165; Stephan Günzel, Raum, Topographie, Topologie; in: ders. (Hrsg.), Topologie (Bielefeld: Transcript, 2007) S.13-29; Bernhard Waldenfels, Topografie der Lebenswelt; in: Stephan Günzel, Topologie; a.a.O., S.69.

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ten, semantischen Strukturen oder zeichenhaften Wirkungen. 27 Das folgende Zitat zum Thema Stadt (das zugleich einige der diesbezüglich relevanten Positionen nennt) dürfte in diesem Kontext für sich selbst sprechen: Die Großstadt ist ein ‚Diskursʻ, eine ‚Spracheʻ, eine ‚Schriftʻ, und wer sich in ihr bewegt, ist ‚ein Leserʻ (R. Barthes), sie ist ein komplexes ‚Textgewebe‘ (M. de Certeau), ein ‚Palimpsestʻ [...] sie hat wie ein literarischer Text so viele Interpretationen, wie jener Leser hat.28

Eine derartige Lesart, die Stadt als Text begreift, geht zwar keineswegs mit Architektur per se, wohl aber mit einer bestimmten architektonischen Auffassung Hand in Hand.29 So war es in der Architektur der Postmoderne, die ihre Hochphase in den 1970er bis 1990er Jahren erlebte, en vogue, die Stadt unter semantischen sowie semiotischen Gesichtspunkten zu betrachten und dementsprechend am Funktionalismus der klassischen modernen Architektur (des Bauhaus, des International Stile, und allem, was diese Bewegungen perpetuierte, bis hin zur Plattenbauweise im sozialen/sozialistischen Wohnungsbau in West und Ost) deren Aussage- und Zeichenarmut zu kritisieren. Architektur sollte wieder sprechen, Geschichten erzählen, Zitate, Ornamente, Symbole einsetzen.30 Im Hinblick auf das Gegenstandsgebiet der alltäglichen wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten ist hierzu zu sagen: Zweifelsohne spricht nichts dagegen, fallbezogen, wo angebracht und notwendig, derartige Aspekte in die Betrachtung einzubeziehen. Ein städtisches Verkehrswegeleitsystem, das aus Hinweisschildern, Pfeilen und Piktogrammen besteht, wäre ein schlechtes Verkehrswegeleitsystem, wenn es nicht über klar lesbare Symbole und Zeichen verfügen und mittels dieser eine Person zielführend durch die Stadt navigieren wür27 Zum linguistic turn sowie den von diesem ausgehenden Entwicklungslinien, siehe: Kap. 11, Fn. 73 und 115. Sowie ausführlicher: Richard Rorty (Hrsg.), The Linguistic Turn (Chicago: University of Chicago Press, 1967). 28 Manfred Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als Text (München: W.Finken-Verlag, 1992) S.7. 29 Bereits Henri Lefebvre, einer der maßgeblichen Referenzpunkte des aktuellen spatial turn, bemerkt in diesem Kontext zur Affinität bestimmter philosophischer und architektonischer Sichtweisen füreinander, welche Raum als zu planendes bzw. als zu lesendes Etwas verstehen: „[...] modern space has an analogical affinity with the space of the philosophical, and more specifically the cartesian tradition. Unfortunately it is also the space of blank sheets of paper, drawing-boards, plans, sections, elevations, scale models, geometrical projections, and the like. Substituting a verbal, semantic or semiological space for such a space only aggrevates its shortcomings. A narrow and desiccated rationality of this kind overlooks the core and foundation of space, the total body, the brain, gestures, and so forth. It forgets that space does not consist in the projection of an intellectual representation, does not arise from the visible-readable realm, but that it is first of all heard (listened to) and enacted (through physical gestures and movements).“ Henri Lefebvre, The production of Space (Oxford: Blackwell, 1991) S.201. 30 Siehe: Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur (Stuttgart: DVA, 1988); Charles Jencks, Was ist Postmoderne? (München: Artemis Verlag für Architektur, 1990); Robert Venturi/Denise Scott Brown/Steven Izenour, Lernen von Las Vegas (Braunschweig: Fr.Vieweg&Sohn, 1979); siehe auch Kap. 1.

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de. Aber: nur weil ein Verkehrswegeleitsystem in eine (gebaute) menschliche Umwelt implementiert werden kann, ebenso, wie Zeichen und Symbole bewusst in Architekturen eingebaut oder ‚lesbare Strukturenʻ urbanen Neugründungen in Form eines spezifischen städtischen Grundrisses eingeschrieben werden können, wäre es dennoch verfehlt, die (gebaute) menschliche Umwelt per se auf derartige Aspekte reduzieren zu wollen. Um sich dies zu vergegenwärtigen genügt ein kurzer gedanklicher Rückblick auf die oben gegebenen Beispiele: Die Erfahrungsrealität einer schwimmbeckengroßen, schwarz-schlammigen Pfütze ist weder als ‚Text zu lesenʻ, noch als ‚Symbol für etwasʻ zu erfahren. Der pechschwarze Schlamm der Pfütze ‚symbolisiertʻ nicht pechschwarzen Schlamm – er klebt an den Füßen, riecht, hat eine bestimmte Temperatur, Feuchtigkeit, Konsistenz. Eben in dieser physischen Erfahrbarkeit – und in der Unentrinnbarkeit einer physischen Erfahrbarkeit – liegt, wie Friedrich Engels in obigem Zitat anschaulich anhand der Wohnsituation englischer ArbeiterInnen des 19. Jahrhunderts schilderte, ja überhaupt die potentielle Brisanz (gebauter) menschlicher Umwelten. Könnten wir diese, vermeintlich gleich Texten, beliebig uminterpretieren, miserable Lebensbedingungen bereiteten den Betroffenen kaum Kopfschmerzen, geschweige denn schlimmere Gebrechen. Mit dem pictorial turn bzw. iconic turn, also der bildbezogenen Wende, sowie der Idee einer allgemeinen Bildwissenschaft31, die nicht nur Hervorbringungen der Bildenden Kunst betrachtet, sondern alle Arten von Bildern in ihre Untersuchungen einbezieht, ist seit einigen Jahrzehnten auch das Interesse für bildhafte Aspekte in und an (gebauten) menschlichen Umwelten gestiegen.32 Während es in der architektonischen Postmoderne noch allgemein bekannte Zeichen und Symbole waren, die in Gebäude und Städte eingebaut wurden (zu denken ist an Innenräume, die antike Säulen, nicht etwa als tragendes Element, sondern als reines Dekor, inkorporieren; oder an Gebäude, die sich selbst, als Ganzes in ihrem Erscheinungsbild als riesenhafte antike Säulen, oder als Collage aus römischen Tempelfragmenten verkleiden33), so 31 Hauptvertreter einer neukonzipierten, nicht allein auf Bildende Kunst ausgerichteten Bildwissenschaft sind im deutschsprachigen Raum Gottfried Böhm, Horst Bredekamp, Hans Belting u.a. Erstgenannter prägte den Ausdruck des iconic turn. Fast zeitgleich postulierte J.T. Mitchell im anglophonen Kontext den pictorial turn. vgl.: Doris Bachmann-Medick, Iconic Turn; in: dies., Cultural Turns – Neuorientierung in den Kulturwissenschaften; a.a.O., S.329ff. 32 Martin Warnke, als ebenfalls einflussreicher Vertreter einer reformierten Bildwissenschaft (vgl. Fn. 31), setzt sich vom Standpunkt der Politischen Ikonographie mit dem Spannungsfeld Bild-Symbol-Architektur/Landschaft auseinander. Dabei richtet Warnke den Blick auf eine religiös-politische Besetzung (gebauter) menschlicher Umwelten, wobei für Warnke eine solche Besetzung maßgeblich an eine zu interpretierende Bildsprache gekoppelt bleibt. (Andere zu instrumentalisierende Wirkmomente, bspw. atmosphärische Wirkungen – siehe oben, am Beispiel Jerusalems – erfahren indes keine Beachtung); vgl. Martin Warnke, Politische Landschaft – Zur Kulturgeschichte der Natur (München: Carl Hanser Verlag, 1992) und Martin Warnke (Hrsg.), Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute – Repräsentation und Gemeinschaft (Köln: DuMont, 1984). 33 Siehe architektonische Beispiele, wie: Robert Venturi, Oberlin College (Oberlin, 1976); Kengo Kuma, M2 (Tokyo, 1991); Charles W. Moore, Piazza d'italia (New Orleans, 197778).

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werden heute Gebäude und Städte zu (Werbe-)Bildern und (Marken-)Zeichen ihrer selbst. Das Guggenheim-Museum in Bilbao oder die Skylines von Städten wie New York, Frankfurt, Dubai bilden in diesem Sinn nichts ab, sie stellen sich vielmehr selbst dar, sind ihr eigenes Image – und das im doppelten Sinn des Wortes. Auch hier gilt jedoch: So wichtig es ist, das von ökonomischen Interessen geleitete, strategische Einlagern von bildhaften Wirkungen in Architekturen wissenschaftlich-kritisch zu beleuchten, so sehr griffe es zu kurz, die wahrnehmungsgebundene Erfahrungswirklichkeit (gebauter) menschlicher Umwelten allein unter den Prämissen dessen zu betrachten, was einzelne architektonische Stilrichtungen (Stichwort: Postmoderne) oder aktuell verstärkt anzutreffende Allianzen aus einer Instrumentalisierungs-freundlichen Architektur und einem Instrumentalisierungsfreudigen Stadtmarketing (Stichwort: Bilbao-Effekt ), vorgeben. Inwiefern mittels einer Fokussierung auf bildhafte Wirkungen von ‚Architekturenʻ eine doppelte Selbstlimitierung in der Untersuchungsperspektive vorliegt, macht das obige Beispiel Jerusalems deutlich: Denn die touristisch und politisch zu instrumentalisierende heilige Atmosphäre der Stadt erschöpft sich eben gerade nicht in einer bildhaften Wirkung. Was sich auf Fotos, Postkarten, Internetbildern vermittelt, ist allenfalls der Eindruck einer dank ihres Materials weitgehend homogen erscheinenden Stadtszenerie. Die atmosphärische Dimension – das Leuchten des Steins, das besondere Licht Jerusalems, zudem die Geräuschkulisse, die spezifischen Gerüche, die Proportionen von Häusern und Gassen – all das entzieht sich bildgebenden Darstellungsverfahren. Auch die intensive spirituelle Ausstrahlung der Klagemauer ist nicht im Sinn eines Bildes oder Symbols, noch nicht einmal als Teil einer einstigen Architektur zu fassen und zu erklären. Im Gegenteil: Gerade eine architektonische Sicht, die das dichte wahr-nehmungsbezogene Wirkungsgeflecht der Klagemauersituation beseitigte und auf den vermeintlich essentiellen Teil (die Mauer des einstigen Tempels) reduzierte, zerstörte – wie der obigen Darstellung zu entnehmen ist – einen Gutteil dessen, was sie zu bergen suchte: nämlich die spirituelle Dichte und Einmaligkeit des Ortes. Ansatzpunkte der Untersuchung Negativ formuliert wird die wahrnehmungsgebundene Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten im Sinn eines möglichst umfassend zu erforschenden Gegenstandsgebiets und Selbstzwecks bislang von keinem bereits existenten Forschungsbereich untersucht. Vielmehr wird sie auf disziplinär bedingte (psychologische, soziologische, geografische, medienwissenschaftliche etc.) und/oder singuläre paradigmatische (architektonische, bildhafte, zeichenhafte, räumliche etc.) Gesichtspunkte reduziert. Positiv formuliert wäre eine Forschung, die sich mit dem Gegenstandsgebiet im Sinne eines Selbstzwecks, den es dementsprechend auch aus sich selbst heraus zu entwickeln gilt, befasst, umseitig eingebettet und könnte ihre Erkenntnisse mit umgebenden Feldern teilen; genauso wie sie ihrerseits von deren Erkenntnissen profitieren könnte. Eben darum wird es in der hier vorliegenden Untersuchung gehen: Um die Möglichkeit und Notwendigkeit, die Erforschung der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten aus sich selbst heraus zu entwickeln. Dieser Grundgedanke hat Konsequenzen: Zunächst einmal kann in der weiteren Untersuchung nicht deduktiv vorgegangen werden, d.h. es kann nicht aus bereits existenten, als solchen fertig ausdifferenzierten Disziplinen und singulären Betrach-

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tungsparadigmen heraus eine forschende Betrachtungsperspektive auf die Umwelt geformt werden. Stattdessen bedarf es einer Vorgehensweise, die am Gegenstandgebiet selbst ansetzt. Dieses, und die Anforderungen, die es stellt, müssen gedanklich im Zentrum stehen, um von diesem aus sukzessive, Schritt für Schritt, eine adäquate Untersuchungsform entstehen zu lassen. Versteht man (gebaute) menschliche Umwelten des Weiteren nicht allein als gedachte Umgebungen (so wie es sich bei dem Abstraktum ‚Raumʻ um eine Kategorie des Denkens, nicht des Wahrnehmens handelt, denn, was wir im Alltag wahrnehmen, sind konkrete Umwelten, die eine Dimensionalität, eine Tiefenwirkung besitzen, nicht aber ‚Raumʻ, den wir per se, als solchen – etwa als abstraktes Koordinatensystem oder als relationales Gefüge – perzipieren könnten34), sondern als physisch erfahrbare Umwelten (wozu, wie sich bereits abzuzeichnen begann, mehr als ein ‚denkendes Augeʻ und selbst mehr als ein ‚sehendes Augeʻ, nämlich ein multisensorisch verfasstes und physisch verankertes Wahrnehmen vonnöten zu sein scheint), so hat dies weitere Folgen. Eine zweite Konsequenz lautet demgemäß: Eine Disziplin, die sich mit der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten befassen möchte, muss derart konzipiert werden, dass sie dazu in der Lage ist, sich mit Umweltwahrnehmen als einem komplex strukturierten Phänomen zu befassen, das weder einseitig auf ‚kognitiveʻ Aspekte (wie: ein Denken von Raum, ein Lesen von Stadt, ein Interpretieren von Zeichen etc.) noch einseitig auf vermeintlich ‚rein sensorischeʻ Momente (metaphorisch gesprochen: ein sehendes Auge, nicht aber ein denkendes Auge) reduziert wird. Vielmehr müssen kognitive und sensorische Anteile gleichermaßen Beachtung finden, wobei sie nicht als Widersprüche, sondern in ihrer wechselseitigen – und genauer zu bestimmenden – Verbundenheit miteinander zu erforschen sind. Eine dritte Konsequenz schließt an diesen Punkt an: Nimmt man die soeben genannte Forderung ernst, so reicht eine Forschung, die sich rein theoretisch, rein sprachbasiert mit ihrem designierten Gegenstandsgebiet befasst, nicht aus. Vielmehr müsste ein derartiges Forschen auch über einen empirischen Zugang, eine empirische Komponente verfügen, die es ihr ermöglicht, Umweltwahrnehmen in seiner konkreten, alltäglichen Anwendung zu untersuchen. Daraus folgt: Eine Aisthetik der (gebauten) menschliche Umwelt hat sich nicht allein als theoretisches Forschen über menschliches Umweltwahrnehmen zu entwerfen, sondern es besteht zugleich die Notwendigkeit, im und mit diesem aktiv zu arbeiten. Umweltwahrnehmen muss als Untersuchungsmedium zum Einsatz gebracht werden können, denn nur auf diese Weise sind alltägliche Wahrnehmungserfahrungen (die weder vom Schreibtisch aus frei imaginiert, noch im Labor simuliert werden können) zu erfassen. Die Frage lautet nun: Wo finden sich theoretische und/oder empirische Ansatzpunkt, die einen Beitrag dazu leisten könnten, die drei genannten Kriterien zu erfüllen? Was die erste Konsequenz, also jene einer gewissermaßen induktiven Vorgehensweise, betrifft, so war es nicht korrekt, wenn mittels der obigen Darstellung der Eindruck erweckt worden sein mag, als befasse sich keine bereits bestehende Disziplin mit der alltäglichen Wahrnehmungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten als einem aus sich selbst heraus zu erkundenden Gegenstandsgebiet. Richtiger wäre es zu sagen: Dieses Gegenstandsgebiet wird bislang von keiner eigens mit diesem befassten Disziplin erforscht. Denn in der Tat machen sich aktuell innerhalb des 34 Vgl. Kap. 5, Fn. 63.

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Bereichs der philosophischen Ästhetik, in Gestalt einer sogenannten ‚Alltags- und Umweltästhetikʻ, Tendenzen bemerkbar, die es potentiell erlauben könnten, sich der alltäglichen wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität der (gebauten) menschlichen Umwelt als einem eigenen Gegenstandsgebiet, ohne dieses zu limitieren und ohne es auf ein Anderes hin abzuleiten, von theoretischer Seite her zuzuwenden. Was die letztgenannte Konsequenz betrifft, also die Frage, wie man sich von einer empirischen Seite aus – die Umweltwahrnehmen nicht allein thematisiert, sondern auch aktiv mit diesem arbeitet – mit alltäglichem menschlichem Umweltwahrnehmen befassen könnte, so könnte es naheliegend erscheinen, in diesem Kontext zunächst einmal an ein, im weitesten Sinn, ‚naturwissenschaftlichesʻ Forschen zu denken. Allerdings, ob sich die menschliche Erfahrungsrealität in messbare, evaluierbare Daten zergliedern lässt, ohne dabei ihren Charakter als ebensolche, nämlich als menschliche Erfahrungsrealität, zu verlieren, mag durchaus bezweifelt werden. Einen vielversprechenden Bereich, wenn dieser im gegebenen Kontext auch weniger naheliegend erscheinen mag, stellt hingegen die Praxis der zeitgenössischen Bildenden Kunst dar, oder genauer gesagt: der architektur- und ortsbezogenen Installationskunst. KünstlerInnen, die in diesem Bereich arbeiten, errichten dreidimensionale Gebilde, die in ihrem Erscheinungsbild, mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt, an reale (gebaute) menschliche Umwelten des Alltags erinnern, wobei es sich bei diesem Erscheinungsbild um mehr als allein eine visuelle Kulisse handelt. Besagte Installationen fordern ihre RezipientInnen nämlich zu einer aktiven physischen Erkundung auf. Sie wollen nicht, wie angesichts traditioneller künstlerischer Genres, beispielsweise der Malerei, der Fall, rein visuell und distanziert perzipiert werden. Vielmehr laden sie, diesbezüglich nicht anders als reale Umwelten, dazu ein, sie mittels physischer Eigenaktivität und des Einsatzes unterschiedlichster Sinnesdimensionen aktiv zu erkunden. Der Verdacht liegt nahe, dass KünstlerInnen, die mit derartigen Mitteln in ihrer alltäglichen Arbeitspraxis umgehen – und dies, anders als ArchitektInnen, nicht von einem distanziert-planenden, sondern von einem unmittelbar physisch-involvierten Standpunkt aus –, über ein umfangreiches diesbezügliches Wissen verfügen könnten. Zwar dürfte es sich dabei in aller Regel um ein sogenanntes ‚tacit knowledgeʻ, also ein stillschweigendes, nicht verbalisiertes Wissen handeln. Gewandelt in ein explizites, verbalisiertes Wissen könnte dieses jedoch durchaus im Rahmen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nutzbar gemacht werden und dabei sogar einen geradezu einzigartigen Zugang zur empirischen Komponente der Frage nach einer wahrnehmungsgebundenen menschlichen Erfahrungsrealität eröffnen. Gleich zwei Bereiche, die Alltags- und Umweltästhetik als aktuelle Bewegung innerhalb der Disziplin der philosophischen Ästhetik und eine architektur- und ortsbezogenen Installationskunst als aktuelle Bewegung innerhalb der zeitgenössischen Bildenden Kunst liefern somit potentielle Ansatzpunkte für die Entwicklung einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt. Was sie gegenüber Forschungsbereichen, wie den oben genannten, auszeichnet, ist dabei ein Umstand, welcher beiden Seiten in anderen Zusammenhängen zum Vorwurf gereichen könnte, sich in diesem Fall jedoch als Vorteil erweisen könnte, nämlich: dass sowohl die Philosophie als auch die Künste, im Gegensatz zu disziplinären Forschungsbereichen, denen bereits von ihrem Grundverständnis her eine Spezialisierung eingeschrieben ist (als Beispiele genannt wurden die Psychologie oder die Soziologie, die ihren zentralen Anker-

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punkt in der Frage des Gesellschaftlichen, somit im Verhältnis Mensch-Mensch, und nicht etwa – der Möglichkeit tendenzieller Schwerpunktverlagerungen zu Fragen der Stadt, des Wohnens, der Architektur, des Raumes hin, ungeachtet – im Verhältnis Mensch-Umwelt besitzt), letztlich ExpertInnen für Alles und Nichts sind. In diesem Sinn sind beide gleichermaßen unspezifisch und potentiell frei, sich einem Thema wie der Erkundung der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität bzw. der wahrnehmungsbezogenen Wirkungsweise (gebauter) menschlicher Umwelten, ganz zu überlassen. Die zweitgenannte Konsequenz: Also die Notwendigkeit, menschliches Umweltwahrnehmen weder allein hinsichtlich seiner kognitiven noch allein hinsichtlich seiner sensorischen Anteile zu betrachten, sondern beide im Verbund miteinander zu erforschen – und dies im Verbund mit der drittgenannten Konsequenz, der Notwendigkeit eines sowohl theoretischen wie empirischen Forschens –, ist dabei eine Anforderung, die jedoch weder die Seite der Philosophie, noch jene der Künste alleine hinreichend zu erfüllen verspricht. In einer Kollaboration, einer Verbindung von theoretischer Reflexion und aktivem, empirischem Forschen, ist eine derartige Auseinandersetzung hingegen durchaus vorstellbar. Gravitationszentren der Untersuchung Nun würde es einen Widerspruch in sich bedeuten, wenn zu dem Zweck, ein Gegenstandsgebiet aus sich selbst heraus zu entwickeln, andere Bereiche instrumentalisiert würden, d.h. wenn Teilgebiete der Philosophie und der Künste mit der Begründung, dass sie prinzipiell unspezifisch und somit in inhaltlich-thematischer Hinsicht belegungsoffen sind, für einen Zweck eingespannt würden, der ihnen selbst rein äußerlich wäre. Wenn im Weiteren künstlerische und philosophische Ansätze der Bereiche Installationskunst und Alltags- und Umweltästhetik als mögliche Konstituenten einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt diskutiert werden, so kann dies unter den gegebenen Prämissen also nur in der – an dieser Stelle als These aufgestellten und im Weiteren ausführlich zu belegenden – Annahme geschehen, dass es sich bei einem derartigen Forschen um eine beiden Bereichen selbst immanent eingeschriebene, wenn auch bis dato nicht offen zu Tage tretende Möglichkeit handelt. Oder in anderen Worten: Die vorliegende Untersuchung stellt die These auf, dass sich eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt heute bereits zu einem Gutteil in Gestalt einer aktuellen Alltags- und Umweltästhetik sowie einer architektur- und ortsbezogenen Installationskunst vorgezeichnet findet und allein als solche einer Offenlegung, einer Explizitmachung und konstruktiv-kritischen Zusammenführung, bedarf. Neben der beschriebenen Zielsetzung wird diese Arbeit also noch um zwei weitere große thematisch-inhaltliche Gravitationszentren kreisen. Und zwar erstens um die Frage: Was ist philosophische Ästhetik – bzw.: Was könnte sie sein? Und zweitens um die Frage: Was ist installative Kunst – bzw.: Was könnte sie sein? Das Pferd kann in diesem Sinn also, bildlich gesprochen, von zwei Seiten aufgezäumt werden: Man kann sagen, dass es, um zu dem Ziel einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zu gelangen, sinnvoll und notwendig ist, sich mit Ansätzen aus den Bereichen Alltags- und Umweltästhetik und der architektur- und ortsbezogenen Installationskunst zu befassen. Umkehrt kann man mit gleicher Berechtigung sagen, dass die Zielvorgabe einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt dazu

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beiträgt, der philosophischen Ästhetik und der installativen Kunstpraxis eine Seite ihrer selbst offenzulegen, die bereits maßgeblich angelegt, allein nicht offen ausdifferenziert ist. In beiden Fällen wird es nicht darum gehen, das vermeintliche ‚Wesen einer Sacheʻ zu ergründen, sondern gerade im Gegenteil: darum, zu zeigen, welche Möglichkeiten beide Bereiche latent in sich bergen, wenn man von einem Denken, das einer Sache ein fixes Wesen unterstellt, absieht. Ausgangslage und Aufbau der Untersuchung Ganz so einfach, wie es nun den Anschein haben mag, ist die Sache allerdings dann doch wieder nicht. Denn bei Kunst und Philosophie handelt es sich um Bereiche, die traditionellerweise mit spezifischen Rollenzuschreibungen versehen sind. Beide Rollenbilder stehen dem Gedanken einer Forschung, wie er von Seiten ‚der Naturwissenschaftenʻ vertreten und im Sinn eines populären Leitbildes maßgeblich geprägt wird, geradezu diametral entgegen: Kunst macht, Philosophie denkt. Beide betreiben aber keine systematische, Empirie basierte Forschung – so will es eine konventionelle Sichtweise. Und diese weiß noch mehr: Auch Kunst und Philosophie stehen ihrerseits, gemäß üblicher Rollenklischees, in Opposition zueinander. Nach dem Motto: Kunst macht, denkt aber nicht; Philosophie denkt, handelt aber nicht praktisch. Konventionelle Anschauungen scheinen also das Projekt einer Erforschung der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität – oder kurz: einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt –, die durch eine Kollaboration aus philosophischen und künstlerischen Ansätzen substantiiert wird, nicht gerade zu unterstützen. Was eine fachbezogene Sichtweise betrifft, so stellt sich die Sachlage sogar noch problematischer dar: Denn die beschriebenen Tendenzen, oder richtiger, die jeweiligen Disziplinen, aus denen diese hervorgehen, zeigen sich in ihrer historischen Entwicklung stark und – im Hinblick auf ein künftiges gemeinsames Forschen hin – mehr als ungut miteinander verwoben. Um diesen Sachverhalt, der später ausführlich diskutiert werden wird, an dieser Stelle nur knapp vorwegnehmend zu skizzieren: Philosophische Ästhetik hat seit dem 18. Jahrhundert, der Zeit ihrer Begründung, als eine ihrer zentralen Aufgaben die Auseinandersetzung mit den Künsten zum Gegenstand. Diese stellen der Tradition gemäß also nicht etwa einen potentiell gleichberechtigten Partner der Philosophie (mit dem somit eine potentiell gleichberechtigte Kollaboration möglich wäre) dar, sondern sie verkörpern selbst einen Untersuchungsgegenstand. Von dieser thematischen Fixierung setzen sich nun besagte aktuelle Tendenzen, Ansätze die in Richtung einer Alltags- und Umweltästhetik zielen, erklärtermaßen ab. Worauf sie ihr Augenmerk richten, sind nicht vermeintlich exklusive und elitäre Themen wie die schönen Künste, sondern alltägliche, profane Untersuchungsgegenstände wie, neben anderen, eben die (gebaute) menschliche Umwelt. Die modernen und zeitgenössischen Künste des 20. und 21.Jahrhunderts wiederum orientieren sich ihrerseits – gerade in Gestalt einer installativen Kunstpraxis, die nicht zuletzt als Ergebnis eines derartigen Umorientierungsprozesses verstanden werden kann – fort von Bestimmungen, die eine traditionelle philosophische Ästhetik für sie vorsieht. Stattdessen fokussieren sie auf ähnliche Fragestellungen wie die aktuelle ästhetiktheoretische Bewegung einer Alltags- und Umweltästhetik. Das Paradoxon dabei: Gerade in der beiderseitigen Abkehr voneinander zeigen sich beide

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Bereiche, zeigen sich philosophische Ästhetik und Künste, heute miteinander gesinnungsverwandt. Sie kommen einander erneut nahe, indem sie voneinander Abstand nehmen und sich anderen, unbekannten – dabei potentiell gemeinsamen Ufern zuwenden. Allerdings, und hierin liegt das Problem, wurden die Bildenden Künste, wie noch zu sehen sein wird, in ihrem Selbstbild nachhaltig von Anschauungen geprägt, welche es ihnen bis heute schwer zu machen scheinen, sich selbst als einen forschenden Bereich, vergleichbar einem ‚geistes-ʻ oder ‚naturwissenschaftlichenʻ Forschen, zu begreifen. Maßgeblich verantwortlich hierfür ist wiederum: der historische Einfluss der philosophischen Ästhetik. Letztlich müssen also beide Bereiche, müssen Künste und philosophische Ästhetik, eine kritische Absetzung vom Bereich traditioneller Ästhetik vollziehen, von dem sie sich andererseits beide bis zu einem Grad hin durchdrungen zeigen, dass eine einfache, d.h. unreflektierte Abkehr kaum möglich erscheint. Eben dieser Sachverhalt, eine genealogisch bedingte, komplexe Verwobenheit von philosophischer Ästhetik und Künsten, bildet die Ausgangslage, der sich eine Untersuchung, die aktuelle Tendenzen in der philosophischen Ästhetik einerseits, aktuelle Tendenzen in der installativen Kunstpraxis andererseits als maßgebliche Konstituenten einer künftigen Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt identifiziert, zu stellen hat. In der praktischen Konsequenz bedeutet dies: Diese Untersuchung wird an einem Punkt einzusetzen haben, der weit – nämlich noch zwei Schritte vor jenem liegt, auf welchen sie zusteuert und welchen sie letzten Endes zu tun gedenkt. Denn bevor (in Teil IV dieser Untersuchung) gefragt werden kann, wie eine kollaborative, künstlerisch-philosophisch basierte Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt konkret aussehen könnte, muss zunächst einmal gefragt werden, inwiefern jeder der beiden Bereiche für sich genommen, einerseits die Bildenden Künste in Gestalt einer installativen Kunstpraxis (Teil III), andererseits die philosophische Ästhetik in Gestalt einer Alltags- und Umweltästhetik (Teil II), zu einer wahrnehmungsbezogenen Umweltforschung beitragen könnten (bzw. sich selbst bereits heute als solche aufzeigen lassen). Um dies wiederum tun zu können, gilt es in einem ersten, grundlegenden Schritt, wie soeben verdeutlicht, das heute gegebene bzw. das potentiell mögliche Verhältnis beider Bereiche zueinander sowie deren gegebenes bzw. potentiell mögliches Selbstverständnis vorab zu analysieren (Teil I). Die vorliegende Untersuchung – welche nicht den Anspruch an sich stellen kann, prägnant lesbare Einführung in ein bereits existentes Forschungsgebiet sein zu wollen, sondern vielmehr systematisch den Grund für Künftiges zu bereiten hat – wird somit in drei Schritten und vier thematisch-inhaltlichen Blöcken voranschreiten, wobei sie, was ihre Struktur betrifft, ausgehend von einer ersten, knapper gefassten thematischen Einheit (Teil I zur philosophischen Ästhetik) in einem zweiten Schritt (Teil II zur Alltags- und Umweltästhetik und Teil III zur architektur- und ortsbezogenen Installation) parallel voranschreitet, um schließlich in einem dritten, abschließenden Schritt (Teil IV zur Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt) die beiden zuvor thematisierten Einheiten in eins münden zu lassen. Methodisch wird sie hierzu zunächst historisch Verbundenes kritisch voneinander lösen, sodann Dinge, separat voneinander, auf deskriptiv-analytische Weise in einem neuen Licht betrachten, und diese schließlich konstruktiv, von einer anderen als einer üblichen Seite her, erneut zusammenfügen.

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Der genaue, im Detail zurückzulegende gedankliche Weg, somit der konkrete Inhalt der unterschiedlichen thematischen Einheiten, soll hier nicht vorweggenommen werden. Er wird stattdessen am Anfang eines jeden Blocks bzw. Kapitels kurz vorskizziert. Hierzu dienen die kursiv gedruckten Einleitungspassagen.

Teil I

Kapitel 1 Der gemeinsame Ausgangspunkt: Philosophische Ästhetik

Der erste Teil dieser Untersuchung befasst sich mit der Frage: Was ist ,Ästhetikʻ – und was ,philosophische Ästhetikʻ? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese nur vermeintlich leicht zu beantwortende Fragestellung wird unter Punkt 1.1 eine historische Perspektive eingenommen: Wie wurde philosophische Ästhetik in der Geschichte verstanden? Welche Bestimmungen waren in diesem Kontext maßgeblich? Und welche Veränderungen erfährt dieses Verständnis im ausgehenden 20. Jahrhundert im Zuge der Postmoderne, sowie durch aktuelle disziplinäre Binnenbewegungen? Abschnitt 1.2 diskutiert, inwiefern heute nicht allein ein abweichendes Ästhetikverständnis zum Tragen kommt, sondern jüngere Entwicklungen sich ganz explizit von einer traditionellen Auffassung dessen, was unter Ästhetik verstanden wurde, absetzen. Abschnitt 1.3 geht auf mögliche bzw. notwendigerweise zu ziehende Konsequenzen einer aktuellen Kritik an traditionellen Auffassungen ein. Dies betrifft die Gestalt der Ästhetik als Disziplin im engeren Sinn; es betrifft des Weiteren aber auch und nicht minder, wie zu sehen sein wird, das mögliche Selbstverständnis der Künste als tradiertes Gegenstandsgebiet der Ästhetik sowie, last but not least, das Verhältnis beider Bereiche zueinander. Ein kleines Resümee des Kapitels zieht Abschnitt 1.4. Hier werden zudem die konkreten Schlussfolgerungen dargestellt, wie ich sie angesichts des soweit Erörterten für den weiteren Verlauf der Untersuchung ziehen möchte. Gemäß dem Grundgedanken des Buches, der darin besteht, Dinge aus sich selbst heraus zu entwickeln, gilt es aber zunächst einmal nicht zu fragen, wie philosophische Ästhetik in die Bahnen des hier Angestrebten – nämlich einer Forschung, die sich mit der alltäglichen Wahrnehmungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten befasst – gelenkt werden kann, sondern gerade umgekehrt: inwiefern sich im Feld der philosophischen Ästhetik aus einem genau zu analysierenden Status quo heraus spezifische Möglichkeiten, darunter die genannte, von selbst ergeben. In den Reihen der philosophischen Ästhetik scheint heute über eine Frage Klarheit zu herrschen, nämlich darüber, dass über den Begriff der ,Ästhetikʻ keine Klarheit mehr herrscht: „Each new book on aesthetics goes on to define once again what the author

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understands by the term ,aestheticsʻ“1, stellt die Ästhetiktheoretikerin Katya Mandoki fest. Und der Philosoph Wolfgang Welsch ergänzt, nicht ganz ohne Augenzwinkern: „Jeder Ästhetiktheoretiker sagt etwas Interessantes, aber jeder sagt etwas anderes.“2 Recht haben beide Autoren mit ihren Feststellungen, sicherlich. Und doch, aus einiger Distanz heraus betrachtet mag ein Umstand durchaus verwundern: und zwar jener, dass der offensichtlichen Strittigkeit des Aufgaben- und Gegenstandsgebiets der Disziplin zum Trotz immerhin doch eines sicher zu sein scheint, nämlich, wer sich überhaupt zu Fragen der Ästhetik (und somit zu deren möglicher gegebener oder nicht gegebener Definierbarkeit) äußern darf. Nicht KünstlerInnen sind es, die sich doch seit alters her immer wieder auch theoretisch mit ihrem Metier befasst haben3; und nicht PsychologInnen, deren Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragestellungen, etwa in Gestalt der Theorie der Einfühlung 4 oder der Gestaltpsychologie 5 , immerhin bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Dennoch werden beide Bereiche von der Warte der philosophischen Ästhetik her bis heute ausgegrenzt und als rein praktische Handlungsanweisungen bzw. als rein empirische Beobachtungen ohne philosophischen Mehrwert abgetan. Mit einer gewissen Distanz zur Disziplin könnte man daher feststellen, dass es – gemäß dem Satz, wonach der blinde Fleck nicht selten gerade auf der Stelle des eigenen Standpunktes liegt – doch zumindest einen Konsenspunkt zu geben scheint, nämlich: Dass auch die philosophische Unklarheit über ein Gegenstandsgebiet nichts daran ändert, dass dieses Terrain ein exklusiv philosophisches zu bleiben habe. Einen institutionellen Ansatz, wie ihn der Ästhetiktheoretiker George Dickie6 auf die Kunst anwendet, gewissermaßen zweckentfremdend auf die Ästhetiktheorie selbst zurückgewandt, könnte man daher sagen: Philosophische Ästhetiktheorie ist zunächst einmal all das, wovon PhilosophInnen sagen, dass es dies sei. Damit ist freilich ebenso viel gewonnen, wie verloren. Denn mündet eine derartige Bestimmung nicht geradezu unausweichlich in einen sich selbst inaugurierenden Zirkelschluss? (i.e.: Philosophische Ästhetik ist alles, wovon PhilosophInnen sagen, dass es philosophische Ästhetik sei: Und jede, die einen diesbezüglichen Neubestimmungsvorschlag für die Ästhetik unterbreitet, wird selbst zur philosophischen ÄsthetiktheoretikerIn und ist somit berechtigt, eben einen solchen neuen Vorschlag zu unterbreiten.) 1 2 3

4 5 6

Katya Mandoki, Everyday Aesthetics – Prosaics, the Play of Culture and Social Identities (Aldershot: Ashgate, 2007) S.45. Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 1996) S.23. Eine der wenigen Darstellungen, die theoretische Texte zur Kunst unterschiedlichster Provenienz, darunter philosophische und künstlerische Schriften, versammelt, findet sich in der dreibändigen Veröffentlichung von Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.), Art in Theory – An Anthology of Changing Ideas (Oxford: Blackwell, 2003). Siehe: Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hrsg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion – Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst (Münster: Lit-Verlag, 2007). Eine gute Einführung in die psychologische Ästhetik gibt: Christian G. Allesch, Einführung in die psychologische Ästhetik (Wien: Facultas, 2006). George Dickie gilt neben Arthur C. Danto als einer der wichtigsten Vertreter der angloamerikanischen Ästhetiktheorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beide trugen dazu bei, eine durch den Einfluss der analytischen Philosophie verengte Debatte in Richtung der Frage nach der institutionellen Verfasstheit von Kunst eine neue Richtung zu geben. Mehr hierzu in Kap. 2.1.

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ÄSTHETIK ?

Nun verhält es sich in der Realität durchaus nicht so, dass immer und zu allen Zeiten allein Dissens darüber geherrscht hätte, wie die Disziplin der Ästhetik, ihr Gegenstands- und Aufgabengebiet, näher zu bestimmen sein könnte. Im Gegenteil: Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein schien sich diese sogar recht klar definieren zu lassen. Zu einer Bestimmung konnten dabei drei mögliche Kriterien herangezogen werden. Unter philosophischer Ästhetik war demnach derjenige Bereich der Philosophie zu verstehen, der erstens eine systematische Untersuchung normativer Aspekte des Ästhetischen – oder kurz gesagt: des Geschmacks – liefert; oder zweitens sich dem Thema der Schönheit (sowie spezifischer anderer herausgehobener ästhetischer Qualitäten wie dem Erhabenen) zuwendet; oder drittens die Kunst thematisiert. Alle drei Möglichkeiten bezeichnen in einer tradierten Sichtweise, jede für sich genommen, paarweise gekoppelt, oder alle gemeinsam und miteinander verschränkt, das Gegenstandsgebiet der Ästhetik. Als Inbegriff eines Verständnisses, das die Betonung auf den erstgenannten Aspekt legt, um sich den anderen beiden Bereichen erst von dieser Warte aus zuzuwenden, ist sicherlich Immanuel Kants Ästhetiktheorie zu sehen, wie er sie insbesondere in seiner Kritik der Urteilskraft entfaltet. Diese findet ihr zentrales Interesse in der Frage der Möglichkeit (trans-)subjektiver Geschmacksurteile. Allerdings lieferte Kant nicht allein mit seiner dritten Kritik von 1790, die später – und bis in die aktuelle Gegenwart hinein – zu einer der einflussreichsten Arbeiten im Bereich der philosophischen Ästhetik überhaupt werden sollte, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Begriffs ,Ästhetikʻ. Grundlegender, und dies im wörtlichen Sinn, als seine Ausführungen im Bereich der Ästhetik, ist letztlich die konzeptionelle Grundanlage der Kritiken. Denn erst die prinzipielle Unterscheidung in verschiedene Sphären der Vernunft, in eine praktische und eine reine Vernunft, wie sie hier getroffen wird, ist es, die das Fundament für die Ästhetik im Sinn eines dritten, eigenständigen und klar ab- bzw. auszugrenzenden philosophischen Terrains liefert.7 Dabei gelang es

7

In seiner ersten Kritik, der Kritik der reinen Vernunft, hatte Kant die Möglichkeit einer Ästhetik (jenseits dessen, was er als transzendentale Ästhetik bezeichnet) noch zurückgewiesen, da er sie als verfehlten Versuch interpretierte, die „kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen“. Erst über den Weg, den Kant bis zur Kritik der Urteilskraft zurücklegt, änderte sich diese Einschätzung – wenn auch nur bedingt und unter bestimmten Vorzeichen. Denn was Kant in seiner dritten Kritik bewegt, ist die Frage, wie es möglich ist, dass ästhetische Einschätzungen in den Sphären der Kunst, des Kunsthandwerks, der Natur (u.a.) einerseits subjektiv erscheinen, andererseits ihrem Charakter nach einen durchaus anderen, nämlich einen allgemein gültigen, transsubjektiven Anspruch erheben. Für Kant bedürfen derartige, seltsam verfasste Einschätzungen einer eigenen Instanz – und zwar jener der für seine dritte Kritik titelgebenden Urteilskraft. Diese soll innerhalb des kantischen Systems die Rolle einer Mittlerin übernehmen zwischen dem an die Vernunft geknüpften Begehrungsvermögen und dem an den Verstand gebundenen Erkenntnisvermögen. Konstitutiv für diese Mittlerrolle, die die Urteilskraft – und mit ihr der Bereich ästhetischer Fragestellungen – bei Kant einnimmt, ist aber zunächst einmal eine vorausgehende, fundamentale Trennung. Und eben jene Trennung ist es, welche durch

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Kant – und dies durchaus vorsätzlich (vgl. Kapitel 2.2) –, ein anderes, konkurrierendes Ästhetikverständnis seiner Zeit nachhaltig außer Kraft zu setzen. Denn offiziell begründet worden war die philosophische Disziplin nur wenige Jahrzehnte zuvor durch Alexander Gottlieb Baumgarten. Dessen Motivation hatte keineswegs in der Begründung einer ästhetischen Urteilslehre im Sinne Kants bestanden, sondern vielmehr, in Baumgartens eigenen Worten, in der Formierung einer Sciencia cognitionis sensitivae – oder zu deutsch: einer Erforschung der sinnlichen Erkenntnis.8 Es ist diese paradigmatische Wende, die Kant der Ästhetik verleiht, fort von einer sinnlichen Erkenntnislehre und hin zu einer ästhetischen Urteilslehre, die als sein eigentlicher, zentraler Beitrag zur weiteren Entwicklung der philosophischen Disziplin verstanden werden muss (und die es heute, wie im Weiteren zu sehen sein wird, zu überdenken gilt). Die Frage nach dem guten Geschmack, in einem alltagsweltlichen geschmäcklerischen Sinn, war hingegen ein weitgehend vordergründiger Aspekt des Themas, der bei Kant eher notgedrungen Beachtung fand, nicht zuletzt, da er bereits unterschiedlichste Denker des 17. und 18. Jahrhunderts bewegt hatte und somit einer Stellungnahme von Seiten des kantschen Systementwurfs schlichtweg bedurfte. Rudimente und Variationen dieses ästhetiktheoretischen Strangs finden sich jedoch bis heute: So etwa in der Frage nach dem normativen Gehalt ‚ästhetischer Qualitätenʻ (Was ist ästhetisch ‚gutʻ? Was ist ästhetisch ‚wertvollʻ?) oder in der Diskussion um mögliche Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur (sei es, dass derartige Grenzen für überwunden erklärt werden, aber ebendiese Feststellung als solche permanent repetiert wird; oder in Gestalt der vermeintlich provokanten, dabei nichtsdestoweniger restaurativen Forderung, derartigen Grenzziehungen nun, nach ihrem allgemein diagnostizierten Verschwinden, erneut Beachtung zu schenken). Auch der zweite und dritte Aspekt, mittels dessen Ästhetik in einem traditionellen Sinn bestimmt werden kann, sind bereits in der kantischen Ästhetik anzutreffen. Denn Immanuel Kant wendet sich nicht nur der Frage des Geschmacksurteils, sondern ebenso jenen der Kunst und der Schönheit sowie einer Fülle weiterer Einzelthemen zu (etwa der Teleologie der Natur, oder des Erhabenen in der Mathematik).9 Rezipiert wurde die Kritik der Urteilskraft jedoch lange Zeit vorwiegend hinsichtlich ihrer Reflexionen zum Thema Kunst. Diese Wirkungsgeschichte ist nicht zuletzt auf

8

9

Kants Kritiken selbst fundamentiert wird. Vgl. Immanuel Kant, Die Kritiken; Gesamtausgabe der drei kantischen Kritiken (Frankfurt a.M.: Zweitausendeins-Verlag, 2008). Anders als bei Kant wird bei Baumgarten der Bereich des Ästhetischen nicht als vom Erkenntnisvermögen getrennt angesehen, sondern im Gegenteil gerade zu einem Teil von diesem erklärt. Dies ist ein entscheidender und in Bezug auf die weitere Untersuchung wegweisender Schritt. Anzumerken ist, dass Baumgartens Bestimmung der Ästhetik im Sinn einer sinnlichen Erkenntnisforschung zwar die maßgebliche, dabei nicht exklusive Definition der von ihm neu begründeten Disziplin darstellt. So lautet die komplette Bezeichnung, wie Baumgarten sie in § 1 seiner Aesthetica von 1750 gibt: „Aesthetica (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchere cogitandi, ars analogi rationalis) est sciencia cognitionis sensitivae“. Diese Bestimmungen sind jedoch nicht als alternative, von einander unabhängige, sondern vielmehr als miteinander konzeptionell verwobene Bestimmungen zu verstehen. Alexander G. Baumgarten, Ästhetik (Teil I); herausgegeben von Dagmar Mirbach (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2007) S.10. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft; in: Immanuel Kant, Die Kritiken; a.a.O.

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den nachhaltigen Einfluss eines zweiten richtungsweisenden Beitrags zur Ästhetik, nämlich Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik10 zurückzuführen. Denn nur wenige Jahre nach Kants fundamentaler Uminterpretation des großen baumgartenschen Projekts einer philosophischen Disziplin, genannt ,Ästhetikʻ, hatte der deutsche Idealismus und allen voran Hegel dieser eine weitere entscheidende Wendung gegeben: Wie Kant das Feld der Ästhetik durch die Pforte des ästhetischen Urteils betritt, so betritt es Hegel nun durch die Pforte der Kunst. Nicht die Fragen, wie wir ästhetische Urteile fällen oder Schönheit im Allgemeinen erfahren mögen, stehen bei ihm im Vordergrund, sondern jene nach der Rolle, die die Kunst hinsichtlich der historisch-prozesshaft gedachten Entwicklung des Geistes (bzw. reziprok: die der Geist in der Entwicklung der Kunst) spielen mag.11 Es findet also eine Fokussierung des philosophischen Betrachtungshorizontes auf die Künste statt, die seit der Zeit des deutschen Idealismus und bis hinein ins 20. Jahrhundert, bis hin

10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik I-III (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986). 11 Hegel betrachtet die Künste unter dem leitenden Gesichtspunkt einer ,anschaubaren Wahrheitʻ. Für ihn bewegen sie sich hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts prinzipiell auf der gleichen Stufe wie Religion und Philosophie, nämlich: im Bereich des ,absoluten Geistesʻ. Allerdings geht Hegel innerhalb dieser höchsten Sphäre von einer hierarchischen Ordnung aus. So vermögen für ihn alle drei genannten Bereiche zwischen Natur und Geist zu vermitteln. Allerdings korrelieren diese hierbei mit den drei unterschiedlichen Modi der Weltaneignung: der Anschauung, der Vorstellung und dem Begriff. Die reinste Form des zu sich selbst kommenden Geistes bleibt – wie von einem Philosophen zu erwarten – dem Begriff und somit der Philosophie vorbehalten, während die Religion mit der Vorstellung und die Künste mit der Anschauung korrelieren. Dabei durchläuft der absolute Geist nicht nur durch die drei unterschiedlichen Bereiche, also durch die Kunst, die Religion und die Philosophie, hindurch eine Entwicklung, sondern auch innerhalb dieser. Für Hegel lässt sich somit auch die Kunst ihrerseits hinsichtlich verschiedener Stadien der Entwicklung des Geistes unterscheiden, nämlich in eine ,symbolischeʻ, eine ,klassischeʻ und eine ,romantischeʻ (die Begriffe sind nicht im Sinn eines heutigen Verständnisses misszuverstehen). Während es dem Geist angesichts archaischer Kunstformen (etwa der vorchristlichen Kunst des Nahen Ostens) noch nicht gelingt, seinen Ausdruck in der sinnlichen Gestalt der Kunst zu entfalten, findet er seine ideale Entsprechung in der Antike (in der das Geistige, die Götter, sich in die Gewänder – also: die Körper – von Menschen kleiden, welche die Kunst ihrerseits idealtypisch veranschaulichen kann). Der Abstraktionsgrad des christlichen Glaubens verwehrt es ihm hingegen bereits wieder, sich adäquat in der Kunst zu spiegeln. Hegels philosophischer Ritterschlag, den er der Kunst mittels der prinzipiellen Beachtung unter dem Gesichtspunkt des Geistigen in ihr zuteilwerden lässt, erweist sich also als zweifelhafte Ehre. Denn in Hegels System kommt ihr letztlich die undankbare Rolle zu, Geringste unter den Ersten zu sein. Oder anders gesagt: Die Kunst fungiert als eine Art Durchlauferhitzer des Geistes, der sich in dem Moment, in dem er sich in der Kunst am idealsten widerzuspiegeln vermag, auf Grund seines immanenten Fortentwicklungsdrangs bereits wieder aus dieser verabschiedet und gleichsam in Luft – respektive: Religion, Philosophie – auflöst. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik I-III; a.a.O.

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zu Adorno und der analytischen Philosophie des angloamerikanischen Diskursraums, nicht nur in Kraft bleiben, sondern sich sogar weiter zuspitzen sollte.12 Doch auch das Thema der Schönheit, bzw. einer sogenannten ,Kallistikʻ, also einer philosophischen Schönheitslehre, wie sie ihre Vorläufer bereits in den kunsttheoretischen Schriften der Renaissance hatte, prägte nachhaltig die weitere Geschichte der Disziplin. Waren Schönheit und Kunst in der antiken Philosophie eines Platon noch rigoros getrennt worden (Erstere als der Sphäre des Wahren und Guten, Zweitere, berühmt-berüchtigtermaßen, als jener des Scheins und der trugbildhaften Imitation zugehörig), so findet sich seit dem Beginn der Moderne eine zunehmend intime Verbindung beider Bereiche, die sich auch in der Philosophie und somit, der philosophischen Ästhetik, niederschlägt. Dies lässt sich bei Baumgarten beobachten, der die Ästhetik nicht allein als „sciencia cognitionis sensitivae“, sondern gleichzeitig als „ars pulchre cogitandi“ (also als ,Kunst des schönen Denkensʻ 13 ) bestimmt, bei Kant, der Schönheit als Möglichkeit der Kunst wie der Natur diskutiert, oder bei Hegel, der das Schöne sogar als ausschließlich mit der Kunst verbunden verstanden wissen möchte. Selbst der vorsätzliche Abfall der modernen Kunst vom Gedanken der Schönheit als künstlerischer Leitkategorie, wie er sich später, im 20. Jahrhundert beobachten lässt, vermochte dieser intimen Verbindung im Terrain der philosophischen Ästhetik nur wenig anzuhaben. Und so finden sich bis heute ästhetiktheoretische Ansätze, die entweder die nach wie vor gegebene Relevanz des Schönheitsbegriffs, respektive (in ,provokantʻ restaurativer Manier) dessen potentielle Rückkehr in die Kunst thematisieren14, oder auch solche, die jenseits eines enger gefassten Verständnisses einer Kallistik den Gedanken einer philosophischen Untersuchung spezifischer ,ästhetischer Qualitätenʻ (in einem weiten Spektrum vom Erhabenen bis hin zum negativen Extrem des Hässlichen) aufrechterhalten.15

12 Siehe hierzu Kap. 2.1. 13 Zu Baumgartens Bestimmungen der Ästhetik, siehe: Kap. 2.2. 14 Im anglophonen Raum tritt, neben anderen, Christopher Nwodo für eine schönheitszentrierte Ästhetik ein. Im deutschsprachigen Kontext ist diesbezüglich etwa an Martin Seel oder Constanze Peres zu denken. Vgl. Constanze Peres, Schönheit als ontosemantische Konstellation; in: dies./Dirk Greimann (Hrsg.), Wahrheit, Sein, Struktur – Auseinandersetzungen mit Metaphysik (Hildesheim: Olms, 2000) S.144-173; Christopher Nwodo, Philosophy of Art versus Aesthetics; in: British Journal of Aesthetics, 24 (3), 1984, S.195-2005; Martin Seel, Schönheit – eine kleine begriffliche Reise; in: Andrea Beyer/Danièle Cohn (Hrsg.), Die Kunst denken, Bd. 41 (Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2012) S.1-11. 15 Der Begriff des ,Erhabenenʻ gewann im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erneut an Aktualität (zu denken an Theodor W. Adorno oder Jean-François Lyotard). Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Karl Rosenkranz seine Ästhetik des Häßlichen veröffentlicht. Aber auch weniger sublime Begriff wie die Ausdrücke ,coolʻ, ,neatʻ, ,messyʻ, ,dirtyʻ werden heute in ästhetiktheoretischen Kreisen hinsichtlich ihres Potentials, eine ästhetische Qualität (oder auf Englisch: eine ,aesthetic propertyʻ bzw. ,aesthetic qualityʻ) zu verkörpern, diskutiert. Siehe: Tom Leddy, Everyday Surface Aesthetic Qualities: „Neat“, „Messy“, „Clean“ and „Dirty“; in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 53 (3), 1995, S.259-268.

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Ästhetik und Postmoderne Ein solchermaßen klar definiertes Verständnis von Ästhetik sieht sich heute in Frage gestellt – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Als Ereignis, das diesbezüglich nicht allein eine kurzlebige Trendwende, sondern – jedenfalls im Bereich der Ästhetik – in der Tat als eine Zäsur angesehen werden muss, ist die Ausrufung der ‚condition postmoderneʻ durch Jean-François Lyotard zu sehen.16 Denn im Zuge der Debatte um die Bedeutung und Tragweite des Begriffs der ,Postmoderneʻ rückte auch das über lange Phasen als randständig erachtete Terrain der Ästhetik erneut ins Zentrum der philosophischen Aufmerksamkeit. Dies forderte die philosophische Disziplin in einem positiven Sinn heraus, brachte sie allerdings zugleich in ihrer klar konturierten Selbstsicht – und somit: Selbstlimitierung – in Bedrängnis. Um sich diesen Sachverhalt näher zu vergegenwärtigen, ist es sinnvoll, sich an dieser Stelle noch einmal einige Bedeutungsmöglichkeiten und Bedeutungsebenen eines postmodernen Ästhetikverständnisses vor Augen zu führen. Eine erste Verbindung zwischen Postmoderne und den Künsten, als einem traditionellen Gegenstandsbereich der Ästhetik, zeigt sich bereits in terminologischer Hinsicht: Der Begriff ,post-modernʻ war ursprünglich im Feld der Künste – insbesondere in der Architekturtheorie – geprägt worden. Prominent gemacht hatte ihn der Architekturtheoretiker Charles Jencks17, der damit eine bestimmte Tendenz in der Architektur seiner Zeit zu benennen suchte, die er insbesondere durch zwei Aspekte gekennzeichnet sah: erstens eine kritische Haltung den architektonischen Prinzipien der Moderne gegenüber sowie zweitens, daran anschließend, durch eine dem Purismus und Universalismus der modernen Architektur zuwiderlaufende Pluralisierung der Stilformen. Mit seiner Formulierung einer ,condition postmoderneʻ hatte Lyotard also eine Bestandsaufnahme aus dem Feld der Künste auf eine allgemeine kulturellgesellschaftliche Ebene übertragen.18 Die Analogie, die sich zwischen einer spezifischen Entwicklungstendenz im Bereich der Architektur, wie sie Jencks benennt, und einer kulturell-gesellschaftlichen Epochenkonstellation als solcher, wie von Lyotard beschrieben, herstellen lässt, manifestiert dabei eine allererste und noch weitgehend assoziative Facette des postmodernen Interesses am Bereich und Begriff der ,Ästhetikʻ. Eine weitere und durchaus fundamentale Erscheinungsform lässt sich auf epistemologischer Ebene verorten. Denn gemäß einer postmodernen Betrachtungs16 Jean-François Lyotard, The Postmodern Condition – A Report on Knowledge (Manchester: Manchester University Press, 1979). 17 Vgl. Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur (Stuttgart: DVA, 1988). 18 Lyotard sieht die Gegenwart als solche gekennzeichnet durch das Ende der grande narratives, also jener die Moderne prägenden Meta-Erzählungen, die – aufbauend auf universellen Prinzipien wie ,Subjektʻ oder ,Geistʻ – von einem einheits- und freiheitsstiftenden Fortschritt in Philosophie, Wissenschaft und Politik kündeten. Demgegenüber zeige sich die heutige Realität gekennzeichnet durch eine Pluralität unterschiedlicher Lebensformen, die einer gemeinsamen, einer verbindenden Basis entbehrten und die in ihrer Heterogenität ebenso viel Potential zum Konsens wie zum Konflikt bergen. Siehe hierzu Lyotard selbst bzw. zusammenfassend: Richard Shusterman, Aesthetics and Postmodernism; in: Jerrold Levinson (Hrsg.), Oxford Handbook of Aesthetics (Oxford: Oxford University Press, 2005).

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perspektive sehen sich mit dem diagnostizierten Zerfall der großen universalistischen Meta-Erzählungen auch die nach Erkenntnis strebenden Felder der Wissenschaften und der Philosophie mit dem Verlust allgemeinverbindlicher Maßstäbe konfrontiert. Was hierbei zu Tage trete, so Lyotard, sei nicht weniger als ein Verlust der Möglichkeit, mit den Mitteln und Modi der Vernunft Urteile zu fällen, die ihre jeweils unterschiedlichen, zu Grunde liegenden Paradigmen zu überschreiten vermöchten. Eine Möglichkeit der Orientierung sei angesichts einer solchen ,Krise des Urteilsʻ nicht mehr immanent, sondern allenfalls außerhalb, nämlich im Feld des Ästhetischen und der Urteilsmodi, die dieses bereitstellt, zu finden. Lyotard greift hierzu auf Kants Kritik der Urteilskraft zurück. Denn, wie Lyotard im Rahmen einer Neulektüre der dritten kantischen Kritik zu zeigen sucht, hier finde sich eine besondere Form des Urteils und zwar: ein vorurteilsloses Urteil, das sich ohne die Voraussetzung eines gegebenen Wissens um seinen Gegenstand und ohne die Orientierung an festgelegten Regeln vollziehe. Es ist eben diese ästhetische Form des Urteils, die Lyotard – im Sinn eines ,Gefühlsʻ oder ,Geschmacksʻ, wie man sagen könnte – dem Kalkül der modernen Ratio entgegenstellt. Das Ästhetische wird dadurch zu einer Art komplementären Instanz, wenn nicht gar: zu einer postmodernen Konkurrentin des modernen Leitbegriffs der Vernunft, und, was entscheidend ist: Ihm kommt konstitutive, d.h erkenntnistheoretische Bedeutung zu.19 Nun ist es aber nicht diese fundamentale Bedeutung allein, die dem Ästhetischen in postmoderner Sichtweise so große Bedeutung verleiht. Quasi am anderen Ende der Skala menschlichen Wirklichkeitsvollzugs ansetzend wird diesem auch eine realitätsgenerierende Rolle im Sinn einer ,Ästhetisierung der Oberflächeʻ20 zugesprochen. Dieser insbesondere auf mediale Phänomene abzielenden Bedeutungsmöglichkeit widmen sich Autoren wie Jean Baudrillard oder Gianni Vatimo – nicht zuletzt im geistigen Anschluss an Walter Benjamins Reflexionen über den Zusammenhang von Ästhetik und neuen (Reproduktions-)Technologien.21 Konstatiert – beziehungsweise postuliert – wird eine umfassende Ästhetisierung des Alltags, wie sie durch die fortschreitende Verbreitung neuer Medientechnologien gegeben sei.22 19 Vgl. Jean-François Lyotard, Le differend (Paris: Minuit, 1983) 20 Wolfgang Welsch unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer ,Oberflächenästhetisierungʻ und einer ,Tiefenästhetisierungʻ, die bis hin zu einer erkenntnistheoretischen, einer ,epistemologischen Ästhetisierungʻ reicht. Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 1996). 21 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit; in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980). 22 Für Baudrillard geht diese Tendenz so weit, dass sich eine Unterscheidung zwischen Realität und Repräsentation von Realität heute nicht mehr aufrechterhalten lasse. Vielmehr habe sich unsere Realität heute selbst zu einer durch Bilder, Werbung, Massenmedien hervorgerufenen Simulation, einem ,Simulacrumʻ gewandelt. Die Realität sei per se nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Und selbst unser Verlangen nach dem Realen, dem Echten, dem Authentischen könne stets wiederum nur zur Schaffung immer neuer und perfekterer Illusionen führen. Das Fazit für Baudrillard: Die Menschheit lebt heute in einem Zustand des Hyperrealen, das jede externe Referenz auf ein ,ursprünglichʻ Reales verloren hat. Vgl. Jean Baudrillard, Simulations (New York: Semiotext, 1983); und: Jean Baudrillard, Selected Writings, herausgegeben von Mark Poster (Stanford: Stanford University Press, 2001).

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Ein letzter Aspekt, der an dieser Stelle genannt werden soll, ist die Ästhetisierung der Medien der Erkenntnis, des Denkens und Schreibens selbst. Die oben erwähnte, noch weitgehend kontingent erscheinende Herleitung des Begriffs der ‚condition postmoderneʻ aus dem Bereich der Architekturtheorie wird in dieser Hinsicht zu einem durchaus aussagekräftigen Sachverhalt. Denn einige der Merkmale, mit denen sich die postmoderne Architektur heute retrospektiv als Tendenz in der Architektur des ausgehenden 20.Jahrhunderts kennzeichnen lässt, lassen sich auch auf die philosophisch-,geisteswissenschaftlicheʻ Bewegung der Postmoderne und deren Formenkanon anwenden. Hierzu zählen Merkmale wie: die Verweigerung eines festen Kanons, der Verzicht auf eine einheitliche Form, der Pluralismus der Stilelemente, die spielerische Aneignung, der eklektizistische Umgang mit historischen Referenzen, der Einsatz von Ironie, die Zurückweisung eines Unterschieds von ,highʻ und ,lowʻ.23 All dies sind Aspekte, die Jürgen Habermas dazu veranlassen, das Philosophieverständnis der Postmoderne per se als eine Art literarischen Stil zu kennzeichnen.24 Ästhetik, das ist in postmoderner Hinsicht nicht eine philosophische Disziplin, sondern eher eine philosophische Alternative ebenso wie etwas Alternativloses: In Gestalt einer Ästhetisierung der Oberfläche überdeckt sie die Realität und macht gerade hierdurch eine Unterscheidbarkeit zwischen Realem (als Untergrund) und Schein (als Überdeckendem) unkenntlich. In Gestalt einer erkenntnistheoretischen Ästhetisierung greift sie die feste Basis an, auf der unsere modernen Erkenntnisformen vermeintlich aufruhen. Nicht die Funktionsweisen einer universellen Vernunft sind es, die, wie noch im Zeitalter der Moderne der Fall, evident erscheinen, sondern die Evidenz der Vernunft selbst ist es, die sich, postmodern gewendet, allein ästhetisch verfasst zeigt. Selbst auf der Ebene der Methodik verschwimmen die Unterschiede: Die ästhetische (literarisch-künstlerische) Ausdrucksweise wird zum adäquaten Pendant eines nicht anders darstellbaren Untersuchungsgegenstandes, während eine vermeintlich allgemeinverbindliche sachlich-strukturierte Methodik als ästhetisches Konstrukt aufgezeigt wird. Aktuelle Entwicklungen Wie eine kurze Rekapitulation deutlich macht, kommt dem Ästhetischen im Kontext der Postmoderne enorme Bedeutung zu. Allerdings stellen sich angesichts dieser Tatsache auch Fragen. Trotz, oder möglicherweise gerade wegen der vielgestaltigen Aufmerksamkeit, die das Ästhetische erfährt, ist der Begriff des ,Ästhetischenʻ, wie er im Kontext der Postmoderne Verwendung findet, keineswegs leicht zu fassen. Ganz im Gegenteil: Nicht nur wird er zur Bezeichnung des schwer zu Bezeichnenden herangezogen. Er selbst bleibt letztlich in der polysemantischen Schwebe. Mögliche Verwendungsweisen und Bedeutungsaspekte reichen dabei von ,Stilʻ, über ,Narrativʻ oder ,künstlerisches Konstruktʻ, bis hin zu ,strukturellesʻ oder ,formalesʻ Prinzip, ,non-rationale Motivationʻ, ,Zufallʻ oder ,Spielʻ. Eben dieses Schillern und Changieren des Begriffs ist es auch, das den pragmatistischen Ästhetiktheoretiker Richard Shusterman dazu veranlasst haben dürfte, tref23 Vgl. Arthur C. Danto, After the End of Art (Princton: Princton University Press, 1997) S.11. 24 Der große Bogen, den Habermas in diesem Kontext spannt, verläuft von Nietzsche und Heidegger bis zu Derrida und Rorty. Vgl. Jürgen Habermas, The Philosophical Discourse of Modernity (Cambridge: MIT Press, 1987) S.190-207.

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fend zu konstatieren: „Perhaps the most clear thing that can be said about postmodernism is that it is a very unclear [...] concept.“25 Was dem vagen, schwer zu fassenden Charakter der Postmoderne im Allgemeinen wie des postmodernen Ästhetikverständnisses im Besonderen dabei gegenübersteht, ist das oben skizzierte enge Verständnis von Ästhetik im Sinn einer philosophischen Disziplin, deren Betätigungsfeld sich in einer traditionellen Lesart mittels der drei thematischen Eckpfeiler der Kunst, der Schönheit und des Geschmacksurteils klar umreißen lässt. Diese selbst verordnete Engführung kommentiert wiederum ein anderer äußerst einflussreicher Ästhetiktheoretiker des angloamerikanischen Diskursraums, nämlich Arthur C. Danto, mit der folgenden selbstironischen Äußerung: „[...] aesthetics itself, let us face it, is about as low on the scale of philosophical undertaking as bugs are in the chain of being […].“26 Vielschichtigkeit bis zur Auflösung ins Diffuse oder Selbstbeschränkung auf den ebenso klar umrissenen wie limitierten Betrachtungshorizont eines am Boden kriechenden Insekts – sind das die Alternativen der philosophischen Ästhetik? Eines steht wohl fest: Mit dem tradierten Ästhetikverständnis der philosophischen Disziplin und einem entgrenzten postmodernen Ästhetikbegriff sind zwei Auffassungsmöglichkeiten des Ästhetischen benannt, die einander unvermittelt und dem Anschein nach auch ebenso unvermittelbar gegenüber stehen. Schließlich ist die Limitierung des Ästhetischen, wie sie eine traditionelle disziplinäre Ästhetik vornimmt, die Sache der Postmoderne gerade nicht. Umgekehrt würde eine Entgrenzung des Ästhetikbegriffs in postmoderner Manier die philosophische Partikulardisziplin in ihrem Betrachtungshorizont ,nach oben hinʻ – bezüglich der diagnostizierten umfassenden Ästhetisierung des Realen – wie ,nach unten hinʻ – bezüglich einer epistemologischen Ästhetisierung – derart weiten, dass ein Beschreiten dieses Weges, um auf Dantos Metapher zurückzukommen, dem Gang eines Käfers in den Fußspuren eines Riesen gliche. Die Diskussion um den Begriff der Postmoderne, im Sinn eines offen ausgetragenen philosophischen Konflikts, brach in den späten 1970er Jahren los. Ihr Epizentrum lag in den 1980er Jahren. Die Schockwellen der Debatte sind noch heute deutlich zu vernehmen. Dennoch ist mit deren sukzessiven Abflauen auch die Diskussion um die philosophische Bedeutung eines umfassend entgrenzten Ästhetikbegriffs zwar nicht gänzlich verebbt, wohl aber spürbar ruhiger geworden. Nicht die Philosophie per se ist es heute, die ihren Blick wie gebannt auf die Frage des Ästhetischen richtet. Allenfalls sind es mehr oder minder einflussreiche Einzelpositionen, die sich der Ästhetik zuwenden. Zu den prominentesten Positionen der vergangenen beiden Jahrzehnte zählen in diesem Kontext sicherlich Alain Badiou und Jacques Rancière.27 Während Badiou mit seinem Begriff der ,In-Ästhetikʻ explizit Stellung gegen ein tradiertes Verständ25 Richard Shusterman, Aesthetics and Postmodernism; in: Jerrold Levinson (Hrsg.), The Oxford Handbook of Aesthetics; a.a.O., S.773. 26 Arthur C. Danto, A Future of Aesthetics; in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 51 (2), 1993, S.272. 27 Siehe etwa Jacques Rancière, Le Partage du sensible – Esthetique et politique (Toulouse: La Fabrique-Editions, 2000); Alain Badiou, Kleines Handbuch zur In-Ästhetik (Wien: Turia+Kant, 2001).

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nis bezieht, nimmt Jacques Rancière ein solches mit seiner Formulierung eines ,ästhetischen Regimesʻ gerade umgekehrt in Schutz. Alain Badiou möchte vermeiden, dass die Kunst in traditioneller philosophischer Manier, wie er sagt, weiterhin zu einem Objekt der Philosophie gemacht wird. Stattdessen ist das erklärte Ziel seiner In-Ästhetik, Kunst als eigenständige Form der Hervorbringung von Wahrheit anzuerkennen und allein deren „intraphilosophische Wirkungen“, so Badiou, zu thematisieren. Dabei handelt es sich angesichts der Tradition einer Philosophie der Kunst in der Tat um einen bemerkenswert behutsamen Ansatz. Freilich, hinsichtlich der Frage des Ästhetikverständnisses bleibt dieser einem traditionell-idealistischen Denken, nach dem Ästhetik schlechthin mit Philosophie der Kunst gleichzusetzen sei, verhaftet – wenn auch unter gewandelten Vorzeichen.28 Wenig anders verhält es sich mit Jacques Rancière. Dieser betont seinerseits, explizit gegen Badiou Stellung beziehend, das produktive Potential eines traditionellen Ästhetikverständnisses.29 Dieses ermögliche es uns heute schließlich erst, so Rancière, Kunst als solche zu identifizieren und zu denken. Philosophische Ästhetik versteht Rancière demgemäß als ,Matrix des Diskursesʻ über Kunst oder auch als ,Weise der Identifizierungʻ von Kunst.30 Zwar geht Rancières Ansatz innerhalb dessen, was er als ,Aufteilung des Sinnlichenʻ bezeichnet, über die Künste hinaus, denn das ästhetische Regime stellt für den Theoretiker nur eine Möglichkeit und Weise dar, das Sinnliche zu identifizieren und (neu) zu verteilen. Was den Begriff der ,Ästhetikʻ anbelangt, so wird dieser jedoch eng mit Kunst assoziiert. Rancière selbst hierzu: „Aesthetics is not the name of a discipline, it is the name of a specific regime for the identification of art.“ 31 Der Ausdruck ,Ästhetikʻ ist für Rancière also weder einfach synonym mit der Bezeichnung der philosophischen Disziplin, noch mit Kunst als solcher zu verstehen. Andererseits ist Ästhetik für Rancière, im Sinne eines Denk- und Perzeptionsschemas, nicht von Kunst und von der Geschichte der philosophischen Disziplin, im Sinn einer philosophischen Auseinandersetzung mit Kunst, zu lösen (wobei es für Rancière insbesondere deren frühe kanonische Protagonisten sind, Autoren wie Kant, Schiller, Hegel, Schelling, die ausmachen, was das Regime in seiner Gesamtheit verkörpert). Individuelle Ansätze aus jüngerer Zeit, wie die exemplarisch genannten, mögen, wie zu sehen ist, interessante Gedanken zu einer Philosophie der Kunst in ihrer Historie – und mittels eines Spiegels in der Historie auch in ihrer Gegenwart – beitragen.32 Hinsichtlich der Frage, die im Zuge der Postmoderne-Debatte als virulente – 28 Alain Badiou selbst fasst die Intention, die er mit dem Begriff der ,In-Ästhetikʻ verbindet, wie folgt zusammen: „In-ästhetisch ist für mich eine Beziehung der Philosophie zur Kunst, der in keiner Weise die Absicht zu Grunde liegt, Kunst, von der angenommen wird, dass sie aus sich selbst heraus Wahrheit hervorbringt, als Objekt für die Philosophie einzusetzen. Entgegen der ästhetischen Spekulation beschreibt die In-Ästhetik allein die aus der unabhängigen Existenz bestimmter Kunstwerke hervorgehenden intraphilosophischen Wirkungen.“ Alain Badiou, Kleines Handbuch zur In-Ästhetik; a.a.O., S.6. 29 Vgl. Jaques Rancière, Aesthetics and its Discontents (Cambridge: Polity Press, 2009) S.2f und S.63-87. 30 Jacques Rancière, Aesthetics and its Discontents; a.a.O., S.14. 31 Zu dieser und weiterer assoziierter Bestimmungen, siehe: Jacques Rancière, Aesthetics and its Discontents; a.a.O., S.8-15. 32 Mehr zu Badiou und Rancière im Kontext dieser Arbeit in Kap. 1.4 und Kap. 9.

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und nicht einfach mit dieser erneut aus der Welt zu schaffende – Problematik aufgezeigt wurde, nämlich was unter dem Begriff ,Ästhetikʻ in allgemeinerer Hinsicht – und nicht allein im engeren Sinn einer ,Philosophie der Kunstʻ – zu verstehen sei und wie philosophische Ästhetiktheorie, im Sinn einer Disziplin, künftig betrieben werden sollte, besitzen sie indes nur bedingt Aussagekraft.33 Ein dritter Weg der Ästhetik? Nun lässt sich jenseits individueller Stellungnahmen zum Thema, von denen die prominenten Ansätze Badious und Rancières an dieser Stelle allein exemplarisch Zeugnis abliefern, aber noch eine größere, übergreifende Tendenz ausmachen, die 33 Zwar geben beide Ansätze eine individuelle Antwort auf die Frage ,Was ist Ästhetik?ʻ. Letztlich bleibt die Aussagekraft dieser Antworten jedoch limitiert. Badious Gedanke einer In-Ästhetik sind richtig und wertvoll, was das Insistieren auf einem gewandelten Verhältnis zwischen Philosophie und Künsten betrifft. Letztlich beschränkt sich diese Forderung, wie oben erwähnt, jedoch auf eine einzelne Komponente eines historisch vorgegebenen Ästhetikbegriffs – nämlich den Gedanken einer Philosophie der Kunst. Rancières Ansatz bietet bei genauerer Betrachtung gleich zwei Ästhetikbegriffe an: Einen weiteren und einen engeren. In einem weiteren Sinn sei unter Ästhetik – im Anschluss an Kant (oder richtiger: an Kant in der Lesart Foucaults) zu verstehen: „[...] the system of a priori forms determining what presents itself to sense experience. It is a delimitation of spaces and times, of the visible and the invisible, of speech and noise […]“. Interessant – auch und gerade in Bezug auf den weiteren Kontext der vorliegenden Untersuchung – ist an dieser Bestimmung die darin enthaltene Ausrichtung der Ästhetik auf das sinnliche Wahrnehmen. Allerdings müsste eben dieser Bereich sodann näher charakterisiert werden. Während umgekehrt die Fokussierung auf die apriorischen Bedingungen des Wahrnehmens bereits Kant als zu weit erschien, als dass sich daraus eine konkrete Bestimmung der Aufgaben und Ziele der Disziplin der Ästhetik ableiten ließe. (Ob Raum und Zeit mit Kant gleich physikalisch aufzufassenden Bedingungen oder mit Rancière gleich gesellschaftlich-politisch determinierten Faktoren interpretiert werden, dürfte dabei keinen Unterschied machen.) In einem engeren Sinn kann Ästhetik mit Rancière hingegen wie oben dargestellt bestimmt werden: Nämlich als „Regime zur Identifizierung von Kunst“. Als solchem kommt ihr die Aufgabe zu, Denkungsform des mittels der Kunst sichtbar gemachten Sinnlichen zu sein. Kunst wird bei Rancière also als fortlaufender, dynamischer Prozess verstanden, dem es mit immer neuen Mitteln und Wegen möglich ist, Wahrnehmbarkeit herzustellen (i.e. dasjenige, was sich dieser bislang in der Breite der Gesellschaft entzogen hat, für ebendiese aufzuschlüsseln). Während der Kunst eine immanente Bewegung eingeschrieben wird, bleibt die Rolle der Ästhetik hingegen statisch fixiert. Binnenbewegungen, die das Verhältnis von Künsten und Ästhetiktheorie zueinander betreffen – seien es Parallelentwicklungen der Bereiche, Entwicklungen aufeinander zu oder voneinander fort, punktuelle Bezugnahmen von KünstlerInnen auf die philosophische Theoriebildung oder etwa ein gänzliches Ignorieren traditioneller Ästhetik von Seiten der Künste her – sind innerhalb einer derartigen, intendiert schematischen Sichtweise kaum nachzeichenbar. Inwiefern es jedoch gerade solche Binnenbewegungen und Wechsel in der Positionierung zueinander sind, die eine wichtige Rolle spielen könnten hinsichtlich eines aktuellen und künftigen Verständnisses von Ästhetik, dazu mehr im Anschluss. Zitat: Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics – The Distribution of the Sensible (London: Continuum, 2004) S.13.

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sich jenseits der viel beachteten breiten Alleen eines traditionellen und eines postmodernen Ästhetikverständnisses bzw. in konstruktiv-kritischem Anschluss an diese abzuzeichnen beginnt. Denn innerhalb der inneren Zirkel der philosophischen Disziplin machen sich bereits seit geraumer Zeit AutorInnen daran, abseits einer umfassenden Zurückweisung oder pauschalen Affirmation des Gegebenen an der Umgestaltung eines üblichen Ästhetikverständnisses zu arbeiten. Allerdings handelt es sich bei dieser Form der Umgestaltung nicht um etwas, das außerhalb der disziplinären Grenzen für große Aufmerksamkeit sorgen würde. Ja, geradezu umgekehrt wie angesichts der Postmoderne der Fall – bei der die große Bedeutung des Ästhetischen programmatisch klar, das konkrete Bedeuten dessen, was ,ästhetischʻ im Einzelnen meinen soll, weniger klar erscheint – liegt hier gleich ein ganzes Spektrum an Ansätzen vor, die sich oft äußerst differenziert mit spezifischen ästhetiktheoretischen Fragestellungen befassen, deren große und verbindende programmatische Zielrichtung hingegen weniger offensichtlich zu erkennen ist. Eine Alternative zu einem traditionellen und einem postmodernen Ästhetikverständnis entwickelt sich hier also nicht im Sinn eines einzelnen neuen Hauptweges, für eine Ästhetik per se, sondern: Sie entstehen mittels disziplinärer Ausdifferenzierungen, die, gleich diversen parallel verlaufenden oder sich wechselseitig überkreuzenden Nebenwegen, Schritt für Schritt hinein in neue Bereiche und Themengebiete führen. Konkret gemeint sind Ansätze, wie sie sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickeln und die sich mittlerweile zu eigenständigen disziplinäre Subbereichen ausdifferenziert haben, so dass sie heute im englischsprachigen Raum unter Begriffen wie: ,Environmental Aestheticsʻ (Umweltästhetik), ,Everyday Aestheticsʻ (Alltagsästhetik), ,Aesthetics of Popular Cultureʻ (Ästhetik der Populärkultur), ,Comparative Aestheticsʻ (kulturvergleichende Ästhetik), ,Feminist Aestheticsʻ (feministische Ästhetik) zusammengefasst werden. Betrachtet man derartige disziplinäre Binnenbewegungen, wie es deren Benennungen nahelegen, allein hinsichtlich ihrer thematischen Ausrichtung, so könnte es scheinen, als unterschieden sich diese durchwegs voneinander: Das proklamierte Anliegen der Aesthetics of Popular Culture besteht in diesem Sinn in einer Einbeziehung populärer und alltäglicher Kulturpraktiken in die ästhetische Theoriebildung – oder in anderen Worten: in einer Nivellierung der traditionellen Distinktion zwischen Hoch- und Populärkultur. Die feministische Ästhetik hat ihrerseits ausdrücklich das Kenntlichmachen von Grenzziehungen zum Thema – nämlich solchen Grenzziehungen, wie sie explizit oder stillschweigend traditionelle Ansätze durchlaufen und diese mittels binärer Geschlechtervorstellungen strukturieren. Ähnlich ambig wie die Feminist Aesthetics, die eine bestehende Grenzziehung zum Thema, deren Überwindung zum Ziel haben, verhalten sich die Comparative Aesthetics, die zwischen einer Anerkennung und thematischen Einbeziehung nicht westlich geprägter Kulturformen und der Selbstbeschränkung eines westlichen Kunst- und Kulturbegriffs auf eben solche, nämlich eigene, westliche Kunst- und Kulturpraktiken, oszillieren.34 34 Zu den Bereichen Everyday Aesthetics und Environmental Aesthetics siehe Kap. 2. Auf die anderen hier erwähnten aktuellen ,alternativenʻ ästhetiktheoretischen Felder kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Einen guten Überblick bieten einschlägige englischsprachige Nachschlagewerke zur Ästhetik, so zu den Bereichen Feminist Aesthetics, Comparative Aesthetics und Aesthetics of Popular Culture das Oxford Handbook of

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Inwiefern die genannten neuen ästhetiktheoretischen Betätigungsfelder vermeintlich offenkundiger Unterschiede zum Trotz auch Gemeinsamkeiten und Schnittmengen aufweisen, was eine thematische Ausrichtung betrifft, dies könnte im Prinzip an jedem der genannten Bereiche in freier Kombination mit einem anderen Bereich aufgezeigt werden. (Beispielsweise können populäre Kulturpraktiken geschlechtsspezifisch konnotiert sein, was die Bereiche Aesthetics of Popular Culture und Feminist Aesthetics zusammenführt; ebenso wie Feminist Aesthetics und Comparative Aesthetics eine Schnittmenge ausbilden, wenn Geschlechterkonventionen in nichtwestlichen Kulturpraktiken eine Rolle spielen.) Exemplarisch wird diese Möglichkeit einer thematischen Verflechtung anhand der beiden Bereiche, die für den Kontext der vorliegenden Untersuchung von besonderer Relevanz sein werden, nämlich anhand der Everyday Aesthetics und der Environmental Aesthetics, genauer dargestellt werden (vgl. Kapitel 2). Was angesichts der vermeintlich offen zu Tage liegenden, da namensgebenden, thematischen Ausrichtung besagter Bereiche allerdings leicht aus dem Blickfeld geraten könnte, ist ein anderer signifikanter Punkt: Nämlich jener, dass die genannten disziplinären Binnenbewegungen nicht allein als eine Art bunt gemischtes, loses Bündel an neuen ,Bindestrich-Ästhetikenʻ anzusehen sind. Sondern, dass es sich hierbei um Entwicklungen handelt, die durch eine übergreifende Tendenz, eine Art implizite Programmatik, miteinander verbunden sind. Ebendies ist die These, der im folgenden Abschnitt näher nachzugehen sein wird. Zusammengefasst lautet sie: Ein verbindendes Moment aktueller disziplinärer Binnenbewegungen liegt in einer dezidierten Abkehr von elementaren Gedanken und Grundbestimmungen traditioneller Ästhetik – oder noch pointierter formuliert: in einer Abkehr vom Gedanken einer traditionellen Ästhetik als solcher. Was aus dieser Abkehrbewegung erkenntlich wird, ist dabei keineswegs ein gerne der Postmoderne nachgesagtes ,anything goesʻ, sondern es sind konkrete Hinweise und zu ziehende Schlussfolgerungen die künftige Gestalt der Disziplin der Ästhetik betreffend.

1.2 P ROBLEME EINES TRADITIONELLEN ÄSTHETIKVERSTÄNDNISSES Bevor auf Kritik an einem traditionellen Ästhetikverständnis, wie sie aktuelle disziplinäre Binnenbewegungen vorbringen, eingegangen werden kann, zunächst eine Anmerkung zur Terminologie: ,Traditionelle Ästhetikʻ wird nicht erst heute als solche bezeichnet, um kritisch in Frage gestellt zu werden. Bereits die Postmoderne vollzog neben einem produktiv-kreativen Rekurs auf historisches ästhetiktheoretisches Gedankengut auch eine negative Abkehrbewegung.35 Ähnliches gilt für vorausgegangene Strömungen und signifikante Einzelpositionen, wie Adorno im deutschsprachigen Diskursgebiet oder die analytische Ästhetik des angloamerikanischen Raumes: Beide setzen sich intensiv mit tradiertem Gedankengut auseinander.

Aesthetics mit Artikeln von Mary Devereaux, Kathleen Higgins und David Novitz. Siehe: Jerrold Levinson (Hrsg.), Oxford Handbook of Aesthetics; a.a.O. 35 Zu denken beispielsweise an Lyotards Auseinandersetzung mit Kant. Vgl. Jean-François Lyotard, The Inhuman (Stanford: Stanford University Press, 1991).

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Beide tun dies in einem kritisch-distanzierten – und sich erklärtermaßen kritischdistanzierenden – Sinn, wobei in terminologischer Hinsicht dem Ausdruck ,traditionelle Ästhetikʻ eine besondere Rolle zukommt. Um welche Rolle es sich hierbei handelt, dies schildert Karlheinz Lüdeking in der folgenden Passage, anhand der analytischen Ästhetik: Eine analytische Philosophie der Kunst [...] kann man [...] nicht verstehen, wenn man alle Aufmerksamkeit nur auf sie selbst konzentriert. Ihre Formierung und [...] Gestalt [...] werden nur verständlich, wenn man sich zuvor eine klare Vorstellung von der gegnerischen Konzeption verschafft, gegen die ihr theoretisches Rüstzeug ins Feld geführt wurde. [...] Die Konzeption, gegenüber der die analytische Ästhetik ihre eigene Identität aufzubauen suchte, wurde von ihr als „traditionelle Ästhetik“ bezeichnet, und wenn man den häufig recht pauschalen Proklamationen ihrer Protagonisten Glauben schenkt, dann gewinnt man den Eindruck, als seien unter diesem Begriff sämtliche historisch früheren Formen der Ästhetik zu subsumieren. Die so genannte „traditionelle Ästhetik“ erweist sich aber sehr bald als ein Konstrukt – als eine Art Kulisse, die vornehmlich dem Effekt des eigenen Auftritts dienen soll.36

Was sich Lüdekings Ausführungen zur analytischen Ästhetik entnehmen lässt: So etwas wie die ,traditionelle Ästhetikʻ, im Sinn eines in sich geschlossenen monolithischen Blocks, der durch sämtliche historisch früheren Formen der Ästhetik bestimmt wäre, gibt es letztlich nicht. In diesem Sinn wäre es auch falsch, unter ,traditioneller Ästhetikʻ eine Art Epochenbegriff oder den Namen einer spezifischen Strömung verstehen zu wollen, dem sich ein fester Kanon an Ansätzen zuordnen ließe. Ein Beispiel: Ein Autor wie Immanuel Kant mag unter bestimmten Gesichtspunkten zum Urgestein traditioneller Ästhetik gezählt werden (so in seinem Grundverständnis der Ästhetik als einer philosophischen Auseinandersetzung mit der Frage des Geschmacksurteils, wie er sie in der Kritik der Urteilskraft entwickelt), in anderer Hinsicht (bezüglich des darin thematisierten enormen Spektrums ästhetischer Gegenstände jenseits der Kunst, das bis hin zur Einbeziehung von Feuerwerk, Lustgärten, Tapeten oder Spazierstöcken reicht) ist dies gerade eben nicht der Fall. Sinnvoll verwenden lässt sich der Ausdruck ,traditionelle Ästhetikʻ hingegen im Sinn eines qualitativen Ausdrucks, der mit bestimmten Merkmalen verbunden werden kann. Auch in diesem Fall gilt es allerdings zu bedenken, dass es sich stets um einen relationalen Begriff handelt. Das bedeutet, als ,traditionellʻ erscheint jeweils das, wovon sich eine spezifische Bewegung abzusetzen sucht. Auch hierzu ein Beispiel: Ein Autor wie Adorno tritt explizit als Kritiker ,traditioneller Ästhetikʻ auf. Dabei bleibt er selbst einem vom deutschen Idealismus geprägten paradigmatischen Verständnis von Ästhetik im Sinn einer Philosophie der Kunst verpflichtet. Aktuelle Abkehrbewegungen würden hingegen in ihrer Ausrichtung auf Fragen der menschlichen Umwelt, des Alltags, der nicht-männlich und nicht-westlich geprägten Kulturformen jenseits einer so bezeichneten Hochkultur eben ein solches Verständnis als ,traditionellʻ kritisieren. Nach dieser Anmerkung, die zu einem differenzierten und reflektierten Umgang mit dem Ausdruck ,traditionelle Ästhetikʻ aufruft, nun zu den Kritikpunkten, wie sie 36 Karlheinz Lüdeking, Analytische Philosophie der Kunst – Eine Einführung (München: Wilhelm Fink Verlag, 1997) S.17.

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aktuelle disziplinäre Binnenbewegungen – teilweise im Rekurs auf ihre kritischen Vorgänger, teilweise über diese hinausgehend – artikulieren. Ausgrenzung eines weiten Spektrums an Phänomenen Zu einem ersten Kritikpunkt: Betrachtet man die historische Entwicklung der Disziplin der Ästhetik, so wird schnell deutlich, dass sich diese in ihrem Hauptstrom nicht nur thematisch begrenzt zeigt, sondern dass sie sich im Lauf ihrer gut zweieinhalb Jahrhunderte umfassenden Geschichte auch zunehmend enger definiert. Gemeint ist der Aspekt einer Beschränkung der philosophischen Ästhetik auf einige wenige thematische Bereiche und damit verbundene konzeptionelle Schlüsselbegriff. So die erwähnte Festlegung auf Fragen der Kunst, der Schönheit und des Geschmacks – von denen bis zum Einbruch der Postmoderne fast nur noch der erstgenannte Bereich, also jener einer Philosophie der Kunst, als maßgeblich erachtet wurde.37 Versucht man die Kritik, die an diesem Umstand von verschiedener Seite her und unter Nennung unterschiedlichster Argumente geäußert wird, zu systematisieren, so zeigt sich, dass sich diese keineswegs allein auf den Sachverhalt einer thematischen Selbstlimitierung richtet. (Immerhin ein Umstand, der mit einer selbst gewählten Einschränkung des eigenen Betrachtungshorizonts – und somit: des eigenen Geltungsanspruchs der Disziplin innerhalb der Philosophie im Allgemeinen einhergeht. Stichwort: ,Käferʻ.) Sondern: Das kritische Interesse wird auch und gerade durch das weite Spektrum all dessen geweckt, was eine derartige Selbstlimitierung aus dem thematischen Betrachtungshorizont der Ästhetik ausschließt. Dies betrifft neben dem weiten Feld des Kunsthandwerks auch vernakuläre Kulturpraktiken wie Bräuche, Zeremonien, religiöse Rituale, Feste, Straßenumzüge, Festivals, sportliche Aktivitäten – kurz: all jene kulturellen Erscheinungsformen, die unterhalb einer als solcher anerkannten Grenze zur Sphäre der Hochkultur liegen, wobei Grenzziehungen zwischen der durch eine traditionelle Ästhetik thematisierten ,Hochkulturʻ und einer, von Hegel bis Adorno, vernachlässigten bzw. programmatisch von der Betrachtung ausgeschlossenen vernakulären Alltagskultur nicht selten entlang sozialer Demarkationslinien, gemäß allgemeiner gesellschaftlicher Strukturierungsmerkmale – wie Klasse, Geschlecht, Ethnie, Alter – verlaufen. Aber auch ganz alltägliche, prinzipiell von jedem Menschen und zu jeder Zeit zu machende ,ästhetische Erfahrungenʻ werden mittels des rahmenden Passepartouts einer traditionellen Betrachtungsweise ausgeblendet. Tom Leddy erläutert hierzu vom Standpunkt der Everyday Aesthetics: [...] we are thinking of aesthetic issues that are not connected closely with the fine arts [...]. We are thinking instead of the home, the daily commute, the workplace, the shopping centre, and places of amusement [...] issues that [...] have to do with personal appearance, [...] sexual experience, appliance design, cooking, gardening, hobbies, play [...].38

Ein erster Kritikpunkt an einem traditionellem Ästhetikverständnis lässt sich somit wie folgt zusammenfassen: Traditionelle Ästhetik weist eine historisch motivierte 37 Siehe hierzu ausführlicher Kap. 2.1. 38 Tom Leddy, The Nature of Everyday Aesthetics; in: Andrew Light/Jonathan M. Smith (Hrsg.), The Aesthetics of Everyday Life (New York: Columbia University Press, 2005) S.3-22.

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Verengung und Selbstlimitierung auf, die sich in Form einer zunehmenden Engführung der Disziplin auf eine Philosophie der Kunst äußert, ebenso wie in einem allgemein kunstzentrierten Verständnis dessen, was unter dem Begriff der ,Ästhetikʻ zu verstehen ist. Eben diese Sichtweise ist angesichts einer Realität, die maßgeblich – und nach dem Dafürhalten mancher TheoretikerInnen sogar progressiv fortschreitend39 – durch unterschiedlichste und vielschichtigste Erscheinungsformen des Ästhetischen charakterisiert ist, heute nicht länger haltbar. Isolierung und Einschränkung des Gegenstandsgebietes Ein zweiter Kritikpunkt schließt an den soeben genannten an. Er besteht zusammenfassend gesagt darin, dass traditionelle Ästhetik in ihrer Beschränkung auf Kunst im Sinn einer Hochkultur nicht nur dem weiten Spektrum ästhetischer Erscheinungsformen jenseits dieser, sondern letztlich auch ihrem zentralen designierten Gegenstandsgebiet selbst nicht gerecht werde. Diesen Vorwurf gilt es, in systematischer Hinsicht, weiter zu differenzieren: Die Kritik richtet sich zum einen gegen immanente Bestimmungen, die traditionelle Ästhetik liefert. (Ein Aspekt, der unter dem dritten und vierten Unterpunkt näher behandelt werden wird.) Zum anderen merken Kritiker an, dass eine traditionelle Ästhetik ein Bild der Kunst entwerfe, das die Künste aus jeglichem Kontext herauslöse und sie dadurch selbst auf illegitime Weise verkürze. Auch dieser Gedanke bedarf einer kurzen Erläuterung. Arnold Berleant, einflussreicher Vertreter der Everyday Aesthetics und Environmental Aesthetics, führt zu diesem Punkt aus: [...] the discipline of aesthetics provided art with an identity of its own and an independent cultural status. But in so doing, it separated the arts from their integral place in the matrix of human cultural life. That place is far broader than the fine arts. It embraces what we have come to call the practical arts. These include the crafts, and all the other practices of productive making that are the locus of creative human activity, such as festivals, ceremonies, and rituals.40 39 Hierzu Wolfgang Welsch: „Wir leben heute inmitten einer früher unerhörten Ästhetisierung der realen Welt. Verschönerung und Styling finden sich allenthalben. Sie erstrecken sich vom Erscheinungsbild der Individuen bis zur urbanen und öffentlichen Sphäre sowie von der Ökonomie bis zur Ökologie. Die Individuen unterziehen sich einem immer umfassenderen Styling von Körper, Seele und Verhalten. In Schönheitsstudios und Fitnesszentren betreiben sie die ästhetische Perfektionierung ihrer Körper, in Meditationskursen und New-Age-Seminaren die Ästhetisierung ihrer Seelen, und in Benimmkursen trainieren sie sich das ästhetisch erwünschte Verhalten an. [...] Im urbanen Raum ist so gut wie alles in den letzten Jahren einem Facelifting unterzogen worden [...]. Auch die Ökonomie profitiert [...] von der neuen Tendenz der Konsumenten, nicht eigentlich einen Artikel zu erwerben, sondern sich mittels seiner in den ästhetischen Lifestyle einzukaufen, den Werbestrategen mit ihm assoziiert haben. Sogar die Ökologie ist in ästhetischer Hinsicht ein Partner der Ökonomie. Sie ist auf dem Weg zur Verschönerungsbranche und favorisiert ein Styling der Umwelt im Sinn ästhetischer Ideale [...]. Die Gentechnologie, die individuelles und ökologisches Styling verbindet, ist ein weiterer Beleg. Sie paßt alle Sorten von Leben unseren Bedürfnissen an und [...] ist eine Art genetischer Schönheitschirurgie.“ Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 1996) S.142f. 40 Arnold Berleant, Re-thinking Aesthetics – Rogue Essays on Aesthetics and on the Arts (Aldershot: Ashgate, 2004) S.2.

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Wie Arnold Berleant erklärt, stattet traditionelle Ästhetiktheorie die Künste zunächst einmal mit einem eigenständigen Status aus.41 Andererseits geht mit dieser qualitativen Charakterisierung durch die Philosophie eine normative Bestimmung einher: Denn in gleichem Maß, wie den Künsten, im Sinn einer ,schönen Kunstʻ – oder auch: einer ,Bildenden Kunstʻ, einer ,freien Kunstʻ – ein spezifischer Status zugesprochen wird, wird eben dieser anderen Bereichen aberkannt. Dies betrifft die Bereiche des Handwerks, der Rituale, der Feste, der Küche – kurz, wie Berleant sagt: die breite Matrix der menschlichen Alltagskultur, aus der ein festgelegter Kanon an Künsten herausgehoben wird. Ein Aspekt dieser konzeptionellen Reduktion ist die Isolierung der Künste von benachbarten gesellschaftlichen Feldern, wie den Wissenschaften, der Technik, der Politik, der Religion, der Ökonomie.42 Mit all diesen Feldern zeigen sich die Künste in der einen oder anderen Form immanent verbunden, wie Noëll Carroll in diesem Kontext exemplarisch zur Frage der Verbundenheit von Kunst, Religion und Politik anmerkt: Historically, most art has been designed to serve practical and instrumental purposes, including political and religious purposes. Much art has been produced to reinforce national and cultural identities, to bolster the ethos of the group, to encourage pride and commitment, to celebrate or memorize important occasions, to enlist support, to mourn, to commemorate, and the like.43

Um Kunst hingegen im Sinn eines klar determinierten und zu determinierenden Gegenstandsgebiets einer Disziplin fassen zu können, durchtrennt traditionelle Ästhetik eben diese Verbindungen, wie Katya Mandoki, als weitere wichtige Vertreterin der aktuellen Everyday Aesthetics und Kritikerin eines traditionellen Ästhetikverständnisses (das sie als nach wie vor dominierendes ,mainstreamʻ Verständnis bezeichnet), bemerkt: [...] it is still common to find in aesthetics the presupposition that art and beauty are spheres separated from the ordinary world and, therefore, those who write about them have a secret access to them. By applying categories like 'the autonomy of art' [...] mainstream aesthetics separates the aesthetic from ordinary life and art from reality [...]. This idealisation of aesthetics is common to romanticists, philosophical idealists, and Marxists alike. 44 41 Worauf sich Berleant bezieht, sind klassische ästhetiktheoretische Determinationen wie das Autonomieprinzip, also der Gedanke, dass der Sphäre der Kunst ein eigener, gesonderter Status zuzusprechen sei (ein Prinzip, das Schiller von Kant her abgeleitet in das Selbstverständnis der Künste einbringt), oder die Vorstellung der Kunst als einem nicht allein handwerklich-nachahmenden (siehe Platon), sondern einem geistige Wahrheit hervorbringenden Vorgang (siehe Hegel). In diesem Sinn ist es, wie Berleant in obigem Zitat andeutet – dabei Jacques Rancières Kernthese zur Ästhetik vorwegnehmend –, die Philosophie, die den Künsten überhaupt erst zu einem bestimmten Selbstverständnis verhilft. 42 Zu letztgenanntem Punkt, siehe etwa: Wolfgang Welsch, Sport, Viewed Aesthetically, and Even as Art?; in: Andrew Light/Jonathan M. Smith (Hrsg.), The Aesthetics of Everyday Life (New York: Columbia University Press, 2005), S.135-155. 43 Noëll Carroll, Beyond Aesthetics – Philosophical Essays (Cambridge: Cambridge University Press, 2001) S.45. 44 Dabei funktionierten gerade heute die Künste, so Mandoki weiter, auf durchaus konventionelle Weise: „Art is an activity with various facets and uses; it may be pecuniary, lin-

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Das Resultat ist ein Bild der Kunst, das sich mittels eines spezifischen historischgenerierten philosophischen Instrumentariums fassen lässt, das aber nur wenig mit der empirischen Realität der Künste in ihrer breiten Einbettung in Kultur- und Alltagsleben gemein hat. So lautet der Vorwurf, wie ihn nicht nur AutorInnen aus dem Umfeld der Everyday Aesthetics, sondern auch aus den Bereichen Aesthetics of Popular Culture, Comparative Aesthetics und Feminist Aesthetics erheben. Problematik eines essentialisierenden und generalisierenden Kunstbegriffs Die zuvor genannten Kritikpunkte zielen auf ein doppelt eingeschränktes Ästhetikverständnis, welches – vereinfacht gesagt – zunächst die Ästhetik auf eine Philosophie der Kunst sowie anschließend diese auf ein bestimmtes eingeschränktes Bild von Kunst verkürzt. Was beide verwandten Kritikpunkte unterscheidet, um diesen Punkt noch einmal deutlich zu machen, ist, dass sich der erstgenannte Kritikpunkt insbesondere auf den Umstand richtet, dass ein weites Spektrum ästhetischer Phänomen aus der philosophischen Betrachtung ausgeschlossen wird. Der zweite Punkt lenkt das Augenmerk hingegen auf die Tatsache, dass hierdurch letztlich auch demjenigen, was in einen exklusiven Ästhetikbegriff einbezogen wird, nämlich den Künsten, nicht in vollem Umfang Genüge getan wird. Diese doppelgesichtige Kritik, so man sie als berechtigt anerkennt, schränkt die Reichweite des Geltungsanspruchs traditioneller Ästhetik ein. Allerdings birgt eine solche Einschränkung, wie Arnold Berleant in obigem Zitat andeutet, auch ein produktives Potential in sich. In dieser Hinsicht könnte man, eine traditionelle Sichtweise verteidigend, für diese zumindest immanent, hinsichtlich spezifischer Formen einer ,Hochkulturʻ, deren Geltungsanspruch verteidigen. Um traditionelle Ästhetik nicht allein äußerlich, in ihrer Reichweite, sondern auf fundamentale Weise in Frage zu stellen, bedürfte es hingegen zusätzlich einer immanenten Kritik, die inhärente Schwächen und Fehler aufzeigte, so dass ein traditionelles ästhetiktheoretisches Gebäude bildlich gesprochen von innen her erodierte und in sich selbst kollabierte. In der Tat wird eine derartige immanente Kritik betrieben – und dies, nicht erst durch aktuelle Ansätze. Ein erster argumentativer Strang richtet sich dabei gegen einen Punkt, der auf den ersten Blick von nebengeordneter Bedeutung erscheinen mag, der aber tatsächlich, um im Bild zu bleiben, die Rolle eines tragenden Stützpfeilers traditioneller Ästhetik übernimmt. Es handelt sich um den Gedanken, dass es überhaupt so etwas gebe wie ,die Kunstʻ. Denn: Möchte man etwas über Kunst aussagen – und nicht allein ,etwasʻ, sondern etwas ,Wesentlichesʻ, so wie es das Bestreben traditioneller Ästhetik ist –, so muss der designierte Gegenstandsbereich nicht nur von angrenzenden Bereichen konzeptionell geschieden werden können, sondern guistic, ethical, cathartic, libidinal, aimed at affirming the author's or the owner's prestige in the process of social distinction, and political in the forming of national and ethic identities. Nowadays, artists' names and signatures circulate within the artistic matrix by conventions and hierarchies similar to credit cards or paper money in the market. The value of a signed plastic card, like that of an artist's signature on a paper napkin with a doodle or a urinal in a museum, are purely conventional, and function as signs and symbols by a system of differences and oppositions.“ Katya Mandoki, Everyday Aesthetics; a.a.O., S.15 und S.16.

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es müssen sich auch immanente Kriterien angeben lassen, die die unterschiedlichen Erscheinungsformen dessen, was als ,Kunstʻ bezeichnet werden soll, verbinden. Explizit formuliert findet sich dieser Gedanke in den großen idealistischen Systementwürfen, so bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, wenn dieser erklärt, dass eine Philosophie der Kunst einzig von der „Kunst an sich“, dagegen „von empirischer Kunst auf keine Weise“ zu handeln habe45; oder bei Hegel, wenn dieser erläutert, dass es im Rahmen seiner Philosophie der Kunst gar nicht darum gehe, „Kunstkenntnisse [...] vorzubringen, sondern nur darum, die wesentlichen allgemeinen Gesichtspunkte [...] der Kunst philosophisch zu erkennen.“ Und Hegel geht noch einen Schritt weiter: [...] in diesem Zweck darf uns die [...] Vielseitigkeit der Kunstgebilde letztlich nicht stören, denn auch hier ist das [...] begriffsgemäße Wesen der Sache selbst das Leitende [...] und diese Seiten aufzufassen und philosophisch zu entwickeln ist die Aufgabe, welche die Philosophie zu erfüllen hat.46

Man muss sich diesen Gedanken in seiner Tragweite vor Augen führen: Die Realität der Kunst darf die Philosophie „nicht stören“, so Hegel. Allein das, was begrifflich fassbar ist, allein ein mit den Mitteln der Sprache zu erfassendes „Wesen der Sache selbst“ ist es, das philosophisch relevant erscheint – eine Formulierung, die das Verhältnis traditioneller Ästhetik zu ihrem selbst erkorenen Gegenstandsbereich in eine Nussschale packt und an Prägnanz (nach dem Dafürhalten mancher Theoretiker auch: an Ignoranz47) kaum zu überbieten sein dürfte. Allerdings, was nicht vergessen werden darf: Aus der Sicht der Zeit – also des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts – mit ihrer allgemeinen Ausrichtung auf das Überzeitliche und universell Gültige, wie sie sich nicht nur in der Philosophie dieser Epoche findet, erschien eine solche Denkweise keineswegs abwegig. Im Gegenteil: Ebendiese Sichtweise bildete letztlich die Voraussetzung dafür, dass die großen philosophischen Systemprogramme, wie sie von Kant bis Schopenhauer entwickelt wurden, auch auf das Gebiet der Kunst Anwendung erfahren konnten.48 45 Zitiert nach Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik; a.a.O., S.139. 46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik; a.a.O. 47 Adorno stellt in diesem Zusammenhang fest: „Er [Hegel – Einfügung B.H.] und Kant waren die letzten, die, schroff gesagt, große Ästhetik schreiben konnten, ohne etwas von Kunst zu verstehen.“ Worauf Adorno abzielt, sind nicht etwa die einem Immanuel Kant gerne nachgesagten mangelhaften Kunstkenntnisse. Kant hatte diesbezüglich mehr vorzuweisen, als oft behauptet. Hegel wendet sich in seinen Vorlesungen zur Ästhetik sogar einer Vielzahl künstlerischer Exempel zu. Worauf Adorno abzielt, ist vielmehr der Umstand, dass die Philosophie – in Gestalt besagter Autoren – allein äußerlich Bezug auf die Künste nimmt, sie sich in ihre Systeme gleichsam einverleibt, ohne darauf zu achten, was in diesen selbst vonstattengeht und wie es vonstattengeht. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie; a.a.O., S.498. 48 Oder, wie Adorno ausführt: „Daß in Philosophie und in Kunst der gleiche Geist waltete, gestattete es der Philosophie, substantiell über Kunst zu handeln, ohne den Werken sich zu überantworten.“ Um an anderer Stelle sinngemäß fortzufahren: „Das war solange möglich, wie die Kunst ihrerseits an umfassenden Normen sich orientierte, die nicht im einzel-

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Anders stellt sich die Lage im 20. Jahrhundert dar: Auch hier finden sich essentialistische, auf ,wesenhafte Zügeʻ gerichtete, und generalisierende Bestimmungen der Kunst. Motiviert ist das philosophische Streben nach einer allgemeinen Formel der Kunst nun jedoch von anderer – ja geradezu von entgegengesetzter Seite her. Zumindest für den angloamerikanischen Raum kann festgestellt werden, dass die Frage der essentiellen Definierbarkeit von Kunst zwischenzeitlich zu einer Art Selbstzweck mutierte – oder, wie der Ästhetiktheoretiker Noëll Carroll formuliert, zu einer wahren „philosophical obsession with discovering an essential definition of art.“49 Worin genau liegen nun die Probleme, die sich mit dem Gedanken einer ,Kunst als solcherʻ verbinden? Detailprobleme dürften hier so zahlreich sein wie einzelne Bestimmungen eines ,Wesens der Kunstʻ. Eine allgemeine Schwierigkeit offenbart sich jedoch gerade eben an deren Vielzahl: So kann Kunst klassisch als Mimesis, als Nachahmung der Natur, verstanden werden oder sie kann im Sinn einer Kallistik mit Schönheit identifiziert werden; intentionalistische und expressivistische Theorien definieren Kunst als Intention bzw. als expressiven Ausdruck einer künstlerischen Innerlichkeit; während der Formalismus Kunst gerade im Gegenteil über formale Aspekte (wie Struktur, Dynamik, Rhythmus) zu bestimmen sucht.50 Aktuellere Ansätze wenden sich der Kunst ihrerseits von einer systemischen Seite her zu, indem sie sie als kommunikatives (Nelson Goodman)51 oder historisch-gewordenes, institutionalisiertes System (Arthur C. Danto, George Dickie)52 beschreiben. Die Problematik liegt auf der Hand: Sie besteht nicht in einem konkreten Bestimmungsversuch und seiner philosophischen Fundierung, sondern gerade eben in deren Pluralität. Oder anders gesagt: Jede der genannten Bestimmungen mag hinsichtlich bestimmter Aspekte und vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit als mehr oder weniger treffend erscheinen.53 Wenn es aber tatsächlich so etwas wie ,das Wesen der Kunstʻ gäbe, so

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nen Werk in Frage gestellt, einzig in dessen immanente Problematik verflüssigt wurden.“ vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie; a.a.O., S.495 und S.496. Vgl. Noëll Carroll, Formalism; in: Berys Gaut/Dominic McIver Lopez (Hrsg.), The Routledge Companion to Aesthetics (New York: Routledge, 2000) S.87. Der Formalismus stellte eine einflussreiche Bewegung in der angloamerikanischen Ästhetik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Er richtete sich gegen eine Hervorhebung von Aspekten wie Repräsentation, Intention, emotionaler Ausdruck als wesentlichen Merkmalen der Kunst, wie sie durch vorausgegangene Ansätze ins Zentrum des ästhetiktheoretischen Interesses gerückt worden waren. Siehe auch Kap. 2.1. Goodmans Ansatz, der Kunst im Sinn einer Sprache, eines semantischen kommunikativen Systems auffasst, fragt jedoch weniger in einem rein binären Sinn danach, was Kunst sein möge und was nicht, sondern vielmehr, ab wann Kunst ist; sprich: für Goodman zählt nicht das bloße Vorhandensein eines Zeichencharakters, sondern dessen Zeichendichte. Insofern spielt die Frage einer essentiellen Bestimmung der Kunst für Goodmans Ansatz keine unmittelbare Rolle. Zu Danto und Dickie siehe oben Fn. 6. Danto, der mit seinem genealogisch-soziologischen Blick auf die Kunst als spezifischem, historisch-gewordenen System eine allgemeine Beschreibungsform ,der Kunstʻ abliefern möchte, merkt diesbezüglich selbstkritisch an: „It is a curious fact that while my philosophy of art aspires to the kind of timelessness at which philosophy in general aims, it is so

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müsste dieses sich trans-historisch und mit einer einzigen Bestimmung erfassen lassen – und nicht etwa mittels einer Vielzahl an konkurrierenden, wenn nicht gar einander wechselseitig ausschließenden Definitionen. 54 Aus dieser Tatsache zieht Wolfgang Welsch die folgende knappe Konsequenz: Das bedeutet, daß der traditionelle Zugang prinzipiell verfehlt ist. Er beruht auf einem grundsätzlichen Mißverständnis des Begriffs der Kunst – wobei dieses Mißverständnis gerade den Kern des traditionellen Ästhetikkonzeptes bildet.55

Konzeptionelle Probleme immanenter Bestimmungen Ein erster zentraler Punkt immanenter Kritik richtet sich also gegen einen Fundamental-Anachronismus, wie man sagen könnte, der darin besteht, dass die Entwicklung der Künste – aber auch die der Philosophie – im Lauf des 20. Jahrhunderts von einer Orientierung an essentiellen und generalisierenden Denkweisen zunehmend Abstand genommen hat, während die philosophische Disziplin der Ästhetik an eben solchen much the product of its historical moment that it can easily be considered to have relevance chiefly to the art that occasioned it.“ Arthur C. Danto, The Abuse of Beauty (Chicago: Open Court Publishing, 2003). 54 Die Debatte darüber, ob es überhaupt möglich sei, Kunst zu definieren, stand lange Zeit im Zentrum des angloamerikanischen Diskurses seit den 1950er Jahren. Manche Vertreter der analytischen Ästhetik vertraten in diesem Kontext die umstrittene These, dass Kunst schon allein aus logischen Gründe nicht definierbar sei. Dies legte etwa Morris Weitz in seinem im angloamerikanischen Diskursraum bis heute viel beachteten Artikel The Role of Theory in Aesthetics dar. Ein Aspekt, der über die Debatte um die Korrektheit der Begründung der Behauptung dabei bis heute leicht aus dem Blickfeld gerät, ist die Konsequenz, die Weitz aus seinen Darlegungen zieht. Denn, so Weitz, aus der Unmöglichkeit, Kunst zu definieren, sei nicht etwa zu schließen, dass jedes Philosophieren im Bereich Philosophy of Art, ob historisch oder gegenwärtig, prinzipiell fruchtlos sein müsse. Stattdessen sieht Weitz die Rolle der Ästhetik darin, der Kunst ,ernsthaft gemachte Vorschlägeʻ zu unterbreiten. Seinen Artikel beschließt Weitz in diesem Sinn mit den folgenden, auch heute noch bedenkenswerten Worten: „Thus, the role of the theory is not to define anything but to use the definitional form, almost epigrammatically, to pin-point a crucial recommendation to turn our attention [...] to [...]. Once we, as philosophers, understand this distinction between the formula and what lies behind it, it behooves us to deal generously with the traditional theories of art; because incorporated in every one of them is a debate over and argument for emphasizing or centering upon some particular feature of art which has been neglected or perverted. If we take the aesthetic theories literally, as we have seen, they all fail; but if we reconstrue them, in terms of their function and point, as serious and arguedfor recommendations to concentrate on certain criteria [...] in art, we shall see that aesthetic theory is far from worthless. Indeed, it becomes as central as anything in aesthetics, in our understanding of art, for it teaches us what to look for and how to look at it in art. [...] To understand the role of aesthetic theory is not to conceive it as definition, logically doomed to failure, but to read it as summaries of seriously made recommendations to attend in certain ways to certain features of art.“ Morris Weitz, The Role of Theory in Aesthetics; in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 15 (1), 1956, S.27-35. 55 Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik; a.a.O., S.140.

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Denkweisen festhält und nach wie vor auf diesen aufbaut. In diesem Kontext führt Arnold Berleant aus: While the twentieth century has been the ground for major upheavals in all regions of culture, including the arts, what is striking from an historical perspective is how little aesthetic theory has participated in this process […]. While artists have moved with irrepressible investigativeness into new modes of activity and experience and the more perceptive critics have shown us how to follow them, philosophers of art have often been content to harrow the same soil [...] and utilizing the same intellectual machinery as their predecessors of the Enlightenment.56

Der Gedanke der Möglichkeit und Notwendigkeit, eine essentielle Bestimmung der Kunst zu liefern, bildet, wie dem Zitat Arnold Berleants zu entnehmen ist, eine erste, jedoch keineswegs die einzige Bestimmung, die tief im Gedankengut vergangener philosophischer Epochen wurzelt. Diese liefert das Fundament, oder wie zuvor treffender gesagt wurde: Sie stellt den tragenden Pfeiler für ein Gebäude auf, innerhalb dessen eine Vielzahl weiterer traditioneller Binnenbestimmungen, die aus dem 18. und 19. Jahrhundert herrühren, kultiviert werden können. Um zwei Beispiele zu nennen: So werden etwa die Vorstellungen von einem ,ästhetischen Objektʻ und von einer ,ästhetischen Haltungʻ bis in die Gegenwart hinein gepflegt. Wie diese Vorstellungen konkret konzipiert werden, variiert von Fall zu Fall. Die Spezifik eines ,ästhetischen Objektsʻ kann etwa mittels eines Konzepts wie dem der ,organic unityʻ (Harold Osborne57) erklärt werden. Demzufolge zeichnen sich Kunstwerke im Gegensatz zu Nicht-Kunstwerken durch verbindliche formale Kriterien aus. Eine spezifische ästhetische Haltung ließe sich ihrerseits mittels der Vorstellung einer ,distanzierten Betrachtungʻ (Edward Bullough 58 ), die vonnöten sei, um Kunst als Kunst zu erfahren, näher spezifizieren. Beide Vorstellungen, die im 20. Jahrhundert entwickelt wurden, rekurrieren implizit oder explizit auf Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft mit ihrer allgemeinen Betonung der Bedeutung der Form (etwa gegenüber der Farbe in der Malerei) und ihrer berühmten Formulierung des ,interesselosen Wohlgefallensʻ. Problematisch sind solche Bestimmungen nun aus mehreren Gründen: In konzeptioneller Hinsicht kann bezweifelt werden, ob die genannten Konzepte tatsächlich das leisten, was sie selbst zu leisten versprechen, nämlich: notwendige und hinreichende Kriterien zu liefern. Gibt es Phänomene, wie eine ,Distanzʻ zum beobachteten Geschehen oder ,formale Einheitʻ nur in künstlerischen Kontexten? Oder lassen diese 56 An anderer Stelle formuliert Berleant: „We have just completed a century of unusual innovation and experimentation in all the arts, expanding their range and dimensions in every respect, from methods and materials to kinds of objects and occasions for experiencing them. In contrast to this stand the prevailing judgements of aesthetic theorists [...], judgements that characteristically reflect views that originate in the eighteenth century.“ Arnold Berleant, Rethinking Aesthetics (Burlington: Ashgate, 2005) S.21 und S.23-24. 57 Harold Osborne, Theory of Beauty: An Introduction to Aesthetics (London: Routledge & K. Paul, 1952) 58 Edward Bullough, 'Physical Distance' as a factor in Art and an Aesthetic Principle; in: Melvin M. Rader (Hrsg.), A Modern Book of Esthetics: An Anthology (New York: Henry Holt, 1979) S.87-118.

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sich nicht vielmehr auch in Bereichen wie Religion, Sport, Biologie, Mathematik beobachten? Von empirischer Warte aus könnte gefragt werden, ob solche Kriterien, so sie überhaupt einmal notwendige Bedingungen dargestellt haben, dies auch heute noch, angesichts moderner und zeitgenössischer Kunstpraktiken, zu leisten vermögen. Die explizite Verweigerung formaler Einheit im abstrakten Expressionismus (Jackson Pollock, Cy Twombly) oder die programmatische Überwindung physischer Distanz in zeitgenössischen Formen von Theater, Tanz, Performance dürften diesbezüglich klare empirische Gegenargumente liefern. Welche konkreten Ausformungen an historischen Anschauungen, die im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt wurde, jenseits der beiden exemplarisch Genannten es im Kontext traditioneller Ästhetik anzutreffen gibt und wie diese von verschiedenster Seite her hinsichtlich argumentativer Inkonsistenzen, bezüglich anwendungsorientierter Defizite oder unter sozio-politischen Gesichtspunkten kritisiert werden, darauf kann an dieser Stelle nicht en détail eingegangen werden. Verwiesen sei stattdessen auf zwei Bücher, die diesbezüglich einen guten Überblick geben, nämlich: Arnold Berleants Rethinking Aesthetics59 und Katya Mandokis Everyday Aesthetics60. Erstgenannter fasst charakteristische Anschauungen und Bestimmungen aus dem Gebäude der traditionellen Ästhetik unter drei Gesichtspunkten zusammen, die er als ,Axiomeʻ oder auch als ,Dogmenʻ traditioneller Ästhetik bezeichnet. Berleant nennt in diesem Kontext: 1. Die Annahme, dass Kunst primär in Objekten bestehe; 2. Die Annahme, dass diesen Objekten – in Gestalt von ,Kunstwerkenʻ – ein besonderer Status zukomme; 3. Die Annahme, dass der Umgang mit diesen Objekten auf eine besondere, nämlich eine ,ästhetische Weiseʻ (etwa mittels einer spezifischen ,ästhetischen Wahrnehmungʻ oder einer spezifischen ,ästhetischen Erfahrungʻ) vonstattengehe. Katya Mandoki geht ihrerseits detailliert auf innerdisziplinäre Spezialdebatten um einzelne traditionelle Bestimmungen – insbesondere Debatten des angloamerikanischen Diskursraums – ein. Entsprechend differenziert gliedert sie die für sie entscheidenden Axiome traditioneller Ästhetik. Dabei unterscheidet sie zwischen so bezeichneten ,Problemenʻ, ,Fetischenʻ, ,Mythenʻ und ,Ängstenʻ traditioneller Ästhetik. Als ,Fetischeʻ traditioneller Ästhetik seien anzusehen: 1) Der Fetisch der Schönheit; 2) Der Fetisch des Kunstwerks; 3) Der Fetisch des ästhetischen Objekts; als Mythen: 1) Der Mythos des Gegensatzes Kunst↔Realität und Ästhetik↔Alltagsleben; 2) Der Mythos der ästhetischen Interesselosigkeit; 3) Der Mythos der ästhetischen Distanz; 4) Der Mythos der ästhetischen Einstellung; 5) Der Mythos ästhetischer Qualitäten; 6) Der Mythos der Universalität des Schönen; 7) Der Mythos des Gegensatzes von Ästhetik und Intellekt; 8) Der Mythos der Synonymität von Kunst und Ästhetik; 9) Der Mythos des ästhetischen Potentials des Kunstwerks; 10) Der Mythos der ästhetischen Erfahrung. Der kritische Punkt der einzelnen Aspekte dürfte auch ohne weitere Erläuterungen, allein aus deren Benennung, kenntlich werden. Was diese Kritik zusammengenommen und rückbezogen auf eine allgemeinere Betrachtungsebene besagt, ist das Folgende: Selbst tradierte Konzepte und Begriffe, auf der Ästhetiktheorie lange Zeit im Sinn eines festen Binnengerüstes aufbaute und getrost aufbauen zu können glaubte, erweisen sich heute als problematisch. Das vermeintlich stabile konzeptionelle Tragwerk der Ästhetik kann dekonstruiert werden 59 Arnold Berleants, Rethinking Aesthetics; a.a.O. 60 Katya Mandoki, Everyday Aesthetics; a.a.O.

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bzw. zeigt es sich bei genauerem analytischen Hinsehen von selbst als nicht länger tragfähig.

1.3 K ONSEQUENZEN

FÜR DIE ÄSTHETIK , DIE K ÜNSTE UND DEREN WECHSELSEITIGES V ERHÄLTNIS

Um noch einmal zusammenzufassen: Wie unterschiedlichste kritische Stimmen aus dem Umfeld aktueller disziplinärer Binnenbewegungen deutlich machen, ist ein traditionelles Ästhetikverständnis, wie es nunmehr ex negativo durch vier Hauptpunkte genauer bestimmt wurde, heute in verschiedener Hinsicht schwer in Bedrängnis geraten. Dies betrifft 1) die konzeptionelle Beschränkung der Ästhetiktheorie auf ,die Kunstʻ – bzw. ein normativ am Leitbild ,der Kunstʻ ausgerichtetes allgemeines Verständnis von Ästhetik – und die daraus resultierende Nicht-Thematisierung des weiten Spektrums ästhetischer Phänomene jenseits der Künste; 2) die konzeptionelle Isolierung der Künste aus dem breiten Kontext einer Alltagskultur sowie die konzeptionelle Trennung von benachbarten Feldern (wie Politik, Religion, Sport, Technik), mit der sich diese verbunden zeigen; ein Umstand, der letztlich zu einer inadäquaten Reduktion des Kunstbegriffs selbst führt; 3) den Versuch, eine ,Kunst als solcheʻ mittels immanenter, generalisierender und essentialisierender Bestimmungen zu definieren. Dieser Versuch hat, was die Vergangenheit betrifft, zu keinen dauerhaft haltbaren Resultaten geführt. Was die Gegenwart anbelangt, so ist er angesichts der empirisch zu beobachtenden Veränderungsdynamik, die moderne und zeitgenössische Kunstpraktiken an den Tag legen, auf besondere Weise inadäquat. 4) Eine Vielzahl an tief in der Historie der Ästhetiktheorie wurzelnden Binnenbestimmungen, die ein spezifisches Verständnis von Kunst und Ästhetik festschreiben, während sie einer differenzierten kritischen Analyse heute nicht länger standhalten. Konsequenzen für die Ästhetik Sicher sind nicht alle der hier angesprochenen Kritikpunkte neu. Wie erwähnt stehen manche Aspekte vielmehr bereits seit geraumer Zeit in der Kritik. Dies ist allerdings nicht der Punkt, um den es an dieser Stelle geht und generell gehen sollte. Denn: Relevant ist letztlich nur, ob die genannten Kritikpunkte (nach wie vor) virulent sind. Nicht allein einer philosophischen Offenlegung von Problematiken bedarf es, sondern vielmehr: eines Aufzeigens von Lösungsansätzen.61 Zu fragen ist somit: Wie

61 Dieser Punkt mag trivial klingen. Tatsache ist jedoch, dass nicht selten berechtigte Kritik zwar eine Antwort – in Gestalt einer Gegenkritik – erfährt, dabei das diagnostizierte Problem aber letztlich weitgehend unbearbeitet bleibt. Dies lässt sich angesichts des oben erwähnten Problematik eines essentialisierenden Kunstbegriffs von der analytischen Ästhetik (und der Gegenkritik, die diese erfuhr) bis hin zu aktuellen Ansätzen wie demjenigen Alain Badious beobachten (dessen Ansatz, statt eine ,Kunst per seʻ, einzelne künstlerische Erscheinungsformen, in Gestalt so bezeichneter ,Konfigurationenʻ, ins Visier nimmt und dafür von Jacques Rancière eines unterschwelligen, quasi fragmentierten Platonismus bezichtigt wird – während der große und offensichtliche Platonismus, die Rede von einer ,Kunst als solcherʻ, nach wie vor im Raum steht und einer zeitgemäßen Beantwortung harrt.) Sie-

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lauten die möglichen und notwendigerweise zu ziehenden Konsequenzen, die es aus den oben zusammengefassten vier Punkten zu ziehen gilt – und dies nicht allein im Negativen, im Sinn einer Kritik an Gegebenem, sondern auch im Positiven, hinsichtlich der Art und Weise, wie Ästhetik gegenwärtig bzw. zukünftig betrieben werden kann und betrieben werden sollte? Hierzu folgen einige Überlegungen unter drei Gesichtspunkten. Zunächst, zu Konsequenzen für die Ästhetiktheorie im engeren Sinn: Die ersten beiden der oben genannten Kritikpunkte betreffen traditionelle Ästhetik gewissermaßen äußerlich und somit, dem Anschein nach, allein peripher, nämlich hinsichtlich der Reichweite ihres Geltungsanspruchs. Anders verhält es sich mit einer immanenten Kritik. Diese trifft traditionelle Ästhetik in ihrem Mark. Metaphorisch, dem Bild der Ästhetiktheorie als einem Gebäude folgend, könnten die Kritikpunkte, die eine Öffnung der Ästhetik gegenüber Fragestellungen, welche nicht exklusiv auf eine (westlich, männlich geprägte) ,Hochkulturʻ bezogenen sind und stattdessen eine Beachtung der breiten Verwobenheit der Künste mit alltagskulturellen Praktiken und anderen gesellschaftlichen Feldern einfordern, auch als konstruktive Erweiterungen bezeichnet werden. Dem alten Gebäude traditioneller Ästhetik wären in diesem Sinn weitere Bauten anzufügen: Sei es in Form von ,Neubautenʻ, wie den Aesthetics of Popular Culture und Comparative Aesthetics, oder von aus der ferneren Geschichte der Ästhetik her prinzipiell bekannten und ,wieder in Stand zu setzendenʻ Bereichen, wie den Everyday Aesthetics und Environmental Aesthetics, welche auf historische Vorläufer rekurrieren können. Demgegenüber richtet sich eine immanente Kritik nun aber auch gegen das ehrwürdige Gebäude der traditionellen Ästhetik selbst. Es greift dieses auf fundamentale Art und Weise an, wobei zum einen die schützenden Außenmauern – bestehend aus dem Verständnis ,der Kunstʻ als einem klar umrissenen und abzugrenzenden Gegenstandsgebiet – in Frage gestellt werden, im Weiteren der tragende Pfeiler einer essentiellen immanenten Definition der Kunst zu Fall gebracht wird sowie letztlich die diversen Binnenkonstruktionen, die das Gebäude im Inneren aufstellen, argumentativ zergliedert werden. Ebendies ist der Grund, warum derartige Kritik auch nicht einfach im Sinn einer bloßen Meinungsäußerung aufgefasst oder als abweichende Grundhaltung abgetan werden kann. Denn was insbesondere eine immanente Kritik leistet, ist keineswegs eine maligne Destruktion ehrwürdiger philosophischer Konstruktionen, sondern eine zwar von einer bestimmten Intention getragene, dabei durchaus sachliche Analyse, innerhalb derer sich traditionelle Konstruktionen von selbst als brüchig und nicht-tragend erweisen. Ist das Haus der Ästhetik also per se zum Einsturz verdammt? Und sollte, wenn dem so ist, eine aktuelle Ästhetik am besten mit neuen Bauteilen und auf komplett neu ausgelegtem Grundriss errichtet werden? Oder gilt es, Altes fachkundig zu demontieren, brauchbare Bestandteile zu retten und dabei, wie Adorno sagt, „untergehende Kategorien als übergehende zu denken“? In diesem Fall wäre zu fragen: Wie ist es um besagte einzelne Bauteile bestellt?62 he hierzu: Karlheinz Lüdeking, Analytische Philosophie der Kunst – Eine Einführung; a.a.O. und: Jacques Rancière, Aesthetics and its Discontents, a.a.O.; S.63-87. 62 Adorno sieht in der kritischen Auseinandersetzung mit traditioneller Ästhetik selbst bereits eine wichtige Form zeitgemäßer Ästhetik. Er formuliert: „Im Zeitalter der Unversöhnlich-

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Da wäre zunächst einmal der Versuch, essentielle und generalisierende Bestimmungen der Kunst zu liefern. Die offensichtliche Konsequenz, die aus der Schwierigkeit, eine universelle Formel der Kunst zu bestimmen, zu ziehen ist, kann nur lauten: von einem derartigen Unterfangen als solchem Abstand zu nehmen. Ein definitiver, philosophisch lupenreiner Grund für einen solchen Schritt wäre zwar nur mit dem Nachweis der logischen Unmöglichkeit des Versuchs als solchem gegeben, wie ihn die analytische Philosophie zu liefern suchte. Allerdings hat dieses Unterfangen Philosophie-historisch betrachtet allein zu einem sich selbst erlahmenden Für und Wider geführt, wobei essentielle Bestimmungen ebenso konsequent in Frage gestellt wurden, wie umgekehrt die diversen Versuche, die Unmöglichkeit eines derartigen Unterfangens zu beweisen, selbst wiederum zum Gegenstand der Kritik wurden.63 Es dürfte also, streng genommen, durchaus starke Hinweise, wohl aber bislang keine unwiderlegbar zwingende Notwendigkeit dafür geben, vom Versuch, essentielle Definitionen der Kunst zu liefern, Abstand zu nehmen. Aber: Ist es wirklich die Logik allein, die an dieser Stelle als maßgeblich erachtet werden kann? Könnte nicht eine viel einfachere und näherliegende Begründung für den Verzicht auf solche Versuche damit gegeben werden, dass ein Ablassen von generalisierenden Bestimmungen schlichtweg zu produktiveren Ergebnissen führen könnte? Im Unterschied zur Philosophie scheinen die Künste selbst jedenfalls keiner logisch-argumentativen Begründung zu bedürfen, um mittels konkreter Ansätze entweder einen jeweiligen Begriff von Kunst herauszubilden oder diesen zu verwerfen. Die Geschichte der modernen und zeitgenössischen Kunst zeigt dies nur allzu deutlich. Die Befürchtung, dass das Gegenstandsgebiet einer Philosophie, die sich mit Kunst befasst, verschwindet, wenn jene nicht in der Lage ist eine allgemeine und universell gültige Definition zu liefern, ist in dieser Hinsicht ebenso realitätsfern wie die umgekehrte Hoffnung, dass das Liefern einer essentiellen Definition die Künste in den jeweils philosophisch definierten Schranken zu halten vermöchte. Eine echte Alternative für die Ästhetik, insofern sie sich weiterhin auch, d.h. im Sinn eines Bestätigungsfeldes neben anderen, als eine kunstbezogene Disziplin begreifen will, liegt darin, sich an Stelle von Allgemeinplätzen spezifischen künstlerischen Bereichen, Genres, Strömungen, bis hin zu individuellen Ansätzen und singulären Arbeiten, zuzuwenden. Arnold Berleant erklärt diese Option in seinem Buch Rethinking Aesthetics wie folgt: keit von traditioneller Ästhetik und aktueller Kunst hat die philosophische Kunsttheorie keine Wahl als, ein Wort Nietzsches zu variieren, die untergehenden Kategorien als übergehende zu denken in bestimmter Negation. Die motivierte und konkrete Auflösung der gängigen ästhetischen Kategorien allein ist übrig als Gestalt aktueller Ästhetik“. Das konstruktive Moment, das einem derartigen Akt der Zergliederung unweigerlich eingeschrieben ist, macht seinerseits Otto Neurath deutlich, wenn er (wenn auch bezogen auf die Lage moderner Wissenschaften) konstatiert: „Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können“. Otto Neurath, Protokollsätze; in: Erkenntnis, Bd. 3, 1932/33; zitiert in: Willard Van Orman Quine, Word and Object (Cambridge: MIT Press, 1960), S.VII. Zitat Adorno: Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970) S.507. 63 Vgl. Fn. 59.

72 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT It is generally agreed that aesthetics is concerned with understanding art. Yet it is important to recognize the difference between understanding individual arts, such as painting, music, film, or landscape design, and understanding the arts in general, that is, „art tout court“. The various arts challenge our understanding in different ways […]. It is important to make this observation [...] for several reasons. One is that no particular art can be taken as representing all the arts. The aesthetics of painting is not identical with that of sculpture or architecture [...] a second reason why it is important not to collapse all the arts into one [is that – Einfügung B.H.] Aesthetic inquiry easily slips into generalities, for in our effort to order the confusion [...] we philosophers strive to abstract from [...] particularities and develop [...] general principles […]. Yet [...] the various arts differ in their practices as well as their materials, in their perceptual characteristics as much as in their presentation. We must be prepared to accept these differences and not to submerge them into our aesthetic concepts and general principles.64

Aus einer ,Philosophie der Kunstʻ wird in diesem Sinn ein ‚Philosophieren, das sich mit unterschiedlichen künstlerischen Einzelphänomenen‘ – oder kurz gesagt: mit ,Künstenʻ befasst. Aktuelle und historische Ansätze, Begriffe, Konzepte aus dem Feld der Ästhetik sind dabei nicht nur kritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie sich als philosophisch tragfähig bzw. rekonstruierbar erweisen. Es gilt zudem zu fragen, ob sie versprechen, sich auf vielversprechende Weise mit der empirischen Realität und der Singularität künstlerischer Erscheinungsformen auseinanderzusetzen. Dies ist eine erste wichtige Konsequenz. Allerdings ist der Pluralität des Gegenstandsbereichs hiermit allein noch nicht Genüge getan. Denn an diesem Punkt schließen wiederum die ersten beiden Kritikpunkte an, die erstens eine Beachtung der umseitigen Einbettung der Künste in den Kulturpraktiken des Alltags und deren Verflechtung mit anderen gesellschaftlichen Bereichen fordern, sowie zweitens eine Einbeziehung der vielschichtigen ästhetischen Alltagsphänomene, wie sie die heutige Realität jenseits von Museumsräumen, Theater- und Konzertsälen bestimmen. Auch für diese Bereiche müssen die Schlagworte der ,Spezifizierungʻ und ,Konkretisierungʻ gelten. Das heißt: Ästhetische Phänomene jeglicher Couleur müssen künftig fallbezogen betrachtet werden, wobei Grenzen zwischen unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen, etwa denen einer Ästhetik, die sich mit einer spezifischen künstlerischen Erscheinungsform befasst, und einer Ästhetik, die sich mit Populärkultur, Alltagsästhetik oder Umweltästhetik beschäftigt, hinfällig werden. Desgleichen gilt für Grenzen zu anderen philosophischen Bereichen – sei es zum Bereich der Ethik oder zur Erkenntnistheorie – sowie anderen ,geisteswissenschaftlichenʻ oder ,naturwissenschaftlichenʻ Forschungsgebieten: Auch diese Grenzen werden durchlässig. Denn konkrete Fragestellungen müssen als solche, d.h. als potentiell komplex strukturierten Feldern zugehörig Beachtung finden, deren umseitigen Vernetzungen es Rechnung zu tragen gilt – statt sie im Vorhinein darauf zu befragen, zu unterteilen und festzulegen, ob sie sich in die Schublade Kunst, die Schublade Alltag, die Schublade Natur, Sport, Religion oder Politik einsortieren lassen. Ein Problem, dass sich in diesem Zusammenhang stellt – wobei es wohlgemerkt nicht erst durch eine aktuelle Kritik in die Welt kommt, sondern durch diese allein offengelegt und bewusstgemacht wird –, liegt im künftigen Selbstverständnis der Ästhetiktheorie. Dieses kann sich im hier erläuterten Sinn nicht einfach aus ,der 64 Arnold Berleant, Rethinking Aesthetics (Burlington: Ashgate, 2005) S.1f.

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Kunstʻ speisen, da diese nur ein mögliches und zudem ein in sich stark heterogenes, wie umseitig vernetztes Gegenstandsgebiet bildet. Auch der zu einer ,Philosophie der Kunstʻ alternative Ausdruck ,Ästhetikʻ, in seiner traditionell philosophischen wie in seiner undifferenziert alltagssprachlichen Verwendung, scheint wenig Anhalt zu bieten: Im ersten Sinn ist er zu eng, im zweiten zu weit. Denn die Reduktion des Ästhetikverständnisses auf Kunst, Schönheit und Geschmack kann wenig zu ästhetischen Phänomenen des Alltags sagen, die oft weder schön noch geschmackvoll sind. Aktuelle Beispiele sind: die spezifische Ästhetik von Kriegsberichterstattung, politisch inszenierte Propaganda, ästhetisch inszenierte Werbung und Produkte; solche Phänomene mögen unter ästhetischen Gesichtspunkten ,interessantʻ, ,raffiniert gemachtʻ, ,wirkungsvollʻ, ,schockierendʻ, ,überwältigendʻ etc. sein, die Beschränkung auf die beiden Attribute ,schönʻ und ,geschmackvollʻ trifft hier aber nicht zu. Im Gegenteil: Sie mag gerade dasjenige verharmlosen oder gänzlich aus der Betrachtung ausschließen, was unter ästhetischen Gesichtspunkten differenziert zu analysieren am allerwichtigsten wäre. Umgekehrt würde eine Behandlung jedes Phänomens, das das Wort ,ästhetischʻ in sich trägt, zu einer schier grenzenlosen und willkürlichen Ausweitung führen, so dass die Disziplin der philosophischen Ästhetik letztlich gezwungen wäre, plastische Chirurgen oder Zahnärzte in ihre Reihen aufzunehmen, wie Katya Mandoki ironisch anmerkt.65 Damit spricht sich Mandoki implizit auch gegen eine Möglichkeit aus, wie sie Wolfgang Welsch bereits Mitte der 1990er Jahre aufgezeigt hatte. In seinem Artikel Ästhetik außerhalb der Ästhetik – Für eine neue Form der Disziplin66 schlug Welsch vor, die Ästhetik als eine transdisziplinär strukturierte Disziplin zu imaginieren, die sich an den unterschiedlichen inhaltlichen Strängen, die den Begriff der ,Ästhetikʻ konstituieren, orientiert (und somit an einem vielschichtigen Verständnis, wie es sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten im Alltag, wie in der Philosophie, herausgebildet hat). Mandoki kritisiert nun die vermeintliche Kontingenz, die eine Orientierung am alltagssprachlichen Gebrauch des Ausdrucks ,ästhetischʻ mit sich brächte, da eine solche dazu führe, dass nicht allein notwendige Kriterien, sondern alle möglichen, auch zufällige oder potentiell abwegige Verwendungsweisen des Begriffs inkorporiert würden. Allerdings scheint sich Welsch der semantischen Uneindeutigkeit des Begriffs des ,Ästhetischenʻ durchaus bewusst. Er selbst nimmt dazu nämlich explizit Stellung: Das Problem der semantischen Uneindeutigkeit des Ästhetischen ist so alt wie die Disziplin selbst. Die Definitionen der Ästhetik [...] sind nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen. [...] Mal soll es um das Sinnliche, mal das Schöne, mal um Natur, mal um Kunst, mal um Wahrnehmung, mal um Beurteilung, mal um Erkenntnis gehen; und „ästhetisch““ soll abwechselnd sinnlich, lustvoll, künstlerisch, scheinhaft, fiktional, poietisch, virtuell, spielerisch, unverbindlich usw. bedeuten.67

65 „[...] if the concept of aesthetics were in its use, then we would have to admit that it is related to unisex aesthetics, aesthetic surgery, or dental aesthetics.“ Katya Mandoki, Everyday Aesthetics; a.a.O., S.3. 66 Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik; a.a.O., S.135ff. 67 Zitat wurde aus zwei Passagen zusammengeführt. Ebd., S.22 und S.157.

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In gewissem Sinn haben beide, Mandoki und Welsch, hier einen Punkt. Allerdings übersieht Mandoki eine Möglichkeit, die bei Wolfgang Welsch maßgeblich wird. Der Grund mag in einem Missverständnis auf Seiten Mandokis liegen, was den gemeinsamen Referenzpunkt betrifft, auf den beide AutorInnen sich unabhängig voneinander beziehen, nämlich Ludwig Wittgenstein und dessen Konzept der Familienähnlichkeit.68 Dieses meint ja keine völlige Beliebigkeit, in dem Sinn, dass jede irgend mögliche oder real vorkommende Verwendung einen Begriff gleichermaßen konstituieren würde, sondern sie zielt darauf ab, dass es nicht zwangsläufig einen einzelnen zentralen und hart umgrenzten Kern geben muss, der einen Begriff konstituiert.69 Was Welsch in seinem Rekurs auf Wittgenstein vorschlägt, ist also nicht, eine transdisziplinäre Spezialdisziplin für jeden irgend erdenklichen Detailaspekt des Ästhetischen (Stichwort: Dentalästhetik) auszurufen, sondern vielmehr, diverse wichtige Stränge im Feld der Ästhetik mittels einer begrifflichen – respektive begriffshistorischen – Analyse zu identifizieren, die das Gegenstandsgebiet der Ästhetik konstituieren. Das hier passende Bild wäre nicht jenes des rizomatischen Geflechts, das alles mit allem verknüpft, sondern das des Seils, bei dem wir „Faser an Faser dre-

68 „Familienähnlichkeit […] eine […] durch L. Wittgenstein als philos. Terminus prominent gewordene Bezeichnung, die zum Ausdruck bringen soll, dass eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen zu einem Typ (sozusagen einer Familie) gehört, ohne dass es ein wesentliches Merkmal gibt, das alle diese Gegenstände teilen müssen, d.h. ohne dass sie alle einander in derselben Hinsicht ähnlich sind. Nach Wittgenstein zeichnen sich insbesondere verschiedene Verwendungen eines Wortes nur durch eine solche F., nicht durch eine allgemeine, wesentliche Gemeinschaft, wie sie etwa in einer Definition zu fassen wäre, aus. Bsp. für eine solche F. ist bei Wittgenstein die Vorstellung vom Spiel, die je nach Kontext sehr verschiedene Ensembles von Merkmalen bereithält, von denen sich aber nicht eines in allen Spielen gleichermaßen nachweisen lässt. Dennoch bleibt die Rede vom Spiel als Allgemeinbegriff verständlich.“ Martin Gessmann (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch (Stuttgart: Alfred Körner Verlag, 2009) S.222. 69 Stellt man sich den Familienähnlichkeitsbegriff in formalisierter Weise vor, so kann eine Merkmalsgruppe bspw. ABCD lauten, die nächste BCDE, die nächste CDEF, usw. bis hin zu EFGH (und darüber hinaus). Die erste und die letztgenannte Merkmalsgruppe haben also nicht ein gemeinsames Merkmal, dennoch sind sie über entsprechende Zwischengruppen miteinander ,verwandtʻ und verbunden. Dies ist eine übliche logische Lesart des Familienähnlichkeitsbegriffs. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, wie oft empirisch gesehen einzelne Merkmale oder Merkmalsverbände in Erscheinung treten. A mag empirisch sehr selten, vielleicht nur ein einziges Mal, auftauchen. Die Elemente BC mögen sehr häufig sein, etwa in BCDE, BCEF, BCFG etc. Die logische Feststellung, dass es nicht zwangsläufig einen harten Kern an Merkmalen geben muss, den alle Gruppenmitglieder miteinander teilen, ist also nicht zu verwechseln mit der empirischen Aussage, dass es prinzipiell keinen zentralen Bereich an Merkmalen gibt, die häufiger als andere in Erscheinung treten. Oder, wie Wittgenstein selbst (wenn auch in anderem Kontext) anschaulich formuliert: „Meine Methode ist nicht, das Harte vom Weichen zu scheiden, sondern die Härte des Weichen zu sehen.“ Ludwig Wittgenstein, Eintrag vom 1.5.1915; in: ders., Tagebücher 1914-16; Werkausgabe 1 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984) S.135.

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hen“ und so mittels diverser individueller, dabei verbundener Stränge ein Ganzes erhalten.70 Hierzu Welsch: Aufgrund der Familienähnlichkeit [ist] zwischen den unterschiedlichen Bedeutungen des Ausdrucks „ästhetisch“ eine Kohärenz [...] möglich. Gewiß muß man zwischen den unterschiedlichen Verwendungsweisen ausreichend differenzieren, aber wenn man dies tut, kann man aus dieser Vielfältigkeit auch großen Nutzen ziehen, indem man die Überschneidungen verfolgt und von da aus fähig wird, eine Ästhetik zu entwickeln, die den vollen Umfang des Ausdrucks „ästhetisch“ abzudecken vermag.71

Ob der konkreten Analyse, wie Welsch selbst sie vornimmt, in allen Einzelheiten zu folgen ist, dies mag unterschiedlich beurteilt werden.72 Dieser Umstand kann aber 70 Welsch selbst bemüht, um die Art der Vernetzung unterschiedlicher Bedeutungsaspekte des Ästhetischen zu verdeutlichen, gleich mehrere metaphorische Bilder: jenes des Seils, das des Netzes und das des Astes. Das Bild des Astes, aus dem verschiedene Aspekte gleich Zweigen hervorgehen, hat den Vorteil zu verdeutlichen, wie zwei Aspekte von einem Gemeinsamen herkommen können, ohne nach wie vor offensichtlich miteinander verbunden zu sein. Es impliziert in der gedanklichen Fortsetzung aber so etwas wie einen gemeinsamen Stamm, einen vermeintlichen Ursprung, und erweist sich von daher als problematisch. Das Netz wiederum verknüpft gleichberechtigt alles mit jedem, was den Vorteil hat, dass hierdurch weit gespannte und komplexe Verbindungsstrukturen versinnbildlicht werden können. Allerdings suggeriert es auch eine homogene, gleichförmige Struktur und macht somit als Bild eine Setzung, die dem Gegenstand möglicherweise unangemessen ist. Wittgensteins eigenes Bild der unterschiedlichen Fasern eines Seils ist in diesem Kontext am überzeugendsten. Denn dieses erläutert, wie enge Verbindungen, fließende Übergänge, Unterschiede, Distanzen zwischen zudem variablen (etwa kürzeren/dünneren und längeren/dickeren) Fasern möglich sind, ohne dass ein gemeinsamer Ursprung oder eine in sich homogene Struktur von Nöten wären. Vgl. Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik; a.a.O., S.35-39. 71 Ebd., S.158. 72 In Ästhetisierungsprozesse – Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven nimmt Wolfgang Welsch eine Analyse unterschiedlicher Bedeutungs- und Verwendungsmöglichkeiten des Ästhetischen, wie er sie an anderer Stelle als neue Basis einer disziplinären Selbstbestimmung fordert, vor. Dabei unterscheidet er Aspekte wie die Bedeutungsgruppen des Sinnenhaften, der Wahrnehmung, des Subjektiven, des Kallistischen, des Kosmetischen, des Poietischen sowie weitere Aspekte einer üblichen Verwendung (etwa: sensibel, ästhetizistisch, virtuell). Neben diesen allgemeinen Bedeutungsaspekten identifiziert Welsch des Weiteren in Ästhetik außerhalb der Ästhetik – Für eine neue Form der Disziplin Gebiete, die sich heute als besonders virulent erweisen und die mit bestimmten der genannten Komponenten korrelieren. So die Bereiche der „Derealisierung der Realität“, die „Rekonfiguration der aisthesis“, und die „Revalidierung gewohnter Erfahrungen“. Mit dem ersten Punkt meint Welsch Aspekte, wie sie weiter oben im Kontext eines postmodernen Ästhetikverständnisses thematisiert wurden – etwa eine epistemologische Ästhetisierung sowie den Einfluss der neuen Medien auf unser Realitätsverständnis. Die anderen beiden Bereiche beziehen sich auf den Aspekt der nicht allein visuellen, sondern multisensorisch strukturierten sinnlichen Wahrnehmung und die Rolle, die diese in unserem Alltag (insofern wir

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nicht gegen den Vorschlag einer an der Vorstellung der Familienähnlichkeiten orientierten disziplinären Struktur per se ins Feld geführt werden. Und schließlich ist zu fragen: Was für Alternativen gibt es? Abgesehen von einer Möglichkeit, welche für eine philosophische Disziplin, somit eine Disziplin der Reflexion, keine Möglichkeit sein kann, nämlich die Frage der disziplinären Struktur schlichtweg unreflektiert zu lassen und zu ignorieren. Oder eine uferlose, durch einen nicht reflektierten und vor allem nicht spezifizierten Begriff von ,Ästhetikʻ stimulierte, Entgrenzung der Disziplin (vgl. Abschnitt 1.2) in Kauf zu nehmen, welche letztlich nicht minder inadäquat erschiene, als das verzagte Festhalten an der Zentrierung um einen artifiziell verkürzten und an der heutigen Realität aktueller Kunstpraktiken vorbeigehenden Kunstbegriff (vgl. Abschnitt 1.1), inklusive des damit verbundenen Ignorierens sämtlicher und teils höchst brisanter ästhetischer Phänomene jenseits der Künste. Eine kritische, prinzipiell nie abgeschlossene, sondern stets aufs Neue vorzunehmende Analyse der Stränge, welche den roten Faden – oder richtiger: die unterschiedlichen roten Fäden – der Ästhetik konstituieren, ist eine möglicherweise unbequeme, gleichwohl notwendige Konsequenz, welche die disziplinäre Ästhetik zu ziehen hat. Im weiteren Kontext dieser Untersuchung wird – eingedenk der Schlagworte ,Spezifizierungʻ und ,Konkretisierungʻ – allein auf einen Strang näher eingegangen werden, den eine Analyse der aktuellen Verwendungsweise wie der historischen Begriffsgeschichte des Ausdrucks ,Ästhetikʻ zu Tage fördert. Denn ein solcher Strang findet sich – und hierin sind sich so unterschiedliche TheoretikerInnen wie Wolfgang Welsch, Katya Mandoki, Arnold Berleant und Jacques Rancière, einig – bereits in der altgriechischen Etymologie des Begriffs ,Ästhetikʻ angelegt, nämlich im Terminus ,aisthesisʻ, zu Deutsch: ,wahrnehmenʻ. Historisch gesehen tritt dieser Strang, die ästhetiktheoretische Auseinandersetzung mit menschlichem Wahrnehmen und den Gegenständen menschlichen Wahrnehmens, eher unterschwellig bzw. jenseits des disziplinären Hauptstroms in Erscheinung. Dabei kann die Frage nach der Bedeutung des Themas bis in die erste Hälfte des 18.Jahrhunderts zum Begründer und Namensgeber der Disziplin, Alexander G. Baumgarten, zurückverfolgt werden, der den Begriff seinerzeit mit Bedacht – und keineswegs zufällig – von besagtem griechischen Terminus ableitete (siehe hierzu ausführlicher: Kapitel 2.2). Die Frage des menschlichen Wahrnehmens, in der mittels des Ausdrucks ,aisthesisʻ angesprochenen Form, berührt verschiedenste Bereiche. Er spielt für die Künste ebenso eine Rolle wie für die Naturerfahrung, für den menschlichen Alltag wie für die zeitgenössischen Medien. Denn im altgriechischen Begriff findet sich uns darin nicht allein neuer, elektronischer Medien bedienen) spielen mag. Hier wird deutlich, wie eine begriffliche, eine historische und eine inhaltliche Analyse Hand in Hand zu gehen vermögen: Denn historisch im Kontext der philosophischen Ästhetik thematisierte Bereiche hinterlassen ihren Fingerabdruck ebenso auf dem Begriff des Ästhetischen wie gegenwärtige Themen, die einen aktuellen Gebrauch des Begriffs beeinflussen. Eine begriffliche Analyse liefert in dieser Hinsicht also keine verbindliche Vorgabe, sondern eine Art Indikator. Dieser Umstand ist es auch, der, wie Welsch anmerkt, eine permanente Überprüfung und Aktualisierung eines philosophischen Ästhetikverständnisses nötig macht. Die Struktur der Ästhetik als Disziplin wie deren thematische Kernbereiche wären demnach, mit Welsch, als über die Zeit hinweg flexibel und dynamisch verfasst anzusehen. Vgl. Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik, a.a.O., S.9-61 und 135-177.

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nicht zuletzt ein vormodernes, ein offeneres Verständnis von ,wahrnehmenʻ angelegt. Dieses meint kein reines Konstatieren von Sinnesdaten, sondern der Begriff zielt in Richtung eines ,Verstehens mittels der Sinneʻ – somit eines epistemischen, eines Erkenntnis generierenden Vorgangs. In aktuellem, szientistisch angehauchtem Jargon könnte man auch von ,sinnlicher Kognitionʻ oder ,embodied cognitionʻ sprechen. Der Begriff ,aisthesisʻ verspricht also nicht zuletzt in dieser Hinsicht, bezüglich möglicher Schnittstellen zu philosophisch-epistemologischen oder naturwissenschaftlichen Fragestellungen, Virulenz, wobei er dazu beitragen könnte, unterschiedlichste, traditionelle wie aktuelle, ästhetiktheoretische Gegenstandsgebiete hinsichtlich eines ebenso neuen, wie althergebrachten Gesichtspunktes zu bündeln und von einem anderen, als einem üblichen Blickwinkel aus (neu) zu beleuchten. Verschiedene Forschungsbereiche, ,geisteswissenschaftlicherʻ und ,naturwissenschaftlicherʻ, philosophischer und künstlerischer Art, könnten hierbei einbezogen werden. Allerdings – und dies ist nicht im Sinn einer Einschränkung, sondern vielmehr als positive Herausforderung zu verstehen – ist mit der Orientierung am Begriff ,aisthesisʻ allein noch kaum eine Antwort gegeben, als vielmehr eine Frage und ein mögliches (transdisziplinäres) Forschungsfeld benannt, das es künftig in Gestalt unterschiedlichster konkreter Einzelphänomene zu erkunden gilt, wie sie bislang in konzeptionell voneinander isolierten Einzelfeldern verortet und untersucht werden. Konsequenzen für die Künste Soweit zu Konsequenzen, wie sie sich im Positiven hinsichtlich der Frage nach einem aktuell gangbaren Weg für die Disziplin der Ästhetik im engeren Sinn ergeben. Nun reichen die Konsequenzen des oben Dargestellten allerdings – zumindest potentiell und gewissermaßen unfreiwillig – weiter, als dies einem traditionellen Ästhetikverständnis selbst lieb sein kann. Denn grundsätzlich geht traditionelle Ästhetik davon aus, dass Philosophie dazu in der Lage sei, eine Art neutrale Beobachterposition einzunehmen, während das von ihr observierte Objekt, die Künste, sich demgegenüber neutral verhalte. Die Frage lautet jedoch: Ist dem tatsächlich so? Sind die Künste heute und waren sie in der Vergangenheit tatsächlich immer neutral gegenüber dem Umstand, dass sie von philosophischer Seite her reflektiert werden? Eine einfache Antwort zu geben fällt nicht leicht. Denn zumindest auf den ersten Blick stellt sich diesbezüglich ein uneinheitlicher bis widersprüchlicher Eindruck ein: Einerseits gibt es deutliche Hinweise darauf, dass philosophische Ästhetik die Entwicklung der Künste historisch nachhaltig beeinflusst hat. Andererseits kann nicht von einer einfachen Kausalität ausgegangen werden, dergestalt dass Veränderungen auf Seiten der philosophischen Theorie immer und notwendigerweise Auswirkungen im Feld der Künste gezeitigt hätten. Um über mögliche Konsequenzen im Bereich der Künste zu sprechen, bedarf es also einer etwas differenzierteren Betrachtung des beiderseitigen Verhältnisses. Was gilt es bezüglich des historischen Verhältnisses zwischen Ästhetiktheorie und Künsten zu berücksichtigen? Die Entwicklung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, somit die Entwicklung der modernen Künste betreffend, kann sicherlich von einer großen Tendenz ausgegangen werden, die Adorno in folgendem Zitat benennt, wenn er feststellt, dass die philosophische Ästhetik ...

78 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT [...] mit ihren Begriffen hilflos hinter einer Situation der Kunst hertrabe, in der diese [die Kunst – Anmerkung B.H.], gleichgültig was aus ihr [der philosophischen Ästhetik – Anmerkung B.H.] wird, an den Begriffen rüttelt, die kaum von ihr [der philosophischen Ästhetik – Anmerkung B.H.] weggedacht werden können.73

Die Betonung liegt auf dem Umstand der Gleichgültigkeit. Denn in der Tat haben die modernen und zeitgenössischen Künste im Lauf ihrer Entwicklung etliche in der Tradition der philosophischen Ästhetik wurzelnde, zumindest tief in dieser verankerte Bestimmungen hinter sich gelassen, um nicht zu sagen: diese mit Vorsatz über Bord geworfen. Zu denken ist an normative Konventionen wie ,Schönheitʻ, ,Wohlgefallenʻ, ,distanzierte Betrachtungʻ, ,Interesselosigkeitʻ – allesamt Begriffe, die mit zentralen Konzepten einer traditionellen philosophischen Ästhetiktheorie verbunden sind und die sich dort zum Teil bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wenn nicht darüber hinaus, erhalten haben, während sie im Feld der Künste, einer nach dem anderen, entweder stillschweigend abgestreift oder explizit zu zu überwindenden Feindbildern erklärt wurden. Am Beispiel der Bildenden Kunst: Gegen ,Schönheitʻ und ,Wohlgefallenʻ richtet sich die moderne Malerei des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts; ,Interesselosigkeitʻ bildet die Konvention, gegen die die sozial und politisch engagierte Aktionskunst seit den 1960er Jahren aufmarschiert; ,distanzierte Betrachtungʻ wird durch andere neue Bereiche wie Happening, Performance, Installation, interaktive Medienkunst obsolet (oder genauer: sie verbleibt als bestenfalls partikulare medienspezifische Rezeptionsform im Bereich der Malerei/Grafik, keineswegs jedoch als universelles Rezeptionsprinzip). Ein Bildender Künstler, der in diesem Kontext auf Grund seiner Fähigkeit, die Vorlage für ebenso prägnante, wie treffende Aphorismen zu liefern, gerne zitiert wird, ist Barnett Newman. Häufig wiedergegeben wird etwa ein Ausspruch Newmans, in dem dieser das Verhältnis zwischen moderner Malerei und Schönheit wie folgt charakterisiert: The impulse of modern art was the desire to destroy beauty.74

Eine Äußerung, mit der Newman die Zurückweisung einer traditionellen Konvention, wie sie durch die Ästhetiktheorie philosophisch ausgearbeitet und fundiert wurde, zu einer Triebfeder der Entwicklung der Moderne per se erklärt. Eine weniger oft zitierte, dabei nicht minder prägnante Äußerung, findet sich bei Newman bezüglich des

73 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie; a.a.O., S.504. 74 Newmans Statement wird üblicherweise wie oben gegeben zitiert. Im weiteren Kontext lautet dieses wie folgt: „The impulse of modern art was the desire to destroy beauty. Meanwhile, I believe that here in America, some of us, free from the weight of European culture, are finding the answer, by denying that art has any concern with the problem of beauty and where to find it. The question that now arises is how can we be creating an art that is sublime?“ Newman möchte also den Terminus der Schönheit verabschieden, um ihn durch einen nicht minder ästhetiktheoretisch und ,europäischʻ aufgeladenen, jenen des ,Sublimenʻ zu ersetzen. Zitiert nach: Andrew Edgar/Peter R. Sedgwick, Key Concepts in Cultural Theory (London: Routledge 1999) S.9.

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Verhältnisses zwischen Bildender Kunst und traditioneller Ästhetik, wenn er feststellt: Aesthetics is for art, what ornithology is for the birds.75

Dieses Statement bedarf eines kurzen Nachdenkens ob diverser darin enthaltener Implikationen, darüber hinaus aber wohl keines großen Kommentars. Denn das Interesse der Spezies der Vögel an einer systematischen Forschung, welche eine andere Spezies, nämlich jene der Menschen, zu ihnen betreibt, dürfte offensichtlich und, gelinde gesagt, mehr als gering sein. So prägnant und aufschlussreich, im Sinn von Indizien, Newmans Äußerungen nun erscheinen mögen, so vermögen sie doch nur einen Teil des Verhältnisses zwischen traditioneller Ästhetik und modernen bzw. zeitgenössischen Künsten sowie zwischen Künsten und Philosophie im Allgemeinen offenzulegen. Denn was es jenseits einer vordergründigen und relativ offensichtlichen Ebene, wie von Newman angesprochen, weiter zu bedenken gilt, sind zweierlei Umstände: Zum einen muss in Betracht gezogen werden, dass Kunst und Philosophie sich nicht nur in der beschränkten und klar definierten Schnittstelle der philosophischen Ästhetik treffen, sondern dass sie auch darüber hinaus, in einem mal vermittelten, mal unmittelbaren Austausch miteinander stehen. (Die Aneignung von Derridas Begriff der ,Dekonstruktionʻ durch die Theorie und Praxis der Architektur könnte in diesem Kontext ebenso genannt werden, wie umgekehrt die Transgression des Ausdrucks ,Postmoderneʻ aus der Architekturtheorie in ,die Geisteswissenschaftenʻ.76) Zum anderen ist das Verhältnis von Ästhetiktheorie und Künsten nicht einfach auf explizite und historisch wohldokumentierte Berührungspunkte zu beschränken, die zuzeiten existiert haben mögen. (So angesichts des Hellenismus der Fall, der über den Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann in die philosophische Ästhetik eines Kant einfließt, welche ihrerseits auf die Literatur der Weimarer Klassik, insbesondere auf Friedrich Schiller, einwirkt. 77 ) Jacques Rancière, selbst ein aktuelles Beispiel für einen punktuellen Berührungspunkt zwischen Philosophie und Kunstwelt, weist in diesem Kontext darauf hin, dass Ästhetiktheorie auf wesentlich fundamentalerer Ebene Beachtung finden sollte: Nämlich als eine Weise, Kunst als solche zu identifizieren und zu denken.78 Oder anders formuliert: Was Rancière hervorhebt, ist der Umstand, dass es ein bestimmtes grundsätzliches Verständnis, ja unseren heute übli75 Zitiert nach Arthur C. Danto, The Abuse of Beauty (Peru/Illinois: Carus Publishing Company, 2003). 76 Vgl. Kap. 10, Fn. 4. 77 Vgl. Karl Vorländer, Immanuel Kant – der Mann und das Werk (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1977). 78 Oben wurde Rancière diesbezüglich wie folgt zitiert: „'Aesthetics' is not the name of a discipline. It is the name of a specific regime for the identification of art.” An anderer Stelle formuliert Rancière diesen Gedanken wie folgt: „[...] aesthetics [...] denotes neither art theory in general nor a theory that would consign art to its effects on sensibility. Aesthetics refers to a specific regime for identifying and reflecting on the arts“. Jacques Rancière, Aesthetics and its Discontents (Cambridge: Polity Press, 2009) S.8 und Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics (London: Continuum, 2005) S.10.

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chen Begriff ,der Kunstʻ möglicherweise gar nicht gäbe, ohne die philosophische Erfindung einer Ästhetik, die es uns überhaupt erst erlaube, die Sphäre des Ästhetischen und der Kunst als solche, nämlich als von anderen Bereichen zu isolierende und zu unterscheidende, zu erfassen. Diese Sichtweise ist erstens in ihrer Pauschalität kritisch zu sehen. Zweitens, selbst wenn man ihr zustimmt, so muss der von Rancière betonte Sachverhalt keineswegs zwangsläufig positiv beurteilt werden. 79 Andererseits: Löst man sich von der Schablonenhaftigkeit des Gedankens und bewegt sich stattdessen auf die Ebene konkreter traditioneller ästhetiktheoretischer Einzelbestimmungen, so wie Katya Mandoki oder Arnold Berleant dies tun, so kommt einer derartigen Betrachtungsweise durchaus Plausibilität zu. Dies gilt nicht – wie Rancière vermuten lassen könnte – für alle traditionellen Bestimmungen. So gilt es beispielsweise nicht für die traditionellen Konzepte der ,Schönheitʻ, des ,interesselosen Wohlgefallensʻ oder der ,distanzierten Betrachtungʻ. Bei diesen handelt es sich um Bestimmungen, derer sich die Künste heute teilweise oder in Gänze, jedenfalls im Sinn normativer, verbindlicher Vorstellungen, entledigt haben. Aber es mag durchaus für andere Bestimmungen gelten, die ebenfalls in der Formierungsphase der modernen Ästhetik, also im 18. und frühen 19. Jahrhundert, entwickelt wurden und die auf elementare Weise das Bild der Künste betreffen. Konkret zu denken ist an Bestimmungen wie den bereits erwähnten Werk-Gedanken, an das Autonomieprinzip oder die Bestimmung des Künstlerbildes mittels des Begriffs des ,Genieʻ. All diese Determinationen prägen in der einen oder anderen Form – man mag es begrüßen oder bedauern – auch eine aktuelle Vorstellung von Kunst. Nun zurück zu den möglichen Konsequenzen: Wie sich zeigt, sind die Verbindungen zwischen Ästhetiktheorie und Künsten nicht auf einen simplen Nenner, der entweder in einer gegebenen oder ausbleibenden Beeinflussung durch die philosophische Ästhetik bestünde, zu reduzieren. Dementsprechend weit ist auch das Spektrum der möglichen Konsequenzen, die im Feld der Künste gezogen werden können. Eine erste Möglichkeit lautet und einfach: Es gibt keine Konsequenz. Die Ästhetiktheoretiker mögen Prinzipien aufstellen oder diese verwerfen, letztlich braucht dies die Künste nicht zu kümmern. Denn: „Die Kunst gibt sich selbst die Regel.“ Und ob es Immanuel Kant oder Pablo Picasso war, von dem diese oder eine andere Feststellung bezüglich der Künste stammt, und ob diese somit philosophisch fundamentiert sein mag oder ein originär künstlerisches Diktum darstellt – was macht das für die Praxis der Kunstschaffenden für einen Unterschied? Diese Antwort mag fatalistisch und wenig reflektiert wirken. Man sollte aber nicht vergessen, dass sie dem Status quo in den Künsten – man denke nur zurück an 79 Mit einem Theoretiker wie Pierre Bourdieu, gegen den sich Rancière explizit wendet, aber auch etwa mit dem marxistischen Denker Terry Eagleton könnte man fragen, ob die Ästhetik, gerade in dieser von Rancière beschriebenen Funktion, nicht vielmehr einer unter gesellschaftsbezogenen Gesichtspunkten durchaus problematisch erscheinenden ,bourgeoisen Ideologieʻ, statt allein einem neutralen Identifizierungs- und Betrachtungsparadigma gleicht. Mit dem Maler Barnett Newman könnte man hingegen den Gedanken als solchen in Zweifel ziehen und in Newmans reduzierter Bildsprache fragen: Verschwinden die Vögel, wenn sich kein Ornithologe mehr fände, sie zu beobachten? Zu Eagltons Sicht der Ästhetik, siehe Terry Eagleton, Ästhetik – Die Geschichte und ihre Ideologie (Stuttgart: Metzler, 1994).

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Barnett Newmans Ornithologie-Metapher – weitgehend entspricht. Eine andere, weitaus reflektiertere Möglichkeit würde, quasi am anderen Ende der Skala potentiell zu ziehender Konsequenzen ansetzend, darin bestehen, die philosophische Überwindung traditioneller Bestimmungen, wie sie oben dargestellt wurde, als einen ernst zu nehmenden künstlerischen Denkanstoß zu nehmen.80 Eine solche (selbst-)reflexive Haltung kann den Künsten nicht erneut, im Stil einer traditionellen Ästhetik, von außen her vorgeschrieben werden. Aber sie könnte, verstanden im Sinn einer freiwilligen – aus eigener Motivation hervorgehenden und im eigenen Interesse durchgeführten – kritischen Selbstüberprüfung, in der Tat zu interessanten Ergebnissen führen, nicht nur historische Kunstformen betreffend, sondern auch was die heutige Realität der Künste und deren Selbstbild anbelangt. Um diesen Gedanken zu illustrieren, folgen einige skizzenhafte und bewusst polemisch zugespitzte Überlegungen zu exemplarischen Punkten, an denen ein künstlerisches Ansetzen möglich – um nicht zu sagen nötig und wichtig – wäre. Zum Autonomieprinzip: Bei der Vorstellung des L'art pour l'art handelt es sich, dem Anschein nach, um eine originär künstlerische Erfindung. Tatsächlich findet dieses mittels des Begriffskonzeptes einer ,Autonomie der Kunstʻ in der philosophischen Tradition, von Kant bis Adorno, nicht nur auf unterschiedlichste Weise Beachtung, sondern kann selbst in seiner Entstehung auf das Engst mit dieser in Verbindung gebracht werden.81 Auf einen einfachen Nenner gebracht, besagt das L'art pour l'art-Prinzip, dass Kunstschaffende nichts und niemandem verpflichtet seien, als der Kunst selbst. Was aber ist ,die Kunst selbstʻ? Wenn es, wie oben dargestellt, keinen einheitlichen essentiellen Kunst-Begriff gibt, was bleibt dann übrig? Es bleiben einzelne künstlerische Sparten: Musik, Theater, Bildende Kunst, die ihrerseits weiter differenziert werden müssen, etwa in Malerei, Grafik, Installation, Performance, Medienkunst etc. Es bleiben ferner Menschen, die in einer dieser Sparten einer konkreten Tätigkeit nachgehen und sich dabei innerhalb eines konkreten Kontexts bewegen. So verbleiben im Bereich der Bildenden Kunst: KünstlerInnen, die Produkte für einen kommerziellen Kunstmarkt herstellen, wobei – gemäß einem üblichen marktwirtschaftlichen Diktum – die Nachfrage das Produkt bestimmt. Es verbleiben Ausstellungskünstler82, die im Kontext eines lokalen bis internationalen Netzwerks aus (öffentlich, teil-öffentlich oder privat finanzierten) Institutionen agieren. Auch deren 80 In diesem Sinn äußert sich von ästhetiktheoretischer Seite her Morris Weitz, der die Aufgabe seines Faches nicht darin sieht, Kunst zu definieren und somit präskriptive Vorschriften zu machen, als vielmehr darin, KünstlerInnen „seriously made recommendations“ zu geben (vgl. Fn. 54). 81 Die Entstehung des L'art pour l'art-Prinzips wird allgemein mit der französischen und englischen Literatur des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts, also mit Namen wie Théophile Gautier, Victor Cousin, Benjamin Constant oder Edgar Allen Poe in Verbindung gebracht, die dieses prägten und prominent vertraten. Allerdings ist im gegebenen Kontext beachtenswert, dass Constant den Ausdruck L'art pour l'art offenbar erstmals 1804 explizit verwendet zu haben scheint – und dies, um über die Rezeption von Kants Kritik der Urteilskraft in deutschen Literatenkreisen zu berichten. Siehe John Wilkox, The Beginning of L'art pour L'art; in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 11 (4), 1953, S.360-377. 82 Vgl. Oskar Bätsch, Ausstellungskünstler – Kult und Karriere im modernen Kunstsystem (Köln: Dumont, 1997).

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Erzeugnisse haben einen bestimmten Markt zu bedienen, wenn auch keinen offen ökonomischen, so doch jenen eines aktuellen ,Kunst-Diskursesʻ. Es verbleiben ProfessorInnen und Kunststudierende, die im schulischen Rahmen von Akademien arbeiten: die einen in der Hoffnung auf eine abgesicherte Zuflucht vor erstgenannten Bereichen, die anderen auf Suche nach Zugang zu ebendiesen.83 (Des Weiteren verbleiben anschließende Sektoren, die vom Standpunkt der genannten Felder aus betrachtet jedoch keine ernst zu nehmende Rolle spielen, wie: ,abgewandte Kunstʻ, Kunsthandwerk, Kunsttherapie, Kunstpädagogik, Hobbykunst.) Jeder der drei oben genannten Bereiche, die wechselseitig miteinander verbunden sind und die erst gemeinsam den inner circle einer Art ,Kunstweltʻ 84 konstituieren, wird durch einen eigenen, normativen Rahmen bestimmt: Die Akademiekunst durch jenen der Institution, die Ausstellungskunst durch den des Kunst-Diskurses, die produzierende Kunst durch den kommerziellen Markt. Jeder dieser normativen Rahmen übt einen starken Einfluss aus. Er entscheidet darüber, was innerhalb seiner jeweiligen Grenzen als ,Kunstʻ angesehen, hergestellt und betrieben wird. Keiner der Rahmen ist frei von persönlichen (Ansehen, Karriere, Einkommen, berufliche Absicherung) oder systemischen (staatlichen, privatwirtschaftlichen) Interessen. Wo genau hier Raum für eine ,Autonomie der Kunstʻ im Sinn einer vermeintlichen Freiheit von jeglicher Form der Beeinflussung oder gesellschaftlichen Eingebundenheit liegen sollte, ist mehr als fraglich. Ein möglicher Denkanstoß für KünstlerInnen könnte angesichts dieser Situation darin bestehen, über Konsequenzen für ein aktuelles Kunst- und Künstlerbild zu reflektieren, das jenseits eines zuweilen konventionell-banalisierten, zuweilen nahezu metaphysisch verabsolutierten Autonomiebegriffs liegt, wobei eben dieses, nämlich das philosophische Autonomieprinzip in seiner weit in die Geschichte der philosophischen Ästhetik zurückreichenden Fundierung, als Stein des Anstoßes zu dienen hätte. Zum Werkbegriff: ,Philosophen machen Bücherʻ, ,Naturwissenschaftler machen Formelnʻ – derartige Formulierungen wirken naiv bis absurd. Dennoch ist im Bereich der Bildenden Kunst die Fixierung auf das Herstellen eines (materiellen) Objekts nach wie vor gang und gäbe. Angesichts der soeben operativ bestimmten Bereiche gilt dies weniger für den Kontext der Akademie- oder Ausstellungskunst – beide bedürfen mit ihren Paradigmen der Institution und des Diskurses nicht zwangsläufig der Objekthaftigkeit. Anders der ,Kunstmarktʻ85, dessen immanente Vernetzung mit 83 Den Bereich der Akademiekunst als eigenen Bereich aufzuführen mag überraschen. Betrachtet man die stetig wachsende Zahl an Kunst-Studierenden und denkt neben dem Umstand, dass diese in die anderen beiden, oben genannten Bereiche permanent Nachwuchs einspeisen, auch das Faktum eines zunehmend selbst ökonomischen Bedingungen unterliegenden Ausbildungsmarktes ein, so ist eine Integration durchaus sinnvoll. 84 Fundierte soziologische Untersuchungen zum ,System Kunstʻ sind bislang rar. In diesem Sinn kritisiert Pierre Bourdieu institutionelle Ansätze aus dem Bereich der Ästhetiktheorie (Positionen wie diejenige George Dickies oder Arthur C. Dantos, der den Begriff der ,Kunstweltʻ, der ,artworldʻ, prägte), da diese nach Bourdieus Dafürhalten eine eher pseudosoziologische Haltung an den Tag legten. Vgl. Pierre Bourdieu, The Historical Genesis of the Pure Aesthetic; in: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 46, 1987, S.201-210. 85 Beim Begriff des ,Kunstmarktesʻ handelt es sich (im Gegensatz zu jenem der ,Kunstweltʻ, siehe Fn. 84) um einen Ausdruck, der in ästhetiktheoretischen Kreisen im Prinzip keine

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den beiden erstgenannten Bereichen – wenn diese auch nur allzu gerne übersehen wird – und Rolle im Sinn eines Motors, der das vermeintlich autonome Betriebssystem Kunst am Laufen erhält, keineswegs unterschätzt werden darf. Der Kunstmarkt basiert elementar auf dem Gedanken eines materiellen, somit veräußerbaren und käuflich erwerbbaren Objekts, und zwar nicht irgendeines Objekts, sondern des mittels unterschiedlicher Begriffe (wie ,Originalʻ, ,Unikatʻ, ,Meisterwerkʻ) fetischisierbaren Objekts, um es mit Katya Mandoki zu sagen.86 Wie wenig diese Objektfixierung mit der real gegeben Komplexität künstlerischer Aktivitäten und Arbeitsprozesse zu tun hat, wurde bislang erst angedeutet. Denn potentiell kann zum Tätigkeitsgebiet einer Bildenden KünstlerIn nicht nur das Herstellen von, sondern ebenso gut das Nachdenken über Kunst gezählt werden (siehe historische Beispiele wie Vincent van Gogh, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Franz Marc), oder etwa dasjenige, was man als künstlerische Grundlagenforschung bezeichnen könnte (ebenfalls am historischen Exempel, etwa die Farbenlehren von Johann Wolfgang Goethe, Philipp Otto Runge, Johannes Itten).87 Allgemein geht einem ,materiellen Werkʻ – so es sich überhaupt als solches manifestiert – ebenso viel voraus, wie mit ihm einhergeht. Künstlerische Prozesse, den Gedanken von Kunst per se, dabei auf das objekthafte und zu rezipierende (respektive: zu konsumierende) Produkt zu limitieren, ist letztlich ähnlich reduktionistisch wie die Beschränkung eines philosophischen Ansatzes auf den dieBeachtung findet. Von wirtschaftswissenschaftlicher Seite her lässt dieser sich hingegen durchaus als relevantes und klar zu identifizierendes Segment ökonomischer Kreisläufe beschrieben. Veröffentlichungen zu diesem Thema sind bislang zwar eher rar, doch sie finden sich, so in: Iain Robertson (Hrsg.), Understanding International Art Markets and Management (New York: Routledge, 2005). 86 Eben hierin liegt ein wichtiger Punkt und ein Problem eines konventionell verstandenen Autonomieprinzips: Nämlich in dem blinden Fleck, den eine vermeintlich ,autonome Kunstʻ aktueller Prägung ausbildet. Denn gespeist wird diese, gleich einer edlen Frucht, maßgeblich von einem kommerziellen – und zunehmend kommerzialisierten – Markt, der sich von dem Verkauf der von ihm gezüchteten Früchte nähert, während die Künste ihren blinden Fleck schamhaft mit dem Feigenblättchen einer vermeintlichen Autonomie bedecken. Eine systematische soziologisch-kritische Beschreibung, die die Künste nicht allein, im Sinn von Pierre Bourdieu, als Distinktionsmittel, sondern im Sinn einer alternativen Währung innerhalb einer bestimmten Entwicklungsphase kapitalistischer Gesellschaftsund Wirtschaftsformen beschreibt, ist in dieser Hinsicht mehr als überfällig. (Ein scharfsichtiges kritisches Kurzstatement gibt Katya Mandoki in Fn. 44. Der Versuch einer ausführlicheren kritisch-reflektierten Annäherung an das Themenfeld Kunst und Ökonomie findet sich etwa in: Kunstforum International, Kunst und Wirtschaft, 200 (1), 2010 und Kunstforum International, Wirtschaft und Kunst, 201 (2), 2010. Zu ersten systematischen, hingegen wenig kritischen wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen, siehe Fn. 85). 87 Hinzu kommen diverse weitere Aspekte, die das Tätigkeitsgebiet Bildender KünstlerInnen konstituieren: von praktischen Arbeitsprozessen (Materialbearbeitung, Materialexperimente, Anfertigung von Arbeitsproben, Einsatz technischer Geräte) über logistische Planung (Transporte, Wahl der Ausstellungsorte), thematische Recherchen (Hintergrund- und Kontextrecherchen) bis hin zu ökonomischen Berechnungen (Kostenaufstellungen Material, Arbeitskräfte, Miete etc. betreffend) oder strategischen Positionierungen (von KünstlerInnen auf dem Kunstmarkt und/oder im Kunstdiskurs).

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sem entnommenen Aphorismus, oder der Physik auf die von ihr hervorgebrachte Formel. Warum viele KünstlerInnen diese Reduktion, der Tradition folgend, nach wie vor selbst vornehmen, erscheint – nicht nur von Seiten der kunsthistorischen oder philosophischen Kunstreflexion, sondern auch und gerade von Seiten der Künste her – also durchaus fragwürdig. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Rolle des Objekt- und Werk-Gedankens in der Geschichte der Ästhetik – sowie der Philosophie im Allgemeinen – könnte diesbezüglich produktive Wirkungen zeitigen.88 Zum Künstlerbild: Die prägnanteste Verkörperung des traditionellen Künstlerbildes findet sich mit Sicherheit im Begriff des ,Geniesʻ. Dieser erfährt im 18. und 19. Jahrhundert, im Anschluss an die Literaturtheorie des Sturm und Drang, breite philosophische Aufmerksamkeit und seine maßgebliche Ausarbeitung bei Kant, Schiller, Hegel – später auch bei Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche.89 Der Künstler tritt dabei als eine Art Übersetzer auf, der mittels einer angeborenen Gabe (von ,ingeniumʻ: angeborene Fähigkeit) die Natur gleichsam aus sich selbst heraus und durch sich selbst hindurch zur Vervollkommnung führt, während er selbst, in der Manier eines braven Übersetzers, stumm bleibt. Denn das Werk allein ist es, das ,sprichtʻ.90 Nun scheint der Genie-Begriff heute selbst in den Kreisen der Ästhetiktheorie jenseits philosophiehistorischer Arbeiten nur noch wenig Beachtung zu erfahren (saisonale Schwankungen, in denen traditionelle Begriffe wie ,Genieʻ, ,Schönheitʻ, ,Erhabenheitʻ frei nach dem Motto ,Die Mode von gestern ist die Mode von morgenʻ eine kurzzeitige Wiederbelebung erfahren, ausgenommen). Auch die wenigsten heute tätigen KünstlerInnen würden sich wohl selbst ernsthaft als Genie bezeichnen. Die populären Begriffe hingegen, die sich mit dem Genie-Begriff verbinden, Ausdrücke wie ,Talentʻ, ,Naturbegabungʻ, ,Schöpferkraftʻ, ,Leidenschaftʻ, ,Intuitionʻ, ,Passionʻ prägen nach wie vor nicht allein ein populäres Künstlerbild. Die spezifische Note, die einem solchen Künstlerbild anhaftet, wird dabei erst wirklich deutlich, wenn man es dem Stereotyp des Wissenschaftlers gegenüberstellt: So sei es, der Konvention nach, bei Erstgenanntem natürliches Talent und Begabung, bei Zweitgenanntem die Intelligenz, die eine Voraussetzung des Tuns bilde. Diese Voraussetzung werde durch den Künstler mittels Fleiß und Übung, durch den Wissenschaftler mittels Faktenstudium und Wissensaneignung weiterentwickelt; Intuition und Leidenschaft bestimmten die künstlerische Arbeit, während nüchternes Kalkül 88 Siehe auch Fußnote 94. Näheres zu ,dingontologischen Vorstellungenʻ in Kap. 3. 89 In vorkantischer Zeit ist es vor allem die englisch- und französischsprachige Ästhetik avant la lettre, die den Begriff des ,Genieʻ prägt; Autoren wie Antony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftsbury – genannt Shaftsbury –, Joseph Addison, Jean-Babtiste DuBos u.a. Eine gute Einführung in die Historie des Genie-Begriffs gibt Annemarie Gethmann-Siefert, Einführung in die Ästhetik (München: Fink, 1995) S.125-135. 90 Die Grundlage für diese ästhetiktheoretische Sicht legt Kant, wenn er definiert: „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütslage (Ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“ Zu weiteren konkreten Bestimmungen des Genie-Begriffs siehe: die oben und die in Fn. 90 genannten Autoren; zur Historie des Genie-Begriffs: Kap. 10, Fn. 27. Zitat: Immanuel Kant, Kritik der ästhetischen Urteilskraft; in: ders., Die Kritiken; a.a.O.; S.950.

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und Erkenntnisdrang den wissenschaftlichen Fortschritt mit sich brächten. Auch die jeweiligen Ergebnisse, zu denen beide Bereiche führen, fallen, wie das Klischee es will, fundamental verschieden aus: Während dem erfolgreichen Wissenschaftler der rationale Einblick in eine vermeintlich vorgegebene, objektive und bislang allein noch unentschlüsselte Wahrheit zuteilwerde, gelänge dem Künstler im Zuge eines idiosynkratischen Schaffensaktes der subjektive Ausdruck, die aus dem tiefsten Inneren hervorgebrachte Expression der eigenen Gefühlslage.91 Was sich in einer derartigen stereotypen Charakterisierung offenbart, ist die Vorstellung, dass Kunst auf eine Weise funktioniere, die sich fundamental von anderen Vorgängen, insbesondere solchen, die ein rational-logisches Denken erfordern, unterscheide. Philosophische Stellungnahmen, die eine solche Sichtweise begründen, finden sich in der antiken Philosophie eines Platon ebenso, wie in den großen Systementwürfen eines Kant und Hegel. Zwar nobilitiert Letztgenannter die Kunst, gemessen am damaligen Status quo, indem er sie prinzipiell in die höchste Sphäre des absoluten Geistes einordnet. Allerdings: Auch hier wird eine Unterscheidung getroffen, die die spezifische Form, wie der Geist sich in der Kunst auszuprägen vermag, von anderen Formen des Intellekts separiert. Der hegelsche Geist vermag sich nämlich nur bis zu einem bestimmten Entwicklungsgrad in der Kunst zu reflektieren, doch nicht über diesen hinaus. Die Kunst bleibt letztlich in der teleologischen Entwicklung des Geistes hinter der Philosophie zurück und rückt eher in die Nähe der Religion. Eine gedankliche Verbindung, die sich keineswegs nur im deutschen Idealismus, sondern an unterschiedlichster Stelle und in den unterschiedlichsten 91 Ähnlich wie angesichts des L'art pour l'art-Prinzips der Fall so ist auch hinsichtlich des Genie-Begriffs eine merkwürdige Umkehrung zu beobachten: Während eine historische Bestimmung zu ihrer Zeit zu einer Emanzipation des Feldes der Künste beitrug, so verkehrt sie sich heute allzu leicht in ihr Gegenteil. Freilich ist dies nur möglich, weil eben diese Ambiguität ihr von Beginn an eingeschrieben war. So ist Kants Bestimmung des Genies im zeitspezifischen Kontext zu sehen, welcher die Künste einem verengten Rationalitätsverständnis unterzuordnen suchte. In diesem Sinn trägt Kant, indem er den Künstler als Genie bestimmt, durch den hindurch die Natur sich selbst die Regel gibt, zu einer Emanzipation der Künste bei. Andererseits wird eben mittels Kants Bestimmungen langfristig eine Trennung philosophisch fundiert, die das Künstlerbild grundlegend von jenem des Wissenschaftlers scheidet. So ist für Kant Wissenschaft lehr- und studierbar, Kunst, als Naturbegabung, nicht; Wissenschaftler könnten über ihr Tun, Schritt für Schritt, sachlich Auskunft geben, Künstler nicht; wissenschaftliches Wissen setze sich fort, künstlerisches Wissen sterbe mit der individuellen Künstlerpersönlichkeit ab etc. – und so sei im Resultat: „Im Wissenschaftlichen […] der größte Erfinder […] von dem, welchen die Natur für die schöne Kunst begabt hat, spezifisch unterschieden. Indes liegt hierin keine Herabsetzung jener großen Männer [der Wissenschaftler – Anmerkung B.H.]. Eben darin [in der Lehrbarkeit des wissenschaftlichen Wissens – sinngemäße Einfügung B.H.] besteht ein großer Vorzug derselben vor denen, welche […] Genies […] heißen: weil für […] die Kunst […] eine Grenze gesetzt ist, über die sie nicht weggehen kann [...]“. Wobei es sich bei jener ,Grenzeʻ, von welcher Kant an dieser Stelle spricht und welche die Kunst in ihre angeblich naturgegebenen Schranken weise, freilich letztlich um eben jene Grenze handelt, welche Kant, mit Bestimmungen wie den hier wiedergegebenen, erst selbst zieht. Vgl. §§ 46-48 der Kritik der Urteilskraft; in: Immanuel Kant, Die Kritiken; a.a.O., S.950ff.

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Ausprägungsformen findet – sei es bei Arthur Schopenhauer, der der Kunst ein quasi-religiöses Erlösungspotential zuspricht, bei Friedrich Nietzsche, in dessen mythischer und mystifizierender Vorstellung des ,Dionysischenʻ in der Kunst, oder in Walter Benjamins Begriff der Aura, den dieser der Kunst, gleich einem Nimbus, anheftet. Ein verwandter Gedanke zu jenem, das Kunst- und Künstlerbild in die Sphären des Mystisch-Religiösen zu verlagern, findet sich in der Anbindung an das Emotionale. Expressionstheorien bringen dieses Verständnis auf besonders pointierte Weise zum Ausdruck, indem sie die Wirkungsweise von Kunstwerken auf einer gefühlsmäßigen Ebene ansiedeln. Die Aufgabe von Kunstwerken bestehe demnach darin, dass „ein Mensch [...] dem anderen Gefühle übermittelt, die er durchlebt hat, und dass andere durch Gefühle betroffen werden und diese ebenfalls erfahren.“92 Demgegenüber führt Theodor W. Adorno, selbst Theoretiker und Praktiker, vom Standpunkt des Kunstschaffenden her aus: Reflexionslose Kunst ist die Rückphantasie des reflektierten Zeitalters. Theoretische Erwägungen und wissenschaftliche Ergebnisse haben der Kunst von je sich amalgamiert, gingen ihr vielfach voraus, und die bedeutendsten Künstler waren nicht jene, die davor zurückschreckten. Erinnert sei an die Entdeckung der Luftperspektive durch Piero de la Francesca, oder an die ästhetischen Spekulationen der Florentiner Camerata, aus denen die Oper hervorging. Diese bietet das Paradigma einer Form, die [...] in Theorie entsprang, buchstäblich eine Erfindung. Ähnlich erlaubte allein die Einführung der temperierten Stimmung im siebzehnten Jahrhundert die Modulation durch den Quintenzirkel und damit Bach, der im Titel seines großen Klavierwerks dankbar darauf anspielte. Noch im neunzehnten Jahrhundert basierte die impressionistische Malweise auf der [...] wissenschaftlichen Analyse von Vorgängen auf der Retina. Allerdings blieben die theoretischen und reflexiven Elemente in der Kunst selten unverwandelt. [...] Dem produktiven Impetus von der Rationalität her hat das nicht viel Eintrag getan. [...] die ratio [war] keine andere [...] als die in den Naturwissenschaften wirksame.93

Erstaunlich an Stereotypen, wie sie mit der Charakterisierung von Künstlern als Genie einhergehen und die nicht zuletzt dazu führen, dass PhilosophInnen und WissenschaftlerInnen als beredte Zeugen ihres Tuns auftreten, während die Kunst stumm und unmündig einer Explikation durch Dritte – durch KritikerInnen, TheoretikerInnen, KunsthistorikerInnen, PhilosophenInnen – harrt, ist nun weniger, dass sie von außen her aufprojiziert werden, als vielmehr der Umstand, dass KünstlerInnen selbst sich mit solchen Vorstellungen zu identifizieren scheinen. Eine kritische Reflexion traditioneller ästhetiktheoretischer Konzeptionen, wie sie sich mit alltäglichen Anschauungen amalgamieren, könnte also auch in diesem Punkt – wie einzelne Fälle

92 Leo Tolstoi, What is Art? (Indianapolis: Hackett Publishing, 1996); Zitat-Übersetzung B.H. 93 Adorno wird heute fast ausschließlich hinsichtlich seiner philosophischen und soziologischen Arbeiten rezipiert. Dabei kann die Musik, das Musizieren, Komponieren und die theoretische Auseinandersetzung mit Musik als eigentlicher „Ausgangs- und Endpunkt“ des adornoschen Arbeitens gesehen werden, wie Rolf Wiggershaus feststellt; in: Rolf Wiggershaus, Theodor W. Adorno (München: Beck, 1987) S.17. Zitat: Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie; a.a.O., S.501f.

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bereits heute auf eindrückliche Weise zeigen – zu einem differenzierten Selbstbild und potentiellen Wandel beitragen.94 Nun wäre an dieser Stelle freilich der Einwand möglich, worauf eine kritische Auseinandersetzung mit Fragestellungen wie den drei exemplarisch genannten hinauslaufen soll? Wäre beispielsweise ein Kunst- und Künstlerbild erstrebenswert, das künstlerische Tätigkeit nicht als ein Handeln innerhalb einer autonomen Sphäre begreift (eine Vorstellung, die es mit sich bringt, dass die Künste immer zwischen den beiden Polen eines Aufrechterhaltens und eines Überwindens dieser Sphäre eingespannt bleiben95), sondern als schlichtweg konventionelle Tätigkeit, die sich – hinsichtlich unterschiedlichster Aspekte – nicht von anderen Formen des Handelns, wie praktischem, wissenschaftlichem, ökonomischem Handeln unterscheidet (so dass die Frage einer möglichen Grenzüberwindung hier quasi von selbst verschwände)? Oder ein Bild, das die Aufgabe von Kunstschaffenden nicht, oder jedenfalls nicht allein, in der Herstellung von (materiellen) Objekten sieht, sondern als ein Agieren innerhalb eines vielschichtigen und vielgestaltigen Raumes, so dass beispielsweise auch ein Nachdenken über kunstbezogene Fragen oder das Betreiben von künstlerischer Grundlagenforschung als ,Kunstʻ anerkannt werden könnten? Oder eines, das dieses Tun nicht als ,geniehaftʻ bedingt – somit prinzipiell von anderen Tätigkeiten, 94 Zu denken etwa an die differenzierte Auseinandersetzung des Künstlers und Theoretikers Michael Lingner mit den oben genannten Begriffen in Artikeln wie: Kunst als Projekt der Aufklärung jenseits reiner Vernunft; in: ders. (Hrsg.), das Haus in dem ich wohne. Die Theorie zum Werkentwurf von F. E. Walther (Klagenfurt: Ritter Verlag, 1990), S.38-41; sowie unter: http://www.ask23.de. 95 Diesen Sachverhalt merkt auch Jacques Rancière an: Gerade durch die diskursive Klammer, die die Ästhetik, um die Kunst herum aufspanne, stehe diese immer in einem paradox erscheinenden Zwiespalt – nämlich dem, sich entweder auf sich selbst zurückzuziehen und damit jeden gesellschaftspolitischen Anspruch aufgeben zu müssen, oder ihre eigenen Grenzen zu überschreiten und so zwar ihrem gesellschaftspolitischen Anspruch nachzukommen, sich selbst aber aufzugeben. Diesen Zwiespalt erachtet Rancière weniger als Problem, sondern als Chance. Denn eben in der Bewegung zwischen beiden Polen, so Rancière, liege das eigentliche Potential der Kunst. In diesem Sinn kommt auch der philosophischen Ästhetik für Rancière keine negativ-einengende, sondern vielmehr eine positiv konstitutive Rolle zu: „From this [dem beschriebenen zwiespältigen Spannungsverhältnis, in dem sich die Kunst mittels der Ästhetik befindet – Anmerkung B.H.] it is by no means necessary to conclude that there has been a disastrous captation of art by 'aesthetics'. To repeat, there is no art without a specific form of [...] discursivity which identifies it as such. There is no art without [...] Aesthetics“. Diesen Ausführungen Rancières kann hinsichtlich der Diagnose zugestimmt werden: Ohne eine traditionelle Ästhetik gäbe es wohl keine Kunst, wie wir sie heute kennen. Also: nicht ,die eineʻ, ,in sich geschlosseneʻ, als ,autonomʻ verstandene Kunst. Allerdings, wie nun wiederum die Frage kritisch gewendet an Rancière zurückzugeben wäre: Was wäre das Problem hieran? Oder anders gesagt: Was zwingt uns eigentlich, das Feld der Künste im Sinn einer wesenhaften, in sich geschlossenen Einheit zu denken? Und könnte es nicht möglicherweise viel aufschlussreicher sein, einen genauen Blick auf das zu werfen, was übrigbleibt, wenn man von einem derartigen Denken Abstand nimmt? Vgl. Jacques Rancière, Aesthetics and its Discontents (Cambridge: Polity Press, 2009) S.44.

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wie der von HandwerkerInnen, TechnikerInnen, WissenschaftlerInnen, unterschieden versteht –, sondern als Betätigung, an der potentiell praktische und theoretische, sinnliche und kognitive, emotionale und rationale Momente beteiligt sein könnten? Ob all diese möglichen Konsequenzen erstrebenswert sind, dies kann nicht universell und vor allen Dingen: nicht von einem Standpunkt außerhalb der Künste bestimmt werden. Eine Antwort hierauf können letztlich nur KünstlerInnen selbst, mittels ihres eigenen künftigen Tuns, Denkens, Handelns, geben. Entscheidend an dieser Stelle ist aber, dass solcherlei Konsequenzen zu ziehen prinzipiell möglich wäre. Und dass es eine intensive, differenzierte Auseinandersetzung mit dem Bereich traditioneller Ästhetik ist, die diesbezüglich überhaupt erst eine Ahnung davon zu geben vermag, was Punkte betrifft, die es von KünstlerInnen-Seite her zu überdenken und kritisch in Frage zu stellen gilt. Konsequenzen für das Verhältnis von Künsten und Ästhetik Nun zu einem dritten und letzten Gesichtspunkt, unter dem sich potentielle Schlüsse ziehen lassen, nämlich: das Verhältnis von Künsten und Ästhetiktheorie betreffend. Denn, wie nunmehr deutlich wurde, traditionelle Ästhetik kann prinzipiell auf zweierlei Arten interpretiert werden: Negativ formuliert schafft sie ein restriktives gedankliches Korsett, das sie den Künsten von außen her überstülpt. Positiv formuliert schafft sie damit überhaupt erst einen Rahmen, der es möglich macht, ,Kunst als solcheʻ philosophisch zu identifizieren. Ein gewissermaßen kurioser Umstand besteht dabei im Verhältnis, oder besser gesagt: im Ungleichgewicht von Fundamentierung und Wirkung. Denn während die logisch-argumentative Begründung im Bereich der philosophischen Ästhetik, die Frage ob ein jeweiliges Argument philosophisch stichhaltig vorgebracht wird und ob es im Kontext eines aktuell anerkannten und als relevant erachteten Diskurses geäußert wird, aus Sicht der Philosophie allesentscheidend ist, kommt dieser Frage umgekehrt im Bereich der Künste keinerlei Bedeutung zu. Um ein Beispiel zu geben: Man kann hier an das Konzept des interesselosen Wohlgefallens – und damit verbunden den Gedanken der distanzierten Betrachtung – denken (wie es von der englischen Ästhetik avant la lettre aufgebracht, von Kant ausformuliert und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, insbesondere in den Kreisen der angloamerikanischen Ästhetik, kultiviert wurde).96 Dieses dürfte etwa für die Malerei heute nach wie vor Gültigkeit besitzen, während es für andere Bereiche, zu denken an Installation oder interaktive Medienkunst, kaum mehr Relevanz verspricht. Im Theater wird es hingegen zuweilen ein- (Stichwort: Guckkastenbühne) oder gezielt außer Kraft gesetzt (so in Stücken, die die Trennung von Akteuren und Publikumsraum aufheben). Gründe für den bereichsspezifischen und fallweisen Einsatz liegen jedoch nicht etwa in philosophischen Argumenten und Diskursen, sondern in den spezifischen künstlerischen Medien und Ausdrucksformen. Die distanzierte Betrachtung ist dem Medium Malerei nach wie vor adäquat und bleibt daher in Kraft, während sie für andere Medien, die RezipientInnen unmittelbar und teilweise aktiv einbeziehen, abgeschafft wird. Bestimmungen aus dem Bereich der traditionellen Ästhetik werden im Rahmen künstlerischer Praxis zu etwas, was sie im Sinn derjenigen, die sie philosophisch ausgearbei-

96 Siehe hierzu ausführlicher Kap. 2.1.

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tet haben, eben gerade nicht sein sollen: Nämlich zu einer kontingenten Konvention, die beibehalten oder überwunden, angewendet oder nicht angewendet werden kann. Ein grundsätzliches Problem für philosophische Ästhetik in ihrem Verhältnis zu den Künsten liegt dabei in der Frage der Deutungshoheit. Denn während es ,der Kunstʻ (i.e. den Kunst- und Kulturschaffenden) jederzeit möglich ist, immanente Bestimmungen oder einen spezifischen Kunstbegriff als Ganzes beizubehalten oder zu verwerfen, bleibt die Philosophie an dasjenige gebunden, was die Künste ihr vorgeben. Ein Umstand, der bereits Hegel zu seiner berühmten pessimistischen Metapher der Philosophie als Eule der Minerva führte, welche ihren Flug erst in der Abenddämmerung beginnt, wenn die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess abgeschlossen hat, während der Philosophie nichts anderes bleibt, als ihr Bild „grau in grau“ zu malen 97 – eine zugegeben wenig erfreuliche Aussicht. Allerdings: Das eigentliche Problem dürfte letztlich in einem ganz anderen Umstand liegen, nämlich, um im Bild zu bleiben: In dem Versuch einer sich im Flug über die Welt erhebenden Betrachtungsperspektive, oder konkret gesagt: in der grundsätzlichen Positionierung, welche die Philosophie in Gestalt einer traditionellen Ästhetik gegenüber den Künsten einzunehmen sucht. Statt sich diesen als prinzipiell verwandt und immanent mit diesen verbunden zu begreifen, definiert eine Philosophie der Kunst sich traditionellerweise als ein den Künsten Äußerliches. Von diesem Standpunkt aus will sie nicht immanent mitgestalten (oder ,schlimmer nochʻ: sich selbst mitgestalten lassen), sondern: Kunst als das andere, dem eigenen Wesen fremde, essentiell definieren. Schön bringt Alain Badiou diese Vorstellung auf den Punkt, indem er zu einer anderen metaphorischen Veranschaulichung greift: Die Rolle der Philosophie wird dabei von dem (männlichen) Psychoanalytiker übernommen, der seine Patientin, die (weibliche) Hysterikerin, welche ihrerseits die Rolle der Kunst übernimmt, zu therapieren sucht. Dabei handelt es sich, wie Badiou ausführt, um ein schwieriges Unterfangen: Ein Bild kommt mir in den Sinn [...]: Philosophie und Kunst sind in der Geschichte gleichermaßen miteinander verkoppelt, wie es [...] der Analytiker und die Hysterikerin sind. Bekanntermaßen kommt die Hysterikerin zum Analytiker und sagt: „Aus meinem Mund spricht die Wahrheit, ich bin da, und du, der das Wissen besitzt, sage mir wer ich bin.“ Und man errät, wie auch immer die sachkundige subtile Antwort des Analytikers ausfallen wird, die Hysterikerin wird ihn wissen lassen, dass es damit noch nicht getan sei, dass ihr da sich dem Zugriff entwende, dass wieder von vorne begonnen werden müsse und es noch viel Arbeit sei, damit es ihr gefalle. Wodurch sie das Ruder übernimmt und Herrin über den Meister wird. Und genauso ist die Kunst immer schon da und richtet an den Denker die stumme und funkelnde Frage nach ihrer Identität […].98

Die enthaltenen sexistischen Rollenklischees sind mehr als offenkundig und bedürfen keines weiteren Kommentars. Will man diese nun nicht Alain Badiou selbst anlasten 97 Wenn Hegel dieses Bild auch nicht im Kontext seiner Philosophie der Kunst, sondern seiner Philosophie des Rechts entwickelt. Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts; herausgegeben von Johannes Hoffmeister (Hamburg: MeinerVerlag, 1967) S.17. 98 Alain Badiou, Kleines Handbuch zur In-Ästhetik (Wien: Turia und Kant, 2001) S.7.

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(was seiner Intention sicher zuwiderlaufen würde99), sondern versteht die metaphorische Darstellung vielmehr als treffende Charakterisierung einer traditionellen ästhetiktheoretischen Selbstsicht, so wird die Frage nach einem emanzipierten Verhältnis zwischen Philosophie und Künsten offenkundig, vergleichbar jenem zwischen den Geschlechtern. Wie könnte ein solches emanzipiertes Verhältnis aussehen? Ein Anfang wäre sicherlich gemacht, wenn die Rolle der Künste, ähnlich jener der Frau, nicht länger in der eines wertvollen, aber ebenso alltagsuntauglichen wie stummen Objekts gesehen würde.100 Stattdessen sollte Kunst – oder richtiger: sollten unterschiedliche künstlerische Bereiche und Praktiken – stärker hinsichtlich des gesamten Spektrums der an ihnen beteiligten Prozesse Beachtung erfahren. Dies betrifft deren praktische und alltagsweltliche Seiten ebenso wie reflektierende Äußerungen und Stellungnahmen von KünstlerInnen – gleich ob diese in Form von Vorträgen und Interviews vorgebracht werden, oder ob es sich um praxisbezogene oder theoretisierende Schriften handelt, welche üblicherweise aus dem Kanon einer Philosophie der Kunst ausgeschlossen werden. (Friedrich Schiller und Leo Tolstoi bilden hier seltene, um nicht zu sagen alleinige Ausnahmen, denen von philosophischer Seite her eine gewisse Sprach- und Denkfähigkeit zugestanden wird.101) Ein weiterer Schritt bestünde darin, sich in der Auseinandersetzung mit den Künsten von philosophischer Seite her zurückzunehmen und sich statt über diese erhaben als mit diesen gleichwertig und potentiell – eben mittels einer Auseinandersetzung – verbunden zu verstehen, etwa, indem die philosophische Reflexion den 99

Nicht zuletzt tritt Alain Badiou im Rahmen seiner In-Ästhetik selbst für ein emanzipierteres Verhältnis zwischen Philosophie und Künsten ein. So legt er über das historische Verhältnis von Philosophie und Künsten ein gedankliches Raster, das es ermöglicht, drei verschiedene (dabei nicht zwangsläufig zeitlich-konsekutiv aufzufassende) Schemata zu identifizieren: das der ,Didaktikʻ, das der ,Romantikʻ und das der ,Klassikʻ. Keines dieser Schemata erlaube es, Kunst als Hervorbringung einer genuinen oder, wie Badiou selbst sagt, einer zugleich ,singulärenʻ und ,immanentenʻ Wahrheit aufzufassen. Ebendies solle ein neues, viertes Verknüpfungsschema, wie es das gesamte 20. Jahrhundert über aller offenkundiger Veränderungen in Philosophie und Künsten zum Trotz nicht hervorgebracht worden sei und wie Badiou selbst es nun im Rahmen seiner In-Ästhetik skizziert, gewährleisten. Dieser Gedanke ist beachtenswert, nimmt er doch die Rolle der Philosophie – die für Badiou nicht selbst Wahrheit besitzt, sondern diese allein in wahrheitsgenerierenden Bereichen wie den Künsten oder den Wissenschaften aufzeigt – merklich zurück. Freilich, als Voraussetzung einer Verknüpfung bleibt eine vorausgehende Trennung zwischen ,der Philosophieʻ und ,der Kunstʻ (vergleichbar einer binären Geschlechtertrennung), wie sie auf den folgenden Seiten in Frage gestellt wird, weiterhin konstitutiv. Vgl. Alain Badiou, Kleines Handbuch zur In-Ästhetik; a.a.O; S.7-25. 100 Zur Ähnlichkeit des Rollenbildes der Frau und der Künste in der entstehenden bourgeoisen Gesellschaft siehe: Arthur C. Danto, The Philosophical Disenfranchisement of Art (New York: Columbia Press, 1986). 101 Zu denken an Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen oder Leo Tolstois im Kontext der sogenannten ,expressionist theoriesʻ viel zitierten Essay Was ist Kunst?. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen; herausgegeben von Klaus L. Berghahn (Stuttgart: Reclam, 2000); Leo Tolstoi, What is Art? (Indianapolis: Hackett Publishing, 1996).

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Künsten nicht aus der Distanz heraus Vorschriften macht, sondern in das Geschehen involvierte – somit in Anspruch und zeitlicher Gültigkeitsdauer bewusst limitierte – „seriously made recommandations“ unterbreitet, wie Morris Weitz sagt.102 Beide Schritte sind von einer Ästhetik, insofern sie sich zukünftig mit den Künsten befassen möchte, einzufordern. Ein noch weitergehender Schritt hin zu einem egalitären Verhältnis würde nun natürlich darin bestehen, überhaupt den Gedanken einer philosophischen Beschäftigung mit den Künsten im Sinn eines Themas aufzugeben. Also, um bei Alain Badious Bild zu bleiben, sowohl ,die Hysterikerin Kunstʻ, wie ,den Analytiker Philosophieʻ gänzlich von ihren jeweiligen Aufgaben – inklusive der daraus resultierenden Rollenklischees – zu entbinden. Eine derartige Entkoppelung würde sowohl die Künste davon befreien, sich, mehr oder weniger freiwillig, stumm und devot in ihrem eigenen Wesen erklären zu lassen, wie die Philosophie, sich dieser selbst-ermächtigten und selbst-ermächtigenden Aufgabe ,verpflichtet zu fühlenʻ. Was aber können zwei derart von ihren üblichen (Geschlechter-) Rollen entbundene Individuen, respektive Bereiche, miteinander anfangen? Eine mögliche Antwort hierauf findet sich – jedenfalls der Tendenz nach – bereits in der gemeinsamen Geschichte von Künsten und Ästhetik angelegt. Denn nicht immer und zu allen Zeiten hatte eine traditionelle Rollenverteilung das alleinige Sagen. Stattdessen finden sich auch Beispiele, in denen Ästhetiktheorie und Künste nicht in einem Verhältnis von betrachtender Instanz und betrachtetem Gegenstand zueinander stehen, sondern, in denen beide den wechselseitigen Blick voneinander lösen und diesen stattdessen auf ein gemeinsames Interessensfeld richten. (Achtung: Bei dieser Formulierung handelt es sich nicht allein um ein Sprachbild, sondern in der Tat um einen Punkt von Bedeutung. Zwei Bereiche befassen sich nicht länger wechselseitig miteinander, bzw. der eine Bereich mit dem anderen – beide stehen sich also nicht gegenüber, sondern sie stehen nebeneinander, ihre Blickrichtung, auf ein gemeinsames Drittes gerichtet, ist die gleiche. Die Betrachtungsperspektive fällt – der Tendenz nach – in eins zusammen, während der Punkt der Differenz zwischen den beiden zunehmend aus dem Blickfeld gerät und verschwindet.) Konkret lässt sich dies beispielsweise angesichts des Themengebietes Farbe und Form beobachten, mit dem sich zunächst eine erste Generation aus dem Kreis der psychologischen Ästhetik theoretisch und empirisch auseinandersetzte, dem sich dann bestimmte Zirkel innerhalb der modernen Malerei (zu denken ist an Robert Delaunay, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Franz Marc, Adolf Hölzel, Johannes Itten) ebenfalls praktisch und theoretisch zuwandten, wobei ihre Arbeitsergebnisse wiederum einer zweiten Generation von psychologischen Ästhetiktheoretikern zur weiteren Auseinandersetzung zur Verfügung standen. Ein anderes historisches Beispiel bildet die Frage nach der optischen Wirkung einfacher Formen und Muster, sogenannter ,primary structuresʻ, die im Kontext der Minimal Art und Op-Art intensiv erkundet wurde, ebenso wie im Bereich der Gestaltpsychologie.103 Sicher handelt es sich bei den genannten Beispielen um punktuelle Betrachtungsund Interessenskonvergenzen. Dennoch wird an diesen Exempeln für Fälle, in denen 102 Vgl. Fn. 54. 103 Vgl. Norbert Schneider, Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung zur Postmoderne (Stuttgart: Reclam, 1996) S.18.

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Ästhetiktheorie und Künste sich nicht wechselseitig aufeinander beziehen, sondern sich – unter zur Kenntnisnahme des Tuns des jeweils anderen – den gleichen Fragestellungen innerhalb der gleichen Themengebiete zuwenden, etwas deutlich: Es scheinen insbesondere solche Bereiche der Ästhetiktheorie zu sein, die keine Scheu vor der Empirie aufweisen (etwa eine psychologisch orientierte und nicht exklusiv philosophische Ästhetik), so wie es umgekehrt jene künstlerischen Positionen sind, die nicht vor einer theoretisch-reflexiven Auseinandersetzung zurückschrecken, die ein anders gelagertes, egalitäreres Verhältnis erlauben. Die oben angesprochene, von diversen Vertretern einer aktuellen ,alternativen Ästhetikʻ aufgezeigte Möglichkeit einer konzeptionellen Orientierung der Ästhetik am ästhetiktheoretischen Strang und Begriff ,aisthesisʻ könnte in dieser Hinsicht durchaus eine Tür öffnen, die es erlaubte, dass Philosophie und Künste sich nicht allein in mehr oder weniger zyklischen Wellen mittels eines mal interessierteren, mal desinteressierten Blicks aufeinander zu und wieder voneinander fort bewegen, sondern dass beide Bereiche tatsächlich gemeinsam eine neue Richtung einschlagen. Eine Richtung, die es ihnen erlauben würde, sich parallel zueinander oder möglicherweise gar im Verbund miteinander, also im positiven Sinn des Wortes, ,kollaborativʻ fortzubewegen.

1.4 S CHLUSSFOLGERUNGEN

FÜR DIESE

U NTERSUCHUNG

Ein dritter Weg zeichnet sich heute im Bereich der disziplinären Ästhetik mit den oben genannten Binnenbewegungen der Umweltästhetik, der Alltagsästhetik, der Ästhetik der Populärkultur, der kulturvergleichenden Ästhetik, der feministischen Ästhetik ab. Was derartige Entwicklungen verbindet, ist neben der expliziten Hinwendung zu neuen thematischen Gebieten eine Art implizite Programmatik, die in einer kritischen Abkehrbewegung von traditioneller Ästhetik besteht. Was als traditionell, was als aktuelle Alternative anzusehen ist, konturiert sich dabei wechselseitig, wobei die oben angeführten vier Kritikpunkte klar machen, worin genauer, auf einer tiefer liegenden konzeptionellen Ebene, das verbindende Moment aktueller Abkehrbewegungen und somit das verbindende Moment dessen liegt, wovon kritisch Abstand genommen wird. Die Konsequenzen, die aus dieser Kritik zu ziehen sind, gehen allerdings weiter. Sie bleiben nicht auf das Feld der Ästhetik in seinen heute – und, wie nicht vergessen werden darf, bislang nach wie vor maßgeblich durch ein traditionelles Ästhetikverständnis selbst – demarkierten Grenzen beschränkt, sondern sie betreffen potentiell auch das Feld der Künste sowie das wechselseitige Verhältnis von Künsten und Ästhetiktheorie. Führt man sich diese weiterreichenden Konsequenzen vor Augen, so wird eine Möglichkeit deutlich, die über das bislang Übliche, ja selbst noch über das, was disziplinäre Binnenbewegungen aktuell leisten und zu leisten suchen, hinausgeht: Denn Philosophie und Künste könnten einander künftig auf grundsätzlich neue, gewandelte Weise begegnen. Es könnte, im oben gegebenen Bild der Geschlechterrollen, nicht nur zu einem in Bezug auf die Künste emanzipierteren Verhältnis kommen, sondern zu einer tendenziellen Auflösung der Kategorie ,Geschlechtʻ als solcher. Diese Möglichkeit, die Auflösung des Knotens, der Philosophie und Künste bislang zusammenbindet, betrifft nicht ,die Philosophieʻ und ,die Kunstʻ per se, die

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auch künftig nicht als solche nahtlos ineinander blenden werden; aber sie betrifft solche Ansätze innerhalb beider Felder, die ein gemeinsames Interessensgebiet aufweisen und die in der Bearbeitung dieses Interessensgebietes eine vergleichbare Perspektive zum Einsatz bringen. Nun zu den konkreten Schlussfolgerungen. Hinsichtlich des im Rahmen dieser Untersuchung verfolgten Gedankens einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt als einer kollaborativen, künstlerisch-philosophisch basierten Forschungspraxis können an dieser Stelle gleich mehrere konkrete Schlussfolgerungen gezogen werden: Weiter oben wurden, im Kontext von Konsequenzen, die es im Bereich der disziplinären Ästhetik zu ziehen gilt, die Schlagworte der ,Spezifizierungʻ und ,Konkretisierungʻ als programmatische Leitbegriff genannt. Auch für die hier vorliegende Untersuchung erweisen sich diese als wegweisend insofern, als es nicht länger die Frage der Ästhetik und der Künste als solcher zu stellen gilt. Vielmehr wird eine Auseinandersetzung mit spezifischen und ganz konkreten Bereichen stattzufinden haben. Dabei handelt es sich auf Seiten der Philosophie um den Bereich der Alltagsund Umweltästhetik; auf Seiten der Künste um jenen der Installation – und noch genauer: den der ,architektur- und ortsbezogenen Installationʻ. Das geteilte Interessensfeld, auf das sich beide Bereiche dabei ausrichten, bildet das Gegenstandsgebiet der (gebauten) menschlichen Umwelt (vgl. Einleitung). Für beide Seiten, die der installativen Kunst und die der Alltags- und Umweltästhetik, spielt dieses, wie in den folgenden Kapiteln zu sehen sein wird, eine wichtige Rolle. Allerdings wäre eine Gemeinsamkeit in der Interessenslage wenig, wenn nicht auch besagtes verbindende Moment in der Betrachtungsperspektive hinzukäme. Die Frage nach der menschlichen Wahrnehmung, wie sie oben mittels des Begriffs ,aisthesisʻ als eine neben anderen möglichen Fragestellungen einer sich prinzipiell aus unterschiedlichen durchgehenden, miteinander überlagernden und verwobenen Strängen konstituierenden Disziplin der Ästhetik herausgestellt wurde, könnte – so die Vermutung, der im Weiteren nachzugehen sein wird – die Rolle eines derartigen verbindenden Momentes übernehmen. Schließlich ist menschliches Wahrnehmen nicht allein ein Thema, das von philosophischer und von künstlerischer Seite (etwa in Gestalt von Farbtheorien) seit jeher theoretisch reflektiert wird, es kommt, wenn es um die Frage (gebauter) menschlicher Umwelten geht, auch aktiv zum Einsatz – und dies unweigerlich. Dies gilt für den Bereich der installativen Kunst, die aktiv mit wahrnehmungsbezogenen Wirkmechanismen arbeitet ebenso wie für eine philosophische Reflexion, die kaum in der Lage sein dürfte, über aisthesis zu reflektieren, ohne selbst aktiv von dieser Gebrauch zu machen. Was den Gedanken einer kollaborativen Forschungspraxis anbelangt, die nicht nur philosophische, sondern auch künstlerische Anteile implementiert, so setzt dieser Gedanke – angesichts des oben Diskutierten – freilich voraus, dass kein übliches, von traditioneller Ästhetik durchdrungenes bzw. in dieser Hinsicht unreflektiertes Kunstund Künstlerbild zum Einsatz kommt. Zwar lässt sich die oben angedeutete Möglichkeit einer selbstreflexiven Wende in den Künsten, welche hierzu an sich vonnöten wäre, nicht kurzerhand simulieren oder von einem Standpunkt außerhalb der Künste vorwegnehmen. Dennoch möchte ich für den Kontext der weiteren Untersuchung die folgende Schlussfolgerung ziehen: Wenn ein Kunst- und Künstlerbild potentiell möglich scheint, das sich mittels einer kritischen Selbstreflexion von tradierten Bestimmungen, wie sie eine philosophische Ästhetik fundamentiert, löst,

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könnte es sich in heuristischer Perspektive als produktiv erweisen, künstlerischem Agieren bereits heute unter anderen als den in der philosophischen und kunsttheoretischen Tradition üblichen Gesichtspunkten Aufmerksamkeit zu schenken. Dies betrifft insbesondere die oben angesprochenen drei exemplarischen Punkte: a) die Frage der Autonomie der Künste, die üblicherweise im Sinn fixer, statischer (Außen-)Grenzen gedacht wird. Stattdessen möchte ich im Weiteren eine mögliche immanente Verwandtschaft zwischen Künsten, Philosophie und wissenschaftlichem Forschen in den Blick nehmen. Es wird also gezielt vom Gedanken einer Autonomie der Kunst im herkömmlichen Sinn eines L'art pour l'art-Prinzips abgesehen bzw. wird, richtiger gesagt, ein kontextuelles Autonomieverständnis verfolgt werden104; b) die Loslösung von der Fixierung auf ein ,Werkʻ, welche eine Reduktion künstlerischer Arbeitsprozesse auf die zielgerichtete Hervorbringung von (materiellen) Objekten bewirkt, welche es zu rezipieren und zu interpretieren (bzw. im Sinn von Produkten zu handeln und passiv zu konsumieren) gilt; und stattdessen die Beachtung von Aspekten, die im künstlerischen Arbeiten eine Rolle spielen. Dies schließt praktische Aspekte ebenso ein wie etwa ein planmäßiges, strukturiertes Handeln oder potentiell ein theoretisch-reflektiertes Vorgehen, wie es zwar nicht alleine, aber eben auch künstlerisches Agieren prägen mag; c) die Möglichkeit der Betrachtung von ebendiesem, nämlich von künstlerischem Arbeiten im Sinn eines konventionellen Agierens von konventionellen Menschen – und nicht im Sinn eines mystisch aufgeladenen Schaffensaktes durch ein ,Genieʻ, wie es eine traditionelle Ästhetik im Rahmen üblicher Produktions- und Rezeptionsästhetiken suggeriert. Die letzte konkrete Schlussfolgerung, die an dieser Stelle gezogen werden soll, mag angesichts des soweit Erörterten nun weniger unkonventionell erscheinen, als sie es ohne dieses täte: Sie wird darin bestehen, dass im Weiteren nicht etwa ästhetiktheoretische oder kunsttheoretische Ansätze im Hinblick auf ihre Äußerungen zur Kunst Beachtung finden werden. Sondern es wird vielmehr gelten, beide Seiten, die der Alltags- und Umweltästhetik (in Teil II) und die der installativen Kunst (in Teil III) aus sich selbst heraus zu entwickeln und auf ihren möglichen Beitrag zu einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt hin zu befragen, bevor (in Teil IV der Untersuchung) ein konstruktiver Abgleich bzw. eine Zusammenführung erfolgen kann. Dies bedeutet die Seite der installativen Kunst betreffend auch: Statt den üblichen Umweg über philosophische oder kunsthistorische Theoriebildung zu gehen, wird ein anderer Weg beschritten werden. Es werden KünstlerInnen, in Wort und Schrift, selbst zur Sprache kommen, wobei sie nicht über Interpretationsmöglichkei104 Ein übliches Autonomieverständnis, im Sinn von L'art pour l'art, setzt klare Außengrenzen und sucht die eigene Identität in einer Abschottung gegenüber anderem. Ein kontextueller Autonomiebegriff, wie er hier vorgeschlagen und anschließend, anhand eines konkreten Bereichs, weiterverfolgt werden wird, mag in diesem Sinn auf Anhieb als Negation des Gedankens der Autonomie der Kunst aufgefasst werden. Denn statt Schnitte zu setzen und rigide Demarkationslinien zu anderen Bereichen zu ziehen, sucht er, um es mit Ludwig Wittgenstein zu sagen, ,das Feste im Weichenʻ. Er sieht die Möglichkeit eines inhärenten Zusammenhaltes auch und gerade im Zentrum des umseitig Vernetzten gegeben. Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten, fließende Übergangszonen und immanente Vernetzungen mit anderen Bereichen werden dabei nicht als Widersprüche zum Gedanken einer Autonomie, sondern als ein diese mit bedingendes Moment aufgefasst.

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ten ihrer künstlerischen Hervorbringungen, sondern vielmehr über alltägliche künstlerische Arbeitsprozesse und Vorgehensweisen Auskunft geben werden. Wenn im Weiteren auf dem hier skizzierten Weg eine sukzessive Annäherung an die Möglichkeit einer transdisziplinären Forschung, einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt stattfindet, die erstens nicht allein Theorie, sondern auch empirische Untersuchungspraxis und zweitens nicht allein philosophisch basiertes, sondern gleichermaßen künstlerisch basiertes Forschen ist, so handelt es sich dabei, um dies rückbezogen auf die Betrachtungen von Kapitel 1 noch einmal klar zu sagen, also nicht etwa um den neuen, vierten Weg für die Ästhetik schlechthin. Sondern es handelt sich gerade im Gegenteil um eine Möglichkeit (neben anderen interessanten und vielversprechenden Möglichkeiten), die sich eben durch das Abstandnehmen von generalisierenden, auf ein großes Ganzes gerichteten Ansätzen ergibt. Innerhalb dieser ebenso spezifischen wie konkreten Möglichkeit bietet sich allerdings die Chance, über ein heute bestehendes Verständnis dessen, was Ästhetik ist – sowie: was Philosophie und Künste sind – hinauszugehen.

Teil II

Kapitel 2 Alltags- und Umweltästhetik – eine kurze Einführung

Im zweiten Teil dieser Untersuchung, bestehend aus den Kapiteln 2-5, wird die Frage verfolgt, welchen Beitrag eine aktuelle Alltags- und Umweltästhetik zum Gedanken einer transdisziplinär verfassten Forschung leisten könnte, die sich alltäglichen menschlichen Umgebungen unter wahrnehmungsbezogenen Gesichtspunkten zuwendet. Hierzu wird einleitend, in Kapitel 2, eine Einführung in die hierzulande noch wenig beachteten Bereiche der Everyday Aesthetics und Environmental Aesthetics gegeben, wie sie sich im angloamerikanischen Diskursraum mittlerweile als eigenständige ästhetiktheoretische Forschungsfelder etabliert haben. Auch der Beitrag, den die deutschsprachige Ästhetik leistet, wird in diesem Kontext zur Sprache kommen. In den auf Kapitel 2 folgenden Kapiteln gilt es sodann, tiefer in die Materie einzusteigen. Hierzu möchte ich mich zwei exemplarischen Positionen zuwenden, die auf besondere Weise versprechen, zum konzeptionellen Grundgerüst einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt beizutragen: Thematisiert wird in Kapitel 3 ein Ansatz des deutschsprachigen Raumes, derjenige Gernot Böhmes, sowie in Kapitel 4 ein Ansatz des angloamerikanischen Diskurses, die ästhetiktheoretische Position Arnold Berleants. Kapitel 5 beschließt den zweiten thematischen Block der Untersuchung mit einer kritischen Zusammenschau, in der zentrale Gedanken, Konzepte und Fragestellungen, welche die Ebene individueller Ansätze überschreiten, als solche herausgearbeitet, einer kritischen Überprüfung unterzogen und im Sinn eines theoretischen Grundgerüsts einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt festgehalten werden. Wie in Kapitel 1 deutlich wurde, zeigen sich aktuelle disziplinäre Binnenbewegungen aus dem Bereich der philosophischen Ästhetik hinsichtlich einer allgemeineren Intention, einer ,impliziten Programmatikʻ, wie gesagt wurde, miteinander verbunden. Die hierbei maßgebliche, verbindende negative Abkehrtendenz, die fort von einer traditionellen Ästhetik und einer Philosophie der Kunst im engeren Sinn führt, bringt im Positiven eine Hinwendung zu ästhetischen Fragestellungen in ihrer ganzen Breite mit sich. Was im Einzelnen thematisch in den Blick genommen wird, sind alltägliche und populäre Kulturpraktiken ebenso wie nicht-westliche Kunst- und Kulturformen oder etwa solche kulturellen Äußerungsformen, die traditionellerweise feminin konnotiert sind und schon allein deshalb lange Zeit aus dem Kanon einer männ-

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lich geprägten Kunst und Hochkultur ausgeschlossen wurden. Zwei besonders einflussreiche Neuentwicklungen bzw. Wiederentdeckungen ästhetiktheoretischer Betätigungsfelder stellen die Bereiche der Umwelt- und der Alltagsästhetik dar. Beide haben sich im Lauf der letzten Jahrzehnte insbesondere im angloamerikanischen Diskursraum sowie parallel hierzu und weitgehend zeitgleich, in anderen sprachgebundenen ,Communitiesʻ herausgebildet. Inwiefern von Sonderentwicklungen für den Bereich der deutschsprachigen Ästhetiktheorie ausgegangen werden kann, dies soll im Folgenden ebenso erörtert werden wie die Frage, inwiefern der Bereich der Environmental Aesthetics und Everyday Aesthetics, bzw. zu Deutsch der Umwelt- und Alltagsästhetik, den Hintergrund für Ansätze bildet, die sich dem Themengebiet der (gebauten) menschlichen Umwelt und der Frage, wie Menschen diese in ihrem Alltag wahrnehmen, zuwenden.

2.1 D ER ANGLOAMERIKANISCHE D ISKURSRAUM – E VERYDAY UND E NVIRONMENTAL AESTHETICS Einleitend einige Worte zum disziplinären Kontext bzw. den spezifischen Kontexten, vor deren Hintergrund sich die genannten Bewegungen entwickeln. Zunächst ein Blick auf den angloamerikanischen Diskursraum: Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein zeigte sich die angloamerikanische Ästhetiktheorie auf besondere Weise durch traditionelle Ansätze und philosophische Konzepte bestimmt. Bereits Anfang des Jahrhunderts hatte Clive Bell1 die Strömung des Formalismus, die einen in Kants Kritik der Urteilskraft enthaltenen formalästhetischen Ansatz aufgreift, geprägt.2 Ein anderer Ästhetiktheoretiker jener Zeit, Edward Bullough, nimmt seinerseits im Rahmen seiner physical distance theory explizit Rekurs auf Kants interesseloses Wohlgefallen.3 Gegen ein derartiges Kunstverständnis wenden sich in der Folge expressionist und intentionalist theories of art, die den Fokus verstärkt auf Gesichtspunkte wie künstlerische Intention und Ausdruck legen, sowie später die analytische Philosophie4, die seit den 1950er Jahren allgemein zu einer dominierenden Strömung des

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Clive Bell, Art (London: Chatto and Windus, 1913). Zur engeren oder weiteren Einflusssphäre des Formalismus zählen des Weiteren Eduard Hanslick, Monroe Beadsley, Harold Osborne u.a. Edward Bullough, 'Physical Distance' as a factor in Art and as an Aesthetic Principle; in: The British Journal of Psychology, 5, 1915; a.a.O., S.87-98. Das Feld der philosophischen Ästhetik kann, was den angloamerikanischen Diskursraum des 20. Jahrhunderts betrifft, in die folgenden, hier entwickelten oder einflussreichen Strömungen untergliedert werden: Traditionsverbundene Ansätze, die sich insbesondere durch Kant (Schaper, Guyer, Crawther u.a.) und den deutschen Idealismus (Croce, Collingwood u.a.) beeinflusst zeigen; die bis Mitte des Jahrhunderts einflussreichen Strömungen des Formalismus (Hanslick, Bell, Beadsley, Osborne u.a.); sowie intentionalistischer und expressivistischer Theorien (Langer, Ayer, Tolstoy u.a.); die analytische Ästhetik mit ihrem seit den 1950er Jahren dominierenden Einfluss (im Anschluss an Wittgenstein, Russel, Sibley, die unmittelbaren Einfluss ausüben auf Moore, Weitz, Kennick u.a. sowie, vermittelt, auf Danto, Dickie, Goodman, Margolis, Shusterman u.a.); Ansätze aus dem Bereich: Prag-

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angloamerikanischen Raumes wird und auch im Bereich der Ästhetik zunehmend an Einfluss gewinnt. Allerdings hat die Kritik, welche die analytische Ästhetik an den vorausgegangenen Strömungen – insbesondere an deren Bestreben, Kunst wesenhaft zu definieren – übt, einen signifikanten Nebeneffekt: Der Diskurs, welcher sich bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zentral auf die Frage der Kunst ausrichtete, wird durch ein Infrage stellen diesbezüglicher Ansätze noch weiter enggeführt und zentriert sich in der Folge nunmehr allein um die Frage, ob und wenn ja in welcher Form es möglich sein mag, Kunst von philosophischer Seite her zu definieren. Erst mit den einflussreichen Positionen George Dickies und Arthur C. Dantos findet schließlich ein Auszug aus dieser Meta-Debatte statt, der das Augenmerk auf die spezifische, historisch-bedingte Verfasstheit von Kunst im Sinn einer ,artworldʻ bzw. als institutionalisiertem System lenkt. Diese quasi-soziologische Wende der Ästhetik vermag unterschiedliche Aspekte der vorausgegangenen Diskussion in sich aufzunehmen und zu synthetisieren. Die Verengung der Ästhetik auf den Gedanken einer Philosophie der Kunst wird hingegen nicht überwunden. Im Gegenteil: ,aestheticsʻ und ,philosophy of artʻ sind in dieser Phase der angloamerikanischen Ästhetik zu nahezu synonymen Begrifflichkeiten geworden.5 Environmental Aesthetics Dies also, in aller Kürze, ist der spezifische disziplinäre Hintergrund, vor dem sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene, zum Bereich der traditionellen Ästhetik alternative Ansätze und Bewegungen herauszubilden beginnen, die nicht auf dem Paradigma der Ästhetik als einer Philosophie der Kunst aufbauen. Am frühzeitigsten, nämlich bereits seit den 1960er Jahren, entwickeln die Environmental Aesthetics eine eigenständige Kontur. Als möglicher Grund hierfür mag der Umstand gesehen werden, dass die Environmental Aesthetics, im Gegensatz etwa zu den Feminist Aesthetics oder Comparative Aesthetics, an die zwar über weite Strecken vernachlässigte, dabei bis in die Wurzeln der abendländischen Philosophie zurückreichende Tradition der philosophischen Naturreflexion anschließen konnten.6 Vor allem aber spielt die Auseinandersetzung mit Natur eine wichtige Rolle in der Kon-

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matismus (Dewey, Einflüsse auch auf Shusterman, Goodman, Carval u.a.) und Phänomenologie (Merleau-Ponty, Heidegger, Dufrenne); sowie marxistische Ansätze (Sanchez, Vazques, Bujarin, Kosik, Della Volpe, Gramsci, Lunacharsky, Eagleton u.a.); postmoderne bzw. poststrukturalistische und dekonstruktivistische Positionen (etwa Derrida, Culler); postanalytische Ansätze (die institutionalistischen bzw. artworld-bezogenen Ansätze von Dickie und Danto; der semiotisch orientierte Ansatz eines Goodman); aktuelle alternative Ansätze, die seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kritisch Position gegen einen traditionellen Ansatz in der Ästhetik beziehen: Aesthetics of Popular Culture, Comparative Aesthetics, Feminist Aesthetics, Environmental Aesthetics, Everyday Aesthetics (Beispiele, siehe oben). Auflistung im Anschluss an Katya Mandoki, Everyday Aesthetics; a.a.O., S.4f. Vgl. Allen Carlson, Environmental Aesthetics; in: Berys Gaut/Dominic McIver Lopes (Hrsg.), The Routledge Companion to Aesthetics (New York: Routledge, 2000) S.424ff. Erste Auseinandersetzungen mit Natur finden sich bereits in der Philosophie der Antike – so bei Aristoteles oder dem Stoiker Chrysippus, wenn dieser den Pfauenschwanz als Beweis dafür anführt, dass Schönheit ein Maßstab der Natur selbst sei.

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solidierungsphase der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert. Hier ist es allen voran die englische und schottische Naturreflexion, Autoren wie Shaftsbury, Francis Hutcheson, Edmund Burke und Archibald Alison, die sich außerhalb des Hauptstroms des zeit- und landestypischen Empirismus mit Fragen der Schönheit und des Sublimen in der Natur auseinandersetzten. Dabei handelt es sich in jener Zeit um keine originär philosophische Thematik. Vielmehr amalgamieren sich im englischsprachigen Raum des 18. und frühen 19. Jahrhunderts unterschiedlichste Einflussfaktoren wie das (malerische) Konzept des Pittoresken, die romantische Naturlyrik oder die einsetzende Tradition der englischen Garten- und Landschaftsgestaltung mit philosophischen Ansätzen. Diese Mischung führt letztlich zu folgendem Ergebnis: The upshot was an eighteenth-century aesthetic synthesis having disinterestedness as the central theoretical concept, landscapes as the paradigm objects of aesthetic appreciation, and formalistic, picturesque appreciation as the favoured mode for such objects.7

Wie Allen Carlson, als einflussreicher Vertreter der aktuellen Environmental Aesthetics, konstatiert, ist in der Entstehungsphase der Ästhetik eine Koppelung von philosophischer Naturbetrachtung mit dem Konzept der disinterestedness, zu Deutsch: der Interesselosigkeit 8 , sowie einer allgemeinen formalistischen Betrachtungsperspektive zu beobachten. Dies ist eine durchaus beachtenswerte Kombination, wenn man die spätere disziplinäre Entwicklung der Ästhetik im angloamerikanischen Raum bedenkt. Denn was sich hier findet, ist die Verbindung von zwei Prinzipien, wie sie auch im 20. Jahrhundert wieder eine große Rolle spielen sollten, allerdings eben gerade nicht, wie später üblich, auf Fragen der Kunst angewandt, sondern auf solche der Natur. Dieser Umstand sollte für die spätere Formierung der Environmental Aesthetics eine nicht geringe Rolle spielen. Denn wie oben erwähnt, beginnen sich diese vor dem unmittelbaren Hintergrund eines Diskurses zu formieren, in dem das Konzept der disinterestedness und die Herangehensweise des Formalismus explizit in Frage gestellt werden. Auch die ästhetiktheoretische Wiederentdeckung der Natur kann also nicht einfach nahtlos an die vorliegende Tradition der philosophischen Naturbetrachtung anknüpfen. Orientierung bietet stattdessen ein außerphilosophisches Phänomen, das als zweiter Grund, oder richtiger: als stimulierender Auslöser für die Herausbildung der aktuellen Environmental Aesthetics angesehen werden kann. Dieser besteht in dem in den 1960er Jahren aufkommenden und in den 1980er Jahren einen ersten Höhepunkt erreichenden, breiten gesellschaftlichen Interesse an 7 8

Vgl. Allen Carlson, Environmental Aesthetics; in: Berys Gaut/Dominic McIver Lopes (Hrsg.), The Routledge Companion to Aesthetics; a.a.O., S.424. Auch Kants Ästhetik zeigt sich unmittelbar beeinflusst durch den englischsprachigen Raum und dessen Auseinandersetzung mit den Fragen der Schönheit und des Sublimen – oder zu Deutsch: des Erhabenen – die Kant in seiner dritten Kritik, nicht zuletzt im Anschluss an Edmund Burkes A Philosophical Enqiery into the Origins of Our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757, ausarbeitete. Auch der Gedanke der Interesselosigkeit, wie er später mittels der kantischen Ästhetik in den angloamerikanischen Diskurs reimportiert wurde, findet sich zunächst in der englischsprachigen Philosophie, so in Shaftsburys Begriff der disinterestedness. Vgl. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (Tübingen: Mohr, 1973) S.436.

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Fragen der Natur, in dem sich romantisierende Vorstellungen (man denke an den Slogan ,Back to mother natureʻ) mit einem einsetzenden ökologischen Bewusstsein verbinden. Natur wird erstmals nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der Breite der Gesellschaft als ,Umweltʻ (ein Terminus, der nach seiner Prägung durch den Biologen und Naturforscher Jakob Johann von Uexküll 9 zu Beginn des 20. Jahrhunderts erst allmählich in die Alltagssprache diffundierte) verstanden – also als eine von unterschiedlichen Lebewesen bevölkerte Sphäre, die Tier- und Pflanzenwelt ebenso umfasst wie den Menschen. Zudem gewinnt der Gedanke der Ökologie zunehmend an Einfluss und somit die Vorstellung von Natur im Sinn eines in sich geschlossenen Systems (bzw. unterschiedlicher interagierender Mikrosysteme). In beiderlei Hinsicht, im Sinn einer ,anthropologischen Grundkonstanteʻ wie als ,natürliches Ökosystemʻ, ist Natur durch menschliche Eingriffe gefährdet und bedarf des Schutzes, so der Gedanke der einsetzenden Natur- und Umweltschutzbewegung, wie er auch auf die sich formierenden Environmental Aesthetics Einfluss nimmt.10 Auf der theoretischen Seite stellte hingegen die Veröffentlichung eines Artikels ein markantes Ereignis dar, der auch heute noch als zentraler Referenzpunkt der Environmental Aesthetics gilt, und zwar Ronald Hapburns Contemporary Aesthetics and the Neglect of Natural Beauty. Darin argumentierte Hapburn bereits 1966, dass: [...] those features that other philosophers viewed as aesthetic deficiencies in the natural world, and thus as reasons for deeming its appreciation trivial, subjective, and/or even non-aesthetic, are actually sources for a different kind of and potentially very rich aesthetic experiences. [...] since the natural world is not constrained by things such as designing intellects, art-historical traditions, and art-critical practices, it facilitates an open, engaging, and creative mode of appreciation.11

Was Hapburn in seinem Artikel vornahm, war die gezielte Verkehrung einer traditionellen Sichtweise, man kann sagen, einer Grundfeste traditioneller Ästhetik, in ihr genaues Gegenteil. Denn seit Hegels Abwertung des Naturschönen gegenüber dem Kunstschönen im frühen 19. Jahrhundert war es üblich geworden, die Natur gegenüber der Kunst als ästhetisch minderwertig zu erachten. Eben die Abwesenheit eines alles durchwirkenden hegelschen Geistes – oder, mit Hapburn nüchterner formuliert, eines „designing intellect“ – soll nun nicht länger den Grund für eine Abwertung der Natur, sondern im Gegenteil, die Voraussetzung dafür liefern, die Ästhetik der Natur positiv und gemäß ganz eigener – also gerade eben nicht den traditionell üblichen

9 Vgl. Fn. 24. 10 Schriften dieser Zeit, wie Gods own Junkyard: The Planned Deterioration of America's Landscape (von Peter Blake, 1964) oder Visual Blight in America (von Peirce Fee Lewis, David Lowenthal, Yi-Fu Tuan, 1973) geben Zeugnis von einer engen Verbindung von theoretischem Interesse und allgemeinem gesellschaftlichen Bewusstsein, respektive Engagement. Diese Verbindung setzt sich bis in die Gegenwart der Environmental Aesthetics fort. Auch hier lassen sich deutliche Tendenzen vernehmen, dem ursprünglichen gesellschaftlich-ökologischen Impetus – im Sinn eines ,preservationist argumentʻ – treu zu bleiben. 11 Allen Carlson, Environmental Aesthetics; in: Berys Gaut/Dominic McIver Lopes (Hrsg.), The Routledge Companion to Aesthetics; a.a.O., S.426.

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ästhetischen Gesichtspunkten zu behandeln.12 An die Stelle eines distanzierten Formalismus tritt bei Hapburn eine „engaging, and creative mode of appreciation“, die sich zudem nicht allein auf domestizierte, gestaltete Varianten, sondern auch und gerade auf vom Menschen unberührte Natur bzw. nicht intentional geformte oder beeinflusste Aspekte beziehen lässt.13 Das Spektrum an Einzelbeiträgen zum Bereich der Environmental Aesthetics, wie es sich im Anschluss an Hapburn im Lauf der vergangenen Jahrzehnte ausbildete, ist heute weit. Dabei wird der angloamerikanische Diskurs auch von internationalen Beiträgen gespeist, was teilweise auf die breite Rezeption der angloamerikanischen Ästhetik zurückzuführen ist, teilweise auf Parallelentwicklungen in anderen philosophischen Sprachgemeinschaften. An dieser Stelle ist nicht der richtige Ort, um weiter auf individuelle Ansätze in ihrer ganzen Diversität einzugehen.14 Zusammenfassend lässt sich aber feststellen, dass es bis dato insbesondere zwei größere Strömungen sind, die das Feld der Environmental Aesthetics prägen: eine, die einem so bezeichneten ,cognitive approachʻ folgt und eine, die in Absetzung hierzu unter dem Schlag12 In gewissem Sinn, wenn auch unter anderen Begrifflichkeiten, spielt die Frage nach einem ,designing intellectʻ seit jeher eine wichtige Rolle in der philosophischen Naturbetrachtung. So wurde vom mittelalterlichen Neuplatonismus und bis hin zu Leibniz Natur stets im Kontext einer göttlichen Schöpfungsmythik betrachtet, die als Grund für den Wert der Natur angeführt werden konnte. Mit der fortschreitenden Säkularisierung und Emanzipation der Philosophie von der Theologie verliert die Natur jedoch ihren theologisch begründeten Status. Während Hegels Ästhetik – mit ihrer Fixierung auf die Frage der teleologischen Entwicklung des Geistes in der Kunst – den eigentlichen Auslöser für eine Abkehr der philosophischen Ästhetik von der Frage der Natur liefert, ist Kants Rolle in diesem Kontext – auch und gerade im Sinn eines Bezugspunktes für aktuelle Ansätze – ambivalent zu beurteilen. Einige Bestimmungen, wie der Primat, den er der Form gegenüber den Sinnesreizen einräumt, oder die Distanziertheit der Betrachtung, stellen für die Environmental Aesthetics einen Punkt der kritischen Distanznahme dar. Andererseits tendiert Kant dazu, der Naturschönheit den Vorzug vor der Kunstschönheit einzuräumen. Begründet wird dies einerseits moralisch („Ich räume nun [...] gerne ein, daß das Interesse am Schönen der Kunst [...] gar kein Beweis einer dem Moralisch guten anhänglichen, auch nur dazu geneigten Denkungsart abgebe. Dagegen aber behaupte ich, daß ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen [...] jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei [...].“), andererseits mit einem „intellektuellen Interesse“. Und dieses richtet sich auch bei Kant keineswegs allein auf formale Aspekte der Natur, denn „nicht allein ihr Produkt der Form nach, sondern auch das Dasein derselben gefällt“. In diesem Sinn kann Kant durchaus auch als Anknüpfungspunkt für aktuelle Ansätze im Bereich der Environmental Aesthetics gesehen werden – so etwa für die von Allen Carlson vertretene Variante eines ,cognitive approachʻ in der Umweltästhetik. Zitat aus § 42 Kritik der Urteilskraft; in: Immanuel Kant, Die Kritiken; a.a.O., S.942ff. 13 Vgl. Allen Carlson, Environmental Aesthetics; in: Berys Gaut/Dominic McIver Lopes (Hrsg.), The Routledge Companion to Aesthetics; a.a.O., S.423-436. 14 Für nähere Ausführungen zu einzelnen Positionen, sowie für eine gute allgemeine Einführung in das Themengebiet, siehe: Arnold Berleant /Allen Carlson, Recent and Contemporary Research in the Aesthetics of Nature; in: dies., The Aesthetics of Natural Environments (Toronto: Boadview Press, 2004) S.15ff.

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wort eines ,non-cognitive approachʻ zusammengefasst wird (auch wenn diese Bezeichnung nur bedingt treffend ist15). Exemplarische Positionen, die mit diesen Strömungen verbunden werden können, sind diejenigen der beiden Theoretiker Allen Carlson und Arnold Berleant. Beide schließen in ihrem Arbeiten an Ronald Hapburn an. Arnold Berleant bezieht sich auf Hapburn insofern, als er dessen Gedanken einer „engaged mode of appreciation“ weiter ausarbeitet. Für Berleant ist es die Unmittelbarkeit der Erfahrung in Form eines ,engagementʻ – also einer Art ,Involviertheitʻ oder ,Verbundenheitʻ, wie man auf Deutsch sagen könnte –, die angesichts des menschlichen Umwelterlebens nicht nur als wichtig, sondern als maßgeblich erachtet werden sollte. Diese beruhe, so Berleant, im Gegensatz zum traditionellen Konzept der disinterestedness auf direkter Teilhabe (mehr hierzu später). Demgegenüber steht die Position Allen Carlsons, der seinen Ansatz ebenfalls in die Tradition Hapburns stellt, dabei aber weniger den Aspekt einer „engaged mode of appreciation“ als vielmehr jenen eines kognitiven Zugangs ins Zentrum rückt. Gemäß Carlsons cognitive approach beruht die ästhetische Wertschätzung von Natur und Umwelt maßgeblich auf der menschlichen Fähigkeit einer intellektuellen Einsichtnahme in (,natur-ʻ oder ,kulturwissenschaftlichʻ) beschreibbare Prozesse und ökologische bzw. ökologisch-kulturelle Zusammenhänge. Erst diese wissensbasierte Art der Einsichtnahme ermögliche es, so Carlson, nicht einfach nur eine ,oberflächliche Schönheitsempfindungʻ zu verspüren, sondern angesichts der Komplexität natürlicher Zusammenhänge deren „serious beauty“ zu erfahren.16 Everyday Aesthetics Eine den Environmental Aesthetics verwandte Bewegung findet sich in Gestalt der Everyday Aesthetics. Diese gingen in gewissem Sinn aus den Environmental Aesthetics hervor bzw. sind sie erst jüngst im Begriff, sich von diesen im Sinn eines eigenständigen ästhetiktheoretischen Untersuchungsfeldes zu emanzipieren. Diese Formierungsbewegung bringt auch die Bezugnahme auf entsprechende eigenständige Referenzpunkte in der Geschichte der Ästhetik mit sich. Immanuel Kant stellt einen Bezugspunkt dar. Allerdings dient er nicht, wie im Falle der Environmental Aesthet15 Allen Carlson zu alternativen Begriffen: „The contemporary positions in environmental aesthetics have developed from different points of view concerning the aesthetic appreciation of the natural environment. These are frequently divided into two camps, alternatively labeled cognitive and non-cognitive (Godlovitch 1994, Eaton 1998, Carlson and Berleant 2004), conceptual and non-conceptual (Moore 1999 2008), or narrative and ambient (Foster 1998).“ Allen Carlson, Environmental Aesthetics (2007/2010); in: Edward N. Zalta (Hrsg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy; (Online-Ressource unter: http://plato.stan ford.edu/). 16 Zur Debatte zwischen Allen Carlson und Arnold Berleant siehe unten (sowie entsprechende Artikel im British Journal of Aesthetics). Weiter Positionen, die mit einer der beiden durch Carlson und Berleant repräsentierten Strömungen verbunden werden können: Holmes Rolston und Marcia Eaton (cognitive approach); Noël Carroll, Stan Godlovitch, Cheryl Foster und Emily Brady (non-cognitive approach). Aber auch solche Positionen treten in Erscheinung, die nicht unilateral zu verorten sind, wie etwa Yuriko Saito. Vgl. Emily Brady, Aesthetics of the Natural Environment (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2003) S.86ff.

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ics, als Punkt einer ambivalenten bis sich kritisch distanzierenden Bezugnahme. Denn für die Everyday Aesthetics sind es nicht die üblicherweise thematisierten Aspekte, wie sie im Hauptstrom der Kant-Rezeption Beachtung finden, die dessen Ästhetiktheorie relevant erscheinen lassen, als vielmehr das enorme Spektrum von Themen, anhand derer Kant seine Kritik der ästhetischen Urteilskraft entfaltet. (Beispiele sind die tendenzielle Gleichbehandlung von Kunst und Kunsthandwerk, die bei Kant zu einer Einbeziehung alltäglicher Gegenstände führt, ebenso wie die thematische Einbeziehung nicht-künstlerischer Bereiche wie der Natur oder der Mathematik.17) Unmittelbare Einflüsse sind hingegen in der jüngeren Philosophiegeschichte zu suchen. Eine zentrale Rolle nimmt hierbei John Dewey ein. Entgegen den Konventionen seiner Zeit entwickelte Dewey bereits in den 1930er Jahren einen ästhetiktheoretischen Ansatz, der den zentralen Fokus auf den Begriff der ästhetischen Erfahrung legt.18 Dabei nimmt er keine prinzipielle Unterscheidung vor zwischen dem Bereich der Künste, im Sinn einer Hochkultur, und jenem des Alltags. Vielmehr gründen für Dewey, wie der folgenden Passage anschaulich zu entnehmen ist, auch Erfahrungen im Feld der Künste in der wesentlich breiteren Basis einer ästhetischen Alltagssensitivität: In order to understand the aesthetic in its ultimate and approved forms, one must begin with it in the raw; in the events and scenes that hold the attentive eye and ear of man, arousing his interest and affording him enjoyment as he looks and listens: the sights that hold the crowd – the fire engine rushing by; the machines excavating enormous holes in the earth; the human-fly climbing the steeple-side; the men perched high in the air on girders, throwing and catching red-hot bolts. The sources of art in human experience will be learned by him who sees how the tense grace of the ball-player infects the onlooking crowd; who notes the delight of the house17 Eine erhellende Auseinandersetzung mit der Einbettung des kantischen Kunstverständnis in den Kontext seiner Epoche (und somit in die kunst- und kulturgeschichtliche Phase des ausgehenden Rokokos) findet sich in: Gernot Böhme, Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999). 18 Nicht nur im englischsprachigen Raum findet sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung. Auch im deutschsprachigen Kontext wurde dieser immer wieder diskutiert; siehe etwa: Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989); Christel Fricke, Zeichenprozess und ästhetische Erfahrung (München: Fink, 2001); Josef Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil – Eine Rehabilitierung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996); Andrea Kern, Schöne Lust – Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000); Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst – Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988); Konrad Paul Liessmann, Ästhetische Empfindung (Wien: Facultas/UTB, 2009); Willi Oelmüller (Hrsg.), Ästhetische Erfahrung (Paderborn: Schöningh, 1981); Martin Seel, Die Kunst der Entzweiung – Zum Begriff der ästhetischen Rationalität (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985); Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels – Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Künste (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000); Albrecht Wellmer, Wahrheit, Schein, Versöhnung – Adornos ästhetische Rettung der Modernität; in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne – Vernunftkritik nach Adorno (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985); zitiert nach: Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003) S.9.

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wife in tending her plants, and the intent interest of her goodman in tending the patch of green in front of the house; the zest of the spectator in poking the wood burning on the hearth and in watching the darting flames and crumbling coals. These people, if questioned as to the reason for their actions, would doubtless return reasonable answers. The man who poked the sticks of burning wood would say he did it to make the fire burn better; but he is none the less fascinated by the colorful drama of change enacted before his eyes and imaginatively partakes in it. He does not remain a cold spectator.19

Bereits für Dewey ist Ästhetik also keine elitäre Angelegenheit mehr, sondern sie betrifft den ganz gewöhnlichen Menschen von der Straße. (Man denke dagegen an Kants Diktum, wonach Geschmack erst ab dem Punkt eine Rolle spiele, ab dem der Magen gefüllt sei.) Zu einer Herausbildung der Everyday Aesthetics im Sinn eines eigenen, als solchem identifizierten und explizit proklamierten Gegenstandsgebiets der philosophischen Ästhetik sollte es jedoch erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach John Deweys wegweisender Veröffentlichung kommen. Zwei Arbeiten, die in dieser Hinsicht ähnlich impulsgebend und diskursanregend wirkten, wie Ronald Hapburns Artikel im Bereich der Environmental Aesthetics, finden sich in Ben-Ami Scharfensteins Of Birds, Beasts, and Other Artists von 1988 sowie in Arnold Berleants 1991 veröffentlichtem Art as Engagement. Wie bereits der Titel andeutet, macht Scharfenstein in seiner Veröffentlichung die Ästhetik von nicht-menschlichen Artefakten zum Gegenstand der Erörterung. Dabei handelt es sich um ein nur vermeintlich harmloses Thema, stellt es doch den Begriff des Artefakts, im Sinn eines exklusiv durch den Menschen hergestellten Gegenstandes, und somit den Gedanken, der Menschen sei ein Kulturwesen, das sich nicht zuletzt auf Grund der Fähigkeit, Artefakte herzustellen, fundamental von anderen Lebewesen unterscheidet, grundlegend in Frage. Ähnlich grenzaufweichend geht Arnold Berleant in seiner Veröffentlichung vor. Allerdings nähert sich Berleant der Frage der Alltagsästhetik von einer anderen Seite her. Nicht die Frage der Autorenschaft von Gegenständen, die unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet werden können, ist es, die ihn interessiert, als vielmehr die Frage der ästhetischen Erfahrung. Im gedanklichen Anschluss an Deweys Art as Experience arbeitet Berleants Art as Engagement den Gedanken einer engaged aesthetics, also einer unmittelbaren Involviertheit als Grundmerkmal ästhetischer Vollzüge aus. Diese Sichtweise sollte – wie im Weiteren noch ausführlicher zu sehen sein wird – nicht nur die verbindende Basis für eine prinzipielle thematische Öffnung gegenüber einer Ästhetik des Alltags legen, sondern auch für eine Ästhetik der Umwelt.20

19 John Dewey, Art as Experience (New York: The Berkeley Publishing Group, 1934) S.3. 20 Den aktuellen Diskurs im Bereich der angloamerikanischen Everyday Aesthetics prägen AutorInnen wie Arnold Berleant, Katya Mandoki, Yuriko Saito, Arto Haapala, Pauline von Bonsdorff u.a. Wie die Namen verraten, wird dieser auch von internationalen Beiträgen gespeist. Neben dem angloamerikanischen und dem deutschsprachigen Raum mit seinen im Weiteren behandelten Beiträgen bildet Finnland (mit seinem in Helsinki ansässigen International Institute of Applied Aesthetics) ein weiteres Zentrum des Diskurses. Siehe hierzu auch: Crispin Sartwell, Aesthetics of the Everyday; in: Jerrold Levinson (Hrsg.), The Oxford Handbook of Aesthetics (Oxford: Oxford University Press, 2003).

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Wechselseitige Anschlüsse und terminologische Abgrenzung Wie die Position Arnold Berleants deutlich macht, der für beide Bereiche, jenen der Everyday Aesthetics und jenen der Environmental Aesthetics, eine wichtige Rolle spielt, ist es nicht immer leicht möglich, zwischen beiden Bereichen klare Grenzen zu ziehen. Eine gewisse Orientierung kann jedoch mittels der namensgebenden Begriffe gewonnen werden. Unter ,everydayʻ, oder zu Deutsch ,Alltagʻ, wird im Bereich der Everyday Aesthetics ,das Alltäglicheʻ verstanden. Also recht wörtlich all das, was Menschen üblicherweise und gerade nicht in Ausnahmefällen widerfährt. Hierzu können Objekte und Umgebungen zählen, die Menschen in der Wohn- und Arbeitswelt, beim täglichen Pendelverkehr zwischen Heim und Arbeitsplatz, beim Einkaufen oder in der Freizeit begegnen; ebenso alltägliche Handlungen wie bspw. das Zubereiten von Tee21, oder das Aufräumen der Wohnung.22 Freilich hat der Begriff des ,Alltagsʻ über ein konventionelles Verständnis hinaus in unterschiedlichen theoretischen Kontexten – in Philosophie, Soziologie oder Psychologie – Aufmerksamkeit erfahren. Ludwig Wittgenstein wendet sich diesem in Form der Alltagssprache zu. Pierre Bourdieu oder Roland Barthes untersuchen den Alltag unter soziologischen bzw. semiotischen Gesichtspunkten. Henri Lefebvre arbeitet in seiner dreibändigen Kritik des Alltagslebens den Begriff des Alltags sogar dezidiert im Sinn eines kritischen Instrumentes aus. Allerdings haben derlei theoretische Bearbeitungen nur wenig mit den hier vorgestellten Everyday Aesthetics gemein, deren namensgebendes Selbstverständnis nicht einem spezifischen diskursiven Kontext entstammt, sondern sich an einem konventionellen Verständnis von ,Alltagʻ orientiert. Eine Übersetzung des Ausdrucks ,Everyday Aestheticsʻ mit dem deutschen Begriff ,Alltagsästhetikʻ ist also durchaus möglich und nur adäquat.23 Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen ,environmentʻ und ,Environmental Aestheticsʻ. Auch diese können im Deutschen mit ,Umweltʻ bzw. ,Umweltästhetikʻ übersetzt werden, was mögliche Verwendungsweisen und Bedeutungsaspekte wie: ,Umraumʻ, ,Umgebungʻ, ,Lebensbedingungenʻ, bis hin zu ,Milieuʻ oder ,Lebensweltʻ einschließt. Etymologisch geht der Ausdruck ,environmentʻ auf das Mittelenglische ,en-vironʻ zurück, das so viel bedeutet wie ,einen Kreis ziehen umʻ oder ,mit einem Ring umgebenʻ. Nicht nur in seinem Bedeutungsspektrum, sondern auch von seiner semantischen Herkunft her, kommt der Ausdruck dem deutschen Begriff der ,Umweltʻ also nah, der seinerseits auf das dänische ,om-verdenʻ zurückgeht, das so viel besagt wie ,umgebendes Land, umgebende Weltʻ. Zwar mag ,Umweltʻ, etwa auf Grund seiner initialen Prägung durch J.J. Uexküll24, oder durch seine spätere Ver21 Yuriko Saito, Everyday Aesthetics (Oxford: Oxford University Press, 2007). 22 Tom Leddy, Everyday Surface Aesthetic Qualities: ,Neatʻ, ,Messyʻ, ,Cleanʻ, ,Dirtyʻ, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 53 (3), 1995, S.259-268. 23 Zum Begriff ,Everydayʻ im Kontext der Everyday Aesthetics, siehe auch: Jonathan M. Smith, Introduction - The Aesthetics of Everyday Life; sowie: Arto Haapala, On the Aesthetics of the Everyday – Familiarity, Strangeness, and the Meaning of Place; in: Andrew Light/Jonathan M. Smith (Hrsg.), The Aesthetics of Everyday Life (New York: Columbia University Press, 2005). 24 Jakob Johann von Uexküll (1864-1944) gilt allgemein als Begründer eines wissenschaftlichen Umweltbegriffs, wie er vom Bereich der Biologie ausgehend später auch in der All-

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wendung im Kontext der deutschen Friedens- und Umweltbewegung, zusätzlich mit spezifischen Konnotationen behaftet sein. Allerdings finden sich ähnliche Einflüsse auch im angloamerikanischen Raum, so dass der Ausdruck ,environmentʻ für englische MuttersprachlerInnen ähnliche Assoziationen wecken dürfte, wie der Ausdruck ,Umweltʻ für deutschsprachige.25 Beide Begriffe, jener der ,Umweltʻ und jener des ,Alltagsʻ, bieten ein nicht eben geringes Interpretationsspektrum. Und so variiert auch ein jeweiliges Gegenstandsgebiet mit der Frage, welche begriffliche Interpretation man jeweils zu Grunde legen möchte:26 In diesem Sinn können die Everyday Aesthetics basal als Bereich verstanden werden, der sich mit allen Belangen des Ästhetischen befasst, die außerhalb einer vermeintlichen Hochkultur liegen. Andererseits ist es eben die Möglichkeit einer rigiden Grenzziehung, die nicht zuletzt durch die Everyday Aesthetics selbst in Frage gestellt wird. Definitionsversuche lesen sich daher oft recht bemüht und wie folgt: Everyday aesthetics refers to the possibility of aesthetic experience of non-art objects and events, as well as to a current movement within the field of philosophy of art which rejects or puts in question distinctions such as those between fine and popular art, art and crafts, and aesthetic and non-aesthetic experiences.27

Was eine klare Definition und eindeutige Unterscheidung zudem erschwert, ist ein Umstand, auf den Tom Leddy hinweist, wenn er feststellt:

tagssprache Einzug hielt. Uexkülls ebenso einflussreiche, wie aus heutiger Sicht, was Uexkülls eigene sozio-politische Interpretationen betrifft, höchst kritisch zu beurteilende Umweltkonzeption, wirkte auf unterschiedliche Denker, von Ernst Cassirer über Martin Heidegger und Helmut Plessner bis hin zu Giorgio Agamben. 25 Ihrem Impetus gemäß, der der Ökologiebewegung entstammt, stellen Environmental Aesthetics und Everyday Aesthetics auch heute noch die normative Frage danach, inwiefern Umwelten oder spezifische Aspekte unseres Alltagslebens unter ästhetischen Gesichtspunkten geschätzt werden sollten. Ein typisches Beispiel bildet J. Callicotts Artikel The Land Aesthetics, in dem der Autor die Frage danach stellt ob ein „Godforsaken mosquito swamp“ auf Grund unserer Einsicht in ökologische Zusammenhänge als ein „thing of precious beauty“ erachtet werden könne. Es geht also nach wie vor um eine Aufwertung des üblicherweise unter ästhetischen Gesichtspunkten Vernachlässigten. Im Unterschied hierzu ist es einer Aisthetik, auch im Sinn Böhmes, um die zunächst einmal wertneutrale Frage nach dem Charakter von Wahrnehmungserfahrungen bestellt, d.h.: Wie nehmen wir unsere Umwelt wahr und was nehmen wir wahr? Zitate: J. Baird Callicott, The Land Aesthetics; in: ders. (Hrsg.), Companion to a Sand Country (Madison: University of Wisconsin Press, 1987) S.157-171. 26 Yuriko Saito etwa sieht den Begriff der ,Everyday Aestheticsʻ als den umfassenderen an, da dieser es vermöge, den Gegenstandsbereich der Environmental Aesthetics in sich aufzunehmen. Arnold Berleant tritt hingegen genau umgekehrt dafür ein, die Everyday Aesthetics als Teilgebiet der Environmental Aesthetics zu konzipieren. Siehe Yuriko Saito, Einleitung zu Everyday Aesthetics, a.a.O. 27 Crispin Sartwell, Aesthetics of the Everyday; in: Jerrold Levinson (Hrsg.), Oxford Handbook of Aesthetics (Oxford: Oxford University Press, 2005) S.761.

110 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT What is Everyday Aesthetics? It would be a mistake to take the term everyday too literally. A musician who practices and plays everyday can justly say that her everyday aesthetics experience is mainly connected with music. A naturalist could similarly say that his everyday aesthetics experience is of nature.28

Die hier offenbar werdende Schwierigkeit, das Gegenstandsgebiet der Everyday Aesthetics klar zu begrenzen, hat zur Folge, dass diese sich ästhetischen Fragestellungen potentiell in einer enormen Breite widmen können. Dies betrifft so unterschiedliche Bereiche wie Freizeitkultur, Körperästhetik, Populärkultur, Ökonomie, Politik, Religion. Bezieht man, mit Leddy, selbst noch den Alltag jener Menschen ein, die im Bereich der ,Hochkulturʻ oder als Naturforscher tätig sind, so scheint das thematische Spektrum der Everyday Aesthetics kaum zu übertreffen und offenkundig weiter, als jedes der Environmental Aesthetics mit ihrer Fokussierung auf Fragen der Umwelt. Dem scheint so. Denn auch eine umgekehrte Sichtweise ist möglich: Auch der Begriff der Umwelt besitzt bei genauerer Betrachtung nämlich nicht geringe interpretative Spielräume. Versteht man diesen nicht allein im Sinn von ,Naturʻ, sondern bezieht im weiteren Sinn eines Umweltgedankens neben den Lebensräumen von Tieren und Pflanzen auch die menschliche Umwelt im Sinn einer Lebenswelt29 mit ein, so wird auch das Spektrum der Environmental Aesthetics kaum mehr limitierbar. Ein echtes, einschneidendes Unterscheidungskriterium kann von Begriffsseite her nur schwerlich gegeben werden. Allenfalls bietet sich eine Unterscheidung der Qualität sowie der Intention nach an. Dieser gemäß beziehen sich die Everyday Aesthetics auf Durchschnittserfahrungen, d.h. Erfahrungen, wie sie viele Menschen regelmäßig machen und wie sie von vielen Menschen als alltäglich erachtet und geteilt werden (in dieser Hinsicht stellen die von Leddy angeführten Beispiele der Pianistin oder des Naturliebhabers alltägliche Erfahrungen dar, jedoch alltägliche Erfahrungen einer recht spezifischen Personengruppe). Die Environmental Aesthetics können ihrerseits weniger durch eine temporale, wie bei den Everyday Aesthetics der Fall, als durch eine räumlich-dimensionale Komponente bestimmt verstanden werden. Ausschlaggebend ist hierbei nicht die Frequenz (das Routinehafte, Regelmäßige, Sich-Wiederholende), sondern die Präsenz eines umgebenden Kontextes.

28 Tom Leddy, The Nature of Everyday Aesthetics, in: Andrew Light/Jonathan M. Smith (Hrsg.), The Aesthetics of Everyday Life; a.a.O., S.3. 29 Der Begriff ,Lebensweltʻ bildete sich zunächst in der Biologie, der Botanik und der Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts heraus. Maßgeblich geprägt wurde er durch den Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl: „In Husserls Spätphilosophie ist damit der Horizont selbstverständlich gegebener Lebensbezüge gemeint, der die wesentliche Voraussetzung der Objektivierungen bildet, wie sie von den Wissenschaften vollzogen werden. Die Lebenswelt ist ihrerseits durch die transzendentale Subjektivität konstituiert, was die phänomenologische Betrachtung aufzudecken hat.“ Der Begriff hat sich heute jedoch aus diesem engeren Kontext gelöst und wird allgemein zur Bezeichnung einer verbindenden Basis in Gestalt einer als selbstverständlich aufgefassten und geteilten Alltagswelt von Menschen verstanden. Zitat: Martin Gessmann (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch (Stuttgart: Alfred Körner Verlag, 2009) S.426.

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Inwiefern eine Unterscheidung zwischen beiden Bereichen überhaupt sinnvoll ist, sei angesichts des progressiven, grenzaufweichenden Charakters besagter Bewegungen jedoch dahingestellt. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung wird von ,Alltags- und Umweltästhetikʻ daher stets im Verbund gesprochen werden. Die an dieser Stelle vorgenommene operative Bestimmung der Einzelbegriffe wird im Zuge der weiteren Untersuchung angesichts konkreter Kontexte eine fallbezogene Präzisierung erfahren.30

2.2 ALLTAGS - UND U MWELTÄSTHETIK IM K ONTEXT DER DEUTSCHSPRACHIGEN ÄSTHETIK Ähnliche Entwicklungen wie im angloamerikanischen Diskursraum lassen sich auch im deutschsprachigen Raum ausmachen. Allerdings gilt es diesbezüglich zu differenzieren. So besitzt die analytische Philosophie, wie sie im englischsprachigen Raum seit den 1950er Jahren zur dominierenden philosophischen Strömung wird, im deutschsprachigen Kontext zunächst nur bedingt und auch später nur unter anderem Einfluss. Mit Phänomenologie, Existenzphilosophie, Hermeneutik, kritischer Theorie liegen hier eigene philosophische Traditionslinien vor, deren große Namen – Autoren wie Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Hans-Georg Gadamer – ihren spezifischen Einfluss auch auf den Bereich der Ästhetik aus-üben. Als besonders wirkmächtig erweist sich in dieser Hinsicht, neben einzelnen Vorträgen und Aufsätzen Heideggers31, Adornos 1970 postum veröffentlichte Ästhetische Theorie. Diese setzt sich explizit kritisch mit traditionellen Ansätzen in der philosophischen Ästhetik auseinander, bleibt diesem Umstand zum Trotz aber selbst dem vom deutschen Idealismus geprägten Verständnis der Ästhetik im Sinn einer Philosophie der Kunst verhaftet. Wobei der Gedanke der Kunst als Hochkultur bei Adorno sogar eine besonders ausgeprägte Rolle spielt. Ähnlich verhält es sich mit Heideggers philosophischem Arbeiten, das prinzipiell unterschiedlichste Anschlussmöglichkeiten zuließe, bezüglich der Ästhetik aber vorwiegend hinsichtlich expliziter Äußerungen zu Architektur, Skulptur, Malerei rezipiert wird.

30 Wie im Vorwort angedeutet und in Kapitel 1 explizit gemacht folgt diese Untersuchung keiner Ontologie aristotelischer Prägung. Es werden keine Definitionen nach Genus proximum/ differentia specifica gegeben. Stattdessen orientiert sich die Arbeit am Leitgedanken eines Anti-Essentialismus wittgensteinscher Prägung (siehe auch Kap. 6 und 11). Diese Orientierung hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie zentrale Begriffe bestimmt werden. Ausdrücke wie ,Alltagʻ und ,Umweltʻ werden nicht ,definiertʻ und strikt terminologisch gegenüber anderen Begriffen abgegrenzt. Stattdessen wird, mit Wittgenstein, davon ausgegangen, dass ein Begriff seine Bedeutung erst aus einem Kontext erhält. Was den Umwelt-Begriff anbelangt, so wird dieser in Kapitel 5 im Sinn eines relationalen Begriffspaars, dem des ,Mensch-Umwelt-Verhältnissesʻ, in den folgenden vier Kontexten thematisiert und hierdurch näher spezifiziert: einem erkenntnistheoretischen, einem wahrnehmungstheoretischen, einem konkret-alltagsweltlichen, einem gesellschaftsbezogenen. 31 Zu denken ist an Der Ursprung des Kunstwerkes (1949) oder Bauen, Wohnen, Denken (1951).

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Alltag und Umwelt als Themen der deutschsprachigen Ästhetik In beiden Diskursräumen ist es nicht der Bereich der Ästhetiktheorie oder der kunstbezogenen Philosophie im engeren Sinn, der eine thematische Öffnung der disziplinären Ästhetik motiviert. Faktoren, die eine derartige Öffnung perpetuieren, finden sich hingegen verstärkt in allgemeinen Zeittendenzen: So zum einen in der bereits erwähnten Friedens- und Umweltbewegung, wie sie nicht nur in den USA und Großbritannien, sondern ebenso in Deutschland zu einem einflussreichen gesellschaftlichen Faktor wurde. Zum anderen stimulierte die Postmoderne, als in den Künsten und den ,Geisteswissenschaftenʻ einflussreiche Strömung, eine zunehmende Weitung und Öffnung des Ästhetikbegriffs (vgl. Kapitel 1). Beide übergreifenden Zeittendenzen wirken sich nun im Bereich der philosophischen Ästhetik dies- und jenseits des Atlantiks (respektive des Ärmelkanals) aus, wobei der Tendenz nach die Postmoderne-Debatte eher Ansätze stimuliert, die sich der medialen Ästhetisierung und der Ästhetisierung des Alltags zuwenden, während die Ökologie- und Umweltbewegung zu einer Wiederentdeckung der Tradition der philosophischen Naturreflexion, wenn auch unter gewandelten, da ökologischen Vorzeichen beiträgt. Anders als angesichts der Everyday Aes-thetics und Environmental Aesthetics des angloamerikanischen Raumes kann für den deutschsprachigen Raum jedoch von keiner breiten disziplinären Bewegung gesprochen werden.32 32 An den Fragen der Umwelt und des Alltags orientierte Ansätze machen sich im deutschsprachigen Raum eher vereinzelt bemerkbar. Zu denken ist für das Themenfeld Natur/Umwelt insbesondere an Gernot Böhmes ökologische Naturästhetik und Martin Seels Ästhetik der Natur. Dem Thema Ästhetik des Alltags widmen sich seit Mitte der 1970er Jahre Wolfgang Haug, Hans-Georg Pott, Wolfgang Längsfeld, seit den 1990er Jahren Wolfgang Welsch oder aktuell etwa Konrad Paul Liessmann. Von einem übergreifenden Interesse an beiden Themengebieten zeugen zwei Kongresse, die die Deutsche Gesellschaft für Ästhetik in den Jahren 1994 und 2008 unter den Titeln Ästhetik und Naturerfahrung und Ästhetik und Alltagserfahrung veranstaltete. Bezeichnenderweise wird in der Eröffnungsrede zum Kongress Ästhetik und Alltagserfahrung jedoch mit keinem Wort Bezug genommen auf die Entwicklungen im angloamerikanischen Raum. Dieser Umstand muss wohl als Indiz für die limitierte wechselseitige Offenheit der ästhetiktheoretischen (Sprach)Communities gesehen werden. Ausnahmen bilden oben genannte AutorInnen wie bspw. Katya Mandoki, Arnold Berleant, Wolfgang Welsch, die über derart ,unsichtbare Grenzen hinwegʻ voneinander Notiz nehmen. Deutschsprachige Literatur zum Thema Alltags- und Umweltästhetik findet sich bei Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989); Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991); Wolfgang F. Haug, Kritik der Warenästhetik (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1971); Hans-Georg Pott, Alltäglichkeit als Kategorie der Ästhetik – Studie zur philosophischen Ästhetik im 20. Jahrhundert (Frankfurt a.M.: Akademische Verlagsgesellschaft, 1974), Wolfgang Längsfeld, Ästhetik im Alltag – Über die sinnliche Qualität der Dinge (Zürich: Interfrom, 1974); Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 1996); Konrad Paul Liessmann, Das Universum der Dinge – Zur Ästhetik des Alltäglichen (Wien: Paul Zsolnay, 2010). Zu den spezifischen Hintergründen des Themenfeldes ,Ästhetik des Alltagsʻ im deutschsprachigen Raum siehe auch Lambert Wiesing, Eröffnungsrede zum 7. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Jena, 29.9.– 2.10.2008; Online-Ressource: www.dgae.de.

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Ein genuiner Beitrag, den die deutschsprachige Ästhetiktheorie zur Frage eines erweiterten Ästhetikverständnisses liefert – und der sich in dieser spezifischen Form im angloamerikanischen Raum nicht antreffen lässt – findet sich in Gestalt der sogenannten ,aisthesis-Debatteʻ. Mittels der Hinwendung zu Fragen der Alltags- oder Umweltästhetik wird, wie eine Begriffsreflexion zeigte, die Disziplin der Ästhetik in ihrem thematischen Spektrum enorm geweitet. Umso dringlicher stellt sich also die Frage nach einem verbindenden Element auf konzeptioneller Ebene. Oder anders ausgedrückt: Wenn bestehende Grenzen überschritten werden und Ästhetik nicht länger allein mittels der traditionellen Trias Philosophie der Kunst, der Schönheit, des Geschmacks bestimmt werden kann, so taucht die Frage auf, worin dann verbindende Elemente bestehen mögen, die thematische Felder wie die Kunst, die Natur, den Alltag zusammenbinden. Ebendiese Frage (vgl. Kapitel 1) bildete auch eine zentrale Motivation der aisthesis-Debatte, die, der Name verrät es, diesbezüglich einen eigenständigen Vorschlag unterbreitete. Historische Anknüpfungspunkte Um Fragen, wie sie im Zuge der aisthesis-Debatte aufgeworfen und diskutiert wurden, besser nachvollziehen zu können, muss zunächst ein Blick in die weiter zurückliegende Geschichte der Ästhetik geworfen werden – und zwar zu Alexander Gottlieb Baumgarten. Dieser wird heute allgemein als Begründer der Ästhetik im Sinn einer eigenständigen philosophischen Disziplin erachtet. Zwar finden sich philosophische Auseinandersetzungen mit Fragen der Kunst, des ästhetischen Naturerlebens oder des bon sens, des guten Geschmacks, auch in der englischen und französischen Ästhetik avant la lettre. Baumgarten war jedoch der erste, der die Ästhetik als Ästhetik, also als einen Bereich der Philosophie identifizierte und benannte, den es ebenso wie die Ethik, die Logik oder die Metaphysik im Rahmen einer eigenständigen Disziplin zu behandeln gilt. Bereits in seiner 1735 veröffentlichten Magisterarbeit Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus forderte Baumgarten eine solche Disziplin explizit ein. In seinen Vorlesungen von 1742 und der unvollendet gebliebenen mehrbändigen Aesthetica (1750/58) setzte er sich dann selbst intensiv mit ihrer philosophischen Begründung und ihren Möglichkeiten auseinander. Eine grundlegende Bestimmung der Ästhetik gibt Baumgarten mit seiner bekanntesten Definition: Aesthetica [...] est scientia cognitionis sensitivae.33 33 Die Ästhetiktheoretikerin und Baumgarten-Expertin Constanze Peres führt hierzu aus: „Alexander Gottlieb Baumgarten kommt das Verdienst zu, die erste philosophische Ästhetik der Philosophiegeschichte geschrieben, sie im herrschenden rationalistischen System der Philosophie etabliert und begründet und ihr den Namen ,Ästhetikʻ gegeben zu haben. Im § 1 seiner 1750 erschienen Aesthetica [...] formuliert er nach einer Reihe von Definitionen seit 1735 die in der Folge meistzitierte Definition der neuen philosophischen Disziplin: [...] Ästhetik … ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis [...] Aesthetica … est scientia cognitionis sensitivae […]. Hinter dem zu definierenden Begriff ,Ästhetikʻ als dem Hauptdefiniendum führt Baumgarten in Klammern vier weitere Definienda an, die einerseits den in dieser Verwendung noch unbekannten Terminus durch damals geläufigere Begriffe erläutern, andererseits das Spektrum der neuen Wissenschaft aufspannen. Danach ist die Ästhetik (1.) eine ,Theorie der freien und schönen Künste / theoria liberalium

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Zu Deutsch: Ästhetik ist die Wissenschaft vom sinnlichen Verstehen, der sinnlichen Erkenntnis. Diese Definition ist gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zunächst einmal, da mittels des Begriffs, den Baumgarten zur Benennung der von ihm begründeten Disziplin wählt, jenem der ,aisthesisʻ, ein disziplinäres Paradigma geliefert wird, das sich von den späteren Fundamentalbestimmungen der Ästhetik im Sinn einer Philosophie der Kunst, der Schönheit oder des Geschmacks grundlegend unterscheidet. Zwar wendet sich auch Baumgarten diesen Themenfeldern zu – so entwickelt er seine Reflexionen maßgeblich anhand der Poesie und bestimmt die Ästhetik u.a. parallel als „ars pulchrae cogitandi“, also als ,Kunst des schönen Denkensʻ. Eigentliches Ziel des in der rationalistischen Tradition von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff arbeitenden Denkers ist es aber, einen bis dahin diskreditierten Bereich, nämlich die Sphäre der Sinne und des sinnlichen Wahrnehmens (altgriechisch: ,aisthesisʻ) in den damals vorherrschenden, rationalistisch-verengten Vernunftbegriff zu integrieren. In diesem Sinn stellt die von Baumgarten konzipierte Ästhetik zweierlei zugleich dar: Zum einen soll sie eine eigenständige Disziplin verkörpern, die einen originären Gegenstandsbereich besitzt; zum anderen ist sie, im Sinn einer gnoseologia inferior – also einer Lehre des ,unteren Erkenntnisvermögensʻ – Teilbereich der Erkenntnistheorie. Dabei handelt es sich um eine für die damalige Zeit im Wortsinn ,revolutionäreʻ – also das Bestehende von Grund auf umwälzende34 – Doppelbestimmung, die auf Grund ihres erklärten Anspruchs und der darin enthaltenen Implikationen in der Folge alles andere als unangefochten bleiben sollte. Gleich in seiner ersten Kritik, der Kritik der reinen Vernunft von 1787, erhebt Immanuel Kant entschieden Einspruch. Er hält die Hoffnung des im Allgemeinen „vortrefflichen Analysten Baumgarten”, die kritische Beurteilung ästhetischer Belange „unter Vernunftprinzipien” zu bringen, für verfehlt.35 Allerdings beruht dieses Urteil, wie man sich verdeutlichen muss, weniger auf etwaigen Inkonsistenzen in Baumgartens philosophischer Argumentation, als vielmehr auf der jeweils zu Grunde gelegten Interpretation des Vernunftbegriffs selbst. Und eben dieser ist es ja, welcher durch Baumgartens Ästhetik eine Neubestimmung erfahren soll, indem sie ihn um artiumʻ, (2.) eine ,Erkenntnislehre und Logik der unteren oder sinnlichen Erkenntniskräfte / gnoseologia inferiorʻ, (3.) eine ,Lehre und Kunst des schönen oder ästhetischen Denkens / ars pulcre cogitandiʻ, (4.) eine ,Lehre und Kunst des vernunftanalogen Denkens / ars analogi rationisʻ. Für alle vier Alternativbezeichnungen und thematischen Gewichtungen gilt, dass sie als ,Wissenschaftʻ der sinnlichen Erkenntnis definiert sind. Auch ,arsʻ kann demnach nicht im heutigen Sinne von ,Kunstʻ verstanden werden, sondern in der alten Bedeutung einer ,Lehreʻ oder ,angewandten Theorieʻ, die, wenn jemand ihr Wissen beherrscht, auch die Fertigkeit und ,Kunstʻ, sie anzuwenden, impliziert.“ Constanze Peres, Sinnliche Erkenntnis – Experiment – Induktion; Artikel auf der Basis eines Vortrags, gehalten beim VIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, Oktober 2011; Onlineveröffentlichung unter www.dgae.de. Siehe auch: Kap. 8, Fn. 63 und 74. 34 Wolfgang Welsch wählt in diesem Kontext eine noch drastischere Formulierung, wenn er von einem „Sprengsatz“ spricht, den Baumgarten „mit seiner Idee ästhetischer Erkenntnis [...] in die Philosophie eingeführt“ habe. Vgl. Wolfgang Welsch, Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996) S.490. 35 Kant, Kritik der reinen Vernunft; in: Die Kritiken; a.a.O.

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eine komplementäre Komponente, die eines ,unteren Erkenntnisvermögenʻ, ergänzt.36 Die Frage, ob dem Bereich der Ästhetik und somit, im Verständnis Baumgartens, der sinnlichen Wahrnehmung als einer „cognitionis sensitivae“ erkenntnistheoretischer Rang zuzusprechen sei oder nicht, ist also letztlich nicht allein ein Streit um Begrifflichkeiten, sondern eine Frage von höchster Brisanz, die bis heute signifikante Wirkungen zeitigt. Hans Adler führt hierzu in seinem Artikel Aesthetics and Aisthetics: The Iiota Question aus:37 This is not just a minor battle over words in which Kant would be only one among many others who only disliked the term and the project 'aesthetics'; this is a battle over philosophical paradigms, in short: it is politics of science. Although Kant saw himself obligated to publish a critique of taste in 1790, he did not develop a philosophical aesthetics, but the ground-laying critique of (aesthetic) judgement. Kant's polemic against Baumgarten's aesthetics, however, had one long-lasting effect: Kant denied sensate cognition any philosophical dignity whatsoever (as did, by the way, several years later, Hegel). This position remained, with very few exceptions, the philosophically dominating opinion until the second half of the twentieth century.38

Spezifischer Beitrag der deutschsprachigen Alltagsund Umweltästhetik Seit den 1990er Jahren fand im Zuge der aisthesis-Debatte eine Rückbesinnung auf die ebenso potentiell wegweisende, wie vielschichtige und unterschiedliche Interpretationen und Anschlussmöglichkeiten erlaubende Bestimmung der Ästhetik durch Baumgarten statt. Die Diskussion wurde durch die Rolle, die der Ästhetikbegriff im Kontext der Postmoderne-Debatte spielte, aber auch durch einige innerdisziplinäre Anstöße motiviert. So hatten sich seit Erscheinen von Adornos Ästhetischer Theorie mit Hans Robert Jauß und Wolfgang Welsch bereits in den 1970er und 1980er Jahren

36 Zwar bezeichnet Baumgarten die Fähigkeit zur sinnlichen Erkenntnis als ,unteres Erkenntnisvermögenʻ, die zur logisch-rationalen Erkenntnis als ,oberes Erkenntnisvermögenʻ. Allerdings sollte diese vermeintliche Hierarchisierung nicht täuschen. Letztlich kommt innerhalb des baumgartenschen Gedankengebäudes, das mittels seiner Fundierung in der leibnizschen Philosophie auf metaphysischem Untergrund aufbaut, der sinnlichen Erkenntnis sogar eine prädestinierte Stellung zu: denn während die logische Erkenntnis sich analysierend und abstrahierend auf allgemeine Merkmale richtet, was es ihr ermöglicht, Gegenstände einer bestimmten Gattung und Art zuzuordnen, richtet sich die sinnliche Erkenntnis auf Wahrnehmungsgegenstände in ihrer ganzen Merkmalsfülle, wodurch sie einer dem Menschen konstitutiv verschlossenen, metaphysischen Wahrheit näher kommt. 37 Mit seiner Formulierung ,Iota Questionʻ spielt Adler auf das Konzil von Nizza an, das im Jahr 325 über eine fundamentale Glaubensfrage des Christentums zu entschieden hatte. Gefragt wurde, ob Christus als lediglich gottähnlich oder als gottgleich und somit als Wesenseinheit mit Gott zu sehen sei. Eine Frage, die letztlich, wie Adler mit der Wahl seines Titels deutlich macht, jener nach dem Verhältnis von sinnlicher und kognitiver Erkenntnis durchaus nahekommt. 38 Hans Adler, Aesthetics and Aisthetics – The Iota Question; in: Adler, Hans (Hrsg.), Aesthetics and Aisthesis – New Perspectives and (Re)Discoveries (Bern: Peter Lang, 2002) S.19f.

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Positionen bemerkbar gemacht, die für eine Neubestimmung der Ästhetik eintraten.39 Eine intensive Diskussion entbrannte in der Folge im Rahmen der aisthesis-Debatte darüber, wie genau der Begriff zu verstehen sei: Lässt sich aisthesis im engeren Sinn nur auf die Künste beziehen oder bezeichnet der Ausdruck eine zwar lange Zeit philosophisch diskreditierte, dabei allgemeinere und den Bereich der Künste überschreitende Form menschlichen Realitätsvollzugs? Als maßgebliche Protagonisten traten in Erscheinung: Wolfgang Welsch, Gernot Böhme, Hartmut Böhme, Karlheinz Barck, Martin Seel, Rüdiger Bubner, Karl Heinz Bohrer, Karlheinz Stierle. Letztgenannte Autoren argumentierten für ein engeres Verständnis und somit für die Beibehaltung der Beschränkung der Ästhetik auf kunstbezogene Fragestellungen. In diesem Sinn verteidigt Karlheinz Stierle in seiner Essaysammlung Ästhetische Rationalität auch den Werkbegriff in der Kunst. Für ihn ist dasjenige, was er als ,ästhetische Rationalitätʻ beschreibt, keine allumfassende epistemologische Funktionsweise, sondern sie ist, wie er in folgender Passage darlegt, ausschließlich an die Sphäre des Ästhetischen und deren Objekte gebunden. Die Logik des Ästhetischen ist fundamental und durch keine ästhetische Reflexion noch durch ästhetischen Voluntarismus außer Kraft setzbar, es sei denn um den Preis des Ästhetischen selbst. Ästhetische Rationalität, beruhend auf der Eigenlogik des Ästhetischen, steht neben praktischer, technischer, naturwissenschaftlicher und philosophischer Rationalität als eine Form der Rationalität eigenen Rechts.40

Stierle beharrt, ebenso wie Karl Heinz Bohrer, der diesbezüglich eine eigenständige Interpretation vorlegt, auf der Unvergleichbarkeit und Irreduzibilität des Ästhetischen.41 Einig sind sich beide Autoren darin, dass ästhetische Erfahrungen von ganz 39 Jauß setzte sich in Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung (1972) und Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1982) von Adornos Ästhetischer Theorie ab, indem er explizit für eine philosophische Rehabilitierung des ästhetischen Genusses eintrat und somit die Fokussierung der Ästhetik fort von Fragen der Kunst und hin zu jener der sinnlichen Wahrnehmung (wenn auch einer spezifischen, da hedonistisch-eingefärbten Wahrnehmung) lenkte. Wolfgang Welschs Aisthesis – Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre (1987) nahm ihren Ausgangspunkt in einer umfassenden Reflexion zu Konzeption und Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung bei Aristoteles. Dabei handelt es sich nur vermeintlich um eine allein philosophiehistorische Arbeit, deren zukunftsweisenden Charakter Welsch später, Stück für Stück, mittels weiterer Veröffentlichungen offenlegte. Die Frage nach der sinnlichen Wahrnehmung, ihrem Charakter und ihrer möglichen Rolle war somit, wenn auch zunächst noch indirekt, aber gestellt. Vgl. Karlheinz Bohrers Lexikonartikel zu Aisthesis/Aisthetisch, in: Metzler Lexikon, Ästhetik (Stuttgart/ Weimar: Metzler, 2006), S.3ff. 40 Karlheinz Stierle, Vorwort zu: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff (München: Fink, 1997). 41 Dabei besteht er auf der Differenz von „Struktur und Relevanz“, Bohrer seinerseits auf dem „Enigmatischen und Elitären“, vgl. Karlheinz Stierle, Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff (München: Fink, 1997) S.13; Karl Heinz Bohrer, Die Grenzen des Ästhetischen. Wider den Hedonismus der Aisthesis (München: Carl Hanser Verlag, 1998) S.24.

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eigener Art, dass sie im Wortsinn ,einzigartigʻ und ,herausgehobenʻ aus dem Alltäglichen seien, wodurch eine ästhetische Rationalität nur in bestimmten Situationen, nämlich in der Auseinandersetzung mit Werken der Kunst, zum Einsatz kommen könne. Das ästhetische Moment, das in diesen Situationen aufscheint, lässt sich also nicht einfach von der ihm eigenen Sphäre der Künste, der Bildenden Kunst, der Literatur etc. in andere Bereiche übertragen oder durch deren jeweilige Rationalität, die praktischer, naturwissenschaftlicher oder philosophischer Art ist, erklären. Jedenfalls sei dies, wie Stierle ausführt, nicht möglich ohne den Verlust dessen, was das Ästhetische eigentlich ausmache.42 Ganz anders sieht dies Wolfgang Welsch, wenn er erklärt: Ästhetik war zunächst [...] der Titel der philosophischen Disziplin, die ein Wissen vom Sinnhaften anstrebte und daher von Baumgarten, ihrem Gründungsvater, als episteme aisthetike, kurz als „Ästhetik“ bezeichnet wurde. Demgegenüber ist es nachher zu einer Verengung vorwiegend auf die Kunst [...] gekommen. Das wäre meines Erachtens heute rückgängig zu machen. Ich möchte Ästhetik genereller als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen.43

Mit diesen lapidar anmutenden Worten bringt Welsch eine diametral entgegengesetzte Position zum Ausdruck, wie sie neben ihm auch von Gernot Böhme (sowie der Intention nach von Hartmut Böhme, Karlheinz Barck u.a.) vertreten wird.44 Konsens herrscht unter den genannten Autoren darüber, dass es weder möglich noch angesichts aktueller Entwicklungen sinnvoll erscheint, ein enges Verständnis des Ästhetischen aufrechtzuerhalten, das sich alleine auf Fragen der Kunst im Sinn einer Hochkultur richtet. Welsch äußert seine diesbezüglichen Überlegungen erstmals explizit in der Essaysammlung Ästhetisches Denken45 sowie sechs Jahre später in Grenzgänge

42 Siehe Hans Adler, Aesthetics and Aisthetics – The Iota Question; in: Hans Adler (Hrsg.), Aesthetics and Aisthesis – New Perspectives and (Re)Discoveries (Bern: Peter Lang, 2002) S.23f. 43 Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken; a.a.O., S.11. 44 Ansätze, die für eine Öffnung der Ästhetik eintreten, finden sich nicht nur bei Karlheinz Barck, sondern auch bei anderen Autoren aus dem Umfeld des historischen Wörterbuchs Ästhetische Grundbegriffe – und somit nicht nur auf ehemals bundesdeutscher Seite. So war bereits 1990 im Ostberliner Akademieverlag der Band Ästhetische Grundbegriffe – Studien zu einem historischen Wörterbuch erschienen. Dieser kündigte ein in Zusammenarbeit zwischen Literatur-, Theater-, Musik-, Kunstwissenschaftlern und Philosophen erarbeitetes mehrbändiges Wörterbuch der Ästhetik an. Bemerkenswert war die transdisziplinäre Zusammenarbeit, aus der das zu DDR-Zeiten konzipierte Nachschlagewerk hervorgehen sollte ebenso wie der diesem eingeschriebene programmatische Charakter. Ein Aspekt, der sich auch in einer anderen Veröffentlichung jener Zeit zeigt, nämlich der von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter herausgegebenen Textsammlung Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik (Leipzig: ReclamVerlag, 1993). 45 Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken (Stuttgart: Reclam, 1990).

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der Ästhetik.46 Gernot Böhme artikuliert sein eigenes erweitertes Ästhetikverständnis, das er auch als ,Neue Ästhetikʻ oder ,Aisthetikʻ bezeichnet, in seinem ebenfalls 1996 erschienen Buch Atmosphäre47 sowie weiter ausgearbeitet in Aisthetik – Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. 48 Beide Autoren erklären die Notwendigkeit einer neuen, offener verfassten und an einem universelleren Verständnis ausgerichteten Ästhetik auf die gleiche Weise, nämlich im Sinn einer von außen an die Ästhetik herangetragenen Herausforderung. Welsch betont in diesem Kontext besonders den Umstand einer universellen und progressiven Ästhetisierung des Alltagslebens (siehe hierzu auch Kapitel 1). Denn Ästhetik, so Welsch, sei heute kein Feld mehr, das sich mittels des Kunstbegriffs strikt abgrenzen ließe. Ästhetische Phänomene seien mittlerweile vielmehr allgegenwärtig: Sie zeigten sich in Form einer ,Oberflächenästhetisierungʻ, was die gewachsene Bedeutung der Körperkultur, der Medien, der Werbung, des urbanen Designs betrifft (oder wie der Autor selbst prägnant zusammenfasst: „Die Fassaden werden hübscher, die Geschäfte animatorischer, die Nasen perfekter.”49), sowie in Gestalt einer Tiefenästhetisierung, die die Wissenschaften, die Technik, die Philosophie auf epistemologischer Ebene durchziehe. Eine derart universelle Tendenz, so das Fazit von Welsch, mache die Frage nach der Spezifik der Kunst, im Sinne einer exklusiven Hochkultur, zweitrangig – jene nach einer distinkten ästhetischen Rationalität, die vermeintlich allein angesichts von Kunstwerken zum Einsatz komme, obsolet. 50 Viel wichtiger sei es, sich mit dem heterogen strukturierten Feld des Ästhetischen möglichst differenziert und umfassend – und dies bedeutet für Welsch auch: hinsichtlich möglicher negativer Aspekte und Gefahren – auseinanderzusetzen. Denn ästhetische Wirkungen können nicht zuletzt, 46 Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 1996). Auf Welschs erst unlängst erschienene Veröffentlichungen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 47 Gernot Böhme, Aisthetik – Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre (München: Fink, 2001). 48 Gernot Böhme, Aisthetik (München: Fink, 2001). 49 Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik; a.a.O., S.20. 50 Welsch bringt diese Haltung in seinen unterschiedlichen Arbeiten auf verschiedene Weise zum Ausdruck. In der Summe lässt sich aber festhalten, dass Welsch durchaus zwischen einer kunstbezogenen und einer allgemeinen Ästhetik unterscheidet. Erstgenannte ist für ihn in ihrem Anliegen also nicht etwa gänzlich unberechtigt. Allerdings stellt sie für ihn eben nur einen möglichen thematischen Strang dar, den es als in Verbindung mit dem zweitgenannten, breiteren Strang stehend, zu sehen gilt – also jenem Strang der Ästhetik, der sich aisthesis in all ihren Schattierungen zwischen Empfindung und Erkenntnis und in ihren unterschiedlichsten Ausprägungsformen zuwendet. In diesem Sinn widerspricht Welsch auch nicht dem Umstand, dass es gröbere und verfeinerte Formen des Wahrnehmens geben mag, und dass Erstere im Alltag, Zweitgenannte im Bereich der Künste häufiger zum Einsatz kommen. Aber er widerspricht der These, dass es sich bei beiden Wahrnehmungsweisen um strikt getrennte Modi handele. Ebendies, nämlich ein fundamentaler Unterschied, wird hingegen mittels des Begriffs einer spezifischen ,ästhetischen Rationalitätʻ behauptet, welchem Welsch später seinen eigenen Begriff einer ,transversalen Vernunftʻ gegenüberstellt. Vgl. Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik; a.a.O., S.24ff. und 106ff. Zu Welschs Rationalitätsbegriff siehe auch Fn. 51; zu Welschs Vorschlag für eine Neukonzeption der Ästhetik als philosophischer Disziplin siehe Kap. 1.4.

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etwa durch Politik und Ökonomie, instrumentalisiert werden. Hierdurch tun sich ethische Probleme auf, die es philosophisch zu reflektieren gilt. Auch was die sensorischen Anteile des Wahrnehmens anbelangt sieht Welsch akute Gefährdungen. So könne eine permanente ästhetische Stimulation zu einer Art Überstimulierung und dadurch zu einer Abstumpfung, einer Anästhesierung der Sinne führen. Auch Gernot Böhme hebt neben konzeptionellen insbesondere alltags- und praxisbezogene Probleme hervor, die sich mit der faktisch zu beobachtenden Entgrenzung des Ästhetischen verbinden. Für Böhmes ökologisch-phänomenologisch motivierten Ansatz, der in vielen der angesprochenen Punkte mit demjenigen Welschs übereinstimmt, ist es insbesondere die Frage der leiblichen Verfasstheit des Menschen, die stärkere philosophische Beachtung finden sollte. In einer Zeit, in der das Erscheinungsbild der Natur – und dies auch und gerade im Sinn einer menschlichen Umwelt – starken Veränderungen unterworfen ist, erlangt nach Böhme die Gebundenheit des Menschen an dasjenige, was gerne als ,Körperʻ veräußerlicht und distanziert betrachtet werde, nämlich den Leib des Menschen, besondere Bedeutung. Stärker noch als Welsch betont Böhme dabei den wechselseitigen Zusammenhang von Umwelt und Mensch, sowie die Gefahr, die eine Zerstörung der natürlichen Umwelt mit sich bringt. Ein Gedanke, der bei Böhme nicht zuletzt dazu führt, dass dieser seinen Ansatz von allgemeinen Reflexionen zu einer Neuen Ästhetik bzw. Aisthetik, wie sie auch Wolfgang Welsch konzeptionell umreißt, weiter fokussiert und themenspezifisch zuspitzt. Eine Grundsatzdiskussion, wie sie im Sinn der aisthesis-Debatte zwischen den oben genannten Protagonisten geführt wurde, wird heute nicht mehr offen ausgetragen. Dennoch hat sich der aisthesis-Gedanke in der von Böhme und Welsch vertretenen Linie nicht nur gehalten, sondern in unterschiedlichste Richtungen und Bereiche hin weiterentwickelt. Wolfgang Welsch scheint hierbei einen genau umgekehrten Weg wie Gernot Böhme zu gehen, wenn er nicht die wahrnehmungstheoretische Verfasstheit von aisthesis sowie konkrete Anwendungsmöglichkeiten des Begriffs, sondern vielmehr dessen weitere erkenntnistheoretische Implikationen und Einbettung in ein allgemeines Vernunftverständnis erforscht.51 Auseinandersetzungen mit 51 In seiner umfassenden Arbeit zur transversalen Vernunft wendet sich Welsch, aufbauend auf einer Diskussion unterschiedlicher Kritiken und Konzeptionen des Vernunftbegriffs (bei Horkheimer, Adorno, Habermas, Heidegger, Foucault, Glucksmann, Vatimo, Rorty, Derrida, Lyotard, Deleuze, Goodman, Wittgenstein) der Frage eines zeitgemäßen Vernunftbegriffs zu. Zusammengefasst stellt Welsch dabei einem divisionistischen Vernunftmodell ein transversales Vernunftmodell gegenüber. Denn im Zeitalter der Moderne begegne uns generell, so Welsch, ein divisionistisches Rationalitätsmodell: „Die ehedem eine Vernunft ist modern in eine Mehrzahl unterschiedlicher Rationalitäten auseinandergetreten.“ Dabei gebe es „dem Standardmodell der Rationalität zufolge [...] drei grundlegend unterschiedene Typen von Rationalität: kognitive, moralisch-praktische und ästhetische Rationalität“. Wie Welsch darlegt, lasse sich eine derart strikte Distinktion und Separierung heute jedoch nicht mehr aufrechterhalten. Vielmehr sei als Konsequenz moderner und zeitgenössischer Vernunftkritik das Fazit zu ziehen, dass Rationalität nur noch transversal (ein Begriff, der vor allem durch Guattari/Deleuze geprägt wurde), d.h. im Sinn eines immanent verknüpften und wechselseitig durchdrungenen Netzwerks konzipiert werden könne. Zu seiner Intention und argumentativen Vorgehensweise äußert sich Welsch in diesem

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,aisthesisʻ finden sich heute aber nicht nur im Feld der Philosophie oder der philosophischen Ästhetik im engeren Sinn, sondern in so unterschiedlichen Bereichen wie der Literatur- und Kunsttheorie, den Kulturwissenschaften, der Psychologie, der Neurobiologie, der Kognitionsforschung, den Gender Studies. 52 Für den engeren Bereich der Philosophie und philosophischen Ästhetik ist dabei ein Umstand beachtenswert. Nämlich jener, dass während im deutschsprachigen Raum der aisthesisBegriff weitgehend mit der Debatte der 1990er Jahre verknüpft ist, dieser in anderen ästhetiktheoretischen Communities erst unlängst (wieder-)entdeckt zu werden scheint. Dabei erfreut er sich Aufmerksamkeit von verschiedenster Seite her. Im Einzugsbereich der angloamerikanischen Everyday Aesthetics und Environmental Aesthetics sind es insbesondere Arnold Berleant und Katya Mandoki, die das Potential des aisthesis-Begriffs für sich entdeckt haben und diesen zur Grundlage ihres jeweils eigenen, geweiteten Ästhetikverständnisses machen. Von der Seite einer pragmatistischen Ästhetik kommt Richard Shusterman immer wieder auf den Terminus zu sprechen.53 Und auch in aktuellen gesellschaftsbezogenen Auseinandersetzungen mit Fragen der Ästhetik spielt der Begriff, offen oder unterschwellig, eine nicht zu unterschätzende Rolle: So im angloamerikanischen Diskursraum bei Terry Eagleton, im französischsprachigen Raum bei Jacques Rancière.54 Kontext wie folgt: „Ich werde zeigen, daß jeder der Rationalitätstypen schon von seiner Konstitution her mit Elementen anderer Rationalitätstypen verflochten ist und daß diese Verflechtungen nicht bloß periphere, sondern zentrale und definitorische Punkte des jeweiligen Rationalitätstyps betreffen. Dies hat gravierende Folgen für die Bestimmung [...] der Rationalität im ganzen. Die vermeintlich klare Ordnung geht in rationale Unordnung über. Denn da weder die einzelnen Rationalitätstypen selbstständig definiert werden können, sondern konstitutive Anleihen bei anderen Rationalitätstypen implizieren, noch ihre Abgrenzungen trennscharf sind, sondern durch konstitutive Grenzüberschreitungen durchbrochen werden, ergibt sich im Ganzen der Rationalität ein komplexes Gefüge von Verbindungen, Verschiebungen und Gegenwendigkeiten […]. Das Feld der Rationalitäten ist [...] interrational bzw. netzartig strukturiert.“ Wolfgang Welsch, Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996) S.441ff. 52 Siehe: Hans Adler (Hrsg.), Aesthetics and aisthesis – New Perspectives and (Re)Discoveries (Bern: Peter Lang, 2002). 53 Insbesondere spielt der aisthesis-Begriff im Konzept einer so bezeichneten ,Somoaestheticsʻ eine Rolle, die Shustermann wie folgt definiert: „critical [...] study of the experience and the use of one’s body as a locus of sensory-aesthetic appreciation (aisthesis) and creative self-fashioning“. Richard Shusterman, Somaesthetics and Care of the Self: The Case of Foucault; in: Monist, 83 (1), 2000, S.532-533. 54 Der marxistische Theoretiker Terry Eagleton wendet sich der Ästhetik von einem historisch-kritischen Standpunkt aus zu. Die These, die Eagleton dabei ,nicht im Ernstʻ vertreten möchte, wie er selbst sagt, die seinen Ansatz aber dennoch treffend charakterisiert, fasst Eagleton wie folgt zusammen: „Ich möchte nicht im Ernst behaupten, daß sich Vertreter der Bourgeoisie im 18. Jahrhundert bei einem Glas Rotwein zusammensetzten, um den Begriff des Ästhetischen als Lösung ihrer politischen Probleme zu erfinden.“ Der Begriff ,aisthesisʻ spielt hierbei für Eagleton insofern eine wichtige Rolle, als er sich „auf den gesamten Bereich menschlicher Wahrnehmung und Empfindung“ richtet, während jener der

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2.3 ANSÄTZE

BEIDER D ISKURSRÄUME ZUR ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT

Ansätze aus den Bereichen Umwelt- und Alltagsästhetik, die sich dem spezifischen Themenfeld der (gebauten) menschlichen Umwelt zuwenden, finden sich in beiden Diskursräumen, dem angloamerikanischen wie dem deutschsprachigen Raum. Bevor auf diese näher eingegangen wird, erneut einige Bemerkungen terminologischer Art. Zu den Begriffen ,human environmentʻ und ,built environmentʻ Schwerer als für die Ausdrücke ,everydayʻ oder ,environmentʻ fällt es, im Deutschen eine Entsprechung für die Begriffskomposita ,human environmentʻ bzw. ,built environmentʻ zu finden. Beide Begriffe haben sich im englischen Sprachraum erst in jüngerer Zeit etabliert und finden vorwiegend in fachspezifischen Kontexten Verwendung. Zu denken ist neben den Bereichen der Umwelt- und Alltagsästhetik an Bereiche wie die Geografie, die Stadt- und Landschaftsplanung, die Landschaftsarchitektur oder etwa die Architekturpsychologie. Wofür stehen die Ausdrücke ,human environmentʻ und ,built environmentʻ? Versteht man ,environmentʻ allgemein im Sinn eines Umraums, einer Umgebung, so ist eine Zentrierung dem Begriff selbst bereits eingeschrieben. In diesem Sinn verweist der Ausdruck ,human environmentʻ also nur noch einmal explizit auf dasjenige, was in dessen Zentrum steht, nämlich – anders als bei ,natural environmentʻ der Fall – den Menschen. Allerdings gilt es diesbezüglich zu differenzieren: Denn, wie man in freier Anlehnung an die Terminologie Heideggers sagen könnte, die menschliche Umwelt ist einerseits vor Handen, andererseits ist sie dem Menschen zu Handen. Das heißt, die menschliche Umwelt ist stets beides zugleich: Sie ist die jeweilige Umgebung, in der sich Menschen in ihrem Alltag mehr oder weniger akzidentiell aufhalten und sie ist ein spezifisches, durch den Menschen geformtes wie auf diesen ausgerichtetes und auf diesen einwirkendes Umfeld. Was meint demgegenüber der Ausdruck ,built environmentʻ? Die meisten Menschen – jedenfalls was die BewohnerInnen der heutigen, westlichen Welt betrifft – leben in festen Behausungen (Wohnungen, Häusern), von denen ein Großteil auf Dauer errichtet und innerhalb größerer Komplexe (Siedlung, Dorf, Stadt) arrangiert sowie mittels bestimmter Infrastrukturen (Verkehrswege, Strom-, Wasserleitungen etc.) verbunden ist. Die Formulierung ,built environmentʻ bezieht sich in diesem Sinn ebenfalls auf human environments, hebt dabei aber einen Aspekt hervor: Nämlich den Anteil, den der Mensch selbst – einerseits mittels intentionaler Errichtung und Gestaltung, andererseits mittels quasi ,von selbstʻ vonstattengehender, zivilisatorischer Beeinflussungsprozesse – an der Gestaltung der ihn umgebenden Umwelt besitzt. Die Formulierungen ,human environmentʻ und ,built environmentʻ als Synonyme für andere Begriffe wie ,Stadtʻ, ,Gebäudeʻ, ,Architekturʻ zu verwenden, ist somit

,Ästhetikʻ als ein bestimmtes Betrachtungsparadigma verstanden wird. Jacques Rancière nimmt eine solche Differenzierung zwischen ,aisthesisʻ und ,ästhetischʻ, wie sie bei Eagleton getroffen wird, gerade nicht vor. Im Gegenteil: Seine jüngste Veröffentlichung zum Thema Ästhetik trägt den Titel ,aisthesisʻ. Zitat: Terry Eagleton, Ästhetik (Stuttgart/Wiemar: Metzler, 1990) S.4, S.13.

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durchaus naheliegend. Allerdings sollte die spezifische Perspektivität eingedacht werden, die derartige Begriffe zu etwas anderem als einfachen Synonymen macht: So schließen human environments und built environments im Gegensatz zu ,Architekturʻ geplante wie ungeplante, materielle wie immaterielle Aspekte mit ein (vgl. Einleitung). Zudem wird der Ausdruck ,Architekturʻ häufig in einem normativen Sinn, zur Bezeichnung von gestalterisch-qualitativ hochwertigen Bauformen, verwendet. Die Ausdrücke ,human environmentʻ und ,built environmentʻ erlauben demgegenüber, auch sogenannte ,vormoderneʻ bzw. ,vernakuläreʻ Bauformen einzubeziehen55; ebenso wie temporäre oder behelfsmäßige Konstruktionen, Peripherien, zersiedelte Landschaften, Zwischenstädte, urbane Brachflächen etc. In diesem Punkt, nämlich hinsichtlich seines inklusiven Charakters, der alle möglichen Bestandteile – und nicht nur planmäßig errichtete, materielle Komponenten – mit einschließt, erinnert der Begriff an die Ausdrücke ,Stadtʻ oder ,Landschaftʻ. Allerdings betont er diesen gegenüber den erwähnten Aspekt der Zentrierung, also einer Ausgerichtetheit auf den Menschen und dessen spezifisches Erfahrungsspektrum. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Punkt: Statt einer konventionellen dualistischen und isolationistischen Haltung zu folgen, wie sie in einer üblichen Opposition von Begriffen wie ,Innenraumʻ↔,Außenraumʻ, ,Hausʻ↔,Gartenʻ, ,Naturʻ↔,Kulturʻ zum Ausdruck kommt, wird der wechselseitige Wirkungszusammenhang zwischen bewohnendem Menschen und bewohntem Umraum betont. Die Ausdrücke ,human environmentʻ und ,built environmentʻ bringen also, last but not least, eine relationale bzw. konnektivistische Sichtweise zum Ausdruck, die vermeintlich harte Grenzen als fließende Übergänge, vermeintliche Dichotomien als graduelle Unterschiede aufzufassen erlaubt.56 Soweit zu einer basalen operativen Bestimmungsmöglichkeit der Ausdrücke ,human environmentʻ und ,built environmentʻ. Im Weiteren soll, nicht zuletzt auf Grund der großen Nähe beider Begriffe und da eine echte Entsprechung im Deutschen fehlt, von ,(gebaute) menschliche Umweltʻ respektive von ,(gebauten) menschlichen Umweltenʻ die Rede sein. Diese Zusammenführung hat den Vorteil, dass beide Aspekte, die im Englischen durch die Komponenten ,humanʻ und ,builtʻ betont werden, enthalten sind. Der Ausdruck ,gebautʻ – der in etymologischer Hinsicht übrigens auch im Deutschen nicht allein ,errichtetʻ meint, sondern einst ebenso ,wohnenʻ bzw. ,bewohntʻ bedeutete57 – wird jedoch in Klammern gesetzt, um klarzumachen, dass menschliche Umwelten zwar durchaus häufig und in starkem Maß,

55 ,Vernakulärʻ bezieht sich auf den Aspekt des nicht-planvollen, nicht-professionellen, von selbst entstandenen, historisch gewachsenen, auch des regionaltypischen. Zum verwandten Begriff des ,vormodernen Bauensʻ siehe: Peter Trebsche/Nils Müller-Scheeßel/Sabine Reinhold (Hrsg.), Der gebaute Raum: Bausteine einer Architektursoziologie vormoderner Gesellschaften (Münster: Tübinger Archäologische Taschenbücher, 2010). 56 Zu den Begriffen siehe auch: Arnold Berleant/Allen Carlson, The Aesthetics of Natural Environments (Peterborough: Broadview Press, 2007) S.13ff.; sowie A. Berleant, Environmental Aesthetics; in: Michael Kelly (Hrsg.), The Encyclopedia of Aesthetics, (New York: Oxford University Press, 1998), Vol. 2, S.114-120. 57 Siehe etwa: Wolfgang Pfeifer (Hrsg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (Berlin: Akademie-Verlag, 1993)

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jedoch keineswegs immer und allein durch besagten Aspekt (i.e. ,bauenʻ in seiner heute üblichen Bedeutung) bestimmt werden.58 Ansätze beider Diskursräume zur (gebauten) menschlichen Umwelt Ansätze, die sich dem Themenkomplex der (gebauten) menschlichen Umwelt zuwenden, finden sich in beiden Diskursräumen, dem angloamerikanischen, wie dem deutschsprachigen. Wolfgang Welsch liefert diverse Einzelbeiträge, die sich mit dem städtischen Umraum und Fragen der Architektur auseinandersetzen59; vor allem aber ist es Gernot Böhme, der sich in seinen Veröffentlichungen Atmosphäre und Aisthetik – Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre der Frage des Verhältnisses von Mensch und Umwelt zuwendet. Diesen Ansatz entwickelt der Theoretiker später in Architektur und Atmosphäre60 dezidiert in Richtung des Themenfeldes der (gebauten) menschlichen Umwelt weiter. Ein prinzipiell ähnliches Verständnis, wie es sich bei den beiden genannten Theoretikern des deutschsprachigen Raumes antreffen lässt, weisen im angloamerikanischen Diskursraum Arnold Berleants und Katya Mandokis Ansätze auf. Beide sehen, in diesem Punkt ganz mit Gernot Böhme und Wolfgang Welsch übereinstimmend, ein zentrales Moment des Begriffs des Ästhetischen darin gegeben, dass dieser, mittels der Ableitung vom altgriechischen ,aisthesisʻ, an die menschliche Wahrnehmung und somit an die menschliche Physis in ihrem konstitutiven Umweltbezug appelliert. Mandokis entfaltet ihren komplex verfassten Ästhetikbegriff in aller Ausführlichkeit in Everyday Aesthetics – Prosaics, the Play of Culture and Social Identities. Ähnlich wie angesichts von Arnold Berleant der Fall, dessen Begriff des ,engagementʻ bereits viel über dessen allgemeinere Haltung und Positionierung verrät, kommt Mandokis Ästhetikverständnis auf prägnante Weise in ihrem zentralen Begriffspaar ,latching-onʻ und ,latched-byʻ zum Ausdruck. Auf Deutsch bedeutet dies so viel wie ,festhalten an/festgehalten werdenʻ bzw. ,ergreifen/ergriffen sein vonʻ. Es handelt sich also um einen bewusst janusköpfigen Begriff, mittels dessen die Ästhetiktheoretikerin der Vorstellung Ausdruck verleihen möchte, dass menschliche Lebensvollzüge nicht in eine dualistisch zu konzipierende Innen- und Außenwelt zerfallen, sondern vielmehr durch eine Art Diffusionsprozess konstituiert sind, bei 58 Zwar wäre es theoretisch möglich, allein von ,menschlichen Umweltenʻ zu sprechen, dies würde jedoch den Aspekt der wechselseitigen Beeinflussung zu stark in den Hintergrund treten lassen: Ein Mensch, der den entlegensten Fleck der Erde betritt, macht diesen in eben jenem Moment zu einem ,human environmentʻ. Dennoch ist es kaum sinnvoll, von unbesiedelten Zonen der Arktis oder des tropischen Regenwalds als ,human environmentʻ zu sprechen (vgl. Einleitung). Der Ausdruck ,gebaute Umweltʻ allein wäre seinerseits irreführend, da das Wort ,bauenʻ im Deutschen allzu sehr mit intentionalen Akten verknüpft ist. Dabei finden sich in etymologischer Hinsicht durchaus interessante alternative Bedeutungskomponenten, die eher in die Richtung des Englischen ,to dwellʻ/,dwellingʻ als des Ausdrucks ,to buildʻ/,buildingʻ weisen (siehe oben). 59 Siehe etwa Wolfgang Welsch, Städte der Zukunft – Architekturtheoretische und kulturphilosophische Aspekte; in ders., Grenzgänge der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 1996); Wolfgang Welsch, Orte des Menschen?; in: ders., Blickwechsel: Neue Wege der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 2012). 60 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O.

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dem die menschliche Physis als Membran fungiert. Diesem Gedanken gemäß definiert Mandoki Ästhetik basal als „study of the condition of aesthesis“, wobei sie den hybriden Neologismus ,aesthesisʻ (gebildet aus den beiden Termini ,aestheticsʻ und ,aisthesisʻ) derart versteht, dass er den Menschen „sensitive, receptive, or porous to its environment“ mache.61 Die thematische Weite des Feldes Neben den genannten Ansätzen findet sich heute im Bereich der Everyday Aesthetics und Environmental Aesthetics eine Vielzahl an Beiträgen zum Themenfeld der (gebauten) menschlichen Umwelt. Allerdings treten diese bislang vorwiegend in Form einzelner Artikel in Erscheinung. Auch speisen sich derartige Einzelveröffentlichungen – im Gegensatz zu oben genannten Ansätzen – nicht aus einem in der Tiefe ausgearbeiteten, allgemeineren Ästhetikverständnis, sondern sie skizzieren, der Natur des wissenschaftlichen Artikels gemäß, allenfalls einen möglichen konzeptionellen Bezugsrahmen. Das thematische Spektrum, das derartige Einzelartikel eröffnen, ist dennoch beeindruckend und gerade in seiner enormen Weite aufschlussreich. Um diesbezüglich einen gewissen Eindruck zu vermitteln:62 Tom Leddy etwa bewegt sich, was eine Betrachtungsdistanz betrifft, ganz nah an das Gegenstandsgebiet heran, wenn er sich der Frage von Everyday Surface Aesthetics Qualities zuwendet und in diesem Kontext Begriffe wie ,neatʻ, ,messyʻ, ,cleanʻ, ,dirtyʻ (also: ,adrettʻ, ,unordentlichʻ, ,sauberʻ, ,schmutzigʻ) im Sinn alltäglicher ästhetischer Oberflächenqualitäten, vergleichbar den traditionellen ästhetischen Qualitäten des ,Schönenʻ oder ,Erhabenenʻ, diskutiert.63 Genau am anderen Ende der Skala einer Betrachtungsdistanz setzen Beiträge an, die ihren Blick nicht auf den unmittelbaren häuslichen Nahbereich, sondern vielmehr auf die weitest möglich entfernten Bestandteile menschlicher Umwelten werfen: Yuriko Saito etwa, wenn sie in ihrem 61 Bei Mandoki dient der aesthesis-Begriff als Ausgangspunkt für eine individuelle Neukonzeption der Ästhetik, die sich unterschiedlichsten Aspekten des menschlichen Alltagslebens im Rahmen einer sogenannten „socio-aesthetics“ zuwendet; diese wiederum bettet Mandoki konzeptionell in den Kontext einer „bio-aesthetics“ ein, als einem „inquiry on live creatures as membranded and exposed to the world“. Ebenso wie die Positionen von Wolfgang Welsch, Gernot Böhme und Arnold Berleant kann auch Katya Mandokis Ansatz als grundlegender Beitrag zu einer Ästhetik bzw. Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aufgefasst werden. Allerdings versteht Mandoki den Begriff des ,environmentʻ weniger im Sinn einer konkreten räumlich-materiellen Umwelt, als im allgemeineren Sinn einer menschlichen Lebenswelt, weshalb sich ihre Aufmerksamkeit folgerichtig nicht auf die im Kontext dieser Untersuchung behandelten, spezifischeren thematischen Fragen der Stadt, der Landschaft, der Architektur etc., sondern auf allgemeinere Aspekte wie Sprache, Kultur, Religion, Medizin u.a. richtet. Katya Mandoki, Everyday Aesthetics; a.a.O., S.48. 62 Einen guten Überblick über den angloamerikanischen Diskursraum sowie über in diesem in Erscheinung tretende internationale Beiträge vermitteln die beiden Sammelbände The Aesthetics of Everyday Life, herausgegeben von Andrew Light und Jonathan M. Smith, sowie der von Allen Carlson und Arnold Berleant editierte Band The Aesthetics of Human Environments. 63 Tom Leddy, Everyday Surface Aesthetic Qualities: 'Neat', 'Messy', 'Clean', 'Dirty'; a.a.O., S.259-268.

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Artikel The Aesthetics of Weather unterschiedliche Wetter- und Himmelsphänomene diskutiert. Diese können per se als potentielle, wenn auch immaterielle Bestandteile menschlicher Umwelten aufgefasst werden, oder sie können, wie Pauline von Bonsdorff in Building and the naturally unplanned zeigt, in Gestalt von Witterungs- und Alterungsspuren in ihrem Einfluss auf materielle Bestandteile (gebauter) menschlicher Umwelten untersucht werden.64 Viele Beiträge agieren hingegen auf einer Mezzoebene der Betrachtung. So wendet sich beispielsweise Yiro Sepänmaa in Multisensoriness and the City dem perzeptiven Spektrum an alltäglichen Erfahrungen im städtischen Umraum zu. Dabei betont er nicht nur die Rolle von in diesem Kontext üblicherweise vernachlässigten Sinneswahrnehmungen (wie Riechen, Schmecken, Tasten), sondern diskutiert auch die Frage, ob spezifische Umgebungen – etwa in Gestalt von ganzen Stadtvierteln oder Städten – das menschliche Wahrnehmungsvermögen jeweils auf charakteristische Weise unterschiedlich ansprechen mögen. (Venedig ist für Sepänmaa eine Stadt des Wassers, die das Gehör und den Gleichgewichtssinn besonders fordere, während die „sense-identity“ Helsinkis sich mit Kälte und feuchtem Wind verbinde.)65 Nicht die Rolle der Umgebung, sondern vielmehr jene unterschiedlicher Zustände der wahrnehmenden Personen selbst, behandeln Autoren wie David Macauley oder Malcom Andrews, wenn sie sich mit der Frage der Bewegung im Umraum auseinandersetzen: Wie erfahren Personen ihre Umwelt, wenn sie sich zu Fuß fortbewegen, fragt Macauley in Walking the City66, während Andrews in The View from the Road and the Pitoresque67 die spezifische zu machende Erfahrung bei einer Fortbewegung mittels PKW thematisiert. Die Frage nach der individuellen Positionierung erörtert Arto Haapala seinerseits auf eigene Weise: Für ihn spielen nicht nur kleine Zeiträume, wie sie im Kontext menschlicher Fortbewegung zum Tragen kommen, eine Rolle, sondern auch langfristige Positionierungen. Wie vertraut bin ich mit einem Ort? Und wie beeinflusst die Dauer meines Aufenthalts an diesem die Wahrnehmung meiner Umgebung? – so fragt Haapala in On the Aesthetics of the Everyday: Familiarity, Strange-ness, and the Meaning of Place.68 Die Frage der konzeptionell verbindenden Basis Mit den genannten Beispielen ist ein kleiner Ausschnitt an möglichen Fragestellungen bezeichnet, wie sie im Kontext einer Auseinandersetzung mit dem Gegenstandsgebiet der (gebauten) menschlichen Umwelt zur Sprache kommen können. Ein Problem, das nun selbst anhand einer derart limitierten Auswahl augenfällig wird, wurde bereits oben angemerkt. So faszinierend vielschichtig das mögliche Spektrum an zu 64 Siehe Yuriko Saito, The Aesthetics of Weather und Pauline von Bonsdorff, Building and the naturally unplanned; in: Andrew Light, Jonathan M. Smith, The Aesthetics of Everyday Life; a.a.O., S.156-176 und S.73-91. 65 Yrjö Sepanmaa, Multisensoriness and the City; in: Arnold Berleant/Allen Carlson, The Aesthetics of Human Environments; a.a.O., S.92-99. 66 David Maculey, Walking the City; in: The Aesthetics of Human Environments; a.a.O., S.100-118. 67 Malcom Andrews, The View From the Road and the Pitoresque; in: The Aesthetics of Human Environments; a.a.O., S.272-289. 68 Arto Haapala, On the Aesthetics of the Everyday: Familiarity, Strangeness, and the Meaning of Place; in: The Aesthetics of Everyday Life; a.a.O., S.39-55.

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behandelnden Themen angesichts des Gegenstandsgebiets der (gebauten) menschlichen Umwelt auch sein mag, so sehr stellt sich doch die Frage nach dem philosophischen, dem wissenschaftlichen, oder anders gesagt: dem systematischen Charakter derartiger Einzelbeiträge. Denn zwar erlauben es die ästhetiktheoretischen Bewegungen der Everyday Aesthetics und Environmental Aesthetics bereits in ihrer heutigen Form, sich (gebauten) menschlichen Umwelten im Sinn eines facettenreich schillernden Themas zuzuwenden. Was bislang allerdings fehlt, sind, im Wortsinn, tiefschürfende und be-gründende Ausarbeitungen, die nicht nur einen Zugriff auf, sondern auch einen Zugriff von – nämlich von einer verbindenden konzeptionellen Basis aus – ermöglichen. Eine Ausnahme bilden diesbezüglich die eingangs genannten Ansätze. Diese könnten mit ihrer (Re-)Orientierung der Ästhetiktheorie – bzw. eines zentralen Strangs innerhalb einer solchen – am aisthesis-Begriff und einer Betonung der menschlichen Physis als konstitutivem Bindeglied zwischen Mensch und Umwelt durchaus dazu in der Lage sein, einen konstitutiven Beitrag zu einer tragfähigen, verbindenden Basis einer ästhetiktheoretischen, respektive aisthesis-theoretischen Untersuchung (gebauter) menschlicher Umwelten zu liefern. Zwei besonders vielversprechende Ansätze stellen in dieser Hinsicht diejenigen Gernot Böhmes und Arnold Berleants dar.69

69 Methodische Anmerkung: Im Weiteren werden Vertreter einer Alltags- und Umweltästhetik sowie später, in Teil III, einer architektur- und ortsbezogenen Installationskunst diskutiert, bei denen es sich nicht durchwegs um als solche erachtete ‚Großpositionen‘ der Philosophie und Künste handelt. Die Gründe hierfür sind einfach: Der erste liegt im Unterschied von Prominenz und Provenienz: In der weiteren Untersuchung wird es darum gehen, Ansätze aus dem Feld der Künste und der Philosophie daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie potentiell ein kollaboratives Forschen ermöglichen könnten. Um dies zu diskutieren haben die gewählten Positionen unter formalen Gesichtspunkten das Basiskriterium der bereichsspezifischen Zugehörigkeit zu erfüllen – und nicht etwa das der bereichsspezifischen Prominenz. Der zweite liegt in der Relevanz: Was prominent und bedeutend ist und was nicht, mag zeitbedingt unterschiedlich eingeschätzt werden. Im Rahmen dieser Untersuchung richtet sich die Auswahl nicht nach einem derart kontingenten Kriterium. Vielmehr geht es um Relevanz – und zwar Relevanz nicht hinsichtlich des Feldes, dem eine jeweilige Position entstammt, sondern hinsichtlich des Forschungsfeldes, auf das diese Untersuchung abzielt. Der dritte Grund liegt darin, dass die gewählten Positionen ihrerseits auf bestimmten, aktuell als prominent erachteten, vor allem aber hinsichtlich des hier diskutierten relevanten historischen Ansätzen und Traditionen aufbauen, die somit automatisch – zuweilen implizit, zuweilen explizit – mitdiskutiert werden. Dabei wird keinem ‚Ursprungsdenken‘ gefolgt, nach dem philosophische und künstlerische Hervorbringungen in vermeintlich ‚viel eigentlicherer Form‘ dort anzutreffen wären, wo sie erstmals auftauchen. Vielmehr ist gerade eine aktuelle kritisch-reflektierte Auseinandersetzung und Weiterentwicklung, wie sie sich bei den im Folgenden diskutierten Positionen findet, von Interesse. Viertens geht es im Kontext dieser Untersuchung nicht darum, sich mit philosophischen und künstlerischen Positionen im Sinn eines Selbstzwecks zu befassen. Stattdessen soll anhand einer exemplarischen Auswahl etwas Allgemeineres, über individuelle Ansätze Hinausweisendes, aufgezeigt und in Hinblick auf die Möglichkeit eines neuen transdisziplinären Forschungsfeldes abgeleitet werden.

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Beide Theoretiker setzen sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Frage der (gebauten) menschlichen Umwelt auseinander. Beide Ansätze – die unabhängig voneinander und in unterschiedlichen Diskursräumen entwickelt werden – kommen sich dabei zudem erstaunlich nahe. Offenkundige Gemeinsamkeiten bestehen hinsichtlich der folgenden vier Aspekte: 1) einer kritische Absetzung von traditioneller Ästhetik; 2) der Begründung eines alternativen Ästhetikverständnisses mittels einer konzeptionellen Orientierung am aisthesis-Begriff (ein Aspekt, der insbesondere bei Gernot Böhme intensive Überlegungen zu einer phänomenologisch begründeten Wahrnehmungstheorie mit sich bringt); 3) einer thematischen Hinwendung zum Bereich der natürlichen und gebauten menschlichen Umwelt; 4) einer auf die zuvor genannten Punkte aufbauenden kontextualisierenden Ausweitung des Betrachtungshorizontes – von einer Alltags- und Umweltästhetik im engeren Sinn hin zu einer Einbeziehung von Fragen des Ethischen, des Gesellschaftlichen, des Politischen. Alle vier genannten Aspekte sind hinsichtlich des Gedankens einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt von Relevanz – und dies gerade in ihrem konzeptionellen Zusammenspiel.

Kapitel 3 Exemplarische Ansätze: Gernot Böhmes Aisthetik

Die beiden folgenden Kapitel wenden sich den Positionen Gernot Böhmes und Arnold Berleants zu. Aus dem weiten Feld der philosophischen Alltags- und Umweltästhetik werden somit zwei individuelle Ansätze herausgegriffen, die versprechen, einen besonderen Einblick in die potentielle Tiefe des Gegenstandsgebiets zu geben. Beide Ansätze werden, gemäß dem Grundgedanken dieser Untersuchung, zunächst aus sich selbst heraus entwickelt. Die folgenden beiden Kapitel können also nicht nur als vertiefende Einführung in den Bereich Alltags- und Umweltästhetik gelesen werden, sondern gleichzeitig als Einführung in zwei wichtige Einzelpositionen des Bereichs. Eine kritische Reflexion und Zusammenschau im Hinblick auf den Leitgedanken dieser Untersuchung, sprich: den Gedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, erfolgt im Anschluss in Kapitel 5. Zunächst jedoch zu Gernot Böhmes ästhetik- – oder richtiger: aisthetik-theoretischem Ansatz: Der große gedankliche Bogen, den es hier nachzuvollziehen gilt, fußt in Böhmes allgemeinem ästhetiktheoretischen Ansatz (3.1), erstreckt sich über den Gedanken einer ,Neuen Ästhetikʻ (3.2) sowie damit verbundene wahrnehmungstheoretische Überlegungen (3.3) und reicht bis zu seinen Ausführungen, das alltägliche Wahrnehmen (gebauter) menschlicher Umwelten (3.4) betreffend.

3.1 ALLGEMEINER ANSATZ Wie Gernot Böhme selbst einmal, Johann Wolfgang von Goethe zitierend, deutlich macht, spielt es eine wichtige Rolle, von welcher Seite her man sich einem Bereich nähert. Im Fall Gernot Böhmes ist dies die Frage nach dem Menschen als einem physisch, oder in den Worten Böhmes: einem leiblich verfassten Wesen, das konstitutiv auf eine Umwelt angewiesen ist, welche die Richtung für sein Arbeiten im Bereich der philosophischen Ästhetik weist.1 Den Ausgangspunkt bilden dabei philo1

Neben seinen Beiträgen zur Ästhetik- und Umwelttheorie umfasst Böhmes umfangreiches und vielgestaltiges Arbeiten auch Schriften zur griechischen Philosophie (Platons theoretische Philosophie; Platon im nach-metaphysischen Zeitalter), zur Naturphilosophie (Klassi-

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sophiehistorische Betrachtungen zur Ästhetik der Natur. Einer solchen stellt Gernot Böhme seine Vorstellung einer ökologischen Naturästhetik2 gegenüber. Denn anders als in den neuzeitlichen ,Naturwissenschaftenʻ oder in den Naturreflexionen der traditionellen Ästhetik der Fall, möchte Böhme Natur nicht allein im Sinn eines Gegenübers oder eines Objektes verstanden wissen, dem es mit interesselosem Wohlgefallen zu begegnen gelte. Vielmehr sei Natur als ‚Um-Weltʻ im wörtlichen Sinn aufzufassen, oder wie Böhme es metaphorisch mit einem Karl Marx entlehnten Begriff ausdrückt, als eine Art ‚anorganischer Leibʻ, der den organischen Leib des Menschen erweiternd umgebe. Dieses Verständnis lässt Natur nicht im Sinn Adornos als das Andere des Menschen erscheinen, sondern es hebt eine strikte dichotome Unterscheidung zu Gunsten einer Sicht auf, die den Menschen ebenso als Kultur- wie als Naturwesen versteht. Ebendiese Sichtweise ist es auch, die die Frage des Natur- und Umweltschutzes für Gernot Böhme so zentral erscheinen lässt. Dieser dient für Böhme nicht allein einem Selbstzweck, im Sinn eines Erhalts von vermeintlich autarken, vom Menschen unabhängigen Ökosystemen. Vielmehr bestehe eine unauflösliche Verbindung zwischen naturhaften Aspekten in der Umgebung des Menschen und am Menschen selbst.3 Dieser Umstand bindet den Menschen bereits aus gewissermaßen utilitaristischen Gesichtspunkten an die Natur. Denn Fragen wie jene der Verschmutzung von Wasser, Luft und Erde stellen sich nach Böhme nicht allein als äußere Probleme dar, sondern sie bedeuten zugleich eine Gefährdung der Gesundheit des Menschen als einem physisch, einem leiblich verfassten Wesen. Gernot Böhme hierzu: Was wir das Umweltproblem nennen, ist primär ein Problem der menschlichen Leiblichkeit. Es wird überhaupt nur drängend, weil wir letztlich die Veränderungen, die wir in der äußeren Natur anrichten, am eigenen Leib spüren. [...] Mit dieser Erfahrung wurde plötzlich deutlich, daß [...] das Umweltproblem [...] deshalb primär eine Frage der Beziehung des Menschen zu sich selbst [ist].4

Der Bereich der Ästhetik besitzt für Böhme nun deshalb Relevanz, als aktuelle Veränderungen in der natürlichen Umwelt nicht nur in traditionellem Sinn, von einer distanzierten, urteilenden Warte aus, als ästhetisch negativ zu bewerten seien, son-

2 3

4

ker der Naturphilosophie; Die Natur vor uns. Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht), zur Leibphilosophie (Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht), zur Ethik und Technikethik (Ethik leiblicher Existenz. Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur; Invasive Technisierung. Technikphilosophie und Technikkritik; Fragwürdige Medizin. Unmoralische Forschung in Deutschland, Japan und den USA im 20. Jahrhundert), zum Themenfeld Krankheit und Schmerz (Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen) u.a. Siehe: Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989). Kritische Stellungnahmen zu Böhmes Natur- und Umweltverständnis finden sich in: Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991) S.217; oder in Anne Kemper, Unverfügbare Natur – Ästhetik, Anthropologie und Ethik des Umweltschutzes (Frankfurt a.M.: Campus, 2001) S.94. Gernot Böhme, Atmosphäre (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995) S.14.

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dern da sie sich auch unmittelbar auf die menschliche Physis und somit, im doppelten Sinn des Wortes, das Sich-Befinden des Menschen auswirkten. Diesen Gedanken auf den Punkt bringend formuliert Böhme: Von der Ökologie ausgehend stellt sich die Frage nach dem Sich-Befinden in Umgebungen. Und dies ist eine ästhetische Frage.5 Doch noch ein anderer Umstand trägt nach Böhme zur Aktualität des Ästhetischen bei. Dies ist „die progressive Ästhetisierung der Realität, d.h. des Alltags, der Politik, der Ökonomie“.6 Böhme schließt sich in diesem Punkt einer Sicht an, wie sie auch Wolfgang Welsch in seinem Ästhetischen Denken7 und seinen Grenzgängen der Ästhetik8 entfaltet (vgl. Kapitel 2). Allerdings legt Böhme Wert darauf, sich nicht nur von Welsch, sondern auch von anderen zeitgenössischen Ansätzen zur Ästhetik, insbesondere aus dem Umfeld der Postmoderne, abzuheben. So weist Böhme zwar mit Jean Baudrillard auf die Veränderung des Realitätsbegriffs, auch und nicht zuletzt durch den Einsatz neuer Medientechnologie hin. Und Jean-François Lyotard stimmt er generell in dessen Formulierung einer ‚condition postmoderneʻ zu.9 Markierungen, mit denen Böhme seine Differenz zu besagten Autoren deutlich macht, setzt der Theoretiker jedoch ebenso gezielt. So sieht Böhme in der medienkritischen Theorie eine wichtige, letztlich aber einseitige Stellungnahme, die übersehe, „dass das Abheben in eine medienvermittelte Realität durch eine Welle neuer Unmittelbarkeit konterkariert wird.“10 Und Bezug nehmend auf Jean-François Lyotard merkt er kritisch an: Wenngleich mit der Rede vom Postmodernismus die Ästhetisierung der gesellschaftlichen Realität gut beschrieben ist, eine Theorie dieser Ästhetisierung ist sie noch nicht.11

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Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.15. Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.7. Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken (Stuttgart: Reclam, 1990). Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 1996). Siehe Kap. 1. Als Beispiel gibt Böhme die Ausweitung der Telekommunikation, die nicht zu der einst erwarteten Abnahme, sondern gerade im Gegenteil zu einer Zunahme des Reisens geführt habe. Menschen bewegten sich nicht nur virtuell, sondern auch ganz real, physisch immer mehr – sei es in Form von Reisetourismus oder in der Arbeitswelt: „Man fährt, man fliegt, man will zusammen sein: face to face“. Ähnliches ließe sich angesichts von Bereichen wie Medizin, Kosmetik, Sport, Lifestylepraktiken beobachten. Auch diese zeigten, dass sich die aktuelle technische und mediale Entwicklung „in Wahrheit wie ein Vexierbild in zweierlei Weise [lesen lässt – Einfügung B.H.]. Gerade die technische Entwicklung hat dem Menschen seinen Leib zurückgegeben: als Arbeitskraft freigesetzt, könnte nun der Leib Gefäß persönlicher Erfüllung sein. Gerade die Bedrohung der menschlichen Natur durch technische Reproduktion seines Körpers hat Leiblichkeit als zentralen Inhalt der Menschenwürde entdecken lassen. Die Zerstörung der Natur hat erst zum Thema gemacht, dass der Mensch selbst Natur ist“; Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O.; Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O, S.115. 11 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.10.

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Was Gernot Böhme einfordert, ist also eine Theorie, und zwar eine solche, die beide zentralen Problemfelder, jenes der Bedrohung der (natürlichen) Umwelt ebenso wie die fortschreitende Ästhetisierung der menschlichen Lebenswirklichkeit, systematisch zu erfassen vermag. Böhme selbst unternimmt den Versuch einer derartigen Theoriebildung im Rahmen dessen, was er als ‚Neue Ästhetikʻ 12 – oder zuweilen alternativ auch als ‚Aisthetikʻ13 – bezeichnet. Kritische Absetzung und Anknüpfungspunkte der Neuen Ästhetik Gernot Böhmes Neue Ästhetik gründet in dem Gedanken der Notwendigkeit einer Diskussion aktuell virulenter Problemfelder unter ästhetiktheoretischen Gesichtspunkten, wobei sich diese Diskussion nicht einfach in bestehende Ansätze einfügen soll, sondern es gerade umgekehrt darum geht, eine neue Ästhetiktheorie „aus ihren eigenen Fragestellungen heraus zu entwickeln“.14 Angesichts dieser ebenso berechtigten Feststellung wie nicht eben geringen Herausforderung stellt sich die Frage nach Möglichkeiten des Anknüpfens bzw. einer kritischen Distanzierung zu bestehenden Positionen. Oben genannte Ansätze aus dem Umfeld der Postmoderne bilden für Böhme in dieser Hinsicht eher einen losen Bezugsrahmen, der es erlaubt, das eigene Projekt in einem Diskurs zu verorten und den Geltungsanspruch des eigenen Vorhabens diesem gegenüber zu demarkieren. Wo aber, fragt der Theoretiker, finden sich nun konkrete Punkte, an die konzeptionell angeschlossen werden kann bzw. solche, von denen es sich explizit zu distanzieren gilt? Konkrete Ansatzpunkte für eine kritische Distanznahme findet Böhme im Bereich der traditionellen Ästhetik. Denn für Gernot Böhme stellen Autoren wie Kant und Hegel nicht nur einflussreiche Positionen für die Herausbildung eines traditionellen Ästhetikverständnisses dar, sie verkörperten vielmehr paradigmatische Wendepunkte innerhalb eines solchen. Zum Einfluss Kants äußert Böhme: „In der Ästhetik geht es dieser Entwicklungslinie [der kantischen – Anmerkung B.H.] zufolge genaugenommen nicht um Erkenntnis, sondern um Beurteilung“. Während es die Ästhetik Kants aber immerhin noch erlaube, Fragen des Kunsthandwerks oder der Natur, die bei diesem sogar das „wesentliche Paradigma sowohl von Schönheit als auch von Erhabenheit“ abliefere, thematisch einzubeziehen, mutierten derlei Themenfelder mit dem Übergang von einem kantischen zu einem hegelschen Paradigma „zu einem Vorhof der eigentlichen Ästhetik“. Beide Entwicklungstendenzen im Verbund, führten schließlich zu folgendem Ergebnis:15 Durch die Orientierung der Ästhetik an der Kunst und aufgrund ihrer Entwicklung als Theorie des Beurteilungsvermögens orientierte sie sich naturgemäß immer mehr an der hehren, der wahren, der großen Kunst, unter deren Perspektive dann alle anderen Felder ästhetischer Gestaltung als bloßes Kunstgewerbe, als Kulturindustrie oder Kitsch abqualifiziert wurden.16

12 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.7. 13 Gernot Böhme, Aisthetik – Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre (München: Wilhelm Fink Verlag, 2001). 14 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.11. 15 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.17. 16 Ebd.

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Allerdings sind es für Gernot Böhme heute gerade die Fragen einer zunehmenden Ästhetisierung des Alltags sowie die ökologische Frage – und somit die Themenbereiche Natur/Umwelt und Gestaltung des Alltags/Alltagsdesign –, die einer ästhetiktheoretischen Bearbeitung bedürfen. „Worauf“ also, wenn nicht auf diese Tradition, „sollte man die Ästhetik gründen?“17 Ein wichtiger Anknüpfungspunkt findet sich für Böhme bei Alexander G. Baumgarten und dessen Bestimmung der Ästhetik im Sinn einer „sciencia cognitionis sensitivae“. Denn von der Warte einer ökologischen Naturästhetik aus betrachtet, deren Grundfrage mit der „Frage der Beziehung von Umgebungsqualitäten zur menschlichen Befindlichkeit“ 18 angegeben werden könne, gehe es weder darum, Natur oder die ästhetische Gestaltung des Alltags normativ, unter Gesichtspunkten des Geschmacks, zu ‚beurteilenʻ noch darum, eine „ökologische Betrachtungsweise, die rein naturwissenschaftlich bleibt“19, zu entwickeln. Vielmehr sollte nach Böhme das Bestreben heute eben darin liegen, eine naturwissenschaftlich-ökologische Perspektive „so zu ergänzen, dass darin die Natur auch in Hinblick auf das, was sie für den Menschen bedeutet, seine Empfindung und seine Befindlichkeit behandelt wird.“20 Eben an dieser Stelle werden für den Theoretiker jene Bezugspunkte in der weiteren und jüngeren Geschichte der Ästhetik von Interesse, die zentral nach der menschlichen Physis und deren Perzeptivität fragen; also neben Alexander G. Baumgartens Ansatz etwa die psychologische Ästhetik und die phänomenologische Tradition. Allerdings sei es, wie Böhme konstatiert, heute nicht einfach möglich, nahtlos an derartige Ansätze aus der alternativen Historie der Ästhetiktheorie anzuknüpfen. Denn letztlich seien auch diese unweigerlich mit ihrer jeweiligen Zeit und einem spezifischen geistesgeschichtlichen Zeitkolorit verbunden. Die Herausforderung bestehe somit darin, wie Böhme Bezug nehmend auf Baumgartens Unterfangen, die Ästhetik als eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis zu gründen – ein Ansatz, der „als solcher im Grunde nie voll entfaltet und systematisch ausgearbeitet“21 worden sei – feststellt, historische Ansätze ihrer Intention nach, aber in zeitgemäßer Form zu (re-) formulieren und zu (re-)konzipieren: Es lohnt sich [...], das Unternehmen der Ästhetik gewissermaßen zu wiederholen, d.h. den ursprünglichen Ansatz einer Ästhetik als Theorie der sinnlichen Erkenntnis, der so schnell verlassen wurde, auszuarbeiten.22

17 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.11. 18 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.23. 19 Denn, wie Böhme an anderer Stelle weiter ausführt: „Die Natur, die in der Naturwissenschaft Gegenstand ist, ist nicht in menschlicher, und das heißt sinnlicher Erfahrung gegeben, sondern stets vor dem Apparat, im instrumentellen und experimentellen Zusammenhang. Im Rahmen der ökologischen Fragestellung interessiert aber gerade die Natur, wie sie den Menschen unmittelbar angeht, wie sie ihn leiblich und affektiv betrifft, d.h. die Natur in ihrer sinnlichen Gegebenheit.“ Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.23/S.24. 20 Ebd. 21 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.12. 22 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.27.

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3.2 P HILOSOPHISCHE G RUNDLAGEN

EINER

N EUEN ÄSTHETIK

Böhmes Anspruch besteht darin, aktuell virulente Fragestellungen – insbesondere die zunehmende Ästhetisierung des Alltags (bzw. die Frage einer gewachsenen Rolle des Alltagsdesigns) und die ökologische Problematik (als einem die Natur wie den Menschen betreffenden Faktor) zu thematisieren; und dies von einer systematischen Warte aus. Der Weg, den Böhme hierzu einschlägt, führt über einen Ansatz, der sich bereits in der Geschichte der Ästhetiktheorie ausmachen lässt und der neben den drei zentralen Strängen einer Philosophie der Kunst, der Schönheit, des Geschmacks, als ein vierter, wenn auch zumeist unterschwelliger und nur latent an die Oberfläche tretender, alternativer disziplinärer Strang gesehen werden kann: Nämlich eine Erforschung der sinnlichen Wahrnehmung im Sinn einer sinnlichen Erkenntnis. Die Bedingungen, denen sich ein solches Unterfangen zu stellen habe, fasst Böhme wie folgt zusammen: Wenden wir uns den Bedingungen zu, die der Ästhetik als Wahrnehmungslehre von ihren Aufgaben her gestellt sind. Als ökologische Naturästhetik soll sie die Beziehung von Umgebungsqualitäten zur menschlichen Befindlichkeit bestimmen. Es geht also um die Frage, wie wir Umgebungen am eigenen Leib spüren. Wahrnehmung ist also als Befindlichkeit zu konzipieren im Sinne von Spüren, in welcher Umgebung man sich befindet.23

Dabei gelte es auf der Seite der sinnlichen Wahrnehmung das Folgende zu berücksichtigen: Gegenüber dem traditionellen Begriff der Sinnlichkeit als Konstatieren von Daten ist in die volle Sinnlichkeit das Affektive, die Emotionalität [...] aufzunehmen. Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet.24

Doch auch was die Seite des Wahrgenommenen, der natürlichen Umwelt und der ästhetisierten Alltagsumgebungen, in denen Wahrnehmungen stattfinden, betrifft, müsse eine entsprechende Betrachtungsperspektive Einzug halten: Wenn man ihnen [den wahrgenommenen Umgebungen – Anmerkung B.H.] mit einer Theorie der Wahrnehmung begegnen will, so muss Wahrnehmung als ästhetisches Bedürfnis deutbar sein wie umgekehrt auch Wahrgenommen-werden-Wollen. Die Ästhetisierung des Realen, d.h. ihre Inszenierung macht nur Sinn, wenn sie mit einem Begehren rechnen kann, das sich an der Wirklichkeit des Erscheinens befriedigt.25

Somit wären drei wichtige, für Böhmes weitere Theoriekonzeption richtungsweisende Aspekte benannt, an denen sich eine Neue Ästhetik im Sinn einer Lehre der sinnlichen Wahrnehmung zu orientieren habe. Um diese im Hinblick auf ihre konzeptionelle Rolle noch einmal zusammenzufassen: Es geht für Böhme also a) darum, das Verhältnis wahrnehmender Mensch und wahrgenommene Umgebung als Verhältnis 23 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.31. 24 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.15. 25 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.31.

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zu thematisieren und in diesem Sinn konzeptionell auszuarbeiten (i.e. nicht im Sinn von zwei voneinander zu trennenden Sphären, die isoliert von einander betrachtet werden können, sondern gerade im Gegenteil: im Sinn einer wechselseitig konstitutiven Konstellation); b) darum, wie auf der einen Seite dieser Konstellation, nämlich jener der wahrnehmenden Menschen, ein Umraum erfahren wird – und dies nicht im Sinn eines mechanischen Konstatierens von Sinnesdaten, sondern der affektiven Qualität nach; c) darum, was auf der anderen Seite jener Konstellation, also der wahrgenommenen Umgebung, eine solche Wirkung hervorruft, bzw. wie es, personifizierend ausgedrückt, einem jeweiligen Wahrnehmungsraum überhaupt möglich ist, auf das menschliche Wahrnehmen einzuwirken. Dingontologie Um den identifizierten Herausforderungen in angemessener Weise begegnen zu können, muss sich Gernot Böhmes Neue Ästhetik nicht allein im Bereich der Ästhetik grundlegend neu verorten. Auch ‚harte Grundʻ der Ontologie wird dabei berührt. Um sich darüber klar zu werden, inwiefern Böhmes diesbezügliche Überlegungen, wie sie im Weiteren dargestellt werden, von anderen Vorstellungen divergieren, bedarf es an dieser Stelle eines kurzen Exkurses in unterschiedliche Wahrnehmungsmodelle und damit korrelierende ontologische Konzepte. Hierzu ein einfaches Beispiel: „Welche Farbe hat ihr Auto?“, so könnte eine übliche Frage lauten, wie sie uns im Alltag gestellt wird, und angenommen, es handelt sich dabei um Rot, so würde die Antwort wohl lauten: „Mein Auto ist rot.“ Der Gefragte würde kaum sagen „Ich persönlich nehme mein Auto als rot wahr (es kann aber sein, dass ein anderer es als grün wahrnimmt)“ und ebenso wenig „Mein Auto erscheint mir tagsüber als rot (in der Dämmerung hingegen als grau-braun und nachts als fast schwarz).“ Wie ein einfaches Beispiel zeigt, scheint es in einem alltäglichen Fall auszureichen, ein sehr einfaches und – bewusst oder unbewusst – reduktionistisches Modell des Wahrnehmens anzuwenden. Ein solches Modell, wie es in der gegebenen Frage und in den Antworten impliziert scheint, wird üblicherweise als Kamera-Modell bzw. Kamera-Abbild-Modell des Wahrnehmens bezeichnet, da es den Wahrnehmungsvorgang ähnlich der Funktionsweise einer Foto- oder Filmkamera beschreibt: Draußen, vor dem Objektiv der Kamera (dem menschlichen Auge), befindet sich ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften. Die Kamera (das Auge) registriert diese Eigenschaften und bildet sie auf einem Fotopapier bzw. einem Display (der Netzhaut) ab, so dass wir es (im Gehirn) originalgetreu betrachten können. Was einem derartigen Modell des Wahrnehmens in erkenntnistheoretischer Hinsicht zu Grunde liegt, ist eine Abbildtheorie. Dieser Vorstellung gemäß existieren auf der einen Seite ‚Dingeʻ mit bestimmten ‚Eigenschaftenʻ, auf der anderen Seite der Mensch, der diese Eigenschaften der Dinge ‚objektivʻ, mittels seines Wahrnehmungsapparates, erfasst.26 26 Der Gedanke einer Abbildtheorie geht erkenntnistheoretisch einher mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit, welche den Zusammenhang von Abbild und Abgebildetem weiter erklärt. Eine einfache und grundlegende Definition einer Korrespondenztheorie liefert bereits Thomas von Aquin, wenn er formuliert: „Veritas est adaequatio intellectus et rei.“ Also: Wahrheit ist die Übereinstimmung von Denken und Sache. Vgl. Gudrun Schulz, Veritas est adaequatio intellectus et rei – Untersuchungen zur Wahrheitslehre des

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Ein Problem eines derartigen Kamera-Modells wird nun bereits anhand der oben gegebenen alternativen Möglichkeiten, auf die Frage nach der sinnlich-wahrgenommenen Qualität eines Gegenstandes zu antworten, offensichtlich. Denn selbstverständlich wäre es ebenso möglich, mit „Ich persönlich nehme mein Auto als rot wahr“ zu antworten und damit auf die Eventualität inter-individueller Abweichungen im Farbwahrnehmen zu verweisen. (Rot mag einer Person bspw. physiologisch bedingt, als Folge einer Linsentrübung oder auf Grund einer abweichenden Anzahl an rot-empfindlichen Zäpfchen in der Netzhaut, als eher blaustichig bis violett, einer anderen Person als eher gelbstichig bis orange erscheinen.) Ebenso berechtigt wäre es, die Frage mit „Mein Auto erscheint bei Tageslicht als rot“ zu beantworten, wodurch auf die lichtabhängige Relativität von Farbe verwiesen würde. (Das Auto mag je nach Tageszeit, Beleuchtungssituation, Art der Lichtquelle etc. farblich unterschiedlich wirken.) Beide Aspekte weisen also darauf hin, dass ‚rot seinʻ im Grunde keine fixe ‚Eigenschaftʻ ist, die das Auto ‚hatʻ, sondern dass eine Farbwahrnehmung stets auf mehreren konstituierenden Faktoren beruht, die letztlich nur im Sinn einer Konstellation, eines Wechselbezugs, sowie in einem spezifischen Kontext als ‚rot seinʻ bezeichnet werden können. Dennoch tendieren alltagssprachliche Formulierungen dazu, komplex verfasste Sachverhalte wie ‚die Farbe des Autosʻ in einfache Sachverhalte wie die ‚Eigenschaftʻ, die ein ‚Dingʻ an sich trägt, die es ‚besitztʻ, zu zergliedern. Zurück zu Gernot Böhme: Für diesen zeigen sich Reduktionismen und Simplifizierungen, wie die genannten, nicht allein in Form alltäglicher Sprechakte: „Wenn wir etwa sagen, die Tasse sei blau, dann denken wir an ein Ding, das durch die Farbe Blau bestimmt ist, also sich von anderen unterscheidet. Diese Farbe ist etwas, was das Ding hat.“ Bestimmte Sprechweisen müssen also nicht, können aber durchaus ein Indiz für spezifische ontologische Vorstellungen sein, die mit diesen einhergehen. Böhme bezeichnet eine Vorstellungsform, die komplexe Sachverhalte wie das Farbsehen im Sinn von ‚Dingʻ und ‚Eigenschaftʻ konzipiert, nun als ‚Dingontologieʻ. Einer solchen dingontologischen Vorstellung gemäß werden die „Form, die Farbe, ja sogar der Geruch eines Dings [...] gedacht als dasjenige, was das Ding von anderen unterscheidet, nach außen hin abgrenzt, nach innen hin zu einem macht, kurz: Das Ding wird in der Regel in seiner Verschlossenheit konzipiert.“27 Demgegenüber sind aber, wie Böhme ausführt, nicht nur andere, möglicherweise ungewöhnlich wirkende, dabei präzisere Sprechweisen, sondern auch alternative Denkweisen möglich: Das Blausein der Tasse kann aber auch ganz anders gedacht werden, nämlich als die Weise, oder besser gesagt, eine Weise, in der die Tasse im Raum anwesend ist […]. Das Blausein der Tasse wird dann nicht als etwas gedacht, was auf die Tasse in irgendeiner Weise beschränkt ist und an ihr haftet, sondern gerade umgekehrt als etwas, das auf die Umgebung der Tasse ausstrahlt [...].28

Thomas von Aquin & zur Kritik Kants an einem überlieferten Wahrheitsbegriff (Leiden: E.J.Brill, 1993) S.VII. 27 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.32. 28 Ebd.

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Eine Sichtweise, wie Gernot Böhme sie hier vorschlägt, kehrt eine konventionelle Vorstellung, ein Denken in Form von ‚Dingʻ und ‚Eigenschaftʻ, gezielter maßen um. Dabei orientiert sie sich nicht an solchen ontologischen Vorstellungen, die eine Wahrnehmungsqualität als Erscheinungsweise eines essentiellen Dings interpretieren (eine Sicht, wie sie durch die platonische Ideenlehre stimuliert und spätestens durch John Lockes Unterscheidung in messbare primäre Qualitäten, wie Zahl, Größe, Härte, und vermeintlich subjektive sekundäre Qualitäten, wie Farbe, Geschmack, Geruch, zementiert wurde), sondern sie wendet sich, in phänomenologisch motivierter Manier, den Erscheinungen selbst als Bestandteile einer unhintergehbaren Erfahrungsrealität zu. Oder in anderen Worten: Böhme schlägt eine Sichtweise vor, die nicht nur sprachliche oder wahrnehmungstheoretische Konsequenzen impliziert, sondern ebenso ontologische: Das Ding wird so nicht mehr durch seine Unterscheidung gegen anderes, seine Abgrenzung und Einheit gedacht, sondern durch die Weisen, wie es aus sich heraustritt. Ich habe für diese Weisen, aus sich heraus zu treten, den Ausdruck „die Ekstasen des Dings“ eingeführt.29

Ekstasen, Physiognomien, Atmosphären Zur Entwicklung seines philosophischen, insbesondere von der Phänomenologie30 her beeinflussten Modells des sinnlichen Wahrnehmens, entwickelt Gernot Böhme ein eigenständiges Vokabular. Ein erster Begriff, den Böhme zur Fundierung seines Modells der Wahrnehmung als Form sinnlicher Erkenntnis einführt, ist jener der ‚Ekstaseʻ. Bei diesem orientiert sich der Theoretiker nicht an einer heute üblichen, alltagssprachlichen Verwendung, sondern am altgriechischen Wortstamm des Terminus, der so viel wie ein ‚Aus-sich-Heraustretenʻ bezeichnet. Böhme betont in diesem Kontext ausdrücklich: „Der Ausdruck Ekstase ist terminologisch zu verstehen, d.h. er wird eigens eingeführt für das, was er bezeichnen soll“31 – nämlich für die Art und Weise, wie Wahrnehmungsqualitäten, im Akt des Wahrnehmens, erscheinen. Für Böhme gilt es dabei, alle möglichen Qualitäten, die üblicherweise in Form von ‚Eigenschaftenʻ gedacht werden, auf diese Weise zu fassen – also neben Farben etwa auch Geruch, Form, Gewicht, Klang als ekstatisch verfasst zu verstehen. (Was es, im Gegensatz zu der oben erwähnten Dichotomie von vermeintlich ‚objektivenʻ primären und vermeintlich ‚subjektivenʻ sekundären Qualitäten übrigens nicht zuletzt erlaubt, alle Wahrnehmungsqualitäten als prinzipiell gleichberechtigt zu denken und zu behandeln.32) Gleiches, nämlich ein ‚terminologischesʻ Verständnis, gilt auch für den Begriff der ‚Physiognomieʻ. Auch dieser, als ein alltagssprachlich konnotierter und zudem 29 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.33. 30 „Phänomenologie [...] ist allgemein verstanden die Lehre von den Erscheinungen. [...] Mit E. Husserl wird die Phänomenologie methodisch völlig neu begründet und zum Namen einer das 20. Jh. in weiten Teilen dominierenden philosophischen Richtung.“ Eine ausgezeichnete Kurzeinführung in die Phänomenologie gibt Dan Zahavi, Phänomenologie für Einsteiger (München: Wilhelm Fink, 2007). Siehe auch Fn. 38 und 44 sowie Kap. 4, 5, 11. Zitat: Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch (Stuttgart: Kröner, 2009) S.550. 31 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.131. 32 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.33.

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auf Grund seiner historischen Verwendungsweise heute nicht gänzlich unbelasteter Ausdruck33, ist bei Böhme im Sinn eines spezifischen Arbeitsbegriffs zu verstehen. Während der Ausdruck ‚Ekstaseʻ Böhme dazu dient, die allgemeine Weise zu bezeichnen, wie Wahrnehmungsgegenstände mittels bestimmter Qualitäten (wie Farbe, Geruch, Form) im Akt des Wahrnehmens gleichsam ‚aus sich herausʻ und ‚in Erscheinungʻ treten, so bezieht sich der Ausdruck ‚Physiognomieʻ auf ein ähnliches Phänomen, jedoch nicht im Hinblick auf einzelne Wahrnehmungsgegenstände, sondern bezüglich synthetischer Erscheinungsformen, wie etwa die Physiognomie eines Menschen oder die einer Landschaft. Ebenso wie der operative Begriff ‚Ekstaseʻ zielt auch der Ausdruck ‚Physiognomieʻ gerade nicht auf ein vermeintlich inneres Wesen, das an der Oberfläche zum Ausdruck käme und hier wahrgenommen werden könnte, sondern er meint (man denke zurück an das Beispiel des ‚Blauseins der Tasseʻ) gerade im Gegenteil einen Eindruck, wie er im Wahrnehmen entsteht, ohne jedoch weitere Rückschlüsse auf ein vermeintlich Inneres zu erlauben.34 Als zentraler Baustein im Fundament der böhmeschen Wahrnehmungstheorie – sowie in dessen Ästhetiktheorie insgesamt – fungiert jedoch ein anderer, dritter Begriff. Dies ist der Ausdruck ‚Atmosphäreʻ. Anders als die beiden zuvor genannten Ausdrücke orientiert sich dieser stärker an einer alltagssprachlichen Verwendung.35 So meint Böhme damit Phänomene, wie etwa die ‚bedrohlicheʻ, ‚erhabeneʻ oder ‚sanft-melancholischeʻ Atmosphäre, wie wir sie angesichts eines bewölkten Gewitterhimmels oder einer Landschaft verspüren mögen, die ‚konzentrierteʻ oder ‚heitereʻ Atmosphäre, die in einer Gruppe von Personen herrschen kann, oder etwa die ‚gemütlicheʻ, ‚eleganteʻ oder ‚gediegeneʻ Atmosphäre eines Interieurs. Allerdings werde der Begriff der ‚Atmosphäreʻ im Alltag, so Böhme, oft eher als pauschales Substitut für schwer Ausdrückbares gebraucht, worin der Theoretiker einen Grund dafür sieht, dass Atmosphären in der philosophischen Tradition (mit der Ausnahme Walter Benjamins) kaum Aufmerksamkeit erfahren haben und „für jede wissenschaftliche Untersuchung“ sogar als regelrechte „Undinge“ gelten.36 Die diffuse alltagssprachliche Verwendungsweise und der schwer zu greifende Charakter von Atmosphären seien jedoch kein Hinderungsgrund dafür, so Gernot Böhme weiter, das bezeichnete Phänomen begrifflich präzise zu fassen und philosophisch ernst zu nehmen. Denn:

33 Böhme hierzu: „Die Physiognomik hat eine lange Geschichte, die wir nur in kritischer Aneignung für unsere Zwecke nutzbar machen können.“ Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.104. 34 Böhme bezieht sich mit seiner Interpretation des Begriffs der Physiognomie auf Ludwig Klages. Schon dieser habe, wie Böhme ausführt, die Selbstständigkeit von physiognomischen Wirkungen und die Unmöglichkeit, über diese Rückschlüsse auf ein vermeintliches inneres Wesen zu ziehen, konstatiert. In diesem Sinn sei bei Klages: „Die These von der [...] Selbstständigkeit [...] von der resignativen Einsicht getragen, daß die Physiognomie eines Menschen eine Verheißung enthalten kann, die die Person, um deren Physiognomie es sich handelt, nicht erfüllt.“ Vgl. Gernot. Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.28. 35 Vgl. Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.51. 36 Böhme sieht Benjamins Aura-Begriff als verwandten Referenzpunkt. Vgl. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.19; sowie Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.25ff.

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Unbestimmt sind Atmosphären vor allem in Bezug auf ihren ontologischen Status. Man weiß nicht recht, soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben oder den Subjekten, die sie erfahren.37

Diesen Umstand hält Böhme nicht zwangsläufig für ein Defizit. Vielmehr sieht er darin gerade den philosophisch reizvollen Aspekt, um nicht zu sagen, das eigentliche philosophische Potential des Begriffs. Denn in der schwer zu fassenden ontologischen Zwischenstellung von Atmosphären komme auf geradezu paradigmatische Weise ein Umstand zum Ausdruck, den Böhme angesichts des sinnlichen Wahrnehmens im Allgemeinen für gegeben ansieht: So sind Atmosphären einerseits, wenn auch nicht als mathematisch-physikalisch beschreibbare oder messbare Tatsachen, wohl aber als Tatsachen in der Wahrnehmung vorhanden. Somit müssen sie im Sinn der phänomenologischen Tradition, die, wie der Phänomenologe Hermann Schmitz formuliert, all das als Phänomen anerkennt, was „nicht im Ernst geleugnet werden kann“38, als real gegeben angesehen werden. Als Beleg für die ‚nicht zu leugnendeʻ, somit faktische Gegebenheit von Atmosphären führt Böhme zwei Sachverhalte an: Erstens den Umstand, dass sie einen Umraum auszufüllen bzw. diesen selbst zu konstituieren vermögen, so dass wir in sie hineingeraten und durch sie in unserer Befindlichkeit, wie Böhme sagt, ‚tingiertʻ, d.h. beeinflusst und umgestimmt werden können39; zweitens den Umstand, dass Atmosphären sich gezielt herstellen lassen (etwa, 37 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.22. 38 Hermann Schmitz’ Neue Phänomenologie unterzieht die klassische Phänomenologie eines Edmund Husserl einer kritischen Revision. Prinzipiell schließt sich Schmitz der husserlschen Phänomenologie sowie deren zentraler Methode, der phänomenologischen Reduktion, an, etwa, wenn er sie mit den folgenden Worten beschreibt: „Um [eine] erkenntnistheoretische Fundamentalfrage triftig zu beantworten, gibt es nach meiner Überzeugung kein anderes Mittel, als die stets zu erneuernde und unvollendbare phänomenologische Reduktion, d.h. die Prüfung alles Erdenklichen an der Frage: Was drängt sich bei jeder Variation beliebiger Annahmen hartnäckig so auf, daß sein Vorkommen nicht im Ernst geleugnet werden kann?“ Andererseits mahnt Schmitz die Notwendigkeit an, sich dabei den folgenden Umstand stets vor Augen zu führen: „Die phänomenologische Reduktion ist [...] nie mehr als ein provisorisches Gedankenexperiment, nicht etwa Alladins Wunderlampe oder ein Sprung ins Paradies zweifelloser Gewißheit.“ Diese Unmöglichkeit eines Rückgriffs auf erste oder letzte Gewissheiten, die Schmitz an dieser Stelle – implizit Husserl kritisierend – zu bedenken gibt, betrifft allerdings nicht nur die Phänomenologie. Vielmehr habe sich letztlich jegliche Form des Erkenntnis- und Wissenserwerbs dieser Tatsache zu stellen. Schmitz selbst hierzu: „Andererseits gibt es in letzter Instanz gar keine andere Quelle der Verbindlichkeit theoretischer Feststellungen […].“ Weitere Anmerkungen zu Schmitz, siehe Abschnitt 3.3 und Kap. 11, Fn 81. Zitat: Hermann Schmitz, Leibliche Quellen der Zeiterfahrung und das Augustinische Problem; in: Hermann Schmitz, Subjektivität – Beiträge zu Phänomenologie und Logik (Bonn: Bouvier Verlag, 1968) S.69-82. 39 Böhme bezeichnet diesen Sachverhalt auch als „Ingressionserfahrung“. Er sieht darin einen Beleg dafür, dass Atmosphären nicht etwa Einbildungen oder rein subjektive Empfindungen seien, die wir selbst in einen Umraum einbringen, sondern dass diese auch von äußerlich bedingten Faktoren abhängen, welche trans-individuell erfahren werden können. Vgl. Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.46ff.

140 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT

wenn mit den Mitteln des Interior Design eine verkaufsfördernde Atmosphäre produziert wird). Andererseits sind Atmosphären zugleich unabdingbar an ein ‚Subjekt der Wahrnehmungʻ40 geknüpft, d.h. „in dem, was Atmosphären sind, ist immer ein subjektiver Anteil“ und „sie sind überhaupt nur in der Erfahrung“.41 So entschieden Gernot Böhme für die philosophische Beachtung von Atmosphären eintritt, so wichtig ist es ihm, präzise deren philosophischen Status zu bestimmen. In diesem Sinn sind Atmosphären weder einfach ‚subjektivʻ noch schlichtweg ‚objektivʻ gegeben, dergestalt dass sie ein „transzendentes“ oder „überhistorisches“ Phänomen darstellen würden. Vielmehr können Atmosphären für Böhme an spezifische gesellschaftliche und historische Bedingungen geknüpft sein (wie der Theoretiker etwa mittels seiner Beispiele der ‚Atmosphäre der 20er Jahreʻ, der ‚kleinbürgerlichenʻ oder der ‚exotischen Atmosphäreʻ andeutet. 42 ) Auch sind sie zwar transindividuell, insofern sie eine rein individuelle Wahrnehmung überschreiten, andererseits deshalb aber nicht als ‚objektivʻ misszuverstehen, in dem Sinn, dass sie auch losgelöst von der wahrnehmenden Instanz des Menschen existieren würden. Ebendieser nicht aufzulösende Zwischenstatus zwischen Subjekt und Objekt ist es, dem Böhme in seinen Reflexionen zum Atmosphärenbegriff nachgeht. Der Schluss, zu dem er dabei letztlich gelangt, ist von fundamentaler Art: Nicht die reale Gegebenheit von Atmosphären, die weder einseitig der Seite des Subjekts noch der des Objekts des Wahrnehmens zugesprochen werden können, ist es, die zu bezweifeln ist, sondern gerade umgekehrt: Atmosphären sind ein Indiz dafür, dass ein dichotomes Konzept der Wahrnehmung aufgegeben werden muss.

3.3 AISTHETIK

ALS

W AHRNEHMUNGSLEHRE

Böhme entwickelt sein Modell des sinnlichen Wahrnehmens in unterschiedlichen Phasen. Bereits in seiner ökologischen Naturästhetik findet sich der Gedanke eines konstitutiven Verhältnisses von Mensch und Umwelt. In Atmosphäre wendet sich Böhme insbesondere dem titelgebenden Phänomen sowie den Ausdrücken Ekstase und Physiognomie zu. Zusammengeführt und im Sinn einer Wahrnehmungstheorie differenziert ausgearbeitet werden diese Ansätze in Aisthetik – Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. An dieser Stelle, jedoch noch einmal kurz zurück zu den Grundlagen der böhmeschen Aisthetik im Sinn einer Wahrnehmungstheorie. Wie aus dem bisher Dargestellten deutlich geworden sein dürfte, basiert Böhmes philosophischer wie wahr40 Der Begriff des ‚Subjektsʻ ist hier und im Weiteren nicht im Sinn des viel kritisierten modernen Subjektbegriffs misszuverstehen, sondern er bezieht sich auf die Instanz, oder wie Böhme sagt, den ‚Polʻ eines konstellativen Wahrnehmungsverhältnisses, nämlich jenen, der dem ‚Objektʻ der Wahrnehmung, also der wahrgenommenen Umwelt, gegenübersteht. Inwiefern beide Seiten nicht als autonom, sondern gerade im Gegenteil als unauflöslich aneinandergekoppelt verstanden werden müssen, dazu 3.3 Böhmes Modell der sinnlichen Wahrnehmung sowie Kap. 4, 5 und 9. 41 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.52. 42 Vgl. Böhmes Ausführungen zum sozialen Wahrnehmen: Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.31ff., S.87ff., S.102f.

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nehmungstheoretischer Ansatz auf einem zentralen Gedanken der Phänomenologie, nämlich jenem, die unmittelbare Erfahrungsrealität des Menschen (und nicht etwa ‚naturwissenschaftlicheʻ oder ‚geisteswissenschaftlicherʻ Theoriebildung) zum Ausgangspunkt der philosophischen Reflexion zu machen. Im Phänomen der Atmosphäre sieht Böhme dabei zunächst einmal ein starkes Indiz gegeben, das darauf hindeutet, dass ein (philosophischer) Wahrnehmungsbegriff per se neu zu konzipieren sei. Denn der Wahrnehmungsvorgang wird, wie Böhme auch anhand seiner Begriffe Ekstase und Physiognomie darlegt, in einer konventionellen, alltäglichen Sicht allzu leicht nach einem mechanistischen Kamera-Abbild-Modell konzipiert. Diese Vorstellung findet sich nicht nur im Alltag, sondern sie geht mit spezifischen – letztlich metaphysisch grundierten43 – erkenntnistheoretischen und ‚naturwissenschaftlichenʻ Traditionen einher. Um nun eine derartige dualistische Vorstellung zu überwinden und stattdessen ein Wahrnehmungsmodell zu entwickeln, das dazu in der Lage ist, den Zwischenstatus (zwischen Subjekt/Objekt bzw. subjektivem/objektivem Status) eines Wahrnehmungsphänomens, wie dem paradigmatischen Fall von Atmosphären, zu erklären, bedarf es einer doppelten konzeptionellen Öffnung auf fundamentaler Ebene: Einerseits dürfen die Objekte des Wahrnehmens (Gegenstände, Menschen, Landschaften etc.) nicht im Sinn einer Dingontologie als in sich verschlossen konzipiert und essentialisierend verabsolutiert werden, sondern sie sind als Objekte im Wahrnehmen zu konzipieren. Diesen Schritt vollzieht Böhme mittels seiner Ausführungen zu den Begriffen ‚Ekstaseʻ und ‚Physiognomieʻ. Andererseits muss die Seite der Wahrnehmungsinstanz, also der Mensch, ebenfalls als konstitutiv in eine Umgebung hinein geöffnet beschrieben werden. Dieser in der phänomenologischen Theoriebildung bis auf Husserl zurückgehende Gedanke findet sich in Böhmes Charakterisierung einer ökologischen Naturästhetik als einer Frage nach der „Beziehung von Umgebungsqualitäten zur menschlichen Befindlichkeit“ angedeutet. Für eine weitere Ausarbeitung greift der Theoretiker auf die Leibphilosophie von Hermann Schmitz zurück.44

43 Zur metaphysischen Grundierung philosophischer und ‚naturwissenschaftlicherʻ Theorien der Wahrnehmung siehe: Thomas Rentsch, Negativität und praktische Vernunft; a.a.O., S.340ff. 44 Explizit auf Husserl geht Böhme in diesem Kontext nicht, auf Maurice Merleau-Ponty als denjenigen Autoren, der üblicherweise mit einer Phänomenologie des Leibes (respektive des ‚chairʻ) verbunden wird, nur äußerst bedingt ein. In Architektur und Atmosphäre (S.14) merkt Böhme etwa gegenüber Richard Sennett kritisch an, dass dieser in Fleisch und Stein noch nicht einmal Merleau-Ponty erwähne. Allerdings bleibt dieser Kommentar auch in Böhmes Architektur und Atmosphäre die einzige namentliche Nennung Merleau-Pontys. In seinen Vorlesungen zur Aisthetik (S.77) wendet sich Böhme Heidegger und Merleau-Ponty im Kontext des Begriffs der ‚Befindlichkeitʻ zu. Als Punkt der Distanznahme gegenüber Merleau-Ponty ist zu entnehmen, dass Böhme dessen Ansatz, die Leiberfahrung in der Wahrnehmung – und nicht wie Böhme selbst die Leiberfahrung als Wahrnehmung – zu thematisieren, für nicht weitreichend genug hält. In diesem Sinn kann auch Böhmes Äußerung aufgefasst werden, dass sich Merleau-Ponty hauptsächlich einem „noch ganz durch Interpretation bestimmten Wahrnehmungstyp“ zuwende, während er, Böhme selbst, wie auf den folgenden Seiten näher dargelegt werden wird, kognitiv-interpretative Aspekte aus

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Hermann Schmitz’ Leibphilosophie Bei Hermann Schmitz’ Leibphilosophie handelt es sich um einen philosophischen Ansatz, den dieser im Kontext seines Versuchs einer Neubegründung der Phänomenologie, der sogenannten ‚Neuen Phänomenologieʻ, ausarbeitet, so allem voran in seinem zehnbändigen System der Philosophie. 45 Die Leibphilosophie stellt einen noch radikaleren philosophischen Versuch als Gernot Böhmes Ansatz dar, zur Konvention gewordene Anschauungen über fundamentale Fragen wie jene nach dem Verhältnis von Körper und Seele neu zu interpretieren. Im Rahmen einer historischen Anthropologie rekonstruiert Schmitz hierzu Gefühle als etwas, das nicht auf ‚innere Zuständeʻ rückführbar sei. Vielmehr ließe sich historisch früh, im homerischen Zeitalter, beobachten, dass Gefühle einst als etwas „draußen erfahren wurden, als Mächte, die erregend in die Leiblichkeit eingreifen“. 46 Die Annahme einer ‚Seeleʻ als zentralem innerlichen Organ des Empfindens erscheine in einer derartigen Betrachtungsperspektive hingegen als geradezu „phänomenwidrige Konstruktion“. Denn phänomenologisch erfahrbar sei allein der Leib. Dieser werde gespürt „in seiner Ökonomie von Spannungen und Schwellungen und ferner in affektiver Betroffenheit, die sich in leiblichen Regungen manifestiert.“47 In seinem System der Philosophie entwickelt Schmitz hierzu ein ganzes leibliches Alphabet von Zuständen: Aspekte wie das leibliche Spüren von Enge, Weite, Spannung, Schwellung, leiblichen Richtungen (u.a.), aus deren permutierender Verbindung heraus das, was üblicherweise als ‚inneres Gefühlʻ oder ‚Empfindungʻ verstanden wird, erklärbar werden soll, so etwa der Zustand einer leiblichen „Weitungstendenz“, die als Heiterkeit empfunden werde (wohlgemerkt in dieser Form, nicht etwa in konsekutiver und umgekehrter Reihenfolge), oder ein „Druckcharakter“, verbunden mit einer leiblich „niederziehenden Tendenz“, der sich als Trauer manifestiere.48 Gernot Böhme folgt Schmitz’ Leibphilosophie nun nicht in allen ihren Aspekten. So merkt Böhme Bezug nehmend auf Schmitz’ Vorstellung eines leiblichen Alphabets kritisch an49: Wenn wir auf [extreme] Beispiele wie Schreck und Schmerz auf der einen Seite und ozeanisches Gefühl auf der anderen Seite [...]blicken, könnten wir in der Tat versucht sein, alle Befindlichkeiten als Zustände leiblicher Ökonomie, nämlich als alle möglichen Zwischenzustände zwischen leiblicher Enge auf der einen und leiblicher Weite auf der anderen Seite zu interpre-

45 46 47 48 49

seinem Modell der sinnlichen Wahrnehmung ausschließt. Zu einer kritischen Sicht dieser konzeptionellen Entscheidung, siehe Kap. 5. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Gesamtausgabe Band I-V, insgesamt 10 Teilbände (Bonn: Bouvier, 2005). Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.30. Ebd. Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O. S.82. Den Ausdruck ‚ozeanisches Gefühlʻ, wie er im folgenden Zitat Verwendung findet, erklärt Böhme selbst wie folgt: „Dieser Ausdruck wurde schon von der Gestaltpsychologie verwendet und bezeichnet einen Zustand des Sich-Fühlens, in dem gerade das eigene Hier undeutlich wird und ich mich in einer Weite verliere [...] etwa wenn man sich einem betäubenden Geruch überlässt [oder beim] mittaglich dösenden Ausgleiten in sommerlicher Natur […].“ Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.79.

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tieren. [...] Aber wozu brauchte man all die vielen und fein differenzierten Ausdrücke für Befindlichkeit, wenn sie sich ebenso gut durch ein leibliches Alphabet von Enge und Weite, Spannung und Schwellung, leiblichen Richtungen und epikritischer und protopathischer Tendenz beschreiben ließen.50

Derartiger einschränkender Anmerkungen ungeachtet, die nicht zwangsläufig im Sinn einer Kritik, sondern auch als Eintreten für eine stärkere (Schmitz) oder schwächere Version (Böhme) eines pathisch-leiblichen Wahrnehmungsverständnisses interpretiert werde können51, stellt Schmitz’ Ansatz eine wichtige Referenz für Gernot Böhme dar. Denn darin findet der Autor nicht nur den Begriff der Atmosphäre in Grundzügen skizziert, sondern die schmitzsche Leibphilosophie erlaubt es auch, den Menschen ganz grundsätzlich nicht als ein Wesen zu imaginieren, das ‚einen Körper hatʻ – während es selbst potentiell losgelöst von diesem und in vermeintlich ‚viel essentiellerer Formʻ (etwa durch die christliche Religion in einer ‚Seeleʻ, durch die Psychologie in einer ‚Psycheʻ, oder durch die physiologisch-‚naturwissenschaftlicheʻ Forschung in einem ‚Gehirnʻ) aufzusuchen wäre, sondern als ein Lebewesen, dessen Physis einen elementaren und unabdingbaren Bestandteil seines Selbst darstellt. Mittels der schmitzschen Leibphilosophie wird es Gernot Böhme also möglich, die menschliche Physis (oder genauer: die spürbare Makro-Physiologie des Menschen) als etwas zu konzipieren, das zwar möglicherweise nicht allein (gemäß der radikaleren Interpretation durch Schmitz) über die Befindlichkeit eines Menschen und somit über dessen Umraum- bzw. Umweltwahrnehmung bestimmt, das aber doch einen diesbezüglich wichtigen und nicht zu unterschätzenden Einflussfaktor darstellt. Sinnliches Wahrnehmen als Wahrnehmung von Atmosphären Eine doppelte konzeptionelle Öffnung, die es erlaubt, einerseits den Menschen als physisches Wesen aufzufassen, das mittels seines Leibes konstitutiv ‚in eine Umgebung hinausʻ geöffnet ist, andererseits diese Umgebung als ‚aus sich heraustretendʻ und auf eine Wahrnehmbarkeit hin ausgerichtet zu verstehen, macht es Böhme möglich, Atmosphären als in der Wahrnehmung gegebene Realitäten, wie er sagt, „sinnvoll zu denken“. So können diese nun näher bestimmt werden als „Räume, [die] durch Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen“ geprägt sind. Atmosphären basieren in diesem Sinn auf der in den Umraum ausstrahlenden Wirkung von Wahrnehmungsgegenständen, wodurch sie selbst zu räumlich verfassten Phänomenen werden. Dabei gelte es zu beachten, dass sie dennoch zugleich „ortlos“ seien, d.h.: Zwar entstünden Atmosphären auf Grund ekstatischer, sprich räumlicher Wirkungen, andererseits seien die Räume, die sie dabei ausbildeten, nicht klar umgrenzt (in dem Sinn, wie architektonische Räume mittels Decken und Wänden klar abgegrenzt sind). Vielmehr sind sie, wie Böhme 50 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.81-82. 51 Vgl. hierzu Peter Bernhard: „[...] die These von der ‚pathischen Leiblichkeitʻ der Wahrnehmung [wird] in zwei Versionen vertreten: Die schwächere Version geht davon aus, dass das Körpergefühl jede Wahrnehmung färbt. Dagegen behauptet die stärkere Version, dass jedes Wahrnehmen mit einem bestimmten Körpergefühl identisch ist.“ Peter Bernhard, Aisthesis; in: Die Sinne und die Künste – Perspektiven ästhetischer Bildung (Bielefeld: Transcript-Verlag, 2008) S.30f.

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sagt „randlos ergossen“, d.h. es gibt keinen klar bestimmbaren Punkt, keine Grenzlinie, bis zu der eine Atmosphäre reichen würde. Mit der räumlichen Wirkung ist für Böhme allerdings noch nicht das gesamte Spektrum dessen, was eine Atmosphäre ausmacht, beschrieben. Des Weiteren gelte es zu beachten, dass Atmosphären nicht einfach affektiv neutral sind. Vielmehr greifen sie in die Befindlichkeit der sie wahrnehmenden Personen ein, weshalb sie auch als „ergreifende Gefühlsmächte“ beschrieben werden könnten; oder, wie Hermann Schmitz formuliert, sie können als „räumlich ergossene, quasi objektive Gefühle“ bezeichnet werden, als „räumliche Träger von Stimmungen“, oder noch prägnanter, wiederum mit Gernot Böhme, als „gestimmte Räume“.52 Während es nun die umraumbezogene Komponente dieses Atmosphärenverständnisses ist, die für Böhmes Überlegungen zu Fragen der Architektur und der (gebauten) menschlichen Umwelt (wie sie im Weiteren unter 3.4 dargestellt werden) maßgeblich werden, so ist es die Komponente eines angesichts des Spürens von Atmosphären zu beobachtenden, noch undifferenzierten synthetischen53 und leiblichen Wahrnehmens, das für Böhmes Modell der sinnlichen Wahrnehmung ausschlaggebend wird. In diesem Sinn stellt das Wahrnehmen von Atmosphären, oder auch: das atmosphärische Wahrnehmen54, für Böhme nicht eines unter vielen möglichen Wahrnehmungsphänomenen (wie beispielsweise Farbwahrnehmen, Geruchswahrnehmen, Bewegungswahrnehmen) dar. Stellt man sich die verschiedenen Wahrnehmungsformen, die Böhme beschreibt, im Modell einer Stufenpyramide angeordnet vor, so bildet diese die unterste, die grundlegende und universelle Form des Wahrnehmens. Erst „[a]us diesem Spüren“ so Böhmes These „können sich schrittweise spezifische Sinneswahrnehmungen ausdifferenzieren“; was aber zunächst einmal im Akt des Wahrnehmens „gespürt wird, ist primär etwas Atmosphärisches“. Oder, wie der Philosoph im Folgenden ausführlicher darlegt (dabei Bezug nehmend auf Begriffe der Gestaltpsychologie wie ‚Flächeʻ und ‚Gestaltʻ): Es sind nicht einzelne Sinnesdaten, die man [...] synthetisiert, sondern man sieht immer schon ganze Flächen und Gestalten. Nein, man sieht nicht nur Gestalten, sondern man sieht von vornherein Dinge. Aber auch das ist nicht wahr. Man sieht Dinge in ihrem Arrangement, Dinge, die auf einander verweisen, man sieht Situationen. Auch diese [...] sind bereits eingebettet in Bewandtnisganzheiten. [...] Was ist aber dann dieses Ganze, in das alles Einzelne, das man dann je nach Aufmerksamkeit und Analyse daraus hervorheben kann, eingebettet ist? Wir nennen diesen primären und [...] grundlegenden Gegenstand der Wahrnehmung die Atmosphäre.55

Stufen oder Aspekte atmosphärischen Wahrnehmens Böhme konzipiert Wahrnehmen also gezielt entgegen einer konventionellen Vorstellung von Wahrnehmung (dabei in gedanklicher Nähe zu anderen Wahrnehmungsmodellen, wie sie die phänomenologische Tradition oder die Gestaltpsychologie lie52 Vgl. Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.14-49; Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.16ff. 53 Zur Verwendung der Ausdrücke ‚synthetischʻ und ‚synästhetischʻ, siehe Kap. 5, Fn. 25. 54 Zu Böhmes Unterscheidung zwischen ‚Atmosphäreʻ und ‚Atmosphärischemʻ siehe: Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.45f. 55 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.164.

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fern): Nicht die ‚Eigenschaftenʻ von ‚Dingenʻ sind es, die in Form von ‚Sinnesdatenʻ perzipiert und zu einem kohärenten Gesamteindruck fusioniert werden; sondern das synthetisch-leibliche Wahrnehmen ist es, das als Grundlage für sich weiter ausdifferenzierende Einzelwahrnehmungen dient. Wir gehen entschieden den anderen Weg, d.h vom Ganzen der Wahrnehmung aus, von den integrativen Phänomenen, um dann erst Schritt für Schritt analytisch die Mannigfaltigkeit der Sinne und ihre spezifischen Phänomene aufzusuchen.56

Wie dem Zitat zu entnehmen ist, ist Böhmes Vorgehensweise auch insofern phänomenologisch geprägt, als Wahrnehmung, bzw. genauer: der Vorgang des Wahrnehmens, auf ihre bzw. seine unterschiedlichen Aspekte und Ablaufstufen hin analysiert wird. Als Phänomene im eigentlichen Sinn herausgestellt werden dabei nur diejenigen Aspekte, die als ‚nicht zu leugnende, grundlegende Tatsachenʻ anerkannt werden müssen. Auf diese Weise fortschreitend gelangt Böhme schließlich zu einem Modell, das sinnliches Wahrnehmen – und für den Theoretiker basiert dieses maßgeblich auf atmosphärischem Wahrnehmen als einer „umfassenden und grundlegenden Wahrnehmungsweise“57 – in fünf Stufen auffächert. Ausgangspunkt für Böhmes Wahrnehmungsanalyse ist dabei zunächst einmal, sozusagen als Stufe 1, der (zumindest hypothetisch anzunehmende) Fall des ersten Eintretens einer Wahrnehmung – ein Zustand, der gewissermaßen an der Grenze zum Wahrnehmen, oder noch vor diesem selbst liegt. Böhme illustriert diesen Zustand, indem er das alltägliche Beispiel eines dunklen Hotelzimmers gibt, in dem sich ein Mensch ruhig und entspannt auf einem Bett liegend befindet, bis zu dem Augenblick, in dem plötzlich ein ‚bedrohliches Surrenʻ wahrnehmbar wird. In dem Moment, so Böhme, in dem das Surren als Surren, und somit als Geräusch, identifiziert wird, das lokalisiert und einer Ursache – etwa einer im Zimmer herumfliegenden Mücke – zugeschrieben werden kann, ist der Wahrnehmungsvorgang im Wesentlichen bereits abgeschlossen. (Und dies ja durchaus auch gemäß einer konventionellen Sichtweise, die in dem soweit beschriebenen Vorgang den eigentlichen Wahrnehmungsprozess sehen würde.) Gernot Böhme interessiert nun jedoch, was vor diesem „trivialen Wahrnehmungsereignis“58 eines analytischen, gerichteten Wahrnehmens stattfindet – und dies insbesondere hinsichtlich der physischen, oder in böhmescher Terminologie, der leiblichen Aspekte des Wahrnehmungsprozesses. Im Bild des dunklen Zimmers, das Böhme gibt, ist dies zunächst einmal der hypothetisch angenommene Fall des ersten Einsetzens einer Wahrnehmung. In diesem Moment, so Böhme, polarisieren wir uns: Ein zunächst noch unbestimmtes Äußeres tritt an uns heran; und eben hierdurch nehmen wir uns überhaupt erst (leiblich) als ein von etwas anderem Abgehobenes wahr. Es bilden sich zwei Wahrnehmungspole aus. Böhme bezeichnet diese als ‚Ding-Polʻ und ‚Ich-Polʻ (zuweilen auch: ‚subjektiver Polʻ bzw. ‚Subjekt-Polʻ). Wichtig sei hierbei, und hierauf möchte Böhme mit dem Suffix ‚Polʻ ausdrücklich verweisen, dass beide Elemente in einem Zustand der sogenannten ‚Ko-Präsenzʻ verbunden bleiben. Subjekt und Objekt des Wahrnehmens 56 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.87. 57 Gernot Böhme, Aisthetik, a.a.O., S.36. 58 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.137.

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werden also nicht als autonom voneinander und in zeitlicher Hinsicht als vorgegeben konzipiert, sondern sie bilden komplementäre Sphären, die sich erst im Akt des Wahrnehmens formieren. Oder, wie Gernot Böhme selbst zusammenfassend erklärt: Wahrnehmung [...] ist nicht von der Art, dass sich darin ein Subjekt auf ein Objekt bezieht. Das [...] grundlegende Wahrnehmungsereignis liegt vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung. Ein Wahrnehmungssubjekt und ein Wahrnehmungsobjekt werden erst auf dem Wege der Ausdifferenzierung und Distanzierung gewonnen.59

Dieser primäre Schritt, das Auseinandertreten eines Wahrnehmenden und eines Wahrgenommenen, wird nun, so Böhme weiter, nicht einfach sachlich konstatiert. Vielmehr wird er gespürt bzw. von einem Spüren begleitet. Im gegebenen Bild: Wir nehmen ein Surren wahr. Dieses ist räumlich noch nicht lokalisiert. Es umgibt uns auf unbestimmte Weise, lässt uns somit zum Zentrum einer global um uns herum befindlichen Atmosphäre der Anwesenheit von etwas noch nicht näher Identifiziertem werden. Das Beispiel macht [...] deutlich, dass das atmosphärische Spüren von Anwesenheiten das grundlegende Phänomen von Wahrnehmung ist. Wahrnehmung ist qua Spüren eine Erfahrung davon, dass ich selbst da bin und wie ich mich, wo ich bin, befinde.60

Diesen Schritt, das Wahrnehmen von etwas Atmosphärischem, weist Böhme als zweite Stufe des von ihm analytisch aufgefächerten Wahrnehmungsprozesses aus. Die dritte Stufe besteht weniger in einer konsekutiven Stufe, als vielmehr in einem Aspekt dieses Spürens; und zwar besteht sie in der Weise, wie eine Atmosphäre erfahren wird. Im gegebenen Bild entspräche dies der Qualität des ‚Bedrohlichenʻ, die dem Surren anhaftet. Die Atmosphäre wird also nicht etwa einfach neutral registriert, sondern sie wird mittels eines bestimmten ‚Charaktersʻ, einer Art qualitativer Tönung oder Einfärbung, wie man sagen könnte, erfahren. Böhme unterscheidet diesbezüglich zwischen „mindestens“ fünf Weisen, wie Atmosphären erfahren werden können – nämlich als „gesellschaftliche Charaktere, Synästhesien, Stimmungen, kommunikative Charaktere, Bewegungsanmutungen.“61 Hervorgerufen werden derar59 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.45. 60 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.42. 61 Um zu verdeutlichen, wie das Wahrnehmen derartiger Charaktere konzipiert wird, kann exemplarisch das Beispiel der Synästhesien, die eine eigene Gruppe an Charakteren ausbilden, herausgegriffen werden. Böhme denkt in diesem Kontext an Begriffe wie ‚lichtʻ, ‚hellʻ, ‚rauʻ, ‚warmʻ. Für den Theoretiker tauchen diese nicht allein in einem einzelnen, sondern vielmehr in allen möglichen Sinnesbereichen auf. Dabei würden sie nicht sprachlich-metaphorisch von dem einem auf den andern Bereich übertragen, sondern sie bezeichneten etwas Allgemeineres, nämlich sogenannte ‚intermodale Qualitätenʻ: So könne etwa ein Ton ebenso ‚rauʻ sein wie eine Stimme, eine Oberfläche oder der Geschmack eines Whiskys. In diesem Sinn ließen sich synästhetische Charaktere nicht einfach auseinanderdividieren und auf einzelne Sinneswahrnehmungen zurückführen. Vielmehr seien sie, als Phänomene in der Wahrnehmung, unhintergehbar und irreduzibel. Es zeigt sich an dieser Erklärung synästhetischer Charaktere noch einmal deutlich, wie Böhme konsequent in

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tige Charaktere – und hiermit kommt Böhme zum vierten Aspekt seines Stufenmodells des leiblichen Wahrnehmens – nicht durch vermeintliche ‚Eigenschaftenʻ, sondern durch die Ekstasen bzw. Physiognomien der Dinge – also durch die nach außen gerichtete Wahrnehmungswirkung, die vom sogenannten Ding-Pol des Wahrnehmens ausgeht (siehe hierzu oben: Ekstasen und Physiognomien). Dasjenige, was wahrgenommen wird, werde dabei nicht als solches – mit Kant könnte man sagen: als Ding an sich – in seiner ganzen möglichen Komplexität und ‚Realitätʻ erfahren, sondern als Erscheinungswirklichkeit. Diese Art von ‚Wirklichkeitʻ bzw. die Wirklichkeitsebene, die sich mit dem Ding-Pol der Wahrnehmung verknüpft, bezeichnet Böhme daher – fünftens – als den Bereich der ‚Erzeugendenʻ (als einem Begriff, der das Nach-außen-Wirken betonen soll, in bewusster Absetzung zum Begriff der ‚Eigenschaftʻ, der auf ein Nach-innen-gerichtet-Sein abzielt).62 Mit diesen fünf Stufen sind für Böhme die wesentlichen Aspekte, die den Prozess des sinnlichen Wahrnehmens, im Sinn eines leiblich-synthetischen Wahrnehmens, ausmachen, benannt. Der beschriebene Prozess stellt, wie Böhme gegen Ende seiner diesbezüglichen Ausführungen erklärt, nur einen Teilaspekt des Wahrnehmungsvorgangs und des menschlichen Wahrnehmens insgesamt dar. Da es sich hierbei jedoch, im Gegensatz zu anderen Aspekten, wie etwa einem analytischen, identifizierenden oder einem semiotischen bzw. hermeneutischen Wahrnehmen, um eine „umfassende und grundlegende Wahrnehmungsweise“ handle, die zudem die Rolle zu erklären vermöge, die die Physis bzw. der Leib im Gesamtzusammenhang des Wahrnehmens spielt, ist es ebendiese – und nur diese – Form des Wahrnehmens, der für Böhme im Kontext der Neuen Ästhetik, somit einer Aisthetik, Aufmerksamkeit zu Teil werden sollte.63 seinem Bestreben bleibt, Wahrnehmen als einen Prozess zu denken, der vom umfassenderen Allgemeinen zum Spezifischeren hin stattfindet. Denn für Böhme ist dasjenige, was eine synästhetische Wirkung auslöst, im Prinzip austauschbar. Böhme nennt diesen Gedanken die „These von der Substituierbarkeit von Sinnesqualitäten in der Erzeugung von atmosphärischen Wirkungen“. Erfahren werde also nicht etwa die spezifische ‚Eigenschaftʻ eines ‚Dingsʻ, die mit einer anderen ‚Eigenschaftʻ synthetisiert eine synästhetische Wirkung hervorrufen würde, sondern erfahren werde allein eine Atmosphäre, die einen bestimmten Charakter, etwa das ‚Licht-ʻ, ‚Hell-ʻ, ‚Rau-ʻ, ‚Warm-Seinʻ an sich habe und die eine eigene Wahrnehmungsform, jenseits einer erst in der Folge eintretenden identifizierenden Dingwahrnehmung, verkörpere. Vgl. Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.89-90, S.99. 62 Zu Böhmes Unterscheidung zwischen den Begriffen ‚Realitätʻ und ‚Wirklichkeitʻ sowie den konzeptionellen Problemen, die sich damit verbinden, siehe Kap. 5. 63 Wie Gernot Böhme gegen Ende seiner Vorlesungen zur Aisthetik einräumt, stelle das von ihm beschriebene leibliche Spüren von Atmosphären eine „umfassende und grundlegende Wahrnehmungsweise“ dar, jedoch nicht die einzige Form des menschlichen Wahrnehmens. So gehe das atmosphärische Spüren stets mit einem gegenläufigen Prozess der lokalisierenden und identifizierenden „Dingwahrnehmung“ einher. Ein Vorgang, der als „Prozess der Abwehr, Differenzierung und Verengung“ beschrieben werden könne, und der einen auf dem leiblichen Spüren aufbauenden und somit nachgeordneten Wahrnehmungsmodus verkörpere. Darüber hinaus verweist Böhme auf andere Aspekte des Wahrnehmens, die er als komplementär zu dem von ihm beschriebenen Bereich des leiblichen Spürens versteht,

148 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT

3.4 AISTHETIK

ALS P HILOSOPHIE DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT

Wie bereits angedeutet, entwickelt Gernot Böhme den Begriff der Atmosphäre nicht allein in eine, sondern gleich in zwei Richtungen hin weiter: Zum einen wird er zum Grundbaustein und zentralen Element der böhmeschen Wahrnehmungstheorie. Zum anderen erscheint er dem Theoretiker aber noch auf andere Weise philosophisch vielversprechend. Denn im Sinn eines räumlichen Phänomens eröffnet er auch die Perspektive einer Anwendung auf die (gebaute) menschliche Umwelt, oder konkret auf Fragen der Architektur, der Stadt und der Landschaft. In diesem Sinn konstatiert Böhme gleich zu Beginn seines Buchs Architektur und Atmosphäre: Die entscheidenden Begriffe, die versprechen die Architektur und den menschlichen Leib zu vermitteln, sind die Begriffe leiblicher Raum und Atmosphäre.64

Um sich dem Begriff des ‚leiblichen Raumsʻ anzunähern, gilt es für Böhm, vergleichbar dem Begriff des ‚Dingsʻ auch jenen des ‚Raumesʻ einer grundlegenden philosophischen Reflexion zu unterziehen – eine Auseinandersetzung, in deren Rahmen Böhmes phänomenologisch geprägter Leibbegriff ebenfalls eine weitere, genauere Bestimmung erfahren soll. Raumbegriffe: ‚spatiumʻ und ‚toposʻ Nach Gernot Böhme finden sich in der Geschichte des abendländischen Denkens zwei prinzipiell unterschiedliche Auffassungen von Raum. Beide, so Böhme, hätten ihre Ausprägung in der Mathematik erfahren, könnten jedoch auch mit den Namen großer Philosophen in Verbindung gebracht werden: Erstens, der Begriff des ‚spatiumʻ, wie er von René Descartes geprägt worden sei; zweitens, im Anschluss an Aristoteles, jener des ‚toposʻ.65 Die aristotelische Sichtweise definiere Raum als „innere Oberfläche der umgebenden Körper”. Raum sei somit bestimmt durch Orte, die sich zu anderen, umgebenden oder angrenzenden Orten verhalten. Der Begriff des ‚spatiumʻ bezeichne hingegen ein leeres bzw. hohles Volumen, das es zu füllen gelte. Raum werde hierbei bestimmt durch den Abstand zwischen Körpern, durch eine Distanz, die überbrückt und zurückgelegt werden muss. In diesem Sinn seien beide Begriffe auch in der Mathematik ausgearbeitet worden. So könne, mathematisch gesprochen, die Topologie als die „Wissenschaft von einer Mannigfaltigkeit mit Lage- und Umgebungsbeziehungen“ und die Geometrie die „Wissenschaft von einer Mannigfaltigkeit mit metrischen Beziehungen“ definiert werden. Kurz gefasst kann, nach Böhme, ein Verständnis von Raum qua topos also mit einem Denken in Form von Orten und deren wechselseitigen Beziehungen (Umgebungen, Nachbarschaften, Lagebeziehungen), qua spatium im Sinn von Abständen (Verbindungen zwischen

so etwa auf semiotische bzw. hermeneutische Wahrnehmungsvorgänge, oder auf den Bereich der „sozialen Wahrnehmung“. Zu konzeptionellen Schwierigkeiten dieser Ausdifferenzierung des böhmschen Ansatzes siehe Kap. 5. 64 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.15. 65 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.15f. und S.118f.

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Punkten, vorzustellen etwa im Sinn von Vektoren in einem abstrakten Koordinatensystem) beschrieben werden.66 Ein Aspekt, der beiderlei Vorstellungen verbinde, so Gernot Böhme weiter, sei nun jener eines Denkens in Form von in sich geschlossenen und nach außen hin abgeschlossenen Einheiten, kurz: von ‚Körpernʻ. In diesem Sinn sei Raum, und zwar der topologische wie der metrische Raum, „das, worin Körper ihre Lage finden und durch das hindurch sich Körper bewegen.“67 Allerdings vermag ein solcher Körperbegriff, auf den Menschen bezogen, nur einen Aspekt der menschlichen Physis zu erfassen. Denn, wie Böhme erklärt, sicher ließe sich auch der Mensch als „Körper unter Körpern“ beschreiben: Auch die menschliche Physis unterliege etwa dem physikalischen Gesetz der Körperlichkeit, das besagt, dass sich nicht zwei Körper am selben Ort befinden können; oder den Gesetzen der Mechanik, nach denen sich der menschliche Körper nicht anders als andere physikalische Körper durch den Raum bewegt. Aber: Körper unter Körpern, ist der Mensch immer nur als Gegenstand betrachtet, und sei es, dass er sich selbst als Gegenstand betrachtet. [...] Wie aber sieht es aus, wenn ich als Mensch von meiner Subjektivität Gebrauch mache, wenn ich danach frage, wie ich den Raum erfahre, bzw. was ich als Raum erfahre, in dem ich mich hier befinde.68

Bringe man diesen eigenen Standpunkt, den eines Ich-Pols des Wahrnehmens – oder in anderen Worten, eine erlebende Erste-Person-Perspektive – in Raumvorstellungen mit ein, so werde die Frage des Verhältnisses von menschlicher Physis und Raum jedoch zu einer Frage nicht allein nach Körpern, sondern zu einer solchen des Leibes. Wie kann der Begriff des Leibes sinnvoll mit der Vorstellung von Raum zusammengedacht werden? Einen Hinweis hierauf enthält für Böhme der aristotelisch geprägte topologische Raumbegriff. Dieser besitzt mit seinem Verständnis von Raum im Sinn von sich zueinander verhaltenden Orten eine basale Gemeinsamkeit mit der Art, wie Raum leiblich erfahren wird. Denn: „Der Ort [ist – Einfügung B.H.] eine Umgebung, in der man sich befindet, Maßverhältnisse sind dagegen eine Art, in der man sich etwas – meist Dinge – vorstellt.“69 Die Betonung liegt auf dem Unterschied der Verben ‚befindenʻ und ‚vorstellenʻ. Der Raum, in dem ein Mensch, als physisch verfasster Mensch, anwesend ist, erscheint dem topologischen Raumbegriff aber noch in anderer Hinsicht verwandt. So spielen [...] Nachbarschaften und Umgebungen [...] die entscheidende Rolle – und vor allem: er ist zentriert (auf das hier bin ich), er hat Richtungen, die sich auf den Leib beziehen, also außer oben/unten noch rechts/links, vorne/hinten. [...] Doch damit nicht genug: Weil der Raum leiblicher Anwesenheit ja nicht Raum relativ zu unserem Vorstellungsvermögen ist, sondern relativ zu unserer Leiberfahrung, so ist er weiter zu charakterisieren durch: Enge und Weite [...], durch Helligkeit und Dunkelheit, durch Luzidität und Opazität, etc.70 66 67 68 69 70

Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.16. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.118. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.119. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.16. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.16.

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Diesen Ausführungen gemäß orientiert Böhme seinen eigenen Raumbegriff an einem topologischen Verständnis, jedoch mit der entscheidenden Differenz eines Denkens nicht in Form von abgeschlossenen Körpern und deren wechselseitigen Relationen, sondern eines spürend nach außen gerichteten Leibes, der im Zentrum seines wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsraumes steht. Eine solche Vorstellung bezeichnet Böhme zusammenfassend als ‚Raum der leiblichen Anwesenheitʻ – oder kurz als ‚leiblichen Raumʻ. ‚Leiblicher Raumʻ und ‚Atmosphäreʻ im Kontext der Architektur Angesichts des soweit dargestellten mag es nun überraschen, dass Gernot Böhme sich der Frage der (gebauten) menschlichen Umwelt nicht direkt vom Begriff der ‚Umweltʻ ausgehend zuwendet, sondern zunächst einmal auf einen konventionellen Terminus rekurriert, nämlich jenen der ‚Architekturʻ. Allerdings erfolgt diese Art der Zuwendung nur, wie bereits dem programmatischen Vorwort von Architektur und Atmosphäre zu entnehmen ist, um später Schritt für Schritt eine übliche Auffassung von Architektur zu transformieren. So stimmt Böhme zunächst prinzipiell – und hier noch ganz im Sinn der traditionellen Ästhetik eines Hegel – einem Verständnis der Architektur als visueller Kunstform zu. Eine derartige Sichtweise, so Böhme, sei insofern gerechtfertigt, als dem Bereich des Visuellen in der Rezeption und Darstellung von Architektur, gerade heute, große Bedeutung zukomme.71 Als elementaren und nicht allein aktuellen Zug der Architektur erachtet Böhme hingegen „dass man durch seine [eigene] Anwesenheit an dem Raum, den Architektur gestaltet oder schafft, teilnimmt.“72 Und eine solche Teilnahme kann – nicht zuletzt gemäß Böhmes eigener allgemeiner Wahrnehmungstheorie – nicht allein mittels eines einzelnen Sinns erfolgen, sondern sie muss „umfassend und grundlegend“ vonstattengehen: Der „genuine Zugang zu Werken der Architektur“ besteht daher, wie der Theoretiker schlussfolgert, in der „leiblichen Anwesenheit“ des Menschen. 73 Mit diesem Verständnis lenkt Gernot Böhme den Fokus der Betrachtung fort von Architektur als dominant visuellem Phänomen und hin zur Frage der menschlichen Raumerfahrung. Doch auch dieser Schritt wirkt noch wenig innovativ, bedenkt man, dass die Erörterung von Architektur unter dem Gesichtspunkt des Raumes bzw. als ‚Raumkunstʻ eine durchaus weit verbreitete Sichtweise, in den Kreisen der traditionellen Ästhetik ebenso wie unter ArchitektIn-

71 „Heute gibt es ganz andere Gründe dafür [als zu Zeiten der Alten Griechen oder des deutschen Idealismus – Einfügung B.H.] die Architektur zu den Visual Arts zu zählen. Es ist vor allem ihre Selbstrepräsentation, die zu dieser Auffassung führt, oder besser gesagt, die Präsentation ihrer Werke. Schon vor dem Bauen ist die Präsentation architektonischer Projekte durch Zeichnung, Modell […], Computersimulation und Animation essentiell, nämlich für Wettbewerbe und Bauherren. Und nachher, wenn das Gebäude dann steht, das Projekt ausgeführt ist, ist die fotografische Darstellung des Werks genauso wichtig, in mancher Hinsicht wichtiger als das Werk selbst“. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.107. 72 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.111. 73 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.105.

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nen darstellt.74 Selbst das In-Beziehung-Setzen von menschlichem Körper und architektonischem Raum ist nicht per se neu.75 Der entscheidende Unterschied liegt nun jedoch in der von Böhme vorgenommenen Differenzierung zwischen Leib und Körper sowie der damit verbundenen Differenz von leiblich erfahrenem Umraum und mathematisch konzipiertem Raum. Denn: [...] der Raum, in den sie [die ArchitektInnen – Einfügung B.H.] ihre Entwürfe zeichnen, ist der euklidische Raum, metrisch, homogen, nahezu isotrop.76

Der Raum der leiblichen Anwesenheit, von dem Böhme spricht, ist hingegen ein Raum, der um eine erlebende Wahrnehmungsinstanz herum zentriert ist, der neben ‚unten/obenʻ weitere, an der menschlichen Morphologie ausgerichtete Bezugsachsen wie ‚oben/untenʻ oder ‚hinten/vorneʻ kennt; und es ist ein Raum, der nicht allein linear gezeichnet, vermessen oder gedacht wird, sondern der mittels des leiblichen Wahrnehmens erfahren und gespürt werden muss. In diesem Sinn ist für Böhme der leibliche Raum auch „immer ein gestimmter Raum“, der sich unmittelbar auf das menschliche Sich-Befinden auswirkt.77 Der zentrale Begriff, von dem her das Phänomen leiblicher Anwesenheit beschrieben werden muss, ist der Begriff der Befindlichkeit. Wir haben das außerordentliche Glück, dass der deutsche Ausdruck sich befinden eine Doppeldeutigkeit enthält, die dem Phänomen leiblicher Anwesenheit im Raume aufs Beste entspricht. Sich befinden heißt einerseits sich in einem Raume befinden und heißt andererseits sich so und so fühlen, so und so gestimmt sein. Beides hängt zusammen und ist in gewisser Weise eins: In meinem Befinden spüre ich, in was für einem Raume ich mich befinde.78 74 Mit einem bekannten Zitat bringt der Architekt Philip Johnsons diese Vorstellung auf den Punkt, wenn auch in ironisch gewendeter Form: „Architecture is the art of how to waste space“. Zitat: Interview mit Philip Johnson vom 27.12.1964, in The New York Times. 75 Das Arbeiten mit Raum, der auf den Menschen und dessen körperliche Dispositionen bezogen wird, stellt ein zentrales Thema in der Architektur der Moderne dar. Ein Beispiel liefert Le Corbusier mit seinem Modulor als einem am menschlichen Körper ausgerichteten Proportionsschema, auf dessen Grundlage alle dimensionalen Maße, wie Höhe, Länge, Breite, von Einrichtungsgegenständen, Räumen und Gebäuden berechnet werden können sollen; ein anderes Margarete Schütte-Lihotzkys in Architekturkreisen nicht minder berühmte Frankfurter Küche, die erste Einbauküche, die alle Handlungen, die in einem Küchenraum vollzogen werden, nach rationellen Gesichtspunkten ordnet, so dass eine in ihr agierende Person ein Minimum an Wegstrecken zurückzulegen und an Handgriffen zu verrichten hat. 76 Auch wenn diese Aussage sich auf ‚die Architektenʻ per se zu beziehen scheint, so unterscheidet Böhme durchaus zwischen unterschiedlichen Architekturauffassungen. Als seinem Gedanken eines ‚leiblichen Raumesʻ prinzipiell verwandt bezeichnet er etwa bestimmte Aspekte in den Architekturen von Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright, Bruno Taut, Peter Zumthor. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.16 und 114ff. 77 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.18. 78 Und wie Böhme weiter präzisierend ausführt: „Natürlich ist der Raum nicht nur das, was ich von ihm empfinde, nämlich die Atmosphäre. Der Raum hat auch seine dingliche Konsti-

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Um an diesem Punkt noch einmal zu rekapitulieren: Der Raum der leiblichen Anwesenheit, wie er für Böhme angesichts der Architektur (aber nicht nur dieser) zum Tragen kommt, ist 1) ein dem topologischen verwandter, relationaler Raum, der sich zwischen dem Subjekt des Wahrnehmens, bzw. dem Ich-Pol, und dessen Umgebung ausbreitet; und es ist 2) ein gestimmter Raum, wobei auf der einen Seite „die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt“, steht und auf der anderen Seite „ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin“.79 An dieser Stelle nähern sich, im Kontext des Wahrnehmens von Architektur, die beiden Konzepte des leiblichen Raumes und Böhmes frühere Ausführungen zum Atmosphärenbegriff deutlich einander an – eine Annäherung, die Gernot Böhme durchaus gezielt forciert. Und so ist der Raum der leiblichen Anwesenheit letztlich, ab einem gewissen Punkt der böhmeschen Theorieentfaltung, auch nichts anderes mehr als eben der Raum der Atmosphäre.80 Böhme selbst hierzu: Damit ist der Übergang zum Begriff der Atmosphäre gegeben: Atmosphären sind gestimmte Räume [...] und die werden erfahren, indem man sich in sie hinein begibt und ihren Charakter an der Weise erfährt, wie sie unsere Befindlichkeit modifizieren [...]. Ich habe in meiner ökologischen Naturästhetik gesagt, dass Atmosphäre dasjenige ist, was zwischen den objektiven Qualitäten einer Umgebung und unserem Befinden vermittelt: Wie wir uns befinden vermittelt uns ein Gefühl davon, in was für einem Raum wir uns befinden […].81

Konsequent wirkt in dieser Hinsicht auch die Schlussfolgerung, mit der der Theoretiker die Aufgabe seiner Ästhetik der Architektur – oder, wie man ab diesem Punkt richtiger sagen sollte: seiner Form einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt – zusammenfasst. Diese bestehe darin, danach zu fragen, „wie bestimmte, durchaus objektiv feststellbare Eigenschaften von Umgebungen unser Befinden in diesen [also etwa den architektonischen – Anmerkung B.H.] Umgebungen moditution und vieles, was zu ihr gehört, geht nicht in mein Befinden ein. Und ebenso ist natürlich mein Befinden nicht nur dadurch bestimmt, dass ich spüre, wo ich mich befinde, vielmehr bringe ich immer schon Stimmungen mit und aus meinem Körper steigen Regungen auf, die mein Befinden bestimmen. Und doch, es gibt diese Mitte, diesen Zusammenhang zwischen Raum und Befindlichkeit, und er ist sogar immer virulent. Die Befindlichkeit, insofern ich spüre, wo ich mich befinde, gibt gewissermaßen eine Art Grundstimmung ab […], insofern sie sich nämlich über den leiblichen Tonus [i.e. Spannungszustand der Muskulatur – Anmerkung B.H.] psychosomatisch ausüben kann. Es ist dies der Grund, weshalb die atmosphärische Wirkung von Räumen nicht nur für besondere Situationen, sei es touristische oder festlicher Art, ernst genommen werden muss, sondern auch für den Alltag von Arbeit, Verkehr, Wohnen.“ Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.122. 79 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.96. 80 Böhme weist in diesem Kontext darauf hin, dass beide Begriffe, jener der ‚Atmosphäreʻ und jener des ‚gestimmten Raumesʻ nahezu synonym verwendet werden könnten, wobei der Begriff der ‚Atmosphäreʻ auf Hermann Schmitz, jener des ‚gestimmten Raumesʻ auf Erika Stöker zurückzuführen sei. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.122. 81 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S.16.

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fizieren.“ Während umgekehrt „[e]ntscheidend für den Architekten ist [...], dass Atmosphären erzeugt werden können und zwar durch Setzen durchaus objektiver Mittel“.82 Konstituierende Elemente des ‚Raum der leiblichen Anwesenheitʻ Entschließt man sich einmal, [den Raum der leiblichen Anwesenheit – Einfügung B.H.] für die Architektur als grundlegend anzusehen, grundlegender als „topos“ und „spatium“, weil nämlich Architektur nicht Gebäude und Konstruktionen an sich, sondern für den Menschen schafft, dann fällt es auch leicht, nicht klassische, und d.h. nicht gegenständliche Mittel der Raumkonstruktion als solche der Architektur anzuerkennen.83

Böhmes zentrale Begriffe der ‚Atmosphäreʻ und des ‚leiblichen Raumesʻ ermöglichen es in ihrem Zusammenspiel nun also durchaus, ‚Architekturʻ von einer anderen als einer konventionellen Seite her zu denken. Denn maßgeblich ist in der böhmeschen Betrachtungsperspektive nicht, wie ein Raum per se – gedacht als ein quasi autonomes architektonisches Kunstwerk – beschaffen sein mag, sondern vielmehr, wie diese Beschaffenheit konkret wahrgenommen und erfahren wird.84 Ein Unterschied, der beachtenswert ist, denkt man an die eingangs durch Gernot Böhme angedeutete Tendenz, auch und gerade in der aktuellen Praxis der Architektur, Gebäude auf visuelle und abstrakt räumliche Faktoren zu reduzieren und sie somit, mittels entsprechender Darstellungsformen (wie Grundriss/Aufriss/Schnitt, Modell, digitale Visualisierung, 3D-Animation), zu essentialisieren. Ein solches Verständnis sucht von der realen Beschaffenheit eines Gebäudes, in quasi-platonischer Manier, das ‚Wesenʻ oder die ‚Ideeʻ abzuziehen und suggeriert somit, dieses existiere in viel eigentlicherer Form noch ein zweites Mal. Es gebe (gleichsam im Reich der platonischen Ideen) eine Art konzeptionelle Blaupause, die es erlaube, das Gebäude, potentiell jederzeit nach Belieben zu reproduzieren oder zu rekonstruieren.85 Gernot Böhmes begriffliches Instrumentarium liefert demgegenüber Mittel, um sich der einmaligen Präsenz eines konkreten und real existierenden Ortes, so wie er in der unmittelbaren alltäglichen Erfahrung gegeben ist und mit all seinen spezifischen Merkmalen – wie Spuren, die die tägliche Nutzung, die Witterung und Alterungsprozesse, die bauliche Eingriffe und individuelle Umgestaltungen u.a. hinterlassen haben – zu nähern. Inwiefern dabei, was eine konzeptionelle Ebene betrifft, die Gleichsetzung der Begriffe des ‚leiblichen Raumesʻ und der ‚Atmosphäreʻ auch kritisch gesehen werden kann, dazu mehr in Kapitel 5. Was sie Gernot Böhme jedoch ermöglicht, ist, neben dem Begriff der ‚Atmosphäreʻ noch weitere Begriffe, wie sie im Kontext 82 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.15f. 83 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.113. 84 Böhme hierzu: „Der leibliche Raum ist immer ein gestimmter Raum. Es herrscht in ihm eine Atmosphäre […]. Dabei spielt, was [Architekten] traditionell im Auge haben, nämlich Form, Proportion und Abmessung, durchaus eine Rolle. Nur geht es um die Weise, wie sie erfahren werden, als Enge und Weite, als lastend oder erhebend.” Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.18. 85 Zum Essentialismus in üblichen Architekturvorstellungen siehe auch Einleitung und Kap. 7.3.

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seiner Theorie der sinnlichen Wahrnehmung entfaltet wurden, auf Fragen der Architektur im Sinn einer (gebauten) menschlichen Umwelt anzuwenden. Dies betrifft insbesondere die im Rahmen der Darlegung unterschiedlicher Aspekte oder Stufen des Wahrnehmens angeführten atmosphärischen ‚Charaktereʻ. Die affektive oder emotionale Gestimmtheit, die einer Atmosphäre zu eigen sein kann, stellt also auch hinsichtlich der (gebauten) menschlichen Umwelt nur eine erste Möglichkeit dar, wie ein menschliches Sich-Befinden modifiziert werden kann. 86 Neben diesen gelte es, nach Böhme, noch weiteren Charakteren Beachtung zu schenken87: [...] nämlich erstens Bewegungsanmutungen in einem weiteren Sinne. Hier geht es auf Seiten der Erzeugenden vor allem um die geometrischen Strukturen und die körperlichen Konstellationen, die man in der Architektur schaffen kann. Sie werden im Empfinden wesentlich als Bewegungssuggestionen, aber auch etwa als Massigkeit oder als Lastcharakter, insbesondere aber als Enge und Weite des Raumes der leiblichen Anwesenheit erfahren. […] Als zweite große Gruppe möchte ich die Synästhesien nennen. [...] deutlich wird [deren Beschaffenheit – Einfügung B.H.] wenn man die Frage nach den Erzeugenden stellt, d.h. durch welche Arrangements man die Erfahrung solcher Synästhesien hervorrufen kann. Dann zeigt sich nämlich, dass ein Raum etwa kühl erfahren werden kann, weil er in einem Fall ganz und gar gekachelt ist, im anderen Fall blau gestrichen ist, im dritten Fall eine verhältnismäßig niedrige Temperatur zeigt. Gerade diese Aufspaltung von Synästhesien auf Seiten der Erzeugenden ist für den Architekten interessant. Es stellt sich nämlich für seine Gestaltung nicht die Frage, welche Eigenschaften er dem gegenständlichen Raum, den er gestaltet, geben will, sondern welche Befindlichkeit er für den Raum als Sphäre leiblicher Anwesenheit erzeugen möchte. Ich komme schließlich auf eine vielleicht überraschende Gruppe, die ich die gesellschaftlichen Charaktere nennen möchte. In gewisser Weise war mit der Gemütlichkeit ein solcher Charakter schon genannt [des Weiteren wären zu nennen – Einfügung B.H.] etwa [die] Atmosphäre der zwanziger Jahre, eines Foyers, [oder wenn man – Einfügung B.H.] von kleinbürgerlicher Atmosphäre oder der Atmosphäre der Macht redet. [...] Freilich Thema waren diese Charaktere eher in der Innenarchitektur, nicht in der Stadtplanung und Konstruktion. Doch wer will leugnen, dass Architektur seit je mit ihren Gebäuden die Atmosphäre etwa von Heiligkeit und Herrschaft geschaffen hat.88 86 Böhme erklärt diese affektive Möglichkeit einer Wirkungsweise anhand der Garten- und Parkgestaltung des 18. Jahrhunderts, wie sie von Christian C. L. Hirschfeld in seiner Theorie der Gartenkunst beschrieben wird. Hier sei das Evozieren affektiver Stimmungen, wie sie durch „heitere“, „ernste“, „sanft-melancholische“, „heroische“ Landschaftsszenen ausgelöst werden sollte, erklärtes gestalterisches Ziel gewesen. Siehe Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.36; sowie zur Wirkungsweise und Wahrnehmung von Landschaften bei Böhme allgemein: Gernot Böhme, Physiognomik in der Naturästhetik; in: ders., Atmosphäre; a.a.O., S.132-152. 87 Zum erst genannten Punkt, dem Charakter der Bewegungsanmutungen, gibt Böhme an anderer Stelle das Beispiel des drückenden Gefühls, unter den niederen Bögen einer Kirchenkrypta zu stehen (Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S.147) oder jenes einer Burg auf dem Scheitelpunkt eines Hügels, die den Raum konzentriert. „Wenn man sich in der entsprechenden Landschaft befindet, spürt man sehr wohl die Zentrierung und Verdichtung des Raumes in der Gegend der Burg.“ Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.87. 88 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.124.

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Weitere konstituierende Elemente, oder wie Böhme sagt ‚Erzeugendeʻ, von leiblich erfahrenen Räumen seien neben den atmosphärischen Charakteren (genannt wurden: die affektive Gestimmtheit, Bewegungsanmutungen, Synästhesien, gesellschaftliche Charaktere) auch Aspekte wie Licht, Klang, Gerüche, Materialien, Symbole, Proportionen, oder in anderen Worten, Aspekte, wie sie auch in üblichen Architekturbetrachtungen Aufmerksamkeit erfahren. Freilich erfahren diese ebenfalls eine entsprechende Reinterpretation durch den Autor. Um in Böhmes Konzeption des leiblich gespürten Raumes integriert werden zu können, müssen auch derlei Aspekte als nach außen gerichtete und in den Umraum hinein wirkende konzipiert werden. Gute Beispiele hierfür geben die Bereiche ‚Lichtʻ und ‚Klangʻ: So unterscheidet Böhme angesichts des zweitgenannten grundsätzlich zwischen Musik und Alltagsgeräuschen. Musik gelte es nicht im herkömmlichen Sinn allein als eine Zeitkunst, sondern auch als eine Raumkunst aufzufassen, die sich in den Umraum hinein ausbreite, diesen selbst bilde, oder ihn moduliere – ein Qualität, die heute insbesondere angesichts des umfassenden Einsatzes von Musik im öffentlichen Raum, in Flughäfen, U-BahnStationen, Kaufhäusern, Hotelfoyers (kritische) Beachtung finden müsse.89 Analog – bzw. hinsichtlich einer normativen Komponente geradezu umgekehrt, wie angesichts der Musik der Fall – sei die Bedeutung von Alltagsgeräuschen zu untersuchen. Auch diese dürften nicht länger allein unter einem konventionellen – und dies bedeutet im Fall von Alltagsgeräuschen: unter dem rein quantitativen Gesichtspunkt des Lärmschutzes – betrachtet werden, sondern sie müssten hinsichtlich ihrer differenzierten umraumbildenden und umraumprägenden Qualitäten Beachtung erfahren.90 Inzwischen hat man entdeckt, dass das Gefühl für Heimat wesentlich durch den Sound einer Gegend vermittelt wird und dass das charakteristische Gefühl eines Lebensstils, einer städtischen oder ländlichen Atmosphäre ganz wesentlich durch den jeweiligen akustischen Raum bestimmt ist. Das heißt, dass heute, was eine Landschaft ist, nicht mehr auf das eingeschränkt werden darf, was man sieht, und dass etwa Stadtplanung nicht mehr nur mit Lärmvermeidung bzw. Lärmschutz befasst sein darf, sondern sich um den Charakter der akustischen Atmosphäre von Plätzen, Fußgängerzonen, ganzen Städten kümmern muss.91

Angesichts des erstgenannten Phänomenbereichs, jenem des Lichts, entwickelt Gernot Böhme sogar eine ganze Phänomenologie des Lichts, eine differenzierte Analyse unterschiedlicher möglicher Erscheinungsformen von Licht und seinen spezifischen umraumbildenden Wirkungsweisen. Das Zusammenspiel von Licht und Architektur im Sinn von Beleuchtungsquelle und beleuchtetem Raumkörper – wie es üblicherweise Aufmerksamkeit erfährt 92 – stelle in dieser Hinsicht nur eine mögliche Er89 Gernot Böhme selbst hierzu: „die Ästhetik der Atmosphären [kann] die einfache Antwort geben, [...] dass die Musik als solche die Modifikation des leiblich gespürten Raums ist. Die Musik formiert das Sichbefinden des Hörens im Raum, sie greift unmittelbar in dessen leibliche Ökonomie ein.“ Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.76-90. 90 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S. 76-87. 91 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.79f. 92 Zu denken ist an Le Corbusier, der diese Art des Zusammenhangs von Licht und Architektur in einem berühmten Zitat zum Ausdruck bringt, wenn er Architektur per se definiert als „das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukör-

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scheinungsform dar. Eine grundlegendere Qualität des Lichts zeige sich angesichts einer differenzierten phänomenologischen Analyse hingegen, so Böhme, in der Polarität von Dunkelheit und Helle. In diesem Sinn sei „Licht als Phänomen [...] primär und eigentlich Helle”, die einhergehe mit der kontrastierenden Finsternis, als deren komplementärem Gegenpart und konstitutiver Bedingung. Erst auf dieser Basis sei zu unterscheiden zwischen einer Phänomengruppe, in der ‚Licht als Lichtʻ in Erscheinung trete (bestehend aus dem ‚gelichteten Raumʻ, dem ‚Lichtraumʻ und ‚Lichtern im Raumʻ)93, und einer zweiten großen Gruppe der ‚Dinge im Lichtʻ (i.e. der Beleuchtung). Böhme betont gegenüber einer konventionellen Sichtweise dieses Phänomenbereichs zum einen die enorme Vielschichtigkeit an Beleuchtungsphänomenen, zum anderen den „emotiven Charakter“: Das Licht tritt mit den Dingen in eine Wechselwirkung, verwandelt sich darin und tritt uns von den Dingen her in einer schier unendlichen Mannigfaltigkeit von unterschiedlichen Phänomenen entgegen.94

Dabei gehe Licht nicht nur eine Beziehung mit Formen ein, sondern zeige sich auch als Farbe, Glanz, Flimmern, Mattheit, Strahlen, Irisieren, Fluoreszieren. Entscheidend für den Theoretiker ist angesichts beider Phänomengruppen (der des Lichts als Licht und jener des Lichtes im Sinn einer Beleuchtung von Dingen) nun, dass sie wesentlich dafür verantwortlich seien, wie uns etwas anmute. Licht und der Umraum, den dieses schafft, werden zwar mittels des Sehens und somit visuell erfahren. Wir nähmen Dinge im Sehen wahr und dieses Sehen könne potentiell als „sachlich und charakterlos“ beschrieben werden. Doch übersähen wir in einer derartigen, von der Realität des Wahrnehmens abstrahierenden Beschreibung, dass durch „das Spiel des Lichts an den Dingen“ stets „das Erscheinen als solches“ einen stimmungsmäßigen, affektiven, emotionalen „Charakter“ erhalte – und dass Licht uns somit „die Welt in einer bestimmten Weise sehen lässt“.95 Anwendungsbezug und Fallbeispiele Dass Aisthetik mehr ist, als eine allein theoretische Auseinandersetzung mit der (gebauten) menschlichen Umwelt, dies macht Gernot Böhme auf verschiedene Weise deutlich. So, wenn er die Betrachtungsperspektive hin und wieder umkehrt, und statt per“. Le Corbusier, Ausblicke auf eine Architektur (1922); herausgegeben von Ulrich Conrads/Hans Hildebrandt (Berlin: Ullstein, 1963). 93 Mit ‚gelichtetem Raumʻ meint Böhme den Raum, den das Licht allgemein schafft, etwa in Form von Tageslicht: „Der Raum, den das Licht schafft, ist der Raum der Distanzen, der Abstände, der Abstände von mir“; mit ‚Lichtraumʻ Vorkommensweisen von Licht, die dieses selbst – quasi von außen – als ausgedehnten räumlichen Körper erscheinen lassen (vom Lichtkegel, den eine Laterne wirft, bis hin zu erleuchteten Schaufenstern oder Computerbildschirmen); mit ‚Lichtern im Raumʻ die konzentrierte, punktförmige Erscheinungsweise von Licht, die wiederum untereinander, im Gefüge, einen Raum bilden können (in Form von Lampen, Lampions, Feuerwerk, oder etwa den Sternen). Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S.94 und 97ff. 94 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.102. 95 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.93-104.

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vom Standpunkt des Theoretikers aus zu sprechen, jenen eines Praktikers einnimmt, wie in folgendem Zitat: Entscheidend für den Architekten ist […], dass Atmosphären erzeugt werden können und zwar durch Setzen durchaus objektiver Mittel. Dazu gehören außer den klassischen wie Geometrie, Gestalt, Proportion, Abmessung, noch Licht, Farbe, Ton. [...] aber ebenso sind Zeichen und Symbole zu nennen [, die] auf Grund der Kultur oder kulturellen Vorurteile eine bestimmte Atmosphäre erzeugen. In dieser Weise können auch Materialien wirksam werden [...].96

Dabei scheint sich Gernot Böhme durchaus darüber im Klaren, dass sein eigener theoretischer Ansatz zwar dazu beitragen mag, auch praktisch im Bereich der Gestaltung der (gebauten) menschlichen Umwelt tätigen Personen neue Aspekte an ihrem jeweiligen Betätigungsfeld aufzuzeigen, dass letztlich jedoch vieles von dem, was er thematisiert, in gewissem Sinn zum alltäglichen Handwerkszeug, zu einem expliziten oder tacit knowledge von PraktikerInnen gehört. Ein Gedanke, den Böhme selbst seinem Buch Atmosphäre voranstellt, wenn er im Vorwort formuliert: Ich glaube [...], dass in unserer Zeit [...] die ästhetische Theorie viel von den Praktikern zu lernen [hat]. Von all dem, was ich berührt habe, von den Atmosphären, der Produktion von Oberflächen oder der Welt des Scheins, verstehen die Praktiker viel mehr als die Ästhetiker. Diese Leute, also die Innenarchitekten, die Designer, die Theatermacher, die Bühnenbildner, die Produzenten von Verkaufsatmosphären wissen ja von der Praxis her, wie man Atmosphären herstellt und was man mit ihnen bewirken kann, denn sie wollen ja Befindlichkeiten erzeugen.97

An dem Zitat wird ein interessanter Umstand hinsichtlich der böhmeschen Aisthetik im Allgemeinen deutlich. Denn diese offenbart noch eine dritte, ganz grundlegende Qualität: So ist sie a) eine Lehre der sinnlichen Wahrnehmung; und b) eine theoretische Auseinandersetzung mit der Verfasstheit und Wirkungsweise der (gebauten) menschlichen Umwelt. Letztlich enthält sie aber auch c) Aspekte einer (nicht, oder nur teilweise sprachgebundenen) Hermeneutik – also einer interpretierenden Forschung, die aus Gebäuden, Städten, Landschaften, so sie vom Menschen gezielt auf eine bestimmte Weise geschaffen wurden, herauszulesen sucht, mit welchen gestalterischen (und keineswegs allein semiotischen) Mitteln gearbeitet wurde, um spezifische leiblich-affektive Wirkungen hervorzurufen. Alle drei Grundbestimmungen der böhmeschen Aisthetik gehen dabei potentiell Hand in Hand miteinander. Denn vom Standpunkt einer Untersuchung der sinnlichen Wahrnehmung aus betrachtet ist es prinzipiell gleichgültig, ob ein Umraum intentional auf die und die Weise geschaffen wurde, um eine bestimmte Wirkung hervorzurufen, oder ob es sich um eine naturgegebene bzw. zufällige Wirkung handelt. Andererseits kann eine Kenntnis der Mittel, mit denen (gebaute) menschliche Umwelten in Form von Zimmern, Gebäuden, Straßenzügen, Plätzen, Stadtvierteln, Dörfern, Städten, Landschaften vorsätzlich und gezielt gestaltet wurden, um eine spezifische Wirkung zu erzielen (ebenso, wie eine Kenntnis der Zwecke, zu denen derartige Gestaltungen vorgenommen wurden), durchaus dazu beitragen, das Wissen über die allgemeine Wirkung und Wahrneh96 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.18. 97 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.17f.

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mung von (gebauten) menschlichen Umwelten, seien sie intentional, natürlich oder zufällig entstanden, zu bereichern. Aber zurück zur Frage des Anwendungsbezugs: Die Palette, die Böhme hinsichtlich möglicher konkreter Anwendungen entfaltet, ist weit gefächert. Möglich, und nach Böhmes Dafürhalten notwendig, wäre etwa eine Untersuchung „von Bahnhöfen, von Museen, von Parkhäusern [...]. Letzteres vor allem, weil hier atmosphärisch Vieles im Argen liegt. Ferner wären [...] die Untersuchung von Supermärkten, malls, Flughäfen interessant.“98 Gebäude, wie öffentliche Bauten, Geschäftsgebäude und Kirchen, wären in diesem Kontext nach Böhme insbesondere auf die Frage hin zu untersuchen, wie sie mittels ihrer (leiblich erfahrbaren) Wirkung der Machtentfaltung bzw. der materialisierenden Verfestigung von Gesellschaftsstrukturen dienen mögen: Weil unsere Welt [...] auf die Explikation, auf die Äußerlichkeit aus ist, kann man über die Architektur sagen, dass sie genuin und immer politisch ist und das in gewisser Weise immer war. Die Architektur hat z.B. im Kirchbau Atmosphären des Heiligen oder der Demut erzeugt, und sie war immer eingespannt in die Produktion von Herrschaftsatmosphären. Gerichtsgebäude oder Schlösser sind Architekturen, die soziale Hierarchien sinnlich manifest machen. Sie werden nicht nur für einen neutralen Betrachter anschaulich gemacht, sondern sie greifen in die Befindlichkeit derjenigen ein, die sich diesen Gebäuden nähern oder sie betreten. Diese Funktion hat Architektur auch gerade heute noch. Und so wird auch von der Architektur abhängen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben. Sie ist unmittelbar politisch, weil sie Grundbefindlichkeiten in der technischen Zivilisation produziert.99

Interessant an diesen Ausführungen ist nicht zuletzt, dass sie noch einmal die Spezifik der böhmeschen Herangehensweise klarmachen. Denn Ansätze für die theoretische Untersuchung eines Zusammenhangs von (gebauter) menschlicher Umwelt und gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Fragestellungen liegen, zumindest in disparaten Ansätzen, ja bereits vor. Zu denken wäre an ein weites Spektrum an Beiträgen, von den architekturtheoretischen Schriften eines Charles Jencks über die kunsthistorischen Analysen zur politischen Ikonologie eines Martin Warnke bis hin zu den poststrukturalistischen Raumanalysen eines Michel Foucault (siehe hierzu auch Kapitel 11.1) Allerdings folgen derlei Ansätze allesamt einem bestimmten (zeitbedingten) Impetus, der sich insbesondere auf die Aspekte des Visuellen, des Semiotischen und, so sie die menschliche Physis thematisierten, auf den Körper (versus den phänomenologischen Leib) beziehen. Gernot Böhme hierzu: Die Ausarbeitung der [...] Atmosphäre zu einem Begriff der ästhetischen Theorie bringt zu allererst Vorteile für die ästhetische Theorie selbst. [...] die Einführung dieses Begriffs befreit sie aus der Verengung auf das Visuelle bzw. auf das Semiotische. Denn alles, was man nicht in Strukturen fassen konnte, hatte man in die Bedeutung verlegt. So redet Norbert Schulz etwa von Meaning in Western Architecture oder Jencks von der Sprache der postmodernen Architektur. Man folgt aber damit nur der Konjunktur der Semiotik und verkennt, dass das Zeitalter der Repräsentation längst an sein Ende gekommen ist.100 98 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.105. 99 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.18. 100 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.132.

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Naheliegend ist es daher, dass Böhme sich zwecks Illustration einer möglichen Anwendung seiner theoretischen Ausführungen auch Beispielen aus Bereichen zuwendet, die üblicherweise allein einer Analyse unter semiotischen oder visuellen Gesichtspunkten unterzogen werden. So liefert er eine Untersuchung der leiblich erfahrbaren Wirkung sakraler Architekturen in Atmosphären kirchlicher Räume. 101 Der Frage der politischen Inszenierung (gebauter) menschlicher Umwelten wendet er sich in NS-Architektur als Kommunikationsdesign102 zu. Der Möglichkeit einer ökonomischen Zwecken dienenden atmosphärischen Inszenierung von Materialität wird in Inszenierte Materialität oder in Der Glanz des Materials – Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie anhand der Beispiele Buchhandlung und Einkaufszentrum nachgegangen (wobei anzumerken ist, dass das Beispiel zweier unterschiedlich ausgestalteter Konstanzer Buchläden das einzige Fallbeispiel bleibt, das anhand eines konkreten Einzelfalls und nicht anhand eines allgemeineren Topos wie ‚gotische Kircheʻ oder ‚Einkaufsparadiesʻ entwickelt wird). Das wohl komplexeste, mittels der Schilderung eigener Erlebniseindrücke wie literarischer Zitate behandelte Fallbeispiel stellt sicherlich jenes der Atmosphäre der Stadt dar. Böhme bringt hier noch einmal diverse mögliche Wirkmechanismen, wie sie bereits zuvor unter konzeptionellen Gesichtspunkten erörtert wurden, in anschaulicher alltäglicher Form zur Sprache. So schildert er den Geruch als mögliches Erzeugendes (i.e. auslösenden Faktor) von Atmosphären: Früher hatte die Metro in Paris einen ganz eigenen Geruch. Man hätte mich im Schlaf nach Paris versetzen können, und ich hätte an diesem Geruch erkannt, wo ich bin. Heute würde ich etwas darum geben, wenn mir jemand noch einmal ein Fläschchen von diesem Geruch verschaffen könnte. Ich würde daran schnuppern und aus diesem Geruch jenes Paris von damals herausschnüffeln wie Marcel Proust sein Cambrais aus dem Madeleine-Kuchen. [...] dass Städte, Quartiere, Gegenden und Landschaften ihre Gerüche haben, gilt auch heute [...]. So kann man noch immer mit der Nase entscheiden, ob man sich in Ost- oder West-Berlin befindet. Das liegt zwar nicht mehr am Zweitakterbenzin, wohl aber an der Verwendung von Braunkohlenbriketts im Osten. Anderswo liegt es an der Erde, wenn sie feucht wird, oder an Steinen, oder an bestimmten Bäumen, die in der Stadt wachsen, oder dass man das Meer riecht, es liegt am verwendeten Benzin, an den Verkehrsmitteln überhaupt und natürlich an den Menschen und ihren Lebens- und Essgewohnheiten. Die Gerüche sind ein wesentliches Element der Atmosphäre einer Stadt, vielleicht sogar das wesentlichste [...].103

Neben derartigen, bereits zuvor von Böhme konzeptionell ausgearbeiteten Wirkmechanismen, wie sie Geräusche oder Gerüche an den Tag legen, bringt Böhme im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Atmosphäre der Stadt zudem weitere, neue mögliche Aspekte im Sinn von Erzeugenden ins Spiel. So etwa das „alt sein oder gewachsen sein“ einer Stadt, das sich „keineswegs bloß in Zeichen“ manifestiere. Oder die Frage der Orientierung, angesichts derer es „nicht einfach bloß um relative Positionen, sondern darum, wie man sich leiblich in so und so strukturierten Räumen befindet“, gehe. Denn: 101 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.139-150. 102 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.162-172. 103 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.128.

160 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Es macht eben einen Unterschied, ob man durch enge Gassen geht oder über breite Esplanaden, ob für eine Stadt winklige, ansteigende Straßen charakteristisch sind oder lange überschaubare Fluchten, ob man zwischen Hochhäusern plötzlich auf ein Kirchlein stößt oder man aus einer Gasse heraustretend einen weiten Platz vor sich findet. Räumliche Strukturen und Konstellationen werden eben nicht bloß gesehen oder abgeschätzt, sondern auch leiblich gespürt. In dieser Hinsicht müssen existierende Untersuchungen neu interpretiert werden.104

Soweit zu Gernot Böhmes Ausführungen zur Wahrnehmung von Architektur und Stadt. Inwiefern diese zentralen Punkte einer allgemeineren, einen individuellen Ansatz überschreitenden Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt inkorporieren, dessen ungeachtet aber auch – etwa was den Gedanken der böhmeschen Aisthetik als einer ‚allgemeinen Wahrnehmungslehreʻ betrifft – einer kritischen Überprüfung unterzogen werden müssen, dazu mehr in Kapitel 5. Zunächst jedoch zu einem anderen und hinsichtlich des Gedankens einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nicht minder interessanten Autor.

104 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre; a.a.O., S.134.

Kapitel 4 Exemplarische Ansätze: Arnold Berleants Alltags- und Umweltästhetik

Wie zu Beginn des letzten Kapitels erwähnt, weisen die Ansätze Arnold Berleants und Gernot Böhmes eine nicht geringe gedankliche Nähe zueinander auf. Und doch: Aller Gemeinsamkeiten zum Trotz finden sich bei beiden Autoren jeweils ganz eigenständige Herangehensweisen, Interpretationen und Fokussierungen. Eben diese Unterschiedlichkeit bei gleichzeitiger geistiger Verwandtschaft ist es, die eine Gegenüberstellung für die weitere Untersuchung – deren Ziel nicht individuelle Ansätze, sondern die Möglichkeit einer allgemeineren und potentiell transdisziplinär verfassten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt ist – interessant macht. Denn erst durch einen kontrastierenden Vergleich beider Positionen kann zum Vorschein kommen, worin Übereinstimmungen, worin mögliche Abweichungen liegen. Thematischkonzeptionelle Verdichtungspunkte werden dabei ebenso kenntlich wie Möglichkeiten für alternative Binnenkonzeptionen. In diesem Sinn möchte ich mich nun Arnold Berleant zuwenden. Auch für dessen Position gilt es, einen großen gedanklichen Bogen nachzuzeichnen, der von einem allgemeinen ästhetiktheoretischen Ansatz (4.1) über zentrale Begriffe (4.2) und Ausführungen zum aisthesis-Begriff – respektive zur Frage des Wahrnehmens – (4.3), weiter zum thematischen Feld der (gebauten) menschlichen Umwelt (4.4) und schließlich – die beiden zuvor genannten Punkte zusammenführend – zur Wahrnehmung (gebauter)menschlicher Umwelten (4.5) führt.

4.1 ALLGEMEINER ANSATZ I think it is clear that Berleant's contribution to contemporary aesthetics, in terms of diversity and breath, is greater than that of most other aestheticians currently working in the field [...]. In short, Berleant's aesthetics is the aesthetics of art, of nature, and of everything in between.1

Mit diesen Worten fasst der Natur- und Umweltästhetiker Allen Carlson den Ansatz seines Kollegen Arnold Berleant prägnant, dabei nicht ganz frei von einem gewissen kritischen Unterton, zusammen. Eine Darstellung, mit der Berleants ästhetiktheoreti1

Allen Carlson, Critical Notice: Aesthetics and Environment, in: British Journal of Aesthetics, 46 (4), 2006, S.416-427.

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scher Ansatz jedoch letztlich nur unzureichend gekennzeichnet ist. Zwar erstreckt sich Berleants Arbeit im Bereich der philosophischen Ästhetik in der Tat über ein enormes thematisches Spektrum, das sich ausgehend von Überlegungen zu einer zeitgemäßen Philosophie der Kunst hinein in die Bereiche einer Ästhetik des Alltags und der Umwelt bis hin zu einer sogenannten ,socio-aestheticsʻ bewegt (allesamt Bereiche, in denen Arnold Berleant als echter Vorreiter angesehen werden kann). Allerdings geht die Arbeit des Philosophen, der sich in einer großen Anzahl von Einzelartikeln und bislang insgesamt acht Buchveröffentlichungen der Ästhetik zuwendet, in einer rein thematischen Auseinandersetzung mit konkreten Einzelfragestellungen nicht auf. Denn getragen wird sie von einer intensiven Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen der Ästhetik wie der Philosophie im Allgemeinen. Und so finden sich Reflexionen über die theoretischen Fundamente einer aktuellen Ästhetik von Berleants frühester Buchveröffentlichung The Aesthetic Field: A Phenomenology of Aesthetic Experience aus dem Jahr 1970 bis hin zu seiner bislang jüngsten Arbeit Sensibility and Sense: The Aesthetic Transformation of the Human World aus dem Jahr 2010.2 Wenn Arnold Berleants konzeptioneller Ansatz sich, diesem Umstand zum Trotz, einer leichten Einordenbarkeit entzieht, so ist die Ursache hierfür also nicht etwa darin zu suchen, dass Berleant sich, wie Allen Carlsons Darstellung es vermuten lassen könnte, der Ästhetik allein im Sinn eines thematischen Fundus zuwenden würde, sondern sie ist letztlich in einer entsprechenden philosophischen Positionierung und konzeptionellen Grundhaltung angelegt. Diese wird von Berleant praktiziert, nicht aber immer und zu jedem Zeitpunkt explizit gemacht. Eine Stelle, an der er sich zu diesem Aspekt seines Arbeitens äußert, findet sich in folgender Passage (in der er auf eine Feldtheorie aus seiner ersten Veröffentlichung Bezug nimmt, die unterschiedliche Bereiche des Ästhetischen miteinander in Beziehung setzt3): It became increasingly clear to me, that the issue lay not in reconciling differences but in discerning connections and relationships [...].4 2

3

4

2012 erschien Berleants neunte Buchveröffentlichung Aesthetics beyond the Arts (Farnham: Ashgate, 2012), eine Sammlung von Essays, die in diese Untersuchung nicht mehr einbezogen werden konnte. Neben seinen individuellen Buchveröffentlichungen ist Arnold Berleant gemeinsam mit Allen Carlson Co-Herausgeber der beiden Bände The Aesthetics of Natural Environments (Peterborough: Broadview Press, 2004) und The Aesthetics of Human Environments (Peterborough: Broadview Press, 2007). Berleants aesthetic field konzipiert das Ästhetische als eine Art multipolares Spannungsfeld, das sowohl den Bereich der Künste wie jenen der alltäglichen Erfahrungen einschließt und sich dabei in vier verschiedene Dimensionen erstreckt, nämlich die künstlerischschaffende (productive), die objektiv-dingliche (objective), die aufnehmend-wertschätzende (appreciative) und die performative (performative) Seite. Bereits in diesem frühen Konzept betont Berleant nicht die Unterschiedlichkeit der von ihm identifizierten Dimensionen des Ästhetischen, als vielmehr dasjenige, was diese gemeinsam haben und sie verbindet. Eben diese Vorstellung verfolgt der Denker in späteren Arbeiten wie Art and Engagement (Philadelphia: Temple University Press, 1991) und The Aesthetics of Environment (Philadelphia: Temple University Press, 1991) weiter. Arnold Berleant, Sensibility and Sense - The Aesthetic Transformation of the Human World (Charlotteville: Imprint Academics, 2010), S.6.

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Hierbei handelt es sich um eine Einsicht nicht nur formaler oder systematischer, sondern durchwegs philosophischer Art, die sich in der Folge in Berleants Arbeiten auf unterschiedlichsten Ebenen ausprägen sollte. Und so fährt Berleant (diesmal Bezug nehmend auf seine jüngste Buchveröffentlichung) fort: [...] despite the philosophical penchant for order, this book is about human continuities. It thus inverts the usual philosophical process of drawing distinctions, identifying differences, establishing divisions, and institutionalizing separations. I therefore eschew fixed categories, even the category of the whole. Yet while this book embraces the processes there are stabilities and differences, and identifying and recognizing these is important, as well. The book [...] holds that there are differences rather than divisions, continuities rather than breaks; and it favors distinctions over separations.5

Dass eine derartige Sichtweise mehr ist als lediglich eine Stilfrage, dies wird deutlich, wenn Berleant seinen um Differenzierungen und das Herstellen immanenter Verbindungen bemühten Ansatz in Sensibility and Sense explizit in den Kontext so unterschiedlicher Autoren wie John Dewey, Ludwig Wittgenstein, Jean-François Lyotard, Jacques Derrida, Gilles Deleuze/ Félix Guattari stellt.6 Inwiefern seine Haltung auch mit einer bestimmten erkenntnistheoretischen Verortung einhergeht, dies legt Arnold Berleant in einem unlängst veröffentlichten Text offen. Anlass für diesen war eine Critical Notice, die Allen Carlson anlässlich des Erscheinens von Berleants Aesthetics and Environment publiziert hatte. In dieser konfrontiert Carlson Berleant mit diversen Kritikpunkten, von welchen der gravierendste darauf abzielt, dass Berleants Ansatz zwar erfolgreich diverse traditionelle ästhetiktheoretische Determinationen (so etwa das Prinzip der disinterestedness, also der Interesselosigkeit, verstanden im Sinn des kantischen interesselosen Wohlgefallens) hinter sich lasse, dabei aber letztlich selbst ohne ein echtes verbindendes Merkmal, eine differentia specifica, für dasjenige verbleibe, was unter dem Begriff der Ästhetik bzw. des Ästhetischen zu verstehen sei. Dieser Vorwurf liefe in der Konsequenz, so er als berechtigt anerkannt werden müsste, darauf hinaus, dass: „Although his [Berleants – Anmerkung B.H.] aesthetic consists of a series of insightful and compelling observations on a remarkably divers and broad range of encounters, it does not constitute [...] a general theory [...].“7 Diesem Vorwurf begegnet Arnold Berleant mit den folgenden, aufschlussreichen Worten: The insistence on a particular, specific criterion of the aesthetic rests on an ontology that can be traced back to Aristotle, an ontology in which each kind of thing has a single, specific mark that distinguishes it from other members of the same genus. This essentialist metaphysics cannot be simply taken as axiomatic but can, and in fact should, be reconsidered. I would identify the aesthetic not by a single, unique feature but by a syndrome [...]. It seems clear that

5 6 7

Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.7f. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.63-81. Allen Carlson, Critical Notice: Aesthetics and Environment; in: British Journal of Aesthetics; a.a.O.

164 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT rather than disagreeing about a logical requirement, Carlson and I actually employ contrasting ontologies [...].8

Anknüpfungspunkte Wie Berleants Entgegnung auf Carlsons Kritik deutlich macht, fußt sein ästhetiktheoretischer Ansatz nicht allein auf einer dezidierten Zurückweisung traditioneller ästhetiktheoretischer Konzeptionen, sondern auch auf einer Kritik spezifischer ontologischer Vorstellungen, die sich mit diesen verbinden. Ähnlich wie Wolfgang Welschs Ansatz ist auch der Arnold Berleants vom Gedanken des Anti-Essentialismus geprägt.9 Diesem Aspekt wird zu einem späteren Zeitpunkt weiter nachzugehen sein. Für den Augenblick stellt sich zunächst einmal die Frage möglicher Anknüpfungspunkte. Denn löst man die Ästhetik von traditionellen Determinationen – also in Berleants Fall von einer thematischen Fokussierung auf Fragen der Kunst, der Schönheit, des Geschmacks; einer konzeptionellen Fokussierung auf spezifische traditionelle Konzepte wie jenes der disinterestedness, oder einer tradierten Ontologie aristotelischer Prägung – so scheint es keinen sicheren und verbindlichen Grund mehr für eine zeitgemäße ästhetiktheoretische Reflexion zu geben. Berleant selbst bemerkt in diesem Kontext: Starting inquiry without a firm place from which to begin and with no absolute […] leaves us with the problem of how […] to begin. […] We cannot […] avoid starting with something, but we must nonetheless place the particularities of our condition on the stand.10

Berleant ist sich der Problematik des Anfangs, wie sie sich für seinen Ansatz im Besonderen, aber auch für eine zeitgenössische alternative Ästhetik im Allgemeinen stellt, also durchaus bewusst: Weder bietet sich ein fester verbindender Grund noch die Möglichkeit eines Schöpfens aus dem Nichts. Und so bleibt auch für einen Ansatz wie den seinen keine andere Möglichkeit, als bei (historischen) Vorläufern Anschluss zu suchen, derartige ,particularitiesʻ, also Anknüpfungspunkte, dabei aber klar offenzulegen. Einen ersten wichtigen Punkt der Orientierung findet Berleant diesbezüglich in der Tradition der Phänomenologie. Anders als für Gernot Böhme, der mit Hermann Schmitz’ Neuer Phänomenologie bereits auf einen kritisch modifizierten Ansatz aus jüngerer Zeit zurückgreifen kann, stellen für Arnold Berleant, der sich im Kontext der angloamerikanischen und somit stark analytisch geprägten Ästhetik bewegt, insbesondere Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty zentrale philosophische Referenzpunkte dar. Arnold Berleant hierzu: The phenomenological reduction, the idea that fundamental philosophical inquiry should proceed by suspending all assumptions [...] stands as one of the great marks of twentieth century philosophy […].11 8

Arnold Berleant, Aesthetics and Environment Reconsidered: Reply to Carlson; in: British Journal of Aesthetics, 47 (3), 2007, S.315-318. 9 Vgl. Kap. 1-2. 10 Zitat wurde aus zwei Passagen zusammengeführt; vgl. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.22-24.

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Für Berleant gilt es also, der husserlschen Phänomenologie mit ihrem zentralen Gedanken der phänomenologischen Reduktion zu folgen. Dies jedoch keineswegs bedingungslos. Denn für Berleant gilt auch hier, was er als quasi-schicksalhafte Grundbedingung jeglichen philosophischen Bemühens erachtet: nämlich die Unmöglichkeit, aller kritischen (Selbst-)Überprüfung zum Trotz, jemals zu so etwas wie einem festen, neutralen Grund zurückzukehren. Und so führt Berleant zu Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion, bzw. der Epoché (also der Bewusstmachung vormals unreflektierter Vorannahmen, die es sich systematisch vor Augen zu führen und ,einzuklammernʻ gilt) weiter aus: [...] while the procedure of “bracketing” our assumptions of existence, as Husserl called it, is a useful way of calling attention to the often insidious intrusion of [...] presuppositions, it is inadequate as a technology for re-grounding philosophy. It cannot be adequately practiced, I believe, for it is itself assumptive and misleading. It assumes that one can return to beginnings, to a pure starting point [...]. This is the fundamental Cartesian error, for it assumes that there is a logical sequence, indeed a deductive order to knowledge [...]. There is, moreover, the additional assumption of a neutral investigator [...]. And most interesting of all, it unwittingly postulates pure consciousness as the originating point of inquiry and indeed, for Husserl, its terminus. That its metaphysical conclusions are ideal essences is [however – Anmerkung B.H.] the result of the method, not of the inquiry. [...] These difficulties are not overcome when we make consciousness incarnate, as Merleau-Ponty did in regarding the flesh as foundational.12

In anderen Worten: Arnold Berleant folgt Husserl und Merleau-Ponty in deren Grundsatz, philosophische Reflexion ausgehend von der unmittelbaren Erfahrung bzw. Wahrnehmung des Menschen zu entfalten und dabei, wie bei Merleau-Ponty gegeben, besonderes Augenmerk auf die Rolle zu legen, die die menschliche Physis (in Gestalt eines Leibes, bzw. des ,chairʻ13) in diesem Zusammenhang spielt. Allerdings hält Berleant die husserlsche Hoffnung, mittels der phänomenologischen Reduktion zu so etwas wie essentiellen Wesenhaftigkeiten und transhistorisch gültigen Wahrheiten zurückkehren zu können, für verfehlt. Diese Tatsache lässt für Berleant letztlich eine dritte philosophische Strömung, neben dem Anti-Essentialismus als allgemeiner Grundhaltung und einer kritischgewendeten Phänomenologie (oder auch einer sogenannten ,Phänomenologie ohne Ontologieʻ, wie Berleant zuweilen formuliert) als Methode, wichtig werden: nämlich jene des Pragmatismus. Hier ist es zum einen der prominenteste Vertreter einer pragmatistischen Ästhetik, nämlich John Dewey, an den Berleant gedanklich anschließen kann.14 Dies gilt, wie im Weiteren noch deutlich werden wird, insbesondere hinsicht11 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.20. 12 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.21. 13 Zu Merleau-Ponty und dessen Verständnis von ,Leibʻ bzw. ,chairʻ, siehe Anmerkungen in Kap. 3, Fn 45 sowie: Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Berlin: Walter de Gruyter, 1974); Maurice Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens (Berlin: Walter de Gruyter, 1976); Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare (München: Wilhelm Fink Verlag, 1994). 14 Berleant ist mit dieser Wertschätzung Deweys übrigens nicht allein. Richard Rorty hält diesen für einen der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts (gemeinsam mit Witt-

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lich des Begriffs der ,experienceʻ. Darüber hinaus stellt aber auch der allgemeine Gedanke des Pragmatismus, der vereinfacht gesagt besagt, dass pragmatische Auswirkungen, die unser Denken haben mag, in dieses und dessen Bewertung einbezogen werden müssen15, einen wichtigen Referenzpunkt dar. Arnold Berleant fasst diesen Grundgedanken selbst wie folgt zusammen: [...] the meaning of an idea is found in the actions it implies and its truth and value are determined by the consequences that follow from its use. [...] no idea or practice is self-contained. It is essential to look at what follows from its acceptance and application in order to determine its meaning and its value.16

4.2 Z ENTRALE B EGRIFFE Wie aus dem Bisherigen bereits deutlich geworden sein dürfte, zeichnen sich Unterschiede zwischen Arnold Berleants und Gernot Böhmes Ansätzen nicht primär auf thematisch-inhaltlicher Ebene ab, als vielmehr eine zu Grunde liegende philosophische Haltung sowie, damit verbunden, die jeweilige Herangehensweise betreffend: Wo Gernot Böhmes Ansatz um systematischen Aufbau, Konsequenz und Tiefenfundierung bemüht ist, steht bei Berleant ein kontextualisierendes, vernetzendes Denken im Vordergrund, das die Vorläufigkeit – und somit die Relativität jeglichen Wissens – betont.17 Allerdings bedeutet dieser Umstand nicht, dass Berleants ästhetiktheoretischen Reflexionen, nur weil sie das Ziehen kategorischer Grenzen zu vermeiden suchen, nicht um Präzision, im Sinn eines Aufspürens von Differenzen und eines Treffens von begrifflichen Differenzierungen, bemüht wäre. Und so findet sich auch bei Arnold Berleant ein durchaus eigenständiges begriffliches Instrumentarium, das – ebenso wie die von Gernot Böhme entwickelten Begrifflichkeiten – dazu dienen soll, genstein und Heidegger). Und selbst der Pragmatismus-kritische Theodor W. Adorno erwähnt Dewey im Sinn einer singulären, positiven Ausnahme. Neben Dewey können Autoren wie David Prall, D.W.Gotshalk, Justus Buchler, Richard Shusterman zum Umfeld der angloamerikanischen pragmatistischen Ästhetik gezählt werden. 15 Der Pragmatismus breitete sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im angloamerikanischen Raum aus. Den Ausgangspunkt lieferte Charles S. Pierces pragmatistische Maxime, die dieser in verschiedenen Versionen vorlegte: „Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.” Diese zunächst im Kontext der Logik zu verstehende Aussage wurde bald, im Dialog mit William James und der Rezeption durch Ferdinand Canning Scott Schiller und John Dewey, zur Grundlage einer philosophischen Strömung, die später – in Gestalt eines sogenannten Postoder Neopragmatismus – auch auf Denker wie Hilary Putnam, Richard Rorty, oder im Bereich der Ästhetik, auf Richard Shusterman wirkte (vgl. Fn 13). 16 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.22f. 17 Berleant selbst sieht seinen Ansatz treffend charakterisiert durch das folgende Zitat Lyotards (mit dem dieser Anton Ehrenzweig würdigt): „he believed it more important to assert what is in fact the case than to deny that things work as others claim or have claimed.“ Zitiert nach Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.6.

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ein in sich widerspruchsfreies Gefüge zu schaffen, das zugleich nach außen hin eine Anschlussfähigkeit an bestimmte historische Positionen zulässt.18 Experience Ein für Berleants gesamtes Arbeiten zentraler Begriff findet sich in jenem der ,experienceʻ, zu Deutsch der ,Erfahrungʻ. Dieser hat, wie Arnold Berleant selbst feststellt, im Lauf des 20. Jahrhunderts von unterschiedlichsten Seiten her Aufmerksamkeit erfahren: so von Seiten einer pragmatistischen bzw. naturalistischen (John Dewey, David Prall, Herbert Sydney Langfeld), einer analytischen (Monroe Beardsley, Virgil C. Aldrich) oder einer phänomenologischen (Merleau-Ponty, Dufrenne) Ästhetik her. Ja, die Auseinandersetzung mit dem Begriff der ,experienceʻ sei, so Berleant, derart intensiv gewesen, dass dieser heute als der zentrale Terminus einer modernen Ästhetik bezeichnet werden könne. In fact, so important has the notion of experience been in theories of art that it may be taken as the seminal concept in modern aesthetics.19

Allerdings gelte es heute auch, diesen Begriff zeitgemäß weiterzuentwickeln, so dass er nicht länger – wie bislang üblich – vorwiegend im Kontext einer Philosophie der Kunst, sondern ebenso einer Ästhetik des Alltags und der Umwelt Verwendung finden könne. Um zu verdeutlichen, was hiermit gemeint ist, unterscheidet Arnold Berleant drei Modelle der ästhetischen Erfahrung: 1) ein kontemplatives Modell, das maßgeblich durch den Gedanken des distanzierten, interesselosen Wohlgefallens geprägt sei, und das sich von der British School eines Shaftsbury und Hutcheson über Kants Ästhetik bis hin zu Theoretikern des 20. Jahrhunderts wie Bullough und Stolnitz vertreten finde; 2) ein aktives Modell, das die Bedeutung der Involviertheit des Erlebenden berücksichtige – John Dewey könne hier genannt werden, ebenso wie Maurice Merleau-Ponty –; und 3) ein partizipatorisches Modell, das Berleants eigenem Ansatz entspricht. Die erstgenannte, traditionelle Bestimmung der ästhetischen Erfahrung im Sinn einer distanzierten Betrachtung hält Berleant in Kreisen der philosophischen Ästhetik für derart etabliert, dass sie noch heute einer offiziellen Doktrin gleiche: The contemplative model of aesthetic experience is so securely established as to be assumed the official doctrine. Resting on a philosophical tradition that extends back to classical times, it appears to many as the very foundation of modern aesthetics, axiomatic and unchallengeable.20

Dabei erscheine, wie Berleant weiter ausführt, die (universelle) Gültigkeit dieses Konzepts heute gleich aus mehreren Gründen fraglich: So sei das kontemplative Modell nicht in der Lage, zeitgenössische Kunstpraktiken angemessen zu fassen (Berleant bezieht sich hier insbesondere auf die Performance-Kunst). Des Weiteren liefere 18 Zu denken an Positionen wie John Dewey oder Ronald Hapburn (vgl. Kap. 2). 19 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture (Aldershot: Ashgate, 2005) S.3; zum Begriff der Erfahrung im Kontext der deutschsprachigen Ästhetik siehe Kap. 2, Fn 18. 20 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.4.

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es keine zufriedenstellende Erklärung für ästhetische Erfahrungen in Alltag und Umwelt. Und schließlich und endlich ließe sich noch nicht einmal jene Kunstform, anhand derer das Modell ursprünglich entwickelt worden sei, nämlich die pittoreske Landschaftsmalerei des 18. und 19. Jahrhunderts, hinreichend mit diesem erfassen.21 Demgegenüber sei nun das aktive Modell, wie es sich seit dem 19. und insbesondere im Lauf des 20. Jahrhunderts herausgebildet habe, durch die grundsätzliche Einsicht bestimmt, dass die vermeintlich objektive Welt – wie sie bestimmte künstlerische Strömungen distanziert darzustellen, die Wissenschaften zu erklären suchten – nicht mit der erfahrbaren Welt des menschlichen Alltags übereinstimme. Diese Einsicht betrifft für Berleant nicht zuletzt auch die Erfahrung des menschlichen Umraums: What is common to the various forms of the active model is the recognition that the objective world of classical science is not the experiential world of the human perceiver. Thus there is a sharp difference between space as it is presumably held to be objectively and the perception of that space. A theory of aesthetic experience must thrive form the latter, rather than the former, from the manner we participate in spacial experience rather than from the way we conceptualize and objectify such experience.22

Dieser Gedanke, die menschliche Erfahrung nicht von einer vermeintlich objektiven Welt her zu konzipieren, sondern den lived body, der sich in einem lived space23 bewege, zum Ausgangspunkt zu machen, findet sich ebenso in John Deweys Art as Experience, dessen generelles Anliegen es ist, die Kunsterfahrung als konstitutiv in ein alltägliches Erfahren eingebettet zu verstehen, wie in der Phänomenologie eines Merleau-Ponty. Doch auch diese so wichtigen philosophischen Referenzpunkte gilt es für Berleant mit Vorbehalt zu betrachten. Denn insbesondere die phänomenologische Tradition weise eine starke – und für Berleants Dafürhalten eine allzu starke – Tendenz auf, den Leib als Apriori jedweder Erfahrung zu verabsolutieren. Diese Tendenz führe letztlich zu einer Art Re-Essentialisierung unter umgekehrten Vorzeichen, wobei nicht eine vermeintlich objektive Außenwelt, sondern die menschliche Physis selbst verabsolutiert werde; oder wie Berleants selbst sagt, zu einer Verschiebung der ontologischen Entität in die materielle menschliche Physis.24 Engagement Berleants eigenes partizipatorisches Modell der Erfahrung betont nun, anders als die beiden zuvor genannten, jedoch durchaus im gedanklichen Anschluss an ein aktives Modell, ausdrücklich das konstellative Verhältnis zwischen Leib und Umgebung. 21 Arnold Berleant, The Viewer in the Landscape; in: ders., Art and Engagement, (Philadelphia: Temple University Press, 1991) S.53-75. 22 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.6. 23 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.8. 24 Vgl. Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.6-11; The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.150; Living in the Landscape; a.a.O., S.103; Sensibility and Sense; a.a.O., S.21.

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Denn auch der Umraum wirke auf spezifische Weise auf den Menschen ein; und diese spezifische Wirkung konzeptionell zu vernachlässigen sei daher letztlich ebenso falsch, wie umgekehrt die Rolle des wahrnehmenden Menschen, der seine Umwelt erfährt, zu übergehen. Not only is it misleading to objectify the environment; it cannot be taken as a mere reflection of the perceiver, either. Recognizing the influence of [...] environmental features makes it necessary to extend the active model of aesthetic experience [...]. The consciousness of self, of the lived body, and of lived spaces must be complemented by recognizing the influences that environment exerts on the body [...].25

Die doppelte Art und Weise, wie Menschen einerseits aktiv, mittels der Wahrnehmung, in eine Umgebung hinein geöffnet sind, die andererseits wieder, passiv, auf diese zurückwirkt, belegt Berleant mit dem Begriff ,engagementʻ. Also mit einem Terminus, der auch in grammatikalischer Hinsicht ebenso in aktivischer wie in passivischer Form verwendet werden kann und der sich im Deutschen eher umschreiben denn direkt übersetzen lässt. Zu denken ist an Ausdrücke wie ,involviert seinʻ, ,verbunden seinʻ, ,beschäftigt seinʻ, ,teilnehmen anʻ.26 Ein solches engagement kennzeichnet für Berleant nicht nur die Kunst – oder richtiger: unterschiedliche künstlerische und kulturelle Erfahrungen –, sondern gleichermaßen das Erleben der Natur oder des menschlichen Alltags: „Such involvement occurs in many different orders of activity, including perceptual, conscious, physical, and social ones.“27 Zudem kann der Zustand eines engaged-Seins durchaus unterschiedliche Grade, unterschiedliche Intensitäten annehmen, wie Berleant in folgender Passage am Beispiel von Kunsterfahrungen erläutert: Engagement connotes a range of appreciative involvement, from the relatively subdued yet intense participatory attention we give to the classical arts, the emotional empathy that is so compelling in art of a romantic cast, to the active performance called forth by many of the folk and popular arts. These degrees of vital engagement vary with the arts, with history, with cultural practices, and above all with specific art objects, individual appreciators, and particular occasions.28

Wie hier deutlich wird, legt Berleant den Begriff des engagement gezielt nicht ein-, sondern mehrdimensional an. In dieser Hinsicht verkörpert er für den antiessentialistisch geprägten Denker auch mehr als einen Ausdruck zur Beschreibung eines bestimmten Modus der Erfahrung. Vielmehr versteht Berleant ihn im Sinn eines umfassenderen ästhetiktheoretischen Konzepts bzw., wie er selbst formuliert, einer Art ,deskriptiver Theorieʻ: 25 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment – Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.8f. 26 Vom englischen Verb ,to engageʻ (with something/someone) = jemandes Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sich aktiv mit etwas beschäftigen, ineinandergreifen. 27 Arnold Berleant, Re-thinking Aesthetics – Rogue essays on aesthetics and on the Arts (Aldershot: Ashgate, 2004) S.35. 28 Arnold Berleant, Re-thinking Aesthetics; a.a.O., S.9.

170 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Aesthetic engagement is more a descriptive theory, than a prescriptive one: it reflects the activity of the artist, the performer, and the appreciator as these combine in aesthetic experience. And it is a theory that reflects the world we participate in [...].29

Anders als beim Begriff des ,interesselosen Wohlgefallensʻ, der eine normative Haltung nicht nur beinhaltet, sondern auch einfordert, stellt der des ,engagementʻ für Berleant ein deskriptives Instrument dar, das dazu dienen soll, Erfahrungen auf unterschiedlichsten Ebenen und in den unterschiedlichsten Bereichen eines aesthetic field30 als miteinander verbunden zu denken. Den offenen Charakter einer derartigen Theorie, die auf einem Begriff aufbaut, der unterschiedlichste Verwendungsweisen in verschiedensten Kontexten erlaubt, räumt Berleant selbst ein. Allerdings sieht er diesen Umstand nicht als Defizit, sondern als Chance: Denn die innere Heterogenität und multilaterale Anschlussfähigkeit des Begriffs ,engagementʻ spiegelt in ihrer formalen Verfasstheit Berleants philosophische Grundhaltung letztlich nur adäquat wider: Aesthetic engagement challenges [...] tradition. It claims continuity rather than separation, contextual relevance rather than objectivity, historical pluralism rather than certainty, ontological parity rather than priority.31

Experience und engagement in ihrer weiteren Vernetzung Um den Begriff des ,engagementʻ nicht nur als Ausdruck für eine bestimmte Form des ästhetischen Erfahrens, sondern auch darüber hinausgehend weiterzuentwickeln, bedarf es einer dezidierten Bestimmung dessen, was eine derartige Theorie beinhalten könnte (wobei Theorie hier nicht im ,naturwissenschaftlichenʻ Sinn eines Erklärungsmodells verstanden werden sollte, das Aspekte wie Gesetzmäßigkeiten oder Prognostizierbarkeit impliziert, sondern eher im Sinn eines in sich kohärenten und nach außen hin anschlussfähigen Begriffsgefüges).32 Tatsächlich nimmt Berleant eine solche Weiterentwicklung vor. Allerdings geht er dabei, seinem anti-essentialistischen Impetus gemäß, nicht strikt definitorisch und systematisch, zumindest nicht in einem herkömmlichen, hierarchisch-klassifizierenden Sinn, vor. Sein Bestreben ist es vielmehr, verschiedene Erscheinungsformen und Aspekte einer engaged experience anhand von Fallbeispielen aufzuspüren und nachzuzeichnen. So wendet er sich in Art and Engagement der Bedeutung des Engaged-Seins in unterschiedlichen Kunstformen (in Landschaftsmalerei, Architektur, Literatur, Musik, Film, Tanz u.a.) zu. In Aesthetics and Environment thematisiert er, ebenfalls mittels einzelner Untersuchun29 30 31 32

Arnold Berleant, Re-thinking Aesthetics; a.a.O., S.19. Vgl. Fn. 3. Arnold Berleant, Art and Engagement; a.a.O., Vorwort, xiii. Arnold Berleant steht dem Begriff der ,Theorieʻ selbst kritisch gegenüber. Dies zum einen, da dieser ihm im Kontext der Ästhetik unangemessen erscheint: „Aesthetics provide no comparable logical structure that can compete with science in its study of the natural world.“ Zum anderen aber auch, da er einer grundlegenden tradierten Trennung in theoria und pronesis, in theoretisch-wissenschaftliche und praktisch-alltagsweltliche Einsichten kritisch gegenübersteht. Vgl. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.5f., S.25 und S.33f.

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gen, die involvierte Erfahrung, die Menschen in verschiedenen natürlichen oder gestalteten Umwelten, etwa in Gärten, auf Flüssen oder an Küsten, zu machen in der Lage sind.33 Ungeachtet dieser für Berleant charakteristischen Vorgehensweise lassen sich aber auch Aussagen konzeptioneller Art, über die Begriffe der ,aesthetic experienceʻ, des ,engagementʻ sowie hieran anschließende Begriffe finden. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht insbesondere Berleants jüngstes Buch Sensibility and Sense. Denn hier setzt der Denker nicht nur unterschiedliche, von ihm in früheren Arbeiten entwickelte und in der Anwendung erprobte Begriffe in Verbindung zueinander, sondern er bestimmt mittels dieser Begriffe auch sein allgemeines Verständnis des ,Ästhetischenʻ präziser, wenn nicht gar in gewissem Sinn neu. Assigning central importance to the aesthetic in human experience may seem to be a radical inversion, placing what is usually considered secondary and peripheral at the center of the human world as its nourishing source. [...] while giving the aesthetic centrality may be unexpected, it is not audacious. [...] To give the aesthetic a central place is not to ignore other dimensions of experience for, indeed, there are many identifiable ones, such as religious, somatic, mystical, social, practical, and cognitive. One or another may dominate but a multitude of others is certain also to be present, even though less prominent. What may seem at first unexpected, even extraordinary, is the realization that an aesthetic undercurrent is present on occasions when it is not predominant, and this will become part of my principle claim.34

Diese Eröffnungspassage Berleants bislang jüngster Arbeit bedarf einer Erläuterung: Wie oben festgestellt wurde, bezeichnet der Begriff des ,engagementʻ für Arnold Berleant zunächst einmal einen bestimmten Modus der experience, also der (partizipatorischen) Erfahrung. Ausgehend von diesem Gedanken thematisiert Berleant im Anschluss unterschiedliche Kontexte, in denen eine engaged experience gemacht und festgestellt werden kann. Allerdings stellt sich hierdurch, wenn auch zunächst noch unterschwellig, die konzeptionelle Frage nach dem Verhältnis von engaged experience, als einer auf Involviertheit beruhenden Erfahrung, und dem Ästhetischen. Zwar zeigen sich, wie Berleant anhand unterschiedlicher Einzeluntersuchungen darzulegen sucht, üblicherweise als ,ästhetischʻ bezeichnete Erfahrungen, wie etwa Wahrnehmungen im Bereich der Künste oder der natürlichen Umwelt, durch eine engaged experience gekennzeichnet. Andererseits bleibt ein derartiger Erfahrungsmodus nicht auf ,ästhetischeʻ Kontexte beschränkt. Vielmehr können auch vermeintlich rein kognitive, praktische, soziale, mystische, körperliche oder religiöse Erfahrungen eine intensive Involviertheit mit sich bringen. Dieser Umstand bietet für Berleant Anlass, in seiner Theoriebildung einen Schritt weiterzugehen. Und so nimmt er in seiner jüngsten Veröffentlichung eine konzeptionelle Neugewichtung vor: Nicht die engaged experience – also Berleants vormals zentrales Konzept – allein ist es hier, die sich in traditionellen ,ästhetischenʻ Gefilden (wie Kunst und Natur) beobachten und darüber hinaus auch in traditionell ,außer33 Weitere Arbeiten, in denen Berleant die Begriffe der ,experienceʻ und des ,engagementʻ entwickelt und zum Einsatz bringt: The Aesthetics of Environment und Rethinking Aesthetics – Rougue essays on aesthetics and on the Arts. 34 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.3f.

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ästhetischenʻ Bereichen (Politik, Sport, Sexualität, Religion etc.) antreffen lässt. Vielmehr zeigen sich (nun) sämtliche menschliche Erfahrungen für Berleant mit ästhetischen Anteilen durchwirkt. Das Ästhetische ist, als Spurenelement oder prävalentes Moment, also in jeglicher engaged experience enthalten – und dies, gleich in welchem Bereich sie gemacht wird. Berleant hierzu: Because the aesthetic concerns the character of experience itself and is not confined to a particular kind of object or place, it knows no external or a priori restrictions. Thus the occasions on which aesthetic appreciation can develop are unlimited and can involve any objects whatsoever.35

Arnold Berleant verbindet nun also auf das Engste seine beiden zentralen Begriffe der ,experienceʻ und des ,engagementʻ mit jenem des ,Ästhetischenʻ. Eine Bestimmung, die allerdings nur durch eine weitere konzeptionelle Verknüpfung an Kontur gewinnt: nämlich durch die Rückbindung des Begriffs des ,Ästhetischenʻ an jenen der ,aisthesisʻ.

4.3 ÄSTHETIK

UND AISTHESIS

[...] aesthetics [...] I take with the utmost seriousness, not for any horrific associations the concept may convey but because it serves as a key to unlock a distinctive and important domain of experience. I find the term 'aesthetics' useful because its etymology, "what is perceived by the senses", holds the perennial center of its meaning [...].36

Das „perennial centre of [...] meaning“, zu Deutsch die konstante, andauernde Bedeutungskomponente des ,Ästhetischenʻ liegt für Arnold Berleant also im Begriff ,aisthesisʻ angelegt. Dieser Gedanke durchzieht Berleants jüngste Veröffentlichung gleich einem roten Faden. Und so bringt der Ästhetiktheoretiker ihn an unterschiedlichen Stellen immer wieder explizit zur Sprache; etwa, wenn er erläutert: The etymology of the word 'aesthetics' is of cardinal importance for it provides the core meaning that runs through its various uses. Introduced by Baumgarten in the middle of eighteenth century, 'aesthetics' is the name he gave to the science of sensory knowledge [...]. In effect, Baumgarten gave an identity to a field of active philosophical discussion that reached back to Classical times, and the name has remained. He drew the term from the Greek, literally, „perception by the senses“, and the field of aesthetics continues to retain a close association with sensory experience. In naming this descriptive science „aesthetics“, Baumgarten kept close to the original Greek meaning of aisthesis (α'ισθησις), when he defined the domain of this new science. I take its core meaning serious.37 35 Arnold Berleant, Ideas for a Social Aesthetic; in: Andrew Light/Jonathan M. Smith, The Aesthetics of Everyday Life; a.a.O., S.29. 36 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.26. 37 An anderer Stelle erklärt Berleant hinsichtlich des Zusammenhangs von aisthesis und experience: „[...] nothing is more primary in human experience than sensory perception [...]. I take this primacy, then, as the originating idea of the aesthetic, aisthesis, literally,

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Nun ist sich Arnold Berleant angesichts dieser Bestimmung durchaus darüber im Klaren, dass mit dem Verweis auf den aisthesis-Gedanken als wichtigem oder gar zentralen, wenn auch in der weiteren Geschichte der Ästhetik seit Alexander G. Baumgarten oft eher unterschwellig anzutreffenden Strang noch keinerlei Antwort gegeben ist. Vielmehr gilt es, um die aktuelle Relevanz des Begriffs offenzulegen, genauer zu klären, was sich auch heute noch oder wieder mit diesem verbinden lässt. Eine erste wichtige Unterscheidung trifft Berleant diesbezüglich zwischen einer semantischen Ebene und jener des Ästhetischen selbst. Der Autor hierzu: „There is nothing sacred in the word 'aesthetics'. Its denotation has no ontological status, like all language, its meaning is specified only internally, within a language system.“38 Auf rein sprachlicher Ebene kommt dem Begriff des ,Ästhetischenʻ für Berleant also keine besondere Rolle zu. Und so stellt auch dessen etymologische Ableitung aus dem Altgriechischen einen letztlich kontingenten Sachverhalt dar. Allerdings: „What is at issue here, however, is not the truth of statement but the truth of experience.“39 Ein Sachverhalt wie die menschliche Erfahrungswirklichkeit kann nach Berleants Dafürhalten also nicht allein auf sprachlicher Ebene verhandelt werden, vielmehr gelte es zu bedenken: „The concept of aesthetics is useful [...] as a vehicle for drawing attention to [...] the capacity for [...] perceptual experience.“ 40 Der Begriff lenkt also nur, im Sinn eines ,sprachlichen Vehikelsʻ, die Aufmerksamkeit auf die menschliche Fähigkeit, wahrnehmungsgebundene Erfahrungen zu machen; und zwar Erfahrungen einer bestimmten Art: „[...] experience that is the most direct, most immediate, and most pure medium of perceptual apprehension.”41 Als solche, nämlich als wahrnehmungsgebundene Erfahrungen, die ein Medium des Auffassungsbzw. Erkenntnisvermögens darstellen, sind diese für Berleant jedoch weitestgehend vor- oder außersprachlicher Art. aisthesis im Spannungsfeld traditioneller Dualismen Der eigentliche Gegenstand der Auseinandersetzung ist also die ,perceptual apprehensionʻ, das sinnliche Auffassungs- bzw. Erkenntnisvermögen, in einem nicht- oder zumindest weitgehend nicht- sprachlichen Sinn. Ein solches Gegenstandsgebiet mit sprachlichen Mitteln, dem originären Handwerkszeug der abendländischen Philoso-

38 39 40 41

perception by the sences.“ Auf die Rolle des Begriffs der ,aisthesisʻ im Kontext dessen, was Berleant als social aesthetics bezeichnet, weist er gegen Ende von Sensibility and Sense hin. Unter Bezugnahme auf Wolfgang Welschs grundlegende Arbeiten in diesem Bereich formuliert er: „Wolfgang Welsch has made effective use of the force of aisthesis as an instrument of cultural criticism. The implications for social and political philosophy of this transformation of the aesthetic are profound [...]. But to my knowledge there has not been any attempt to carry through the transformative potential of aisthesis: transformative politically, transformative culturally, transformative metaphysically. The groundwork for accomplishing this has occupied [...] this book. What remains is to pursue its social implications and political consequences.“ Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.9, S.26f. und S.208f. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.5. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.3. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.5. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.4.

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phie, zu thematisieren, gleicht einem Balanceakt. Denn einerseits mag, wie Berleant selbst anmerkt, etwa die literarische oder poetische Sprache geeigneter erscheinen als die philosophische, um sich einem derartigen Bereich an zu nähern – „impossible [...] to define [...] perhaps the poet can help [...] to recognize the ineffable character of experience.”42 Andererseits bleibt für Berleant festzuhalten: But it is not with poetry that I am concerned here. It is rather with the quality of experience in which poetry attempts to engage us through language. The language of philosophy [...] not the language of poetry, may attempt nonetheless to lead us by construction and argument toward grasping what in experience is uncomprehended, unshaped, and even ineffable.43

Und so nähert sich Berleant dem, was er als „characteristic contents, range, and shadings“44 der sinnlichen Erfahrung ansieht, sukzessive, mit Bedacht und von unterschiedlichen Seiten her. Ein Mittel, das der Philosoph hierzu anwendet, ist neben seiner üblichen Vorgehensweise, die darin besteht, eine qualitative Charakterisierung mittels der Erörterung unterschiedlicher konkreter Beispielfälle zu geben, auch eine negative Methodik; in anderen Worten: das gezielte argumentative Auflösen tradierter Anschauungen und Konventionen, die dem, was Berleant unter perceptual apprehension versteht, im Wege stehen. In diesem Sinn werden in Sensibility and Sense drei große, traditionelle Dualismen diskutiert. ,Das Psychologischeʻ und ,das Physiologischeʻ Ein erstes tradiertes Gegensatzpaar findet sich nach Berleant in den Ausdrücken ,psychologicalʻ und ,somaticʻ und somit im vermeintlichen Gegensatz von subjektiven psychologischen und trans-individuellen physiologischen Aspekten der Wahrnehmung. In diesem Kontext stellt Berleant zunächst einmal fest, dass das Ästhetische im Sinn einer sich in der Wahrnehmung ereignenden Erfahrung ganz grundsätzlich nicht allein als individuell divergierendes Phänomen zu verstehen sei, sondern dass es unweigerlich an physiologische, somit trans-individuelle Aspekte gebunden sei. „Because [the] aesthetic [...] rests on [...] sense perception, it involves experi-

42 Der Gedanke, dass zwar nicht die zu konzeptionalisierenden Inhalte, wohl aber die Anlässe von ästhetiktheoretischen Untersuchungen zuweilen treffender durch Poesie oder Literatur erfasst werden, findet sich bereits in früheren Schriften Berleants, so in seinem Gedanken einer deskriptiven Ästhetik als einer philosophischen Methode, die – neben der üblichen Herangehensweise einer philosophisch-argumentativen substantive aesthetics – sich ihren Gegenständen in qualitativ beschreibender Manier nähert. Beispiele für eine derartige Methode der ,teilnehmenden Beobachtungʻ, wie man in sozialwissenschaftlichem Jargon sagen könnte, die in stilistischer Hinsicht zwischen sachlich nüchternem Protokoll und literarischer Beschreibung angesiedelt ist, gibt Berleant in Texten wie The World from the Water; A Paddle on the Bantam River; oder in Scenes from a Connecticut Landscape: Four Studies in Descriptive Aesthetics (in: Arnold Berleant, Aesthetics and Environment – Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., 57-67; und Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.29-34 und S.40-56. 43 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.5. 44 Ebd.

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ence that is somatic and not exclusively psychological [...].“ 45 Dieser Gedanke scheint in seinem vermeintlich trivialen Rückgriff auf das Physiologische dem Hauptstrom einer traditionellen Ästhetik zutiefst zu widersprechen. 46 Allerdings meint Berleant hiermit ebenso wenig, wie nun wiederum vermutet werden könnte, vermeintlich subjektive psychologische Aspekte auf trans-individuelle physiologische zu reduzieren. Worauf Berleant abzielt, ist hingegen die Hinfälligkeit eines derartigen Substanzdualismus als solchem. Denn die Unterscheidung in Psyche und Physis, in psychological und somatic, sei, so Berleant weiter, letztlich nichts als ein Relikt des kartesischen Körper-Seele-Dualismus, wie ihn so viele Ansätze in der Philosophie der Moderne zu überwinden gesucht hätten: In fact it is a widespread misunderstanding to regard perceptual experience as subjective and be compelled as a consequence to endorse some form of subjective idealism. There are disciplinary movements that deliberately deny this, such as the use of physiological psychology to explain consciousness as neural events in the brain, and biological reductionism to claim that mental processes like thinking and knowing, and psychological conditions [...] as well as human behavior can be fully accounted for by organic conditions such as neurobiological brain processes, genes, hormones, and other such biochemical conditions. But one does not have to replace subjectivism by materialism to achieve a plausible explanation, for both alternatives rest on the mind-body dualism that Descartes so kindly bequeathed to us. [In opposition to this we find – sinngemäße Einfügung B.H.] efforts, such as those of Dewey, Merleau-Ponty and Lyotard, to release philosophical inquiry from the grip of metaphysical dualism.47

,Das Sensorischeʻ und ,das Kognitiveʻ Ein zweiter Dualismus, den es für Berleant in Bezug auf das Ästhetische zu überprüfen gilt, ist die Unterscheidung zwischen einer vermeintlich ,reinenʻ, ,ursprünglichenʻ sensorischen Erfahrung und kognitiven Momenten. Reine Erfahrung ist für Berleant etwas, was als solches nicht verfügbar ist: „[...] human experience is so heavily layered with patterns of thought, structures of understanding, mandatory convictions, and prescribed behavior that direct experience is virtually impossible.“48 Auch das 45 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.157. 46 Vgl. Kap. 1. 47 Wie Berleant im Rahmen seiner Überlegungen zu einer ,Phänomenologie ohne Ontologieʻ darlegt, handelt es sich nicht nur beim Dualismus von Körper und Seele um ein metaphysisch grundiertes Konstrukt. Auch der Begriff der ,Seeleʻ, ebenso wie jene der ,Psycheʻ, des ,Bewusstseinsʻ, des ,Geistesʻ, der ,Vernunftʻ, des ,Subjektsʻ, seien derart motiviert. Berleant wendet sich in diesem Kontext explizit gegen bestimmte, derartige Entitäten philosophisch inaugurierende oder absichernde Aspekte in der Philosophie Platons, Descartesʻ und Kants. Dazu bedient er sich einer weiten Skala an Kronzeugen, von Dewey und Merleau-Ponty bis hin zu Levinas und Lyotard. Das Fazit, das Berleant zieht, lautet wie folgt: „A phenomenology without ontology can liberate us from such illusions.“ Und weiter: „[...] the phenomenology of experience takes [experience] and only [...] experience as what is real.“ Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.56ff. 48 An anderer Stelle ergänzt Berleant seine Aufzählung beeinflussender Faktoren wie folgt: „As I have already noted, all perceptual experience is screened through many layers of cultural values, taboos, and traditions, as well as through those personal filters that we

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Ästhetische wird in dieser Hinsicht also nur durch kognitive Filter hindurch erfahren. Wobei der Begriff ,kognitivʻ hier stellvertretend für ein ganzes Spektrum an möglichen beeinflussenden Faktoren steht: Seien dies das sprachlich verfasste Denken oder etwa kulturelle, soziale, gesellschaftliche, historische Einflussfaktoren. Dennoch besitzt das Ästhetische als wahrnehmungsgebundene Erfahrung eine Direktheit, die für Berleant als solche unhintergehbar ist. Denn das ,wie es sich anfühltʻ ästhetische Erfahrungen zu machen, ist unmittelbar und als Erfahrungsrealität evident. Es mag zwar durch kognitive Aspekte und kulturelle Prägungen beeinflusst werden, wird aber selbst direkt erlebt. Von einer Unmittelbarkeit des Ästhetischen zu sprechen ist in diesem Sinn für Berleant somit durchaus möglich. Allerdings gilt es dabei eben, sich stets die Relativität dieser Erfahrungswirklichkeit bewusst zu halten: To speak of immediate experience, [...] experience that is direct and unburdened, is to propose a standard against which actual experience can be measured, rather than to impose a prescribed and necessary precondition. Like all standards, that of direct experience functions heuristically as a goal that may not be fully achieved but toward which we must strive.49

,Reine Erfahrungʻ kann aus Berleants Sicht also nur im Sinn einer uneinholbaren Arbeitshypothese, eines bewusst fiktiv gesetzten Fixpunktes verstanden werden. Der Versuch einer Annäherung an diese sei möglich, indem man sich die Bedingungen und Umstände bewusst mache, die eine Erfahrung grundieren bzw. sie begleiten. Und indem man phänomenologisch vorgehend versucht, diese Schritt für Schritt auszublenden: „The knowledge process must endeavor to remove filter after filter and dig beneath the layers in an effort to identify and dispel the factors and forces that influence perception.“50 Dabei gelte es jedoch stets im Hinterkopf zu behalten, dass eine Rückkehr zu einer vermeintlichen Ursprünglichkeit oder Wesenhaftigkeit nicht möglich sei, wie Berleant diesbezüglich kritisch anmerkt: „At the same time we must realize, even though we must constantly return to perception, absolute immediacy and purity are unattainable and will forever elude us“.51 ,Das Perzeptuelleʻ und ,das Normativeʻ Dass beide Bereiche, die einer ,rein-sinnlichenʻ und einer ,kognitiv überformtenʻ Erfahrung für Berleant nicht einfach zu trennen sind, wird auch an dessen dritter acquire from our individual experience, habits, and conditioning.“ Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.110. 49 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.58. 50 Ebd. 51 Berleant greift mit dieser Differenzierung eine Unterscheidung hinsichtlich des Begriffs der ,Wahrnehmungʻ auf, wie sie im Englischen mit den Begriffen der ,sensationʻ und ,perceptionʻ getroffen werden kann: „I speak of perception, rather than of sensation, because perception includes more than sensatory experience. 'sense perception' denotes: the sensory part of perception. But perception also includes a multitude of factors, such as biological, social, cultural, material forces.“ Dennoch gelte es, so Berleant, sich angesichts dieser Unterscheidung deren artifiziellen und letztlich allein analytischen Zwecken dienenden Charakter bewusst zu halten (siehe auch Fn. 52). Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.5 und S.118.

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Differenzierung den Charakter des Ästhetischen betreffend deutlich. Hier weist er auf den vermeintlich dualistisch aufspaltbaren Gegensatz von sinnlicher Erfahrung und normativer Beurteilung hin. An dieser Stelle ist es nicht möglich, den differenzierten Analysen, die Berleant zum Verhältnis von Ästhetik und Normativität vornimmt, im Einzelnen zu folgen. (Inwiefern diese für Berleants spätere Reflexionen zum Zusammenhang von (gebauter) menschlicher Umwelt und ethischen bzw. gesellschaftsbezogenen Fragestellungen wichtig werden, dazu mehr in Kapitel 5.) Zusammenfassend kann aber festgehalten werden, dass beide Aspekte für Berleant nicht einfach dualistisch gedacht oder linear verortet werden können. So ist es nach Berleant allenfalls zu methodisch-analytischen Zwecken sinnvoll und hilfreich, Wahrnehmungen derart zu unterteilen, dass auf der einen Seite eine rein perzeptuelle Erfahrung, auf der anderen deren normativ-wertende Beurteilung steht. Ebenso wenig könnten Erfahrungen von sogenannten ,ästhetischen Qualitätenʻ (wie etwa ,das Schöneʻ, ,das Erhabeneʻ, ,das Hässlicheʻ) als gemäß einer linearen Skala arrangiert imaginiert werden, wobei die Erfahrungen des Schönen und des Erhabenen am positiven Ende, die des Hässlichen am negativen Ende dieser Skala zu lokalisieren wären.52 Wenn man die Bereiche des Perzeptuellen und des Normativen in Beziehung setzten wollte, so wären hierzu komplexere Modellbildungen vonnöten. Berleant selbst legt seine Überlegungen nicht in Form eines Modells dar. Würde man seine Ausführungen jedoch in das Modell eines Koordinatensystems übertragen, so müsste hierbei jeder Bereich, der des Perzeptuellen und der des Normativen, eine eigene Achse erhalten, so dass zwischen diesen kein lineares, sondern vielmehr ein relationales Verhältnis entstünde. Damit dieses Modell sich Berleants Vorstellung weiter annäherte, wäre es zudem nötig, noch eine dritte und entscheidende Dimension hinzuzufügen: nämlich jene des qualitativen Moments. Denn ästhetische Erfahrungen, in ihrer ganzen Komplexität, mögen hinsichtlich ihres perzeptuellen Charakters eher sensorische oder kognitiv-beeinflusste, hinsichtlich ihres normativen Charakters eher positive oder negative Aspekte beinhalten. Dennoch besetzen sie für Berleant, auch wenn sie sich hinsichtlich dieser beiden Verortungsmomente eventuell gleichen mögen, nicht einfach denselben Platz im Koordinatenraum der menschlichen Erfahrung. Vielmehr besitzt jede ästhetische Qualität einen jeweils eigenen distinkten Charakter, der sie von einer anderen ästhetischen Qualität unterscheidet. Dies gilt nicht nur für Begriffe, die traditionell qualitativ unterschiedlich bestimmt werden, wie ‚das Schöne‘ und ‚das Erhabene‘. Es gilt auch für das weite Spektrum ästhetischer Erfahrungen jenseits klassischer Determinationen (wie etwa ‚das Bizarre‘, ‚das Widerliche‘, ‚das Kitschige‘, ‚das Pathetische‘, ‚das Tragische‘, ‚das Erotische‘ – um nur einige der von Berleant gegebenen Beispiele zu nennen). Derartige Erscheinungsformen des Ästhetischen sind für den Theoretiker nicht wechselseitig aus-

52 Eine Unterscheidung in wertneutrale, sinnliche sensation und normative, bewusst-wertende perception ist für Berleant vor allem in analytisch-methodischem Sinn hilfreich, denn: „[...] much sensory experience itself [...] is colored by moral judgments.“ Gerade weil dem so ist, sei jedoch die Phänomenologie im Sinn einer Methode so wertvoll: „Here is where the phenomenological method is invaluable, for it can help us remain clear about what we are actually perceiving and how we are judging it.“ Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.42f.

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tauschbar oder aufeinander reduzibel.53 Und: Sie lassen sich nicht statisch oder außerzeitlich verorten, sondern sie unterliegen historischen Umschreibungen.54 Angesichts dieser komplexen Gemengelage das perzeptuelle und das normative Moment des Ästhetischen einfach im Sinn eines dualen Gegensatzpaares zu denken, griffe also zu kurz; ebenso, wie sich das Ästhetische nach Berleant nicht mittels einer einfachen Dichotomie von sensorischen und kognitiven, von physischen und psychischen Gegebenheiten auseinanderdividieren lässt. Konsequenzen für das Verständnis des Ästhetischen im Sinn von aisthesis Interessant sind die Schlussfolgerungen, die Berleant aus seinen differenzierenden Reflexionen zieht. So könnte die Unmöglichkeit, ästhetische Qualitäten allein auf sensorische Stimuli zu reduzieren und sie somit materialistisch zu denken, als erkenntnistheoretisches Defizit verstanden werden. Ebenso wie die generelle Unmöglichkeit, zu einem ,ursprünglichenʻ, ,rein sensorischenʻ Kern des Ästhetischen jenseits kognitiver Überformungen oder Prägungen vorzudringen, als Defizit interpretiert werden könnte. Für Berleant sind derlei Umstände aber nicht negativ zu bewerten. Im Gegenteil: Gerade die Unmöglichkeit von einseitigen Bestimmungen erweist sich für die theoretische Reflexion als positive Herausforderung und als Chance. Denn die Einsicht, dass unterschiedliche Aspekte zum Erfahren des Ästhetischen beitragen können, eröffnet für Berleant, rekursiv gedacht, erst einen Zugang zu dessen näherem Verständnis.55 Das Ästhetische kann dabei zwar nicht, wie Berleant zu zeigen sucht, auf eine einzelne konstituierende Komponente zurückgeführt und reduziert werden. Wohl aber werde es gerade auf Grund des komplexen Spannungsgefüges, in dem sich ästhetische Erfahrungen aufspannen, möglich, unterschiedliche Faktoren und Umstände daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie zur Spezifik einer jeweiligen Erfahrung beitragen. Dieser nicht wenig komplexe Gedankengang wird klarer, wenn man sich den methodischen Mitteln zuwendet, die Berleant in diesem Kontext anführt. Diese liegen, wie man sagen könnte, zum einen oberhalb, auf einer meta-kognitiven Ebene, zum anderen unterhalb dieser, nämlich auf Ebene des Erfahrens selbst. Beide Mittel sind dabei phänomenologisch motiviert. So sieht Berleant eine Soziologie des Wissens gefragt, die auf übergeordneter Ebene untersuche, wie unterschiedliche kognitive Konstruktionen, welche ästhetische Erfahrungen überformen und beeinflussen, im Lauf der Zeit entstanden seien und sich heute – etwa kultur- oder gesellschaftsspezifisch – voneinander unterschieden. Der phänomenologische Gedanke, sich möglichst umfassend möglicherweise enthaltene Vorannahmen und prägende Faktoren vor 53 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.156. 54 Berleant gibt hier das Beispiel einer akustischen Erfahrung: So könne ein schriller Ton in der Musik als ,schmerzhaftʻ empfunden werden – und dies nicht allein in einem wertenden, sondern durchaus in einem sensorischen Sinn. Allerdings folge auch diese Beurteilung, und das bereits auf Ebene des Perzipierens, anderen als rein sensorischen Momenten, so dass es zu folgendem Effekt kommen könne: „Sounds once considered noise may become music: dissonances consonances, cacophony harmony.” Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.168. 55 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.43.

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Augen zu führen, ist hierbei leitend. Zum anderen solle die Erfahrung – nicht auf Ebene des Denkens, sondern des Machens von Wahrnehmungserfahrungen – selbst zum Einsatz kommen. Denn auch sie, in ihrer Unmittelbarkeit und Direktheit, könne helfen, gedanklich-sprachliche Konstruktionen daraufhin zu überprüfen, inwiefern es sich bei diesen um philosophisch-kulturhistorische Erfindungen sprachlicher Art handle (zu denken wäre an hypostasierte Begriffe wie Seele, Psyche, Bewusstsein, Geist, Vernunft, Subjekt) oder ob sie mit der Realität des Erfahrens, die derartiger begrifflicher Konzepte nicht bedürfe, übereinstimmten. Berleant hierzu: One is to identify, describe, and account for the kinds and varieties of cognitive constructions that have emerged over time and place. The other is to use perceptual experience, especially aesthetic experience, to consider them critically. The first of these is greatly aided by ethnologists, linguists, sociologists, cultural geographers, and the various cultural critics who describe and explain such beliefs from political, historical, social, philosophical, and literary perspectives. Regarding the perceptual grounds of criticism is the second requirement [...]. It lies in the qualified directness and immediacy of perceptual experience as I have already described it: experience, best characterized as aesthetic [...].56

Der zweitgenannte Umstand liefert die Basis für dasjenige, was Berleant als ,aesthetic argumentʻ bezeichnet. Bei diesem handelt es sich um einen zentralen Gedanken, der über die gesamte Spanne von Sensibility and Sense entfaltet wird und den der Theoretiker mit den folgenden Worten zusammenfasst: To regard aesthetic perception as the source of the knowledge process and as the test of knowing constitutes what we might call the aesthetic argument in epistemology.57

Oder, wie Berleant andernorts noch prägnanter formuliert: „Thinking [must – Einfügung B.H.] remain true to aisthesis, to aesthetic perception“.58

56 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.59-61. 57 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.54. 58 Wichtig ist zu verstehen, dass Berleant mit seinem aesthetic argument nicht dem VernunftPrinzip eine pauschale Absage erteilen, oder gar dem Irrationalismus den Weg ebenen möchte. Vielmehr differenziert Berleant diesbezüglich genau: „It may seem that, by taking perceptual experience as primary, by affirming the primacy of the aesthetic, we relinquish the very authority of reason. This, however, is not a case of 'relinquishing' something but of recognizing that [something – Einfügung B.H.] has no ontological basis and that its authority comes from other, equally non-absolute sources. Here again we arrive at a folk in the road to knowledge where a major cognitive decision is a choice between rationality and anti-rationality, so that if we chose to forsake the former we return to the chaos of a world before Creation. But here, too, the choice is wrongly placed. For the issue is not about rationality itself but rather about the nature of the rationality we can rightly claim“. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O. S.79f.

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4.4 ÄSTHETIK UND ENVIRONMENT Von diesen Darstellungen allgemeinerer Art nun zur Ebene einer Anwendung des berleantschen Begriffsgebäudes auf den Bereich der (gebauten) menschlichen Umwelt. 4.4.1 Verständnis von environment Überraschen könnte, dass Arnold Berleant, selbst einer der einflussreichsten Protagonisten der Bewegung der Everyday Aesthetics, den Terminus ,Umweltʻ nicht uneingeschränkt befürwortet. Kritisch zu sehen sei etwa, dass der Ausdruck nicht zuletzt auf Grund seiner üblichen alltagssprachlichen Verwendungsweise eine Vorstellung von ,reiner Naturʻ im Sinn eines Garten Eden evoziere. Dabei werde aber der Umstand übersehen, dass es heute so etwas wie reine, vom Menschen unbeeinflusste Natur gar nicht mehr gebe.59 Doch selbst wenn man sich von einer Vorstellung löse, die unter Umwelt vermeintlich unberührte Flora und Fauna versteht, und stattdessen „reshaped landscapes and built structures“ einbeziehe – so wie es heute im Bereich der Environmental Aesthetics üblich geworden ist –, bleibe immer noch die Frage offen, welches Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt man mit dem Begriff verbindet. Dualistische Sicht von Mensch und Umwelt To think of environment in the usual sense as surroundings suggests that it lies outside a person, a container within which people pursue their private purposes.60

Wie Arnold Berleant verdeutlicht, besitzt der Ausdruck ,environmentʻ ein nicht geringes Interpretationsspektrum: Einerseits bringt er den Sachverhalt zum Ausdruck, dass ein Mensch von einem jeweiligen Umraum umgeben ist (es wird also ein Verhältnis, eine Verbindung beschrieben); andererseits könnte eben hierdurch die Vorstellung entstehen, dass umgebene Person und umgebende Umwelt prinzipiell voneinander isolierbar seien (wodurch wiederum eine Separierung bezeichnet würde). Um das ambige Verhältnis, wie es im Begriff ,Umweltʻ angelegt ist, genauer auszuloten, differenziert Arnold Berleant zwischen vier möglichen, unterschiedlichen Auffassungsweisen von Natur. An einem Ende des Spektrums stehe dabei das Bild der Natur als großer Widersacherin des Menschen. Die Natur werde in dieser dualistischen Sichtweise als etwas dem Menschen Äußerliches und geradezu feindlich Gegenüberstehendes aufgefasst.

59 „Most wilderness areas are not primeval nature but regions that reflect the earlier and ongoing consequences of human action in the form of land cleaning, erosion, strip-mining, reforestation, acid rain, modifications of the surface of the land and in the distribution of water, alteration to climate [...] introduced species of flora and fauna, and now the dessication of the ozone layer, from whose consequences in global warming and increased solar radiation no area of the planet is immune.“ Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.3. 60 Ebd.

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Nature is our grand opponent [...]. Nature is to be conquered, its forces kept under control and harnessed to serve the purposes that people assign them. Civilization is essentially opposed to nature and measured by its capacity to dominate [...] the natural world.61

Demgegenüber betone eine kollaborative Sicht den Austausch, der zwischen Natur und Mensch stattfinde. „In this view the natural and the human are essentially different, yet they are not considered to be in opposition. Nature [...] becomes an exterior order with which we must achieve a balance and live in harmony.“62 Die in beiden Vorstellungen enthaltene, konzeptionelle Trennung werde erst in einer dritten Betrachtungsperspektive überwunden, die eine tiefe Verbindung zwischen Natur und Menschen betone, bzw. von der gesagt werden könne, dass sie den Menschen geradezu in ein „broad natural setting“ absorbiere. Als anschauliche Beispiele aus dem Bereich der Künste nennt Berleant in diesem Kontext die chinesische Landschaftsmalerei und den Pointillismus.63 Eine Steigerung könne eine derartige Sicht, so Berleant weiter, allein noch durch eine vierte mögliche Sichtweise erfahren. Diese sei weder durch eine negativ-verzeichnete, noch durch eine euphemistische Beschreibungsweise des Mensch-Natur-Verhältnisses gekennzeichnet. Vielmehr löse sich die Trennung als solche schlichtweg auf: „nature is everything that there is“. Auf diesen einfachen Nenner bringt Berleant ein Verständnis, das sich eher an Leibniz und Spinoza denn an Descartes orientiere und das einfach alles – vom YosemiteNationalpark zu den Wolkenkratzern Manhattans, von urbanen Slums bis zu Superhighways – als ,Naturʻ begreife, ganz nach dem Motto: „Whatever is, is.“ In the Spinozic order of things, nothing is excluded, nothing foreign. Nature is everything that there is, it is all-inclusive, a total, integrated, continuous process. Nature here is no honorific term but embraces the vulgar with the sublime, the cruel with the kind. The first lesson of nature is Leibnizian acceptance: Whatever is, is.64

Interkonnektives Verständnis von Mensch und Umwelt Diese vier unterschiedlichen Vorstellungen zur Natur sind nun insofern relevant, als sie mit jeweils unterschiedlichen und zu unterscheidenden Umweltbegriffen korrespondieren. Die umfassendste Vorstellung von Natur – „which does not differentiate between the human and the natural and which interprets everything as part of a single, continuous whole“ – korrespondiere dabei auch mit der weitreichendsten, inklusivsten Vorstellung von Umwelt. Eben diese Sichtweise ist es, der sich Arnold Berleant in seinem Umweltverständnis anschließt. So wenn er formuliert: Where [...] can we locate „the“ environment? Where is „outside“ in this case? Is it the landscape that surrounds me where I stand? Is it the world outside my window? The walls of my room and house? The clothes I wear? The air I breathe? The food I eat?65

61 62 63 64 65

Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.7. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.7f. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.8. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.9. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.4.

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Wie der Theoretiker in dieser kurzen, dabei eindrücklichen Passage klarmacht, fällt eine strikte dualistische Trennung zwischen außen und innen, zwischen Erlebendem und Erlebtem, kurz: zwischen Mensch und Umwelt, schwer. Für Berleant sind beide Seiten daher, wenn auch nicht als restlos in eins zusammenfallend, so doch als in einem untrennbaren und unauflöslichen Verhältnis miteinander stehend zu konzipieren. Umwelt ist in diesem Sinn nicht einfach ein Objekt, das von einem wahrnehmenden Subjekt zu isolieren wäre: „[...] environment is not the object of a subjective act of contemplation“, sondern: „Environment is continuous with us“, es ist: „[...] our very condition of living.“ Oder, wie Berleant alternativ formuliert: „Environment [...] is the natural process as people live it, however they live it. Environment is the nature experienced, nature lived.“ 66 Eine dualistische Sichtweise wird bei Arnold Berleant also nicht allein hinsichtlich des Begriffs des ,Ästhetischenʻ, sondern auch für den Umweltbegriff verabschiedet.67 Sie wird sukzessive aufgelöst. Was an ihre Stelle tritt, ist die Vorstellung von Umwelt als einem komplexen Gefüge, einem Netzwerk, in das menschliches Leben interkonnektiv eingebunden ist: „The“ environment, one of the last survivors of the mind-body dualism, a distant place which we think to contemplate from afar, dissolves into a complex network of relationships, connections, and continuities of those physical, social, and cultural conditions that describe my actions, my responses, my awareness, and that give shape and content to the very life that is mine.68

Wie aus dem zuletzt wiedergegeben Zitat deutlich wird, weist das berleantsche Verständnis von environment also nicht nur in Richtung einer Umwelt, die in Gestalt von Flora, Fauna, Landschaften oder Städten mehr oder weniger distanziert bzw. involviert erfahren werden kann, sondern auch in Richtung dessen, was unseren Beziehungen zur Umwelt als einer menschlichen Umwelt darüber hinaus eingeschrieben ist. Oder in anderen Worten: Auf dasjenige, was im Umfeld der Phänomenologie als menschliche Lebenswelt bezeichnet wird. Auf diesen Aspekt wird unter 4.5 und in Kapitel 5.4 näher eingegangen werden.69 Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, ist jedoch zunächst einmal, wie eine derart immanente Verbindung zwischen Mensch und Umwelt vorgestellt werden kann: Worauf basiert diese? Worin besteht sie? Hier kommen Berleants frühere Ausführungen zum ästhetischen Erfahren ins Spiel.

66 67 68 69

Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.10. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.10-13. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.4. Berleant selbst bemerkt in diesem Kontext, dass treffender für das von ihm bezeichnete – nämlich für einen Zustand, der den Menschen nicht in einer Umgebung denkt, sondern als verbunden mit dieser, als „continuous with“ – an sich andere Formulierungen als der Ausdruck ,Umweltʻ seien; so die Begriffe ,lifeworldʻ, ,conditionʻ, ,fieldʻ, ,contextʻ, ,matrixʻ. Letztlich behält Berleant den in der Alltagssprache wie im Bereich der Environmental Aesthetics etablierten Begriff ,Umweltʻ aber bei, wobei er aus Gründen der terminologischen Absetzung stets von „environment“ und nicht „the environment“ spricht. (Zum Ausdruck ,matrixʻ siehe auch: Katya Mandoki, Everyday Aesthetics; a.a.O., S.177ff.); Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.10.

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From the standpoint of phenomenology, one can only speak of environment in relation to human experience.70

Von Umwelt kann, für Arnold Berleant, nur in Beziehung zum Menschen als einem aktiv erfahrenden Menschen gesprochen werden. Auch die Frage nach dem Charakter der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt kann somit nur über eine intensive Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung – bzw. dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen sowie der wahrnehmbaren Umwelt – erfolgen. Allerdings weist die Tradition der Phänomenologie, wie Berleant bereits im Kontext seiner Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Modellen der ästhetischen Erfahrung deutlich gemacht hatte, diesbezüglich eine durchaus kritisch zu betrachtende Tendenz auf. Diese zeigt sich für den Theoretiker nicht nur bei Husserl, sondern auch bei MerleauPonty, wenn dieser den Leib im Sinn eines Apriori menschlicher Erkenntnis in den Vordergrund der Betrachtung rücke, während der Umraum, recht wörtlich, in den Hintergrund trete.71 Daher gilt es für Berleant, wegweisende Ansätze wie denjenigen Merleau-Pontys oder John Deweys heute kritisch weiterzuentwickeln. Dewey gibt dabei selbst die programmatische Stoßrichtung vor, wenn er feststellt: life goes on in an environment; not merely in it but because of it, through interaction with it. ... The [...] living being [is – Einfügung B.H.] bound up with its interchanges with its environment, not externally but the most intimate way.72

Wo aber finden sich aktuellere Ansätze, die einen derartige Sichtweise – Mensch und Umwelt als intim verbunden und im Austausch miteinander befindlich – verfolgt und

70 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.Vii. 71 Ausführlich setzt sich Berleant mit Merleau-Ponty in Environment and the Body auseinander. Darin merkt er angesichts von Merleau-Pontys Versuchen, Mensch und Umraum im Verhältnis zu denken, kritisch an: „Merleau-Ponty appeared to revert to a naturalistic analogue of the privileged position of idealism when he claimed that 'my body is not only one perceived among others, it is the measurement [...] of all, Nullpunkt [zero point] of all dimensions of the world'. This echoes his earlier assertion in Eye and Mind that space starts from me 'as the zero point of degree zero of spaciality.' [...] Such a characterization of the body in space creates other difficulties, for although it secures spatial continuity, it does this by establishing at the same time a privileged place for the body. One can not deny that my body as the place of reference is an inescapable condition of experience. It is the place 'from which', but is it inevitably the absolute center, the zero point? Although my body contributes to constituting my being, it is also constituted by other bodies. Nor is my body concrete and delimited; it is rather an approximation, a concentration of being in the midst of activity, not the center of the spacial world. The flesh embodies motion and force but must adapt to the motions and forces of the lived world.“ Arnold Berleant, Environment and the Body; in: ders., Living in the Landscape (Lawrence: University Press of Kansas, 1997) S.103. 72 Zitat John Dewey, aus: Art as Experience; zitiert durch Arnold Berleant, Aesthetics and Environment – Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.6.

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weiterentwickelt haben? Arnold Berleant hält in diesem Kontext einen Blick über den Tellerrand der philosophischen Theoriebildung für gewinnbringend: Psychologists more than philosophers have developed theoretical accounts of the human interplay with forces emanating from environmental features, although they are prone to regard these as external influences and as a matter of individual psychology that depends on a personal response. Kurt Lewin's field theory provides a representation of the dynamic framework in which events occur in a life space. Situations posses dynamic properties, and Lewin identified those psychological forces in a perceptual region that directly produces a reaction in a person. More recently, the perceptual psychologist James J. Gibson worked out a theory of perception as an activity of the moving body in which the perceiver is an active participant with sensory involvement in the world. Gibson identified what he called „affordances of behaviour“, features and arrangements of the environment that offer and provide for us, and in relation to which we behave in certain ways.73

Berleant stellt also – im Anschluss an Vertreter der psychologischen Wahrnehmungsforschung – wie Kurt Lewin, Otto Friedrich Bollnow und James J. Gibson – dem phänomenologischen Leib als Apriori menschlicher Erkenntnis den Gedanken eines ebenso wirkmächtigen und konstitutiven Umraums gegenüber. In diesem Sinn gelte es, neben den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der menschlichen Physis, auch den folgenden Umstand stets einzudenken. Environment does not depend entirely on the perceiving subject; the surrounding world also imposes itself in significant ways, engaging one in a relationship of mutual influence.74

Diese Sichtweise birgt, wie das folgende Kapitel zeigen wird, nicht zuletzt erkenntnistheoretische Implikationen. 75 Was im abschließenden Punkt dieses Kapitels ge-

73 Arnold Berleant, Art and Engagement; a.a.O., S.90; siehe auch: Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture ; a.a.O., S.9f. 74 Arnold Berleant, Art and Engagement; a.a.O., S. 88. 75 Wie andernorts dargestellt, weist Berleant sowohl eine idealistische Sicht, die die Realität der Umwelt in das denkende Subjekt verlegt, wie eine materialistische Sicht, die die menschliche Wahrnehmung als physiologisch vermitteltes Resultat einer allein wirklichen und wirkmächtigen Materie begreift, zurück. Auch eine Trennung in wahrgenommene oberflächliche Wirklichkeit und zu Grunde liegende, sich entziehende Realität (oder in anderen Worten: jenes Modell, mit dem Gernot Böhme sein Wahrnehmungsmodell erkenntnistheoretisch unterlegt) lehnt Arnold Berleant ab, wie er im Folgenden unter Verweis auf Kant deutlich macht: „To restrict environmental experience to the sensory surface of the world [...] entails philosophical difficulties. Surface is not a self-sufficient concept. Its correlative is depth, that which lies behind appearances. The Kantian 'thing-in-itself'. It has taken the successive influence of [various philosophical and psychological – Einfügung B.H.] movements [...] over the course of nearly a century to begin to overcome this common sense dualism and grasp the world through an expended sense of experience, not subjective but conscious, somatic, active, transactional.“ Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.18; zu Berleants erkenntnistheoretischer Positionierung siehe auch Fn. 47.

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nauer nachzuvollziehen ist, sind hingegen zunächst einmal die unmittelbaren wahrnehmungstheoretischen Konsequenzen einer derartigen Sichtweise. 4.4.2 Human environment und built environment Vorab jedoch noch einige Worte zu Berleants Verständnis und Einsatz unterschiedlicher Begriffe, den Bereich der (gebauten) menschlichen Umwelt betreffend: Prinzipiell, so wurde bereits deutlich, trifft Arnold Berleant ausdrücklich keine strikte Unterscheidung zwischen natürlichen und menschengemachten Umwelten. Diese zeigen sich von natürlichen Einflussfaktoren mitbestimmt, ebenso wie jene durch die Effekte menschlichen Tuns geprägt werden. Beide werden vom Menschen gleichermaßen, mittels einer ,engaged experienceʻ, erfahren. Unabhängig von diesem grundsätzlichen Verständnis finden sich bei Arnold Berleant jedoch durchaus Differenzierungen sprachlicher Art, die auch das Verhältnis, das die Ausdrücke ,Architekturʻ und ,human environmentʻ bzw. ,built environmentʻ zueinander einnehmen, näher bestimmen. So handelt es sich beim Ausdruck ,Architekturʻ für Berleant um einen Begriff, dem seit jeher eine uneindeutige Zwischenstellung, eine „uneasy juxtaposition“, zukomme.76 Gemeint ist damit der Umstand, dass er einerseits einen Bereich bezeichnet, der der praktischen Sphäre menschlichen Tuns zugeordnet wird, insofern es um die Planung, Errichtung, Umgestaltung gebauter Strukturen geht. Andererseits wird der Ausdruck ,Architekturʻ zur Bezeichnung einer Kunstform verwendet. Und in dieser Hinsicht verkörpert ,Architekturʻ für Arnold Berleant sogar auf geradezu paradigmatische Weise eine traditionelle Vorstellung von Kunst. In many respects, architecture is a paradigm of art in the traditional sense. It offers singular objects of striking [...] appearance that stand apart and dominate their surroundings [...]. As an ideal and in practice, the tradition that [...] constructs edifices is what the popular mind associates with architecture, and this tradition continues to supply the paradigm to critics and scholars.77

Wie Arnold Berleant deutlich macht, verbindet sich mit dem Ausdruck ,Architekturʻ also nicht zuletzt ein spezifisches Denken. Ein Denken, das durch eine traditionelle Ästhetik und ihre isolierende Heraushebung und Kanonisierung spezifischer Kunstformen als fine arts, als ,schöne Künsteʻ, geprägt ist, welche wiederum mit spezifischen Theorien zu diesen Kunstformen – und nur zu diesen (wie etwa dem Gedanken der disinterestedness im Sinn der distanzierten Betrachtung eines isolierten Objekts) – einhergehen.78 Einer solchen Auffassung stellt Berleant seine eigene philosophische Haltung gegenüber, die, wie er auch angesichts des Themenfeldes der (gebauten) menschlichen Umwelt explizit macht, nicht distance, divisions und oppositions, sondern vielmehr engagement, resemblances und continuities zum Gegenstand und Ziel habe. Discussion of arts typically note differences and draw contrasts, and this is particularly true in architectural theory and criticism. Like other distinctions, those in architecture tend to be ex76 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.146. 77 Arnold Berleant, Living in the Landscape; a.a.O., S.113. 78 Ebd.

186 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT pressed as oppositions: the facade is contrasted with the interior, the building with the site, architectural design with landscape design, decoration with utility, form with function, built areas with natural ones [...] human needs and desires with natural processes. [...] Let us instead set this critical discussion in another direction, not discerning differences and opposing alternatives but identifying resemblances and developing continuities.79

Die beschriebene Herangehensweise schlägt sich folgerichtig in Berleants Vokabular nieder. So zieht Berleant dem konventionellen Ausdruck ,Architekturʻ die alternativen Formulierungen ,human environmentʻ bzw. ,built environmentʻ vor; ebenso wie er statt von ,Naturʻ von ,natural environmentsʻ spricht. 80 Derartiger sprachlicher Differenzierungen zum Trotz, sollten die von Berleant verwendeten Ausdrücke jedoch nicht als in Opposition zueinander stehend aufgefasst werden. Denn auch dasjenige, worauf sie Bezug nehmen, weist für Berleant kein oppositionelles Verhältnis auf: „[...] we do not have to oppose the city to the countryside or the wilderness.“ Auch die Stadt ist „made of materials obtained or derived from the natural world and embodying the same perceptual elements as other environments“. Zwar zeigt sich die (gebaute) menschliche Umwelt im Gegensatz zu anderen Umwelten „more fully designed and controlled by human agency.“ Dennoch erscheint sie als „an integral part of the geography of its region, its larger environment, from which it usually has only indistinct boundaries and with which it has numerous and complex reciprocal relationships”.81 Wie deutlich wird, zielen die von Berleant bevorzugten Ausdrücke des ,human environmentʻ und ,built environmentʻ hinsichtlich dessen, was sie zu bezeichnen suchen, durchaus in die gleiche Richtung wie der Begriff ,Architekturʻ. Der Unterschied besteht somit nicht im Gegenstand der Betrachtung, wohl aber in der eingenommenen Perspektive – die wiederum einen Betrachtungsgegenstand erst als einen so oder so gearteten erscheinen lässt. Und in diesem Sinn liefern die von Berleant – dabei keineswegs von diesem allein – verwendeten Begrifflichkeiten durchaus die Basis für ein eigenständiges Beschreibungssystem, das es erlaubt, andere als die üblicherweise thematisierten Aspekte an (gebauten) menschlichen Umwelten zum Vorschein und zur Sprache zu bringen.

4.5 W AHRNEHMEN UND ( GEBAUTE ) MENSCHLICHE U MWELT Nach diesen Anmerkungen zur Differenz von ,Architekturʻ und ,human environmentʻ bzw. ,built environmentʻ nun zurück zur oben genannten Fragestellung: Was sind die spezifischen Mittel und Modi, die Mensch und (gebaute) menschliche Umwelt von einer phänomenologisch motivierten Perspektive aus miteinander verbinden? Oder anders ausgedrückt: Wie ist einerseits das sinnliche Auffassungsvermögen, bezogen auf die (gebaute) menschliche Umwelt, wie ist andererseits die (gebaute) menschliche Umwelt, bezogen auf das menschliche Wahrnehmen hin, verfasst? Arnold Berle79 Arnold Berleant, Living in the Landscape; a.a.O., S.115. 80 Siehe etwa Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.120. 81 Arnold Berleant/Allen Carlson (Hrsg.), The Aesthetics of Human Environments; a.a.O., S.18.

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ant selbst vermeidet, wo möglich, eine strikte Trennung in eine Seite des menschlichen Wahrnehmens und eine solche der wahrgenommenen Umwelt – und sei es auch nur zu analytischen oder illustrativen Zwecken. Denn für ihn sind, wie bereits anhand seines allgemeinem Umweltbegriffs deutlich wurde, beide Seiten auf konzeptioneller Ebene unlöslich miteinander verbunden. The world does not surround me, for that makes me and the world discrete and different. If my body is continuous with the world [...] it doesn't extend out into the world; it is the world, one of its focal points, as are all bodies, in some way.82

Der Leib – beziehungsweise: die perzeptive menschliche Physis83 –, im Sinn eines „focal points“, eines Fokussierungspunktes von Welt, bildet für Berleant also eher eine Art permeable Membran in der Welt aus als eine strikte Grenze, die ein ,Innenʻ und ein ,Außenʻ voneinander separieren würde. Dieser grundlegenden konzeptionellen Sichtweise ungeachtet lassen sich in den unterschiedlichen Schriften Berleants aber durchaus konkrete Aussagen dazu finden, die sich entweder verstärkt der Wirkungsweise der (gebauten) menschlichen Umwelt zuwenden oder jener der Seite des menschlichen Wahrnehmungs- und Auffassungsvermögens. 4.5.1 Zum Wahrnehmen (gebauter) menschlicher Umwelten Zunächst zur Seite des wahrnehmenden Menschen: Gemäß der Alltagsvorstellung ,der fünf Sinneʻ lässt sich das menschliche Umweltwahrnehmen in unterschiedliche Wahrnehmungsdimensionen aufteilen. Darüber hinaus ist eine Unterscheidung in sogenannte ,Kontaktsinneʻ (Tasten, Riechen, Schmecken) und ,Distanzsinneʻ (Sehen, Hören) möglich, wobei nicht nur in einer konventionellen Sichtweise, sondern auch in philosophischer Perspektive Letzteren der Vorrang vor den Erstgenannten gegeben wird. Diese Hierarchisierung unterschiedlicher Sinnessphären sowie die dieser zu Grunde liegende generelle Unterscheidung in verschiedene ,Sinneʻ gelte es heute jedoch zu überwinden, so Arnold Berleant: It is necessary to overcome established tradition to introduce the other senses into aesthetic perception, for relying on the close involvement of the body disrupts the lofty contemplation traditionally thought essential for aesthetic pleasure. [...] this is an unfortunate division of the senses, especially for the perception of environment, from which we can never distance ourselves. For the contact receptors are part of human sensorium and are actively involved in environmental experience. The olfactory sense is intimately present in our awareness of place and time. Even the sense of taste can contribute to that consciousness, as Proust's madeleine eloquently testifies. Tactile experience, moreover, is not univocal, as we so often think. It belongs 82 Arnold Berleant, Environment and the Body; in: ders., Living in the Landscape; a.a.O., S.104. 83 Der englische Begriff ,bodyʻ wird im gegebenen Kontext nicht mit dem phänomenologisch konnotierten Begriff ,Leibʻ, sondern mit dem begriffsgeschichtlich neutralen Ausdruck ,perzeptive (menschliche) Physisʻ übersetzt. Dieser Ausdruck wird, im Sinn eines Arbeitsbegriffs, im Weiteren auch generell Verwendung finden. Eine Begriffsklärung, die das Verhältnis zu den Ausdrücken ,Leibʻ und ,Körperʻ bestimmt, erfolgt unter 11.2.

188 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT to the haptic sensory system, which encompasses both tactual and subcutaneous perception of surface texture, contour, pressure, temperature, humidity, pain, and visceral sensation. It also includes other sensory channels, usually overlooked or confused with touch, that are different in important respect. The kinesthetic sense involves muscular awareness and skeletal or joint sensation through which we perceive position and solidity through the degrees of resistance of surfaces: hard, soft, sharp, blunt, firm, yielding. And we grasp body awareness of climbing and descending, turning and twisting, obstruction and free passage.84

Mit dieser differenzierenden Darstellung benennt Berleant einige wichtige Einzelaspekte des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, die prinzipiell gleichberechtigt betrachten werden sollten. Dabei gelte es, diese – und hier orientiert sich Berleant einmal mehr an einer phänomenologischen Theoriebildung – nicht einfach im Sinn isolierter Sinneswahrnehmungen zu konzipieren. Equally important with discriminating the sensory range of environmental perception is the recognition of synaesthesia, one of whose meanings is fusion of the sense modalities. For these different perceptual courses are distinguishable only on reflection, in analysis, and under experimental conditions, not in experience. More forcefully than in any other situation, environmental perception engages the entire, functionally interactive human sensorium. We become part of environment through the interpenetration of body and place.85

Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt dieser synästhetischen Wahrnehmungsmodalität ist für Berleant zudem, dass das menschliche Wahrnehmen nicht, oder wenn, so eher im Sinn einer Ausnahme, statisch vonstattengeht (so wie es das traditionelle ästhetiktheoretische Modell der distanzierten, visuellen ästhetischen Erfahrung impliziert). Berleant hierzu: We not only see our living world; we move with it, we act upon and in response to it. We grasp places not just through color, texture, and shape, but with the breath, by smell, with our skin, through the muscular action and skeletal position, in the sounds of wind, water, and traffic. [The] major dimensions of environment – space, mass, volume, and depth – are encountered not primarily by the eye but with the body in our movements and action.86

Wie aus diesem sowie den vorangegangenen Zitat entnommen werden kann, folgt Arnold Berleant generell keinem isolationistischen, organologischen Modell des Wahrnehmens; d.h. für ihn steht nicht die Frage im Vordergrund, mit welchem einzelnen Sinnesorgan eine isolierte Wahrnehmung gemacht werden kann (eine Wahrnehmungsweise, die für Berleant allein unter künstlich herbeigeführten Laborbedingungen zum Tragen kommt).87 Was Berleant interessiert, ist hingegen die alltägliche Realität des Wahrnehmens. Und in dieser Hinsicht ist Wahrnehmen für Berleant erstens immer synästhetischer88 Natur, in dem Sinn, dass unterschiedliche Einzelwahrnehmungen erst 84 85 86 87 88

Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.16f. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.17. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.19. Siehe hierzu auch Kap. 5, Fn. 24. Zu den Begriffen ,synästhetischʻ und ,synthetischʻ, siehe Kap. 5, Fn. 25.

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in ihrem Zusammenspiel eine Gesamtwahrnehmung ergeben bzw. dass Einzelwahrnehmungen, wenn sie als solche hervortreten, nur im Kontext einer Gesamtwahrnehmung gemacht werden können; und zweitens ist es physisch-dynamisch verfasst; d.h. Umraumwahrnehmungen werden nicht nur mittels ,der Sinneʻ, im Sinn von einzelnen Sinnesorganen, sondern vielmehr mittels des sich im Umraum bewegenden Körpers, oder phänomenologisch formuliert, des Leibes gemacht.89 Participatory environmental features Die Konsequenz eines derartigen Verständnisses ist, dass das menschliche Wahrnehmen nicht losgelöst von den spezifischen Wahrnehmungsqualitäten beschrieben werden kann, welche sie zu erfahren ermöglichen. Denn „human apprehension“ und „physical features“ fallen letztlich in eins zusammen, sie sind „[fused] into a continuous experiential context“. Ein Kontext, oder auch eine ,Matrixʻ, wie Berleant zuweilen formuliert, die Einzelwahrnehmungen unterschiedlichster Art zusammenführt: This matrix encompasses the distinctive patterns of color, sound, texture, light, movement (including the rate and patterns of sensory change), smells, taste, spaces (including distance), temporal sensibility, and size relationships to the human body. Together such factors determine the distinctive character of the environmental experience [...].90

Derartige Aufzählungen lassen sich noch weiter fortsetzen.91 Allerdings stellt sich in konzeptioneller Hinsicht an diesem Punkt die Frage, wie, auf welche Weise derartige Wirkungen eigentlich genau erfahren werden. Anders als Gernot Böhme – der mit seinem Modell des sinnlichen Wahrnehmens im Sinn eines atmosphärischen Spürens eine allgemeine Wahrnehmungslehre zu konzipieren sucht – gibt Arnold Berleant keine universelle Antwort. Eine wichtige, mögliche Wirkungsweise, die Mensch und Umraum unmittelbar interagieren lässt, identifiziert Berleant aber in Gestalt dessen, was er als ,participatory environmental featuresʻ bezeichnet. Dabei handelt es sich 89 Diesen Umstand macht Berleant auch unter Verweis auf Merleau-Ponty deutlich, wenn er erklärt: „Merleau-Ponty argued that the unity of our senses in perception grounds our spaciality and motility. He applied the phenomenological principle of the intentionality of consciousness to perception: to sense is to sense something. But what we sense stands out from the rest only if it is 'put into perspective and coordinated by space.' Our understanding of space, in turn, is constituted by moving through it. Without experience through movement, tactile, auditory, and visual distance lack context. The unity of sensory experience comes from experiencing our motivity in space rather than from adding sensory data together in a sensory operation.“ Arnold Berleant, The Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.107. 90 Arnold Berleant, The Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.22. 91 So fügt Berleant andernorts hinzu: „In addition to the sensory modalities we have been discussing, the multidimensional context of human experience includes such things as shapes and lines, the timbral and wave pattern of sound, light and shadow, pattern and texture, temperature, muscular tension, directional motion and lines of force, volume and depth.” Arnold Berleant, The Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.20.

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um Umweltqualitäten, die, wie Berleant sagt, eine ,kinästhetische Wirkungʻ, hervorrufen. Zurückgreifen kann der Theoretiker in diesem Kontext auf besagte Ansätze aus dem Bereich der psychologischen Wahrnehmungsforschung. Insbesondere bezieht sich Arnold Berleant auf Kurt Lewin und dessen Begriff des ,Aufforderungscharaktersʻ bzw. den Gedanken einer sogenannten ,Hodologieʻ: Lewin considered the [...] environment [...] to directly govern behavior. [...] Since such [environmental – Einfügung B.H.] forces concern possible courses of action or of paths within our life space, Lewin calls such spaces 'hodological' (from Gr. hodos, way or path). Situations posses dynamic properties, and Lewin developed concepts such as: positive and negative valence to denote the attractive or repulsive properties of a region [...]. Lewin's [...] psychology is [...] a psychology of motivation, not of environment, but it displays the value of revealing the interpenetration of consciousness and environmental perception. Further, Lewin made some use of what he called the Aufforderungscharakter [...] by which he means features in the environment that influence our behaviour and lead us to act in certain ways.92

Lewins Aufforderungscharaktere lassen sich für Berleant nicht nur angesichts abstrakter Umweltaspekte (wie bspw. Masse, Volumen, Proportion) feststellen, sondern sie können von unterschiedlichsten, dabei durchaus konkreten Qualitäten der (gebauten) menschlichen Umwelt ausgehen. Ein Beispiel, das diesen Umstand besonders eindrücklich verdeutlicht, gibt Berleant anhand des gewundenen Pfades (der Lewins Konzept der ,Hodologieʻ den Namen gab): Paths are environmental features with rich significance. They are not experienced as cognitive symbols but, if one insists on using that term, as living symbols that embody their meaning, symbols that make us commit our bodies, our selves, to choices [...] most striking is the way in which paths, as features of environment, act upon us. [...] Curves are enticing: they tempt the walker forward to see what lies around the bend. Similarly, a climbing path may invite the walker to move upward to reach its hight. Then there are intrinsic delights that paths offer: The changing views, the feel of the ground under foot, the multitude of details along the way. All these exercise a dynamic attraction on the walker. In describing the hiking path, Bollnow comments that “the path does not shoot for a destination but rests in itself. It invites loitering. Here a man is in the landscape, taken up and dissolved into it, a part of it. He must have time when he abandons himself to such a path. He must stop to enjoy the view.”93

Nicht nur von Wegen, auch von Straßen können Wirkungen wie die beschriebenen ausgehen, wie Berleant ausführt: „Roads, like paths, act upon us in divers ways“; ebenso wie „Places, plazas, parks, and gardens may be inviting or discouraging in the same manner.“ Desgleichen gelte für jene Teile von Gebäuden, mit denen Menschen unmittelbar in Kontakt treten: „Nowhere can this invitation to participate be more emphatic than in the case of entrances, doorways, and stairs“.94 Und auch Gebäude als 92 Arnold Berleant, The Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.9f. 93 Arnold Berleant, Art and Engagement; a.a.O., S.99f. 94 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.12f.

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Ganzes können, so sie entsprechend errichtet sind (i.e. nicht gemäß eines Visualprimats in der Architektur, sondern – implizit oder explizit – dem Leitprinzip der (gebauten) menschlichen Umwelt folgend), derartige Wirkungsmechanismen entfalten: Buildings may also offer opportunities for participation, and when they do they contrast sharply with the usual treatment of architectural structures as visual objects. Visual buildings often display a symmetrical structure and stand apart and aloof as monumental objects. The significance of such buildings may lie primarily in a facades or the structure may develop into pure surface, as in the curtain-wall skyscraper. In contrast, the building that encourages participation embraces the human scale. It is not an isolated object opposing the viewer, mounted on an eminence that sets it apart from its surroundings. It is instead an integral part of the landscape, evoking interest and welcoming our approach.95

4.5.2 Zur wahrgenommenen (gebauten) menschlichen Umwelt Hodologische Wirkungen stellen für Arnold Berleant, wie erwähnt, kein allgemeines Prinzip, wohl aber einen interessanten Teilbereich des Umweltwahrnehmens dar. Während diese von Berleant als unmittelbar effektiv dargestellt werden – und somit wohl eher dem un- oder teilbewussten Wahrnehmen zuzurechnen sind –, finden sich auch Stellungnahmen, in denen der Ästhetiktheoretiker ausdrücklich die Rolle eines (bewusst) kognitiv vermittelten Umweltwahrnehmens betont. So, wenn Berleant hinsichtlich der Erforschung der wahrnehmungsgebundenen Mensch-Umwelt-Beziehung feststellt: Just as we can consider the body an extrapolation from the unity of the human person, so can we regard the environment. This means that the concept of environment must be altered to assimilate the lived body [...] and broadened [...]. We need to include, then, not only a study of physical environmental features that participate in a reciprocal fashion with the self but a correlative study [...] to explore the meanings that are inseparable from such features.96

Eine Untersuchung von (gebauten) menschlichen Umwelten muss also auch dominant kognitive, und nicht vermeintlich ,allein sensorischeʻ Aspekte des Umweltwahrnehmens erkunden. Denn schließlich gelte: The separation of sensation and meaning is [a - Einfügung B.H.] subtle division that actual experience does not support, for as social beings we perceive through the modalities of our culture. The perception of snow, of rain, of distance, of weight, of confusion and order is discriminated and identified according to the paradigms and categories embedded in cultural practices, never by retinal or tactile stimulation alone. The same can be said about noise level, the qualities of smell and taste [...] the level of light [...] even [...] time and space [...].97

95 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment - Theme and Variations on Art and Culture; a.a.O., S.12. 96 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.13. 97 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.19f.

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Von konkreten Sachverhalten, wie dem Wahrnehmen von Regen und Schnee, bis hin zu Raum und Zeit (als den nach Immanuel Kant ja immerhin allgemeinst vorstellbaren apriorischen Anschauungsformen) sind Umweltwahrnehmungen für Berleant also nie allein sensorischer Natur, sondern (und dies, gerade entgegen Kant) immer auch mit kultureller, sozialer, historischer Bedeutung aufgeladen. Eine Einsicht, die Berleant nicht zuletzt fort von der Suche nach allgemeinen Wahrnehmungsprinzipien und hin zur Thematisierung der konkreten, mannigfaltig verfassten Vielfalt der (gebauten) menschlichen Umwelt führt. Unterschiedliche Perspektiven auf die Stadt als (gebaute) menschliche Umwelt Trucks, PKWs, Busse, parkende Autos, Passanten, Einkaufsstraßen, Fußgängerzonen, Arkaden, Gärten, Parks, Bänke, Brunnen, öffentliche Plätze, Beton, Asphalt, Steinwüsten, marmorverkleidete Wolkenkratzer, Müll, fließender Verkehr, Parkplätze, Verkehrsgeräusche, menschliche Stimmen, Radiomusik, das Summen von Klimaanlagen und Ventilationssystemen, die gesenkte Temperatur in Hotels und öffentlichen Gebäuden, der allgegenwärtige Rasenmäherlärm in der Vorstadt, suburbane Häuser im Ranch- oder Kolonialstil, vernakuläre Architekturen, öffentliche Einrichtungen, Museen, Theater, Bibliotheken, Licht und Schatten, verschmutzte Luft, Neonbeleuchtung, Industriehäfen, Kanäle, Brücken, Uferbefestigungen, Picknickplätze, Wind, Wolken, Texturen, Gerüche ...98 – these are part of a long catalog of perceptual objects and qualities that join with the active human presence to constitute a living environment we call the city.99

Angesichts der schier unüberblickbaren, da letztlich potentiell unendlichen Phänomenvielfalt eines environment, wie jenem des urbanen Umraumes, stellt sich für Arnold Berleant eine Frage von nicht geringer (praktischer) Bedeutung, nämlich jene nach einem möglichen Zugang zur Stadt, verstanden im Sinn eines wahrzunehmenden human bzw. built environment. Eine Reduktion auf essentielle Merkmale, also auf wesenhafte Aspekte, die ein derartiges environment prägen mögen (wie bspw. Gebäude und Verkehrsnetze), während andere Aspekte (etwa Wolken, Texturen, Gerüche) vernachlässigt oder als ,irrelevantʻ aus der Betrachtung ausgeschlossen werden, ist auf Grund Berleants allgemeiner anti-essentialistischer Verortung nicht möglich. Stattdessen findet sich bei diesem aber eine alternative Herangehensweise. Allerdings besteht diese nicht im Aufzeigen einer einzigen, allein gültigen Methodik, sondern vielmehr im Entwickeln und Erproben unterschiedlicher Möglichkeiten. Eine erste methodische Möglichkeit, die Berleant anbietet, besteht in einem deskriptiven Zugang. Also in einer möglichst genauen Beschreibung des eigenen Erlebens des phänomenalen Spektrums einer konkreten Umwelt. Hierzu eine Anmerkung: In diesem Sinn ist auch Berleants oben wiedergegebene Bemerkung zu verste98 Beispiele entnommen aus: Arnold Berleant, Cultivating an Urban Aesthetics; in: Arnold Berleant/Allen Carlson, The Aesthetics of Human Environments; a.a.O., S.79-91, und: Arnold Berleant, An Aesthetics of Urbanism; in: ders., Sensibility and Sense; a.a.O., S.115-136. 99 Arnold Berleant, Cultivating an Urban Aesthetics; in: Arnold Berleant/Allen Carlson, The Aesthetics of Human Environments; a.a.O., S.90.

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hen, nach der es sich bei seinem Konzept des engagement um eine ,deskriptive Theorieʻ handle. Denn Ästhetiktheorie muss für Berleant eben nicht allein ,klassisch philosophischʻ, i.e. analytisch-argumentativ vorgehen, sondern sie kann auch, der Literatur verwandt, Schilderungen und Beschreibungen abgeben. Im Gegensatz zu literarischen Texten sind Berleants eigene Versuche dabei weniger um sprachliche Brillanz denn um Sachlichkeit bemüht, wobei eine eigene unmittelbare Involviertheit nicht geleugnet, sondern bewusst einbezogen wird.100 Gerade angesichts der (gebauten) menschlichen Umwelt wendet der Theoretiker aber auch noch andere Möglichkeiten an. So entwickelt er anhand des Beispiels der soundscape, also der Geräuschkulisse des städtischen Umraumes, eine sogenannte „taxonomy of urban sounds“ – eine, wie man sagen könnte, ordnende, überblickgebende Zusammenstellung (vergleichbar derjenigen, die Gernot Böhme anhand des Lichts vornimmt und unter dem Schlagwort einer Phänomenologie des Lichts zusammenfasst). Unterschieden wird dabei zwischen ,natural soundsʻ: „the rushing of wind, the aural pointelism of rain, birdcalls, perhaps the sound of running water“; ,organic soundsʻ: „cries of street vendors, fragments of conversations, sounds of children's play, a parent's call, the murmor or roar of crowds“; ,mechanical soundsʻ: „Trucks, automobiles, buses, trains, motorcycles“; und ,new sounds of the electronic ageʻ: „horns, loudspeakers, public address systems, radios“. Diese Möglichkeit, also jene einer taxonomischen Unterscheidung, lässt sich prinzipiell auch für andere Phänomenbereiche durchführen: So etwa für Licht, Materialien, Bewegungen, Gebäudeformen etc. Allerdings bringt sie die prinzipielle – da ihr konstitutiv eingeschriebene – Schwierigkeit mit sich, dass Phänomene entsprechend eines Ordnungsrasters unterschieden werden, das gemäß Berleants eigenem Umwelt-Begriff, der ja ein Zusammenspiel, und nicht etwa eine Isolierung betont, diesem gewissermaßen artifiziell übergestülpt wird. Es kann sich also nie um eine ,objektiveʻ Klassifizierung auf Sachebene, sondern stets nur um eine vorläufige und operative Systematisierung handeln.101 Eine dritte, die beiden zuvor genannten Möglichkeiten zusammenführende methodische Herangehensweise findet sich bei Berleant schließlich, wenn dieser das human bzw. built environment der Stadt hinsichtlich unterschiedlicher ,paradigmatischer Betrachtungsperspektivenʻ, wie sozialen, historischen, ethischen, metaphysischen, imaginativen, funktionalen Gesichtspunkten systematisiert und beschreibt.102 Alle genannten Aspekte verbinden sich dabei in der einen oder anderen Weise mit ästhetischen bzw. aisthetischen Belangen, wie der Theoretiker in der folgenden Passage angesichts des funktionalen Charakters der Stadt verdeutlicht. [...] function includes more than practical expedience. We must introduce factors of movement, time and perception into discussions [...]. A city is not just an agglomeration of objects in a particular place: it is a condition under which human beings carry on social activities at a certain level of density and a certain order of complexity. Thus the urban environment is a process, not a stasis. It generates an intricate combination of parallel and cross movements: a transportation network of pedestrians and of vehicles for personal mobility – bicycles, motorcycles, automo100 Vgl. Fn. 42. 101 Siehe hierzu auch Kap. 9.2. 102 Siehe hierzu: Arnold Berleant, Aesthetic Paradigms for an Urban Ecology und Cultivating an Urban Aesthetics; in: ders., The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.57-81/S.82-98.

194 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT biles, buses, streetcars, subways, and ferries; a distribution network of trucks, trains, ships; a communication network of mail delivery, radio, television, newspapers and magazines, computer systems; an educational and cultural network [...]; a commercial network [...]; a service network [...]; an administrative network [...]. Moreover, as a functional environment, the city cannot be understood without recognizing the importance of time. In its internal dynamic time coordinates daily patterns of movement to and from work, school, shopping; the weekly cycle of work and leisure; and the seasonal one of residence, recreation, and travel. To these must be added historical time, the remembrance of time past in the uses that spring from earlier inhabitants [...].103

Berleants Beschreibung der Stadt im Sinn eines ästhetisch-funktionalen Prozesses erstreckt sich noch über mehrere Seiten. Dennoch mag der gegebene Ausschnitt zumindest einen Eindruck davon vermitteln, wie eine Betrachtung von Stadt unter einem paradigmatischen Gesichtspunkt, der an eine ästhetische/aisthetische Dimension gekoppelt ist, aussehen könnte. Wichtig ist dabei zu beachten, dass etwa ,Funktionalitätʻ von Berleant nicht im Sinn eines in sich geschlossenen mechanistischen Wirkungszusammenhangs aufgefasst wird, während das Ästhetische diesem im Sinn eines dekorativen Beiwerks allein fakultativ hinzugefügt werden kann. Denn Aspekte wie Bewegung, Dynamik, Zeit sind für Berleant unmittelbar an das menschliche Wahrnehmen – und somit an das menschliche Auffassungs- und Erkenntnisvermögen – gebunden. In dieser Hinsicht ist die Verbindung zwischen ,dem Funktionalenʻ und ,dem Ästhetischenʻ also tiefgehend und unauflöslich.104 Die Stadt als ästhetisch-ökologische Einheit In der zuletzt dargestellten methodischen Annäherungsmöglichkeit richtet Berleant unterschiedliche paradigmatische Betrachtungsperspektiven auf den urbanen Umraum. Jede dieser Perspektiven, gleich ob sie funktionale, soziale, politische, histori103 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.70-74. 104 Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang, wenn Berleant die Stadt unter einem anderen Gesichtspunkt, wie jenem des Imaginativen, beschreibt. Ein anregendes Potential besitzt die Stadt für Berleant nämlich nicht nur, da sie entsprechende Einrichtungen und Institutionen, wie „Art museums, cinemas, bookshops, theaters, concert halls, fairgrounds, stadiums [...] amusement parks“ besitzt, sondern auch auf Grund der unterschiedlichen Erfahrungen, die in ihren Straßen zu machen sind. Dieses Erfahrungsspektrum kann verschiedenste Aspekte einschließen: „[...] the strange, the unpredictable, the imaginative [...] the intriguing, the curious [...] the unexpected encounters in streets, buildings, shops [...] the nooks and dark places of traditional neighborhoods [...] the twists and turns we find so intriguing in medieval streets, the unexpected squares, fountains, vistas, restaurants, and shops tucked away in strange places, towers to climb, roof gardens and hilltop parks with panoramic views, street players, and public performances.“ Berleant verwendet den Begriff des ,Imaginativenʻ in einem deskriptiven Sinn, während er den Gesichtspunkt selbst „half playfully, half serious“ mit einem metaphorischen Bild belegt. Denn am treffendsten lässt sich für ihn der imaginative Aspekt der Stadt anhand der Welt des ,Zirkusʻ illustrieren; so, wie der ästhetisch-funktionale Zusammenhang mittels des ,Segelbootesʻ, der des ästhetisch-metaphysischen anhand der ,Kathedraleʻ illustriert werden könne. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.62ff.

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sche Aspekte betont, wird als mit dem Ästhetischen immanent verbunden aufgezeigt. Letztlich lassen sich für Arnold Berleant derartige mögliche Einzelperspektiven aber auch, jedenfalls was eine konzeptionelle Sicht betrifft, zusammenfassen. Die Stadt ist demnach als potentieller, dabei nie vollständig zu beschreibender Gesamtzusammenhang zu verstehen. Dieser bildet einerseits eine gedachte Einheit, während er andererseits, nach innen hin, durch kleinere Mikrozusammenhänge geprägt wird und nach außen hin in übergreifende Makrozusammenhänge eingebunden ist; oder anders ausgedrückt: Die Stadt kann mit Berleant als eine Art Ökosystem, im Sinn einer ästhetisch-ökologischen Einheit, aufgefasst werden. Zur Illustration dieses Gedankens unterscheidet Arnold Berleant drei unterschiedliche Vorstellungsweisen bzw. Modelle von Stadt, nämlich: das sogenannte ,aleatorischeʻ, das ,mechanischeʻ und das ,ökosystemischeʻ Stadtmodell. Unter Erstgenanntem versteht Berleant, im Sinn des Begriffs des ,Aleatorischenʻ (also des zufällig Entstandenen) die historische gewachsene Stadt: „The forms, characteristics, and ambience of this environment are rarely chosen but are shaped by geographical, political and economic forces“. Von ihrer Bebauungsstruktur her seien derartige Städte meist wie folgt gekennzeichnet: „a central nucleolus with historic origins and character, surrounded by successive generations of residential and industrial development.“ Demgegenüber stehe die mechanische Auffassung von Stadt: Eine Vorstellung, die die Stadt als synthetisch planbare Funktionseinheit verstehe, welche „values of order, harmony, uniformity and especially smooth, oiled functioning“ verkörpere und dabei „efficiency, cleanness, impersonality, uniformity, interchangeable modular units, expandability“ als Leitprinzipien mit sich führe. Kurz: Es werden Bilder von Stadt gezeichnet, wie sie sich mit dem traditionellen europäischen Stadttypus und der Stadt der Moderne des 20. Jahrhunderts verbinden. In diesem Sinn lässt sich für Arnold Berleant auch Le Corbusiers bekannter Satz „The house is a machine for living“ nur allzu leicht auf die Stadt als Ganzes übertragen: „As does the house, so should the [...] city“, wie Berleant diese Vorstellung zusammenfasst. Beiden möglichen Stadtmodellen entgegen – gewissermaßen aber auch beide im Sinn einer Synthese vereinend – stellt Berleant nun sein ecosystemic model, zu dem er ausführt: Urbanism has moved beyond these rather simplistic models to a more sophisticated stage as an ecosystem. This leaves behind the mechanical ideal of uniform, replaceable parts and adopts an organic vision. In sharp contrast to the mechanical, the [...] ecosystemic model recognizes the urban region as a complex unity of many different but interdependent components, each preoccupied with its own purposes but at the same time contributing to and depending on a context that embraces them all.105

Berleants ecosystemic bzw. ästhetisch-ökologisches Modell fordert also dazu auf, unterschiedliche Aspekte als interdependente Bestandteile und Konstituenten von Stadt zu denken. Dabei könne es sich, wie Berleant andernorts zu erklären fortfährt, ebenso um materielle wie immaterielle Bestandteile handeln: A comprehensive urban ecosystem [...] when functioning as an integral whole, has no hard devisions between its physical structures, its social and political organizations, and the activi105 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.123.

196 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT ties associated with them. For an urban ecosystem is comprised of more than physical components. It includes in equal importance the immaterial elements of social relations, behavior patterns [...] customs and traditions.106

Beide Einzelbegriffe die zur Beschreibung des ecosystemic model dienen, also jener des ,Ökologischenʻ und jener des ,Ästhetischenʻ, wären für Berleant jedoch missverstanden, wenn sie mit bloßem Naturromantizismus oder mit Oberflächenverhübschung gleichgesetzt würden. Eine ästhetisch-ökologische Perspektive auf die Stadt anzuwenden bedeute „more than neighbourhood cleanup campaigns [...] more than appreciating gardens, parks, or urban vistas [...] more than preserving the architectural heritage of our cities and rebuilding their wastelands of physical and social decay.“107 Stattdessen gelte es, unter der leitmotivischen Rückbindung an das Ästhetische, welches zentral durch den Aspekt der aisthesis, also das sinnliche Wahrnehmungs- und Auffassungsvermögen, bestimmt ist, verschiedene Aspekte und Bestandteile des Ökosystems Stadt als einerseits in der Betrachtung voneinander zu differenzieren, andererseits als in der Realität miteinander verbunden zu denken. Das Resultat ist eine komplexe, multidimensionale Betrachtungsweise, die Arnold Berleant jedoch im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Stadtmodellen als einzige für geeignet hält, ein sinnvolles Modell für die Analyse, wie für die Entwicklung heutiger Städte abzuliefern. The ecosystem thus becomes an imaginative model of the urban environment. At the magnitude and complexity of mass industrial societies, the uncoordinated activities that characterize the aleatoric model produce disorder and inefficiency and easily lead to chaos and breakdown. The mechanical model is also inadequate, for it is at root of impersonality, anomie, and inhospitable character of industrialized urban regions. The biological concept of an ecosystem seems better able to compensate for the inadequacies of the earlier guiding principles. It can be more responsive to the workings and needs of human social life.108

106 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.131. 107 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.57. 108 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.123.

Kapitel 5 Thematisch-konzeptionelle Verdichtungspunkte

In den beiden vorausgehenden Kapiteln wurden die ästhetiktheoretischen Ansätze Arnold Berleants und Gernot Böhmes vorgestellt: Die Spanne reichte von Gernot Böhmes Kritik an einer traditionellen Kunst- und Beurteilungsästhetik bis hin zu Arnold Berleants Ausführungen zur Stadt im Sinn einer ästhetisch-ökologischen Einheit. Angesichts der Vielschichtigkeit beider Positionen konnte nur ein gewisser Einblick in das Arbeiten beider Theoretiker gegeben werden. Allerdings: Ziel der Darstellung konnte und sollte es auch nicht sein, zwei individuellen Positionen allein im Sinn eines Selbstzwecks gerecht zu werden. Vielmehr wurden beide Ansätze von vornherein unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, nämlich hinsichtlich der Frage, inwiefern sie potentiell zu den theoretischen Grundlagen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt beitragen könnten. In diesem Kapitel wird es nun gelten, das bisherige Verhältnis umzukehren, die Frage individueller Positionierungen in den Hintergrund zu rücken und die der allgemeineren Relevanz explizit in den Vordergrund zu stellen. Hierzu wird, was die Art der Auseinandersetzung betrifft, ein Wechsel erfolgen: von einer Deskriptionsebene zu einer Reflexionsebene. Erst mittels einer analytisch-kritischen Auseinandersetzung wird es nämlich möglich, Stärken ebenso wie potentielle Probleme zu identifizieren, individuelle Schwerpunktsetzungen von in allgemeiner Hinsicht relevanten Aspekten zu scheiden und hierdurch, Schritt für Schritt, thematisch-konzeptionelle Verdichtungspunkte einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt offenzulegen.

5.1 D AS V ERHÄLTNIS

VON

ÄSTHETIK

UND

AISTHETIK

Will man sich mit der Möglichkeit einer Aisthetik – gleich ob einer noch nicht näher spezifizierten Aisthetik oder einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt im Besonderen – befassen, so muss zunächst einmal geklärt werden, was diese sein könnte. Was unterscheidet den Gedanken einer Aisthetik von dem einer Ästhetik – und was unterscheidet die zu Grunde liegenden Begriffe, jenen des ,Ästhetischenʻ und den der ,aisthesisʻ, voneinander?

198 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT

Zum Begriff ,Ästhetikʻ Gernot Böhme bestimmt seine Neue Ästhetik grundsätzlich als „Aisthetik [...] d.h. als allgemeine Wahrnehmungslehre“.1 Gemeint ist damit nicht, dass beide Bereiche, Ästhetik und Aisthetik, für den Theoretiker identisch wären. (Abhängig von einer jeweiligen Fragestellung mag mal diese, mal jene ein weiteres Spektrum umfassen.) Jener Bereich, mit dem sich Gernot Böhme selbst befasst, ist dabei generell und grundlegend als Aisthetik zu verstehen. Was den Begriff der ,aisthesisʻ betrifft, so ist es Böhmes systematisch ausgearbeitetes, um innere Kohärenz wie äußere Geschlossenheit bemühtes Modell des sinnlichen Wahrnehmens, durch das dieser eine nähere Bestimmung erfährt (mehr hierzu im Weiteren). Anders verhält es sich bei Arnold Berleant: Eine prinzipiell ähnliche Auffassung wie bei Gernot Böhme findet sich auch bei diesem. So, wenn Berleant formuliert: „Turning to the meaning [...] of the aesthetic [...] its core rests on sensory perception“.2 Auch bei Berleant spielt das sinnliche Wahrnehmen also eine, recht wörtlich, zentrale Rolle. Allerdings, wie dem Begriff ,coreʻ, zu Deutsch ,Kernʻ, zu entnehmen ist, gehen beide Begriffe, jener der ,aisthesisʻ und jener des ,Ästhetischenʻ, nicht restlos ineinander auf: Zweitgenannter ist weiter als erstgenannter. Dies wird auch aus anderen Formulierungen Berleants ersichtlich. So, wenn er erklärt: „[...] aesthetics retains a connection with its origin, with aisthesis.“3 Das Ästhetische behält also eine Verbindung zu jenem Begriff, von dem es einst in etymologischer Hinsicht abgeleitet wurde, von dem es heute aber, wie ex negativo zu entnehmen ist, unterschieden werden muss. Ein Problem oder zumindest eine noch nicht behobene Schwierigkeit, die in diesem Kontext offenbar wird, liegt nun in einem gewissermaßen antagonistischen Moment, das sich im Denken Arnold Berleants antreffen lässt: Einerseits scheint sich dieses, wie angesichts einer seiner jüngsten Veröffentlichungen Sensibility and Sense deutlich wird, verstärkt in eine Richtung zu bewegen, die Ästhetik allgemein im Sinn von aisthesis versteht, während der Begriff des ,Ästhetischenʻ zunehmend an Bedeutung verliert4; andererseits findet sich zugleich eine genau gegenläufige Tendenz, die versucht, am Begriff des ,Ästhetischenʻ festzuhalten, dafür aber alle möglichen Ver1 2 3 4

Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.29. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.51. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.28. In diesem Sinn können Äußerungen, wie in der oben zitierte Passage, verstanden werden, in der Berleant mit anti-essentialistischem Impetus feststellt: „There is nothing sacred in the word 'aesthetics'. Its denotation has no ontological status, like all language, its meaning is specified only internally, within a language system“. Dem Begriff des ,Ästhetischenʻ komme also keine spezifische Bedeutung zu. Vielmehr ergebe sich eine solche, und hier wird der anti-essentialisitsche bzw. sprachkritische Einfluss in Berleants Arbeiten besonders deutlich, allein aus den unterschiedlichen Kontexten, in denen der Begriff zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Verwendung gefunden habe: „The breath and variety of occasions and experiences that have at various times and places been described as aesthetic are striking. These have led to the word 'aesthetics' achieving such wide currency that it is glibly applied to a large collection – a garbage heap, some might say – of objects and occasions.“ Arnold Berleant, Sensibility and Sense, a.a.O., S.5 und S.28.

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wendungsweisen des Begriffs wiederum in eins zusammenzuführen. So der Fall, wenn Berleant die Frage stellt: „Is there anything that [the] various usages have in common?“, um diese Frage gleich darauf selbst mit den folgenden Worten zu beantworten: „If the multiple uses of 'aesthetic' have any feature in common, it lies in their implied references to sensation, to the realm of perceptual experience.“5 Die Probleme, zu denen eine derartige antagonistische Denkbewegung in Berleants individuellem Ansatz führen könnte, sollen hier nicht Thema sein.6 Eine Frage, die sich aber darüber hinausgehend hinsichtlich des Gedankens einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt im Allgemeinen stellt, ist, inwiefern eine Beibehaltung beider Begrifflichkeiten überhaupt als sinnvoll erachtet werden kann. In Kapitel 1 wurde in diesem Kontext auf eine Möglichkeit hingewiesen, die Wolfgang Welsch angesichts der polysemantischen Verfasstheit des Begriffs des ,Ästhetischenʻ aufzeigt, nämlich jene, den Bereich der Ästhetik gemäß des Gedankens der wittgensteinschen Familienähnlichkeit als eine Disziplin zu konzipieren, die sich aus unterschiedlichen thematisch-konzeptionellen Einzelsträngen konstituiert; welche ihrerseits wiederum transdisziplinär erforscht werden können. Der Bereich der Aisthetik wäre in diesem Sinn derjenige Strang, der sich mit Fragen von aisthesis, als einem an die perzeptive menschliche Physis gebundenen Auffassungs- und Erkenntnisvermögen, befasst, während andere Stränge der Ästhetik sich mit anderen Fragestellungen zu befassen hätten, wie sie sich nicht zuletzt durch die über zweieinhalb Jahrhunderte zurückreichende Geschichte der Disziplin mit dem Begriff des ,Ästhetischenʻ verbinden. Gernot Böhme scheint dieser von Welsch angeregten Grundkonzeption bereits zu folgen, wenn er seine Version einer Neuen Ästhetik im Sinn einer Aisthetik und somit als allgemeine Wahrnehmungslehre konzipiert. Auch Arnold Berleant unterscheidet, in dieser Hinsicht nicht unähnlich Welsch, zwischen unterschiedlichen Strängen, die sich im Begriff des ,Ästhetischenʻ vereinigen und überlagern, wobei er sein persönliches Interesse insbesondere auf den mit aisthetischen Fragestellungen befassten Strang richtet.7 Hinsichtlich der Frage der Ästhetik 5 6

7

Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.28. Malcolm Butt kritisiert in diesem Kontext, dass der ästhetiktheoretische Ansatz Berleants zwar traditionelle Bestimmungen des Ästhetischen – Konzepte wie jenes der distant contemplation und disinterestedness – aufgebe, dabei aber letztlich nicht in der Lage sei, diese durch adäquatere Alternativen zu ersetzen. Ähnlich lautet Allen Carlsons Diagnose, der nach eingehender Erörterung möglicher Aspekte, die einen Kern von Berleants Ästhetikbegriff ausmachen könnten, zu dem Schluss kommt: „Berleant is left without a criterion of the aesthetics. Although his aesthetics consists of a series of insightful and compelling observations [...] it does not constitute a general theory of aesthetic experience.“ Siehe auch Fn. 7. Zitat: Malcolm Budd, The Aesthetic appreciation of Nature (Oxford: Clarendon Press; 2002) S.111-112; und Allen Carlson, Critical Note: Aesthetics and Environment; a.a.O. S.416-427. Im Unterschied zu Wolfgang Welsch bezieht Arnold Berleant seine Überlegungen allerdings nicht auf die disziplinäre Struktur. Vielmehr sucht er mit seiner näheren Bestimmung des Begriffs ,ästhetischʻ einer Kritik Allen Carlsons zu begegnen (siehe Fn. 6). Dabei bestimmt Berleant den Begriff des ,Ästhetischenʻ im Sinn eines „syndrome“, und somit als eine Gruppe von Symptomen, wie man, die medizinische Konnotation beibehaltend, sagen könnte. Nicht ein einzelnes Merkmal mache dabei seinen Ästhetikbegriff – und somit sein

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im Sinn einer Disziplin dürfte eine Unterscheidung in einen Bereich der Aisthetik und einen solchen der Ästhetik also durchaus sinnvoll und potentiell – jedenfalls unter den mit aisthesis befassten AutorInnen8 – konsensfähig sein. Allerdings: Nun wiederum innerhalb des somit näher bestimmten Bereichs einer Aisthetik auch den

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Verständnis des Ästhetischen – aus, sondern dieser sei wie folgt aufzufassen: „I would identify the aesthetic by [...] a syndrome that rests on an engaged experience of connection whose strong perceptual content is inevitably shaped by cognitive, cultural, and personal influences.“ In diesem Kontext verweist Berleant auch auf seine allgemeine philosophische Verortung. Denn die Frage, ob das Ästhetische allein dann treffend bestimmt sei, wenn sich hinreichende und notwendige Kriterien für dessen Spezifik angeben ließen, hänge letztlich von einer jeweils zu Grunde gelegten Ontologie ab. Berleant selbst folgt keinem essentialistischen, sondern einem anti-essentialistischen Ansatz, weshalb sich auch die Frage nach einem spezifischen Merkmal, einer differentia specifica, des Ästhetischen erübrige. So berechtigt diese Entgegnungen Berleants nun sind, so bleibt doch die Frage, ob der Theoretiker sodann wiederum seinem eigenen anti-essentialistischen Anspruch gerecht wird. Betrachtet man Berleants Ausführungen näher, so scheint es, dass dieser sich in seinem Anti-Essentialismus an Wittgensteins Begriff der ,Familienähnlichkeitʻ orientiert. Ein entsprechender Hinweis findet sich in Sensibility and Sense, in dem Berleant das Gesamtkonzept seines Arbeitens zum Thema macht und von diesem im Sinn einer „overall consistency“, anstelle einer „systematic [...] structure“ spricht. Ausdrücklich findet der Begriff der ,Familienähnlichkeitʻ zudem Verwendung, wenn Berleant die Frage diskutiert, ob es einen Aspekt gebe, der die unterschiedlichen Aspekte des Begriffs des ,Ästhetischenʻ verbinde. So fragt Berleant: „Is there a family resemblance that binds them [i.e. the various usages of the word aesthetic – Anmerkung B.H.] together?“ Ein Unterschied zwischen Wittgensteins Gedanken der Familienähnlichkeit und der Art, wie dieser bei Berleant zur Anwendung gelangt, ergibt sich nun hinsichtlich der Konsequenz des Einsatzes. Denn zwar mag, bildlich gesprochen, ein Begriff aus verschiedenen Strängen gebildet werden oder ein ,Syndromʻ an Bedeutungskomponenten bilden. Allerdings bedeutet dies für Wittgenstein auch, dass sich die Bedeutung eines Begriffs jeweils nur aus einem spezifischen Kontext heraus ergibt, ebenso wie diese Bedeutungsmöglichkeit umgekehrt auf eben jenen spezifischen Kontext beschränkt bleiben muss (siehe hierzu auch Kap. 11). So könnte das Ästhetische sich in einem Fall etwa auf die Komponente der (pure) sensation, in einem anderen Fall auf den Aspekt der (cognitive) perception, mal auf den Gedanken der experience, dann jenen des engagement, einmal auf normative, ein andermal auf hedonistische Aspekte beziehen lassen. Es kann aber nicht gefolgert werden, dass umgekehrt in jedem Einzelfall, in dem von ,dem Ästhetischenʻ die Rede ist, auch alle anderen Bedeutungsaspekte (sensuelle, kognitive, normative, hedonistische Momente) des polysemantisch verfassten Begriffs impliziert sind. Eben auf eine derartiges universalistisches Moment, inklusive der Möglichkeit rekursiver Schlüsse, scheint sich jedoch besagte gegenläufige Tendenz in Arnold Berleants Ansatz zu richten. Oder, kurz gesagt: Zwar gelingt es Berleant erfolgreich, der Kritik Allen Carlsons (sowie jener Malcom Butts) zu begegnen, inhärente Schwierigkeiten bleiben hinsichtlich Berleants Begriff des ,Ästhetischenʻ jedoch bestehen. Siehe Arnold Berleant, Aesthetics and Environments Reconsidered: Reply to Carlson; in: British Journal of Aesthetics; a.a.O.; Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.64-65; sowie: Arnold Berleant, Rethinking Aesthetics, Vorwort; a.a.O., S.17. Vgl. Kap. 2.2.

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Begriff des ,Ästhetischenʻ zu verwenden, so wie bei Arnold Berleant der Fall, ist problematisch. Denn einerseits bezieht sich Berleant mit seiner Rede von ,ästhetischenʻ Sachverhalten maßgeblich auf dasjenige, was er für das zentrale, verbindende Element des Begriffs hält, i.e. den Bereich der aisthesis. Andererseits ist es ihm offenbar nicht möglich, das, was den Begriff des ,Ästhetischenʻ in Absetzung zu jenem der ,aisthesisʻ und über diesen hinaus kennzeichnen könnte, klar anzugeben. Und so trägt die begriffliche Doppelung innerhalb des berleantschen Ansatzes letztlich eher zu einer Verunklärung als zu einer Präzisierung bei. (Etwa wenn sich en passant Formulierungen einstellen wie „aesthetic (i.e. sensory) perception“.9 Denn diese setzen den Begriff des ,Ästhetischenʻ ja mit dem sinnlichen Wahrnehmen und somit dem Bereich der aisthesis gleich; oder wenn der Theoretiker – seinem eigenen wiederholten Hinweis auf die Notwendigkeit einer kritischen Haltung gegenüber sprachlichen Hypostatisierungen („we fabricate words to explain and justify them [...]. But they are, nonetheless, constructions”10) und seiner Mahnung vor universalisierenden Formulierungen („Relinquish substantive categories [...]. Replace universalization”11) zum Trotz – selbst in substantivierender und universalisierender Form von ,the aestheticʻ spricht, ohne dabei klarzumachen, auf welche Aspekte, jenseits des aisthetischen Strangs, er sich damit bezieht.12) Um zusammenzufassen: Hinsichtlich der Disziplin der Ästhetik ist es sinnvoll, zwischen dieser, und einem gesonderten Bereich, genannt ,Aisthetikʻ zu unterscheiden. Im Bereich der ,Ästhetikʻ können dabei – Welsch folgend – Stränge, die die Tradition der Disziplin und den Begriff in seiner historischen wie aktuellen Verwendungsweise prägen, auseinandergedröselt und auf ihre aktuelle Relevanz hin überprüft werden (zu Vorschlägen, was bspw. ein kritisch-reflektiertes Anknüpfen an den Strang einer Philosophie der Kunst betrifft, siehe Kapitel 1.3). Der Bereich der Aisthetik sollte hingegen – so wie bereits durch Gernot Böhme realisiert – auch begrifflich eine klare Absetzung erfahren. Innerhalb des Bereichs einer Aisthetik gilt es dabei – anders, als durch Arnold Berleant praktiziert – auf den Begriff des ,Ästhetischenʻ zu verzichten. Stattdessen sollte das Bemühen darauf gerichtet sein, jenen Bereich, auf welchen der Ausdruck ,aisthesisʻ abzielt, genauer – und möglichst umseitig, d.h. transdisziplinär – zu erforschen.13 9 10 11 12

Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.42. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.64-65. Arnold Berleant, Rethinking Aesthetics; a.a.O., S.17. Siehe Formulierungen wie: „Placing the aesthetic at the heart of [...] inquiries“ oder „Assigning central importance to the aesthetic in human experience“; Arnold Berleant, Sensibility and Sense, Vorwort; a.a.O. 13 Die Frage, ob man sämtliche Bereiche – a) den der Erforschung von aisthesis, b) den einer Philosophie der Kunst, c) den einer Erkundung des Geschmacks etc. – unter dem Dachbegriff der ,Ästhetikʻ zusammenfasst oder ob man einzelne Bereiche, wie jenen einer Erforschung von aisthesis, aus dieser als eigenständige Disziplinen isoliert, ist also noch nicht abschließend beantwortet. Beides ist prinzipiell möglich. Eine Entscheidung hierüber hängt weniger von Grundsatzentscheidungen als vielmehr von der pragmatischen Fragestellung ab, als wie ,virulentʻ ein jeweiliger Bereich zu einer bestimmten Zeit erachtet und wie intensiv er betrieben wird. (Es macht wenig Sinn, aktuell bspw. den Bereich Geschmack/Geschmacksurteil aus der Disziplin der Ästhetik auszukoppeln und eigene Lehrstühle für die-

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Zum Begriff ,aisthesisʻ Freilich ist Arnold Berleants berechtigter und wichtiger Hinweis, dass eine substantivierende und essentialisierende Redeweise nach Möglichkeit zu vermeiden ist, auch hinsichtlich des Ausdrucks ,aisthesisʻ relevant. Denn in der Tat könnte dieser, insbesondere wenn in substantivischer Form verwendet und mit einem bestimmten Artikel versehen, vermuten lassen, dass mit ,der menschlichen Aisthesisʻ eine als solche identifizierbare, in sich abgeschlossene Entität, vergleichbar den tradierten Hypostatisierungen ,des Geistesʻ, ,der Vernunftʻ, ,der Seeleʻ, ,der Psycheʻ, wenn nicht gar ein greifbares Organ, wie ,das Hirnʻ oder ,das Herzʻ gemeint sei. Nahegelegt wird ein solches Verständnis aus heutiger Sicht bereits durch Alexander G. Baumgarten und dessen Rede von einer gnoseologia inferior als einer philosophischen Erforschung ,des unteren Erkenntnisvermögensʻ (bei der zeitgenössischen, in metaphysischhierarchischem Denken ungeübten LeserInnen fast unweigerlich Assoziationen an untereinander gelegene Organe oder übereinander gestapelte Schubladen in den Sinn kommen). Tatsächlich wird der Begriff ,aisthesisʻ hier und im Weiteren jedoch nicht für eine fixe Entität stehen, sondern er fungiert gezielt als Arbeitsbegriff, der dazu dienen wird, begrifflichen und konzeptionellen Freiraum zu schaffen für einen Zwischenbereich, den es näher zu erforschen gilt: nämlich einen Bereich der „perceptual apprehension“ (mit Berleant) – des sinnlichen Auffassungsvermögens – oder auch der „sinnlichen Erkenntnis“ (mit Böhme). Dieser ist zwischen – oder richtiger: jenseits von – traditionellen binären Oppositionen wie Körper und Geist, Fühlen und Denken, Wahrnehmung und Sprache angesiedelt. An diesem Punkt, einige Anmerkungen terminologischer Art: Im Rahmen dieser Untersuchung wurde bislang und wird auch im Weiteren, wenn von aisthesis die Rede ist, nach Möglichkeit auf den bestimmten Artikel verzichtet werden. Außerdem wird, zwecks Markierung der Differenz zu wesenhaft, Organ-gleich imaginierten Entitäten, der Ausdruck ,aisthesisʻ prinzipiell klein geschrieben, auch wenn er in substantivischer Form gebraucht wird. Die übliche Übersetzung des altgriechischen Begriffs ,aisthesisʻ mit ,sinnliches Wahrnehmenʻ ist dabei durchaus möglich, wird zuweilen auch Verwendung finden, ist strenggenommen aber insofern nicht wirklich befriedigend, als in unserem heutigen Verständnis von Wahrnehmung eine bestimmte Interpretation eingebettet liegt und stets unterschwellig mitschwingt. Deutlich wird diese Tatsache, wenn man Übersetzungsmöglichkeiten von ,aisthesisʻ im Englischen bedenkt. Hier bestehen prinzipiell zwei Möglichkeiten: Erstens jene mit ,sensationʻ – als Bezeichnung für ein vermeintlich rein sensorisches Perzipieren – und zweitens mit ,perceptionʻ – als Bezeichnung für ein Wahrnehmen, das sensorische wie kognitive Anteile gleichermaßen enthält. Wobei der deutsche Ausdruck ,sinnliches Wahrnehmenʻ in seiner alltagssprachlichen Verwendungsweise stärker mit erstgenannter Übersetzungsmöglichkeit korreliert. ,aisthesisʻ wäre dagegen der Tendenz nach eher

sen einzurichten, wenn darin nicht mehr als Kant und Bourdieu gelehrt werden kann.) So oder so ist aber wichtig, sich die grundsätzliche, konzeptionelle Unterscheidung bewusst zu machen und stets bewusst zu halten: ,Ästhetikʻ ist der Name einer Disziplin, während a) die Erforschung von aisthesis, b) die Philosophie der Kunst, c) die Erkundung des Geschmacks etc. die konkreten Forschungsbereiche sind.

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mit ,perceptionʻ zu übersetzen. Auch dies ist begriffsgeschichtlich allerdings nicht unproblematisch, da falsche Assoziationen geweckt werden könnten.14 Interessant ist in diesem Kontext aber nicht allein die englische Sprache, sondern auch die altgriechische Etymologie des Begriffs. Denn der Ausdruck für ,Wahrnehmenʻ ist im Altgriechischen, seiner weiteren Herkunft nach, jenem für ,Atmenʻ verwandt – also einer Aktivität, die einerseits quasi von selbst, passiv, abläuft, die andererseits zugleich eigener Aktivität bedarf.15 Auch aisthesis wäre in diesem, durch die Etymologie nahegelegten Sinn als etwas zu verstehen, dem beide Momente innewohnen: jenes eines Automatismus, der unweigerlich von Statten geht, den der Mensch, selbst wenn er wollte, nicht abstellen kann; und jenes einer eigene Anstrengung einfordernden, aktiven Tätigkeit – weshalb im Weiteren nach Möglichkeit die, den aktivisch-passivischen Prozess betonende Verlaufsform ,Wahrnehmenʻ gegenüber dem statisch anmutenden, substantivierenden Ausdruck ,Wahrnehmungʻ bevorzugt werden wird. Von einer sprachlichen Ebene, nun zurück zu den Ansätzen Arnold Berleants und Gernot Böhmes. Dort finden sich, neben der allgemeinen Verwendung des Begriffs, auch Überlegungen dazu, inwiefern die Reflexionen zu aisthesis in konkrete Modelle des Wahrnehmens münden könnten.

14 Man denke an Thomas Reids Unterscheidung zwischen sensorischem Empfinden (sensation) und kognitivem Wahrnehmen (perception). 15 Ein derartig ambivalentes Verständnis wird zudem durch die grammatikalische Zwischenstellung des altgriechischen Ausdrucks suggeriert, die in einem dritten Genus verbi, jenseits einer aktivischen und einer passivischen Form, angelegt ist und der bereits auf grammatischer Ebene aisthesis zu etwas macht, das weder allein von einem Wahrgenommenen noch allein von einem Wahrnehmenden ausgeht, sondern das sich stets in einem konstellativen Verhältnis zwischen beiden ereignet, wie Eva Schürmann erklärt: „Geht man zurück auf die griechische Sprache, so betritt man ein komplexes Sinnfeld: Dem Altgriechischen steht im Unterschied zu allen anderen europäischen Sprachen ein drittes Genus verbi neben dem Aktiven und Passiven zur Verfügung – das sogenannte Medium. [...] Dieses Genus gibt es grundsätzlich für reflexive Verben, da bei diesen das Subjekt gleichzeitig handelt und behandelt wird, wie zum Beispiel beim Verb [...] ,sich waschenʻ. Andere, nicht-reflexive Verben haben ein Medium, wenn sie dadurch eine Bedeutungsveränderung erfahren. Diese Bedeutungsveränderung bezieht sich zumeist auf das Subjekt, das im Fall eines Medium in eine ,empfangendeʻ Position kommt. Eine alltägliche Funktion des Mediums besteht darin, eine ,vom Subjekt ausgehende und auf dasselbe wieder zurückwirkende Tätigkeitsäußerungʻ und damit eine enge Subjekt-Objekt-Verbundenheit auszudrücken. [...] beim Verb [...] ,wahrnehmenʻ [handelt es sich – Einfügung B.H.] um ein solches Verbum tantum [...] ein eindeutiges Aktiv oder Passiv dieses Verbs gibt es nicht. [...] Das heißt, weder wird das Wahrgenommene als bloß passiv gedacht, noch der Wahrnehmende als rein aktiv.“ Eva Schürmann, Erscheinen und Wahrnehmen (München: Wilhelm Fink Verlag, 2000) S.37f.

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5.2 W AHRNEHMEN

ALS SINNLICHE

E RKENNTNIS

Ein erster thematisch-konzeptioneller Verdichtungspunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt ist mit der Frage des Wahrnehmens, im Sinn sinnlicher Erkenntnis, auszumachen. Sowohl Gernot Böhme als auch Arnold Berleant wenden sich der Frage des sinnlichen Wahrnehmens dabei nicht von einer disziplinär bestimmten, allein philosophischen, oder allein psychologischen, oder allein physiologischen Seite her zu. Vielmehr spielen für beide Autoren gerade solche historischen Vorläufer eine Rolle, die in ihren Reflexionen von der unmittelbaren Erfahrungsrealität des Menschen ausgehen: angefangen bei Goethe und dessen Farbenlehre, über Vertreter der frühen psychologischen Ästhetik und das Gedankengut der kunsthistorisch-psychologisch motivierten Einfühlungstheorie bis hin zu Wahrnehmungsforschern wie Kurt Lewin, J.J. Gibson, O.F. Bollnow oder D. Hoffmann-Axthelm. Insbesondere ist es für beide Theoretiker jedoch die Tradition der Phänomenologie, die eine maßgebliche Rolle spielt und die, wie Gernot Böhme bemerkt, nicht etwa „nur durch die Linie von Husserl bis Schmitz“ repräsentiert wird, „sondern zu der auch Denker wie Ludwig Klages [...] und Heinrich Barth [...] gehören“16; während Arnold Berleant seinerseits auf Merleau-Ponty, mit dem er sich intensiv auseinandersetzt, aber auch auf Mikel Dufrenne und Edmund Husserl Bezug nimmt. Ausschlaggebend für die Wahl jeweiliger Referenzpunkte ist für Böhme wie für Berleant dabei eine Grundhaltung, die beide Autoren miteinander teilen: Nämlich die Überzeugung, dass sich Wahrnehmen nicht einfach in psychologische und physiologische, in subjektive und objektive, in innere Erfahrungen und äußere Gegenstände aufspalten lässt. In diesem Sinn ist Arnold Berleant zu verstehen, wenn er formuliert: „[...] we need not wait for physiological psychology to explain what constitutes consciousness: brain functions can identify organic causal events but they do not dissolve their manifestations.“17 Dieser Satz ist nicht als pauschale Absage an eine mikro-physiologische Forschung – wie im Weiteren gesagt werden wird; gemeint sind Bereiche wie Neurophysiologie, Neurobiologie, Kognitive Neurowissenschaften, u.a.18 – misszuverstehen. So kann Wahrnehmen mit Berleant durchaus im Sinn eines physiologischen Vorgangs beschrieben werden (zu einer mikro-physiologischen Sichtweise, siehe auch: Kapitel 11). Allerdings handelt es sich bei einem derartigen Beschreibungsmodus des menschlichen Wahrnehmungsprozesses eben nur um eine Seite der Medaille, die, so man sie als alleingültig verabsolutiert, letztlich in einer entsprechend einseitigen Betrachtungsperspektive mündet. Diese vermag die materielle, die physiologisch-neuronale Komponente des Wahrnehmens zu erfassen. Das für Berleant und Böhme Entscheidende, die „manifestations“, also die ,Bewusstseinsinhalteʻ, wie man sagen könnte (so man den problematischen Begriff ,Bewusstseinʻ überhaupt verwenden möchte, der letztlich ja eine dualistische Vorstellung evoziert, als handle es sich beim Bewusstsein um eine Art Briefkasten, in den dann wiederum Inhalte, gleich Briefen, eingespeist werden können), fällt aber aus der Betrach-

16 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.7. 17 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.217. 18 Vgl. Kap. 11, insbesondere 11.2.

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tung heraus. Sie werden zu Qualia19, zu mehr oder weniger kontingenten ,psychologischen Begleiterscheinungenʻ eines mechanistisch aufgefassten Prozesses, deren Realitätsgehalt in Zweifel gezogen und letztlich gar zur Disposition gestellt werden kann. Gernot Böhme und Arnold Berleant wenden sich genau genommen also nicht gegen mikro-physiologische Modellbildungen, wohl aber gegen eine bestimmte, auf ,naturwissenschaftlicherʻ Seite nicht eben selten anzutreffende Haltung: Nämlich gegen eine Auffassung, die Modelle mit Realität verwechselt und darüber die Unilateralität und den Schematismus der eigenen Betrachtungsperspektive vergisst. Dabei läuft, wie Arnold Berleant feststellt, eine mikro-physiologische Perspektive, so sie verabsolutiert wird, in philosophischer Hinsicht schnell Gefahr, im Materialismus zu münden, so wie umgekehrt ein einseitig psychologisches Verständnis allzu leicht zu einer Art subjektivem Idealismus führt.20 Hinsichtlich des Gedankens einer Aisthetik kann an dieser Stelle zusammenfassend festgehalten werden: Wahrnehmen, im Sinn von aisthesis, lässt sich mit Böhme und Berleant weder auf allein physiologische noch auf allein psychologische noch überhaupt auf einen derartigen Dualismus reduzieren. Worum es einer Aisthetik geht, ist nicht die Rückführung des Wahrnehmungsvorgangs auf ein unilaterales Erklärungsmodell, sondern die Untersuchung der Art und Weise, wie es sich anfühlt, eine Wahrnehmungserfahrung, im Sinn einer sinnlichen Erkenntnis, zu machen. Es geht um ein Nachvollziehen sensorisch-kognitiver, oder wie auch gesagt werden kann: pathisch-gnostischer Prozesse; und zwar insofern, als das pathische (i.e. das physisch erlebende) Machen einer Wahrnehmung mit dem gnostischen (erkennenden, verstehenden) Erfassen eines Wahrnehmungsgegenstands untrennbar einhergeht. Hierzu Peter Bernhard: Aus einer [...] Tradition, die sich bis zu Plotin zurückverfolgen lässt, stammt eine Unterscheidung, die der Psychologe Erwin Strauss mit dem Begriffspaar ,gnostisch/pathischʻ benennt [...]. Dabei soll unter ,gnostischer Wahrnehmungʻ das Was des gegenständlich Gegebenen und unter ,pathischer Wahrnehmungʻ das Wie des Gegebenen verstanden werden. Ersteres konzentriert sich demnach auf das durch die Sinne vermittelte Erfassen einer Sache, während Letzteres auf das Erleben abstellt, welches den gesamten Leib des Wahrnehmungssubjektes mit einbezieht.21

Die Erste-Person-Perspektive, die zum Nachvollziehen pathisch-gnostischer Prozesse eingenommen werden muss, ist dabei nicht als in Opposition stehend zu einer DrittePerson-Perspektive, wie sie bspw. ,naturwissenschaftlicheʻ, mikro-physiologische

19 „Qualia (von lat. qualis, ,wie beschaffenʻ) [...] bezeichnet im Rahmen der philosophy of mind die individuellen Erlebnisqualitäten mentaler Zustände. [...] Die Debatte um die Qualia [...] steht im Zusammenhang mit der Frage, ob das menschliche Bewusstsein reduktionistisch, d.h. allein aus seinen neuronal-physiologischen Ursache-Wirkungs-Beziehungen und ihren Funktionen gedacht werden kann oder ob es darüber hinaus Eigenschaften hat, die sich nicht im Sinn der Naturwissenschaften vollständig erklären lassen.“ Martin Gessmann (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch (Stuttgart: Kröner, 2009) S.601. 20 Vgl. Kap. 4.3. 21 Peter Bernhard, Aisthesis; Einleitung zu: Die Sinne und die Künste: Perspektiven ästhetischer Bildung (Bielefeld: Transcript-Verlag, 2008).

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Erklärungsansätze mit sich bringen, aufzufassen, sondern vielmehr als deren perspektivische Ergänzung.22 5.2.1 Sinnliches Wahrnehmen bei Arnold Berleant Nach dieser basalen Bestimmung nun weiter zu konkreten Modellen des sinnlichen Wahrnehmens. Worin besteht der Beitrag, den eine philosophisch-ästhetiktheoretische Theoriebildung, wie sie Arnold Berleant und Gernot Böhme betreiben, diesbezüglich leisten kann? Zunächst in diesem Kontext zu Arnold Berleant: Zwar findet sich bei diesem kein explizites Modell des sinnlichen Wahrnehmens, vergleichbar jenem Gernot Böhmes. Dennoch lassen sich aus Berleants unterschiedlichen Ausführungen Rückschlüsse auf seine allgemeineren Anschauungen zum Thema ziehen. Um noch einmal zusammenzufassen: Berleant begreift sinnliches Wahrnehmen als einen Prozess, der unabdinglich an die menschliche Physis gebunden ist. In diesem Sinn gilt: „sensation [...] is simply a bodily event.“23 Unter „bodily“ versteht Arnold Berleant dabei ein Wahrnehmen mittels des perzeptiven Apparates, dies jedoch nicht in einem organologischen, isolationistischen Sinn (als einer Vorstellung, die sinnliches Wahrnehmen in Zuständigkeitsbereiche aufspaltet und einzelnen Organen zuordnet24), sondern vielmehr im Sinn eines ,synästhetischenʻ – respektive ,synthetischenʻ 25 – Vorgangs. Arnold Berleant selbst hierzu: „[...] important [...] is the recognition of synaesthesia, one of whose meanings is the fusion of the sense modalities“.26 Der Bereich der bodily sensation, also des sensorischen Wahrnehmens, kann von einer geformten Art des Wahrnehmens, der perception, unterschieden werden. „I speak […] of perception, 22 Inwiefern sich eine aisthetische und eine mikro-physiologische Sichtweise produktiv ergänzen können, siehe dazu Kap. 11.2. 23 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.42. 24 Wie Jens Loenhoff in einem Artikel Zur Genese des Modells der fünf Sinne ausführt, beruhen fünfteilige Sinnesmodelle nicht auf wissenschaftlich belegbaren Vorannahmen. Teilweise haben sich gerade umgekehrt Überzeugungen des Alltagsglaubens in Philosophie und Wissenschaft eingeschlichen. Diverse Erkenntnisdisziplinen und -schulen sind diesem Modell dann weitgehend unhinterfragt gefolgt. Selbst Husserl spricht schlicht von ,den Sinnenʻ als bekannte und anerkannte Tatsache. In der weiter zurückliegenden Geschichte der Philosophie finden sich derartige isolationistische Sichtweisen bereits in Platons Tinaeous. Jens Loenhoff, Zur Genese des Modells der fünf Sinne; in: Sociologia Internationalis, Bd.37 (Berlin: Duncker&Humblot, 1999) S.221-244. 25 Der Ausdruck ,Synästhesieʻ/,synästhetischʻ kann, je nach Kontext, in dem er Verwendung findet, Unterschiedliches meinen: Er kann zur Bezeichnung eines Wahrnehmens herangezogen werden, das ein einzelsinnliches Wahrnehmen überschreitet (gemäß der etymologischen Bezugspunkte ,syn-ʻ und ,aisthesisʻ; also ,zusammen wahrnehmenʻ). Oder er kann sich auf eine Art des Wahrnehmens beziehen, bei der eine Sinnesdimension eine andere Sinnesdimension mit anspricht (etwa, wenn Synästhetiker Farben hören oder Zahlen riechen). Um zwischen beiden Bedeutungsaspekten zu differenzieren, wird im Kontext der vorliegenden Untersuchung nach Möglichkeit von einem ,synthetischen Wahrnehmenʻ gesprochen, wenn erstgenannter Fall gemeint ist. 26 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.17.

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rather than of sensation, because perception includes more than sensory experience.“ Es beinhaltet: „a multitude of factors, such as biological, social, cultural, material forces.“27 Eine Unterscheidung zwischen sensation und perception sei, so Berleant weiter, ebenso wie die Unterscheidung zwischen einzelsinnlichem und synthetischem Wahrnehmen, jedoch nur in analytischer Hinsicht möglich und sinnvoll. Dies ist ein wichtiger Punkt für Berleant. Analytische Unterscheidung und Wahrnehmungsrealität dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Dabei sei reale sensation „rarely, if ever pure.“28 Denn in der Alltagserfahrung tritt sensation nach Berleant so gut wie ausschließlich in Form einer perception in Erscheinung. Die Herauslösung der sensation aus dem Gesamtzusammenhang des Wahrnehmens stellt für den Theoretiker somit vor allem einen argumentativen Kunstgriff dar, eine Art heuristisches Gedankenexperiment, wie Berleant selbst sagt. „Pure sensation is more an idea, than an experience [...].“ 29 In der menschlichen Wahrnehmungsrealität entbehre diese Vorstellung einer wirklichen Entsprechung. Ja, mehr noch: „Perhaps, in fact, there is no such thing.“ 30 Andererseits ist es eben jenes Verständnis des Wahrnehmens im Sinn einer sensation (und nicht einer perception), das in Berleants Arbeit Sensibility and Sense eine zentrale methodische Rolle spielt: „To speak of immediate experience [...] is to propose a standard against which actual experience can be measured [. It – Einfügung B.H.] functions heuristically as a goal that may not be fully achievable but toward which we must strive“.31 Eine erste kritische Frage, die an dieser Stelle gestellt werden könnte, ist, welchen Wert ein derartiger Kunstgriff überhaupt besitzen kann. Denn wenn es ,rein sensorischesʻ Wahrnehmen, pure sensation, nicht gibt, so operiert Berleant letztlich mit einer rein fiktiven Entität. Das Vorgehen des Denkers gleicht in dieser Hinsicht dem Agieren einer Ärztin mit einem fiktiven Skalpell, das es erlaubt, phantastische Operationen durchzuführen, nur eben leider in einer rein fiktionalen Welt.32 Jenseits

27 28 29 30 31 32

Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.5. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.42. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.118. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.58. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.58. Konkret macht sich diese Problematik in Berleants ,aesthetic argumentʻ als einem epistemologischen Argument bemerkbar (siehe auch die folgenden Seiten). Dieses basiert auf dem Gedanken, dass man aktiv von einem ästhetischen Erfahren Gebrauch machen könne – und dies im Sinn einer trans-individuell verbindenden Basis. Allerdings: Wenn sinnliche Erfahrungen per se, wie Berleant selbst sagt, von sozialen, kulturellen, historischen etc. Einflüssen durchwirkt sind, so ist ein Rückgriff auf eine ,rein sensorisches Erfahrenʻ – im Sinn eines kollektiven Urgrundes – unmöglich. Und auch wenn man von partikularen gesellschaftlichen Gruppen ausgeht, die dieselbe soziale, kulturelle, historische etc. Prägung erfahren haben, so dass ein prinzipiell ähnlicher sinnlicher Erfahrungshorizont angenommen werden kann, so bleiben die initialen Prägungsfaktoren diesen doch stets immanent eingeschrieben. Ein Durchgriff auf ein ,dahinterliegendesʻ, ,natürlichesʻ sensorische Erfahren wäre auch in diesem Fall nicht möglich. Kurz: Berleants Tendenzen, das ,rein Sensorischeʻ in seine Überlegungen einzubeziehen, und sei es auch nur im Sinn eines heuristischen Werkzeugs, scheinen wenig förderlich; Berleants empiriebezogene Ausführungen zu

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derartiger methodischer Einwände gegenüber einem partikularen (wenn auch hinsichtlich des programmatischen Gehalts von Sensibility and Sense sicherlich nicht ganz unwichtigen) Detailaspekt stellt sich nun die Frage, wie genau Arnold Berleant den Zusammenhang zwischen sensorischen und kognitiven Anteilen des Wahrnehmens konzipiert. Dabei lassen Berleants unterschiedliche Ausführungen, in der Quersumme, zwei alternative Interpretationsmöglichkeiten zu: Erstens eine, die Wahrnehmen als einen Vorgang versteht, der immanent, somit stets und unweigerlich, an kognitive Anteile geknüpft ist. Wahrnehmen kann in diesem Sinn als reziproker, oder mehr noch, als interkonnektiver Prozess aufgefasst werden, bei dem der Mensch als Mensch, und dies bedeutet, als konkretes (kulturell, gesellschaftlich, historisch) geformtes Wesen, das mit einer konkreten Umwelt in Kontakt steht, sich mittels seiner perzeptiven Physis in die Umwelt hinein ausrichtet, gleichsam ,Fragenʻ an diese stellt, um erst demgemäß ,Antwortenʻ zu erhalten, die wiederum erneut in einen Kontext eingebettet werden müssen um als Wahrnehmungserfahrungen in Erscheinung zu treten und somit den Bezugsrahmen für neue, mittels der perzeptiven Physis zu stellende Fragen, zu liefern. Einen Hinweis in die Richtung eines derartigen Verständnisses gibt Arnold Berleant, wenn er vom menschlichen Wahrnehmen als zwangsläufig kognitiv geprägt spricht und dabei die perzeptive Physis als ebenso konstitutiv biologisch, wie kulturell bestimmt beschreibt: „[...] sense perception [...] engages the entire human organism in a cultural modality that is as integral to the organism as its biological features.”33 Oder, wenn er den Pragmatisten William James mit den folgenden Worten zitiert: „whilst part of what we perceive comes through our senses from the object before us, another part (and it may be the larger part) always comes out of our own mind.”34 Beide Äußerungen sprechen dafür, Wahrnehmen im Sinn eines reziproken bzw. interkonnektiven Prozesses zu verstehen, der nicht mittels eines ,neutralen Leibesʻ, sondern mittels einer konstitutiv kognitiv (kulturell, gesellschaftlich, historisch) geformten und durchdrungenen perzeptiven Physis vonstattengeht. Andererseits gibt Arnold Berleant auch deutliche Hinweise auf eine zweite Interpretationsmöglichkeit, die Wahrnehmen im Sinn eines Zwiebelmodells (also eines im Zentrum befindlichen Kerns mit darüber geschichteten Häuten) konzipiert. Hier wäre das Sensorische als ein im Menschen (der Zwiebel) eingebetteter Kern (der Zwiebel Kern) zu imaginieren, der Schicht für Schicht von „patterns of thoughts, structures of understanding, mandatory convictions, and prescribed behavior“35 (den Zwiebelhäuten) überformt und überlagert wird. Auch in diesem Fall wäre Wahrnehmen stets an sensorische und an kognitive Anteile geknüpft. Der entscheidende Unterschied besteht allerdings hinsichtlich der prinzipiellen Möglichkeit einer Unterscheidung – und somit: einer potentiellen Isolierbarkeit – beider Sphären. Im zweiten Fall ist diese Möglichkeit, zumindest theoretisch, gegeben (das Kognitive überformt das Sensorische, beide verhalten sich wie Kern und Schale(n), sind also rein theoretisch isolierbar); im ersten Fall dagegen nicht (das Kognitive und das Sensorische sind einer perception dagegen umso aufschlussreicher, wie im Weiteren noch zu sehen sein wird. 33 Vgl. Arnold Berleant, Sensibility and Sense, a.a.O., S.157. 34 Arnold Berleant, Sensibility and Sense, a.a.O., S.215. 35 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.58.

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immanent vernetzt, wobei die Vernetzung selbst ,das Eigentlicheʻ, nämlich einen interkonnektiven Gesamtzusammenhang, darstellt). Für die zweite Interpretation im Sinn eines Zwiebelmodells spricht eine in Sensibility and Sense wiederkehrende Formulierung Berleants, in der der Autor die nichtsensorischen Aspekte der Wahrnehmung als „filter“ (zuweilen auch als ,Schleierʻ) bezeichnet, die es nach und nach zu entfernen gelte: „The knowledge process must endeavor to remove filter after filter and dig beneath the layers in an effort to identify and dispel the factors and forces that influence perception.“ 36 Ebenfalls für eine derartige Interpretation sprechen Passagen, in denen der Autor vom Bereich des sinnlichen Wahrnehmens als einer Art ,Urgrundʻ oder ,Nährbodenʻ des Kognitiven spricht und diese Sicht, also die eines (möglicherweise phylogenetisch, möglicherweise prozessual aufzufassenden?) Primats des Sensorischen vor dem Kognitiven, zu einem epistemologischen Argument, dem so bezeichneten ,aesthetic argumentʻ, erhebt: [...] we take [...] perceptual immediacy [...] as the originating stage of the cognitive process [...]. To regard aesthetic perception as the source of the knowledge process [...] constitutes what we [...] call the aesthetic argument in epistemology.37

Die beiden unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten sollen, für den Augenblick, als zwei prinzipiell gleichwertige konzeptionelle Möglichkeiten stehengelassen werden.38 5.2.2 Gernot Böhmes Modell des sinnlichen Wahrnehmens Nun zu Gernot Böhme, der im Rahmen seines ästhetiktheoretischen Ansatzes eine dezidiert ausgearbeitete Wahrnehmungstheorie vorlegt. Diese wurde in Kapitel 3 ausführlich dargestellt. Erinnert sei an dieser Stelle daher nur noch einmal an einige wesentliche Eckpunkte, insbesondere an solche, die den aisthesis-Gedanken betreffen: Grundsätzlich bestimmt Gernot Böhme seine Aisthetik als „allgemeine Wahrnehmungslehre“ oder auch als „Theorie sinnlicher Erkenntnis“.39 Darunter wird bei Böhme sinnliches Wahrnehmen in Form eines Spürens von Atmosphären verstanden. Dieses ereignet sich, nach Böhme, zwischen einem Umraum, von dem atmosphärische Wirkungen ausgehen (als sogenanntem „Objekt-Pol“ oder „Ding-Pol“ des Wahrnehmens) und der perzeptiven menschlichen Physis, i.e. dem Leib des Menschen (als „Subjekt-Pol“ bzw. „Ich-Pol“ des Wahrnehmens). Beide Seiten sind in einem Zustand der sogenannten „Ko-Präsenz“ verbunden, d.h. sie konstituieren sich gegenseitig und treten erst im Augenblick des Wahrnehmungsfalls im Sinn von Wahrnehmungspolen auseinander. Auch in diesem Zustand bleiben sie aber miteinander verbunden und lassen sich nicht in zwei losgelöste Instanzen (wie ,Subjektʻ und ,Objektʻ, ,Individuumʻ und ,Außenweltʻ) aufspalten. Der so weit beschriebene 36 Ebd. 37 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.54; zu Berleants aesthetic argument siehe auch Fn. 32. 38 Eine weitere Auseinandersetzung mit der Fragestellung erfolgt in Kap. 8.3 und Kap. 11.2. 39 Vgl. Gernot Böhme, Vorrede zu: Aisthetik, a.a.O.

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Vorgang konstituiert das Spüren von atmosphärischen Wirkungen, das für Gernot Böhme ein „grundlegendes“ Ereignis darstellt. Aus diesem grundlegenden Spüren „können sich schrittweise spezifische Sinneswahrnehmungen ausdifferenzieren [...]“, aber „was gespürt wird, ist primär etwas Atmosphärisches“. So weit ganz knapp die Grundanlagen des böhmeschen Wahrnehmungsmodells. Auf diesem Modell aufbauend entwickelt Böhme nun ein weiter ausdifferenziertes Modell, das innerhalb des bislang beschriebenen Wahrnehmungsvorgangs fünf unterschiedliche ,Stufenʻ oder ,Aspekteʻ unterscheidet. Dieser Binnenunterscheidung zufolge setzt der Wahrnehmungsfall ein mit dem zunächst noch undifferenzierten „Spüren einer Anwesenheit“, als dem Moment, in dem „Ich-Pol“ und „Ding-Pol“ der Wahrnehmung überhaupt erst beginnen, auseinanderzutreten (1). Des Weiteren erfolge das Spüren einer Atmosphäre (2), die sich mittels eines bestimmten Charakters (3) bemerkbar mache. Hervorgerufen werde dieser Charakter durch die ekstatische (bzw. physiognomische) Wirkung auf Seite des Objektpols (4). ,Dingeʻ selbst, werden für den Theoretiker im Rahmen des atmosphärischen Wahrnehmens nicht direkt, in ihrer ganzen Komplexität und Realität, wahrgenommen, sondern sie machen sich nur als sogenannte Erzeugende (5) bemerkbar, d.h. als dasjenige, was mittels seiner ekstatischen oder physiognomischen Wirkung atmosphärisch erfahren wird. An diesem Punkt gilt es, mit der kritischen Reflexion einzusteigen. Denn hier ergibt sich bei genauer Betrachtung für Gernot Böhme selbst eine zu überdenkende Schwierigkeit konzeptioneller Art. So vermag Böhmes Ansatz, der erklärtermaßen als ,allgemeine Wahrnehmungslehreʻ angelegt ist, bislang konsequent und in sich konsistent das Wahrnehmen von Atmosphären zu erklären. Was bis zu diesem Punkt noch nicht erklärt werden konnte, ist allerdings ein identifizierendes Wahrnehmen von Dingen. Eben diese Wahrnehmungsform ist es jedoch, „die sich für das landläufige Verständnis“ von Wahrnehmung „als erstes anbietet“, wie Böhme selbst konstatiert.40 Um ein derartiges landläufiges Verständnis zu überwinden und um diesem gegenüber das Spüren von Atmosphären als primäre und grundlegende Form des Wahrnehmens zu etablieren, erklärt Gernot Böhme die Dingwahrnehmung zu einer Art Randphänomen, das es durchaus auch gebe, das aber für sein eigenes Projekt einer Aisthetik letztlich unerheblich sei. Denn die Aisthetik werde „nicht von solchen trivialen Wahrnehmungsereignissen her gewonnen. Für sie ist nicht eine besondere Wahrnehmungsweise [...] konstitutiv, [...] etwa [die – Einfügung B.H.] der alltäglichen Dingwahrnehmung [...], sondern umgekehrt: Grundlegend [...] ist das Spüren von Atmosphären [...].“41 Nun baut Gernot Böhmes allgemeine Wahrnehmungslehre allerdings auf jenem phänomenologischen Axiom auf, welches besagt, dass jedes Phänomen, so es nach eingehender Reflexion „nicht im Ernst geleugnet werden kann“ (Schmitz), als solches anerkannt werden muss. Ebendieses Axiom ist es auch, das die Thematisierung von Atmosphären durch Gernot Böhme überhaupt erst möglich macht. Ein ,Wahrnehmen von Dingenʻ schlichtweg zu ignorieren oder zu negieren, erschiene also wenig plausibel. Wie aber dann ist mit diesem zu verfahren? Denn der Hinweise darauf, dass es sich um ein vermeintlich ,triviales Wahrnehmungsereignisʻ handle, mindert zwar dessen Bedeutung, liefert aber noch keine Erklärung. 40 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.172. 41 Ebd.

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Kurz: Gernot Böhme gelangt mit Stufe 5 seines Wahrnehmungsmodells, dem Setzen des vermeintlichen Schlusssteins seiner Wahrnehmungstheorie, überhaupt erst zu deren eigentlichem Prüfstein. Und zu einem konzeptionellen Scheidepunkt. Denn die entscheidende Frage, vor der der Theoretiker an dieser Stelle steht, lautet: Wie ist mit dem Wahrnehmen von ,Dingenʻ zu verfahren? Ist diese Vorstellung per se aufzulösen (eine Richtung, die Böhme in seinem Plädoyer gegen sogenannte Dingontologien bereits eingeschlagen hatte) oder ist sie als ,eigenständige Wahrnehmungsformʻ zu konzipieren und dem atmosphärischen Wahrnehmen als solche zur Seite zu stellen? Gernot Böhme entscheidet sich für den zweiten Weg. Und so wird das atmosphärische Wahrnehmen für den Denker letztlich noch von einer zweiten, quasi antagonistischen Wahrnehmungsform begleitet.42 Ein Prozess, den Böhme ebenfalls detailliert in Form eines mehrstufigen Ablaufs beschreibt: Demnach werde das initiale Spüren einer Anwesenheit, das sich instantan im Wahrnehmen einer Atmosphäre manifestiere, von einem Akt des „Aufsuchens, Wahrnehmens und Verstehens“ der Erzeugenden begleitet. Dieser zielgerichtete Akt der „Lokalisierung“ stelle den komplementären Fall zum atmosphärischen Spüren dar. Denn es finde darin eine zunehmende Verengung des Wahrnehmens statt, bis hin zu dem Punkt, an dem es gelänge, ein Erzeugendes als ,Dingʻ zu identifizieren. Dabei verdichte sich die Atmosphäre punktuell und breche gleichsam ,in sich zusammenʻ, während umgekehrt das Wahrgenommene „in seiner puren, unverrückbaren, nicht zu leugnenden Faktizität“ als ein Ding „mit bestimmten Eigenschaften“ erkenntlich werde.43 Inwiefern Gernot Böhmes Entscheidung, dieser zweiten konzeptionellen Möglichkeit nachzugehen, statt dem bereits eingeschlagenen Weg einer konsequenten Auflösung konventioneller dingontologischer Vorstellungen weiter zu folgen, in verschiedener Hinsicht problematisch ist, dazu mehr im Weiteren. Zunächst muss aber noch auf einen anderen Umstand aufmerksam gemacht werden, nämlich darauf, dass Gernot Böhme in seinem Modell des sinnlichen Wahrnehmens hinsichtlich der Frage der Verfasstheit aisthetischer Prozesse eine durchaus ähnliche Unterscheidung einführt, wie Arnold Berleant dies tut. Denn auch Gernot Böhmes Konzeption des sinnlichen Wahrnehmens trifft eine Unterscheidung zwischen kognitiven und sensorischen Aspekten. So werden Atmosphären synthetisch (respektive synästhetisch) gespürt, während die sogenannte ,Dingwahrnehmungʻ eine analytische, identifizie42 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.167 und S.169. 43 Dieser Vorgang hat für Böhme auch Auswirkungen auf das Leib- bzw. Körperempfinden. Denn in diesem quasi-analytischen Akt des Dingwahrnehmens wird nicht nur ein zuvor unbestimmtes Erzeugendes zum Körper, sondern auch der Leib wird zu einem Körper, der einem anderen Körper gegenübertritt. Jenen anderen Körper identifizieren wir dabei, wir schreiben ihm eine „Identität“ zu. Wir „objektivieren“ ihn und werden hierdurch in einem Akt „der Abwehr, Differenzierung und Verengung“ bzw. der „Spezifizierung und Disziplinierung“ selbst zu einem Subjekt im Sinn einer eigenständigen Instanz. Die Dingwahrnehmung kann also auch als Akt der Entflechtung der Ko-Präsenz verstanden werden, wie sie die atmosphärische, leibliche Wahrnehmung mit sich bringt. Aus dem Ich-Pol wird eine getrennt Instanz, ebenso wie sich der Ding-Pol in einem Akt der Vergegenständlichung zu einem isolierten „Objekt“ formiert. (Zur Problematik einer derartigen Interpretation auf erkenntnistheoretischer Ebene siehe die folgende Seiten.) Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.168ff. und S.172ff.

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rende Form des Wahrnehmens darstellt, bei der Dinge als Dinge identifiziert werden (wodurch sie an sprachlich explizierbare, kognitive Faktoren gebunden sein muss). Ähnlich wie bei Arnold Berleant der Fall bietet auch dieses Modell Raum für zwei unterschiedliche Interpretationen. Zwar werden durch Böhme selbst die zwei Wahrnehmungmodi als klar voneinander unterschieden und zu unterscheiden dargestellt. Allerdings bleibt die Möglichkeit, diese Unterscheidung a) in einem analytischen, oder b) in einem faktischen Sinn aufzufassen. Sie kann also im Sinn einer Differenzierung auf Darstellungsebene oder im Sinn einer Division, einer strikten Trennung auf Sachebene aufgefasst werden. Konkret heißt dies: Gernot Böhmes Formulierung einer „grundlegenden Wahrnehmungsweise“ 44 , welche für ihn die Atmosphärenwahrnehmung darstellt, müsste nicht zwangsläufig als konsekutiver Wirkungszusammenhang interpretiert werden. Zwar legt Gernot Böhme diese Interpretation selbst mehr als nahe (etwa wenn er von einem ,Zusammenbrechenʻ des atmosphärischen Wahrnehmens im Moment des Einsetzens einer identifizierenden Dingwahrnehmung spricht). Allerdings könnten theoretisch identifizierendes Dingwahrnehmen und atmosphärisches Spüren auch als ein einziger, wechselseitiger Wirkungszusammenhang interpretiert werden. Beide Wahrnehmungsformen, oder richtiger: Aspekte des Wahrnehmens, würden sich in diesem Sinn gegenseitig bedingen, einander abwechseln oder fließend ineinander übergehen. Atmosphärisches Spüren und identifizierendes Wahrnehmen erschienen so als eine Art oszillierender Gesamtzusammenhang, der – vergleichbar dem gestaltpsychologischen Gedanken von Figur und Grund – wechselseitig konstitutiv wäre: Atmosphärisches Wahrnehmen bildete dabei den rahmenden Kontext für identifizierende Wahrnehmungen, identifizierende Wahrnehmungen den Ausgangspunkt für atmosphärisches Spüren – so eine mögliche und vielversprechende (wenn auch von Gernot Böhmes Ausführungen abweichende) Interpretationsmöglichkeit, die die böhmesche Wahrnehmungstheorie von ihrer Grundkonzeption her prinzipiell zuließe. 5.2.3 Wahrnehmungsmodelle im Kontext einer Aisthetik Viele der von Gernot Böhme und Arnold Berleant im Rahmen ihrer Ausführungen zum Charakter des Wahrnehmens getroffenen Einzelaussagen, die in einem kritischreflektierten Sinn auf einer langen Tradition einer psychologischen, insbesondere aber einer phänomenologischen Wahrnehmungsforschung aufbauen, können als wichtig, manche sogar als zentral für den Gedanken einer Aisthetik im Allgemeinen erachtet werden. Zu nennen sind hier: • •



die Hervorhebung der Rolle der perzeptiven menschlichen Physis im Sinn eines ,Leibesʻ das Verdeutlichen der aktiven Komponente des Wahrnehmens (etwa mittels des Begriffs des engagement), die an eine sich dynamisch bewegende menschliche Physis gebunden ist der Hinweis auf den synthetischen (respektive: synästhetischen) Charakter des Wahrnehmens, das einzelsinnliche, organgebundene Wahrnehmungen überschreitet

44 Siehe etwa Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.35ff; Zitat: S.36.

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die Einsicht, dass sich Wahrnehmen nicht von einem jeweils Wahrgenommenen isolieren lässt (i.e. Atmosphären, Rhythmen, Texturen, Muskelbewegungen sind nicht einseitig auf einen Sinn für ebendiese oder auf eine ,objektive Gegebenheit da draußen in der Weltʻ zu reduzieren) die Betonung des interkonnektiven Verhältnisses zwischen Mensch und Umwelt (bzw. zwischen Ich-Pol und Ding-Pol des Wahrnehmens), in dem der Wahrnehmungsakt besteht, ohne dass eine Seite daraus isolierbar oder zu vernachlässigen wäre die hieraus resultierende prinzipielle Gleichstellung von menschlicher Physis und Umwelt (auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht, im Sinn quasi-apriorischer Voraussetzungen von Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen) die Betonung des Umstandes, dass es sich bei aisthetischen Prozessen um keine ,transzendentʻ oder ,überhistorischʻ zu verortenden Vorgänge handelt, sondern dass das menschliche Wahrnehmen immer und unabdingbar an soziale, historische, kulturelle, gesellschaftliche, politische Einflussfaktoren – kurz: an eine menschliche Lebenswelt – geknüpft ist

Zudem thematisieren beide Ansätze diverse Einzelaspekte, die für eine Aisthetik im Sinn einer bereichsspezifischen Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt von besonderer Relevanz sein dürften. So wendet sich, um an dieser Stelle jeweils nur ein Beispiel zu nennen (eine differenziertere Auseinandersetzung folgt unter 5.3), Arnold Berleant den participatory environmental features, also auf Deutsch: den Aufforderungsqualitäten menschlicher Umwelten zu. Gernot Böhme bringt seinerseits die Bedeutung eines üblicherweise vernachlässigten Phänomens, nämlich des Umstandes, dass in Umräumen spezifische Raumatmosphären wahrgenommen werden, überhaupt erst als solches zu philosophisch-theoretischem Bewusstsein. Allerdings verbindet sich die Auseinandersetzung mit Atmosphären bei Gernot Böhme mit einem über die Thematisierung eines konkreten Phänomens hinausgehenden Anspruch: nämlich jenem, dass eine Aisthetik sich nur (!) mit dem Wahrnehmen von Atmosphären zu befassen habe. Die Frage, die gestellt werden muss, lautet daher: Wie ist dieser von Gernot Böhme artikulierte Anspruch einzuschätzen? Wie verhält sich dessen Atmosphärentheorie der Wahrnehmung zum Gedanken einer Aisthetik, welche individuelle Ansätze überschreitet? Liegt damit bereits eine universelle Erklärungsmöglichkeit des aisthetischen Umweltwahrnehmens vor oder handelt es sich um einen partikularen Beitrag? Hierzu, im Folgenden, einige Überlegungen unter drei Gesichtspunkten. Zum Status der Atmosphärentheorie der Wahrnehmung Wie erwähnt bestimmt Gernot Böhme seine Neue Ästhetik grundsätzlich als Aisthetik und diese wiederum als allgemeine Wahrnehmungslehre, respektive als Theorie der sinnlichen Erkenntnis. Auf diese Grundbestimmung folgen im Zuge der Entwicklung des böhmeschen Wahrnehmungsmodells weitere Detailbestimmungen, innerhalb derer der Theoretiker zwischen unterschiedlichen Formen des Wahrnehmens unterscheidet: So zwischen dem Spüren von Atmosphären und dem identifizierenden Wahrnehmen von Dingen. Allerdings bleibt es nicht bei dieser einen Unterscheidung, denn Atmosphären werden für Gernot Böhme nicht etwa mittels einzelner Sinne konstatiert, sondern sie werden gespürt. Und in diesem Sinn wird auch die Bestim-

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mung der Aisthetik modifiziert: „Die Ästhetik ist nur insofern Wahrnehmungslehre, als sie sich mit der Art, wie wir im Wahrnehmen affektiv betroffen sind, befasst“. Aus einer allgemeinen Lehre der sinnlichen Wahrnehmung wird mittels dieser Bestimmung also eine Lehre der affektiven Betroffenheit, oder auch, wie der Theoretiker selbst formuliert, eine Befindlichkeitslehre.45 Eine Spezifizierung, auf Grund derer weitere Aspekte des Wahrnehmens ausgeschlossen werden müssen. So zieht Böhme konzeptionelle Demarkationslinien zwischen dem sinnlichen Wahrnehmen und dem sozialen Wahrnehmen46, oder etwa gegenüber dem Bereich des semiotischen Wahrnehmens. Denn auch hier sei ein „Umschlagen der Wahrnehmungsweise“ zu konstatieren, nämlich von einem „Spüren von Atmosphären zum Lesen von Zeichen“.47 Nun zu der Konsequenz, die in allgemeinerer Hinsicht zu ziehen ist: Zwar tritt Gernot Böhme zunächst mit dem erklärten Anspruch an, eine allgemeine Wahrnehmungslehre zu konzipieren. Letztlich macht er selbst aber sukzessive die Reichweite des Atmosphärenkonzepts präziser kenntlich, welche eine durchaus limitierte ist. Auch innerhalb einer allgemeinen Aisthetik sollten Gernot Böhmes Ausführungen zum Wahrnehmen von Atmosphären somit nicht im Sinn eines universellen Lösungsansatzes für ,die sinnliche Wahrnehmung per seʻ missverstanden werden, sondern vielmehr als ein Erklärungsansatz für ein spezifisches, dabei durchaus beachtenswertes Phänomen, nämlich jenes des (leiblichen, synästhetischen) Spürens von Atmosphären. Zum Status einzelner Aspekte des sinnlichen Wahrnehmens An die Frage des Status der Atmosphärentheorie der Wahrnehmung schließen zwei weitere Fragestellungen an. Erstens: Wie ist mit den unterschiedlichen Einzelphänomenen zu verfahren, die Gernot Böhme im Kontext seiner Atmosphärentheorie zur Sprache bringt? Zu denken ist etwa an das Wahrnehmen von Materialien, von Bewegungsanmutungen, von Symbolen und Zeichen. Diese werden im Zuge der Entfaltung der Atmosphärentheorie der Wahrnehmung einerseits zunächst im Sinn unmittelbar wahrnehmbarer Wirkungen aus der Betrachtung ausgeschlossen (so spiele etwa der haptische Umgang mit Materialien angesichts unserer heutigen „distanzierten Lebensformen“ keine Rolle mehr 48 ), andererseits anschließend, im Sinn eines atmosphärischen Wahrnehmens, uminterpretiert und erneut inkorporiert („Wir spüren das Material, insofern die Atmosphäre, die Materialien ausstrahlen, in unsere Befindlichkeit eingeht“49). Die konkrete Frage, die sich hierbei stellt, lautet: Welche Aufmerksamkeit sollte derartigen Wahrnehmungsphänomenen im Rahmen einer 45 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.73-86. 46 Zwar sei, so Böhme, das Einbeziehen der „sozialen Existenz“ des Menschen in eine Befindlichkeitslehre durchaus möglich, allerdings: „Dann würde Wahrnehmung [...] mehr sinnliche Wahrnehmung, so wie wir sie hier verstehen, heißen, sondern soziale Wahrnehmung“. Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.86. 47 Wobei die Konsequenz dieses ,Umschlagensʻ wie folgt geschildert wird: „Wir haben damit den Punkt bezeichnet, an dem die Ästhetik in Semiotik oder Hermeneutik übergehen kann, oder, sagen wir ruhig auch die Ästhetik im Sinne von Aisthetik zu einer hermeneutischen oder semiotischen Ästhetik.“ Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.147 und S.153. 48 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.54. 49 Ebd.

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Aisthetik zukommen? Handelt es sich um ,sekundäreʻ, untergeordnete Phänomene (so wie innerhalb der böhmeschen Atmosphärentheorie der Wahrnehmung der Fall)? Oder stellen diese ebenfalls ,primäreʻ, prinzipiell gleichwertige Aspekte des sinnlichen Wahrnehmens dar? Eine Antwort hierauf könnte auf verschiedenen Wegen, einem längerem (in die Details der böhmeschen Argumentation gehenden50) und einem kürzeren, summa50 Eine ausführlichere, ansatzimmanente Antwort, könnte wie folgt lauten: Wie erwähnt, werden Aspekte, wie das Wahrnehmen von Zeichen und Symbolen oder das unmittelbare taktile Erfahren von Materialwirkungen zunächst aus Böhmes Atmosphärenmodell des Wahrnehmens ausgeschlossen, um im Anschluss, in Form eines atmosphärischen Spürens re-interpretiert und re-inkorporiert zu werden. Dieser doppelte Schritt wurde oben bereits anhand des Beispiels der Materialwirkungen angedeutet. Diese werden nach Böhme nicht (jedenfalls nicht primär) durch das unmittelbar sensorische Erfahren eines Materials, sondern vielmehr durch das atmosphärische Spüren der Wirkungen, die von diesem ausgehen, erfahren. Am konkreten Beispiel: So werde etwa Glas oder glatte spiegelnde Kacheln als ,kaltʻ, Holz oder Textilien als ,warmʻ empfunden. Bei derartigen Wirkungen handele es sich nun, so Böhme, bei genauerer Betrachtung nicht um Eigenschaften, die ein Material besitze und die nur dieses allein kennzeichneten, sondern vielmehr um sogenannte „intermodale“ oder „synästhetische Charaktere“ – also um Erscheinungsqualitäten, die in unterschiedlichsten Sinnesbereichen zugleich vorkommen könnten. Eine Stimme könne bspw. ,hellʻ sein, ebenso wie ein Ton oder eine Farbe. Der entscheidende Punkt liegt für Böhme dabei darin, dass, wenn eine derartige intermodale Qualität in unterschiedlichen Sinnesbereichen zugleich auftreten kann, sie im Umkehrschluss auch durch jeweils unterschiedliche Sinnesqualitäten hervorgerufen werden können müsse. Böhme nennt diesen Gedankengang „die These von der Substituierbarkeit von Sinnesqualitäten“. Noch einmal am konkreten Beispiel: Der Eindruck von der ,Kälteʻ eines Umraumes könnte nach Böhme demnach erreicht werden, indem man das Zimmer in einem kühlen blauen Farbton streicht. Eben derselbe Eindruck könne aber auch mit ganz anderen Mitteln hergestellt werden: „In der Erzeugung des Charakters der Kälte kann Blau durch glatte abweisende Oberflächen ersetzt werden, oder [...] durch eine bestimmte grelle Beleuchtung mit eingeschränktem Frequenzbereich.“ Die intermodalen Qualitäten würden dabei instantan erfahren, während die Eigenschaften von Dingen erst im Nachhinein, im Rahmen einer identifizierenden, analytischen Wahrnehmung perzipiert würden: „Die einzelnen sinnspezifischen Daten, wie Farbe, Töne, Gerüche, Klänge, werden ausgehend von atmosphärischen Erfahrungen durch mehr analytische und versachlichende Wahrnehmungsweisen aufgefunden.“ Sie könnten also, im Gegensatz zu den intermodalen Qualitäten, nicht ausschlaggebend für das Empfinden einer jeweiligen Atmosphäre sein. Das Problem dieser Argumentation liegt bereits offen zu Tage: Denn wie können atmosphärische Wirkungen einerseits den sinnlichen Einzelwahrnehmungen (also der Wahrnehmung von Materialien, Farben, Symbolen, sozialen Tatsachen etc.) vorausgehen, wenn sie andererseits erst auf ebendiesen aufbauen? Die Frage der möglichen Substituierbarkeit spielt also letztlich gar keine Rolle. Denn egal, durch welche Faktoren ein intermodaler Charakter hervorgerufen würde, er beruhte doch stets immer (auch) auf einer identifizierenden und interpretierenden Wahrnehmung: Des Blaus als Blau, der glatten Oberflächen als glatter Oberfläche, des grellen Lichts als grellem Licht etc. Oder, noch einmal am konkreten Beispiel des Wahrnehmens eines blau gestrichenen Zimmers: Wie kann ein Umraum zunächst (!) ,atmosphärischʻ als ,kaltʻ wahrgenommen

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risch-zusammenfassenden gegeben werden. Hier die zweite Option: Zwar ist es hinsichtlich der Fragestellung, wie ein Wahrnehmen von Atmosphären erklärt werden kann, folgerichtig, alle möglichen Einzelphänomene daraufhin zu überprüfen, inwiefern sie zu einem Atmosphären-Wahrnehmen beitragen mögen. Allerdings bedeutet dieser Umstand nicht, dass im Umkehrschluss jedes andere Einzelphänomen auf diese Komponente – also jene, hinsichtlich derer es zum Spüren von Atmosphären beiträgt – reduziert werden kann. Die zu ziehende Konsequenz für eine allgemeinere Aisthetik kann daher nur lauten: Wenn die Atmosphärentheorie der Wahrnehmung keine umfassende Wahrnehmungstheorie darstellt, sondern allein einen Teilbereich des sinnlichen Wahrnehmens thematisiert, so gibt es auch keinen Grund, warum nicht unterschiedlichsten Aspekten des sinnlichen Wahrnehmens im Rahmen einer Aisthetik Aufmerksamkeit zuteilwerden sollte. Diese dürfen dabei nicht einseitig verkürzt interpretiert werden, so dass sie unter andere Wahrnehmungsphänomene (Atmosphären) subsumieren werden, sondern ihnen muss gleichberechtigt Aufmerksamkeit im Rahmen einer möglichst umfassenden, eigenständigen Auseinandersetzung zuteilwerden. (Auch eine Unterscheidung zwischen ,primärenʻ und ,sekundärenʻ Phänomenen, oder wie Böhme sagt, zwischen ,grundlegendenʻ und ,trivialenʻ Wahrnehmungsformen, wird somit hinfällig.) Zur erkenntnistheoretischen Verortung Die zweite Frage verbindet sich mit einer erkenntnistheoretischen Dimension: Wie angemerkt gelangt Gernot Böhme im Zuge der Entfaltung seines Wahrnehmungsmodells an einen konzeptionellen Scheideweg. Dabei steht Böhme vor der Frage, wie mit dem identifizierenden Wahrnehmen von Dingen innerhalb seiner Theorie zu verfahren sei: Ist diese Vorstellung allgemein zu relativieren (etwa dergestalt, dass jegliches Wahrnehmen allein eine menschliche Erfahrungsrealität manifestiert, ein Erkennen von so etwas wie ,Dingen an sichʻ hingegen nicht möglich ist) oder ist sie als eigenständige Wahrnehmungsform zu konzipieren und dem atmosphärischen Wahrnehmen als eigener, gesonderter Wahrnehmungsmodus zur Seite zu stellen? Wie sich Gernot Böhme entscheidet, wurde bereits gesagt. Auch wurde angemerkt, dass diese Entscheidung, insbesondere hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Implikationen, als problematisch zu erachten ist. Näher dargelegt wurde dieses Faktum noch nicht. Hier nun, eine genauere Darstellung: Durch die Entscheidung, eine strikte Trennlinie zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi zu ziehen, wird es Gernot Böhme werden; und dann erst mittels einer analytischen, versachlichenden Wahrnehmung als ,blau gestrichenʻ, wenn die Empfindung der Kälte doch auf einer dominant einzelsinnlichen, da visuellen Wahrnehmung, nämlich jener des Sehens der blau gestrichenen Wand, aufbaut? Die Methodik, bestimmte Phänomengruppen zunächst als ,anderen Wahrnehmungsformenʻ zugehörig auszuklammern, sie anschließend im Sinn einer atmosphärischen Wahrnehmungsweise zu re-interpretieren und als nachrangig zu re-inkorporieren, erweist sich also auch innerhalb von Böhmes eigenem Ansatz als problematisch. Vermieden werden könnten das Problem hingegen, wenn ein Wahrnehmen von Atmosphären nicht hierarchisch (als grundlegend und primär) konzipiert würde, sondern in dieses andere Aspekte des Wahrnehmens, bspw. ein identifizierendes, benennendes Wahrnehmen, von vornherein konzeptionell integriert würden. Zitate: Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.54; Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.98, S.101.

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konzeptionell möglich, den Bereich des atmosphärischen Spürens als eigenständige Erfahrungsweise von anderen, etwa analytischen und identifizierenden, Formen des Wirklichkeitsvollzugs zu isolieren und dessen Primat zu behaupten. Allerdings taucht hierdurch die Frage auf: Welche Art von Wirklichkeit fördert das atmosphärische Spüren zu Tage? Um dieselbe Wirklichkeit wie bei einem analytischen, identifizierenden Wahrnehmen von Dingen kann es sich nicht handeln (denn, wie Böhme andernorts feststellt, eine gespürte Atmosphäre bricht ja just in dem Moment, in dem es uns gelingt, ein Ding als Ding zu identifizieren, in sich zusammen). Die Folge: Gernot Böhme sieht sich veranlasst, auch den Bereich der wahrgenommenen Realität in zwei Hälften aufzuteilen: So ist für ihn ab einem gewissen Punkt seiner Argumentation die „Wirklichkeit“ nurmehr das, was uns in der atmosphärischen Wahrnehmung erscheint. Davon zu unterscheiden sei aber der Bereich der „Realität“. Die Begriffe seien, wie Böhme anmerkt, im Prinzip willkürlich gewählt. Was durch sie unterschieden werden solle, sei: „Auf der einen Seite die Dinge“ und somit die Sphäre der Realität, auf der anderen Seite das, „was sie zur Erscheinung bringen“, das Phänomenale, die Sphäre der Wirklichkeit. Der Ästhetik, im Sinn einer Aisthetik, müsse es grundsätzlich darum gehen, „[...] die Erscheinung als solche zu bestimmen, ohne sie auf etwas, das erscheint, zu überschreiten“. Es gehe in der Aisthetik also nicht etwa um die Erkenntnis einer sich in der Wahrnehmung offenbarenden Realitätsstruktur, sondern vielmehr um „den Schein, die phänomenale Wirklichkeit“.51 Böhmes Aisthetik, die sich zuvor bereits von einer Wahrnehmungslehre zu einer Befindlichkeitslehre gewandelt hatte, wandelt sich hier erneut und wird nun zu einer Erscheinungslehre.52 Als solche wendet sie sich der Erlebniswirklichkeit des Menschen zu, die, wie Böhme fortfährt, prinzipiell dem Bereich der Fiktion und des Spiels verwandt sei, während die Welt der Realität mit Fakt und Ernst zusammenfalle.53 Die Probleme, die sich aus einer derartigen Aufspaltung der Wahrnehmungsrealität ergeben, sind vielfältig. Hier die beiden gravierendsten Punkte. Erstens: Wenn eine Aisthetik tatsächlich allein die Sphäre des Scheins thematisiert, wie der Theoretiker sagt, so stellt sich die Frage, inwiefern es sich bei einer solchen Untersuchung tatsächlich noch um eine Auseinandersetzung mit sinnlicher Erkenntnis handelt. Denn ein Durchgriff auf reale Erkenntnis bliebe ihr per definitionem konstitutiv versagt. Zweitens: Böhmes Ausführungen gehen, in phänomenologischer Manier, von der Unhintergehbarkeit der Erfahrungsrealität des Menschen aus. Ebendies ist auch die Basis, auf der die Anerkennung von Atmosphären als real gegebenen Phänomenen von Böhme eingefordert wird. Letztlich wird eben diese Erfahrungsrealität, die ja den Ausgangspunkt und das Fundament des böhmeschen Gedankengebäudes bildet, jedoch per se zum Schein erklärt, zu einer Wirklichkeit, die nichts mit einer als solchen postulierten Realität zu tun habe. Kurz: Es stellt sich eine argumentative Kreisbewegung ein, die sich ihres eigenen Ausgangspunktes, auf welchem sie fußt, entzieht. Beide Probleme sind philosophisch schwerwiegend. Nun zu den zu ziehende Konsequenzen: Wie gezeigt, handelt es sich bei der ,Zwei-Welten-Theorieʻ Böhmes um das Resultat einer möglichen, jedoch keineswegs einer zwingend notwendigen 51 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.159-172. 52 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.118. 53 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.162.

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konzeptionellen Entscheidung. Böhme selbst spricht in diesem Kontext von einem argumentativen „Notbehelf“.54 Denn mit seiner Argumentation gegen dingontologische Vorstellungen hatte der Theoretiker bereits die Basis für eine genau gegenteilige erkenntnistheoretische Sichtweise gelegt, die es – so sie konsequent beibehalten würde – gerade eben nicht gestattete, die Welt in unterschiedliche Realitäten aufzuspalten, die es stattdessen aber erlaubte, von menschlichen Wahrnehmungserfahrungen als nicht zu hintergehenden Wirklichkeitsvollzügen auszugehen (und auch in ihren Ergebnissen bei dieser Feststellung zu bleiben). Um den Preis, das Primat und den universellen Anspruch des Atmosphärenmodells der Wahrnehmung zu rechtfertigen, wird dieser Anspruch bei Gernot Böhme jedoch sukzessive aufgegeben. Diese Entscheidung – die nicht zuletzt hinter die Erkenntnisse der von Böhme berufenen phänomenologischen Tradition zurückfällt – wäre hinsichtlich einer allgemeinen Aisthetik zu revidieren. Durch eine derartige Revision wird auch ein konzeptioneller Anschluss an Arnold Berleant möglich, der von der Unhintergehbarkeit menschlicher Wahrnehmungserfahrungen ausgeht – und auch in letzter Konsequenz bei dieser Haltung bleibt. So, wenn er Bezug nehmend auf den erkenntnistheoretischen Status des Wahrnehmens sowie die Möglichkeit von Erkenntnis im Allgemeinen, formuliert: „The world in which we live is necessarily a human world, a world we cannot avoid or evade.“55 Ein Durchgriff auf ein vermeintliches ,Ding an sichʻ, auf eine Realität hinter der Wirklichkeit, ist für Arnold Berleant also nicht möglich.56 Treffend bringt der Theoretiker diese Einsicht auch mit den Worten John Deweys zum Ausdruck, wenn er diesen wie folgt zitiert: things ... are what they are experienced as. Hence, if one wishes to describe anything truly, his task is to tell what it is experienced as being [... We] have a contrast, not between a Reality, and various approximations to, or phenomenal representations of Reality, but between different reals of experience.57

Auch ,Dingeʻ sind also, so Berleant mit Dewey, nichts anderes, als dasjenige, als was sie erfahren werden – sei es auf alltägliche, perzeptive, oder auf wissenschaftliche, durch Instrumente vermittelte, Weise. Ein Kontrast besteht nicht zwischen einer sich vermeintlich entziehenden wirklichen Welt und unterschiedlichen Annäherungsformen an diese; sondern ein Unterschied besteht allein zwischen unterschiedlichen, dabei über den Menschen miteinander verbundenen Erfahrungsdimensionen – zwischen „different reals of experience“. Es ist diese Sichtweise, der sich eine Aisthetik im Allgemeinen anzuschließen hat (jedenfalls, wenn aus ihre keine Erkenntnislehre des bloßen Scheins, oder anders formuliert: eine Scheinerkenntnislehre, werden soll).

54 „Die Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit ist in gewissem Sinn ein Notbehelf“, vgl. Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.159. 55 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.111 56 Siehe auch Kap. 4.4 (Fn. 75). 57 John Dewey, The Postulate of Immediate Empiricism; in: ders., The Influence of Darwin on Philosophy (New York: Peter Smith, 1951) S.227-241. Zitiert nach: Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.72.

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5.2.4 Erkenntnistheoretische Implikationen An dieser Stelle kann ein zweiter thematisch-konzeptioneller Verdichtungspunkt identifiziert werden, der sich mit der Frage sinnlichen Wahrnehmens im Sinn von ,aisthesisʻ verbindet. Dieser liegt in der erkenntnistheoretischen Dimension, welche der Gedanke einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aufweist. Die Herausforderung und Aufgabe hinsichtlich epistemologischer Implikationen könnte dabei wie folgt zusammengefasst werden: „[...] we must get at things from within, we must 'trace a field of immanence'“58, wie Arnold Berleant mit Gilles Deleuze formuliert. Oder wie Deleuzes selbst ausführt: construct a space of thought in which there are no longer transcendental elements, that is to say, superior categories that dominate and organize things, as the One, the True, the [...] Reason, the Subject.59

Eine Feststellung, die im Zuge einer Aisthetik freilich aisthetisch gewendet werden müsste, indem hier nicht länger der „thought“, also das Denken (selbst einer jener hypostatisierten Begriffe, wie sie Deleuze in obigem Zitat kritisiert) als un-bedingt und un-hintergehbar gesetzt wird, sondern von einer unauflöslichen Verbindung zwischen ,Kognitivemʻ und ,Sensorischemʻ, zwischen sprachgebundenem Denken und nicht-, oder nur teil-sprachgebundenem Wahrnehmen ausgegangen wird. Das Feld der Immanenz ist im Rahmen einer Aisthetik also nicht als abstrakter Denkraum zu konzipieren, den es mit rein sprachgebundenen, logischen oder mathematisch-formalisierten Mitteln zu durchdringen bzw. frei zu konstruieren gilt, sondern es ist zugleich in seiner wahrnehmungsgebundenen Dimension zu erfassen, die aktiv-physisch erkundet werden muss. Dieser Punkt ist wichtig. Daher noch einmal: Aisthetik bedeutet sprachlich-denkendes Reflektieren über aisthesis-bezogene Fragestellungen; zugleich bedeutet es aber, aktiven Gebrauch zu machen von aisthesis. Beide Aspekte sind als auf einer fließenden Skala miteinander verbunden zu imaginieren und erlauben es – auch und gerade in methodischer Hinsicht (möglicher Einwände gegenüber Arnold Berleants aesthetic argument ungeachtet) – erst im Verbund, sich als Mensch, eingebettet in eine Umwelt, alltäglich wahrnehmend oder aisthetisch forschend, zu bewegen. Anders als angesichts eines abstrakten Denkraums der Fall ist hinsichtlich einer wahrnehmungsgebundenen Dimension, wie sie eine Aisthetik erforscht, ,eine Zentrierung gegeben, die bei aller berechtigter Kritik an essentialisierten Entitäten (wie: „the One“, „the True“, „the Reason“, „the Subject“) nicht weggedacht – oder richtiger: nicht ,weg-erfahrenʻ, nicht aus dem Wahrnehmen getilgt werden kann. Denn das Wahrnehmen zentriert den Mensch, bettet ihn ein in einen umwelthaften Wahrnehmungskontext. Das konstellative Mensch-Umwelt-Verhältnis, in welchem der Mensch im Wahrnehmen aufgespannt ist, zeigt sich hierbei durch beides gleichermaßen bestimmt: durch die Umwelt, so wie sie in ihrer wahrnehmungsbezogenen Erfahrbarkeit – und nicht etwa darüber hinaus, als vermeintliche ,Welt an sichʻ – gege58 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.77. 59 Eine gut lesbare Einführung zu Gilles Deleuze findet sich in: Claire Colebrook, Gilles Deleuze (New York: Routledge, 2002); Zitat: Siehe Arnold Berleant, ebd.

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ben ist und durch den Menschen, so wie dieser seine Umwelt mittels eines an die Physis gebundenen Wahrnehmungsvermögens zu erfahren vermag. Umwelt ist somit weder ,objektivʻ gegeben, noch beliebig durch den Menschen auf gedanklichem Weg form- oder konstruierbar. Vielmehr sind Mensch und Umwelt mittels aisthetischer Prozesse miteinander verzahnt. Sie stehen in einem polaren Spannungsverhältnis (vgl. Kapitel 3 zu Gernot Böhme) bzw. sind sie interkonnektiv miteinander verbunden (vgl. Kapitel 4 zu Arnold Berleant). Pointiert könnte man formulieren: Umwelt ist nicht, Umwelt findet statt. Sie ist nicht dem Wahrnehmen vorgegeben, sondern sie realisiert sich im Wahrnehmen. Die spezifische Art und Weise, wie Umwelt sich ereignet, liegt dabei weder in der Umwelt, noch im Menschen begründet, sondern sie entsteht, indem beide im Wahrnehmen in eins zusammenfallen. Dies gilt gleichermaßen hinsichtlich der Verfügbarkeit der menschlichen Umwelt (der Art, wie sie aisthetisch erfahren werden kann), wie hinsichtlich ihrer Widerständigkeit (der Art, wie sie sich dem Wahrnehmen widersetzt, ihm Probleme bereitet, fallibel ist, Irrtümer zulässt) und selbst noch hinsichtlich ihrer Entzogenheit (der Art, wie sie sich einer aisthetischen Erfahrbarkeit/Erforschbarkeit verwehrt).60 Wie ein Feld der Immanenz in epistemologischer Hinsicht darüber hinaus zu bestimmen ist, ob es diesbezüglich beispielsweise sinnvoller sein dürfte, vom MenschUmwelt-Verhältnis im Sinn eines unhintergehbaren Gesamtzusammenhangs zu sprechen oder ob angesichts unterschiedlicher über (den bzw. die) Menschen miteinander verbundener Erfahrungsdimensionen (die nicht aufeinander reduzibel, somit gleichermaßen unhintergehbar sind) der Ausdruck ,Umweltʻ nicht lieber allein für solche Erfahrungsdimensionen reserviert bleiben sollte, die einen alltäglichen, räumlichmateriellen wahrnehmungsbezogenen Erfahrungskontext ausbilden, ist eine Frage, die im Rahmen einer transdisziplinär verfassten Aisthetik insbesondere von philosophischer Seite her näher zu klären sein wird.61 Möglich und potentiell gewinnbringend dürfte dabei in Zukunft die weiterführende Kontextualisierung mit verwanden Begriffen, wie ,Bedingungʻ/,Feldʻ/,Matrixʻ (Berleant, Mandoki), ,in-der-Welt-seinʻ (Heidegger), aber auch ,Lebensweltʻ (Husserl) oder ,Lebensformʻ/,Sprachspielʻ (Wittgenstein) sein. Bereits heute klar ist hingegen, dass die erkenntnistheoretische Dimension, so, im Wortsinn, ,fundamentalʻ sie ist, allein eine Dimension des Mensch-Umwelt-Verhältnisses ausmacht. Eine andere ist die konkrete, von der sich eine Aisthetik, auch und gerade was ihre erkenntnistheoretischen Reflexionen anbelangt, nie zu weit entfernen sollte. 60 Zum Gedanken der ,Eigenlogikʻ, der in diesem Kontext eine Rolle spielen dürfte, siehe Kap. 11. 61 Ein Aspekt, der der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität menschlicher Umwelten eigen ist, ist ein – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks so zu bezeichnendes – ,holistischesʻ Moment. Denn die wahrnehmungsgebundene Erfahrungsrealität überschreitet Einzelwahrnehmungen, ist als solche, als erfahrene Realität, umfassend, nie bruchstückhaft oder fragmentarisch. Anders als andere menschliche Erfahrungen, wie das Lösen einer mathematischen Formel oder zwischenmenschlicher Kontakt, ist sie nicht allein fallweise, sondern immer (mit) zugegen. Inwiefern dabei in erkenntnistheoretischer Hinsicht zwischen der Erkenntnis, die im Wahrnehmen selbst liegt, und einer vermeintlich höheren Erkenntnis unterscheiden werden sollte – oder eben auch gerade nicht –, dazu mehr in Kap. 11.3.

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5.3

AISTHESIS UND ( GEBAUTE ) MENSCHLICHE

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U MWELT

Wie gezeigt werden konnte, sprechen diverse, wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische, Gründe dafür, die böhmesche Atmosphärentheorie nicht als einen universellen, sondern vielmehr als einen partikularen Beitrag zu einer Aisthetik zu betrachten, der sich spezifischen Wahrnehmungsaspekten (Atmosphären) widmet. Freilich bedeutet dies auch, dass der proklamierte Anspruch Gernot Böhmes auf eine allgemeine Wahrnehmungslehre – und die Betonung liegt in diesem Fall auf der letzten Komponente des Begriffs – nicht aufrechterhalten werden kann. Denn gelehrt werden kann nur, was zuvor grundlegend und umfassend erforscht wurde. Sieht man die Aufgabe einer Aisthetik, sei es im Sinn eines disziplinären Zweiges oder einer eigenständigen Disziplin, hingegen nicht im Liefern einer universellen Antwort, sondern vielmehr im Aufzeigen von zu bearbeitenden Fragestellungen und dem Entwickeln entsprechender Theorieansätze – oder kurz: sieht man sie eben nicht als eine abgeschlossene Lehre, sondern vielmehr als eine offene Forschung an – so ist dieser Umstand keineswegs problematisch. Im Gegenteil: Eben die Pluralität und Konkurrenz unterschiedlicher Theorieansätze – auch und gerade zu einzelnen Teilaspekten – ist es, die den Charakter einer Forschung ausmacht. In diesem Sinn sollte beispielsweise auch der Umstand, dass zur oben aufgeworfenen Fragestellung, wie sinnliche und kognitive Anteile des Wahrnehmens sich genau zueinander verhalten, keine abschließende Antwort gegeben wurde, sondern stattdessen zwei alternative Konzeptionsmöglichkeiten aufgezeigt wurden, nicht als Defizit verstanden werden. Denn eine Beantwortung dieser Frage – oder richtiger: die Entwicklung entsprechender Modelle und Theorieansätze – bedürfte weiterer, tiefer gehender Auseinandersetzungen. Und ebendies ist, im Gegensatz zu einer Lehre, Aufgabe einer Forschung. (Dennoch wird ebendiese Frage, exemplarisch, zusammen mit zwei anderen großen Fragestellungen einer Aisthetik, im weiteren Verlauf der Untersuchung, immer wieder aufgegriffen werden. Dabei soll insbesondere gezeigt werden, inwiefern im Rahmen einer transdisziplinär verfassten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt auch künstlerische und ,naturwissenschaftlicheʻ Bereiche zur Diskussion beitragen könnten.)62 Für den Augenblick, nun aber zurück zu Kernpunkten einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt. Die Vorteile eines Verzichts auf den Versuch, eine Aisthetik im Sinn einer in sich abgeschlossenen Lehre zu konzipieren, könnten sich auch hinsichtlich eines dritten thematisch-konzeptionellen Verdichtungspunktes bemerkbar machen: und zwar bezüglich der (gebauten) menschlichen Umwelt, an dieser Stelle nicht verstanden in einem epistemologischen Sinn, sondern als konkreter, alltäglicher Wahrnehmungskontext. Dies wird anhand des Ansatzes von Gernot Böhme selbst deutlich, der seinen Begriff der ,Atmosphäreʻ ja nicht allein in Richtung einer Wahrnehmungslehre ausdifferenziert, sondern ihn zugleich mit dem Begriff des ,leiblichen Raumesʻ bzw. des ,Raum der leiblichen Anwesenheitʻ verbindet. Den Ausgangspunkt für Böhmes Ausführungen zu Architektur- und Umweltwahrnehmung bildet, wie dargestellt, eine Reflexion über unterschiedliche Raumvorstellungen, konkret: jene des spatium und des topos. Im Gegensatz zu Ersterem fasst ein topologisches Verständnis Raum als eine Art relationale Gemengelage auf, die nicht 62 Vgl. Kap. 8.3, Kap. 9.2 und Kap. 11.

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durch abstrakte Punkte, sondern durch Umgebungen und Nachbarschaftsbeziehungen bestimmt ist. Als solcher, also als relationaler Umgebungs- und Nachbarschaftsraum, liefert der Gedanke des topologischen Raumes die Vorlage für Böhmes Begriff des ,leiblichen Raumesʻ als einer Art topologischem Raum des Leibes, der den Menschen inklusive seines perzeptiven Körperschemas (und davon abgeleiteter räumlicher Richtungen wie vorne/hinten, links/rechts, oben/unten) ins Zentrum stellt. In Böhmes Begriff des ,leiblichen Raumesʻ kulminiert dabei eine Vorstellung, wie der Theoretiker sie zuvor konzeptionell von zwei Seiten her vorbereitet hatte: Denn mit der Argumentation gegen Dingontologien und, damit verbunden, mit seiner alternativen Konzeption sogenannter ekstatischer und physiognomischer Wirkungen wird Umwelt prinzipiell als der Wahrnehmung ,zuhandenʻ63, bzw. als ,nach außenʻ, auf ein Wahrgenommen-Werden hin orientiert konzipiert; so, wie auf der anderen Seite die menschliche Physis, mit der schmitzschen Leibphilosophie, als konstitutiv nach außen, in eine Umwelt hinein geöffnet aufgefasst wird. An diesem Punkt gilt es einzuhaken. Denn, wie an dieser Stelle deutlich wird, finden Böhmes Begriff des ,Leibesʻ, im Sinn einer perzeptiven Physis, und jener des ,leiblichen Raumesʻ, als einem perzipierten Umraum, eine unmittelbare Entsprechung ineinander. Dagegen ist die Zusammenführung der Begriffe ,leiblicher Raumʻ und ,Atmosphäreʻ, wie Böhme sie später vornimmt, kontingent: Sie ist möglich, nicht 63 Gernot Böhmes Vorstellung extatischer Wirkungen und seine diesbezüglichen Ausführungen zum Raum scheinen Martin Heideggers Begriff des ,Zuhandenenʻ und den mit diesem verbundenen Raumreflexionen keineswegs unverwandt. Bereits in Sein und Zeit richtet sich Heidegger gegen eine Vorstellung, die einer ,naturwissenschaftlichenʻ Sicht, welche von einer objektiven Vorhandenheit von Dingen im Raum ausgeht, gegenüber der menschlichen Lebenswelt ontologischen Vorrang einräumt. Zu dieser menschlichen Lebenswelt gehört für Heidegger auch, dass Dinge nicht einfach ,vorhandenʻ, sondern stets ,zuhandenʻ sind, d.h. sie schweben nicht frei als ,Dinge an sichʻ in einem abstrakten Raum, sondern sie sind konstitutiv in menschliche ,Bewandtniszusammenhängeʻ eingebunden (Ein Hammer ist nicht einfach ein vermeintlich objektives Ding im Raum, sondern er ist nur insofern Hammer, als er darauf ausgerichtet ist, dass ich ihn in die Hand nehme und mit ihm einen Nagel in die Wand schlage. Der Bewandtniszusammenhang ist nicht von dem, was ein Hammer ist, zu trennen.) Desgleichen gilt für den Raum: „Die ,Umweltʻ richtet sich nicht in einem zuvor gegebenen Raum ein“, sondern die Vorstellung eines abstrakt dimensionalen Raumes ist vielmehr von unserem konkreten Erleben eines ,Umhaftenʻ, eines ,Um-unsHerumsʻ abgeleitet. Oder wie Heidegger selbst formuliert: Die „Dimensionalität des Raumes“ ist „in der Räumlichkeit des Zuhandenen [...] verhüllt. Das ,Obenʻ ist das ,an der Deckeʻ, das ,Untenʻ das ,am Bodenʻ, das ,Hintenʻ das ,bei der Türʻ“. Gernot Böhmes Ausführungen zu ,Ekstasenʻ, die Dinge nicht als in sich verschlossene ,Dinge an sichʻ, sondern als Dinge im menschlichen Wahrnehmungsvollzug konzipieren, scheinen Heideggers Analysen zum Begriff des ,Zuhandenseinsʻ, bezogen auf eine wahrnehmungstheoretische Ebene, aufzugreifen. Allerdings legt Böhme in seinem Raumverständnis, mit Hermann Schmitz, den konzeptionellen Schwerpunkt auf den Aspekt des physischen Erfahrens. Beiden Aspekten, dem der Rolle der perzeptiven menschlichen Physis und jenem der lebensweltlichen Einbettung, versucht Arnold Berleant – im kritischen Anschluss an Heidegger, Husserl, Merleau-Ponty – Rechnung zu tragen. Zitat: Martin Heidegger, Sein und Zeit – Erste Hälfte; Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 8 (1), 1927; S.101ff.

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aber zwingend notwendig. Zwar mag ein leibliches Erfahren von Umräumen auch, unter anderem, in Form eines Spürens von Atmosphären vonstattengehen (falls von einem Umraum eine spezifische, als solche spürbare Atmosphäre ausgeht). Dass dies immer und ausschließlich der Fall sein muss, geht aus dem Grundgedanken einer wechselseitigen, konstitutiven Aufeinander-Gerichtetheit von Mensch und Umwelt jedoch nicht hervor. Auch hinsichtlich Gernot Böhmes Begriff des ,leiblichen Raumesʻ, respektive des ,Raumes der leiblichen Anwesenheitʻ, kann ein Abstandnehmen vom Atmosphärenmodell des Wahrnehmens, im Sinn einer universellen Wahrnehmungslehre, also – selbst was Böhmes eigenen, individuellen Ansatz betrifft – nur von Vorteil sein. Denn der konzeptionelle Verzicht auf einen übergeordneten, universellen Wahrnehmungsmodus würde es dem Theoretiker erlauben, auch andere Aspekte in das Konzept des leiblichen Raumes einzubeziehen. Einer identifizierenden, benennenden Einzelwahrnehmung von Dingen (i.e. nicht von ,Dingen an sichʻ, aber von Wahrnehmungsgegenständen, die als solche, als Türen, als Tische, als Wände erfahren werden) oder dem haptischen Spüren von Materialwirkungen (welches von Böhme negiert bzw. zu einem rein atmosphärischen Spüren uminterpretiert wird) könnte so, um allein zwei Beispiele herauszugreifen, angemessen Rechnung getragen werden. Dass es prinzipiell durchaus möglich ist, Mensch und Umwelt als aufeinander bezogen zu konzipieren, ohne dabei den Weg über ein ,atmosphärisches Wahrnehmenʻ zu gehen, wird zudem deutlich, wenn man an Arnold Berleants in diesem Punkt ansonsten äußerst verwandt erscheinende Ausführungen denkt. Dessen Begriff des ,engagementʻ sowie seine Vorstellung eines partizipatorischen Modells der Umwelterfahrung bringen ebenfalls ein konstellatives Verhältnis zwischen menschlicher Physis und Umgebung zum Ausdruck. Auch für Berleant ist der Mensch dabei mittels einer engaged experience in seine Umwelt hinein geöffnet; so, wie umgekehrt diese eine spezifische Wirkung auf den Menschen ausübt (etwa mittels sogenannter ,participatory featuresʻ). Umwelt ist in diesem Sinn, für Berleant, „not wholly dependent on the perceiving subject. It also imposes itself in significant ways on the human person“, so dass beide in einer „relationship of mutual influence“ 64 miteinander verbunden sind. Dies ist bei Arnold Berleant jedoch möglich, ohne dass hierzu der Gedanke eines einzelnen universellen Wahrnehmungsmodus, wie das atmosphärische Spüren, vonnöten wäre. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Bereitschaft zu der Einsicht, dass es ein universelles Muster, nach dem ,das Umweltwahrnehmenʻ per se verfasst ist, möglicherweise schlichtweg nicht gibt. ,Spezifizierungʻ und ,Konkretisierungʻ sind also auch hier die maßgeblichen Schlagworte. Konkrete Aspekte (gebauter) menschlicher Umwelten Die prinzipielle Sichtweise, die beide Autoren miteinander teilen, also jene, Mensch und Umwelt nicht als jeweils in sich verschlossen zu konzipieren, sondern sie als mittels aisthetischer Prozesse konstitutiv aufeinander ausgerichtet und miteinander verbunden zu verstehen, kann unabhängig von der Frage jeweiliger Binnenkonzeptionen als zentraler Gedanke und Ansatzpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt verstanden werden. Denn letztlich ist es diese Sichtweise, in der nicht 64 Arnold Berleant, Aesthetics and Environment; a.a.O., S.8f.

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allein spezifische wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Implikationen eingebettet liegen, sondern die es auch möglich macht, konkrete thematische Bereiche, die sich mit dem Begriff der ,(gebauten) menschlichen Umweltʻ verbinden, Fragen von Stadtentwicklung, Landschaftsgestaltung, Natur- und Denkmalschutz, unter anderen als den in traditioneller Ästhetik (sowie Architekturtheorie, Soziologie, Ökologie, Denkmalpflege u.a.) üblichen Gesichtspunkten zu betrachten. Beide Autoren veranschaulichen diesen Umstand am Beispiel Architektur. Denn ein konventionelles Verständnis, das sich, wie Arnold Berleant betont, nicht zuletzt stark von einer traditionellen Ästhetik beeinflusst zeigt, weist eine klare Tendenz auf, Gegenstände (seien es einzelne Gebäude, Ensemble, oder Städte als Ganzes) als in sich geschlossene, funktionale und gestalterische, Einheiten aufzufassen.65 Architekturen werden dabei – im Sinn einer von Gernot Böhme kritisierten Dingontologie – als immanent verfasste, sozusagen ,intro-zentrierteʻ (von lat. ‚intro-ʻ: ‚hineinʻ, ‚nach innenʻ) Entitäten begriffen. Eine Sichtweise, die Konsequenzen zeitigt – und dies auch und gerade die Praxis des Errichtens, Gestaltens, Konservierens von (gebauten) menschlichen Umwelten betreffend. So legt sie nahe, Gebäude primär auf ein immanentes Stimmigkeitsgefüge (Proportionen, Massen, Materialien in ihrem wechselseitigen Verhältnis zueinander) hin zu konzipieren und nicht etwa hinsichtlich ihrer Wirkung auf den physisch verfassten Menschen.66 Auch erlaubt sie es (etwa in Form von Modellen und Visualisierungen), hinsichtlich eines umgebenden Kontextes singuläre Gebäude von diesem zu isolieren oder sie allenfalls als in ein sogenanntes ,bauliches Umfeldʻ eingebettet darzustellen, das seinerseits jedoch wiederum allein aus materiellen Gebäuden besteht. (Diese Darstellungspraxis ist schon allein aus Gründen der Praktikabilität gang und gäbe: Materielle Klötze lassen sich – gleich ob per Hand oder mittels computergesteuerter 3D-Fräsen – leichter herstellen als Wol65 Sicher gibt es auch Beispiele von Architektinnen, die ein anderes Architekturverständnis an den Tag legen. So macht es einen wichtigen Unterschied, ob ein Gebäude – etwa im Sinn von Rem Koolhaas polemischem Begriff der ,bignessʻ – als monolithischer Block konzipiert wird, der sich allein in einem globalen Kontext verortet, während er seine unmittelbare Umgebung ignoriert, oder ob – beispielsweise dem Konzept des critical regionalism folgend – ein Haus sensibel in seine jeweilige Umgebung eingepasst wird. Die Frage, wie ,Architekturʻ auf einer tiefer gehenden Ebene gedacht wird, ob sie hinsichtlich materieller, planbarer Aspekte essentialisiert wird oder nicht, ist hiervon jedoch – wenn auch nicht vollkommen zu trennen – so doch zu differenzieren. 66 Man muss nicht an Extrembeispiele, wie Albert Speers Planungen für die Reichshauptstadt Germania oder Le Corbusiers Entwürfe für ein neues Stadtzentrum von Paris denken, um zu wissen, was mit einer Architektur gemeint ist, die zwar immanente Stimmigkeitsgefüge aufweisen mag, dabei aber jeden Bezug zu menschlichen Erfahrungsdimensionen verloren hat. Beispiele finden sich, wenn auch in kleinerem Maßstab, vielerorts. Doch auch Gegenbeispiele sind zu finden: Peter Zumthors Gebäude beziehen unterschiedlichste Erfahrungsdimensionen, die aktiv erfahren werden müssen, mit ein; so auf die Nutzer eines Gebäudes wirkende Lichtverhältnisse, Gerüche, Materialoberflächen, bis hin zu Musik/Klängen (Schweizer Expo-Pavillon, Hannover, 2000), Farben und Formen einer umgebenden Landschaft, die sich mit einer Architektur verbinden (Bruder-Klaus-Kapelle, MechernichWachendorf, 2007), oder der Art, wie der Lauf eines Geländers in der Hand liegt (etwa: Kolumba-Museum, Köln, 2007).

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ken, Gerüche oder soziale Beziehungen.) Zudem suggeriert sie die Möglichkeit, Gebäude mittels Plänen (Grundriss, Aufriss, Schnitt) und technischen Angaben (Material- und Maßangaben) auf vermeintlich wesentliche Merkmale zu reduzieren und somit, in philosophischer Hinsicht, zu essentialisieren. (Was wiederum die potentielle Notwendigkeit, Wolken, Gerüche oder soziale Beziehungen überhaupt als Bestandteile des Gegenstandsgebiets der Architektur einzubeziehen, obsolet erscheinen lässt.67) Erst der Gedanke einer Bezogenheit auf die menschliche Physis, im Sinn eines nach außen gerichteten perzeptiven Organs (das mehr ist als die Summe einer limitierten Anzahl an einzelnen Sinnesorganen), ermöglicht es dagegen, Architektur auch in ihrer alltäglichen Wahrnehmungs- und Erfahrungsrealität – mit Gernot Böhme: im Sinn eines Raumes der leiblichen Anwesenheit, mit Arnold Berleant: im Sinn eines engaged experienced environment – zu erfassen. Massen, Proportionen, Volumen verlieren hierdurch ihre allein immanent gedachte Wechselbezogenheit und werden zu Massen, Proportionen, Volumen in der Wahrnehmung und in der Wirkung auf die perzeptive menschliche Physis. Statt einen x-beliebigen Standpunkt einzunehmen, etwa den einer God's-eye-perspective, also einer Perspektive, die frei über den Dingen, i.e. den architektonischen Modellen und Plänen, schwebt, fordert eine aisthetische Sichtweise ein, Umwelten von einem konkreten, realen Standpunkt aus, welcher durch die Möglichkeiten der menschlichen Physis ein zwangsläufig limitierter ist, zu betrachten und zu konzipieren. Dies gilt auch für Aspekte wie Licht, Farben, Geräusche, Gerüche, Texturen. Auch diese dürfen, wie Gernot Böhme und Arnold Berleant in ihren differenzierenden Betrachtungen zu einer Phänomenologie des Lichts bzw. einer Taxonomie des Sounds zeigen, nicht allein als immanente Eigenschaften von Dingen, sondern müssen als aisthetisch erfahrene Wirkungen konzipiert werden, die in die (gebaute) menschliche Umwelt hineinwirken bzw. diese selbst erst mit-konstituieren. Der Vorteil einer aisthetischen Betrachtungsperspektive wird zudem hinsichtlich üblicherweise diskreditierter oder theoretisch nicht beachteter Wahrnehmungsphänomene deutlich. Denn Aspekte wie Atmosphären, räumliche Stimmungen, Bewegungsanmutungen, Aufforderungscharaktere, hodologische Wirkungen, synästhetische Effekte können allesamt nicht entweder allein der Seite des wahrnehmenden Menschen oder jener der wahrgenommenen Umwelt zugesprochen werden. Daher fallen sie in üblichen Beschreibungssystemen, etwa architekturtheoretischer oder soziologischer Art, in der Regel aus der Betrachtung heraus. Eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt trägt hingegen dazu bei, derartige Wirkmechanismen vom Stigma des ,rein Subjektivenʻ oder ,rein Psychischenʻ zu befreien; ebenso wie eine die Befindlichkeit modifizierende Wirkung von (gebauten) menschlichen Umwelten, in Form von Stimmungen oder Affekten 68 , theoretisch untersucht werde kann, ohne sie allein auf einer ,subjektiv-psychologischenʻ Eben anzusiedeln.69 67 Vgl. Einleitung. 68 Die Frage der affektiven Betroffenheit ist ein weites Feld, das im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingehender diskutiert werden kann. Würde es in dieser Untersuchung ausführlicher behandelt, so hätte dies unter der Überschrift ,Grenzen und Übergangszonen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umweltʻ in Kapitel 11 zu geschehen. Nicht menschliche Gefühle und Stimmungen ,per seʻ wären dabei zu thematisieren, sondern, im

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Nicht zuletzt ist es aber auch die Fülle an Detailaspekten, die ein „living environment“70 ausmachen, die im Rahmen einer aisthetischen Betrachtungsperspektive erst wirklich zur Geltung kommen. Denn ,urbane Räumeʻ bestehen eben nicht allein aus einem flachen Untergrund, einer tabula rasa, auf der einzelne architektonische Quader wie auf einem Spielbrett angeordnet werden, sowie aus ,sozialen Akteurenʻ, den Spielfiguren, die untereinander und zwischen den Quadern soziale Beziehungen weben. Vielmehr bestehen sie aus einem dichten Wahrnehmungs- und Wirkungsgeflecht, das auch Aspekte wie Straßen, Autos, Verkehrsmittel, Fußgänger, Tiere, Pflanzen, Parkbänke, Straßenlaternen (für weitere Details: siehe Gernot Böhmes und Arnold Berleants Schilderungen städtischer Szenarien 71 ) mit einschließt. Und an dieser schier unüberschaubaren Vielzahl von Konstituenten sind es wiederum nicht deren vermeintlich ,wesenhafte Merkmaleʻ, sondern es ist gerade eben das alltägliche, unscheinbare, ephemere, vermeintlich zufällige, nicht-geplante, das es in den Blick zu nehmen gilt: Seien es Witterungs- und Alterungsspuren, bemooste Dächer, ausgetretene Steinstufen, abgegriffene Türgriffe, Graffiti an Hauswänden, Müll auf den Straßen, charakteristische Beleuchtungs- und Wetterverhältnisse, typische Gerüche, hektische oder entspannte, dörfliche oder urbane, morgendliche oder nächtliche Atmosphären. Als dies sind Aspekte, die derzeit üblichen Beschreibungssystemen entgehen, während sie das alltägliche Erleben von Architekturen, Stadt, Natur, Landschaft – kurz: gebauten wie natürlichen menschlichen Umwelten – in der menschlichen Realität maßgeblich prägen.

5.4

AISTHESIS UND

G ESELLSCHAFT

[...] the city is experienced through a kind of bodily consciousness by people as thoughtful, perceiving organisms. Cultural and historical meanings fuse with the data of sensory awareness to form an almost liquid medium [...] a continuous medium of varying density in which people are but a single component among many. Buildings, streets, squares, parks, vehicles, sounds, textures, temperature, smells, humidity, wind, color – these are part of a long catalog of perceptual objects and qualities that join with the active human presence to constitute [a] living environment [...].72

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70 71 72

Anschluss an Gernot Böhme und Hermann Schmitz, trans-individuell erfahrbare Wirkungsweisen wahrgenommener Umwelten. Einen konzeptionellen Ansatzpunkt hierfür bietet, neben den genannten Autoren, der Gedanke der Eigenlogik (vgl. Kap. 11.2). Im Bereich der Künste leistete der Internationale Situationismus diesbezüglich bereits in den 1950er Jahren Vorarbeit. In diesem Kontext prägte er den Begriff der ,Psychogeografieʻ, womit eine Erforschung quasi-objektiver Wirkungen von städtischen Zonen auf das menschliche Erleben und Empfinden gemeint war. Als Methode hierzu diente das ,dériveʻ, als ein aktives, zielloses Umherwandern durch die Stadt. Siehe: Roberto Ohrt, Phantom Avantgarde (Hamburg: Verlag Lutz Schulenburg/Edition Nautilus: 1997). Zitat siehe Fn. 72. Vgl. Kap. 3 und Kap. 4. Zitat wurde aus zwei Passagen zusammengeführt. Vgl. Arnold Berleant, Cultivating an Urban Aesthetic; in: Arnold Berleant/Allen Carlson (Hrsg.), The Aesthetics of Human Environments; a.a.O., S.86 und S.90.

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Mit dem Gedanken, Umwelt und Mensch als interkonnektiv verbunden zu verstehen, taucht eine Frage auf, die Arnold Berleant bereits in den ersten Zeilen des oben gegebenen Zitats anspricht. Denn (gebaute) menschliche Umwelten bestehen nicht allein aus Straßen, Plätzen, Parks, Geräuschen, Farben, Texturen – sie schließen auch den Menschen mit ein, und dies keineswegs im Sinn eines vermeintlich neutralen Beobachters. Vielmehr kann, wie Berleant feststellt, aisthesis letztlich nicht isoliert werden vom Menschen als Menschen – und dies bedeutet auch: von kulturellen, historischen, gesellschaftlichen, sozialen, politischen Faktoren, die das menschliche Leben wie das menschliche Wahrnehmen mitbestimmen. Grenzen und Übergangszonen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt Anders als bei Gernot Böhme der Fall, bei dem Atmosphären zwar auch soziale Stimmungen transportieren können, der Mensch selbst, als Leib, aber gewissermaßen neutral bleibt, führt diese Einsicht bei Arnold Berleant dazu, dass dieser seine Vorstellung des Umweltwahrnehmens gegenüber der menschlichen Lebenswelt, in ihrer ganzen Vielschichtigkeit, öffnet. Freilich scheint ein derartiger konzeptioneller Schritt – denkt man beispielsweise die Möglichkeit einer individuell unterschiedlichen Sozialisation mit ein – interpersonell divergierenden Aspekten des Wahrnehmens Tür und Tor zu öffnen. (Ein gelb gestrichenes Haus, das von zwei Personen betrachtet wird, wird beiden wohl mehr oder weniger gelb erscheinen. Beziehe ich allerdings sozialisationsbedingte Faktoren mit ein, so kann es durchaus sein, dass eine Person das Gelb als ,fröhlich, erfrischendʻ, die andere es als ,schreiend, aggressivʻ wahrnimmt.) Statt diesen Umstand nun in üblicher philosophischer Manier als Problem zu erachten (und ihn entweder nach dem Motto ,Es kann nicht sein, was nicht sein darfʻ zu ignorieren, oder gerade umgekehrt pauschal zu folgern, dann sei eben alles, unser gesamtes Wahrnehmen, schlichtweg gesellschaftlich bestimmt), versteht ihn Arnold Berleant gerade im Gegenteil als Herausforderung im positiven Sinn. Schließlich sei zu konstatieren: „If we could extrapolate sensation from every cultural influence and consider it just as organic activity, in such a limited context its value [...] would be relatively modest.“73 Gerade der Umstand, dass wahrnehmungsgebundene Prozesse eben nicht allein auf eine ,rein sensorischeʻ Komponente zu reduzieren sind, sondern dass Prägungs- und Einflussfaktoren unterschiedlichster Art eine Rolle spielen, ist es also, der diese philosophisch interessant erscheinen lässt. Andererseits stellt sich die Frage, auf welche Weise, derartige Aspekte vom Standpunkt einer Aisthetik aus einbezogen werden können. Denn geht man in phänomenologisch motivierter Manier von der unmittelbaren Erfahrungsrealität des Menschen – und somit einer Erste-Person-Perspektive des Wahrnehmens – aus, so bringt das Einnehmen dieser Perspektive es auch mit sich, dass ein gleichzeitiges Zurückgehen hinter das eigene Erleben, welches selbst ja konstitutiv von kulturellen, historischen, sozialen, politischen Faktoren geprägt ist, nicht möglich ist.

73 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.42.

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Verbindung von aisthetischen und gesellschaftsbezogenen Fragestellungen Inwiefern im Rahmen einer transdisziplinär verfassten Aisthetik nicht allein eine Erste-Person-Perspektive eingenommen werden kann, sondern darüber hinaus Anschlussmöglichkeiten zu solchen Beschreibungssystemen bestehen, die eine DrittePerson-Perspektive zum Einsatz bringen (seien sie poststrukturalistischer, soziologischer oder ,naturwissenschaftlicherʻ Art), dazu mehr in Kapitel 11. An dieser Stelle wird zunächst eine verwandte, jedoch etwas anders gelagerte Frage zu diskutieren sein: Nämlich, inwiefern im aisthesis-Gedanken selbst Aspekte und Möglichkeiten liegen, die über ein vermeintlich ,rein subjektivesʻ Wahrnehmen hinausgehen. Diese Frage ist nicht zuletzt deshalb von Relevanz, weil sie mit der gesellschaftsbezogenen Dimension des aisthesis-Begriffs und somit einem vierten thematisch-konzeptionellen Verdichtungspunkt einer Aisthetik verknüpft ist. Zunächst, in diesem Kontext, zu zwei unterschiedlichen Möglichkeiten, wie aisthesis mit besagten Fragestellungen verbunden werden kann – oder richtiger: sich mit diesen verbunden zeigt. Die erste Möglichkeit lässt sich anhand von Gernot Böhmes Ausführungen aufzeigen – und zwar konkret, wenn dieser sich den ökonomischpolitischen Dimensionen seines Atmosphärenbegriffs zuwendet. So lasse sich, nach Böhme, gegenwärtig eine Zeittendenz ausmachen, die dem Ästhetischen – und dies bedeutet im Sinn der böhmeschen Neuen Ästhetik: dem Atmosphärischen – eine dominante Stellung zuweise, sei es in Gestalt einer sogenannten ,ästhetischen Ökonomieʻ, die eher schönen Schein als reale Gebrauchsgegenstände produziere74, oder in Form von (gebauten) menschlichen Umwelten, die primär auf ihre atmosphärische 74 „Ästhetische Ökonomie bezeichnet eine bestimmte Phase des entwickelten Kapitalismus. Diese kann in zweierlei Weise charakterisiert werden: 1. Ein Großteil der gesamtgesellschaftlichen Arbeit ist ästhetische Arbeit oder Inszenierungsarbeit [...] 2. Die produzierenden Werte sind in dieser Phase des entwickelten Kapitalismus in wachsendem Maße ästhetische Werte[...].“ Böhme bezieht sich mit seiner Diagnose einer Ästhetischen Ökonomie auf Wolfgang Fritz Haug, der in den 1970er Jahren im Anschluss an die marxsche Unterscheidung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert feststellte, dass der scheinhaft aufgeladene Tauschwert eines Gutes mittlerweile begonnen habe einen eigentlichen Gebrauchswert zu dominieren: „Schein wird für den Vollzug des Kaufakts so wichtig – und faktisch wichtiger – als Sein. Was nur etwas ist, aber nicht nach ,Seinʻ aussieht, wird nicht gekauft. Was etwas zu sein scheint, wird wohl gekauft.“ Böhme baut insofern auf Marx, wie auf Haug auf, als er feststellt, dass der ,ästhetische Wertʻ zu einer Art neuem und eigenständigen Gebrauchswert geworden sei. Und dies nicht nur in traditionellen ästhetisch-ökonomischen Bereichen, wie der Mode, sondern hinsichtlich aller überhaupt möglicher Produkte. Denn weder, so Böhme weiter, gehe es heute noch primär darum, ein für eine bestimmte Funktion bestimmtes Produkt zu erwerben, noch, die Ästhetik als Lockmittel für ein solches einzusetzen, sondern: Das Design, das Image sei selbst zum Produkt geworden. Dieses werde von den Konsumenten eingesetzt, sei es in Form der Selbstinszenierung, der Imagebildung, oder als Statussymbol. Nach Böhme ist die (Selbst-)Inszenierung also zu einem neuen Typus von Kapital, einem ,ästhetischen Kapitalʻ, wie man in Anlehnung an Pierre Bourdieu sagen könnte, geworden. Zitat: Wolfgang F. Haug, Kritik der Warenästhetik (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009) S.29; Gernot Böhme zum kritischen Potential des Atmosphärenbegriffs/zur ästhetischen Ökonomie: Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.39-65.

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Wirkung hin konzipiert würden. „Wir leben in einem neuen Barock“, bringt Gernot Böhme seine Reflexionen über den Zusammenhang von Gesellschaft und Atmosphäre auf den Punkt.75 Auch seine Ausführungen zur Aisthetik als allgemeiner Wahrnehmungslehre münden in der (in diesem konkreten Zusammenhang durchaus aufschlussreichen, allein im Sinn eines erkenntnistheoretischen Arguments verhängnisvollen) Diagnose, dass ein Auseinanderklaffen in eine Seite des real Gegebenen und eine solche des inszenierten Scheins, des Atmosphärischen, des Oberflächlichen, hinsichtlich unterschiedlichster gesellschaftlicher Dimensionen zu beobachten sei. Gernot Böhme hierzu: [...] die Differenzierung von Realität und Wirklichkeit entspricht [...] dem gegenwärtigen Zustand unseres gesellschaftlichen Seins, nämlich der ästhetischen Ökonomie und einer ästhetischen Politik. Bei dieser Unterscheidung [... ] geht es [...] darum, dass dieser Unterschied längst gemacht ist oder, besser gesagt, dass er gar nicht gemacht wurde, sondern dass wir ihn als Riss, als Kluft und Distanz erleiden. [...] In der Ökonomie bedeutet das das Auftauchen eines Wertes eigener Art, eines Wertes, der gegenüber dem Gebrauchswert und dem Tauschwert von Waren zu unterscheiden ist. Es ist der Inszenierungswert von Waren [...]. Für den Bereich der Politik und den Bezug zur Realität überhaupt ist der Grund für die Verselbstständigung der Wirklichkeit gegenüber der Realität wohl in den Medien zu suchen [, denn die – Einfügung B.H.] Beherrschung der Medien hat dazu geführt, dass beständig Wirklichkeit ohne Realität produziert wird [...].76

Überlegungen zu Atmosphären erlauben, wie der Autor obiger Passage zwar nur punktuell, dafür wenn, dann umso expliziter deutlich macht, also durchaus Rückschlüsse auf gesellschaftsbezogene Fragestellungen.77 Von diesen konkreten Überle75 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.7-18. 76 Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.161. 77 Die oben diagnostizierte Notwendigkeit einer konzeptionellen Trennung von allgemeiner Wahrnehmungstheorie und Atmosphärenbegriff könnte auch an diesem Punkt nur von Vorteil für den böhmeschen Ansatz selbst sein. Denn nur durch eine Trennung könnte ja überhaupt eine kritische Distanz festgestellt werden, die es erlaubt, zwischen unterschiedlichen Formen von Politik – bspw. einer effektiv-tätigen und einer rein medial-inszenierten Politik – innerhalb der einen Realität, in der wir leben, zu unterscheiden; während im Sinn der Atmosphärentheorie des Wahrnehmens jeder Weltvollzug zwangsläufig scheinhafte, atmosphärische Züge innerhalb einer Wirklichkeit an sich trüge, die vermeintlich nicht der Realität entspricht, wodurch die Möglichkeit einer kritischen Binnendifferenzierung zu Gunsten einer fundamentalen Trennung in unterschiedliche Wirklichkeitssphären (respektive ,Wirklichkeitʻ und ,Realitätʻ), aufgegeben wird. Dieser Umstand lässt sich gut am Beispiel der Architektur verdeutlichen. Versteht man Atmosphäre als etwas, das sich als ,grundlegenderʻ und ,allgemeinerʻ Wahrnehmungsmodus immer und zwangsläufig ereignet – und somit: gleich ob angesichts einer Landschaft, eines Einkaufszentrums, einer gotischen Kirche, einer Architektur des NS-Regimes, eines kleinbürgerlichen Interieurs etc. –, so geht hier jeder Punkt der Binnendifferenz verloren. (Alle arbeiten innerhalb einer ,Wirklichkeitʻ, die vermeintlich nichts mit der ,Realitätʻ zu tun hat, in der einen oder anderen Form automatisch mit Atmosphären.) Versteht man Atmosphäre hingegen als etwas, das gerade nicht selbstverständlich und ubiquitär vorhanden ist, sondern das eigens und oft

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gungen Gernot Böhmes, nun aber zurück zu der Problematik, wie das Herstellen einer Verbindung zu Fragestellungen, die die Gesellschaft, deren soziale, politische und ökonomische Ordnung betreffen, vom Standpunkt einer Aisthetik aus prinzipiell vorstellbar ist. Als erste Möglichkeit kann, mit Gernot Böhme, in diesem Zusammenhang eine externe Art der Bezugnahme konstatiert werden. Einer Aisthetik kommt dabei die Aufgabe zu, einen bestimmten Sachverhalt, der das aisthetische Erfahren betrifft, als solchen sachlich-neutral herauszuarbeiten (am konkreten Beispiel: etwa die aktuelle Bedeutung atmosphärischer, scheinhafter Wirkungen bei der Gestaltung von Gebäuden, Produkten, Politik). Eine normative Beurteilung oder kritische Einschätzung dieses Sachverhaltes erfolgt sodann, in einem zweiten Schritt, von einem äußerlichen politiktheoretischen, gesellschaftstheoretischen oder allgemein ethischen Standpunkt aus. (Denkt man an Böhmes Begriff der ,ästhetischen Ökonomieʻ: Bei dieser handelt es sich zunächst einmal um eine sachlich-neutrale Zustandsbeschreibung. Das verstärkte Auftreten atmosphärischer Wirkungen, politischer oder ökonomischer Inszenierungen, ist in diesem Sinn als gegebenes Faktum zu konstatieren. Negativ beurteilt werden kann dieser Zustand hingegen erst, so man einen weiteren, einen externen Standpunkt hinzuzieht, wie im Fall Böhmes: einen kapitalismuskritischen.) Nun zur zweiten Möglichkeit: Auch diese findet sich bei Gernot Böhme angelegt, und zwar, wenn dieser die ökologische Problematik nicht allein im Hinblick auf negative Effekte für Flora und Fauna, sondern im Hinblick auf das menschliche Wohlbefinden thematisiert wissen möchte. Ähnlich lassen sich Wolfgang Welschs Ausführungen lesen, wenn dieser seinerseits die Anästhesierung – also die Abstumpfung der Sinne durch ästhetische Überstimulation – als allgemeines gesellschaftliches Problem kennzeichnet (vgl. Kapitel 2.2). In beiden Fällen liegt ein Beurteilungskriterium, und dies ist der entscheidende Punkt, nicht außerhalb, jenseits des Bereichs des Aisthetischen, sondern innerhalb dessen – konkret: im Umstand einer wahrnehmungsinduzierten Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit sowie des menschlichen Wahrnehmungsvermögens als solchem). Trans-individuelle Aspekte von aisthesis Wie ist diese zweite immanente Möglichkeit nicht allein zu benennen, sondern philosophisch zu konzipieren? Mit dieser Frage setzt sich insbesondere Arnold Berleant auseinander. Dabei diskutiert der Theoretiker nicht nur Beispiele, die von vornherein einen klar ersichtlichen aisthetischen (respektive ästhetischen 78 ) Gehalt besitzen, mit aufwändigen Mitteln hergestellt werden muss (so, wie Böhme selbst es angesichts des Theaters/Bühnenbildes herausstellt), so verfügte der böhmesche Ansatz durchaus über ein Instrument, das dazu in der Lage wäre, ein Spezifikum eines Ortes (dieser Ort wirkt atmosphärisch, der andere nicht) oder eines Zeitalters (etwa des Barock oder der aktuellen Entwicklungsphase bestimmter kapitalistischer Gesellschaften im Gegensatz zu solchen Gesellschaften/Zeitphasen, in denen das Arbeiten mit Atmosphären keine Rolle spielt) zu diagnostizieren. 78 Wie dargestellt ist Berleants Gebrauch der Begriffe ,aisthetischʻ und ,ästhetischʻ nicht immer trennscharf – eine ansatzimmanente Differenzierung somit letztlich nicht eindeutig. Hier und im Weiteren wird allein der Begriff ,aisthetischʻ verwendet, auch wenn Berleant selbst von ,ästhetischʻ spricht.

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sondern er wendet sich auch solchen Beispielen zu, die auf den ersten Blick keine aisthetischen Implikationen zu erkennen geben. Als drastisches Exempel wählt er in diesem Kontext das von Terroranschlägen (wie den Anschlag auf das World Trade Center in New York 2001). Wichtig sind in Berleants Analyse zwei Gedanken. Erstens: Auch wenn ein Sachverhalt maßgeblich durch nicht-aisthetische Aspekte geprägt ist, so muss eine Betrachtung dennoch umfassend sein und stets auch nach möglichen aisthetischen Implikationen fahnden (sei es, dass Opfer von Terroranschlägen auf physische, somit sensorisch-kognitive Weise unmittelbar betroffen sind oder dass ein Terroranschlag ,aisthetische Synergieeffekteʻ mit sich bringt. Im Fall der Attacke vom 11. September 2001: Die visuelle Wucht und Faszination der Bilder, die bei Gegnern wie bei möglichen Befürwortern des Anschlags eine effektive Wirkung zu erzielen vermögen). Zweitens: Die Feststellung, dass bezüglich des identifizierten aisthetischen Gehaltes eine weiterführende, differenzierende Analyse und Abwägung unterschiedlicher Gesichtspunkte vonnöten ist. (Ein Terroranschlag mag einerseits, hinsichtlich bestimmter Aspekte, als visuell kraftvoll, faszinierend, ja möglicherweise gar als erhaben oder schön beschrieben werden.79 Dennoch überwiegen, so Berleant, letztlich die negativen Wirkungen, welche sich auf Seiten der unmittelbar und mittelbar aisthetisch Betroffenen einstellen. Der wichtige, zu beachtende Punkt dabei ist: Nur weil ein Aspekt überwiegt, bedeutet dies – gerade aus theoretisch-reflektierter Sicht – jedoch nicht, dass der andere Aspekt schlichtweg nicht existent wäre und keiner kritischen Reflexion bedürfte. 80 ) Berleants TerrorismusBeispiel vermag, gerade da es sich um ein extremes Exempel handelt, dessen aisthetischen Implikationen nicht auf Anhieb offensichtlich sind, gut deutlich zu machen, inwiefern eben diese zu beachten wichtig ist und eine Thematisierung nicht etwa zu einer Verharmlosung, sondern im Gegenteil zu einer präziseren Analyse – somit einer differenzierteren, adäquateren Problemdiagnose beizutragen vermag. Sicherlich wäre eine vergleichbare Diskussion auch anhand unscheinbarerer, alltäglicher Beispiele möglich, wie gesellschaftliche Debatten um die Aufstellung von Windkraftanlagen, um die Errichtung von Industrieparks, um Naturschutzprojekte, Stadterneuerungskonzepte, Infrastrukturmaßnahmen zeigen. Denn bei allen genannten Beispielen 79 Arnold Berleant zitiert in diesem Kontext den Komponisten Karlheinz Stockhausen und den Bildenden Künstler Damien Hirst, die den Anschlag im Sinn eines realen Happenings als „greatest art work ever“ und die zugehörigen filmischen Dokumente als „visually stunning“ beschrieben hatten. Siehe: Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.179; zum möglichen Zusammenhang von Ästhetik/Aisthetik und Schrecken/Gewalt, siehe auch: Katya Mandoki, Everyday Aesthetics; a.a.O., S.37-42. 80 Arnold Berleant selbst hierzu: „Since aesthetic centers on direct sensory perception, it is clear that acts of terrorism have powerful aesthetic force. All those who experience the effects of terrorism – its chance victims, their relatives and associates, the organizations and institutions that are damaged, the general public, the social order – all can attest to its aesthetic impact. [...] Is a spectacular terrorist act aesthetically negative or positive? It must be considered positive because of its dramatic force. If, however, fear and terror overpower perceptual experience, not only in its unwilling 'participants' but also in its larger 'audience', so that they fell in actual danger, a terrorist act exceeds the possibility of rewarding aesthetic experience and so is aesthetically negative.“ Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.184, S.186.

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wird nur allzu leicht und undifferenziert ,Nutzenʻ, sei er ökonomischer, ökologischer, infrastruktureller Art, gegen aisthetische Belange ausgespielt. Von konzeptioneller Seite her gesehen stellt sich nun aber die Frage, inwiefern mittels der Diskussion aisthetischer Implikationen von gesellschaftlichen Fragestellungen tatsächlich eine nicht allein individuelle Ebene berührt wird. Denn schließlich: Erscheint nicht der Gedanke, Bilder von Terroranschlägen als ,visuell kraftvollʻ oder gar ,erhabenʻ wahrzunehmen, durchaus subjektiver Natur? Was Arnold Berleant betrifft, so gibt dieser keine einfache Antwort. Aber er weist auf unterschiedliche Aspekte hin, hinsichtlich derer das menschliche Wahrnehmen nicht allein als ,subjektivʻ, und somit prinzipiell inter-individuell divergierend, abgetan werden kann. Zunächst gilt es in diesem Kontext an Berleants allgemeine Ausführungen zum Ästhetischen, im Sinn von aisthesis – respektive einer perceptual apprehension –, zurück zu denken (vgl. Kapitel 4.3). Führt man sich das Spannungsgefüge traditioneller Dualismen vor Augen, innerhalb dessen – oder richtiger: in Absetzung von dem – Berleant sein Verständnis entwirft, dann ist ,perceptual apprehensionʻ, bzw. ,aisthesisʻ, weder auf physiologische noch auf psychische Faktoren zu reduzieren. Stattdessen erachtet Berleant den Dualismus als solchen für hinfällig. Das Gleiche gilt für den Begriff des ,Subjektivenʻ. Auch dieser stellt für Arnold Berleant eine überkommene philosophische Denktradition, wenn auch einen „storm anchor of the western philosophical tradition“ dar, der sich als „misleading“ erweise, da er selbst eher eine „presumption“, eine nicht weiter begründete Vorannahme, eine arbiträre Setzung, denn eine real gegebene „priority“ verkörpere.81 Nicht einfach als ,psychischʻ oder ,subjektivʻ zu bezeichnen sind Wahrnehmungserfahrungen mit Arnold Berleant also schon allein deshalb, weil die Begriffe, die derartige Vorstellungen heraufbeschwören, sich als problematisch erweisen. Hinsichtlich der Frage des trans-individuellen Charakters gilt es aber noch weitere Punkte einzudenken. So ist Wahrnehmen mit Berleant maßgeblich „a bodily event“. Das heißt, auch wenn das Machen von aisthetischen Erfahrungen (abhängig von einer jeweils unterschiedlichen Sozialisation oder Lebenswelt) inter-individuell divergieren mag, so ändert dies doch nichts an dem Umstand, dass die perzeptive menschliche Physis konstitutiv an Wahrnehmungsprozessen beteiligt ist – und dies bei allen Menschen gleichermaßen. Dieser Umstand limitiert das mögliche Spektrum einer Divergenz. Und er macht die verbindende Basis der menschlichen Physis deutlich (nicht im Sinn eines ,natürlichen Körpersʻ, aber im Sinn einer konstitutiv, innerhalb bestimmter physiologischer Grenzen sozialisierten Physis82). Auch die Sozialisation des Wahrnehmens selbst zeitigt nicht allein trennende Effekte. Denkt man an die von Berleant diskutierten qualitativ-normativen Aspekte des Wahrnehmens, also bspw. an Begriffe wie ,schönʻ, ,erhabenʻ, ,gemütlichʻ, ,erotischʻ, ,kitschigʻ, so sind auch diese nicht einfach auf ,rein subjektiveʻ Erlebnisse zurückzuführen. Vielmehr wohnt ihnen ein inter-individuell verbindendes Element inne, da es sich bei derartigen Begriffen immer auch um gesellschaftlich-kulturelle Konventionen handelt, die innerhalb einer bestimmten Gruppe gelten, welche über entsprechende Begriffe verfügt. (Ich kann etwas nur dann als ,gemütlichʻ, ,erotischʻ, ,kitschigʻ erfahren, wenn ich auf Grund meiner Sozialisation gelernt habe, mit den Konzepten ,Gemütlichkeitʻ, 81 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.210 und 214. 82 Zum Gedanken der ,Eigenlogikʻ und zu , (Formungs-)Spektrenʻ siehe Kap. 11.2.

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,Erotikʻ, ,Kitschʻ etwas anzufangen. Sind mir diese Konzepte nicht vertraut, so mag ich durchaus etwas Ähnliches, sicherlich jedoch nicht eben genau das, was sich mit den spezifischen Ausdrücken verbindet, erfahren. Andererseits: Bin ich mit diesen Konzepten vertraut, so schafft dies auch ein verbindendes Moment für mögliche, zu machende Erfahrungen. Und selbst wenn ich nur etwas Ähnliches erfahre, so liegt zwar eine Differenz, aber keineswegs zwangsläufig ein ,fundamentaler Unterschiedʻ, eine „division“, wie man mit Arnold Berleant sagen könnte, vor.) Aus den diversen Ausführungen Arnold Berleants zu trans-individuellen Aspekten des Wahrnehmens lässt sich zusammenfassend eine Schlussfolgerung ziehen, die hier als ,Unumkehrbarkeitstheseʻ bezeichnet werden soll. Auf einen Nenner gebracht lautet diese wie folgt: Zwar kann aus den unterschiedlichen Konstituenten, auf denen aisthetisches Erfahren beruht, nicht ein für alle Individuen verbindlicher Schluss gezogen werden – etwa derart: Alle Menschen sind physisch verfasst → also haben auch alle Menschen eine bestimmte Umweltwirkung auf die eine, identische Art und Weise zu erfahren (zum Beispiel ein gelb gestrichenes Haus als ,fröhlich, erfrischendʻ wahrzunehmen); wohl aber kann eine Umwelterfahrung, so, wie sie gemacht wird, auf unterschiedliche trans-individuelle Konstituenten zurückgeführt und untersucht werden. Sprich: Wenn ich eine bestimmte Umweltwirkung auf die und die Weise erfahre (also wenn ich ein gelb gestrichenes Haus als ,fröhlich, erfrischendʻ wahrnehme), so ist dieser Umstand maßgeblich zurückzuführen → auf meine perzeptive Physis, die es mir ermöglicht, die Farbwahrnehmung eines gelben Hauses zu machen; → auf die spezifische Wirkung, die von einer wahrgenommen Umwelt ausgeht; → aber eben auch auf meine Sprache, in der der Farbbegriff ,gelbʻ vorkommt; → auf meine Sozialisation, die mich das Konzept des ,fröhlich-erfrischenden Gelbsʻ gelehrt hat; → auf eine allgemeine gesellschaftlich-politische Lage, die die Bedingung dafür liefert, dass Häuser unterschiedlich farbig (und nicht etwa allesamt graubraun) angestrichen werden können. Es gilt also, möglichst differenziert zu analysieren, was zu einer konkreten Wahrnehmung potentiell alles beitragen mag. Eine simple Reduktion auf einen einzelnen Aspekt griffe hingegen zu kurz.83 Perceptual Commons Was ist mit dieser Unumkehrbarkeitsthese gewonnen? Denn allgemeine Grundprinzipien für trans-individuelle ästhetische Urteile, wie sie etwa Kant zu finden sucht, lassen sich aus dieser ja gerade eben nicht deduzieren. Bei Arnold Berleant finden sich gleich zwei beachtenswerte Gedanken, die sich mit dieser These in produktive Verbindung bringen lassen: Zunächst einmal jener der so bezeichneten ,perceptual commonsʻ. Der englische Ausdruck ,commonʻ meint in etwa so viel wie im Deut-

83 Etwa derart: Gelb-Wahrnehmen ist allein ein Effekt der Sprache, die mich unterschiedliche Farbbegriffe gelehrt hat, oder der Sozialisation, die innerhalb eines unhintergehbaren Dispositivs ,gelbʻ als soziale Tatsache kreiert – Vorstellungen also, die von bestimmten philosophischen und soziologischen Ansätzen, bzw. Auslegungen derselben, in der Tat vertreten werden. Inwiefern hingegen nicht Oppositionen zwischen unterschiedlichen Aspekten – und damit verbunden unterschiedlichen (phänomenologischen, poststrukturalistischen, sprachphilosophischen u.a.) Theorieansätzen –, sondern gerade eben Zusammenhänge und Übergänge von Bedeutung sein könnten und Beachtung erfahren sollten, siehe Kap. 11.

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schen der Ausdruck ,gemeinʻ (in ,Gemeinplatzʻ oder ,Gemeinwesenʻ84). Er bezeichnet etwas, das einerseits jenseits des Individuellen, des Privaten liegt, das andererseits aber auch nicht mit ,kollektivʻ oder ,öffentlichʻ im herkömmlichen Sinn gleichgesetzt werden kann. Common, im Sinn Berleants, sind beispielsweise die Luft oder das Wasser, als Voraussetzungen menschlichen Lebens, derer der Mensch – und zwar jeder einzelne Mensch – bedarf, die gleichzeitig aber auch allen anderen Menschen auf die gleiche Weise zur Verfügung stehen müssen. ,Öffentlichʻ oder ,kollektivʻ ist dasjenige, was common ist, also insofern nicht, als sich mit jenen Begriffen verbindet, dass etwas dem Einzelnen gerade nicht zugehört. Das, was common ist, gehört aber durchaus jedem einzelnen Menschen zu, nur mit dem Unterschied, dass es dabei keine private Aneignung erfährt – bzw. eine private Aneignung, aber eben durch jeden einzelnen Menschen gleichermaßen. Der Bereich der perceptual commons wird für Arnold Berleant durch all dasjenige gebildet, was im beschriebenen Sinn common, also gemein, ist und mittels eines aisthetisch verfassten Wahrnehmens erfahren werden kann. Mögliche Ableitungen im Hinblick auf die (gebaute) menschliche Umwelt ergeben sich dabei in unterschiedliche Richtungen: Sie betreffen Luft und Wasser, die Geräuschkulisse einer Stadt, die Verteilung des Grund und Bodens, die Verfügbarkeit von Wegen, Straßen, Verkehrsmitteln, die Gestaltung von Plätzen, Parks, Häuserzeilen, einzelnen Fassaden oder der Stadtsilhouette als Ganzes. All dies sind Bereiche, die für Berleant zum Gemeingut der commons gehören, welche es im Sinn einer Verträglichkeit für alle zu gestalten gilt. (Die Fassadengestaltung eines Wolkenkratzers betrifft in diesem Sinn also nicht allein den Konzern, der ihn errichtet. Denn mag dieser über die finanziellen Mittel verfügen, um sich Grundstück und Baumaterial privat anzueignen, die wahrnehmbare Wirkung des Gebäudes kann indes nicht privatisiert werden. Sie bleibt common, da jede einzelne Person diese gleichermaßen wahrnimmt.) In konzeptioneller Hinsicht ist es dabei wichtig, sich noch einmal – im Sinn obiger Unumkehrbarkeitsthese – vor Augen zu führen, dass die perceptual commons nicht etwa bezeichnen, was von unterschiedlichen Individuen identisch erfahren wird. Aber sie bezeichnen dasjenige, was überhaupt von allen erfahren werden kann und muss. Oder, wie Arnold Berleant selbst sagt, die perceptual commons bilden: „the most inclusive environmental condition of human life“85, oder kurz „a reservoir“ – mit folgender Präzisierung: „except that it is not a reserve but the very substance of experience“.86

84 Wichtig ist es, Berleants Ausdruck, trotz begrifflicher Ähnlichkeit, von Kants „sensus communis“ zu unterscheiden. Zwar gibt es für Berleant eine ,Gemeinsphäreʻ, nicht aber so etwas wie einen ,Gemeinsinnʻ. „Kant's appeal to a sensus communis elevates a hypothetical construction to axiomatic status that is dictated by the necessity for universality [...] in fact, [...] there is no [...] sensus communis“. Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.203 und S.214. 85 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.209. 86 An dieser Stelle wird auch noch einmal die Verbindung einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zur Ökologie deutlich. Eine Verbindung, die insbesondere Gernot Böhme betont, wenn er herausstellt, dass Ökologie nicht im Sinn eines Selbstzwecks verstanden werden dürfe, da mittels menschlicher Umweltschutzmaßnahmen letztlich viel-

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Polis als Gemeinschaft des Sinnlichen Berleants zweiter Gedanke schließt an jenen der perceptual commons an und verbindet diesen mit seinen Ausführungen zur aesthetic (urban) ecology, also zur Stadt als ästhetisch-ökologischer Einheit. Wie in Kapitel 4 dargestellt, schlägt Berleant vor, die Stadt nach dem Vorbild des biologischen Ökosystems zu konzeptionieren. Im Gegensatz zum Begriff des Ökosystems, der für Berleant eine rein gedanklich konzeptionelle Vorstellung ist, handelt es sich bei der aesthetic urban ecology jedoch um ein „ecological model of perceptual experience“87 – um ein Modell also, dass die Stadt in ihrer aisthetischen Erfahrbarkeit zum Gegenstand hat. Der Ausdruck ,Stadtʻ kann dabei, wie Berleant weiter ausführt – und es ist diese Koppelung, die erst wirklich eine Brücke zur gesellschaftlich-politischen Dimension schlägt –, auf zweierlei Weise interpretiert werden: Einerseits stellvertretend für die diversen Möglichkeiten konkreter (gebauter) menschlicher Umwelten (Städte, Siedlungen, Dörfer etc.); andererseits für den Gedanken der Polis, im Sinn eines gesellschaftlich-politischen Gemeinwesens.88 Eine Zusammenführung des Gedankens der aesthetic urban ecology mit jenem der Polis hat die konzeptionelle Folge, dass auch ein solches Gemeinwesen maßgeblich hinsichtlich aisthesis-bezogener Fragestellungen betrachtet werden muss. Oder, wie man in Anlehnung an Jacques Rancière sagen könnte, den Berleant in diesem Kontext diskutiert89: Die Polis lässt sich als eine Art (potentielle) Gemeinschaft des Sinnlichen beschreiben. Im Unterschied zu Rancière hebt Arnold Berleant allerdings weniger die trennenden, als vielmehr die verbindenden Momente einer solchen Gemeinschaft des Sinnlichen hervor. Zwar sei es in der theoretischen Reflemehr der Mensch in seiner Leiblichkeit, als ,die Naturʻ geschützt werde. (vgl. Kap. 3). Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.210. 87 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.120. 88 Berleant meint hiermit keine naive Idealisierung der einstmals real existenten griechischen Stadtstaaten, die einen Großteil der Einwohner (Frauen, Kinder, Sklaven, Ortsfremde) von der politischen Beteiligung ausschlossen; eher versteht er den ,Polisʻ-Begriff im Sinn einer Modellvorstellung mit konkretem historischen Hintergrund. In diesem Sinn äußert er sich zur Polis wie folgt: „[...] we discern [...] the polis as the model of aesthetic polity [...] it [is] still useful as an ideal of human community, for with all its historical limitations and failings, the polis was, for a brief time, actual [...]. Much of its appeal lies in the fact that the polis joined community with law and participatory, self-determining socio-political processes in which there was no alienation of citizen and state.“ Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.220. 89 Wobei angemerkt werden muss, dass Berleant und Rancière ein unterschiedliches Verständnis des ,Polisʻ-Begriffs an den Tag legen: Während für Berleant dieser potentiell jeden Menschen (als Einwohner der Polis) einschließt, versteht Rancière unter ,Polisʻ gerade im Gegenteil ein exklusives, ausschließendes System, wie Joseph J. Tanke in der folgenden Passage mit Badiou ausführt: „[...] as Alain Badiou has noted [...] what Rancière calls 'the police' [is] a play on the Greek word polis. It designates those distributions erected in order to support selective accountings of the city. The police maintains [...] the polis as unified and whole [whereas true – Einfügung B.H.] politics consists of contesting the very definition of community [and] by resisting the attempt of the few to apportion for themselves the rights to direct the community.“ Joseph J. Tanke, Jacques Rancière – An Introduction: Philosophy, Politics, Aesthetics (London: Continuum, 2011) S.43ff.

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xion durchaus wichtig, Differenzen (und somit, wie man angesichts der gesellschaftspolitischen Dimensionen des Polis-Begriffs hinzufügen könnte, die Möglichkeit von gesellschaftlichem oder politischem Dissens) bewusst zu machen. Auch klagt Berleant selbst die ,co-optationʻ, also die Aneignung von perceptual commons durch spezifische Interessengruppen zum Zweck der politischen, wirtschaftlichen, industriellen, militärischen Ausbeutung an.90 Allerdings dürften Konflikte und Differenzen für Berleant nicht im Sinn eines Selbstzwecks verabsolutiert werden. Vielmehr gelte es, auch das potentielle Ziel, die Vision, der man entgegenstrebt, im Auge zu behalten: It is revealing to consider how we might understand the human world from an ontology of continuity instead of division, separation, and opposition. Indeed, [...] from the standpoint of perceptual experience, continuity is its [the perceptual commons' – Einfügung B.H.] most salient characteristic. [...] it would be fascinating to sketch the outlines of a human civilization based on the recognition of the continuities that draw things together [instead of construing – Einfügung B.H.] social relations based on opposition.91

Diese Aussage Berleants sollte nicht im Sinn eines oberflächlichen weltanschaulichen Harmonisierungsstrebens gelesen werden. Worauf Berleant abzielt, ist vielmehr der Umstand, dass, gerade von einem aisthetischen Standpunkt aus betrachtet, Differenzen („differences“) nicht mit Unterschieden (im Sinn von „division, separation, and opposition“) verwechselt werden sollten. Zwar sind inter-individuelle Abweichungen, auch was eine wahrnehmungsbezogene Ebene betrifft, durchaus zu beobachten und als solche anzuerkennen, allerdings müssen diese Abweichungen nicht als derart fundamental aufgefasst werden, dass sie per se unüberbrückbar wären und keinen Austausch oder Dialog erlauben würden. Berleants ecological model of perceptual experience legt in diesem Sinn nicht nahe, dass alle Menschen innerhalb einer harmonisierten und homogenisierten Welt respektive Stadt leben sollten; aber es kann derart interpretiert werden, dass im Sinn einer Biodiversität (die nicht den Gedanken eines survival of the fittest, sondern im Gegenteil Artenreichtum und Vielfalt betont) Pluralität bei gleichzeitigem Austausch möglich ist. Der Weg hierzu führt für Arnold Berleant nicht über private oder gruppenspezifische Aneignungsstrategien, sondern im Gegenteil über perceptual commons, deren Anerkennung als solche, und deren Stärkung.

5.5 AISTHETIK

UND

K ÜNSTE

Gesellschaftsbezogene Fragestellungen stellen einen komplexen thematischkonzeptionellen Verdichtungspunkt einer Aisthetik dar, da sie sich sowohl äußerlich wie immanent verorten lassen. In beiderlei Hinsicht kann die Aisthetik wichtige 90 „We cannot help but be affected by the brash and exploitative appropriations of this commons in the political, military, industrial, and commercial co-optations of the perceptual conditions of human life.“ Arnold Berleant, Aesthetics Beyond the Arts (Aldershot: Ashgate, 2012) S.188. 91 Arnold Berleant, Aesthetics Beyond the Arts; a.a.O., S.211.

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Arbeit leisten: Sie kann aisthetische Analysen liefern, die sodann eine weiterführende Kontextualisierung und kritische Einschätzung unter Einbeziehung externer Standpunkte erfahren (bspw. ethischer oder kapitalismuskritischer Art; siehe Gernot Böhme). Oder sie kann mittels einer Analyse trans-individueller Aspekte immanente Beziehungen zwischen aisthesis und dem Bereich des Gesellschaftlichen offenlegen und hieraus, von innen her, gesellschaftsbezogene Theorieansätze entfalten (siehe Arnold Berleant). Überlegungen zu perceptual commons oder zur Polis als Gemeinschaft des Sinnlichen bilden in dieser Hinsicht erste wichtige Schritt. Oder, wie Arnold Berleant sagt: „I believe there is much to be discovered here.“92 Abschließend, nun zu einem Bereich, der ab dem folgenden Kapitel im Zentrum der Betrachtung stehen wird – wenn auch von einer anderen als einer philosophischen Warte aus: nämlich zur Frage nach der möglichen Rolle der Künste im Kontext einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt. Diese Frage bereits an diesem Punkt der Untersuchung in die Betrachtung einzubeziehen mag überraschen, stellen doch die Künste im Sinn eines möglichen Themas einer Aisthetik keineswegs einen Kernbereich, sondern allenfalls ein Randphänomen, und von der Warte einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt schlichtweg gar kein relevantes Thema dar. Aus diesem Grund wenden sich auch die beiden in den vorausgehenden Kapiteln behandelten Autoren den Künsten im Sinn eines thematischen Anwendungsgebietes nur bedingt zu.93 Künste als ästhetische Arbeit Einen Verdichtungspunkt im Sinn der vorgenannten Aspekte stellen die Künste also nicht dar. Relevant sind Reflexionen, wie sie Arnold Berleant und Gernot Böhme zu den Künsten anstellen aber in anderer Hinsicht. Denn ,Kunstʻ, oder richtiger: unterschiedliche künstlerische Praktiken werden bei diesen nicht primär als etwas behandelt, dem sich die philosophische Reflexion – im Sinn einer traditionellen Philosophie der Kunst – als einem Thema zuwenden sollte; sondern die Künste erscheinen als ein Bereich von Interesse, der sich selbst mit aisthetischen Fragestellungen auseinandersetzt. Und in dieser Hinsicht ist von den Künsten sogar ein erkenntnistheoretischer – oder, wie man im Sinn einer Aisthetik ebenso gerechtfertigt sagen könnte: ein erkenntnispraktischer – Vorsprung gegenüber der philosophischen Theoriebildung zu erwarten. Wessen die Künste, vom Standpunkt einer Aisthetik aus, bedürfen, ist also keine äußerliche Explikation oder philosophische Fundamentierung, sondern sie selbst verfügen über Erkenntnisse – und das in einem Bereich, der der philosophischen Ästhetik, nicht zuletzt auf Grund ihrer Jahrhunderte überspannenden selbst ge92 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.219. 93 Gernot Böhme diskutiert in diesem Kontext die Frage, ob sein Begriff der ,Atmosphäreʻ sich angesichts moderner Kunst nicht als besonders adäquat erweisen könnte. Arnold Berleant reflektiert seinerseits darüber, wie die von ihm mitgeprägten Begriffe des ,engagementʻ und der ,engaged experienceʻ für zeitgenössische Kunst im Allgemeinen und angesichts neuer Kunstpraktiken – wie der Performancekunst – im Besonderen nutzbar gemacht werden könnten. Siehe etwa: Arnold Berleant, Art and Engagement; a.a.O.; Arnold Berleant, The Museum of Art as a Participatory Environment; in: ders., The Aesthetics of Environment (Philadelphia: Temple University Press, 1992); Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.22-25.

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wählten thematisch-konzeptionellen Limitierung, bislang weitestgehend verwehrt geblieben ist. In diesem Sinn ist Gernot Böhme zu verstehen, wenn er bemerkt: Ich glaube, [...] dass in unserer Zeit [die Praktiker – Einfügung B.H.] nicht viel von der ästhetischen Theorie lernen können. Umgekehrt hat die ästhetische Theorie viel von den Praktikern zu lernen.94

Eine Philosophie, die von den Praktikern lernt – in der Tat ein für eine traditionelle Ästhetik, die sich doch elementar als geistvoll-eloquente Interpretin des gegebenen oder fehlenden, auf alle Fälle stets philosophisch zu explizierenden Wahrheitsanspruchs und Erkenntnisgehalts der Kunst versteht, ungewöhnlicher und nur schwer verdaulicher Gedanke. Was aber sind die Konsequenzen einer solchen Sichtweise? Gernot Böhme weist darauf hin, dass hierdurch, als einem ersten zu nennenden Punkt, die Frage, inwiefern unterschiedliche praktische Bereiche, die in ihrer alltäglichen Arbeit mit aisthetischen Fragestellungen befasst sind, sich in ihrem Status voneinander unterscheiden mögen, obsolet wird, denn: [...] Kunst ist […] nur eine besondere Form der ästhetischen Arbeit. Normalerweise geht die Ästhetik von der autonomen Kunst als der eigentlichen ästhetischen Tätigkeit aus und fragt danach, ob es so etwas wie eine angewandte Kunst gibt. Von der [Aisthetik – Einfügung B.H.] ausgehend muss man hingegen sagen, dass die angewandte Kunst, also die ästhetische Arbeit in ihrer vollen Breite, die Basis ist, von der man ausgeht, und innerhalb ihrer gibt es dann die Sonderform der Kunst.95

Der klassische Kanon der Künste, welcher zum Kreis der Hochkultur gezählt wird, kann, aus Sicht einer Aisthetik, also zwar als besondere oder besonders reflektierte Formen des Arbeitens mit aisthesis verstanden werden, so wie Philosophie als besondere oder besonders reflektierte Form des Umgangs mit sprachlich verfasstem Denken verstanden werden kann. Der Versuch des Ziehens einer strikten Grenze zwischen verschiedenen Formen einer, wie Gernot Böhme auf treffend entmystifizierende Weise sagt, ,ästhetischen Arbeitʻ, wie ihn eine traditionelle Ästhetik unternimmt, wird jedoch hinfällig. Stattdessen sieht Böhme eine ebenso neue wie althergebrachte Aufgabe der Künste darin, dass sie den Bereich des Aisthetischen überhaupt erst entfalten und bewusst machen können. Diese Aufgabe teilen sie prinzipiell mit anderen Formen ästhetischer Arbeit. Böhme hält dasjenige, was heute als ,Kunstʻ identifiziert und institutionalisiert wird, jedoch aus dem folgenden Grund für prädestiniert: Wenn man in ein Kaufhaus geht, dann wird man [...] Atmosphären erfahren, die von ästhetischen Arbeitern produziert worden sind und die einen einstimmen sollen in die richtige Kaufhaltung. [...] Auch wenn man in eine Kirche geht, ist deren Atmosphäre nicht handlungsentlastet, denn man soll in seinem religiösen Sein ergriffen werden. Die Kunst ermöglicht es uns, im 94 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.17f. 95 Der Ausdruck ,ökologische Naturästhetikʻ wurde im Zitat durch ,Aisthetikʻ ersetzt, da er im Kontext dieser Untersuchung bislang kaum zur Sprach kam, letztlich aber die Basis für Böhmes Gedanken einer Aisthetik liefert und sich eng verwandt mit diesem zeigt. Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.14ff.

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Freiraum des Museums Atmosphären zu erfahren, ohne dass wir dabei in einem Handlungskontext stehen. Wir können Atmosphären als solche kennenlernen und lernen, mit ihnen umzugehen. Die Kunst hätte so [...] die Aufgabe, die menschliche Sinnlichkeit überhaupt erst zu entwickeln.96

Dies ist ein beachtenswerter Gedanke – wenn er auch freilich nicht dazu führen darf, die Künste in traditionell ästhetiktheoretischer Manier erneut von außen her auf eine bestimmte Aufgabe und Rolle festzulegen. Arnold Berleant gelangt hinsichtlich der Künste zu ähnlichen Schlüssen wie Gernot Böhme. Allerdings geht er noch einen Schritt weiter. Denn im Unterschied zu Böhme, der auf Grund seiner Atmosphärentheorie des Wahrnehmens auch hinsichtlich der Künste nur zu spezifischen, eingeschränkten Wirkungs- und Wahrnehmungsweisen – i.e. atmosphärischen – Stellung nehmen kann, besitzen für Berleant unterschiedliche Kunstformen das Potential, jeweils unterschiedliche Aspekte des menschlichen Wahrnehmungsvermögens anzusprechen. Ebenso wie unterschiedliche Kunstformen dazu beitragen können, jeweils unterschiedliche Aspekte (gebauter) menschlicher Umwelten bewusst werden zu lassen. Berleant hierzu: Consider [...] what the arts do. The arts reveal aspects of the perceptual world, of our sensory environment. Each art sensitizes us to different perceptual modalities and the nuances of sensory qualities, and together the arts can educate us to the richness and depth of environmental experience.97

Die Feststellung, dass in den Künsten nicht allein mit einem Medium gearbeitet wird, sondern dass unterschiedliche Kunstformen jeweils unterschiedliche Aspekte, sowie innerhalb dieser, wiederum unterschiedliche Nuancen des Wahrnehmens ansprechen können, ist sicherlich richtig. Wichtig ist zudem der über die – in obigem Zitat von Böhme vorgebrachte, dabei bis auf Schiller zurückgehende – Vorstellung der Kunst als einer Art ,Schule der Sinneʻ hinausgehende Schritt, den Berleant vollzieht. Denn für ihn entwickeln die Künste aisthetische Sensibilität und aisthetisches Bewusstsein nicht allein in einer vergleichbaren Form, so wie sie auch außerhalb des handlungsentlasteten Raumes des Museums zum Einsatz kommen d.h. wir machen nicht etwa im Museum besondere ,ästhetische Erfahrungenʻ und im Alltag allein diesen ähnliche ,gewöhnliche sinnliche Erfahrungenʻ, sondern es ist eben dieselbe Art und Weise aisthetischen Wahrnehmens, die sich in beiden Fällen antreffen lässt. Anschaulich erläutert Arnold Berleant den Sachverhalt am Beispiel der Skulptur: [...] sculpture [employs] perceptual dimensions that work by enlarging and refining natural experience rather than by substituting a different mode of experience for it. Sculptural space and volume are continuous with natural space and volume, and sculpture's shapes, textures, and lighting often have a direct source in the forms, surfaces, and light of natural objects, materials, and places [...].98 96 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.16. 97 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.124. 98 Oder, wie Berleant mit seinen diesbezüglichen Ausführungen an anderer Stelle fortfährt: „Every object radiates into its surrounding space and this aura affects those persons in its

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Zum weiteren Potential der Künste Wie Gernot Böhme anhand des Wahrnehmens von Atmosphären, Arnold Berleant angesichts unterschiedlicher Kunstformen und potentieller Wirkmechanismen aufzeigt, besitzen die Künste ein Potential, welches einer traditionellen Ästhetiktheorie – aber auch jener einer philosophisch basierten Aisthetik, so diese allein als solche, nämlich als rein theoretische Forschung, betrieben würde – abgeht. Um dieses Potential, soweit geschildert, noch einmal zusammenzufassen: Es besteht 1) darin, nicht allein theoretisch, sondern auch aktiv mit aisthetischen Wirkmechanismen arbeiten zu können; 2) darin, eine aisthetische Sensibilität entstehen zu lassen – und dies gleichermaßen bei Kunstschaffenden, (als ,ExpertInnenʻ) wie bei RezipientInnen (als ,Laienʻ); 3) darin, aisthetische Wirkmechanismen nicht nur unterschwellig, sondern auch bewusst erfahrbar und reflektierbar zu machen. Des Weiteren beachtenswert an Böhmes und Berleants Ausführungen zu den Künsten ist, dass beide keine hierarchisierende Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Kunstformen vornehmen (für den einen sind diese allesamt Erscheinungsformen ästhetischer Arbeit, für den anderen unterschiedliche Möglichkeiten, mit jeweils unterschiedlichen Aspekten von aisthesis zu arbeiten). Andererseits finden sich bei beiden Autoren Überlegungen dazu, welche Kunstformen hinsichtlich eines Arbeitens mit aisthesis besonders vielversprechend erscheinen. Unterschiede lassen sich diesbezüglich insofern konstatieren, als manche künstlerischen Medien (zu denken an Malerei, Fotografie, klassische Konzertmusik) den Menschen dominant einzelsinnlich ansprechen, während andere das menschliche Wahrnehmen in seiner physisch-perzeptiven Komplexität (mit Böhme kann man sagen, in seiner Leiblichkeit; mit Berleant: in seiner bodily awareness) ansprechen – und ihn somit auf eine Weise stimulieren, wie sie auch im Alltag zum Tragen kommt. Gernot Böhme spricht in diesem Zusammenhang die Architektur, das urbane Design, das Theater und Bühnenbild an. Arnold Berleant, der sich stärker mit zeitgenössischen Kunstpraktiken befasst, nennt zudem solche Bewegungen in der zeitgenössischen Bildenden Kunst, wie sie sich seit den 1960/70er Jahren verstärkt formieren. So vergleicht er in der folgenden Passage die Entwicklung in der philosophischen Ästhetik und der Bildenden Kunst in den vergangenen Jahrzehnten miteinander, um zu resümieren: While [...] a concern with the natural or ordinary in our surroundings [is – Einfügung B.H.] a new problem for most philosophers [it – Einfügung B.H.] is not [..] for many contemporary artists. Some of the arts have moved in the last few decades towards a closer involvement with

neighborhood. Sculpture epitomizes this [...] for the perceptual analogue of a magnetic field surrounds sculptural objects, attracting those who enter its radiance. Sculpture thus occupies its surrounding space as well as its actual mass, and in approaching the object we enter that space and become part of it. In this respect sculpture is only a dramatic instance of the spacial activity of every object. When we enter their presence, objects may induce calm or anxiety. They can shelter or oppress, invite or repel, collaborate or intimidate. We thus join with objects in a spacial configuration.“ Arnold Berleant, Aesthetics and Environment; a.a.O., S.27.

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these interests by developing artistic forms such as [...] environments [...] and earth sculpture that [...] bear directly on the experience of nature and the ordinary world.99

An anderer Stelle verwendet Berleant statt der Begriffe ,earth sculptureʻ und ,environmentʻ (der im gegebenen Kontext nicht ,Umweltʻ meint, sondern das spezifische künstlerische Format des Environment, wie es sich in den 1950/60er Jahren herausbildete) alternativ die Ausdrücke ,walk inʻ bzw. ,walk through sculptureʻ. In der in Kunstkreisen heute üblich gewordenen Terminologie könnte man hinsichtlich dessen, worauf Berleant abzielt, zusammenfassend auch vom Bereich der ,Installationskunstʻ sprechen. Dieser erscheint dem Theoretiker offensichtlich besonders geeignet, um ihn auch hinsichtlich aisthetischer Fragestellungen zu Alltag und Umwelt zu Rate zu ziehen. Dass ein solches zu Rate ziehen nicht etwa eine Rezeption künstlerischer Werke durch philosophische Ästhetiktheoretiker bedeuten muss, dies hatte bereits Gernot Böhme im eingangs wiedergegebenen Zitat klargestellt. Denn es sind ja nicht die Kunstwerke, die einen Wissensvorsprung gegenüber den Theoretikern besitzen, sondern die „Leute“, die „von der Praxis her“ wissen, wie man aisthetische Wirkungen „herstellt und was man mit ihnen bewirken kann“.100 Denkt man in diesem Zusammenhang zudem zurück an einen Punkt, der in Kapitel 3 festgehalten wurde, nämlich jenen, dass die Aisthetik Gernot Böhmes auch die Komponente einer nicht oder nur teilweise sprachgebundenen Hermeneutik – also einer interpretierenden Forschung – in sich trägt, die aus Gebäuden, Städten, Landschaften, so sie vom Menschen gezielt auf eine bestimmte Wirkung hin geschaffen wurden, herauszulesen sucht, mit welchen gestalterischen Mitteln hierbei gearbeitet wurde, so zeichnet sich bezüglich der Künste ein weiteres, viertes Potential ab: Diese sind nicht als Bereich zu verstehen, in dem mittels des alltäglichen Umgangs mit aisthetischen Belangen rein implizites Wissen angesammelt und in künstlerische Arbeiten eingebettet wird. Vielmehr könnten KünstlerInnen selbst, explizit Auskunft zu aisthetischen Fragestellungen geben, so dass sie im Kontext einer transdisziplinär verfassten Aisthetik nicht zuletzt zu aktiven Partnern in der Erforschung (gebauter) menschlicher Umwelten werden könnten. Ebendiese Möglichkeit, die Theoretiker wie Arnold Berleant und Gernot Böhme in ihren Schriften eher andeuten, als sie auszuformulieren, ist es, der ab dem folgenden Kapitel ausführlich nachgegangen werden soll. Ein fünftes Potential der Künste wird von Arnold Berleant im Rahmen seiner Ausführungen zu einer zukünftigen Praxis und Rolle der Künste angesprochen. Allerdings scheint der Theoretiker diesbezüglich – offenbar der Warnung des analytischen Ästhetiktheoretikers Morris Weitz eingedenk, nachdem die Aufgabe einer zeitgemäßen kunstbezogenen Philosophie allein darin bestehen könne „seriously made recommendations“101 zu geben – nicht in die Gepflogenheiten einer traditionellen Ästhetik zurückverfallen zu wollen und den Künsten einen anzustrebenden Charakter philosophisch vorzuschreiben. Berleant wählt stattdessen einen subtileren Weg: Er entzieht sich der Problematik, indem er die Zukunft der Künste kurzerhand 99

Die Reihenfolge wurde innerhalb des Zitats umgestellt; Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.58. 100 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.18. 101 Vgl. Kap. 1, Fn. 54.

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in eine andere Welt verlegt: Nämlich, in das durchaus realistische Szenario, wie Berleant versichert, eines zukünftigen menschlichen Lebens im outer space. In seinem Artikel Life in Outer Space diskutiert der Theoretiker Fragen, wie die folgenden: Wie würden komplett synthetische menschliche Umwelten, also ganz wörtlich ,built environmentsʻ, die eines Tages im Weltall entstehen könnten, aussehen? Und: „What would art objects and events in outer space be like and how will changes in these effect the very meaning of art?“ Berleant gelangt im Zuge der Entfaltung seiner Reflexionen zu drei aufschlussreichen Einsichten, die er in Form von Thesen formuliert. So kann für den Theoretiker, erstens, davon ausgegangen werden, dass angesichts einer zukünftigen Gestaltung des outer space Bildende Kunst und Umweltgestaltung, oder wie Berleant selbst sagt: „community design and objectoriented art“102, in eines münden werden. Denn, wie Berleant konstatiert: A [...] reason for regarding art as more than a causal addition to such a community is that a creative factor is inherent in the very act of fashioning any human habitat. A fortiori, to shape a community as a total and self-sufficient social, physical, and perceptual entity is to undertake a fundamentally artistic process. It is redundant, then, to talk of introducing art into such communities: Its design will determine the experience of those who are to inhabit it and to create a realm of experience is the basic artistic act. [...].103

Diesen Umstand führt Berleant andernorts wie folgt näher aus: Community design, especially the design of space-age communities, creates the conditions for perceptual awareness. Hence the forms of space and of masses, the distribution of colors and textures, the presence and character of sound, the intensity, quality, and direction of light [...] – all these decide the character of that human world.104

Angesichts dieser Ausführungen wird eine zweite These ablesbar: Nicht nur mögen im outer space objektorientierte Kunst und Umweltdesign eines Tages in eins münden. Auch spielten sie gemeinsam, in ihrem Verbund, eine zentrale Rolle in der Ausformung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens. Den Künsten im outer space käme in dieser Hinsicht eine wahre Schlüsselrolle zu: Sie wären es, die die (gebaute) menschliche Umwelt als konstitutiven aisthetischen Erfahrungskontext gestalteten und damit zugleich mehr leisteten als dies: [...] arts [...] do more than give shape to space. They create the human realm, the possibilities of vision, audition, and movement, the scope of actual perception. In establishing the perceptual conditions for life, the [...] arts help determine human culture.105

Die Künste hätten also, als Lieferanten des Rahmens, in dem sich menschliches Wahrnehmen ausprägt, auch einen Einfluss auf eine jeweilige Kultur – und somit das menschliche Gemeinwesen. Womit Arnold Berleant bei seiner dritten, nicht minder 102 103 104 105

Arnold Berleant, The Aesthetics of Environments; a.a.O., S.106. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environments; a.a.O., S.101. Arnold Berleant, The Aesthetics of Environments; a.a.O., S.103. Arnold Berleant, Art and Engagement; a.a.O., S.97.

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beachtenswerten These angelangt ist. Denn letztlich ist das Potential der Künste, im outer space den Möglichkeitsrahmen von menschlicher aisthesis zu generieren, untrennbar mit einer gesellschaftlichen Rolle verbunden. Schließlich bedeutet aisthesis nicht allein ,rein sinnlichesʻ Perzipieren, sondern es umfasst für Berleant immer auch Anteile kognitiver und trans-individueller Art. In dieser Hinsicht kommt den Künsten, als „lived art“, als im extra-terrestrischen Alltag er- und gelebten Künsten, eine gesellschaftsrelevante, ja eine gesellschaftskonstitutive Rolle zu: By intimately fusing art with daily living, we join the aesthetic with the morality of actions and consequences [...]. This confers on the planner of extraterrestrial communities an additional responsibility that cannot be kept separate from the artistic opportunities. A different environment entails a different art, a different moral understanding, and a different aesthetic. In a human world in outer space it is not only art that must change. So, too, must its theory.106

Nicht allein die Künste – sondern auch deren theoretische Sichtweise, das grundlegende Verständnis davon, was sie überhaupt sind, was sie sein könnten und sein sollen – müsste sich ändern. Welche Bedeutung haben diese Überlegungen Arnold Berleants nun für das Hier und Jetzt auf der Erde? Die Frage findet eine rasche Beantwortung, wenn man sich Berleants allgemeinen Umweltbegriff vergegenwärtigt. In diesem gibt es keine strikte konzeptionelle Trennung zwischen natürlicher Umwelt und menschlicher Lebenswelt, zwischen Stadt und Land, Kultur und Natur. Und so erscheint es nur naheliegend, auch das vermeintlich fiktive Szenario einer rein artifiziellen, einzig vom Menschen geschaffenen Welt, das Arnold Berleant selbst wohl nicht ganz ohne Augenzwinkern so säuberlich von unserem Leben in der Gegenwart isoliert, als nichts anderes zu interpretieren denn als eine weitere Facette eben jener menschlichen Umwelt, in der wir bereits hier und heute leben.107 Was kann aus Berleants Ausführungen zum outer space also gefolgert werden, wenn man diese nicht wörtlich, dafür umso konkreter interpretiert? Wenn der Theoretiker bspw. von einer ,objektorientierten Kunstʻ spricht, die auf Grund des allgegenwärtigen Einflusses des Menschen auf seine Umwelt nicht mehr prinzipiell vom Umweltdesign unterschieden werde könne und die möglicherweise eines Tages gar komplett in eines mit dieser münden werde – wird damit etwa eine These für die zeitgenössische und künftige irdische Kunstpraxis formuliert? In der Tat lassen sich im 20. Jahrhundert (mit Bewegungen wie Bauhaus, russischem Konstruktivismus, u.a.) und insbesondere seit den 1960/70er Jahren Bewegungen beobachten, die einen tradierten Kanon der Künste aufzulösen und zu überwinden suchen. Sind es diese 106 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.113. 107 Sicher ist die (gebaute) menschliche Umwelt, wie sie heute besteht, keineswegs nur vom Menschen gemacht. Aber sie zeigt sich, insbesondere was den Bereich der (gebauten) menschlichen Umwelt im engeren Sinn, i.e. Wohnungen, Zimmer, öffentliche Plätze, Innenstädte, Dörfer, Siedlungen, Zwischenstädte etc., anbelangt, doch maßgeblich von menschlichem Agens beeinflusst. Während umgekehrt auch ein Leben im outer space an die eine oder andere Umweltbedingung, die nicht frei zu gestalten, sondern schlichtweg zu gewährleisten ist, gebunden sein dürfte (Sauerstoff, Schwerkraft, Temperatur, Luftfeuchtigkeit etc.).

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Bewegungen, auf die der Theoretiker anspielt? Und wie steht es mit Berleants Ausführungen, in denen er den umfassenden Einfluss der Künste auf das menschliche Wahrnehmen, ja, auf das Vermögen des Wahrnehmens als solches erläutert? Tatsächlich wird auch dieses Vermögen nicht, wie die berleantschen Ausführungen vorgeben, allein im outer space durch die Künste konfiguriert, sondern diese spielen schon im Hier und Jetzt eine nicht zu unterschätzende Rolle: Sei es in Form von Architektur, Stadtplanung, Alltagsdesign, in Gestalt zeitgenössischer elektronischer Medien, oder ganz klassisch im handlungsentlasteten Raum des Museums. Dabei erscheint ein zeitgenössischer Bereich von besonderer Virulenz, nämlich jener, wie Arnold Berleant es ausdrückt, des „environment“, der „earth art“, der „walk in“ und „walk through sculpture“ – oder kurz: der Installationskunst. Diese kann, im Sinn von Berleants outer space-Kunst, bereits heute als eine Art Hybrid aus Bildender Kunst, Architektur und Umweltdesign verstanden werden. Auch versprechen Installationen auf besondere Weise das zu leisten, was Berleant angesichts seiner in das Kostüm der Fiktion gehüllten Ausführungen als zentrales Wirkungsmoment einer künftigen Kunst im outer space beschreibt, nämlich: den Menschen nicht einzelsinnlich, sondern multisensorisch und in seiner dynamisch-bewegten Physis anzusprechen.108 Letztlich stellt sich aber auch die Frage nach der Verbindung von Kunst und Gesellschaft: Handelt es sich dabei allein um eine Fiktion für ferne extra-terrestrische Welten? Sicher wird anhand der Ausführungen zum outer space besonders gut – möglicherweise besser als anhand von Reflexionen zur Rolle der Künste hier auf Erden – deutlich, inwiefern diesbezüglich ein elementarer Zusammenhang besteht. Denn im outer space bilden die Künste nach Berleant beides aus: Sie schaffen und gestalten die menschliche Umwelt ebenso, wie sie eben hierdurch überhaupt erst das Vermögen, diese sensorisch-kognitiv zu erfahren, auszubilden erlauben. Zurück auf die Erde versetzt mag sich in dieser Hinsicht schwerlich eine einzelne Kunstform finden lassen, die eine derart umfassende Rolle spielen und eine derart weitreichende Aufgabe übernehmen könnte. Doch auch in diesem Kontext, hinsichtlich der Frage eines Wechselbezugs von Künsten, Umweltgestaltung und gesellschaftspolitischen Fragestellungen, könnten es insbesondere solche Kunstformen sein, die sich im Spannungsfeld von Bildender Kunst, Architektur und Umweltdesign verorten, denen bezüglich des öffentlichen Raumes, somit der Umwelt der Polis, eine Schlüsselrolle zufällt. Als fünftes Potential könnte den Künsten somit – wie man in Anlehnung an Jacques Rancière und Arnold Berleant sagen könnte – die Rolle zukommen, eine Gemeinschaft des Sinnlichen herzustellen. (Mehr zu diesem Potential in Kapitel 10.)

108 Vgl. Kap. 5.5.

Teil III

Kapitel 6 Architektur- und ortsbezogene Installation – eine kurze Einführung

Von Arnold Berleants extra-terrestrischem Szenario nun zurück auf die Erde – und somit zu den Bildenden Künsten der Gegenwart. Dabei handelt es sich um einen vergleichsweise kleinen Schritt in thematischer Hinsicht. Denn auch die zeitgenössische installative Kunst, wie sie im Weiteren behandelt werden wird, befasst sich mit der (gebauten) menschlichen Umwelt. Es bedeutet allerdings einen großen Schritt in methodischer Hinsicht. Denn bislang wurden philosophische Positionen unter philosophischen Gesichtspunkten diskutiert, nun gilt es, künstlerische Ansätze unter diesen gemäßen – und dies muss heißen: unter originär künstlerischen – Gesichtspunkten zu behandeln (vgl. 6.1). Konkret wird sich die weitere Untersuchung Ansätzen zuwenden, auf die Arnold Berleant mit seiner Rede von ,environmentsʻ bzw. von ,walk inʻ und ,walk through sculpturesʻ bereits hingedeutet hatte – also Ansätze aus der installativen Kunst, oder, wie im Weiteren präziser gesagt werden soll: der architekturund ortsbezogenen Installation. Als Basis für eine Auseinandersetzung findet eine Einführung statt. Dies geschieht mittels einer operativen Bestimmung, die mögliche Merkmale bewusst als solche, als allein mögliche Merkmale, versammelt (6.2). Des Weiteren werden konkrete Beispiele von architektur- und ortsbezogenen Installationen angeführt (6.3). Und es wird ein Panorama benachbarter künstlerischer Felder skizziert, wodurch Unterschiede genauso wie Verwandtschaftsbeziehungen sichtbar werden (6.4). Der Frage, auf welche Weise sich KünstlerInnen, die im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation tätig sind, mit (gebauten) menschlichen Umwelten befassen und inwiefern das künstlerische Arbeitsmedium der Installation dabei nicht allein als Darstellungsmittel, sondern auch als Untersuchungsmittel zum Einsatz kommt – dieser Frage möchte mich anschließend in Kapitel 7 zuwenden.

6.1 V ORBEMERKUNGEN Eine Warnung vorweg: Mir geht es im Folgenden nicht darum, aus den künstlerischen Experimenten, die heute unter den Begriff der Installation fallen, Typen zu destillieren, um schließlich zu einer klar konturierten Gattungsdefinition zu gelangen. Zwar lassen sich einige allgemeine Züge installativer Kunst benennen, und diese werden im Folgenden auch zu diskutieren sein.

248 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Aber eine darüber hinausgehende Typisierung erscheint schon angesichts der phänomenalen Vielfalt installativer Praktiken nicht nur ausgesprochen schwierig, sondern auch nicht sinnvoll. Warum festschreiben, was sich derart in Bewegung befindet? Und mir geht es auch nicht darum, die Genese installativer Kunst zu rekonstruieren oder einen vorläufigen Überblick über deren aktuelle Vielfalt zu geben. Wer sich unter dem Titel dieses Buches kunstgeschichtliche Einordnungen zu einer bislang in dieser Hinsicht noch wenig erschlossenen Kunstform erhofft hat, wird wohl weitgehend enttäuscht werden. Denn ,Ästhetik der Installationʻ soll hier von der philosophischen Ästhetik her verstanden werden.1

Diese Ausführungen, die Juliane Rebentisch ihrem Buch Ästhetik der Installation voranstellt, sind so präzise formuliert, auch und gerade hinsichtlich dessen, was in der Auseinandersetzung mit installativer Kunst alles nicht geschehen soll, dass sie im Grunde eins zu eins für die hier vorliegende Untersuchung übernommen werden könnten. Allerdings mit einem, dabei entscheidenden, Unterschied: Worauf Rebentisch abzielt, wie bereits der Titel ihrer Arbeit verrät und wie Rebentisch im letzten Satz der Passage noch einmal ausdrücklich betont, ist eine ,Ästhetik der Installationʻ zu liefern – also eine kontextualisierende Betrachtung bzw. eine Anwendung philosophischer Ausführungen zur Kunst auf aktuelle Kunstpraktiken. Ebendies soll im Weiteren nicht geschehen. Der folgende Teil III dieser Untersuchung wird also all das, was Rebentisch nicht behandeln möchte, nicht behandeln. Und zudem wird er all das, was Rebentisch behandelt, nicht behandeln. Die Frage liegt nun auf der Hand: Was, wenn keine kunsthistorische und keine ästhetiktheoretische Betrachtungsperspektive, soll aber dann eingenommen werden? Die Antwort hierauf wurde bereits, recht schlicht, von Gernot Böhme gegeben, wenn dieser bemerkte: Nun, eben die Sichtweise „dieser Leute“, der „Praktiker“. Dieser Gedanke bedarf einer Erläuterung: Um Einblick in das Feld der architektur- und ortsbezogenen Installationen zu erhalten, kann es durchaus hilfreich sein, sich – im Sinn einer traditionellen Kunstgeschichte – mit deren historischem Gewordensein zu befassen.2 Doch, gemäß des sprichwörtlichen Waldes, in den man hinein1 2

Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003) S.7. Was historische Vorläufer einer aktuellen Installationspraxis anbelangt, so gehen manche AutorInnen in ihrer Spurensuche weit zurück. Die sakralen Inszenierungen der katholischen Kirche, oder das wagnersche Gesamtkunstwerk werden in diesem Kontext genannt. Das nähere Umfeld, das zur Herausbildung der installativen Kunst beiträgt, dürfte aber in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts zu suchen sein. Zu denken ist in diesem Kontext an die Dadaisten-Messe in Berlin 1920, an Kurt Schwitters berühmten Merzbau, an Duchamps frühe Ready-mades und seine Beiträge zu den großen Surrealistenausstellungen (Paris 1938 und New York 1942) ebenso wie an seinen persönlichen Einfluss auf die New Yorker Kunstszene der 1960er Jahre. Neben derartigen spezifischen Einflussfaktoren wäre des Weiteren zu denken an die breiteren Bewegungen der italienischen Arte Povera, mit ihrem Einsatz alltäglicher Materialien, die US-amerikanische Concept- und Minimal Art mit ihren raumgreifenden Inszenierungen von skulpturalen Arbeiten, die Environmental sculptures der Pop-Art (Namen wie Edward Kienholz, Claes Oldenburg, Geogre Segal, Paul Thek), die Happening-Bewegung (insbesondere an Allan Kaprows Happenings, mit deren Überbleibseln der Künstler ganze Ausstellungsräume ausgestaltete) oder, als weiter entfernte, dafür nicht minder einflussreichere Referenzpunkte: den russischen Konstruktivis-

A RCHITEKTUR -

UND ORTSBEZOGENE I NSTALLATION



EINE KURZE

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ruft, wird auch die Antwort, die zurückschallt, ausfallen, sprich: Man wird mehr darüber erfahren können, wie etwas zu dem, was es heute ist, geworden ist. Allerdings ist das nicht gleichbedeutend damit, etwas darüber zu erfahren, was dieses Etwas überhaupt ist. Ähnliches gilt für die Möglichkeit einer Verlängerung der Betrachtungsperspektive von Teil II. Sicher ließe sich, von einem unverändert philosophischästhetiktheoretischen Standpunkt aus, auch die installative Auseinandersetzung mit (gebauten) menschlichen Umwelten in den Blick nehmen. Was aber könnte dabei anderes vernehmbar werden, als erneut das Echo der eigenen Stimme? Oder anders ausgedrückt: Man mag durch eine derartige Vorgehensweise mehr über mögliche, herzustellende Wechselbezüge zwischen einschlägigen philosophischen Positionen und installativer Kunst erfahren, jedoch kaum mehr darüber, was in diesem künstlerischen Bereich selbst, jenseits dessen, was nach außen und an die Oberfläche gelangt – i.e. den zu rezipierenden ,Kunstwerkenʻ – vonstattengeht. Im Weiteren wird der Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation also weder in seinem historischen Gewordensein noch im Sinn eines thematischen Gegenstandes der Philosophie behandelt. Vielmehr gilt es, das künstlerische Arbeiten selbst in den Blick zu nehmen. Auch methodisch muss dazu ein Punkt gefunden werden, der der Betrachtungsperspektive der Kunst entspricht, oder, weniger allegorisch formuliert: derjenigen Menschen, die im Bereich der Installation tätig sind. Und was läge hierzu näher – lässt man diesbezüglich bis heute bestehende philosophische und kunsthistorische Vorurteile einmal beiseite –, als PraktikerInnen selbst zu Wort kommen zu lassen?

6.2 ARCHITEKTUR - UND ORTSBEZOGENE I NSTALLATION – MÖGLICHE M ERKMALE Bevor ein Eingehen auf künstlerische Primäraussagen in Form von Zitaten, Interviews, Texten vonstattengehen kann, muss allerdings geklärt werden, was unter dem Begriff der ,architektur- und ortsbezogenen Installationʻ überhaupt zu verstehen ist. Eine Definition im üblichen Sinn kommt hierfür nicht in Frage: Dies zum einen angesichts der oben benannten Punkte (der Grundverortung dieser Untersuchung sowie der in Kapitel 1 thematisierten Problematik essentialisierender Kunstbestimmungen); des Weiteren aber auch, und hieran anschließend, aus dem von Rebentisch angeführten Grund, wonach es sich bei der installativen Kunst um kein seit langer Zeit bestehendes, in sich homogen verfasstes, ja noch nicht einmal zwangsläufig um ein sich selbst als solches begreifendes Genre handelt. Sicher, viele zeitgenössische KünstlerInnen bezeichnen ihre eigenen Arbeiten heute als ,installativʻ. Aber ob sie auch die Arbeiten ihrer KollegInnen, die ebenso installativ zu arbeiten glauben, als Installationen anerkennen würden, nur weil diese sinnbildlich, möglicherweise auch wörtlich,

mus und das Bauhaus, mit ihrem verbindenden Gedanken einer Überwindung künstlerischer Einzeldisziplinen. Siehe zum Thema: Michael Archer (Hrsg.), Installation Art (New York: Thames&Hudson, 1994); Nicolas De Oliveira/Nicola Oxley/Michael J. Petry, Installation Art In The New Millennium – The Empire Of The Senses (New York: Thames& Hudson, 2003); Claire Bishop, Installation Art – A Critical History (New York: Routledge, 2005).

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etwas aus dem Rahmen fallen, ist keineswegs gewiss. Der erst seit einigen Jahrzehnten in der Herausbildung begriffene und sich bis heute ungebrochen dynamisch weiterentwickelnde Bereich des installativen Arbeitens entzieht sich also auf besondere Weise der Einordenbarkeit.3 Was im Folgenden, statt des Gebens einer Definition, geschehen soll, ist eine schrittweise Annäherung und sukzessive Einkreisung des Gebiets. Ziel wird dabei nicht sein, ein dynamisches, weitverzweigtes Etwas artifiziell in die Schublade eines Genres zu pressen und möglicherweise bestehende Verbindungen zu benachbarten Feldern konzeptionell zu kappen, sondern im Gegenteil: eine bewusst operative und prinzipiell provisorische – d.h. ebenso unabgeschlossene wie, solange es installative Kunst gibt, unabschließbare – Bestimmung. Mögliche Merkmale architektur- und ortsbezogener Installationen Zunächst zu ,möglichen Merkmalenʻ architektur- und ortsbezogener Installationen. Von einer klassischen Definition unterscheidet sich eine Auflistung möglicher Merkmale insofern, als nicht etwa hinreichende und notwendige Bedingungen benannt (so dass, im Sinn einer Ontologie aristotelischer Prägung, essentielle Momente eines Bereichs bestimmt würden und eine differentia specifica, ein alles entscheidendes Unterscheidungskriterium, zu Tage träte), sondern ausdrücklich Aspekte versammelt werden, die das Thematisierte aufweisen kann, im Einzelfall aber nicht muss: I. Architektur- und ortsbezogene Installationen zeigen sich, so wie Installationen im Allgemeinen, nicht selten durch ein Merkmal bestimmt, das so profan ist, dass es leicht übersehen werden könnte – während es umgekehrt Installationen zu etwas macht, das kaum zu übersehen ist: ihre Größe. Viele andere künstlerische Medien und Hervorbringungen – wie Grafiken, Gemälde, Skulpturen, Plastiken – können ebenso groß wie klein auftreten. An ihrem medialen Status ändert dies nichts. Selbstverständlich mögen auch diese zuweilen enorme Ausmaße annehmen (ein Umstand, den etwa die Malerei der Gegenwart, von der Pop-Art der 1960er Jahre bis zur Neuen Leipziger Schule der Jahrtausendwende und darüber hinaus, einmal mehr belegen zu wollen scheint). Dieser Aspekt ist ihnen jedoch nicht konstitutiv eingeschrieben. Anders verhält es sich mit installativen Arbeiten, die in den Umraum hinausgreifen und sich von daher schwer tun, eine gewisse Ausdehnung (sei diese materieller oder immaterieller, etwa akustischer Art) zu unterschreiten. Allerdings liegt im Faktor der Größe allein noch kein Unterschied zum Feld der Architektur oder der Großplastik. Beide sind ihrerseits schwerlich anders, als in einer gewissen Dimensionierung, vorstellbar. Wichtiger als pure Größe allein könnte daher, bei genauerer Betrachtung, die Art und Weise sein, wie Installationen ihre Größe entfalten, und was damit einhergeht, nämlich erstens: Eine spezifische Perzeptionsweise auf Seiten der RezipientInnen. Und zweitens: Eine charakteristische Art des Umgangs mit Umräumen.

3

Der Begriff der Installationskunst verbreitete sich in Kunstkreisen vermehrt seit den 1980er Jahren und ist heute zu einem der meist gebrauchten Termini der künstlerischen Selbstbeschreibung im Bereich der Bildenden Künste geworden. Zum Aufkommen der Bezeichnung, siehe: John A. Walker, Glossary of Art, Architecture & Design: Since 1945 (Boston: G.K.Hall, 1992).

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II. Zunächst zum erstgenannten Punkt einer spezifischen Perzeptionsweise: traditionell werden Gemälde und Skulpturen mittels visueller Betrachtung erfahren, dies ist schwer zu leugnen. (Auch wenn dieser Umstand im Bereich Bildhauerei deutlich der Konvention geschuldet ist. Wer einmal versucht hat, eine Skulptur in einem Museum zu betasten, wird schnell zu spüren bekommen haben, dass auch diese Art der Perzeptionsweise interessant, die Konsequenzen – Ermahnung durch die Museumsaufsicht, Anschlagen der Alarmanlage etc. – dagegen weniger erfreulich sind.) Auch die möglichen Standpunkte der Betrachtung sind angesichts von Gemälden und Skulpturen limitiert. Bei einem Gemälde findet ein Standpunktwechsel, wenn überhaupt, so nur insofern statt, als man sich in einer lotrechten Bewegungsrichtung von diesem fort oder wieder auf dieses zu bewegt. Es liegt also, wie man sagen könnte, eine eindimensionale Perzeptionsweise vor. Skulpturen bilden ihrerseits den konzentrischen Mittelpunkt für radial um sie herum verlaufende Betrachtungspunkte. (Wie gesagt, prinzipiell wäre auch das Betasten oder Beklettern möglich, bildet im Museumsalltag aber eher die Ausnahme.) Die BetrachterInnen bewegen sich in der zweiten Dimension. Höhenveränderungen in der Betrachtung kommen kaum vor. Im Gegenteil: Oft sind Skulpturen, auch und gerade wenn sie nicht ebenerdig platziert sind, sogar äußerst präzise für eine bestimmte Betrachtungsebene konzipiert. (Zu denken an gotische Kathedralskulpturen, die für eine extreme Untersicht gefertigt wurden und die, in Museen transportiert und auf Augenhöhe mit den Betrachterinnen versetzt, seltsam lange Hälse und große Köpfe zu tragen scheinen.) Anders verhält es sich mit Installationen. Diese sind weder von einer durch Konventionen vorgegebenen eingeschränkten Anzahl möglicher Blickwinkel aus wahrzunehmen, noch findet eine Rezeption überhaupt dominant visuell statt. Stattdessen werden angesichts von installativen Arbeiten aus physisch passiven BetrachterInnen, aktiv-multisensorisch erfahrende RezipientInnen. Insbesondere architektur- und ortsbezogene Installationen verlangen von ihren BesucherInnen dabei physische Eigenaktivität. So müssen derartige Arbeiten, etwa in Gestalt von die RezipientInnen umgebenden Umräumen – exemplarisch werden hierzu später Arbeiten von Bruce Nauman, Ilya Kabakov, Gregor Schneider thematisiert –, durch diese begangen und mittels unterschiedlicher Sinne perzipiert werden. (Was im Fall Gregor Schneiders in der Tat ein Beklettern, zuweilen gar ein Durchkriechen einschließt.) Neben dem Sehen kommen dabei verschiedenste Aspekte des sinnlichen Wahrnehmens, wie Hören, Tasten, Riechen, Umraumwahrnehmung, kinästhetische Erfahrungen, zum Einsatz. Zudem sind RezipientInnen nicht selten, im Wortsinn, global von einer künstlerischen Arbeit umgeben. Kurz: Während Medien wie Malerei und Skulptur ihren BetrachterInnen allenfalls ein bis zwei Betrachtungsdimensionen offerieren, kann angesichts des Mediums der Installation von einer Ausweitung der Rezeptionsweise in die dritte (mittels Höhenveränderungen bzw. umseitiger Einschließung) und sogar vierte, zeitliche Dimension hinein gesprochen werden. Denn Installationen werden nicht simultan erfahren, sondern sukzessive, ,step by stepʻ. III. Zum dritten möglichen Merkmal: Viele Installationen weisen eine besondere Art des Umraumbezugs, oder richtiger gesagt: gleich zwei mögliche Arten des Umraumbezugs, auf. Sie können derart gestaltet sein, dass RezipientInnen teilweise oder komplett von ihnen umgeben werden, sie also selbst Umräume ausbilden. Für diesen Typus der Installation wurde Ende der 1950er Jahre der Begriff des ,environmentʻ

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eingeführt.4 Der Ausdruck erscheint, nicht zuletzt auf Grund seiner etymologischen Herkunft aus dem Mittelenglischen – ,en-ʻ (,inʻ/,imʻ) und ,vironʻ (‚Kreisʻ), also zu Deutsch so viel wie: ,im Kreis befindlichʻ, ,umringtʻ, ,umgebenʻ –, durchaus treffend.5 (Auch die begriffliche Konvergenz mit den in den vorausgehenden Kapiteln vorgestellten Termini des ,human environmentʻ und ,built environmentʻ sollte zwar zu keinen voreiligen konzeptionellen Kurzschlüssen führen, ist aber, in Bezug auf das später Folgende, immerhin beachtenswert.) Die zweite Möglichkeit des Umraumbezugs findet sich ebenfalls begrifflich angedeutet, nämlich im neulateinischen Terminus, der dem Ausdruck ,Installationʻ zu Grunde liegt. Dieser besagt so viel wie ,in etwas einsetzenʻ.6 Bereits von seiner sprachlichen Herkunft her verweist der Ausdruck also auf den Umstand, dass Installationen in bestehende Kontexte integriert werden. Dies kann ein Ausstellungsraum sein, aber auch ein gewöhnliches Gebäude oder ein öffentlicher Platz, wobei mittels des Begriffs zudem ein prozesshaftes Moment betont wird, wie der Kunsttheoretiker Miwon Kwon im Folgenden ausführt: Installation is the noun from the verb to install, the functional movement of placing the work of art in the [...] gallery or museum. […] it initially focused on institutional art spaces that could be altered through 'installation' as an action. 'To install' is a process that must take place each 4

5 6

Allen Kaprow erklärt den Begriff ,environmentʻ Ende der 1950er Jahre wie folgt: „Environments are generally quiet situations, existing for one or for several persons to walk or crawl into, lie down, or sit in.[...] One looks, sometimes listens, eats, drinks, or rearranges the elements as though moving household objects around [...] all of these characteristics suggest somewhat thoughtful and meditative demeanor.“ Auch wenn angesichts dieser Bestimmung Assoziationen an Installationen, wie sie heute bekannt sind, aufkommen mögen, so wird aus Kaprows Ausführungen doch deutlich, dass der Begriff zunächst zur Benennung recht spezifischer künstlerischer Arbeiten gebraucht wurde. Kaprow beschreibt in diesem Sinn Installationen als Gegenstück einer Handlung, als das, was nach einem Happening übrigbleibt bzw. dessen materialisiertes, räumliches Gegenstück bildet. Darüber hinaus gibt Kaprow allerdings auch – aus heutiger, retrospektiver Sicht – interessante Prognosen für die damals noch offene Zukunft einer installativen Praxis: „Though the Environments are free with respect to media and appeals to the senses, the chief accents to date have been visual, tactile, and manipulative. Time (compared to space), sound (compared with tangible objects), and the physical presence of people (compared with the physical surroundings), tend to be subordinated elements. Suppose, however, one wanted to amplify the potentialities of the subordinates. The objective would be a unified field of components in which all were theoretically equivalent and sometimes exactly equal.“ Allen Kaprow, Assemblages, Environments and Happenings 1959-65; in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.), Art in Theory – An Anthology of Changing Ideas, 1900-2000 (Oxford: Blackwell, 2003) S.717-721. Vgl. Kap. 2.1. Der Begriff stellt eine Neuschöpfung aus dem Kirchenlatein des 15. Jahrhunderts dar, zusammengesetzt aus dem lateinischen ,in-ʻ (‚inʻ) und dem altgermanischen ,stallʻ (‚Standortʻ, ‚Stelleʻ). Zunächst wurde er nicht in einem räumlichen Sinn verwendet, sondern bezog sich auf den institutionellen Akt des Einsetzens eines Würdenträgers in sein klerikales Amt. Siehe etwa: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd.1 (Berlin: Akademie Verlag, 1993) S.584.

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time an exhibition is mounted; 'installation' is the art form that takes note of the perimeters of [...] space and reconfigures it.7

Theoretisch bestünde die Möglichkeit, die Begriffe der ,Installationʻ und des ,Environmentʻ, die beide auf einen jeweils eigenen Aspekt hinweisen, parallel zueinander und fallspezifisch zu verwenden. Dagegen spricht, dass beide Aspekte nicht leicht voneinander zu trennen sind: Eine künstlerische Arbeit kann einen Ausstellungsbesucher im Sinn eines ,Environmentʻ umgeben, während sie zugleich selbst fest in einem umgebenden Umraum ,installiertʻ ist. In diesem Fall von einem ,installierten Environmentʻ, oder einer ,environmenthaften Installationʻ zu sprechen, erschiene jedoch zu viel des Guten. Zudem ist es heute in Kunstkreisen Usus geworden, unabhängig von einer jeweiligen Art der räumlichen Bezugnahme schlicht von ,Installationenʻ zu sprechen. Der Ausdruck ,Environmentʻ findet dagegen beinahe nur noch in Verbindung mit den spezifischen künstlerischen Ansätze der 1950er bis 1970er Jahre Verwendung. Im weiteren Kontext dieser Untersuchung wird daher von ,Installationʻ – und nicht etwa parallel, oder gar kombiniert, von ,Installationʻ und ,Environmentʻ gesprochen werden. IV. Nun zur architektur- und ortsbezogenen Installation als spezifischerer Spielart der installativen Kunst: Inwiefern unterscheidet sich diese von anderen Installationen? Oder anders gefragt: Wie kann eine Installation, als etwas, das schon von Begriffswegen in etwas anderem, nämlich einem Umraum, installiert ist, überhaupt je anderes als ,architektur- und ortsbezogenʻ sein? Diese Frage ist berechtigt. Dennoch soll im Weiteren, einer gewissen nicht auszuräumenden Restredundanz zum Trotz, der Bezeichnung ,Installationʻ die Spezifizierung ,architektur- und ortsbezogenʻ vorangestellt werden. Dies hat den folgenden Grund: Mit dem Ausdruck ,architektur- und ortsbezogenʻ kann ausdrücklich auf die Möglichkeit von künstlerischen Arbeiten hingewiesen werden, sich gezielt und nicht allein willkürlich in einer jeweiligen Umgebung zu verankern. Viele künstlerische Medien – Gemälde, Grafiken, Skulpturen – verankern sich in Architekturen oder an Orten. Bilder hängen an einer Wand, fragile Kleinplastiken befinden sich in geschützten Innenräumen. In diesem Sinn müsste es gleichermaßen redundant sein, von einem Bild mit Architektur- oder Ortsbezug zu sprechen wie angesichts einer Installation. Dies ist aber nicht der Fall, wenn mit der näheren Bestimmung eine bewusste Bezugnahme zum Ausdruck gebracht wird. Ein Bild mit einem Architekturoder Ortsbezug ist mehr als ein Bild, das an einer Wand hängt. Damit es die Spezifizierung verdient, muss es sich, etwa in Gestalt eines bestimmten Sujets, gezielt auf einen Ort oder eine Architektur einlassen. Mit der näheren Charakterisierung ,architekturund ortsbezogenʻ wird also auf die Möglichkeit von Installationen hingewiesen, bewusst mit dem umgebenden Umraum zu arbeiten – und dies potentiell in zweifacher Hinsicht: Erstens insofern, als Installationen (ebenso wie bspw. Gemälde) inhaltlich Bezug auf ihre Umgebungen nehmen können; zum anderen, da sie (und dies im Gegensatz zu Gemälden oder traditionellen Plastiken) in Umräume hinauszugreifen und somit in eine jeweilige Umgebung aktiv einzugreifen vermögen. Warum aber von ,architekturbezogenʻ und ,ortsbezogenʻ zugleich sprechen? Zunächst einmal ist das Bindewort ,undʻ nicht im logischen Sinn, sondern im Sinn eines 7

Miwon Kwon, Space, Site, Intervention – Situating Installation Art (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2000) S.4.

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,und/oderʻ zu lesen. Es wird allein aus sprachlich-pragmatischen Gründen auf ein einfaches ,undʻ verkürzt. Installationen können somit entweder einen Ortsbezug oder einen Architekturbezug oder beides zugleich aufweisen. ,Architekturbezogenʻ können Installationen dabei sein, insofern sie sich auf Architekturen beziehen. Dies ist selbstevident. Nicht allein ,architekturbezogenʻ sind einige der im Weiteren behandelten Installationen hingegen insofern, als sie sich bspw. auf private Interieurs oder auf innerstädtische Plätze beziehen – also auf Aspekte, die mit ,Architekturʻ, im engeren Sinn von ,geplantes Gebäudeʻ, nicht bezeichnet werden. Der Ausdruck ,Ortʻ bezieht sich demgegenüber auf einen konkreten Platz, den Menschen schaffen und den sie bewohnen (bzw. auf eine singuläre Stelle im ,Raumʻ, so man diese Terminologie zum Einsatz bringen möchte).8 Nicht allein ,ortsbezogenʻ sind derartige Installationen nun wiederum, als – etwa am Beispiel einer Arbeit Ilya Kabakovs, die im Museum ein privates Interieur nachbildet – auch diese Installation, obwohl der Gegenstand der Auseinandersetzung nicht der Ausstellungsraum ist, zwangsläufig an die Gegebenheiten der umgebenen Architektur gebunden bleibt und sie mit diesen zu arbeiten hat.9 (Anmerkung: Sicher läge es an dieser Stelle nahe, kurz und zusammen8

9

Hinsichtlich des ersten Aspekts, des Ortes im Sinn eines konkreten, einmaligen Platzes, könnte man in diesem Kontext an Marc Augés Verständnis von Ort denken, wie er es im Rahmen seiner Reflexionen zu non-lieus, zu ,Nicht-Ortenʻ entwickelt. Wobei Augé eine wertende, normative Sicht entwickelt, die an dieser Stelle nicht gemeint ist. Vgl. Marc Augé, Nicht-Orte (München: C.H.Beck, 2010). Auch der Gedanke an Martin Heideggers Ortsbegriff liegt nicht fern. Allerdings wird dieser im Kontext der heideggerschen Existenzphilosophie mit einer Tiefengrundierung versehen, die an dieser Stelle nicht mitgemeint ist. (Siehe hierzu Kap. 10, Fn. 28.) Den zweiten Aspekt, also jenen einer singulären Stelle im Raum, fasst seinerseits Michel de Certeau treffend, wenn er formuliert: „Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden. Hier gilt das Gesetz des ,Eigenenʻ: die einen Elemente werden neben den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem ,eigenenʻ und abgetrennten Bereich, den es definiert. Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität.“ Kurz: Es mögen Assoziationen an unterschiedliche philosophische, geografische, mathematische Ortsbegriffe wach gerufen werden. Letztlich wird das Verständnis von ,Ortsbezugʻ, ebenso wie jenes eines ,Architekturbezugsʻ, wie es für künstlerisch-installative Arbeiten maßgeblich ist, aber am besten durch diese selbst bzw. durch die Personen, welche im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation arbeiten, artikuliert und exemplifiziert. Zitat: Michel de Certeau, Kunst des Handelns (Berlin: Merve, 1988) S.218. Der in Kunstkreisen übliche Ausdruck ,ortsbezogenʻ wird an dieser Stelle dem Ausdruck ,ortsspezifischʻ (,site-specificʻ) vorgezogen. Denn dieser zeigt sich – nicht anders als beim Ausdruck ,Environmentʻ der Fall –, eng mit einem bestimmten kunsthistorischen Kontext verknüpft. Der Terminus ,site-specificʻ wurde maßgeblich durch die Konzeptkunst und land art des US-amerikanischen Raums in den 1960er und 1970er Jahren geprägt. Zudem weist der Ausdruck der ,Ortsbezogenheitʻ eine Ambivalenz auf, die jenem des ,Ortsspezifischenʻ abgeht: Eine Bezugnahme kann formal wie inhaltlich erfolgen; während der Ausdruck ,ortsspezifischʻ primär für den ersten Fall eingesetzt wird. Zu kunsthistorischen Verwendungen der Begriffe siehe: Peter Frank, Site Sculpture; in: Art News, Okt. 1975;

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fassend von einem Bezug zur (gebauten) menschlichen Umwelt zu sprechen. Allerdings würde dies eine Verwechselung der Ebenen bedeuten: Der Ausdruck ,(gebaute) menschliche Umweltʻ wurde in Teil II im konkreten Kontext aktueller philosophischer Ansätze aus dem Bereich der Alltags- und Umweltästhetik eingeführt. Teil III setzt sich unabhängig davon mit künstlerischen Ansätzen auseinander, so dass auch hier keine fachfremde, sondern eine dem Bereich selbst eigene Terminologie zum Einsatz kommen muss. Inwiefern ein potentieller Einsatz der Begriffe in beiden Bereichen möglich sein könnte, ebendies muss erst noch überprüft werden. Aus diesem Grund werden bis auf Weiteres auch andere Begriffe, wie sie in den vorausgehenden Kapiteln eingeführt wurden, in Teil III vorerst keine Verwendung finden.) V. Die Frage des Architektur- und Ortsbezugs führt direkt zum nächsten Punkt und somit zu einer Möglichkeit der architektur- und ortsbezogenen Installation, die diese auf signifikantere Art und Weise als der Aspekt Größe von den meisten anderen künstlerischen Medien zu unterscheiden vermag. Sie besteht im Potential der installativen Kunst, sich Umräumen nicht nur in thematisch-inhaltlicher Hinsicht, etwa im Sinn eines Sujets, zuzuwenden, sondern dies mit ebensolchen Mitteln zu tun. Hierin liegt ein deutlicher Unterschied vor zu Kunstgattungen wie der Malerei, der Grafik, der Fotografie – und selbst jener der traditionellen Skulptur und Plastik. Denn architektur- und ortsbezogene Installationen vermögen Orte zu thematisieren, während sie zugleich selbst Orte ausbilden. Dabei bedienen sie sich nicht selten eben jener Mittel, die auch an den Orten zu finden sind, auf welche sie Bezug nehmen: So etwa des Einsatzes realer Gegenstände (Tische, Stühle, Lampen etc.), baulicher Mittel (Wände, Treppen, Türen etc.), originaler Materialien (Holz, Beton, Tapeten etc.) oder gar authentisch wirkender Klangkulissen und Lichtverhältnisse. Diese Doppelgesichtigkeit, etwas darzustellen, was zugleich real gegeben ist, ist ein merkwürdiger und bemerkenswerter Aspekt des Mediums architektur- und ortsbezogene Installation, auf den im Weiteren besonders einzugehen sein wird.

6.3 B EISPIELE

ARCHITEKTUR UND ORTSBEZOGENER I NSTALLATIONEN

Obige Aufzählung möglicher Merkmale soll, für den Augenblick, thesenhaften Charakter besitzen. Plastisch-anschaulich wird das, was damit im Einzelnen gemeint ist, durch das weitere Fortschreiten der Untersuchung. Wo finden sich nun konkrete Beispiele, auf die der Begriff ,architektur- und ortsbezogene Installationʻ sinnvoll

Catherine Howett, New Directions in Environmental Art, in: Landscape Architecture, Jan. 1977; Lucy Lippard, Art Outdoors, In and Out of the Public Domain, in: Studio International, März-April 1977. Zusammenfassende Darstellungen bieten: Lambert M. Surhone/ Miriam T. Timpledon/Susan F. Marseken (Hrsg.), Site-specific Art (Beau-Bassin: Betascript Publishing, 2009); Miwon Kwon, One place after another: site specific art and locational identity (Cambridge MA/London: MIT Press, 2002); künstlerische Primärdokumente der Zeit finden sich in Charles Harrison, Paul Wood (Hrsg.), Art in Theory – An Anthology of Changing Ideas; a.a.O., S.813-1187.

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angewendet werden kann? Oder anders gefragt: Wo finden sich künstlerische Herangehensweisen, die mit relativ großen und/oder räumlich ausgedehnten Gebilden arbeiten; die sich fest in Umräumen und/oder an Orten verankern; die inhaltlich und/oder formal auf Orte und/oder Architekturen Bezug nehmen; die selbst architekturartige Umräume und/oder Orte ausbilden; die von RezipientInnen aktiv und sukzessive, Schritt für Schritt, multisensorisch erfahren werden (wobei jeder Strichpunkt seinerseits als ,und/ oderʻ zu lesen ist)? Einige der frühesten Beispiele solcher Arbeiten dürften sich in den späten 1960er und 1970er Jahren bei Bruce Nauman antreffen lassen: So in dessen KorridorArbeiten, die geradezu als Initialzündung der architektur- und ortsbezogenen installativen Kunst gesehen werden können; in seinen darauf aufbauenden minimalistischreduzierten Raumgebilden, welche räumliche Verzerrungen und farbiges Licht zum Einsatz bringen, so dass sie wie Traumszenarien oder Schauplätze eines SamuelBeckett-Stücks anmuten; in seinen Entwürfen für großräumige bis utopisch dimensionierte Arbeiten aus der gleichen Arbeitsphase (auch wenn diese, mit Ausnahme einiger erst unlängst realisierter Arbeiten, wie Depression Square, 2001, oft nur in Modellform verwirklicht wurden); sowie in einzelnen groß dimensionierten Installationen aus den 1980er Jahren (etwa Stadium Piece, 1979-80, oder Room with my Soul left out, 1984/ 2010). Von der Herangehensweise anders, dabei ebenfalls bereits in den 1970er Jahren, nähert sich ein Künstler wie Gordon Matta-Clark der Frage von Architektur und Ort. Mit dem gezielten Setzen von Schnitten perforiert oder durchtrennt er reale Zimmer und Gebäude des urbanen Alltags, von innerstädtischen Wohngebäuden über suburbane Einfamilienhäuser bis hin zu peripheren Industriehallen (siehe etwa: Splitting Four Corners, 1974; oder: Conical Intersect, 1975). Zu ähnlicher Zeit, jedoch mit anderen Mitteln, greift Dan Graham in Ausstellungsräume und reale menschliche Umgebungen ein: Sei es mittels einer seiner zahlreichen Arbeiten mit Glas und Spiegelglas (Public Space/Two Audiences, 1976), sei es in Form seiner Konzepte für Interventionen im suburbanen Raum (Alteration to a suburban house, 1978). Vorrangig im Außenraum angesiedelt sind Siah Armajanis Arbeiten, die auf vernakuläre US-amerikanische Architekturen rekurrieren (Meeting Garden, 1980); oder etwa die Installationen Dani Karavans, der, anders als Armajani, architektonische Elemente auf einfache geometrische Grundformen reduziert, diese jedoch, und dies vergleichbar Armajani, sensibel in Umgebungen einpasst und so Orte ganz eigener Qualität entstehen lässt (Misrach, 2008). Ganz auf Innenräume ausgerichtet sind hingegen Ilya Kabakovs Installationen, die dieser selbst als „totale Installationen“ bezeichnet. Im Stil authentisch wirkender Interieurs lagern diese sich in institutionelle Kunsträume ein (Der Mann, der aus seinem Zimmer in den Kosmos flog, ca. 1985), oder stellen räumliche Collagen her aus Ausstellungssituation und Privatraum (Die Toilette, 1992). Die Arbeit Haus u r (Rheydt, seit ca. 1986) von Gregor Schneider besteht gleich aus etlichen detailliert nachgebauten Interieurs und Innenräumen, die entweder einzeln ausgestellt werden oder labyrinthisch aneinanderund übereinandergesetzt ein komplettes Ausstellungsgebäude zu füllen vermögen (siehe: Deutscher Pavillon, Biennale Venedig, 2001). Weniger an einem realistischen Erscheinungsbild denn an abstrakteren Qualitäten wie Volumen, Masse, Oberfläche interessiert zeigt sich Rachel Whiteread. In ihren massiven Gips- und Betonabformungen materialisiert die Künstlerin dasjenige, was üblicherweise gerade nicht

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greifbar ist: so das hohle Volumen unter einem Tisch (Yellow leaf, 1989), den Leerraum eines Zimmers (Ghost, 1990), oder gar den eines ganzen Hauses. Einige markante Beispiele für architektur- und ortsbezogene Installation, wie sie seit den 1960er Jahren entstehen, wären somit benannt. Alle angesprochenen künstlerischen Positionen werden in den folgenden Kapiteln auf die eine oder andere Weise eine Rolle spielen und noch ausführlicher behandelt werden. (Visuelle Eindrücke finden sich zudem im Internet, unter den oben gegebenen Angaben von Name, Titel, Jahr; sowie in entsprechenden Monografien.) Neben den soweit genannten Exempeln wäre es leicht möglich, noch zahlreiche weitere Beispiele anzuführen, wobei es sich nicht immer um künstlerische Ansätze in Gänze, sondern zuweilen allein um einzelne Arbeiten handelt. Zu denken ist in diesem Kontext an Namen wie: Richard Serra, Michael Heizer, Robert Morris, Walter de Maria, Nancy Holt, Mary Miss, Alice Aycock, Jeanne-Claude & Christo, Alberto Burri, James Turrell, Per Kirkeby, Thomas Schütte, Fischli & Weiss, Absalon, Pedro Cabrita Reis, Andrea Zittel, Olafur Eliasson, Anish Kapoor, Dragset & Elmgreen, Atelier van Lieshout, Manfred Pernice, Franka Hörnschemeyer, Monika Soslovskova, Hans Schabus, Dagmar Schmidt ... Ob alle diese Beispiele tatsächlich gleich gut wie die eingangs genannten dazu geeignet wären, um dasjenige, worum es im Weiteren gehen wird, an ihnen aufzuzeigen, müsste im Einzelfall überprüft werden und soll an dieser Stelle offen bleiben. Denn, wie man im Sinn obiger Bestimmung sagen könnte: Nur weil KünstlerInnen etwas herstellen, das bestimmte Merkmale erfüllt – nur weil eine künstlerische Arbeit etwa groß ist, RezipientInnen in sich aufzunehmen vermag und an eine Architektur erinnert –, bedeutet dies noch nicht, dass sie die ihnen potentiell zur Verfügung stehenden installativen Arbeitsmittel, wie sie im Weiteren Thema sein werden, auch auf besonders gekonnte und subtile Weise einzusetzen vermögen. Umgekehrt stammen architektur- und ortsbezogene Installationen, die ihre Mittel gekonnt einsetzen, zwar in aller Regel von Bildenden KünstlerInnen, sie müssen dies aber nicht. Es gilt im Folgenden also auch Arbeiten von PraktikerInnen einzubeziehen, deren Name gemeinhin nicht mit dem Bereich der Bildenden Kunst verbunden wird, die aber dennoch deutliche Züge des oben Beschriebenen an sich tragen und potentiell diskussionswürdig erscheinen. Gute Beispiele hierfür sind, wie zu sehen sein wird, Peter Eisenmans Denkmal für die ermordeten Juden Europas oder Daniel Libeskinds Garten des Exils im Jüdischen Museum Berlin. Nun zeichnet sich ein schärfer konturiertes Bild dessen, was architektur- und ortsbezogene Installationen sein können, nicht allein durch die Angabe möglicher Merkmale oder das Nennen von Beispielen ab. Hilfreich ist es in diesem Kontext auch, sich das vor Augen zu führen, was ähnlich, vielleicht verwandt, letztlich aber nicht identisch ist. In diesem Sinn folgen, die kleine Einführung beschließend, Anmerkungen zum engeren und weiteren Umfeld architektur- und ortsbezogener Installationen.

6.4 G RENZEN

UND FLIESSENDE

Ü BERGÄNGE

Mit der Ablösung des abstrakten Expressionismus der New York School durch neue künstlerische Bewegungen in den 1960er/1970er Jahren haben die Bildenden Künste eine enorme mediale Weitung erfahren. Was an die Stelle der Malerei als Leitmedium der Moderne trat, war nicht ein einzelnes künstlerische Medium, sondern eine

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Vielzahl neuer medialer Arbeits- und Experimentierfelder, deren Charakter oft fließend ineinander übergeht: So bringt die Performance KünstlerInnen als Akteure in Kunstwerke ein; Handlungsanweisungen und Happenings involvieren die RezipientInnen; die Prozesskunst nimmt den Fokus von einer Orientierung auf ein abgeschlossenes Werk, während die Konzeptkunst den Gedanken des Werks als eines materiellen Produkts als solchen überwindet; die Land Art lässt die Grenzen des Ausstellungsraums hinter sich – und mit diesen obendrein gleich noch das jahrhundertealte traditionelle Zentrum von Kunst und Kultur: die Stadt. Den genauen Platz der architektur- und ortsbezogenen Installation in diesem ebenso vitalen wie eng vernetzten Umfeld zu bestimmen fällt schwer. Denn mit vielen der genannten Bereiche gibt es Berührungspunkte. Ein seit langer Zeit etabliertes und klar diversifiziertes Feld, das recht wörtlich dem Augenschein nach eine thematische Verwandtschaft zu architektur- und ortsbezogenen Installationen erkennen lässt, ist jenes der visuellen Darstellung von Orten und Architekturen. Neben der Malerei und der Grafik ist dabei heute insbesondere an die Fotografie zu denken, die sich intensiv mit der Darstellung von Gebäuden, Städten, Landschaften im Sinn eines Sujets befasst (zu denken an Bernd & Hilla Becher oder Candida Höfer). Allerdings gibt es darüber hinaus auch vereinzelte Berührungspunkte medialer Art. So arbeiten Künstler wie Jeff Wall oder Thomas Demand mit realistisch anmutenden architektonischen ,Set-upsʻ (also dreidimensionalen Aufbauten), wobei die Differenz zur Installationskunst auf den ersten Blick allein darin zu bestehen scheint, dass diese Setups im Kontext der Fotografie nicht als unmittelbar zu rezipierende Arbeiten fungieren, sondern als fotografische Kulissen. Ähnliches gilt für manche Videoarbeit (etwa die eines Aernout Mik oder Stan Douglas) sowie den Einsatz dreidimensionaler Setups auf der Bühne: im Schauspiel, beim Tanz, in der Szenografie. Auch hier fungieren diese als Teile eines darüber hinaus gehenden Großen und Ganzen. Inwiefern die vermeintlich geringe, dabei erscheinende Differenz zwischen unmittelbar zu perzipierender Arbeit und dreidimensionaler Kulisse einen signifikanten Unterschied macht, dies wird später insbesondere an Ilja Kabakovs Ausführungen zur Totalen Installation deutlich werden. Ein spannendes Feld, das ein gänzlich anderes Verhältnis zur Architektur aufweist, ist jenes der kunsttheoretisch bis heute wenig erforschten, da im Sinn eines eigenständigen Genres schwer zu fassenden ,Archiskulpturʻ. 10 Mit dem Ausdruck gemeint sind plastische Arbeiten, die gewissermaßen eine Zwitterexistenz führen, in dem Sinn, dass sie einerseits Skulpturen sind, andererseits die Formensprache von Architekturen sprechen. Die Iglus von Mario Merz oder die archetypisch-minimalistischen Hausskulpturen eines Hubert Kiecol liefern hierfür anschauliche Beispiele. Doch auch der umgekehrte Fall ist möglich. Dies zeigt die Bildhauerei der klassischen Moderne – Namen wie Constantin Brancusi, Umberto Boccioni, Alexander Archipenko, Hans Arp, Henry Moore, deren Arbeiten insofern als Archiskulpturen avant la lettre bezeichnet werden können, als sie heutigen Architekturbüros (Frank O'Gehry, Daniel Libeskind, Zaha Hadid, Cook&Fournier) als Inspiration, um nicht zu sagen, als Blueprints für ihre Gebäudeentwürfe dienen. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen Archiskulptur und architektur- und ortsbezogener Installation 10 Siehe etwa: Katalog, ArchiSkulptur – Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute (Ostfildern: Hatje Cantz, 2004).

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E INFÜHRUNG

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ist dabei durchaus gegeben. Denn das mögliche Merkmal der formalen Bezugnahme auf Architektur ist erfüllt. Zwischen beiden Kunstformen zu unterscheiden mag daher im Einzelfall, zumindest auf den ersten Blick – man denke etwa an das Beispiel Mario Merz –, nicht immer einfach sein. Letztlich ist eine Verwandtschaft aber eher peripherer Natur: Archiskulpturen mögen aussehen wie architektur- und ortsbezogene Installationen, dabei fehlen ihnen aber letztlich alle übrigen der oben genannten Aspekte, wie die Möglichkeit, RezipientInnen in sich aufzunehmen, diese aktiv, multisensorisch anzusprechen, die Möglichkeit, bewusst mit Umräumen zu arbeiten, oder etwa sich selbst gezielt in diesen und ihren jeweiligen Kontexten zu verankern. Eine stärker ausgeprägte Ähnlichkeit besitzen architektur- und ortsbezogene Installationen mit dem Bereich der Architektur selbst. Freilich verbindet sich mit dieser heute nicht mehr (allein) die Vorstellung einer ,angewandten Kunstformʻ. Vielmehr tritt Architektur als institutionalisiertes und hoch professionalisiertes Berufsfeld auf, dem die Aufgabe der Gestaltung, Planung, Organisation, Verwaltung, Berechnung von funktionsgebundenen materiellen Einheiten zukommt. Freiraum für künstlerische Gestaltung ist dabei etwas, das sich viele ArchitektInnen sicher wünschen, für das in der Realität des Berufsalltags aber nur wenig Platz bleibt.11 Mit Installationen gehen andere Erwartungen einher. Personen, die eine Installation in einem Museum betreten, tun dies kaum in der Hoffnung, einen konkreten Nutzen daraus ziehen zu können (jedenfalls nicht in dem Sinn, wie man ihn aus einem Einfamilienhaus ziehen kann). Anders als reale Architekturen werden architektur- und ortsbezogene Installationen als Erzeugnisse der Bildenden Kunst aufgefasst. Diese Haltung verbindet sich mit der Erwartung einer Art von Verweischarakter, also des Potentials von Kunstwerken, eine irgend geartete ,Bedeutungʻ oder ,Aussageʻ generieren zu können (was die meisten Menschen wiederum von ihrem Einfamilienhaus nicht erwarten würden.) Ob eine strikte Trennung von freier Kunst und angewandter Kunst angesichts des Mediums der Installation tatsächlich notwendig und sinnvoll ist, oder ob nicht bspw. auch architektur- und ortsbezogene Installationen reale Aufgaben übernehmen könnten (wenn sicherlich auch andere als die pragmatische, eine Familie, ein Haustier, einen PKW in sich zu beherbergen) – auf diese Frage wird im Weiteren zurückzukommen sein. Ein Feld schließlich, das nahezu unmöglich von jenem der architektur- und ortsbezogenen Installation zu trennen ist, ist jenes der Kunst im öffentlichen Raum. Diese tritt heute in unterschiedlichsten Varianten auf: Sei es in Gestalt von Outdoor-

11 Oder, wie der Schweizer Architekt Peter Zumthor formuliert, angesprochen darauf, dass er seine eigene Arbeit als ,Nadelstiche eines Akupunkteursʻ bezeichnet: „Das ist eine Reaktion auf die Bedeutungslosigkeit des Architekten im Bauprozess. Der Architekt ist ähnlich bedeutend wie der Sanitärinstallateur. In den meisten Fällen braucht man Architektur, damit eine Immobilie etwas hermacht, wenn es um den Verkauf geht. Doch das hat nichts mit Architektur zu tun, sondern […] es ist der Preis unseres demokratisch-kapitalistischen Systems. Der Architekt sucht die Nähe zum Geld. Nur mit Geld kann man bauen. Und wenn man das nicht macht, kommt man nicht zu großen, bedeutenden Bauaufgaben. Aber ein einzelnes Haus, richtig gestellt, das bewirkt sehr viel. Deshalb das Bild vom Nadelstich.“ Daniele Muscionico, Matthias Daum, Peter Zumthor - Das meiste ist keine Architektur; Interview in: Die Zeit, Nr. 48/2014.

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Ausstellungen, als sogenannte Kunst am Bau12, oder in Form von temporären Aktionen und Interventionen im urbanen Umraum. Wie an den verschiedenen Erscheinungsformen abzulesen ist, handelt es sich bei Kunst im öffentlichen Raum eher um ein Präsentationsformat als um ein künstlerisches Genre. Allerdings zeigt sich dieses heute eng mit dem Gedanken installativen Arbeitens verbunden. Dem war nicht immer so. Denn während die architektur- und ortsbezogene Installationskunst sich im Kunstkontext der späten 1960er Jahre entwickelte (siehe etwa Bruce Nauman), tritt Kunst im öffentlichen Raum, jedenfalls in ihrer Spielart als Kunst am Bau, bereits seit den 1950er Jahren mit dem Anspruch an, die engeren Kunstkreise und deren übliche Orte zu verlassen.13 Gerade in Deutschland wurde Kunst am Bau dabei zunächst noch vorwiegend als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den nach dem Zweiten Weltkrieg an Auftragsarmut leidenden handwerklich-künstlerischen Sektor gesehen. In der Folge entwickelte sich der Bereich aber rasch und teilweise ambitioniert. Wie Uwe Lewitzky unter Rekurs auf Miwon Kwon anmerkt, kann diese Entwicklung sowohl für Deutschland wie für die USA in drei Phasen untergliedert werden: 1) Kunst im öffentlichen Raum (art in public place), 2) Kunst als öffentlicher Raum (art as public space), 3) Kunst für die Öffentlichkeit.14 In der ersten Phase werden traditionelle Skulpturen in öffentlichen Räumen platziert. (Kwon spricht hier von sogenannten ,drop-sculpturesʻ, also von gleichsam aus dem Museum herausgenommenen und an beliebigem Ort ohne Bezug zur Umgebung fallen gelassenen Skulpturen.) In der zweiten Phase werden, wie man sagen könnte, topologisch-soziale Kontexte berücksichtigt. Es entsteht eine Sensibilität für Orte und ihre Menschen. In der dritten Phase dominiert das Bewusstsein für soziale Räume. Das Verhältnis verkehrt sich und richtet sich auf ,sozio-topologische Kontexteʻ. Die drei Entwicklungsstufen sind mit Lewitzky und Kwon historisch-konsekutiv aufzufassen. Sie könnten prinzipiell aber auch als drei stets gegebene alternative Möglichkeiten von Kunst im öffentlichen Raum interpretiert werden, wobei insbesondere die zweite und dritte Möglichkeit bzw. Phase eng mit dem Gedanken der architektur- und ortsbezogenen Installationen verbunden sind. Eine Differenzierungsmöglichkeit zwischen Installation, Intervention, Aktion wird dabei, so man sie sucht, allenfalls von etymologischer Seite her angeboten. Denn während dem Installieren eine gewisse Dauerhaftigkeit bereits begrifflich eingeschrieben scheint, verbindet sich mit dem Ausdruck der ,Interventionʻ das Temporäre, jenem der ,Aktionʻ das Einmalige. Zudem haftet dem Intervenieren, also dem ,Einschreitenʻ (von lat. ,intervenereʻ = dazwischen treten), ein aktivistischer Zug an, der mit einem ethischen Impetus bzw. einem militärischen Beigeschmack behaftet ist. Diese Konnotationen bildet jedoch keinen prinzipiellen Widerspruch zum Gedanken der Installation. Auch diese kann, in Rosalyn Deutsches Worten, nicht allein assimilative (sich einpassende, konsensuelle), sondern ebenso interruptive (unterbrechende, polarisierende) Züge

12 Zuweilen auch genannt ,Prozentkunstʻ, vgl. Raimar Stange/Oliver Zybok (Hrsg.), Prozentkunst – Kunst am Bau in Bewegung; Kunstforum International, Bd. 214, 2012. 13 Vgl. Fn.2, dieses Kapitel. 14 Uwe Lewitzky, Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität (Bielefeld: Transcript, 2005), S.77-87.

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annehmen.15 Der ausschlaggebendere Faktor, wenn man eine Unterscheidung treffen möchte, dürfte daher jener der Dauerhaftigkeit sein. Wobei: Grenzen zwischen kurz und lang sind fließend. Wird aus einer Intervention, wenn sie nach einigen Stunden, Tagen oder Wochen noch an Ort und Stelle ist, eine Installation? Wichtiger, als die Differenz mit der Stoppuhr zu messen, dürfte es hier – wie in Kapitel 11 noch deutlich werden wird – sein, einem anderen mit dem Gedanken der Dauerhaftigkeit einhergehenden Aspekt nachzugehen: Nämlich jenem der Nachhaltigkeit.

15 Rosalyn Deutsche, Evictions: Art and Spacial Politics (Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 1996); siehe auch: Miwon Kwon, One place after another: site specific art and locational identity; a.a.O.

Kapitel 7 Architektur- und ortsbezogene Installation als künstlerisches Arbeitsmittel

Nachdem im vorausgehenden Kapitel geklärt werden konnte, was unter ,architekturund ortsbezogene Installationenʻ potentiell zu verstehen ist, wird im folgenden Kapitel anhand einiger ausgewählter Beispiele der Frage nachzugehen sein, wie derartige Arbeiten sich ihren Gegenständen nähern und welcher Mittel sie sich hierzu bedienen. Die Methode dafür liefert keine übliche Rezeptionstheorie, denn diese befasst sich allein mit der Art und Weise, wie künstlerische Hervorbringungen im Sinn von ,Werken der Kunstʻ wirken. Auch die Perspektive einer klassischen Produktionsästhetik ist wenig hilfreich. Zwar versucht diese sich an einem Blick hinter die Kulissen der Künste. Jedoch tut sie dies vom Standpunkt der geisteswissenschaftlichen Loge aus. Um Kunst, im Sinn eines fertigen, zu rezipierenden Produktes, wird es im Weiteren aber gar nicht gehen. Vielmehr wird eine einfache Frage gestellt werden, die es möglichst sachlich und eng an den Eigenaussagen installativ arbeitender KünstlerInnen entlang geführt zu beantworten gilt. Diese lautet: Woran und womit arbeiten Menschen, die im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation tätig sind, in ihrer alltäglichen Arbeitspraxis? Den Einstieg bildet ein Blick auf das Arbeiten Bruce Naumans – genauer gesagt: auf eine Umbruchphase, die sich zwischen Naumans frühem Experimentieren mit physischen Eigenerfahrungen und dem ersten Einsatz installativer Umräume ausmachen lässt (7.1). Unterschiedliche Möglichkeiten, mit installativen Umräumen – im Sinn komplex verfasster Wahrnehmungs- und Wirkungsgefüge – zu arbeiten, wird im Anschluss ein anderer Künstler, nämlich Ilya Kabakov, im Detail erläutern (7.2). Inwiefern eine Verbindung zwischen Umräumen, wie sie im Zuge installativer Vorgehensweisen zum Einsatz kommen, und realen Umräumen des Alltags besteht (7.3) – ja mehr noch: inwiefern architektur- und ortsbezogene Installationen einen direkten (physischen) Bezug zu Mensch und Umgebung entfalten können (7.4) –, dies machen abschließend die Beispiele Gregor Schneider und Rachel Whiteread deutlich. Vorbemerkungen: Gebaute Umräume als Mittel und Gegenstand der installativen Kunst Wir steigen eine Treppe hoch und betreten einen winzigen Vorraum mit drei geschlossenen Türen. […] über zwei Stufen [gelangen wir] in ein kleines, kahles Zimmer […]. Zwei Stühle, ein

264 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT gedeckter Tisch. Das Licht im leicht geöffneten Fenster […] im Vorhang regt sich sehr regelmäßig ein Windhauch. [Ich könnte] diesen Raum verlassen haben, ohne zu ahnen, was dieses Haus birgt […].1

Bewegen wir uns durch eine architektur- und ortsbezogene Installation wie die Installation Haus u r von Gregor Schneider, so kann es vorkommen, dass, wie der Verfasser obiger Zeilen anmerkt, zunächst einmal nichts darauf hindeutet, dass wir uns überhaupt in einer Installation – und nicht etwa in einem konventionellen Umraum des Alltags befinden. Freilich ist es selten der Fall, dass Installationen unmittelbar in originale Gebäude und somit in übliche Kontexte des Alltags integriert werden, so wie Gregor Schneider seine Installation Haus u r, die mittels diverser umgebauter bzw. komplett neu errichteter Zimmer ein ganzes Haus ausfüllt, in den alltäglichen Kontext der Stadt Rheydt implementiert. Vielmehr ist man sich normalerweise als BesucherIn einer Ausstellung für zeitgenössische Kunst, eines Museums oder einer Galerie durchaus darüber bewusst, dass es sich bei allem, was einem an derartigen institutionellen Orten begegnet, potentiell um Kunst handeln könnte. Wir sind also gewappnet, dass möglicherweise auch ein gedeckter Tisch von uns rezipiert und interpretiert werden möchte (und uns nicht etwa von einem freundlichen Mitmenschen bereitgestellt wurde, damit wir für einen Augenblick an ihm Platz nehmen und uns bei einer Tasse Kaffee von der Kunst erholen können). Was aber ist es, so gilt es hier und im Weiteren zu fragen, das eine künstlerische Arbeit wie Haus u r von Gregor Schneider unabhängig von einer kontextuellen Rahmung so eigen macht und von anderen Orten und Umräumen, wie wir ihnen im Alltag begegnen, unterscheidet? Um uns dieser Frage zu nähern, müssen wir uns die Spezifik vor Augen führen, welche im vorausgehenden Kapitel unter Punkt 5 möglicher Merkmale angesprochen wurde und welche viele der im Rahmen dieses Kapitels angesprochenen architekturund ortsbezogene Installationen kennzeichnet. Wie erwähnt können derartige Installationen eine merkwürdige Doppelgesichtigkeit aufweisen: Einerseits bedienen sie sich ganz gewöhnlicher alltäglicher Gegenstände. So, wie sich Gregor Schneiders Arbeit Gästezimmer (u r 10, Rheydt, 1993) eines Tisches, einer Tischdecke, zweier Stühle, eines Kaffeeservice, ja sogar einer Topfpflanze bedient, die nicht nur aussehen, als seien sie echt, sondern die schlicht und einfach echt sind. (Anders als ein flämisches Blumenstillleben würde dieser Bestandteil der schneiderschen Arbeit vertrocknen, bedächte man ihn nicht hin und wieder mit realem Wasser.) In diesem Sinn ist das Mittel, mit dem etwas dargestellt wird, nicht etwa ein Bleistiftstrich, Farbe oder Marmor, sondern es ist ein Stuhl, ein Tisch, eine Tischdecke. Andererseits bilden die genannten Utensilien nicht allein ein künstlerisches Mittel, sondern auch einen künstlerischen Gegenstand aus. Denn das, was dargestellt wird, ist ein Zimmer mit darin befindlichen Utensilien wie: einem Stuhl, einem Tisch, einer Tischdecke. Oder kurz und zusammenfassend gesagt: Womit wir es angesichts einer Installation wie derjenigen Gregor Schneiders zu tun haben, ist das Zusammenfallen von künstlerischem Mittel und künstlerischem Gegenstand (respektive von Medium der Darstellung und dargestelltem Sujet). 1

Hans Rudolf Reust, Der Windhauch im Vorhang von Hannelore Reuen – Gregor Schneiders Haus in Rheydt; in: Kunst-Bulletin, März 1996, S.3.

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Dieser Umstand macht es nicht gerade leichter, die Frage danach zu klären, was genau Menschen, die im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation tätig sind, eigentlich tun. Denn die augenscheinliche Kongruenz von Darstellung und Dargestelltem könnte leicht den wichtigen Aspekt übersehen lassen, dass besagte Ambivalenz überhaupt als solche gegeben ist. (Wollte man an dieser Stelle philosophisches Vokabular bemühen, man könnte in Anlehnung an die Terminologie Heideggers auch sagen: Dass etwas gleichzeitig als materielles Ding ,vorhandenʻ und im Sinn eines künstlerischen Darstellungsmittels ,zuhandenʻ ist.2) Wie aber kann man sich die ,Funktionsweiseʻ eines derartigen, offensichtlich extrem subtilen künstlerischen Arbeitsmediums, das zur Darstellung von Architekturen und Orten wenig mehr als diese selbst zu benötigen scheint, vorstellen? Wie genau ist es möglich, einerseits Zimmer darzustellen und diese andererseits zum Mittel der Darstellung zu machen? Dieses Unterfangen gleicht immerhin dem geradezu paradox erscheinenden Versuch, nicht mit Farben zu malen, sondern diese mittels der Farbe selbst darstellen zu wollen; oder etwa jenem, nicht mit Tönen zu komponieren, sondern diese in der Musik selbst zum Thema zu machen. Von einem zumindest kann man in diesem Kontext ausgehen: Nämlich, dass diese Frage nicht pauschal zu beantworten ist. Denn nicht jede architektur- und ortsbezogene Installation arbeitet mit den gleichen Mitteln und ,funktioniertʻ dementsprechend, wie anzunehmen ist, wohl auch nicht auf die eine, selbe, identische Art und Weise. Zur weiteren Klärung der Frage, wie architektur- und ortsbezogene Installationen agieren, womit sie arbeiten und somit, womit die im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation tätigen Menschen in ihrer alltäglichen Arbeitspraxis befasst sind, ist es daher sinnvoll, sich, wenn auch exemplarisch und stark ausschnitthaft, einer gewissen Bandbreite an künstlerischen Einzelansätzen und Arbeiten zuzuwenden. Zunächst werden hierzu zwei künstlerische Positionen zur Sprache kommen: zum einen Bruce Nauman, der insbesondere mit seinen frühen installativen Arbeiten, die seit Ende der 1960 Jahre entstanden, zu einem Wegbereiter der architektur- und ortsbezogenen Installation wurde; zum anderen Ilja Kabakov, dessen Arbeiten als nicht minder signifikant für den Bereich zu erachten sind.3

2 3

Vgl. Kapitel 5, Fn. 63. Während Bruce Nauman seit den 1960er Jahren in diesem Bereich arbeitet, vertritt Kabakov – obwohl an Lebensjahren älter – gewissermaßen die zweite Generation einer installativen Kunstpraxis. Denn anders als Nauman begann Kabakov erst vergleichsweise spät, nämlich mit seiner Emigration aus der UdSSR, in den 1980er/1990er Jahren, raumgreifende Arbeiten zu realisieren. (Wobei gesagt werden muss, dass Kabakovs installative Praxis als konsequente Weiterentwicklung seines eigenen früheren, jahrzehntelangen Arbeitens zu sehen ist, und nicht etwa als bloße Adaption eines im Westen vorgeformten künstlerischen Mediums.) Vgl. Ilya Kabakov, Wie kam es zur Idee der Totalen Installation? in: ders., Über die Totale Installation (Ostfildern: Hatje Cantz, 1995); sowie Kapitel 7.2.

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7.1 B RUCE N AUMAN : V ON DER PHYSISCHEN E RFAHRUNG ZUM U MRAUM Seit den 1960er Jahren entwickelt der US-amerikanische Künstler Bruce Nauman einen künstlerischen Ansatz, der einerseits von großer Konsequenz, andererseits von enormer Vielschichtigkeit geprägt ist. Hierzu bedient sich Nauman in medialer Hinsicht seit jeher – und dies gerne auch parallel zueinander – unterschiedlichster Mittel, wie jenem der Handlungsanweisung, der Performance, der Skulptur, der Installation, sowie der Medien Video, Film, Fotografie, Zeichnung, Text. Der medialen Pluralität seines Ansatzes gemäß lässt sich Naumans Arbeiten nur schwer einem Genre zuordnen. Vielmehr oszilliert es zwischen den großen Feldern der Performance, der Medienkunst, der zeitgenössischen Skulptur, der Installation und generiert dabei letztlich künstlerische Arbeiten ganz eigener Art. An dieser Stelle soll es, wie erwähnt, nun jedoch nicht um eine künstlerische Werkbetrachtung gehen. Vielmehr wird ausschnitthaft auf bestimmte Phasen in Naumans Arbeiten eingegangen werden und zwar insofern, als diese sich in allgemeiner Hinsicht, die ,Funktionsweiseʻ von architektur- und ortsbezogenen Installationen betreffend, als aufschlussreich erweisen könnten. Als zentrale Quelle dient dazu der Sammelband Please Pay Attention Please: Bruce Nauman's Words, der eine große Zahl an mit Nauman zwischen 1965 und 2001 geführte Interviews vereint.4 Zunächst zu einer Phase im Arbeiten des Künstlers, die am Beginn der Auseinandersetzung mit architektur- und ortsbezogenen Installationen steht, oder genau genommen, noch vor dieser liegt: die Zeit der mittleren 1960er bis frühen 1970er Jahre. Zu dieser Zeit experimentiert der 1941 geborene Künstler im Anschluss an sein Studium der Malerei und Bildhauerei mit ersten freieren skulpturalen Arbeiten sowie bald darauf mit einfachen Handlungen, die er beim alltäglichen Arbeiten in seinem Atelier verrichtet. Den konzeptionellen Ausgangspunkt bildet die im Sinn einer künstlerischen Setzung durchaus ernst zu nehmende, dabei wohl nicht ohne jenen für Nauman typischen Humor bewusst selbstreferentiell und zirkulär formulierte These, dass, was immer ein Künstler als Künstler in seinem Atelier tue, Kunst sein müsse. Oder, in Naumans eigenen Worten: If I [am] an artist and I [am] in the studio, then whatever I [am] doing in the studio must be art.5

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5

Die Herausgeberin der Interviewsammlung merkt an: „Unlike many of his contemporaries, Nauman has refrained from participating in the critical discourse surrounding his own work. In contrast to Naumans reputation for silence, however, from the beginning of his career, the incorporation of language has been a central feature of his art. This collection takes as its starting point the seeming paradox of an artist of so few words who produces an art of so many words. Please Pay Attention Please contains all of Nauman's major interviews from 1965-2001, as well as a comprehensive body of writings, including instructions and proposal texts, dialogues transcribed from audio-video works, and prose texts written specifically for installation sculptures.“ Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please: Bruce Nauman's Words (Massachusetts: MIT Press, 2005) Klappentext. Das Zitat wurde in die Gegenwartsform transferiert, um dessen Sinngehalt deutlicher hervortreten zu lassen. Im Original lautet die Interviewpassage, in der Nauman seine dama-

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7.1.1 Frühe Arbeiten: Einfache Handlungen und Performances Auf der Grundlage eines leeren Atelierraums, in dem sich der Künstler als Künstler aufhält, beginnt Nauman sein Experimentieren mit alltäglichen Handlungen, die er selbst auch als ,activitiesʻ bezeichnet. Häufig setzt Nauman dazu seinen eigenen Körper ein, den er in verschiedene Haltungen und Positionierungen im Verhältnis zum Umraum bringt: so in der mit Wall Floor Positions (1965) betitelten Serie von activities, in denen der Künstler diverse reduzierte physio-kinetische – also körperlich-bewegte – Aktionen wie Anlehnen, Abstützen, Hocken, Sitzen, Liegen ausführt, die jeweils unterschiedlich auf die räumlichen Elemente Wand und Boden Bezug nehmen; oder in Bouncing in the Corner (1968), einer Arbeit, in der Nauman sich in eine Raumecke stellt, um seinen Körper unablässig rückwärts fallen und von den Wänden wieder nach vorn abfedern zu lassen.6 Ähnlich agiert der Künstler in anderen activities, die später jeweils nach den in ihnen durchgeführten Handlungen betitelt wurden: Walking in an Exaggerated Manner Around the Parameter of a Square oder Dance or Exercise on the Parameter of a Square (1967/68). Beide Arbeiten setzen quadratische Bodenmarkierungen ein, auf deren Grundfläche bestimmte, einfache Tätigkeiten wie Schreiten, Tanzen, Turnen exerziert werden.7 Zur Motivation dieser frühen und, wie man sich vergegenwärtigen muss, zu jener Zeit höchst unkonventionellen künstlerischen Experimente, äußert sich Nauman in einer im Folgenden wiedergegebenen Interviewpassage. Wie der Künstler darin ausführt, bestand ein zentrales Anliegen der activities darin, eine besondere Form der physio-kinetischen Selbsterfahrung – der ,awarenessʻ, wie Nauman formuliert – zu erreichen, wie sie nicht allein mittels eines Nachdenkens, sondern ausschließlich mittels körperlicher Eigenaktivität erreicht werden könne: An awareness of yourself comes from a certain amount of activity and you can't get it from just thinking about yourself. You do exercises, you have certain kinds of awareness that you don't have if you read books.8

Nachdenken und Bücherlesen kann uns also nicht dabei helfen, das zu verstehen, was physische Eigenaktivität uns erleben lassen kann, so Bruce Nauman. Was dieses ,etwasʻ, das erlebt wird, ist, hängt nicht zuletzt von der jeweiligen Handlung oder dem jeweiligen Handlungsablauf ab. So führt bspw. der Versuch zu balancieren zu

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lige Hypothese retrospektiv wiedergibt: „If I was an artist and I was in the studio, then whatever I was doing in the studio must be art. At this point art became more of an activity and less of a product.“ Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.194 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.122 und S.141. Bruce Nauman, Studio Films, 1967-69: zu der Serie gehören des Weiteren Bouncing two Balls between the Floor and the Ceiling with Changing Rhythms und Playing a Note on the Violin While I Walk around the Studio; vgl. Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.129. Ohne an dieser Stelle vorausgreifen zu wollen sei erwähnt, dass diese Beobachtung Naumans, das Konstatieren einer physischen ,awarenessʻ, auf beachtenswerte Weise an Edmund Husserls Feststellung eines leiblichen Selbstbewusstseins erinnert. Zitat: Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.142.

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einer anderen Art physio-kinetischer awareness, als das Erleben physischer Ausdauer: [...] some of the pieces that I did [...] were specifically about doing exercises in balance. I thought of them as dance problems without being a dancer, being interested in the kinds of tension that arise when you try to balance and can't. Or do something for a long time and get tired.9

Schon bald sucht Nauman nach Wegen, die von ihm zunächst alleine, in seinem Atelier durchgeführten Übungen nebst daran gekoppelten Erfahrungen einem Kunstpublikum zu vermitteln. Die frühen activities waren oft ohne jede Dokumentation ausgeführt worden. Später war der Künstler dazu übergegangen, seine Handlungen aufzuzeichnen, indem er sogenannte Handlungsanweisungen10 verfasste – also einfache Anleitungen, wie die von ihm durchgeführten Aktivitäten entweder von ihm selbst zu wiederholen seien oder von anderen Personen nachgemacht werden könnten. Neben Handlungsanweisungen wählte Nauman zudem ein weiteres Mittel, nämlich jenes der damals sowohl als technisches, wie als künstlerisches Medium neuen Videoaufnahme. Auf diese Weise konnte Nauman seine activities nicht länger allein schriftlich, sondern auch dokumentarisch und visuell anschaulich festhalten. Eine Praxis, der Nauman bald eine weitere Methode zur Seite stellte: Nämlich jene, professionelle Performer zu engagieren, also Personen, die dafür bezahlt wurden, Naumans activities nach genauen Anweisungen entweder vor laufender Kamera oder vor Publikum ausführen. Tony versinkt im Boden Ein charakteristisches Beispiel aus jener Phase stellt die Arbeit Tony sinking into the floor dar. Bei dieser activity erhält der Performer, eine Person namens Tony, von Nauman die Anweisung, sich flach auf den Boden zu legen und dort für die Dauer einer Stunde still zu verharren. Während der gesamten Zeitspanne soll Tony sich auf die Vorstellung konzentrieren, dass er nach und nach, ganz langsam, im Boden versinke (bzw. umgekehrt: dass der Boden um ihn herum sukzessive, Stück für Stück, nach oben ansteige11). Die Aktion wird von Nauman per Video dokumentiert und später ungeschnitten als einstündiger Film präsentiert.12 Wichtig ist angesichts dieser von Nauman selbst als solche bezeichneten ,Performanceʻ, sich deren Charakter genau vor Augen zu führen. Denn der Begriff der ,Performanceʻ könnte in dem heute mit ihm im Alltag, in der Kunstwelt oder in 9 Ebd. 10 Bei Handlungsanweisungen handelt es sich um ein künstlerisches Medium, respektive eine künstlerische Präsentationsform, die mit der experimentellen Kunst der 1960er/1970er Jahre populär wurde. Dabei wird nicht in üblicher Manier – etwa mittels eines Bildes, eines Objekts, einer Performance o.Ä. – etwas ,dargestelltʻ oder ,gezeigtʻ, sondern in schriftlich fixierten Anweisungen eine Aktivität, Körperübung oder Handlung beschrieben, die durch RezipientInnen selbst auszuführen ist. 11 Wie in einer anderen activity aus der Serie der Fall, betitelt Elke Allowing the Floor to Rise Up over Her, Face Up; 1973; vgl. Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.176f. 12 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.176f.

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wissenschaftlichen Kontexten13 assoziierten Bedeutungsspektrum durchaus missverständlich hinsichtlich dessen wirken, was Nauman mit seinen frühen Experimenten bezweckt. Gerade im Deutschen verbindet sich mit dem Ausdruck in erster Linie eine theatrale Kunstform bzw. der Gedanke einer mehr oder weniger improvisierten, dabei durchaus inszenierten Aufführungspraxis vor Publikum. Im Englischen schließt der Begriff ,performanceʻ diesen Aspekt nicht aus. Allerdings finden sich hier, wie insbesondere die aktivische Verwendungsweise ,to performʻ deutlich macht, neben einem nach außen, an ein Publikum gerichteten ,zur Aufführung bringenʻ noch andere Bedeutungsaspekte: So der eines ,aktiven Agierensʻ, oder jener eines ,Durchführens von etwasʻ (wie in ,to perform musicʻ = konzertieren; oder in ,to perform a ritualʻ = ein Ritual ausführen). Öffentliches Aufführen und eigenes Erleben stehen also nicht im Widerspruch zueinander. Eben dieser Punkt ist es, der in Bezug auf Naumans Verwendung des Performance-Begriffs maßgeblich ist. Gut deutlich wird dies an der soeben genannten Arbeit Tony sinking into the floor. Diese würde, im Sinn einer rein äußerlichen Aufführung aufgefasst, kaum Sinn ergeben. Denn versteht man sie als solche, als einem Publikum dargebotene Aufführung, so haben wir es mit einer Person zu tun, die eine Stunde lang still und bewegungslos auf dem Boden ausharrt. Auch eine einstündige, ungeschnittene Videodokumentation dürfte dem Geschehen nur wenig an Dramatik hinzufügen. Allerdings: Betrachten wir den gleichen Sachverhalt unter dem Aspekt eines ,aktiven Agierensʻ oder ,Ausführens von etwasʻ, welches vom Machen einer eigenen Erfahrung begleitet wird, bzw. auf diesem basiert, so stellt eine derartige Performance sogar eine höchst diffizile Angelegenheit dar. Wie Nauman berichtet, ging die Erfahrung, die Tony während des Exerzierens der Performance machte, so weit, dass dieser letzten Endes gar eine Art Panikattacke verspürte angesichts der Vorstellung, Stück für Stück und unaufhaltsam im Boden zu versinken. Sicher mag Tony eine etwas zu lebhafte Phantasie in Naumans activity eingebracht haben. Eines ist jedoch gewiss: Der Spannungsbogen, den diese besaß, bildet sich nicht in einem rein äußerlichen Geschehen ab. Hinsichtlich des naumanschen Performance-Verständnisses lässt sich also zusammenfassend festhalten: Im Sinn des frühen Bruce Nauman ist eine Performance etwas, das auch vor einer Kamera oder vor Publikum durchgeführt werden kann; vor allem ist es aber etwas, das basal und konstitutiv mittels der eigenen Physis erfahren werden muss.14 13 Missverständlich könnte der Begriff ,Performanceʻ nicht nur deshalb wirken, weil er in unterschiedlichen Kontexten, in Künsten, Sozial- und Kulturwissenschaften, eine divergierende Bedeutung besitzt, sondern auch, weil selbst innerhalb einzelner Bereiche Begriffsinterpretationen keineswegs einhellig ausfallen. Erika Fischer-Lichte merkt hierzu an: „Theorien der Performance [sind] seit den sechziger/siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem in den Sozialwissenschaften in einer großen Fülle und Vielfalt entstanden, insbesondere in der Ethnologie und Soziologie. Und dies in einem Ausmaß, dass Performance heute als ,an essentially contested conceptʻ zu verstehen ist. Der Begriff ist inzwischen in den Kulturwissenschaften zu einer Art umbrella term geworden [...].“ Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004) S.41. 14 In Ästhetik des Performativen liefert die in der vorherigen Fußnote angesprochene Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte eine eigene Theorie des Performativen. Dabei

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7.1.2 Von unterschiedlichen Medien zu einem synthetischen Medium Einfache Handlungen und Performances sind nicht die einzigen künstlerischen Mittel, die Nauman in dieser Frühphase erprobt. Parallel zu diesen setzt er sich mit anderen Medien, teils neuen wie der Fotografie, teils vertrauten wie jenem der Skulptur, auseinander. Nauman mag dabei initial ein bestimmter Sachverhalt beschäftigen, dem er zunächst in skulpturaler Form, dann mittels der Fotografie, bald auf performative Weise, mittels des Einsatzes der eigenen Physis, nachgeht. Alle besagten Umsetzungsformen, oder richtiger Erkundungsformen, stehen hierbei prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander. Und sie werden parallel zueinander ausgeführt, ohne in einer einzigen medialen Form zu verschmelzen. Wie den Interviews jener Zeit zu entnehmen ist, wird Nauman angesichts dieser Arbeitsweise jedoch zunehmend ein Problem bewusst: Nämlich der Umstand, dass letztlich keines der von ihm soweit verwendeten Mittel wirklich dazu in der Lage ist, die spezifische Erfahrung, wie der Künstler selbst sie im Rahmen seiner activities macht, an RezipientInnen zu vermitteln. 15 Skulpturale Arbeiten können bestimmte Sachverhalte, im konventionellen Sinn der Skulptur, darstellen; Handlungsanweisungen ermöglichen demgegenüber das Machen einer Primärerfahrung. Gleichzeitig besteht für den Künstler aber keinerlei Kontrolle darüber, wie genau diese von RezipientInnen ausgeführt werden, und somit darüber, was letztlich erfahren wird. Videos, die Nauman von sich selbst oder von seinen Performern während der Ausführung der act-ivities anfertigt, vermögen ihrerseits ein akkurates dokumentarisches Zeugnis zu liefern. Dennoch bleibt die Frage, welche Wirkung sich tatsächlich allein durch das Ansehen einer activity einstellen mag: Wird das, was Tony erlebt, während trifft sie eine interessante Unterscheidung zwischen Eigenerleben (in Gestalt eines ,LeibSeinʻ) und zur Aufführung bringen (mittels eines ,Körpersʻ): „In Aufführungen […] der Performance-Kunst seit den sechziger Jahren werden Verwendungsweisen des Körpers erprobt und entwickelt, die […] an Konzepte der historischen Avantgarde anknüpfen und sie weiterführen. Sie unterscheiden sich allerdings von diesen insofern, als sie den Körper nicht als vollständig form- und beherrschbares Material voraussetzen, sondern konsequent von der Doppelung von Leib-Sein und Körper […] ausgehen. Verwendungen des Körpers finden im leiblichen In-der-Welt-Sein der […] Performer ihr Fundament und ihre Begründung.“ Relevant hinsichtlich Bruce Naumans Performance-Verständnis ist diese Unterscheidung (die die Theoretikerin in Anlehnung an einen phänomenologischen Leib-Begriff und einen semiotisch-poststrukturalistisch beeinflussten Körper-Begriff trifft; vgl. Kap. 11.1), insofern, als der frühe Nauman eine derartige Unterscheidung ausdrücklich nicht zu treffen scheint. Das zur Aufführung bringen mittels eines Körpers, so wichtig dieses für theatrale Formate üblicherweise sein mag, scheint Nauman vielmehr vorsätzlich zu ignorieren. Worauf sich das Bestreben des Bildenden Künstlers Nauman mittels des Experimentierens mit unterschiedlichen medialen Mitteln (sei es die Dokumentation per Video, die Aufführung vor Publikum, oder das Notieren von Handlungsanweisungen) hingegen richtet, ist allein, die eigene Erfahrungsrealität, dasjenige, was sich im Machen einer activity ereignet, an RezipientInnen weiterzugeben. Zitate: Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen; a.a.O., S.139. 15 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.143ff.

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er im Boden zu versinken meint, im Video erkenntlich? Vermittelt sich das, was während einer Performance geschieht, in der Außenperspektive, wie sie ein Publikum einzunehmen gezwungen ist? Die Hoffnung Naumans war zunächst offenbar gewesen, dass sich auch mittels passiver Rezeptionsformen gewisse Erfahrungen auf die Zusehenden übertragen lassen, wie er in der folgenden Interviewpassage erklärt: […] if you really believe in what you're doing and and do it as well as you can, then there will be a certain amount of tension – if you are honestly getting tired or if you are honestly trying to balance on one foot for a long time, there has to be a certain sympathetic response in someone who is watching you. It is kind of body response, they feel that foot and that tension.16

Trotz der hier zum Ausdruck gebrachten Hoffnung auf eine „sympathetic response“ scheint sich Nauman der Grenzen, die das Mittel der Empathie bzw. der Einfühlung in ein fremdes physio-kinetisches Erleben mit sich bringt, bewusst. Eine echte Lösung dieses Problems bahnt sich für den Künstler erst an, als es ihm gelingt, zwei Medien, nämlich jenes der activity (respektive der Performance) und das der Skulptur zusammenzuführen. Nauman hierzu in einer Interviewpassage aus dem Jahr 1970: BN: [...] it seemed pretty clear that some of the things I did were either performance or recorded performance activities, and others were sculptural – and it is only recently that I have been able to make the two cross or meet in some way. WS: In which works have they met? BN: The [...] first one was really the corridor, the piece with two walls that was originally a prop in my studio for a videotape in which I walk up and down the corridor in a stylized way for about an hour. At the Whitney „Anti-illusion“ show I presented the props as a piece, called Performance Corridor.17

Performance Corridor Mit der Arbeit Performance Corridor aus dem Jahr 1969 war für Bruce Nauman der Schritt von unterschiedlichen künstlerischen Einzelmedien hin zur Möglichkeit eines synthetischen Mediums vollzogen. Da diese Arbeit eine Schlüsselrolle im Arbeiten des Künstlers, sowie im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation im Allgemeinen, einnimmt, wird auf diese sowie auf die aus der Arbeit resultierenden Installationen im Folgenden genauer eingegangen werden. Zwecks Illustration zunächst eine kurze Beschreibung der Arbeit: Performance Corridor besteht aus zwei knapp 7 m langen Wänden, deren Material Nauman mit ,wallboardʻ angibt und die sich in einem Abstand von ca. 50 cm gegenüberstehen. Zwischen den Wänden verbleibt ein betretbarer Schacht, der am vorderen Ende offen, am hinteren Ende geschlossen ist. Rückseitig abgeschlossen wird der Korridor durch die Wand des Ateliers bzw. des Ausstellungsraumes, zu der die Installation lotrecht montiert ist.

16 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.145. 17 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.143-145.

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Ursprünglich hatte Nauman die Installation als Bestandteil der Arbeit Walk with Contrapposto errichtet: Eine activity, bei der der Künstler den Korridor betritt und diesen langsam durchläuft, wobei er die Körperhaltung eines klassischen Kontraposts einnimmt. Mit jedem Schritt in den Korridor hinein verlagert der Performer die Kontraposthaltung von links nach rechts und von rechts nach links, so fortfahrend, bis er am Ende des Korridors angelangt ist, um sich wieder auf die gleiche Weise rückwärts gehend, Schritt für Schritt, aus diesem herauszubewegen. Die gesamte Performance dauert nach Angaben des Künstlers etwa eine Stunde. Eine Videokamera filmt den Vorgang von erhöhter Position aus. Die Kamera ist so positioniert, dass sie den Performer von hinten zeigt. Der Bildausschnitt ist derart gewählt, dass die inneren Korridorwände links und rechts das Bild abschließen, ohne dass vom umgebenden Außenraum etwas zu sehen wäre. Im Rahmen des Videos stellt der Korridor also auch eine Art Szenenbild oder Kulisse dar. Von wichtiger und für Naumans weitere Entwicklung entscheidender Bedeutung sind jedoch die zweite und dritte Aufgabe, die dem experimentellen Set-up zukommen. Dieses markiert nicht nur visuell, wie in der Videoarbeit zu sehen, den Handlungsspielraum des Performers. Auch ganz real limitieren die Korridorwände das Bewegungsspektrum und den Aktionsradius der in ihr agierenden Person. Die per Video festgehaltene activity des Walk with Contrapposto stellt in dieser Hinsicht, wie Nauman selbst anmerkt, zwar nur eine mögliche von potentiell mehreren möglichen activities dar, die im Performance Corridor ausgeführt werden könnten. (Nämlich jene, welche vom Künstler, nach dem Erproben unterschiedlicher Möglichkeiten, ausgewählt und im Video dokumentiert wurde.) Prinzipiell erlaubt Performance Corridor auch andere activities durchzuführen, nur eben – und dies ist der entscheidende Punkt: innerhalb des durch den Korridor vorgegebenen Rahmens, der nicht allein ein visueller, sondern vielmehr ganz real und konkret: ein physisch-materieller Rahmen ist. Einen weiteren entscheidenden Schritt vollzog Nauman mit Performance Corridor insofern, als er die zunächst allein für seine persönliche Eigenaktivität (bzw. als Filmkulisse) konzipierte Arbeit gemeinsam mit dem Video ausstellte. Denn diese Entscheidung – die, wie Naumans Gesprächspartner anmerkt, das damalige Kunstpublikum, das nicht recht wusste, wie man mit einem derart seltsamen Objekt umzugehen, wie man es zu rezipieren habe, durchaus verunsicherte18 – lieferte eine Lösung für das über mehrere Jahre verfolgte konzeptionelle Problem Naumans, eine activity, im Sinn einer selbst zu machenden Erfahrung, auch auf Seiten der RezipientInnen plastisch nachvollziehbar werden zu lassen. Statt weiterhin allein selbst bestimmte Erfahrungen zu machen und diese – mittels Handlungsanweisungen notiert, per Video gefilmt oder per Performance aufgeführt – einem Publikum indirekt nahezubringen, übernimmt der Korridor nun die dritte und, im Verbund mit der zweitgenannten, entscheidende Aufgabe, RezipientInnen die vom Künstler selbst erprobten Erfahrungen aktiv und – recht wörtlich – ,am eigenen Leibʻ erfahren zu lassen. Die Entwicklung und Präsentation von Performance Corridor stellte für den Künstler also nicht nur einen, sondern gleich zwei Schritte in eine neue Richtung dar. Nauman selbst beschreibt die neuen Möglichkeiten, die die Installation ihm bot, mit folgenden Worten: 18 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.114.

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That piece is important because it gave me the idea that you could make a participation piece without the participants being able to alter your work.19

Was die Präsentation des Korridors erlaubte, war also, RezipientInnen aktiv einzubeziehen und sie dieselben, oder zumindest äußerst ähnliche, physio-kinetische Erfahrungen machen zu lassen, wie Nauman sie in seinem Studio erprobt hatte; dies jedoch – anders als etwa bei den Handlungsanweisungen der Fall –, ohne dass den RezipientInnen die Möglichkeit gegeben wäre, in das vorgegebene Setting einzugreifen – wodurch die Arbeit, wie Nauman betont, ,verändertʻ und zu etwas anderem gemacht worden wäre. In diesem Sinn fungiert der Korridor als eine Art Spielfeld, wie man sagen könnte, das den äußeren Rahmen für potentiell auszuführende Aktionen festsetzt. Das Einnehmen einer Kontraposthaltung stellt hierbei eine Möglichkeit, jedoch keine Notwendigkeit dar. Worauf das Bewegungsspektrum der RezipientInnen hingegen unweigerlich reduziert wird, ist die lineare Bewegung zwischen zwei dicht gegenüberstehenden Wänden hindurch, in einen Korridor hinein, bis zu einem Punkt, an dem es nicht weitergeht, und schließlich wieder aus diesem heraus. Dabei findet eine gezielte Einschränkung statt, nicht auf eine einzelne activity nebst daran gekoppelter Erfahrung, wohl aber auf eine deutlich limitierte Anzahl an möglichen activities – und somit: auf ein potentielles Erfahrungsspektrum. Dieses Anliegen, die Kontrolle darüber zu behalten, was potentiell in einer bestimmten räumlichen bzw. physio-kinetischen Situation erfahren werden kann, ist ein lange verfolgtes Anliegen Naumans. So hatte der Künstler bereits angesichts seiner früheren Performancestücke, bei denen noch festgelegte Handlungsanweisungen die Rolle eines limitierenden Rahmens zu übernehmen hatten, erklärt: [...] these pieces have to do with creating a very strict kind of environment or situation so that even if the performer doesn't know anything about me or the work that goes into the piece, he will still be able to do something similar to what I would do.20

7.1.3 Von der Limitierung der Erfahrung zur Schaffung eines spezifischen Erfahrungsumraums Nauman geht es also zunächst einmal darum, eine Art Spielfeld, ein „strict kind of environment“, wie der Künstler formuliert, zu schaffen, das es ihm ermöglicht, das Erfahrungsspektrum von RezipientInnen kontrolliert zu limitieren. ,Kontrolleʻ ist dabei nicht im Sinn von Machtausübung misszuverstehen. Vielmehr erscheint diese als notwendige Beschränkung. Denn Ziel des Künstlers ist letztlich ja nicht etwa das Unterbinden, im Sinn eines Selbstzwecks, sondern vielmehr das Ermöglichen spezifischer Erfahrungen. Was sind nun diese spezifischen Erfahrungen, wie sie in einem simpel anmutenden Installations-Set-up wie Performance Corridor eingebettet liegen? Nauman selbst merkt hierzu an:

19 Ebd. 20 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.139.

274 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT […] all you could really do was just walk in and walk out and it really limited the kinds of things that you could do.21

Ist dieses Hinein- und dann wieder Hinausgehen aber wirklich alles, worauf die RezipientInnen limitiert werden sollen? Dass Nauman mit seinen Arbeiten durchaus spezifischere Erfahrungen zu ermöglichen sucht, als er an dieser Stelle verrät, macht der Künstler mit einer anderen Äußerung deutlich (in der Nauman sich zu seinen eigenen frühen Arbeiten äußert, dabei aber nicht zuletzt Stellung gegen den Gedanken einer freien Partizipation, wie ihn Arbeiten anderer KünstlerInnen zuweilen zum Einsatz bringen, bezieht): I really had some more specific kinds of experiences in my mind and, without having to write out a list of what [people – Einfügung B.H.] should do [...] I wanted to make kind of play experiences unavailable, just by the preciseness of the area.22

„play experiences“, also spielerische Erfahrungen, wie sie der Gedanke einer freien Partizipation erlaubt, sollen also gezielt verunmöglicht werden. Mittel hierzu ist die „preciseness of the area“ – die Präzision des vom Künstler oder der KünstlerIn geschaffenen physischen Rahmens. Worin liegt aber jenes präzise Moment im Fall von Performance Corridor? Wendet man sich dem Objekt noch einmal genauer – und zwar nicht im Sinn einer technischen Beschreibung, sondern unter dem Gesichtspunkt der potentiell zu machenden Erfahrung – zu, so besitzt dieses eine solche Breite, dass eine eintretende RezipientIn die Seitenwände zwar nicht berührt, der Person jedoch das Gefühl gegeben wird, diese permanent ,so gut wieʻ zu berühren. Was in Performance Corridor erfahren werden kann, ist also der Aspekt einer linearen Bewegung hinein und wieder heraus. Aber es ist auch der Aspekt eines Spürens der eigenen Physis in der Bewegung zwischen zwei dicht gegenüberliegenden Wänden. Der von Nauman errichtete Korridor nimmt somit unmittelbar Bezug auf den menschlichen Körper im Sinn einer perzeptiven Physis (oder wie man an dieser Stelle illegitim zurück- bzw. vorausgreifend auf die phänomenologische Tradition sagen könnte: eines Leibes). Diese wird nicht im Sinn einer äußeren Maßeinheit verstanden. Denn Nauman baut, wie der Künstler selbst erklärt, seine Arbeiten nicht etwa in einer standardisierten Normbreite, die es einem Durchschnittspublikum mit Normkörpern erlauben würde, diese zu begehen. Vielmehr wird beim Errichten einer Installation stets auf die eigene perzeptive Physis Bezug genommen, die hierzu als ein aktives Instrument des Umraumerfahrens eingesetzt wird.23 Korridor-Varianten Diese Möglichkeit, mit dem Verhältnis ,perzeptive Physis – perzipierter Umraumʻ zu arbeiten, ist es nun auch, die Nauman in seinen folgenden Korridor-Arbeiten weiter auslotet. So beschreibt er eine an Performance Corridor unmittelbar anschließende

21 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.30. 22 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.167. 23 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.135.

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Arbeit24, die zwei sich zunehmend verjüngende Korridore zum Einsatz bringt, welche V-förmig auf einen gemeinsamen Endpunkt hin konvergieren, wie folgt: [...] the corridors that you walk down are two feet wide at the beginning and they narrow down to about sixteen inches. So going into it is easy, because there is enough space around you for you not to be aware of the walls too much until you start to walk down the corridor. Then the walls are closer and force you to be aware of your body. It can be a very self-conscious kind of experience.25

Nauman experimentiert in dieser Korridor-Variante also weiterhin mit der Erfahrung einer linearen Bewegung vor und zurück. Auch experimentiert er, wie gehabt, mit der Bewegung zwischen zwei dicht gegenüberliegenden Wänden. Neu hinzu kommt in diesem Fall allerdings die Zuspitzung der Erfahrung, von der Wahrnehmung räumlicher Beschränkung auf das Erfahren zunehmender räumlicher Beschränkung – was, mit Nauman, das Moment, sich seiner perzeptiven Physis bewusst zu werden, eine Art physischer ,self-consciousnessʻ zu verspüren, noch verstärkt. Im Zuge dieser und anderer, ähnlicher Korridor-Arbeiten setzt der Künstler zudem spezielle Materialien ein.26 Diese beeinflussen die akustische Wirkung der Korridore und haben zugleich, wie Nauman in der folgenden Gesprächspassage ausführt, Einfluss auf andere Aspekte des menschlichen Wahrnehmungsvermögens (konkret das Druckempfinden und damit verbunden die allgemeine Umaumwahrnehmung): BN: [...] the corridors had to do with sound damping, the wall relied on soundproofing material which altered the sound in the corridor and also caused pressure on your ears, which is what I was really interested in: pressure changes that occurred while you were passing by the material. And then one thing to do was to make a V. When you are at the open end of the V there's not too much effect, but as you walk into the V the pressure increases quite a bit, it's quite claustrophobic .... – WS: Pressure is also felt on the spectator's own body. Does that come from your ears? BN: It has a lot to do with just your ears. WS: So space is felt with one's ears? BN: Yeah, that's right.27

Die behandelten Arbeiten machen nur eine vergleichsweise kurze Phase innerhalb von Bruce Naumans vielgestaltigem Arbeiten aus. Dennoch markieren sie für den Künstler einen entscheidenden Wendepunkt: Es ist der dreistufige Übergang vom 24 Bruce Nauman, Corridor Installation with Mirror – San Jose Installation (Double Wedge Corridor with Mirror), 1970-1974. 25 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.134. 26 Siehe auch: Bruce Nauman, Diagonal Sound Wall (Acoustic Wall), erstmals installiert in der Galerie Konrad Fischer, Düsseldorf, 1970. 27 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.134.

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Darstellen einer Erfahrung, zum eigenen Machen einer Erfahrung durch den Künstler und weiter zum Eine-Erfahrung-machen-Lassen durch RezipientInnen. Diese Entwicklung ist bei Nauman mit den Medien der Skulptur, der Performance/activities und schließlich der architektur- und ortsbezogenen Installation gleichzusetzen.28 Naumans installative Arbeiten gewinnen in der Folge schnell an Komplexität. So kreiert der Künstler bald Korridore, die mit farbiger Lichtwirkung arbeiten, wie Blue Light Corridor oder Yellow Light Corridor, oder solche, die Spiegel und Monitore integrieren, auf denen sich RezipientInnen selbst in einem jeweiligen Umraum, ganz oder fragmentarisch, wahrnehmen können. Ein Spannungsverhältnis entsteht für Nauman zudem durch das Hinzufügen von ,kognitivʻ vermittelter Information, etwa Texten und Titeln, die Installationen beigefügt und die mit physisch erfahrbaren Komponenten kombiniert werden. Das, worum es in der künstlerischen Arbeit Naumans – im Sinn eines zu rezipierenden Werkes – geht, ist also mehr, als vermeintlich ,rein sinnliche Erfahrungenʻ zu machen. Es entsteht nicht selten durch ein gezieltes Wechselspiel aus unmittelbarer physischer Erfahrung und anderen, etwa textuellen Elementen. Zuweilen liegt es aber auch gerade in einer klaffenden Lücke zwischen beiden Momenten, also zwischen vermeintlich ,rein Sensorischemʻ und ,rein Kognitivemʻ. Nauman erklärt dieses Spannungsverhältnis selbst wie folgt: You can give two pieces of information [mit Information ist an dieser Stelle gemeint: Die wahrnehmbare Installation und der zu lesende Titel – Anmerkung B.H.] and the piece is finally about that. It's about the tension of not being able to put them together.29

(Inwiefern derartige Ausführungen interessante Einblicke hinsichtlich dessen geben könnten, was in Teil II dieser Untersuchung unter dem Begriff ,aisthesisʻ beschrieben wurde, dazu mehr zu einem späteren Zeitpunkt, in Teil IV). Entscheidend für den Moment ist, sich die beschriebene Umbruchphase – nicht im Sinn eines Werkes und dessen möglicher Rezeption, sondern hinsichtlich des künstlerischen Mediums und Arbeitsmittels – klar vor Augen zu führen und als solche für die weitere Untersuchung im Gedächtnis zu behalten. Naumans Korridor-Arbeiten können in dieser Hinsicht als wegweisende Ansätze gesehen werden, die es ermöglichten, den zum damaligen Zeitpunkt jungen künstlerischen Bereich der Performances/activities mit skulpturalen Mitteln zu verbinden und im Medium der architektur- und ortsbezogenen Installation zu synthetisieren. Oder, von der Seite des Machens einer Erfahrung her formuliert: Aktives physio-kinetisches Erleben mit dem Erfahren präzise gestalteter Umräume zu verbinden. So viel, für den Augenblick, zu Bruce Nauman. Nun zu einem Künstler, der besonders geeignet ist, sich die Bedeutung des Umraums – wie sie sich anhand von Naumans Korridor-Arbeiten ja überhaupt erst andeutete – und die Möglichkeiten, die dessen detailreiche Ausgestaltung für die Funktionsweise architektur- und ortsbezogener Installationen bieten, zu vergegenwärtigen. 28 Während aus heutiger Sicht Naumans Arbeiten geradezu als prototypische Vertreter der Installationskunst gesehen werden können, werden sie in Interviews der Zeit noch als ,Environmentsʻ bezeichnet. Vgl. Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.168-172 (zu den Begriffen siehe auch Kap. 6). 29 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.265.

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7.2 I LYA K ABAKOV : D IE T OTALE I NSTALLATION ALS KOMPLEXES W IRKUNGSGEFÜGE Von einer ganz anderen Seite als Bruce Nauman nähert sich Ilya Kabakov, Jahrgang 1933, dem Bereich der installativen Kunst. Über Jahrzehnte hinweg arbeitete der in der Sowjetunion sozialisierte Künstler mit den Mitteln der Grafik und Malerei. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, im Zuge seiner Emigration aus der UdSSR ins westliche Ausland, begann Kabakov – der sich bereits in seiner Malerei kritischsubversiv mit der Doktrin des sozialistischen Realismus auseinandergesetzt hatte –, seine künstlerische Arbeitsweise konsequent in die dritte Dimension hinein zu erweitern. Dabei entwickelte er einen eigenen Typus der architektur- und ortsbezogenen Installation, den er selbst als ,Totale Installationʻ bezeichnet.30 Anders als beim frühen Bruce Nauman der Fall, der seinen künstlerischen Ansatz im Kontext der experimentellen US-amerikanischen Kunst der 1960er Jahre – somit im Bezugsrahmen von concept art, minimal art, land art, video art, performance art – entfaltete31, findet sich in Kabakovs Installationen keine formale Reduzierung auf einfache minimalistische Grundelemente (wie Wand, Boden, Decke, Beleuchtungselement). Vielmehr arbeitet Kabakov mit quasi-realistischen Mitteln, indem er alltägliche Gegenstände in seine Installationen integriert, um diese zu Interieurs – seien es einzelne Zimmer oder auch ganze Wohnungs- oder Gebäudeeinrichtungen – zusammenzufügen.32 Die Frage, die angesichts einer derartigen ,realistischenʻ Arbeitsweise – wie sie nicht allein Kabakov, sondern mittlerweile bereits eine zweite Generation an Künst-

30 Mit ,Totale Installationʻ bezeichnet Kabakov eine von ihm praktizierte sowie maßgeblich mitentwickelte Form der architektur- und ortsbezogenen Installation. Das im Deutschen historisch vorbelastete, daher in seinem Konnotationsspektrum leicht missverständliche Wort ,totalʻ bezieht sich nicht etwa auf den Anspruch derartiger Arbeiten, sondern vielmehr auf deren Charakter im Sinn einer Art Gesamtkunstwerk, das zum einen verschiedene mediale Mittel und Medien (Bild, Objekt, Text, Musik u.a.) im Rahmen des übergreifenden Mediums der Installation vereint, das vor allem aber, wie Kabakov betont, ein spezielles RezipientInnen-Verhältnis aufbaut: „Eine erschöpfende Antwort auf die Frage, was eine Installation ist, kann ich nicht geben. Ich weiß es eigentlich nicht, obwohl ich mich schon viele Jahre mit großem Enthusiasmus mit Installationen beschäftige. Trotzdem werden wir nun [...] jene Art von Installation erörtern, die man ,totaleʻ Installation nennen kann, weil sie so gemacht ist, daß der Betrachter selbst (zusammen mit verschiedenen an ihr beteiligten Komponenten) in ihr Inneres kommt, von ihr aufgenommen wird.“ Vgl. Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.13-15; Zitat: S.13 31 Nauman selbst gibt in verschiedenen Interviews Auskunft zum Kontext seines Arbeitens und diesbezüglichen Einflussfaktoren. Siehe etwa: Interview mit Willoughby Sharp (1970), Interview mit Lorraine Sciarra (1972), Interview mit Joan Simon (1988), alle in: Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O.; S.111-130; S.155-171; S.317-338. 32 Kabakovs künstlerischer Ansatz ist äußerst vielschichtig: Es reicht vom Bereich Grafik/Malerei, bis zum Medium Text, von Außenraum- bis zu komplexen Innenraumarbeiten, die Objekte, Zeichnungen, Gemälde inkorporieren und dabei selbst Züge quasi-musealer Ausstellungsdisplays annehmen. Die hier thematisierten Installationen stellen also nur einen gewissen Ausschnitt aus seinem reichhaltigen Arbeiten dar.

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lern (zu denken etwa an oben erwähnten Gregor Schneider), zum Einsatz bringt – zu stellen ist, lautet: Inwiefern mag die gezielte Limitierung, Steuerung und Fokussierung der physio-kinetischen Erfahrung33, die Bruce Nauman mittels seiner reduzierten räumlichen Arrangements erreicht, auch angesichts einer so detailreichen und vermeintlich originalgetreuen Installation zum Tragen kommen, wie sie Ilya Kabakov herstellt? Mögliche Aufschlüsse hierüber sollten, so ist anzunehmen, in den künstlerischen Arbeiten selbst zu finden sein, so dass sie – etwa durch den geschulten Blick von anderen installativ arbeitenden KünstlerInnen – aus diesen herausgelesen werden könnten. (Vergleichbar dem geometrischen Kompositionsprinzip, nach dem ein Renaissancegemälde angelegt wurde und das diesem durch andere, mit entsprechenden Kompositionsverfahren vertraute KünstlerInnen, auch noch retrospektiv zu entnehmen ist.) Allerdings bietet sich bei Ilya Kabakov eine andere, einfachere Art des Zugangs an. Denn anders als bei vielen KünstlerInnen der Fall, liegt bei Kabakov nicht nur ein bildnerischer Arbeitskomplex vor, sondern auch ein umfangreicher Arbeitskomplex textueller Art. Diese schriftbasierte Komponente im Arbeiten Kabakovs ist zum einen integraler Bestandteil seiner Installationen – etwa, wenn der Künstler Beschriftungen, Texte oder ganze Narrationen in seine Installationen integriert. Schriftlich-textuelle Anteile finden sich darüber hinaus aber auch in Gestalt eigener Aufsatz- und Buchveröffentlichungen, in denen sich der Künstler mit unterschiedlichsten kunstbezogenen Fragestellungen, praktischer wie konzeptioneller Art, umfassend auseinandersetzt. 34 Eines der aufschlussreichsten Zeugnisse hinsichtlich der Funktionsweise einer kabakovschen Installation stellt dabei der zunächst als Vorlesungsreihe entworfene, später in Buchform veröffentlichte Text Über die Totale Installation dar.35 In diesem äußert sich Kabakov zu unterschiedlichsten Fragen, die sich mit seiner Version einer architektur- und ortsbezogenen Installation verbinden, wobei der Schwerpunkt der (ursprünglich gezielt an junge KollegInnen gerichteten36) Ausführungen darauf gerichtet ist, Einblicke in die alltägliche Arbeitspraxis sowie in die einzelnen Arbeitsmittel zu geben, mit denen installativ arbeitende KünstlerInnen heute umzugehen haben.

33 Bei dem, was im Kontext von Naumans und Kabakovs Arbeiten als ,physio-kinetische Erfahrungʻ beschrieben wird, handelt es sich um einen wichtigen Aspekt dessen, was in anderen Kapiteln dieser Untersuchung als ,sensorisch-kognitiveʻ Erfahrung bezeichnet wird. Allerdings gilt es, wie eingangs in Kapitel 6 festgestellt, an diesem Punkt nicht vorwegzugreifen und Begriffe nicht voreilig von einem Bereich (in diesem Fall jenem einer Aisthetik) auf einen anderen (jenen der installativen Kunst) zu übertragen. 34 Siehe etwa: Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O.; Ilya Kabakov, Der Text als Grundlage des Visuellen (Köln: Oktagon-Verlag, 2000); Ilya Kabakov/Boris Groys, Die Kunst der Installation (München: Karl Hanser, 1996); Ilya Kabakov, On Installation ; in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.), Art in Theory – An Anthology of Changing Ideas; a.a.O., S.1175-1180. 35 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O. 36 Die Veröffentlichung basiert auf einer Vorlesungsreihe, die 1992/93 an der Städelschule, Frankfurt am Main, gehalten wurde.

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7.2.1 Einfache Replik oder künstlerische Umsetzung? Vergegenwärtigt man sich Arbeiten Kabakovs, wie die Installation Die Toilette (1992) oder School No.6 (1993), so taucht spontan ein Verdacht auf, wie er bereits eingangs anhand von Gregor Schneiders Haus u r laut geworden war, nämlich: Sind derartige Installationen nicht einfach als simple Nachbauten realer Vorbilder anzusehen? Verkörpern sie in diesem Sinn tatsächlich mehr, als handwerklich mehr oder weniger akkurat gefertigte Repliken? Ein erster Hinweis in dieser Sache findet sich, wenn man mit Kabakov den Entstehungs- und Aufbauprozess einer seiner Totalen Installationen nachvollzieht. Nicht etwa den künstlerischen Schaffensakt. Nein, ganz banal und einfach: den Entstehungs- und Aufbauprozess. Derartige praktische Anteile künstlerischen Arbeitens sind in aller Regel nicht Gegenstand der kunsthistorischen oder philosophischen Auseinandersetzung. Demgemäß existieren, selbst was die Kunst der Gegenwart anbelangt, kaum schriftlich fixierte Zeugnisse der pragmatischen Aspekte einer stattdessen nach wie vor gerne als solchen mystifizierten ,Genese von Kunstwerkenʻ.37 Anders verhält es sich im Fall Kabakov. Dieser beschreibt im Rahmen seiner Vorlesungsreihe offen und en détail, wie seine Installationen entstehen: Vom ersten Schritt der Findung einer Idee bis hin zu den finalen Korrekturen kurz vor Eröffnung der Ausstellung. Zum Entstehungs- und Aufbauprozess einer kabakovschen Installation Wie Kabakov erklärt, steht am Anfang seines Arbeitsprozesses stets die Findung und Entwicklung einer künstlerischen Idee. Dieser Vorgang sei, so Kabakov, je nach Künstlerpersönlichkeit verschieden. Im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation bringe er jedoch bestimmte Anforderungen mit sich, die keineswegs allein individueller Natur seien, wie der Künstler in der folgenden Passage ausführt:

37 Aufschlüsse sind, was historische Arbeitsweisen und -mittel betrifft, wenn, so eher im Feld der Künste selbst zu suchen. Bilder von Zeitgenossen zeigen, unter welchen Bedingungen die Plain-Air-Malereien Monets oder der Maler des Blauen Reiters entstanden. Von Caspar David Friedrich weiß man, ebenfalls dank der Darstellungen befreundeter Künstler, dass dieser sich zum Anfertigen seiner oft kleinteiligen Gemälde eines Stützstabes bediente, auf den er einen Pinsel auflegen konnte, um so auch aus größerer Distanz heraus Details in ein Gemälde einzubringen. Unvollendete Gemälde wie das große Historienbild Adolph Menzels Ansprache Friedrich II. An seine Generäle vor der Schlacht bei Leuthen in der Alten Nationalgalerie, Berlin, oder Leonardo Da Vincis Anbetung der Könige aus dem Morgenland in den Uffizien, Florenz, geben Aufschluss über ihren jeweils unterschiedlichen Entstehungsprozess; so wie die unfertigen Skulpturen eines Michelangelo oder Auguste Rodin aufschlussreich bezüglich einer spezifischen, bildhauerischen Vorgehensweise sind. Derartige Zeugnisse, Entwürfe, Studienblätter, rudimentäre Relikte und Darstellungen Dritter geben Einblick in die praktische, alltägliche Seite künstlerischen Arbeitens, die die Autoren der großen traditionellen philosophischen Ästhetiktheorien weder zu geben noch zu erlangen suchten (vgl. Kap. 1).

280 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Der [...] wichtigste Moment – die Entstehung der Idee – sieht bei jedem anders aus, aber in jedem Fall muß man das bereits existierende Gebäude im Auge haben, dann schreibt sich die Idee in die vorgegebenen Parameter ein [...].38

Die künstlerische Idee zu einer Installation wird also nicht, wie es das traditionelle Klischee will, gleich einem Musenkuss im luftleeren Raum und unabhängig von jeglichen praktischen Gegebenheiten entwickelt. Künstlerische Idee und die Parameter des designierten Umraums müssen vielmehr ineinandergreifen. Damit dies reibungslos geschehen kann, bedarf es einer genauen Kenntnis der Ausstellungsräume: Man schaut sich, ehe man an den Entwurf geht, den Raum an, der für die Installation zur Verfügung steht, ob und was man daran umbauen kann, seine ganze Konfiguration, sein räumliches Bild, die Höhe und Beschaffenheit der Decke und das Aussehen der Fenster […] man schaut sich den Fußboden an, sein Material – Holz, Beton oder Parkett […]. Man schaut sich die Lichtverhältnisse an, die Art der Lampen und die Möglichkeit, die Beleuchtung zu verändern.

Ein vorgegebener Umraum muss also einerseits, wie Kabakov ausführt, in seinen Gegebenheiten berücksichtigt werden, andererseits auf die Möglichkeit, in ihn gestaltend einzugreifen, hin begutachtet werden. Fertig sei ein Entwurf erst, so Kabakov, wenn es dem Künstler gelänge, die komplette Installation vor dem inneren Auge zu imaginieren. Man muß in der Phantasie, wie in einem Film, in die fertige Installation hineingehen, [sie] durchlaufen, in jede Ecke schauen.

Erst dann könne der Entwurf mittels Entwurfszeichnungen und Skizzen sämtlicher Details fixiert werden, wobei zu beachten sei: Alles, die Pläne und Details [...] muß vom größten bis zum kleinsten Element mit genauen Massen versehen sein – diese Exaktheit ist wichtig [...].

Doch nicht allein die gestalterisch-konzeptionelle Arbeit, auch die handwerklichpraktische Umsetzung erfordere größte Sorgfalt. Kabakov führt nicht alle Arbeitsschritte selbst aus. Doch selbst bei den grob-handwerklichen, baulichen Tätigkeiten ist der Künstler stets persönlich zugegen, um deren korrekte Ausführung begutachten und gegebenenfalls eingreifen zu können. Diese Präsenz sei von erster Minute an erforderlich, denn nur so ... [...] hat man schon beim ersten eingebauten Brett oder Balken die Möglichkeit zur Korrektur. Von nun an bleibt man am besten ständig auf der Baustelle, ohne sich zu entfernen, Tag für Tag […] bis zu dem Moment der Beendigung aller beschriebenen Arbeiten [...].

38 Dieses sowie die folgenden Zitate bis zu Anmerkungsziffer 39 entstammen: Ilya Kabakov, Der Aufbau der Totalen Installation; in: ders., Über die Totale Installation; a.a.O., S.116121.

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Damit ist der Aufbauprozess abgeschlossen – so könnte man meinen. Doch selbst, wenn alle handwerklichen Umsetzungsarbeiten korrekt und präzise, gemäß der vom Künstler vorbereiteten Pläne, sowie entsprechend seiner Anweisungen, durchgeführt worden sind, sei die Arbeit noch keineswegs beendet. Vielmehr, so Kabakov weiter, beginne sie in diesem Moment erst wirklich: [...] die wirklichen Geburtswehen der Installation […] der Grund für die ,Schmerzenʻ ist die vollständige und nicht voraussehbare Inkongruenz der Idee der Installation und dessen, was real daraus geworden ist […]. Dieser Umstand macht ein letztes Handanlegen des Künstlers selbst und ohne Beteiligung anderer vonnöten. Ein Prozeß, innerhalb dessen […] die Endbearbeitung, die Anpassung des tatsächlich Dastehenden an jenes ursprüngliche Bild, das noch immer in der Phantasie brennt, [beginnt].

Wie Kabakov schildert, stelle diese finale Überarbeitung einen oft langwierigen und nervenaufreibenden, zuweilen angesichts festgesetzter Termine auch dramatischen Arbeitsprozess dar, der nicht selten erst am Morgen der Eröffnung einer Ausstellung die endgültige Version einer künstlerischen Arbeit zu Tage fördere. Dieser Prozess der Detailabstimmungen sei indes von entscheidender Bedeutung, denn: Dieser Morgen und die folgenden Korrekturen und Änderungen [...] entscheiden im Grunde das Schicksal der Installation.39

Die kabakovsche Installation als ,Ort einer stehengebliebenen Handlungʻ Wie der Beschreibung der Entstehung einer kabakovschen Installation zu entnehmen ist, handelt es sich bei der ,Genese eines installativen Werksʻ um ein komplexes Wechselspiel, innerhalb dessen eine künstlerische Idee zunächst mit spezifischen räumlichen Gegebenheiten abgeglichen wird. Dimension und Maße einer Installation werden nicht einfach von einem existierenden Raum, der einer jeweiligen Installation als Vorbild dienen mag, abgenommen und übertragen, sondern sie werden anhand des bestehenden Ausstellungsraumes – in dem der Künstler selbst physisch anwesend ist – und der Möglichkeit, diesen zu modifizieren, sukzessive eruiert.40 Auch wäh-

39 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation: a.a.O., S.116-121. 40 Die Installation richtet sich also nicht nach Maßangaben, sondern umgekehrt: Maßangaben richten sich nach der Vorstellung des Künstlers. Diese wird ihrerseits nicht in einem abstrakten Koordinatensystem, sondern anhand konkreter örtlicher Gegebenheiten entwickelt. Diese Gegebenheiten wiederum (also räumliche Dimensionen, vorkommende Materialien, Lichtverhältnisse etc.) werden nicht Plänen entnommen, sondern sie werden – und dies ist die entscheidende Differenz – im Rahmen einer eigenen physischen Begehung, somit mit allen Sinnesdimensionen und ,am eigenen Leibʻ erfahren. Der Punkt markiert einen wichtigen Unterschied zu heute üblichen Vorgehensweisen im Bereich Architektur. Denn, wie etwa Gernot Böhme (in Kap. 3.4) anmerkt: ArchitektInnen entwickeln ihre Entwürfe allzu oft in abstrakten Koordinatenräumen – und nicht, wie von Kabakov geschildert, ausgehend von einer unmittelbaren Begehung und im Rahmen einer ,physio-kinetischenʻ, oder in der Terminologie von Teil II, einer ,aisthetischen Bestandsaufnahmeʻ dessen, was gegeben ist

282 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT

rend des baulich-handwerklichen Aufbaus muss die künstlerische Idee Schritt für Schritt mit der sich nach und nach abzeichnenden faktischen Präsenz der im Entstehen begriffenen Installation in Einklang gebracht werden. Dieser Vorgang wird oft, wie Kabakov angibt, erst unmittelbar vor Eröffnung einer Ausstellung und unter großen Mühen zum Abschluss gebracht. Kurz und zusammengefasst: Bereits die Schilderung des Entstehungs- und Aufbauprozesses einer Totalen Installation Kabakovs macht deutlich, dass es sich hierbei weder um einen rein willkürlich-intuitiven noch um einen rein handwerklich-reproduktiven Prozess handelt. Warum aber ist diese Präzision, ein permanentes Justieren und Nachjustieren von Details von solcher Bedeutung? Um dies zu verstehen, gilt es, sich für einen Augenblick das Anliegen einer kabakovschen Installation zu vergegenwärtigen. Kabakov setzt sich in seinen Arbeiten in aller Regel mit einem zentralen Thema auseinander: Dem Leben und Alltag der gewöhnlichen Menschen in der Sowjetunion. Hierzu verarbeitet der Künstler eigene Erinnerungen und Erfahrungen ebenso wie erfundene oder kolportierte Erlebnisse. Gemeinsam fließen diese in fiktive Biografien ein, mit denen Kabakov das Ausstellungspublikum im Rahmen seiner Installationen konfrontiert. Statt die RezipientInnen jedoch unmittelbar mit den Protagonisten seiner dreidimensionalen Narrationen bekannt zu machen (etwa, indem er diese malerisch oder fotografisch porträtiert oder sie von Schauspielern darstellen lässt), wird das Ausstellungspublikum bei Kabakov in Umräume geführt. Hierbei kann es sich um authentisch erscheinende private Zimmer, um sowjetische Gemeinschaftswohnungen, sogenannte ,Kommunalkasʻ, oder um ganze Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser handeln (siehe etwa: School No.6). Kabakov, der sich selbst zuweilen auch als ,Autorʻ seiner Arbeiten bezeichnet, folgt also einem dezidiert erzählerischen Ansatz. Die Umgebungen, in die er die AusstellungsbesucherInnen leitet, erscheinen als Orte einer Handlung, wenn auch: einer Handlung ohne physisch anwesende Protagonisten. Hierzu Kabakov selbst: [...] die Totale Installation [ist] der Ort einer stehengebliebenen Handlung, ein Ort, an dem sich ein Ereignis begeben hat, gerade begibt oder begeben kann.41

Kabakovs künstlerischer Ansatz besitzt somit nicht nur eine Nähe zum Feld des Literarischen, sondern, wie der Künstler ausführt, auch zu den Medien des Films und des Theaters.42 Anders als in diesen Bereichen üblich handelt es sich bei Kabakovs dreidimensionalen Bauten jedoch nicht um Kulissen, die den Hintergrund für ein im Vordergrund ablaufendes Geschehen ablieferten. Es gibt keine zusätzlichen menschlichen Akteure – Schauspieler, Tänzer, Sänger –, die eine Handlung vorantreiben könnten. Vielmehr fungieren der installative Umraum und alle darin befindlichen Gegenstände selbst als Ausdrucksträger. Dies ist ein wichtiger Punkt, den Kabakov anhand der Nähe seiner Arbeit zum Bereich des Theaters wie folgt darlegt:

(sei es ein bestehendes Gebäude, eine urbane Situation oder die Topografie einer Landschaft). Prinzipiell steht aber auch ArchitektInnen eine solche Vorgehensweise offen. 41 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.16. 42 Ilya Kabakov, Die Dramaturgie der Totalen Installation; in: ders., Über die Totale Installation, a.a.O., S.83-91.

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Man kann sich alle Gegenstände in der Installation als Theaterschauspieler vorstellen, in den Rollentypen, wie sie jedes Theater kennt: Solist, Chor, Statisten [...] dazu ist noch zu sagen, daß diese Rollen [...] hier oft von in Sinn und Beschaffenheit sehr ähnlichen, in ihrer Alltäglichkeit überaus banalen Objekten übernommen werden [...].43

Kabakovs Installationen können also, mit Kabakov selbst, als ,Bühnen ohne Akteureʻ beschrieben werden, oder genauer: als Bühnen, auf denen alle Rollen, Haupt- wie Nebenrollen, vom Umraum der Installation und den darin enthaltenen Gegenständen übernommen werden.44 Eben dieser Umstand ist es, der die Präzision, mit der Kabakov bei der Entwicklung und dem Aufbau einer Installation vorgeht, erklärt. Denn da Kabakov keine weiteren Mittel zur Verfügung stehen, um eine Person, um die es ihm in einer Arbeit bestellt ist, zu charakterisieren oder um eine ,stehengebliebene Handlungʻ, von der erzählt werden soll, darzustellen, wird jedes Detail der Installation von größter Bedeutung. Nur das Kreieren eines in sich kohärenten und stimmigen Gefüges, ohne lückenhafte Auslassungen und ohne überflüssige Zutaten, kann die Überzeugungskraft der im installativen Set-up eingelagerten und durch dieses transportierten Handlung gewährleisten. (Ein überflüssiger Gegenstand gliche in diesem Sinn einem Nebendarsteller, der in einer Theater- oder Filmszene auftaucht, ohne jede Relevanz für den Fortgang des Stückes; so, wie ein fehlender Gegenstand dem Ausfall eines Akteurs gleichkäme.)

43 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.61. 44 Juliane Rebentisch differenziert hinsichtlich des bühnenhaften Charakters der kabakovschen Installationen wie folgt: „Kabakovs Installationen [erinnern] an Theaterbühnen […], die der Zuschauer während der Pause inspiziert […]. An verlassene Theaterbühnen erinnern Kabakovs Installationen dabei in einem doppelten Sinn. Zum einen im Sinn einer verlassenen T h e a t e r b ü h n e : Sie sind innerhalb des Museumskontextes klar als bühnenartig inszenierte Räume identifizierbar. Ihr Schein, ihre Künstlichkeit, das ist für Kabakov entscheidend, ,darf nicht aufgehoben werdenʻ. Zum anderen im Sinn einer v e r l a s s e n e n Theaterbühne: Kabakovs Arrangements spielen mit der Illusion, dass es sich bei dem vom Betrachter betretenen Raum um eine von ihren Akteuren gerade – vielleicht auch nur vorübergehend – verlassene Szene handelt.“ Diese Differenzierung ist richtig. Entscheidend für die hier verfolgte Frage nach der Funktionsweise einer kabakovschen Installation ist aber der oben von Kabakov selbst genannte Umstand, dass seine bühnenhaft anmutenden Arrangements letztlich überhaupt keiner (realen, menschlichen) Schauspieler oder Akteure bedürfen, da seine Installationen selbst deren Aufgaben übernehmen. Es liegt also nicht allein eine doppelte Nähe, sondern auch ein großer Unterschied zum Theater vor. Denn Theaterbühnen können, müssen aber keineswegs präzise gestaltet sein. Im Gegenteil: Eine Qualität von Schauspiel, Musik, Tanz kann gerade darin bestehen, in allen möglichen Situationen und gegebenenfalls unter Ausblendung der defizitären räumlichen Gegebenheiten zu agieren. Eine kabakovsche Installation, bei der jedes noch so kleine Detail bewusst gestaltet ist, verhält sich in diesem Punkt grundlegend anders. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003) S.162.

284 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT

7.2.2 Die Mittel der Totalen Installation In ihrer einfachsten Form lautet die Definition der Totalen Installation wie folgt: Ein vollständig bearbeiteter Raum.45

In seinen Reflexionen zur architektur- und ortsbezogenen Installation wendet sich Kabakov nicht nur der Vorstellung der Totalen Installation als einem ,Ort der stehengebliebenen Handlungʻ zu. Der Künstler äußert sich zudem zu deren konkreter Funktionsweise – und dies hinsichtlich unterschiedlichster Detailaspekte. „Der Raum der Totalen Installation“ erhält dabei ebenso Aufmerksamkeit im Rahmen eines eigenen Buchkapitels (respektive einer eigenen Vorlesung) wie „Licht und Farbe in der Totalen Installation“ oder etwa „Das Objekt in der Totalen Installation“. Stark verknappt lassen sich Kabakovs diesbezügliche Ausführungen unter drei Stichpunkten zusammenfassen: Baulich-materieller Umraum: Angesichts des baulich-materiellen Umraums identifiziert der Künstler solche Elemente der Totalen Installation, die er für besonders grundlegend erachtet. In diesem Kontext äußert er sich bspw. zur Farbe und Beschaffenheit der Wände als „dem scheinbar einfachsten und unkompliziertesten Element“, wobei er anmerkt: „doch gerade die Wände spielen in der Totalen Installation die entscheidende Rolle“. 46 Auch der Boden der Installation, als vermeintlich ebenso unauffälliges Element, besitze „höchste Priorität“,47 während die Zimmerdecke eine „krasse Veränderung“ der Wirkung der Installation als Ganzes zur Folge haben könne. Bauliche Details eines Umraums, in Form von Fenstern, Lampen, Türen, werden nicht minder in ihrer Bedeutung herausgestellt, wobei etwa die Zimmertür den Ehrentitel „wichtigste Heldin des Übergangs“ erhält. Kurz: Zwar bemüht sich Kabakov in seiner Darstellung um eine Hierarchisierung, was wichtige und weniger wichtige Aspekte eines installativen Set-ups betrifft. Letztlich wird jedoch deutlich, dass es wohl kein noch so kleines baulich-materielles Element gibt, dem der Künstler nicht eine gleich große Aufmerksamkeit zu Teil werden lassen müsste. Denn schließlich gelte, wie Kabakov selbst zusammenfassend feststellt: [...] jeder Ort hat sein ausgeprägtes Gesicht. [...] die Proportionen von Wänden und Fenstern, die Qualität der Materialien und ihr Zustand, der besondere Anstrich von Wänden, Decke und Fußböden [...] das Aussehen kleiner, oft kaum wahrnehmbarer Details – all das verleiht einem Ort eine besondere Atmosphäre [...].48

Die spezifische „Atmosphäre“, die Kabakov in seinen Installationen erreichen will (und es fällt schwer, an dieser Stelle nicht an Gernot Böhme zurückzudenken), wird für den Künstler also durch das Zusammenspiel sämtlicher, teils noch so „kleiner, oft kaum wahrnehmbarer Details“ erreicht. Gegenstände: Nicht nur baulich-materielle Details sind es aber, die bezüglich der spezifischen Atmosphäre und Wirkungsweise einer Totalen Installation eine Rolle 45 46 47 48

Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.27. Ebd. Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.69. Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.14.

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spielen. Auch die vermeintlich banalen Dinge des Alltags tragen konstitutiv zu deren Gesamtwirkung bei. Was unter ,banalen Dingenʻ zu verstehen ist, führt Kabakov in folgendem Zitat aus: Wenn wir [den Ausdruck] „banales Ding“ verwenden, meinen wir damit [...] das, was man darunter unter normalen Lebensumständen versteht: Tische, Stühle, Diwane, Regale, Betten, etc., das, was der Mensch im täglichen Leben benutzt: Teller, Tassen, Lampen, Bücher, etc. [...], das endlose Meer von Dingen, Maschinen, Kleidern, Möbeln, den Millionen Gegenständen, die den Menschen umgeben [...].49

All diese Objekte, die in einer Installation potentiell vorkommen können, stehen nicht einfach isoliert nebeneinander. Vielmehr, so stellt Kabakov hinsichtlich der umraumbezogenen Eigenschaften von Einzelgegenständen explizit heraus, „hängt [alles] an ihrem topologischen Ort im Grundriß der Totalen Installation.“ Es handelt sich also nicht um eine pure Addition von bezugslosen Gegenständen in einem umgebenden Zimmer, sondern, wie man Kabakovs Ausdruck des ,Topologischenʻ interpretierend sagen könnte: Auch deren Positionierungen und Lagebeziehungen untereinander – inklusive der umgebenden Raumwände – sind ausschlaggebend. Immaterielle Komponenten: Mit dem materiellen Umraum und den darin enthaltenen Gegenständen sind zwei wichtige umraumbildende Komponenten einer architektur- und ortsbezogenen Installation im Sinne Kabakovs benannt. Das gesamte formale Spektrum, mit dem der Künstler arbeitet bzw. angesichts einer seiner Totalen Installationen zu arbeiten hat, ist jedoch von noch größerer Reichweite. So müssen nach Kabakov Fragen des Lichts, der Farbe, zuweilen des Sounds – also der Geräusche oder der Musik, so diese inkorporiert wird – Beachtung finden. Dabei gelte es, wie Kabakov betont, derartige Komponenten nicht als isolierte Einzelelemente zu verstehen. Vielmehr sind gerade deren synthetische Wirkungen (erneut drängt sich ein Querverweis zum vorausgehenden Kapitel auf) zu berücksichtigen. Explizit erläutert der Künstler den Sachverhalt eines Sich-wechselseitigBedingens, einer Interdependenz von Sinneswahrnehmungen anhand des dimensionalen Eindrucks eines Zimmers. Denn, wie Kabakov in diesem Kontext feststellt, für das „Spiel mit nah und fern“ ist nicht allein „die gewählte Breite, Länge, und der Abstand [...]“ der Wände ausschlaggebend. Sondern die räumlich-dimensionale Wirkung werde zudem „von der Farbe [...] und auch vom Licht unterstützt.“50 Alle genannten Elemente, baulich-materielle Aspekte, banale Dinge, nicht-greifbare Komponenten, prägen einen installativen Umraum nicht jeweils einzeln, sondern erst zusammen, in ihrer Wechselwirkung. Dieser Umstand geht gut aus der folgenden Passage der kabakovschen Reflexionen über die Wirkungsweise seiner Totalen Installation hervor, in der der Künstler den synthetisierenden Einfluss der Elemente Licht und Farbe anspricht:

49 Ebd. (Zitat wurde aus zwei unterschiedlichen Passagen zusammengefügt). 50 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.27

286 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Farbe und Licht [bilden] ein untrennbares Ganzes [...] ihre Wechselwirkung erzeugt eines der wichtigsten Einflußmittel der Totalen Installation – das, was man ihre Atmosphäre nennen kann.51

Und selbst das, was an sich inexistent bzw. schlichtweg abwesend ist, muss nach Kabakov noch bedacht und in die installative Gesamtwirkung einbezogen werden. Dies gilt, wie der Künstler konstatiert, selbst noch für „die Lücken zwischen den Objekten, die Intervalle, Leerstellen, Ecken, Kurven, Abstände, kurz – die schiere Luft um die Gegenstände.“ 7.2.3 Rolle der RezipientInnen Eine kabakovsche Installation stellt ein komplexes Gefüge dar, innerhalb dessen alles, was in einem Umraum enthalten ist, ja selbst noch das, was nicht-materiell enthalten ist, zu einem konstitutiven Bestandteil wird. Sämtliche Details fließen in den vom Künstler angestrebten „Ort der stehengebliebenen Handlung“ ein. Aspekte, die eine ,Handlungʻ tragen, müssen somit betont, andere, die einer stringenten Erzählung zuwiderlaufen, korrigiert, ausgetauscht, beseitigt werden. Dies erscheint innerhalb der Prämissen, die die kabakovsche Totale Installation aufstellt, evident. Denn nur auf diese Weise kann ein stimmiger Gesamteindruck, ein in sich kohärentes Gefüge, geschaffen werden, das von BesucherInnen angemessen rezipiert und wahrnehmend entschlüsselt werden kann. Semiotische und physio-kinetische Aspekte Oben aufgeworfene Fragestellungen, wie die, ob eine Totale Installation eine einfache Replik bzw. ein willkürliches räumliches Arrangement darstellt, oder jene, mit welchen Mitteln innerhalb einer kabakovschen Installation gearbeitet wird, konnten nunmehr beantwortet werden. Eine neue Frage, die an diesem Punkt auftaucht, ist jene nach der Art der Wirkungsweise einer derartigen Installation. Denn, die von Kabakov selbst gezogenen Parallelen zu den narrativen Bereichen Film, Theater, Literatur könnten den Verdacht aufkommen lassen, dass eine Totale Installation primär auf semiotische, auf zeichenhafte Weise funktioniere. In diesem Sinn wäre das Arbeiten Kabakovs zu verstehen als die Schaffung eines in sich kohärenten Zeichengefüges, das sich in der Summe seiner Details zu einer Art lesbarem Text verdichtet. Diese Interpretation wirkt nicht abwegig, arbeitet der Künstler doch selbst intensiv mit Texten, die er nicht nur zur theoretischen Reflexion und Darstellung seiner bildnerischen Arbeit verwendet, sondern zudem unmittelbar in seine Installationen integriert. Und dies, in der mannigfaltigen Form von „Erklärungsblättern; [...] Kommentaren auf kleinen Schildchen; […] Texttafeln; in handgeschriebenen oder gedruckten Büchern“ oder etwa „einfach als Aufschrift“.52 51 Wobei anzumerken ist, dass andernorts auch Sound/Musik oder, wie in oben wiedergegebenem Zitat, die baulich-materiellen Details als Konstituenten einer spezifischen Raumatmosphäre genannt werden. Abgesehen von der Einbeziehung ,banaler Dingeʻ kommen sich hier – bezüglich des Themas der Raumatmosphäre – Ilya Kabakov und Gernot Böhme also mehr als nahe. Zur diesbezüglichen Verwandtschaft siehe Kap. 8. 52 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.63.

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Ein nicht geringer Anteil dieser schriftlichen Bestandteile dient, wie der Künstler verrät, dazu, einen thematischen Horizont zu eröffnen und den RezipientInnen – bei denen es sich, zumindest potentiell, um Personen handelt, die mit dem Kontext sowjetischer Geschichte und Lebensumstände wenig vertraut sind – die nötigen Hintergrundinformationen im Sinn eines „festen Faden“ an die Hand zu geben.53 In diesem Kontext erklärt Kabakov zu der von ihm entwickelten Praxis, Wort und Installation zu kombinieren: Wenn ich in meinem Atelier in Moskau etwas zeichnete und anschließend meinen Freunden zeigte, verstanden ich selbst und auch sie diese Arbeiten vollkommen adäquat: Wir hatten einen gemeinsamen Verstehenskontext. [...] Nach dem Überschreiten der Grenze, von dem Moment an, wo ich meine ersten Arbeiten „im Westen“ machte [...], fand ich mich sofort in einer völlig neuen Situation – mir und meinen Arbeiten war der Kontext genommen.54

Allerdings steht für Kabakov das Wort nicht allein in einem dienenden Verhältnis, um dasjenige zu soufflieren, was westlichen RezipientInnen möglicherweise unvertraut sein könnte. Vielmehr geht Kabakov von einem komplexen Wechselspiel aus. Bei diesem tragen beide Elemente, bildnerische wie textuelle, zu dem in der Installation implementierten Narrativ bei, ohne jedoch, dass sie hierdurch wechselseitig substituierbar würden. Vielmehr stehen sie untereinander in einem Spannungsverhältnis. Physisch wahrnehmbare und sprachlich-vermittelte Wirkungsweisen interagieren miteinander, sie gehen Hand in Hand oder eröffnen, wie Bruce Nauman formuliert, einen Bereich ,dazwischenʻ.55 Dass auch die bildnerischen Mittel, derer sich der Künstler bedient (Wände, Decken, Türen Fenster, Gegenstände, Farben, Licht, Klänge), semiotische Wirkungskomponenten an den Tag legen können, deshalb im Umkehrschluss jedoch nicht eindimensional auf solche zu reduzieren sind, dieser Umstand kann aus der folgenden kurzen, dabei höchst aufschlussreichen Passage entnommen werden, in der der Künstler die von ihm intendierte Wirkungs- und Funktionsweise einer Tür innerhalb der Totalen Installation erläutert: Die Welt der Totalen Installation ist eine andere Welt [...]. Darum muß die Beschaffenheit der Tür, ihre Maße, ihre Ausführung, ihre Farbe, etwas über den Platz aussagen, den der Betrachter betreten wird. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, wie die Tür „aufgeht“ und wie weit sie geöffnet ist. Je nach dem Charakter der Installation ist die Eingangstür mal fest verschlossen [...] mal steht sie immer offen, mal halboffen.56

Wie der Passage zu entnehmen ist, kommt eine Tür im Rahmen der kabakovschen Totalen Installation als Zeichen zum Einsatz. In diesem Sinn steht sie für den Punkt 53 Zdenek Felix, Das Werk und sein Text; in: Ilya Kabakov, Der Text als Grundlage des Visuellen; a.a.O., S.401f. 54 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.37. 55 Ilya Kabakov selbst setzt sich in der gut 400 Seiten starken Untersuchung Der Text als Grundlage des Visuellen (vgl. Fn. 53) mit dem Verhältnis von ,Narrativʻ, ,Textʻ, ,Installationʻ, ,Bildʻ auseinander. 56 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.29.

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des Übergangs, des Eintritts in eine andere Welt. Andererseits reicht es keineswegs aus, irgendeine Tür zu verwenden, so, wie es angesichts eines reinen Zeichens zu erwarten wäre. Denn in ihrer konkret wahrnehmbaren „Beschaffenheit“ – in ihren Maßen, der Ausführung, der farblichen Gestaltung – muss die Tür auf RezipientInnen in einer ganz bestimmten (und je nach Installation unterschiedlichen) Weise wirken. Zudem spielt es eine Rolle, wie die Tür im direkten physischen Umgang erfahren wird. Dabei sind nicht nur die binären Möglichkeiten des Zeichens ,offene Türʻ (= Eintreten erwünscht), ,geschlossene Türʻ (= Eintritt untersagt) relevant, sondern ebenso, wie weit genau eine Tür geöffnet ist (und dies im Verhältnis zum Umraum wie zur Physis der Betretenden), sowie die Art und Weise, wie das Öffnen der Tür sich anfühlt (i.e.: ist die Tür fest verschlossen, klemmt und quietscht sie beim Öffnen, lässt sie sich leicht und geräuschlos, ,wie von selbstʻ öffnen etc.). Wie wichtig Kabakov, neben den semio-tischen Aspekten, gerade diese unmittelbar auf die physio-kinetische Wahrnehmung der RezipientInnen bezogene Wirkungsweise seiner Installationen ist, bringt der Künstler immer wieder zum Ausdruck. So, wenn er in der folgenden Passage den Rezipienten nicht als ,Lesendenʻ, sondern ausdrücklich als ,Wahrnehmendenʻ ins Zentrum rückt: [Der Rezipient] ist das planerische Zentrum jeder Totalen Installation in dem Sinn, daß die gesamte Installation nur auf seine Wahrnehmung orientiert ist [...].57

Lenkung und gezielte Beeinflussung von RezipientInnen An dieser Stelle, noch einmal zurück zur eingangs formulierten, übergreifenden Fragestellung: Inwiefern kommt die Limitierung, Steuerung und Fokussierung der physio-kinetischen Erfahrung, wie sie anhand von Bruce Naumans Korridor-Arbeiten deutlich wurde, auch angesichts einer so detailreichen und komplexen Umgebung wie der kabakovschen Totalen Installationen zum Tragen? Hinweise hierauf wurden bereits an verschiedenen Stellen gesammelt: Anhand der präzisen Errichtung einer kabakovschen Arbeit, anhand der unterschiedlichen Mittel, die dabei zum Einsatz kommen, sowie zuletzt: anhand der semiotischen und physio-kinetisch wahrnehmbaren Wirkungsaspekte einer Totalen Installation. Denn in beiderlei Hinsicht, hinsichtlich ihres semiotischen Gehalts wie ihrer unmittelbar physio-kinetischen Erfahrbarkeit, übt diese nicht zuletzt eine steuernde Wirkung auf ihre RezipientInnen aus. (Wobei das diesbezügliche Potential im Sinn eines Zeichens eher beschränkt sein dürfte. Zwar markiert bspw. eine Tür die allgemeine Möglichkeit des Eintretens. Darüber hinaus verhält sie sich, als Zeichen, aber ambig. Denn eine Tür kann letztlich immer beides bedeuten: ,Bitte öffnenʻ oder ,Bitte draußen bleibenʻ. Auf physiokinetischer Erfahrungsebene hingegen wird schnell deutlich, ob ich in der Lage bin, eine Tür zu öffnen oder nicht bzw. wie sich dieses Türöffnen, so möglich, anfühlt: widerständig oder leichtgängig). Ilya Kabakov selbst schildert die Möglichkeit, über physio-kinetische, also unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Aspekte die Steuerung von RezipientInnen zu erreichen, an unterschiedlichen Stellen seiner Ausführungen. So in der folgenden Passage anhand der Art und Weise, wie Licht in seinen Installationen zum Einsatz kommt:

57 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.45.

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[...] helles Licht, schwaches Licht, Halbdunkel, Punktlicht, [...] die Bedeutung des Lichts [ist] kaum zu überschätzen [...]. In langen Installationen (Korridoren, Fluchten) „führt“ das Licht den Betrachter, in anderen Fällen konzentriert es seine Aufmerksamkeit oder zerstreut sie, schafft intime Behaglichkeit oder den Wahnsinn eines Irrenhauses.58

Auch das Einzelelement Licht wird bei Kabakov also nicht allein semiotisch eingesetzt (im Sinn von: Licht an/Licht aus). Vielmehr wirkt es, so Kabakovs Annahme, mittels unterschiedlicher Erscheinungsformen und Nuancen auf die Sinneswahrnehmung ein, bis hin zu einem Punkt, der die Steuerung nicht nur der Aufmerksamkeit, sondern selbst noch der Bewegungen von RezipientInnen im Umraum erlaubt. Dieser Aspekt, der Zusammenhang von innerer Installationsdramaturgie und physischer Bewegung der RezipientInnen durch das installative Gefüge hindurch, ist für Kabakov von großer Bedeutung. So ist, mit Kabakov, die Bewegung des Besuchers „[...] auf seinem Weg durch die Installation [...] sorgfältig zu bedenken: Wie organisiert man seine Aufmerksamkeit [, wie] die Dramaturgie seiner Bewegung […].“59 Beide Aspekte, Aufmerksamkeit und Bewegung, hängen für den Künstler letztlich unmittelbar zusammen. Und so ersinnt Kabakov ganze Umraumchoreografien, oder auch ,Typologienʻ, wie der Künstler sagt (vgl. Typologie der Totalen Installation), innerhalb derer er sich Fragen zuwendet wie: Durch welches Zimmer bewegt sich ein Ausstellungsbesucher vor dem Betreten einer Installation? Wie liegt der Ausstellungsraum innerhalb eines Gebäudes, einer Galerie oder eines Museums, eingebettet? Welche Räumlichkeiten werden nach dem Verlassen der Installation betreten? Welche unterschiedlichen Möglichkeiten der Raumabfolgen gibt es innerhalb einer Totalen Installation? Wie viele Umräume kann diese potentiell umfassen? Wie groß oder klein, lang oder breit sind derartige Einzelräume, jeder für sich genommen, sowie in ihrem Verhältnis zueinander?60 Eine installative Dramaturgie besitzt eine Totale Installation als „Ort der stehengebliebenen Handlung“ also nicht allein im Sinn einer ,erzählerischen Spannungskurveʻ, sondern diese besitzt eine physisch-räumliche Entsprechung. Oder anders formuliert: Eben das physisch erfahrbare, verräumlichte Moment, inklusive aller darin zu machenden Wahrnehmungen und Erfahrungen, ist die Spannungskurve, welche eine Totale Installation entfaltet.

7.3 D AS V ERHÄLTNIS DES ALLTAGS

ZU

O RTEN

UND

ARCHITEKTUREN

Inwiefern die beiden komplementären Seiten, jene der aktiven, physio-kinetischen Umraumerfahrung (durch KünstlerInnen, PerformerInnen, RezipientInnen) und jene der Wirkung von gezielt gestalteten Umräumen mittels des künstlerischen Arbeitsmittels der architektur- und ortsbezogenen Installation zusammengeführt werden,

58 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.18. 59 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.45. 60 Vgl. Ilya Kabakov, Der Raum der Totalen Installation und Die Totale Installation und ihr Betrachter; in: ders., Über die Totale Installation; a.a.O.; S.27-31 und S.45-50.

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dies wurde durch die Beispiele Bruce Naumans und Ilya Kabakovs deutlich. Was anhand des Beispiels Ilya Kabakovs darüber hinaus deutlich wurde, ist, dass auch vermeintlich authentische, ja geradezu replikhaft anmutende Installationen, eines ersten Eindrucks ungeachtet, raffinierte Wahrnehmungs- und Wirkungsgefüge entfalten können, die bspw. ,banale Dingeʻ ebenso inkorporieren wie Raumatmosphären, semiotische Aspekte und physio-kinetische Wahrnehmungswirkungen. Ein Punkt, der angesichts dieser Diskussion bislang noch außen vor bleiben musste, ist jener des Bezugs derartiger installativer Set-ups zur Realität. Oder in anderen Worten: Zwar wurde nunmehr klar, inwiefern KünstlerInnen Installationen im Sinn präziser Instrumente einzusetzen vermögen und es sich bei architektur- und ortsbezogenen Installationen nicht etwa einfach um ,plumpe Kopienʻ real existierender Orte handelt. Was umgekehrt noch unklar bleiben musste, ist hingegen, inwiefern derartige Installationen mit Architekturen und Orten, wie wir sie in unserem Alltag antreffen, in Verbindung stehen. Hierzu folgen einige Überlegungen anhand der bereits diskutierten sowie anhand zweier weiterer Positionen: nämlich derjenigen des deutschen Installationskünstlers Gregor Schneider und der britischen Bildhauerin und Installationskünstlerin Rachel Whiteread. 7.3.1 Bruce Nauman und Ilya Kabakov Wie steht es mit einem Bezug zu realen Orten und Architekturen angesichts der Arbeiten Bruce Naumans? Nicht nur in seinen frühen Arbeiten, auch bis in die Gegenwart hinein finden sich bei Nauman minimalistisch reduzierte Umräume. Naumans Korridore können diesbezüglich als prototypische Beispiele angesehen werden. Eine Bezugnahme auf reale Vorbilder ist hierbei durchaus möglich – dies jedoch vor allem hinsichtlich spezifischer Aspekte. Zu denken ist an die Wirkung und den Einsatz von Licht (kaltes oder gleißendes Kunstlicht, Neonlicht, nackte Glühbirnen), die Verwendung von alltäglichen Farben und Materialien (etwa in Gestalt weiß gestrichener Trockenbauwände), oder an das Gefühl, sich innerhalb spezifisch geformter Umräume aufzuhalten, wie sie uns auch im Alltag (in Form von rechtwinkligen Zimmern, schmalen Korridoren, länglichen Fluren) begegnen. Eine derart selektive Art der Bezugnahme schränkt die Bedeutung der naumanschen Arbeiten hinsichtlich ihrer Aussagekraft die gewöhnliche Alltagswelt betreffend keineswegs ein. Um sich der Frage zu nähern, inwiefern Installationen aber auf konkrete, real existierende Architekturen und Orte des Alltags Bezug zu nehmen vermögen, sind andere Beispiele naheliegender. Nicht wenige Hinweise finden sich in dieser Hinsicht bei Ilya Kabakov. Auch hier werden Umräume zwar bezüglich einer intendierten Wirkung gefiltert und modifiziert. Dennoch basieren Kabakovs Totale Installationen auf dem Gedanken der Wiedererkennbarkeit des von ihm Porträtierten – und dies sogar in einem ausgesprochen hohen Maß. Wie die vom Künstler im Kontext seiner Installationen vorgestellten ProtagonistInnen nicht Personen des realen Lebens sind, dies potentiell aber sein könnten, so lassen sich auch in den installativen Umräumen, die jene Personen vorgeblich bewohnen, zwar nicht reale, wohl aber realistisch anmutende räumliche Szenarien antreffen. Kabakov selbst spricht in diesem Kontext von der ,sozialen Erkennbarkeitʻ, die seine Installationen gewährleisten sollen. Diese bilde eine

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Grundbedingung für alles Weitere, wie der Künstler im folgenden Zitat anhand der Verwendung alltäglicher, wiedererkennbarer Einrichtungsgegenstände ausführt: [...] am besten [besteht eine Installation – Einfügung B.H.] aus gewöhnlichen Zimmern, Korridoren und Kombinationen dieser Elemente, d.h. die normale, menschliche, soziale Umgebung, die den Städter (und Ausstellungsbesucher sind meistens Städter) ständig umgibt und mit der sein ganzes Leben und all seine wesentlichen Probleme verbunden sind. Diese ihre „soziale Erkennbarkeit“ ist für die Totale Installation außerordentlich wichtig [...].61

Kabakov arbeitet also mit einer Wiedererkennbarkeit ganz allgemeiner Art, die sich auf das vertraute Umfeld der zu erwartenden RezipientInnen richtet. Dabei führt Kabakov die BesucherInnen seiner Installationen in konventionelle räumliche Situationen: in private Zimmer, in Wohnungen oder öffentliche Institutionen, die mit entsprechenden Einrichtungsgegenständen ausgestattet sind. Dieser Umstand soll, laut Eigenaussage des Künstlers, eine allgemeine ,soziale Erkennbarkeitʻ gewährleisten. Darüber hinaus konfrontiert er sein Publikum jedoch mit einem durchaus spezifischen Kontext, nämlich dem eines bestimmten Landes und einer bestimmten Epoche – und somit einer spezifischen gesellschaftlich-politischen Konstellation, die nicht jeder RezipientIn vom eigenen Erleben her vertraut ist. Die Installationen, die Kabakov baut, kreisen fast immer um die Thematik des Lebens in der Sowjetära. Und so werden auch die einzelnen Elemente, derer sich der Künstler in seinen Installationen bedient, dem spezifischen thematischen Kontext entsprechend gestaltet. Anschaulich führt Kabakov diesen Umstand am Beispiel der Verwendung von Farben, als einem gestalterischen Einzelmittel der Totalen Installation, vor Augen: Man darf nicht vergessen, daß wir es immer mit der Farbe eines Zimmers, eines öffentlichen Ortes oder einer Wohnung zu tun haben, die an ein bestimmtes [...] soziales Milieu und dessen Zeit gebunden ist. Bei mir ist dieses Milieu gewöhnlich das der Moskauer Kommunalwohnung, und diverser öffentlicher sowjetischer Einrichtungen – Krankenhäuser, Kanzleien, Bibliotheken, Bahnhöfe, „Rote Winkel“ etc. –, und die Zeit der sechziger und siebziger Jahre in der noch bestehenden „großen mächtigen Sowjetunion“.62

Kabakov nimmt mit der farblichen Gestaltung seiner Installationen Bezug auf ein bestimmtes „soziales Milieu“, wie er sagt. Dabei mögen einzelne Farben variieren, je nachdem ob es sich um ein privates Zimmer, eine semi-öffentliche oder öffentliche Einrichtung handelt. Andererseits ähneln sich diese Farben hinsichtlich des verbindenden Milieus, dem sie entstammen, auch wieder. Denn Vorbild für die farbliche Gestaltung einer Totalen Installation sind nicht etwa Singularitäten in Gestalt komplett individuell gestalteter Interieurs, sondern gerade umgekehrt: Auch individuell gestaltete Zimmer tragen noch Aspekte des Kollektiven an sich. Kabakov hierzu:63 61 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.16. 62 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.69. 63 Eine Ausnahme bildet eine Installation wie Der Mann, der aus seinem Zimmer in den Kosmos flog. Hier ist eine durchaus idiosynkratische Zimmereinrichtung zu sehen, die sich den RezipientInnen nicht mehr ohne Weiteres von selbst, mittels allein (non-textuellen) installativen Mitteln mitteilt und in der dementsprechend textuelle Mittel eine wichtige er-

292 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Die Farbpalette, die ich benutze, ist oft dieselbe sowohl für die Welt der Kommunalwohnung als auch für die der Ausstattung anderer „sowjetischer“ Einrichtungen. Und das [...] weil dieses Spektrum für mich ein rundes Farbbild darstellt, einen bestimmten visuellen Abdruck dessen, was in meiner Phantasie auftaucht, wenn ich an „diese Zeit und diesen Ort“ zurückdenke [...].64

Vorbild oder Bezugspunkt einer kabakovschen Installation ist, wie am Beispiel der Farbe deutlich wird, also eher ein bestimmter Typus (von Umräumen, Ausgestaltungen etc.), der sich für einen mit dem Leben in der Sowjetunion vertrauten Menschen auf besondere Weise erschließt, der aber auch darüber hinaus bestimmte Assoziationen zu wecken vermag. Hierzu noch einmal Kabakov selbst: Gewöhnlich streiche ich die Decke und den oberen Teil der Wände in einem mittleren Grau; den unteren Teil der Wände [...] über dem Fußboden, in einem trüben Grün oder trüben Rotbraun, und den Boden richtig dunkelbraun.[...] der Ton jeder dieser vier Farben – des Grau, des trüben Grün, des Rotbraun und des Dunkelbraun [muss] sehr genau bestimmt werden, die Kälte oder Wärme jeder Farbe muß ideal dosiert, getroffen sein. [...] ein solcher Anstrich [weckt] nicht nur bei sowjetischen Menschen, sondern bei Bewohnern aller Gegenden der Welt, unangenehme Erinnerungen an den hoffnungslosen Trübsinn öffentlicher Orte: Toiletten, Bahnhöfe, Ämterkorridore, Kanzleien [...].65

Zusammenfassend kann, für den Augenblick, also Folgendes festgehalten werden: Neben der minimalistisch reduzierten Bezugnahme auf selektive Elemente realer Orte und Architekturen, wie sie sich bei Bruce Nauman findet, und der potentiell stets möglichen Bezugnahme auf individualistisch gestaltete Privaträume, findet sich bei Ilya Kabakov noch ein dritter Weg: Nämlich eine Art von kollektiver Bezugnahgänzende Funktion übernehmen. Andererseits, betrachtet man die in der Installation dargestellte Situation näher, so werden auf den zweiten Blick selbst hier noch allgemeinere Züge erkennbar: So hat der Protagonist der Installation die Wände seines Zimmers mit mehreren Lagen Plakaten und Zeitungen beklebt. Diese fungieren als Tapete, als Wanddekoration, geben aber zugleich Impressionen des pressevermittelten sowjetischen Alltags und der offiziellen staatlichen Selbstdarstellung. Eine, mit Kabakov, ,soziale Erkennbarkeitʻ bzw. eine Zuordenbarkeit zu einer bestimmten gesellschaftlich-politischen, historischen Epochenkonstellation (der Ära der UdSSR) liegt also auch hier noch vor. (Man könnte an dieser Stelle an Adorno und dessen Feststellung denken, dass künstlerische Arbeiten, auch wenn sie sich mit einer bestimmten Epochenkonstellation auf allein indirekte, vermeintlich ,rein künstlerischeʻ Weise befassen, stets an diese gebunden bleiben. So ist Beethovens Musik für den Theoretiker Adorno nur vor dem Kontext jener Epoche, in der sie entstand, also der Zeit der Französischen Revolution, zu verstehen, die der Komponist Adorno aus Beethovens Musik herauszuhören vermag.) Bei besagter Installation nimmt Kabakov, respektive deren Protagonist, eine Zweckentfremdung vor, indem er Zeitungen und politische Plakate, Medien der Öffentlichkeit, kurzerhand zur persönlichen Wandgestaltung umfunktioniert. Eben hierdurch wird aber das, was auf individueller Ebene ins Unpolitische transformiert wird, konserviert und für RezipientInnen späterer Generationen als ein kleines Stück sowjetischen Alltags erneut lebendig. 64 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.68. 65 Ebd.

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me auf allgemein bekannte Umgebungen, wie sie sich innerhalb bestimmter Regionen und zu bestimmten Zeiten (etwa: Ära und Kontext der Sowjetunion) auf besondere Weise ausgeprägt finden mögen, wie sie sich darüber hinaus – so jedenfalls Ilya Kabakovs Annahme, die die internationale Rezeption seiner Arbeiten zu bestätigen scheint – aber prinzipiell überall auf der Welt antreffen lassen könnten. 7.3.2 Gregor Schneider Eine ähnliche Art der Bezugnahme auf reale Vorbilder wie bei Kabakov lässt sich beim deutschen Installationskünstler Gregor Schneider (Jahrgang 1969) antreffen. Allerdings stehen bei diesem nicht die in den Installationen präsentierten Umräume selbst – und mittels dieser: die BewohnerInnen, von denen diese Umräume potentiell erzählen könnten – im Zentrum der Aufmerksamkeit. Vielmehr nimmt Schneider gerade das in den Blick, was – jedenfalls üblicherweise – nicht zu sehen ist. So auch in seiner bislang bekanntesten Arbeit, der Installation Haus u r. Für diese errichtete der Künstler über ca. eineinhalb Jahrzehnte hinweg (,ca.ʻ insofern, als bislang noch abzuwarten bleibt, ob die laut Eigenangaben des Künstlers bereits 1989 aufgenommene Arbeit tatsächlich je zu einem vollständigen Abschluss kommen wird) im entkernten Innenraum eines konventionellen Mehrfamilienhauses ein ganzes Labyrinth aus auf Anhieb nicht minder konventionell erscheinenden Innenräumen. Diese reihte der Künstler Zimmer neben Zimmer aneinander oder schachtelte sie etagenweise übereinander. Das Besondere daran: Schneider perforiert sein ansonsten gezielt unauffällig wirkendes Haus mit allerhand Einbauten wie Kellern, Hohlräumen, Tunneln, Verliesen, sich drehenden Stuben oder selbstverriegelnden Kammern. BesucherInnen von Haus u r stoßen auf diese erst nach und nach, während der Begehung und geraten dabei in Situationen, in denen sie sich auf Leitern kletternd oder unter Küchenanrichten hindurchkriechend wiederfinden. Ebenso wie bei Ilya Kabakov bedarf auch Gregor Schneiders installatives Arbeiten, das das Unerwartete in das Alltägliche implementiert, einer allgemeinen sozialen Erkennbarkeit. Allerdings wird diese nicht in Richtung spezifisch gestalteter Einrichtungen weiterentwickelt, die, wie bei Kabakov der Fall, das Potential besitzen, konkrete Geschichten konkreter Menschen zu erzählen, sondern sie muss, gerade im Gegenteil, derart reduziert werden, dass sich allein eine Art prototypische Wiedererkennbarkeit einstellt (nach dem Motto: Hier ist ein ,normales Treppenhausʻ, hier ist eine ,normale Kücheʻ). Schneiders Installationen müssen so anonym und unauffällig wie möglich aussehen, da sich eben hierdurch erst der nötige Kontrast zur Abweichung, zum Abnormalen, den Schneider sucht, einzustellen vermag – oder reziprok formuliert: Die Abweichung, das Abgründige, das Absurde muss so übersteigert werden, um ,das Normaleʻ überhaupt erst als solches, als glatte, vermeintlich harmlose Oberfläche des Alltäglichen zu Tage treten zu lassen. Von dieser Beschreibungsebene, die bereits in Richtung einer interpretierenden Werkbetrachtung tendiert, zurück zur Frage, die es anhand von Schneiders Installationen im Sinn eines künstlerischen Arbeitsmediums weiterzuverfolgen gilt: Nämlich nach der Art und Weise, wie der Künstler mit Bezügen zu realen Gebäuden arbeitet. Liegen im Fall Naumans Interviews aus immerhin mehreren Jahrzehnten vor, und liefert Kabakov selbst umfangreiche Schriften zu seinem Arbeitsansatz, so verhält sich Gregor Schneider auffallend – um nicht zu sagen: demonstrativ – wortkarg.

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Denn der zuweilen, zwecks Selbstinszenierung, vorsätzlich einsilbig bis wirrobsessiv auftretende Künstler äußert sich in Interviews nur sehr bedingt zu seinem künstlerischen Ansatz. Was den vergleichsweise wenigen bislang vorliegenden Interviews mit Schneider entnommen werden kann, ist jedoch, dass er besonderen Wert auf authentisch wirkende Einzelbestandteile seiner Installationen – und an diesen wiederum besonders auf deren authentisch erscheinende Oberflächen – legt. 66 So baut der Künstler einzelne Elemente seiner Installationen – Treppen, Fenster, Türgriffe – aus realen Gebäuden aus, um sie im Anschluss innerhalb seiner Installationen erneut zu fiktiven, dabei original erscheinenden Interieurs zusammenzufügen. Besonderes Augenmerk legt Schneider dabei auf solche Gegenstände, die offensichtliche Nutzungsspuren an sich tragen. (Sei es eine abgegriffene Türklinke, eine ausgetretene Treppenstufe oder ein Lichtschalter, der nicht mehr reibungslos funktioniert und beim Betätigen knarzt). Führt man sich diesen Sachverhalt vor Augen und bezieht zudem das formale Vorbild der kabakovschen Totalen Installation – den vollständig bearbeiteten Umraum – ein, so mag auch ein Blick auf eine Arbeit Gregor Schneiders gewisse Rückschlüsse auf dessen Arbeitsweise zulassen. Herangezogen werden kann hierzu etwa ein Detail der Installation Haus u r – und zwar das mit u 25 (/u 28-29) betitelte Eingangssegment, welches sich als dem Anschein nach reinliches, ordentlich gepflegtes Treppenhaus präsentiert. Der Stil der Treppe und der Tür weist auf ein unscheinbares Gebäude hin, das irgendwann im Lauf des 20. Jahrhunderts, vermutlich in der Zeit zwischen den Weltkriegen oder kurz darauf gebaut wurde und das in den anschließenden Jahrzehnten wohl keine großen Veränderungen mehr erfahren hat. Wie den wenigen Interviews mit Schneider zum Thema zu entnehmen ist, sind es allerdings weniger die architektonischen Versatzstücke – und deren Stilistik –, mit denen der Künstler arbeitet. Vielmehr scheinen es gerade die unauffälligen Details zu sein, denen die künstlerische Aufmerksamkeit gilt. Selbst in einer Schwarz-Weiß-Abbildung des Treppenhauses von Haus u r, wie Schneider sie selbst publiziert bzw. in Ausstellungskatalogen publizieren lässt, ist noch der Oberflächenglanz der Treppe und des gekachelten Fußbodens zu erkennen, ebenso wie sich die allgemeine Atmosphäre von Sauberkeit und akkurater Sterilität vermittelt, die von dem ordentlich weiß getünchten, von schlierenfreiem Sonnenlicht beschienenen En-trée ausgeht. Auch bei den minimalen Benutzungsspuren des Treppenhauses dürfte es sich, Schneiders allgemeiner Arbeitsweise eingedenk, nicht um Zufälle handeln. Denn eben diese Spuren sind es ja, die von der vermeintlichen Belebtheit des Gebäudes zeugen sollen: So etwa die ordentliche, wenn auch nicht mehr ganz neue Fußmatte, die leicht verrutscht, und nicht etwa exakt 66 Ein aufschlussreiches Interview mit Gregor Schneider findet sich in einer Fernsehdokumentation des britischen Reporters Ben Lewis. Darin ist der Künstler u.a. bei der Arbeit an einer Installation für die Hamburger Kunsthalle zu sehen. Angesichts einer Zimmerecke bemerkt Schneider: „Man könnte jetzt an dieser Ecke ständig weiterarbeiten. Wenn man das drei-, vier-, fünfmal überarbeitet, dann hat man ganz andere Oberflächen.“ Eine Überarbeitung besagter Ecke findet mit einem ,Spezialmittelʻ statt, das der überstrichenen Fläche, wie man von Schneider erfährt, einen besonderen, anhaltenden Glanz verleihen soll. Es sind derartige Passagen des Interviews, die nicht zuletzt interessante Rückschlüsse über Schneiders Herstellung und Bearbeitung der hier besprochenen Bestandteile von Haus u r zu ziehen erlauben.

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mittig, vor der Treppe liegt; oder die leicht ausgetretenen Stufen der Treppe, die keineswegs von einer unachtsamen, wohl aber von einer kontinuierlichen und regelmäßigen Benutzung zeugen. Kurz: Was mittels unterschiedlichster, dezenter Mittel suggeriert werden soll, ist der Eindruck eines alles in allem ,wohlgepflegten Hausesʻ, eines ,ordentlichen Hausesʻ, eines kleinbürgerlichen, spießigen Durchschnittshauses (wie es, siehe Einleitung, etwa auch Hermann Hesse in seinem Steppenwolf literarisch verewigt67). Beachtenswert ist jedoch, dass gerade eben Details wie die genannten einen installativ dargestellten Umraum nicht allein, im Sinne Schneiders, als prototypisch ausweisen, sondern eine soziale Erkennbarkeit – wie von Kabakov thematisiert – sich auch in vermeintlich gänzlich unspezifische Umräume, quasi durch die Hintertür, von selbst einschleicht. So sind in Gregor Schneiders Installationen bei näherem – oder richtiger: entsprechend distanziertem – Blick unterschiedlichste Bestandteile zu finden, die einen Umraum einer bestimmten historischen Periode, einer bestimmten Region und einem bestimmten sozialen Milieu zuweisen. 68 Dieses Faktum wird deutlich, wenn man einen vermeintlich unauffälligen Installationsbestandteil, bspw. u r 20 (/Raum ohne Titel) oder u r 10 (als Kaffeezimmer oder auch Gästezimmer bezeichnet), betrachtet und diesen in direkten Vergleich zu Ilya Kabakovs Die Toilette setzt. Dabei treten die unterschiedlichen Details, die Normalität suggerieren sollen, deutlich als verschieden voneinander und somit spezifisch zu Tage: Bei Schneider finden sich Steckdosen, Lichtschalter, Türklinken, Deckenlampen, graue Kunststoffrollos, weiß gestrichene Raufasertapeten, die die Installationsbestandteile u r 20 und u r 10 ebenso subtil wie präzise als dem mitteleuropäischen – für den geübten Blick wohl auch: dem (west-)deutschen – Kontext zugehörig ausweisen, während es in Kabakovs Installation, die ein äußerst verwandtes Sujet zeigt, Details wie die Textilien sind, die in Form von kleinen Teppichen auf dem Fußboden, eines Diwans oder des hinter diesem als Dekoration angebrachten gestickten Wandbildes 67 Eine andere Assoziation zu Schneiders Haus u r stellte sich beim Autor eines Spiegel-Artikels ein, der die Arbeit auf der Venedig-Biennale besichtigte. Dieser fühlte sich an das vordergründig nicht minder ordentlich und gepflegt wirkende Bates Motel aus Hitchcocks Film Psycho erinnert. Vgl. Jürgen Hohmeyer, Das schwarze Loch von Rheydt; in: Der Spiegel, 13, 2001; zur Verwandtschaft Gregor Schneider/Alfred Hitchcock siehe ausführlicher: Elisabeth Bronfen, Kryptotopien – Geheime Stätten/Übertragbare Spuren; in: Katalog, Gregor Schneider, Totes Haus u r: La Biennale di Venezia 2001 (Ostfildern: Hatje Cantz, 2001) S.33-60. 68 In einer späteren Sequenz der in Fußnote 66 angesprochenen Dokumentation gewährt Schneider Einblick in die Orte, von welchen er das Rohmaterial für seine Installationen bezieht. Diese werden nicht etwa komplett aus eigens angefertigten Bestandteilen hergestellt. Stattdessen bedient sich der Künstler auch gefundener Elemente, die er in leerstehenden Häusern gezielt auswählt und demontiert. So baute Schneider aus Siedlungen im Umfeld von Rheydt (dem Standort von Haus u r), die auf Grund des voranschreitenden Tagebaus in der Region von ihren BewohnerInnen verlassen wurden, Elemente wie Lichtschalter, Türklinken, Fußböden, Treppenstufen aus. Das soziale Milieu, in welches Schneider in seiner Installation Haus u r die RezipientInnen einführt, steht somit bereits mittels der Bezugsquellen des Rohmaterials in direkter Verbindung zu realen sozialen Milieus, wie sie in Rheydt und Umland anzutreffen sind.

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Hinweise auf einen anderen, einen osteuropäischen – näherdings: einen sowjetrussischen – Kontext geben. 7.3.3 Rachel Whiteread Eine Künstlerin, die subtile Details wie die beschriebenen nicht nur einsetzt, sondern sie vielmehr zum zentralen Gegenstand der Auseinandersetzung macht, ist Rachel Whiteread (Jahrgang 1963).69 Bereits das technisch-künstlerische Verfahren, mit dem sich die Künstlerin Orten und Architekturen nähert, legt die Bezugnahme auf den real existierenden Alltag sehr deutlich – und möglicherweise noch einmal augenfälliger als bei Gregor Schneider der Fall – offen. Whitereads Arbeitspraxis besteht nämlich darin, reale Gegenstände, Zimmer und Gebäude materiell abzuformen. Dabei kehrt sie das übliche Verhältnis von Negativ und Positiv, von materieller Form und Hohlraum, um. Im Resultat entstehen massive plastische Arbeiten, Positivformen dessen, was üblicherweise allein als Hohlraum, Unterseite, Innenraum oder Leerstelle vorhanden ist. Auf diese Weise werden Schreibtische (Yellow Leaf, 1989), Schränke (Closet, 1988), Bücherregale (Untitled/Paperbacks, 1997), Fußböden (Untitled/ Floor, 1992), Treppenhäuser (Untitled/Stairs 2001), Zimmer (Ghost, 1990), Wohnungen (Apartment, 2001) oder ganze Häuser (House, 1993) mit einem Gipsmantel überzogen, abgeformt und schließlich mittels des Ausgießens mit einem Füllmaterial, mit Gips, Kunstharz oder Beton, in ihr materielles Gegenteil verkehrt. Diese für Whiteread charakteristische Arbeitspraxis bringt es nicht nur mit sich, dass die groben Volumina, die Proportionen und Massen, mit plastischen Mitteln abgeformt werden. Auch feine und feinste Spuren – Brüche, Risse, Verwerfungen, Kratzer, im Lauf der Zeit Abgenutztes, Abgeschabtes, Ausgeschliffenes, Ergänztes, Überstrichenes, Aufgeschichtetes – bilden sich mittels dieser Technik minutiös ab. Der Grund, warum Whiteread zu einem derartigen Mittel greift, dürfte nicht zuletzt im leitmotivischen Interesse der Künstlerin liegen, das um Fragen der persönlichen und kollektiven Geschichte, um die Beziehung beider Aspekte zueinander, um das, was Bestand hat, und das was vergeht, um Anwesenheit und Abwesenheit kreist.70 Wie schon bei Ilya Kabakov und Gregor Schneider angesichts einer genaueren Betrachtung deutlich wurde, so bildet auch Rachel Whiteread vorgefundene Gegenstände, Zimmer und Gebäude, die ihr als Vorbild für eine Arbeit dienen, keineswegs allein ,originalgetreuʻ ab. Denn wie fotografische Dokumentationen des Arbeitsprozesses sowie Interviews mit der Künstlerin belegen: Whiteread bringt in ihre Arbeitsweise, die nur vermeintlich in einem simplen Abformen des Gegebenen besteht, 69 Ausführliche Interviews mit Rachel Whiteread finden sich in: Andrea Rose/Rachel Whiteread, Rachel Whiteread interviewed by Andrea Rose; Interview; in: Katalog, Rachel Whiteread (London: British Pavillion XLVII Venice Biennale 1997, 1997); Rachel Whiteread/ Charlotte Mullins, Interview; in: Charlotte Mullins, RW - Rachel Whiteread (London: Tate Publishing, 2004); Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread – Transient Spaces (Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2003); John Tusa/Rachel Whiteread, Transcript of the John Tusa Interview with Rachel Whiteread; Interview ausgestrahlt am 4.1.2004 von BBC-Radio, London (verfügbar als Online-Ressource). 70 Vgl. Interviews, Fn. 69.

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subtile Eingriffe und Veränderungen ein. Dabei wägt die Künstlerin sehr genau zwischen dem Maß ab, in dem die von ihr behandelten Objekte Spuren des Individuellen und des Kollektiven aufweisen. Während Rachel Whiteread sich in ihren frühen Arbeiten vor allem solchen Gegenständen zuwandte, die in einer Verbindung zu ihrer eigenen Person und erlebten Geschichte standen, ging die Künstlerin später dazu über, zwar aus eigener Erfahrung vertraute, dabei kollektiv bekannte und somit allgemein wiedererkennbare Gegenstände zu behandeln. Die Künstlerin packt diesen, sich über etliche Jahre hinziehenden Prozess, wie folgt in eine Nussschale: Ich habe einmal gesagt, daß ich Omas Fingerabdrücke verschwinden lasse [...].71

Mit der Arbeit Ghost hatte Whiteread ihre erste Abformung eines kollektiven Gegenstandes von architektonischen Ausmaßen vorgenommen. Das Anliegen war es damals nach eigenen Angaben gewesen, „die Luft in einem Raum [zu] mumifizieren“72, oder in anderen Worten: einen mit individueller Geschichte gefüllten Umraum massiv auszugießen und in diesem Sinn ebenso zu konservieren, wie ihn im gleichen Zug zu negieren. In der einige Jahre später entstandenen Arbeit House behandelte die Künstlerin auf ähnliche Weise ein ganzes Gebäude, wobei es in diesem Fall, im Gegensatz zu ihrer üblichen Arbeitsweise, notwendig war, das als Vorlage dienende Objekt, das materielle Gebäude, abzureißen, um den darin befindlichen abgeformten Betonkern, Whitereads künstlerische Arbeit, Stück für Stück freilegen zu können. Hierzu Whiteread: [...] when we stripped away the building, it was amazing to me how much detail the casting had picked up like Ghost but much more substantial, not just because of its size, but because of the material and the brutality with which it had been made.73

Was sich in dem Beton, der als Füllmaterial Verwendung fand, abzeichnete, waren die Spuren der gut 100-jährigen Nutzungsgeschichte des Gebäudes: Lichtschalter, Steckdosen, Kabelleitungen zeichneten sich als Negativformen auf der Oberfläche des Betonquaders ab. Teilweise färbte der Putz dessen Wände bunt ein, wie die Künstlerin zu Protokoll gibt. Eine Schlafzimmerwand des Obergeschosses hinterließ einen zitronengelben Abdruck auf dem Beton, während sich die Kaminöffnungen als rußige Ausstülpungen aus dem kompakten Quader herauswölbten. Dabei war dem Abformungsprozess, wie Whiteread berichtet, eine präzise Sondierungsphase vorausgegangen. Die Künstlerin hatte jedes Detail des Gebäudes überprüft, teilweise individuelle Einbauten, die im Lauf der Nutzungsgeschichte hinzugefügt worden waren, entfernt; andere Details wie die Kamine, die während der Abformungsarbeiten vorschnell demontiert worden waren, rekonstruiert, um sie in den Abguss einbeziehen zu können.74 71 Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread - Transient Spaces; a.a.O., S.62. 72 Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread - Transient Spaces; a.a.O., S.52. 73 Charlotte Mullins, RW - Rachel Whiteread; a.a.O., S.52. 74 Charlotte Mullins, RW - Rachel Whiteread; a.a.O.

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Die Notwendigkeit eines derartigen Sondierens erklärt Rachel Whiteread angesichts einer anderen Arbeit, nämlich der Installation Apartment von 2001. Wie sie in diesem Kontext ausführt, besteht das Ziel der beschriebenen Vorgehensweise einerseits darin, ,allzu individuellʻ wirkende Spuren bestimmter Persönlichkeiten, die ein Gebäude geprägt haben mögen, zu reduzieren, während andererseits Spuren, die durch jahrzehntelange Nutzung entstanden sind, die sich im Sinn einer transindividuellen Nutzungsschicht materiell akkumuliert bzw. sedimentiert haben, herauszuarbeiten. Die Künstlerin hierzu: Es geht mir in meiner Arbeit nicht primär um eine Wohnung, in der [eine Person X – Einfügung B.H.] oder [eine Person Y – Einfügung B.H.] gelebt hat. Mich interessieren die Ablagerungen, die Spuren, die von den verschiedenen Nutzungsperioden eines Gebäudes zurückgeblieben sind.75

Und, wie sie an anderer Stelle, ebenfalls Bezug nehmend auf die Arbeit Apartment (und in Absetzung zu der Arbeitspraxis, die noch ihre Arbeit Ghost aufwies) fortfährt zu erläutern: Sie können zwar die Tapetenränder und Pinselstriche an der Wand sehen, nicht aber die Nikotin- und Schmutzflecken. Ich habe viele Flächen absichtlich sauber gemacht, ganz im Gegensatz zu Ghost, wo der offene Kamin überall Rußspuren hinterlassen hat.76

„Ablagerungen“ und „Spuren, die von verschiedenen Nutzungsperioden zurückbleiben“, wie bspw. „Tapetenränder und Pinselstriche an der Wand“, werden durch Whiteread also beibehalten bzw. gezielt in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt. Andere Spuren, die allzu individuell erscheinen, gilt es hingegen zu eliminieren. Dabei findet stets ein genaues Abwägen statt. Freie Erfindungen gibt es nicht. Vielmehr ist Whiteread darum bemüht, den jeweiligen Gegebenheiten eines Objekts so präzise wie möglich Rechnung zu tragen. Hierzu noch einmal die Künstlerin, erneut Bezug nehmend auf die Arbeit Apartment: Apartment wird diese komischen Lücken [zwischen den einzelnen Raumsegmenten – Anmerkung B.H.] haben, speziell weil da ohne Plan gebaut wurde. Sie können die engen negativen Hohlräume entlang blicken und erahnen, wo früher die Lampen und Schalter waren. Die Elektroinstallationen sind unsichtbar, aber glauben sie mir, sie sind vorhanden, genau wie bei einem normalen Gebäude. Es ist für mich enorm wichtig, dass diese Details stimmen. Ich muss ehr77 lich sein mit meiner Kunst.

75 Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread - Transient Spaces; a.a.O., S.48. 76 Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread - Transient Spaces; a.a.O., S.53. 77 Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread - Transient Spaces; a.a.O., S.50.

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7.4 B EZUG VON ARCHITEKTUR - UND ORTSBEZOGENEN I NSTALLATIONEN ZUR U MGEBUNG Während Bruce Naumans minimalistisch reduzierte Installationen selektiv auf reale Vorbilder Bezug nehmen, finden sich mit Ilya Kabakov, Gregor Schneider und Rachel Whiteread durchwegs konkrete Arten und Weisen der Bezugnahme auf Orte und Architekturen des Alltags. Aufschlussreich ist hierbei, dass alle drei KünstlerInnen auf Anhieb gleichermaßen ,realistischʻ zu arbeiten scheinen. Dennoch variieren, bei genauerer Betrachtung, die jeweiligen Arbeitsweisen merklich: Ilya Kabakov stellt eine allgemeine soziale Erkennbarkeit her, spitzt diese jedoch in Richtung spezifischer Kontexte (wie dem Leben in der UdSSR und einem konkreten Narrativ) zu. Gregor Schneider eliminiert im Gegenteil alles allzu Spezifische und sucht allein den ,Anschein von Normalitätʻ zu wahren. Wie Rachel Whiteread arbeitet er mit den Spuren, die ein täglicher Umgang mit den Dingen und Zimmern des Alltags hinterlässt. Anders als bei Whiteread der Fall werden diese jedoch gerade nicht im Sinn einer individuellen oder kollektiven Geschichte behandelt. Whitereads Verfahren der materiellen Abformung und Umkehrung beinhaltet seinerseits gleich ein doppeltes Moment der Bezugnahme auf das Konkrete und Reale: Erstens mittels der Abformung von ,Spuren des Gelebtenʻ, die sich an der Oberfläche eines Gegenstandes oder Umraumes zeigen und die durch Whiteread konserviert werden; zweitens mittels der Abformung von Leerräumen, die, wie die Künstlerin selbst sagt, mittels des materiellen Ausgießens ,mumifiziertʻ werden; oder anders ausgedrückt: einstmals belebte Zimmer des Alltags werden zu massiven materiellen Zeugen dessen, was in ihnen einst geschah, was sie aber nun, stumm und undurchdringlich geworden, in sich verschließen. In beiderlei Hinsicht wird bei Whiteread auf etwas hingewiesen, das nicht mehr vorhanden ist, das jedoch durch das Kenntlichmachen seiner Abwesenheit evoziert und somit erneut vergegenwärtigt werden kann. 7.4.1 Die physische Wirkung der Arbeiten Rachel Whitereads Die spezifische künstlerische Vorgehensweise Whitereads ist auch und gerade hinsichtlich des letzten Punktes, der in diesem Kapitel angesprochen werden soll, von Relevanz: nämlich des Bezugs von architektur- und ortsbezogenen Installationen nicht allein zu einem Gebäude oder Ort als Vorbild oder Bezugspunkt, sondern als konkretem räumlich-materiellem Umfeld, in das eine architektur- und ortsbezogene Installation sich zu situieren und einzubetten vermag. Rachel Whitereads Ansatz ist diesbezüglich in doppelter Hinsicht interessant. Zunächst einmal insofern, als es Whiteread mittels ihrer typischen Arbeitsweise gelingt, RezipientInnen in ihre Arbeiten unmittelbar – und das bedeutet auch und nicht zuletzt: in einem physischen Sinn mit einzubeziehen (und dies, hinsichtlich formaler Mittel, noch einmal auf andere Art und Weise als bei Nauman, Kabakov, Schneider der Fall). Whiteread selbst erläutert diesen Sachverhalt anhand ihrer Arbeit Ghost – also jener Installation, die ihre erste Abformung und Umkehrung eines kompletten Zimmers darstellte und die, wie folgender Passage zu entnehmen ist, in ihrer Wirkungsweise sogar die Künstlerin selbst überraschte:

300 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Erst als alles fertig war, sah ich, was ich fabriziert hatte. Ich habe die Tür vor mir und einen umgestülpten Lichtschalter und denke „Ich bin die Wand“. Das ist das Resultat. Ich bin zur Wand geworden.78

Die Umkehrung eines zuvor leeren Volumens in eine massive Masse hat, wie Whiteread angesichts ihrer ersten als solchen zu bezeichnenden architektur- und ortsbezogenen Installation feststellt, offenbar eine große physische Wirkung. Sie konfrontiert, wie Whiteread erklärt, Menschen, die mit einer derartigen Installation umgehen, mit einem ansonsten nicht-materiellen, dafür nun umso massiver zu Tage tretenden materiellen Gegenüber. Es ist eben diese Vehemenz, ja geradezu Brutalität, mit der das üblicherweise luft- und lichtdurchlässige, kaum als solches bemerkte Volumen nun als massive Masse auftritt, die dem menschlichen Gegenüber das Gefühl gibt, des eigenen Platzes beraubt und an die Wand gedrängt zu werden, ja das Gefühl, wie Whiteread formuliert, selbst die Wand zu sein. Diese Möglichkeit, die die Künstlerin angesichts der Arbeit Ghost für sich entdeckte, nämlich jene mit der physischen Komponente menschlicher Umraumerfahrungen zu arbeiten, ist ein Aspekt, der bald zu einem ausgesprochenen Interessensschwerpunkt und Arbeitsmittel der Künstlerin werden sollte, wie Whiteread ausführt: Bei all meine Raumplastiken – und überhaupt bei all meinen architektonischen Experimenten – geht es im Grunde um die Wahrnehmung. Es hat etwas Verwunderliches, wenn wir davor stehen und denken, „wir leben auch in einer solchen Behausung, wie kommen wir drinnen physisch zurecht?“ Beim Dialog mit meiner Arbeit stellt sich unweigerlich die Frage, welchen physischen Einfluss sie auf mich hat.79

Oder, wie sie mit Bezug auf bestimmte ,Skulpturenʻ, etwa die Arbeiten ihres Kollegen Richard Serra anmerkt (welche zweifelsohne mit gleicher Berechtigung auch als ,Installationenʻ bezeichnet werden könnten): Manche Skulpturen lösen bei mir eine Körperreaktion aus, eine Körperwahrnehmung. Serra ist ein perfektes Beispiel. Er ändert die Art, wie man einen Fuß vor den anderen setzt, wenn man etwas umkreist oder durchquert. Man beginnt, über seinen Platz in der Welt nachzudenken.80

7.4.2 Wirkung in die räumliche Umgebung Ein Effekt, der sich aus Whitereads Verfahren der materiellen Umkehr ergibt, ist die direkte Wirkung einer Installation auf die Physis der RezipientInnen; ein anderer Effekt, der sich einstellt, die Wirkung in einen materiellen oder immateriellen Umraum hinein. Dieser Aspekt könnte im Prinzip mittels jeder Arbeit Whitereads aufgezeigt werden, ihrer eher skulpturalen, kleiner dimensionierten Arbeiten wie ihrer 78 Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread - Transient Spaces; a.a.O., S.52. 79 Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread - Transient Spaces; a.a.O., S.54. 80 Craig Houser/Rachel Whiteread, Wenn Wände sprechen könnten: ein Interview mit Rachel Whiteread; in: Katalog, Rachel Whiteread - Transient Spaces; a.a.O., S.55.

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großräumigen Installationen. Besonders geeignet ist hierfür aber ihr Mahnmal für den Judenplatz, Wien.81 Bevor, zum Abschluss dieses Kapitels, auf diese Arbeit Whitereads näher eingegangen werden kann, sollte betont werden, dass die Einbeziehung des Umraums einer Installation kein Aspekt ist, der sich allein bei Rachel Whiteread finden lässt. Die potentielle Umraumoffenheit – oder auch Umraumbezogenheit, wie man sagen könnte –, ist vielmehr ein Aspekt, der sich mit dem Gedanken der architektur- und ortsbezogenen Installation auf geradezu elementare Weise verbindet (so dass er ohne weiteres in die Auflistung möglicher Merkmale von Kapitel 6 aufgenommen werden könnte). Allerdings handelt es sich hierbei um einen Sachverhalt, der nicht immer augenfällig wird, da er in vielen Fällen eher ex negativo zu Tage tritt. Um sich dies zu verdeutlichen, mag ein gedanklicher Blick zurück auf eine Arbeit Gregor Schneiders hilfreich sein, wie etwa auf den Installationsbestandteil u r 20 von Haus u r. An diesem mag erst auf den zweiten Blick auffallen, dass Schneider das Fenster des Zimmers gezielt mit einem Rollo verschließt. Eine Merkwürdigkeit, die Schneider selbst mit der Äußerung „Räume ohne Fenster sind einfach zeitlos“82 kommentiert. Ilya Kabakov erklärt diesen Umstand ausführlicher. Denn nach Kabakov ergibt sich bereits aus dem Gedanken einer Totalen Installation der ... sonderbar wirkende Anspruch […], dass sie keine Fenster haben soll. Aber das ist natürlich. Wenn es eine der wichtigsten Aufgaben der Totalen Installation ist, eine vollwertige, in sich geschlossene Welt zu schaffen, so würde das Vorhandensein von Fenstern, eines Ausgangs in die äußere, jenseits der Installation gelegenen Welt die zu schaffende Installation vollkommen zerstören.83

Diese in ihrer Entschiedenheit frappierende, dabei einleuchtende Aussage, mildert Kabakov an anderer Stelle ab, bzw. modifiziert er sie dahingehend, dass die komplette Abschottung eines installativen Innenraums letztlich allein eine vom ihm bevorzugte Möglichkeit darstelle. Prinzipiell biete sich noch eine zweite Möglichkeit. Denn bezieht man ein offenes Fenster bewusst mit ein, so werde eine Installation keineswegs zwangsläufig ,zerstörtʻ. Was sich in diesem Fall hingegen sehr wohl und unweigerlich einstelle, sie ein direkter Bezug der Installation zu ihrer jeweiligen Umgebung. Dieser Möglichkeit bedient sich Ilya Kabakov selbst allerdings nur selten. (Gregor Schneider seinerseits in Haus u r, in das zwar künstliches Licht eindringt, dessen Fenster aber stets mit Vorhängen, Jalousien, Rollläden verhängt sind, gar nicht.) Eine Ausnahme findet sich in einer Arbeit, in der Kabakov von seinen Auftraggebern ein gesamtes Gebäude zur installativen Bearbeitung zur Verfügung gestellt bekommen hatte: eine inmitten der Steppe des US-amerikanischen Südwestens gelegene ehemalige Kaserne, die Kabakov im Rahmen der Installation School No.6 in eine verlassene Schule der Sowjetära umwandelte. Die Fenster des Gebäudes 81 Der offizielle Titel des Gedenkortes lautet Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah. Im Weiteren wird allein vom ,Mahnmal für den/am Judenplatz, Wienʻ die Rede sein. 82 Mündliche Äußerung Gregor Schneiders in: Ben Lewis, Gregor Schneider – ein Portrait; TV-Beitrag für BBC 4, 2006(Video/DVD, 30 min.). 83 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.27.

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wurden in diesem Fall durch Kabakov nicht, zumindest nicht durchwegs, verschlossen. Vielmehr diente der Blick aus dem Fenster in diesem sehr besonderen Fall sogar als initialer Ideengeber. Denn, wie Kabakov erklärt, angesichts der Weite der Landschaft stellte der Künstler eine frappierende Ähnlichkeit mit der Landschaft in bestimmten Regionen der ehemaligen Sowjetunion fest. Und so wurde die Landschaft, im Sinn eines Blicks aus dem Fenster, in diesem für Kabakov ungewöhnlichen Fall, zu einem festen Bestandteil der Installation. Die Integration einer unverschlossenen Fensteröffnung in eine Totale Installation ist, wie Kabakovs obige Aussage mit Kabakov selbst zu modifizieren wäre, also durchaus möglich. Allerdings ergibt sich bei einer derartigen Inkorporierung des Außenraumes ein Problem konzeptioneller Art. Kabakov bringt es zur Sprache, wenn er fragt: Aber wo sind die Grenzen einer solchen Installation? Wo ist der berühmte „Rahmen“, der das Kunstwerk von der Wirklichkeit trennt?84

Um nach intensiver Diskussion schließlich selbst die Antwort zu geben: Die Antwort lautet etwa so: Dieser Rahmen, diese Grenze, dieser Ausschnitt trägt [...] selbst nicht plastischen Charakter. Wo wir auch diese Linie suchen, der die Steppe von einem beliebigen Punkt im Innenraum der Schule oder in der Nähe trennt, wir werden sie nicht finden, sie changiert irgendwo zwischen dem fernen Horizont und dem staubbedeckten Buch auf dem Fußboden. Mehr noch, alles ist in den beschriebenen Installationen so verschmolzen, daß diese Grenze nirgends zu sehen ist.85

Wie aus Ilya Kabakovs Forderung nach a) entweder der Fensterlosigkeit einer Installation, oder b) der bewussten Inkorporierung des Blicks aus dem unverschlossenen Fensters deutlich wird, nimmt eine architektur- und ortsbezogene Installation zwangsläufig Bezug auf ihre Umgebung. Dies mag nicht zuletzt an der simplen Tatsache liegen, dass eine derartige Installation selbst mit räumlichen Mitteln und realen Gegenständen arbeitet. Eine Trennung zwischen zwei materiellen Umäumen, einem (engeren) Umraum der Installation, und einem (weiteren) Umgebungs- oder Außenraum, kann daher nur mittels einer rigiden Abschottung erreicht werden. Oder im umgekehrten Fall muss eine Installation bereit sein, ihren Rahmen entsprechend zu erweitern und ihre jeweilige Umgebung bewusst mit einbeziehen, wie Kabakov ausführt. Eben dieser, nämlich der zweitgenannte Fall, findet sich nun angesichts der erwähnten Arbeit Rachel Whitereads: Dem Mahnmal auf dem Judenplatz, Wien. Die Kuratorin Craig Houser beschreibt diese Arbeit Whitereads in einem Interview mit der Künstlerin wie folgt: In October 2000, after five years in the making [...] Holocaust Memorial was finally unveiled in Viennas Judenplatz, which is largely a residential square. For the project you created a single room lined with rows and rows of books, all of it rendered in concrete. There is a set of closed 84 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.103-110, Zitat: S.105. 85 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.109.

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double doors in front, and the names of the concentration camps where Austrian Jews died are listed on the platform surrounding the memorial. The piece is located near the Holocaust Museum in Misrachi Haus, and sits at one side of the Judenplatz, directly above the archaeological site of a medieval synagogue.86

Was Whiteread in ihrer Denkmalsarbeit zeigt, ist, so wie bei der Arbeit Ghost der Fall, der ausgeformte Innenraum eines Zimmers. Anders als im Fall von Ghost existiert das porträtierte Zimmer jedoch nicht real. Allenfalls könnte es potentiell in einem der umliegenden Gebäude existieren, bzw. einst dort existiert haben. Ähnlich wie bei den zuvor behandelten Arbeiten der Künstlerin wird auch hier das Gezeigte – das ja an sich aus einem bloßen Leerraum, einem Hohlraum, einem vermeintlichen Nichts besteht – erst durch Whitereads künstlerisches Umkehrprinzip zu etwas, und somit zu einem Zeugnis dessen, was einstmals – möglicherweise, so oder so ähnlich – materiell vorhanden gewesen sein mag, das nun hingegen abwesend ist. Zu diesem Prinzip hatte Whiteread angesichts einer frühen Arbeit, bei der sie den Hohlraum unter einem Stuhl (bzw. in einer erweiterten Version dieser Arbeit, den Hohlraum unter 100 Stühlen) abgeformt hatte, erklärt: For me, it was a step to making an absent place for one person – or in the case of One Hundred Spaces, an audience of people.87

Ebenso geht Whiteread nun bei ihrer Mahnmal-Arbeit vor. Auch hier schafft die Künstlerin einen massiven Quader aus Beton, allerdings nicht in der Hohlform eines Stuhles, sondern jener eines Zimmers. Der Betonquader besitzt regelmäßige, die Oberfläche strukturierende Vertiefungen, die von abgeformten Büchern stammen. Diese Vertiefungen überziehen den Quader flächendeckend und zeugen so von einer einst mit Büchern ausgekleideten Stube, so dass die Arbeit Whitereads (die anders als andere Arbeiten der Künstlerin mit einem freien Wechsel von positiv und negativFormen operiert) Assoziationen zu einer verlorengegangenen Privatbibliothek, einem Archiv, möglicherweise aber auch – auf Grund der Regelmäßigkeit und Normierung der Abdrücke – an eine Behörde wecken könnte. Whiteread äußert sich zu ihrem Mahnmal mit den folgenden Worten: There's nothing real about that piece at all, in a way. The doors were constructed; I construed the ceiling rose. It's all about the idea of a place. Rather than the actual room, it's based on the idea of a room in one of the surrounding buildings. It was about standing in a domestic square amidst very grand buildings, and thinking about what the scale of a room might be in one of those buildings. I didn't ever want to try to cast an existing building.88

Wie Whiteread ausführt steht ihre Installation in gezielter Beziehung zur räumlichen Umgebung. Passanten oder Besucher des Mahnmals werden beim Betreten des Platzes mit einem massiven, zimmerartigen Quader konfrontiert. Denkt man an Whitereads Arbeit Ghost, so könnte man auch formulieren: Sie finden sich konfrontiert mit 86 Charlotte Mullins, RW- Rachel Whiteread ; a.a.O., S.90. 87 Charlotte Mullins, RW- Rachel Whiteread; a.a.O., S.72. 88 Charlotte Mullins, RW- Rachel Whiteread; a.a.O., S.92.

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einem ,mumifizierten Vakuumʻ, das die sichtbar gewordene Abwesenheit von etwas, das es einmal an diesem Ort real gegeben haben mag, materiell vorstellt. Dabei nimmt der Quader (mittels seiner Proportionen, die die Dimensionen eines üblichen Zimmers besitzen, sowie mittels der Abdrücke, die an Bücher erinnern) Bezug auf den physisch verfassten Menschen, der mit ihm konfrontiert ist; ebenso, wie er auf die Dimensionen der umgebenden Gebäude Bezug nimmt. Der Quader stellt in diesem Sinn, wie man sagen könnte, eine Art Mittler dar: Besucher und Passanten können sich angesichts der Proportionen der angedeuteten Bücher, Regale, Türen die Proportion eines Zimmers vergegenwärtigen, wie es sich in einem der umliegenden Häuser befinden könnte, von dem allerdings ungewiss ist, in welchem der umgebenden Gebäude es sich befindet bzw. einst befunden haben mag. Eben hierdurch werden BesucherInnen – ebenso wie die unweigerlich zu RezipientInnen gewandelten PassantInnen – dazu aufgerufen, die angedeutete Bücherstube hinter den Fassaden sämtlicher umgebender Gebäude zu suchen. Anders stellt sich die Wirkungsweise der Mahnmal-Arbeit dagegen dar, wenn sie aus einem der umliegenden Häuser betrachtet wird. Von hieraus weisen gleich verschiedene Anhaltspunkte: der Abdruck der Deckenrose, die sich auf der Oberseite des Quaders negativ abdrückt, die angedeuteten Bücher, die mit ihren Schnittkanten nach außen (somit mit den Buchrücken nach innen) stehen, die Türen, die nur als Negativ vorhanden sind, auf einen Innenraum, ein Inneres, sich im Quader Befindliches, das selbst jedoch fest verschlossen und mumifiziert, unzugänglich bleiben muss. Nimmt man die unterschiedlichen perspektivischen Möglichkeiten des Blicks auf Whitereads Arbeit, wie sie sich aus den zahlreichen Fenstern der ringsum situierten Häuser ergeben, zusammen, so bündeln sich die Ansichten in einem Mittelpunkt, als dem möglichen Standpunkt einer im Zentrum des Bücherraumes stehenden Person. Diese Mitte kann nur angenommen, nicht real eingesehen werden. Ähnlich wie Whiteread es angesichts ihrer Abformungen von Stühlen beschreibt, erscheint also auch die Mahnmal-Arbeit als eine Materialisierung der Abwesenheit nicht allein von Dingen oder Zimmern, sondern von Menschen. Die Installation ist in dieser Hinsicht, wie Whiteread zwar nicht in eigenen Worten, wohl aber mit ihrer Arbeit verrät, also mehr als ein in sich geschlossener Betonquader. Sie ist ein komplexes räumliches Bezugsobjekt, das mittels visueller wie physisch erfahrbarer Wahrnehmungskomponenten Verbindungen herstellt: von auf dem Platz befindlichen realen Menschen über den Quader zu den umliegenden Gebäuden – und von diesen aus, mittels des Quaders, zurück zu einem imaginierten Zentrum im Inneren des dargestellten Zimmers, wie es einst von einem heute abwesenden Menschen eingenommen worden sein könnte. Kleine Rekapitulation Im Zuge dieses Kapitels wurden verschiedene Dinge deutlich: Anhand des eingangs behandelten Beispiels Bruce Naumans lässt sich mittels Interviewaussagen des Künstlers nachvollziehen, wie es diesem gelingt, spezifische Erfahrungen, die an physio-kinetische Eigenaktivität gebunden sind, einem Kunstpublikum nicht allein theoretisch bzw. visuell vermittelt näherzubringen, sondern diese mittels des Einsatzes installativer Umräume auch praktisch und am eigenen Leib erfahrbar werden zu lassen. Inwiefern diese Möglichkeit nicht nur minimalistisch reduzierten Installationen wie den frühen Arbeiten Naumans, sondern auch ,realistischʻ anmutenden instal-

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lativen Set-ups innewohnt, dies machte Ilya Kabakov mit seinen Ausführungen zur Totalen Installation deutlich. Die Funktionsweise einer solchen Arbeit bezieht unterschiedlichste Aspekte – baulich-materielle Umräume, darin befindliche Gegenstände, aber auch immaterielle Aspekte, Raumabfolgen und Bewegungschoreografien – mit ein. Dass ein derart komplexes Wahrnehmungs- und Wirkungsgefüge zugleich Bezug auf reale Orte und Architekturen des Alltags nehmen kann, dies zeigten, neben den Beispielen Nauman und Kabakov, die Arbeiten und Ausführungen Gregor Schneiders und Rachel Whitereads. An letztgenanntem Exempel wurde zudem auf besondere Weise der kontextuelle Charakter architektur- und ortsbezogener Installationen deutlich, welche einerseits RezipientInnen unmittelbar physisch ansprechen, andererseits, so nicht gezielt von ihrem Umfeld abgeschottet, unweigerlich Bezug zum ihrem jeweiligen umgebenden Kontext (etwa einer Landschaft oder einem innerstädtischer Platz) entwickeln. Soweit, in aller Kürze, eine kleine Rekapitulation der in Kapitel 7 verhandelten übergreifenden Fragestellungen. Die große Frage, die es nun zu stellen gilt, lautet jedoch: Was hat all dies mit dem Gedanken einer transdisziplinär verfassten Forschung, genannt Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, zu tun?

Kapitel 8 Künstlerische und philosophische Ansätze – eine kontextualisierende Betrachtung

In Teil II wurden ästhetiktheoretische Positionen, die dem Bereich der philosophischen Alltags- und Umweltästhetik entstammen, diskutiert. In Teil III kamen installative Ansätze zur Sprache, die sich mit alltäglichen menschlichen Umgebungen auseinandersetzten. In Kapitel 8, das fließend in den vierten Teil der Untersuchung überleiten wird, gilt es nun, beide Seiten kontextualisierend zu betrachten. Hierzu sind drei Einzelschritte nötig: In einem ersten Schritt müssen bislang implizit deutlich gewordene Gemeinsamkeiten der in Teil II und Teil III behandelten philosophischen und künstlerischen Positionen explizit gemacht werden (8.1). In einem zweiten Schritt gilt es zu klären, inwiefern beide Seiten sich der (gebauten) menschlichen Umwelt nicht allein im Sinn eines thematischen Gegenstands, sondern auf untersuchende Weise nähern (8.2). In einem dritten Schritt wird zu diskutieren sein, ob und gegebenenfalls inwiefern beide Seiten sich hinsichtlich ihrer Untersuchungsweisen nahekommen, gleichen, sowie potentiell zu ergänzen versprechen (8.3). Erst wenn diese drei Punkte geklärt sind, kann die Möglichkeit einer kollaborativ verfassten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt ins Auge gefasst werden. Ob der Gedanke einer Forschungspraxis, die von philosophischen und künstlerischen Ansätzen gespeist wird, indes mit aktuellen Vorstellungen von Kunst und Wissenschaft vereinbar ist, dazu werden abschließend (unter 8.4) einige Überlegungen folgen.

8.1 G EMEINSAMKEITEN

KÜNSTLERISCHER UND PHILOSOPHISCHER ANSÄTZE

Um sich der Möglichkeit einer kollaborativen künstlerisch-philosophisch basierten Forschungspraxis zu nähern, muss zunächst geklärt werden, was beide Seiten miteinander gemein haben. Zwar sollten gewisse Parallelen bereits implizit erkenntlich geworden sein. An dieser Stelle gilt es jedoch, diese explizit, Punkt für Punkt, herauszuarbeiten. Hierzu werden im Folgenden philosophische und künstlerische Ansätze hinsichtlich zentraler Gedanken und Aspekte, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln in jedem der Bereiche einzeln identifiziert wurden, gegenübergestellt und miteinander abgeglichen.

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Das Verhältnis von Mensch und Umraum als interkonnektives Verhältnis Wie anhand einiger im doppelten Wortsinn exemplarischen künstlerischen Positionen deutlich wurde, kommt im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation der Beziehung von menschlicher Physis und Umraum eine wichtige Rolle zu. Die frühen Korridor-Arbeiten Bruce Naumans zeigen, wie dreidimensionale installative Set-ups vom Künstler als mögliches Arbeitsmedium und Mittel entdeckt werden, um von ihm gemachte, an physio-kinetische Bewegungsabläufe und einfache Handlungen gebundene Erfahrungen anderen Personen zu vermitteln. Eine solche Vermittlung findet, anders als bei seinen vorausgegangenen Arbeiten (Skulpturen, activities) nicht indirekt, visuell oder textuell vermittelt (per Video oder Handlungsanweisungen) statt, sondern unmittelbar, mittels der den RezipientInnen gegebenen Möglichkeit, ein installatives Set-up selbst zu erkunden. Entscheidend ist für Nauman in diesem Kontext, dass das Mittel der Installation es einerseits ermöglicht, das Handlungsspektrum der RezipientInnen mittels des Setzens einer materiell-räumlichen Limitierung gezielt einzuschränken, während es andererseits innerhalb der gegebenen Limitierung ein durch den Künstler genau vorbestimmtes Spektrum an zu machenden Erfahrungen zulässt. Beide Komponenten, die aktiv zum Einsatz kommende menschliche Physis und der Erfahrungen limitierende Umraum, sind also gleichermaßen konstitutiv. Wahrnehmender Rezipient und wahrgenommenes installatives Set-up bedingen sich gegenseitig. Anders als Naumans auf einfache Grundelemente reduzierte Arbeiten stellen Ilya Kabakovs Totale Installationen äußerst detailreiche installative Set-ups dar. Diese könnten leicht als szenische Bühnenbilder oder bloße Repliken realer Vorbilder missverstanden werden, wäre da nicht auch angesichts einer kabakovschen Installation jenes Moment des eigenen physischen Erfahrens. Bereits die Schilderung des Entstehungsprozesses einer Totalen Installation machte deutlich, wie wichtig dieses Moment für Kabakovs Herangehensweise ist: So erfolgt die Entwicklung und Ausarbeitung der Idee zu einer künstlerischen Arbeit erst nach einer eigenen physischen Begehung des designierten Installationsstandorts (und nicht etwa nach einer in Augenscheinnahme von Fotografien oder Plänen des Standortes); ebenso wie der Realisierungsprozess, sowie innerhalb dessen insbesondere die finale Realisierungsphase, einer physischen Präsenz durch den Künstler bedarf. Auch die Überprüfung des bis zu einem gewissen Punkt hin Realisierten erfolgt nicht anhand der vom Künstler vorab gefertigten Pläne, sondern umgekehrt: Die Pläne richten sich nach dem zu einem jeweiligen Zeitpunkt, vor oder während der Aufbauarbeiten, gegebenen physischen Erleben des Künstlers.1 Auf Seiten der Rezeption einer Totalen Installation spielt der Aspekt des physischen Eigenerlebens eine nicht minder zentrale Rolle, wie etwa, um allein ein Beispiel in Erinnerung zu rufen, Kabakovs Schilderung der Funktionsweise einer Tür zeigte, die nicht rein visuell, zeichenhaft wahrgenommen wird, sondern maßgeblich mittels eines direkten Umgangs, eines Anfassens und Öffnens, erfahren werden muss. Auch für Kabakov gilt also: Zentrales Instrument im künstlerischen Arbeiten ist ein spezifisch verfasstes installatives Set-up, nicht im Sinn eines distanziert zu betrachtenden Bühnenraums (Stichwort: Guckkastenbühne), sondern als mittels unterschiedlicher Sinnesdimensionen aktiv zu erkundender Umraum. 1

Vgl. Kap. 7.2.

K ÜNSTLERISCHE UND PHILOSOPHISCHE A NSÄTZE –

KONTEXTUALISIERENDE

B ETRACHTUNG

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Rachel Whitereads Arbeiten, die in einem Abguss- und Umkehrverfahren entstehen, unterscheiden sich schon in formaler Hinsicht von denjenigen eines Nauman, Kabakov oder Schneider. Sie machen Umräume nicht begehbar, sondern verwandeln diese in ein massives Objekt. Der Verdacht könnte daher naheliegen, dass derartige Arbeiten weniger stark mit der Einbeziehung der menschlichen Physis arbeiten als bei den zuvor genannten installativen Vorgehensweisen der Fall. Dass dem nicht so ist, macht Rachel Whiteread indes selbst deutlich, wenn sie konstatiert, dass es bei all ihren „Raumplastiken [und] architektonischen Experimenten [...] um die Wahrnehmung“ gehe und sich dabei „unweigerlich die Frage“ stelle, „welchen physischen Einfluss“ diese auf den Menschen hat. 2 Eindrücklich nachvollziehbar wird dieser Umstand zudem, wenn die Künstlerin die unerwartet heftige Wirkung schildert, welche die Arbeit Ghost auf sie selbst hatte. Denn der von Whiteread beschriebene Effekt, das Gefühl „selbst die Wand zu sein“, ist keineswegs als metaphorische Umschreibung zu verstehen. Worauf Whiteread abzielt, ist vielmehr die konkrete Erfahrung, sich angesichts der materiellen Präsenz von Ghost an den Rand gedrängt und gleichsam in die Rolle der Wand versetzt zu fühlen (eine höchst physische Erfahrung, die sich weder durch das Anfertigen vorbereitender Skizzen erahnen ließ, noch durch das Betrachten von Dokumentationsfotos der fertigen Arbeit vermittelt). Die konkrete Art und Weise, mit dem Verhältnis von perzeptiver menschlicher Physis und installativem Set-up zu arbeiten, mag bei den einzelnen exemplarisch vorgestellten künstlerischen Herangehensweisen also variieren. Konstitutiv – und dies ist der entscheidende Punkt – ist es in allen. Eben in diesem Faktum liegt nun eine erste wichtige Übereinstimmung zur Seite der philosophisch-ästhetiktheoretischen Theoriebildung. Denn der Gedanke, Mensch und Umgebung nicht als jeweils ,in-sich-verschlossenʻ zu konzipieren, sondern sie als, mittels des an die Physis gebundenen Wahrnehmens, konstitutiv aufeinander ausgerichtet zu verstehen, verkörpert auch hier ein zentrales konzeptionelles Moment. Dass dabei auf Seiten der Theorie, nicht anders als auf Seiten der Kunst, konkrete Ausarbeitungen variieren, dies wurde anhand der exemplarisch vorgestellten Positionen Gernot Böhmes und Arnold Berleants deutlich. Ersterer entwickelt das Konzept des leiblichen Raumes respektive: des Raumes der leiblichen Anwesenheit. Dieses betont einerseits die Rolle, die die perzeptive Physis, oder wie Böhme sagt, der ,Leibʻ, für unser Wahrnehmen spielt. Andererseits bildet sich der leibliche Raum erst durch eine jeweilige Umgebung in ihrer konkreten Wirkung auf den Menschen aus. Materielle Umräume inkorporieren in diesem Sinn nur latent eine bestimmte Wirkungsweise. Diese bedarf einer Anwesenheit des physisch verfassten Menschen, eines ,leiblichen Spürensʻ, eines ,SichBefindensʻ, wie Böhme sagt, um im Sinn eines konstellativen Verhältnisses wachgerufen zu werden. Arnold Berleants Ansatz wird seinerseits leitmotivisch vom Gedanke der Interkonnektivität von wahrnehmendem Menschen und wahrgenommenem Umraum durchzogen. Konzeptionell arbeitet der Theoretiker den Gedanken mittels unterschiedlicher begrifflicher Werkzeuge aus. Neben Berleants allgemeinem UmweltBegriff, der diese als „complex network of relationships, connections, and continuities“ zwischen Mensch und räumlicher Umgebung beschreibt3, ist hierbei insbeson2 3

Vgl. Kap. 7.4. Vgl. Kap. 4.4.

310 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT

dere an das Konzept des engagement sowie, daran gekoppelt, sein participatory model of experience zu denken – also jenes Modell des Erfahrens, das Berleant in Absetzung zu einem traditionell ästhetiktheoretischen kontemplativen, dafür in explizitem Anschluss an ein phänomenologisches aktives Modell entwickelt. Anders als die beiden genannten Modelle (die das signifikante Moment der Erfahrung entweder in das distanziert betrachtete Objekt oder in das wahrnehmende Subjekt verlagern) betont er in seinem Modell die Notwendigkeit, lived body und lived space zusammenzuführen. Eben hierzu dient dem Theoretiker der Begriff des ,engagementʻ. Denn dieser bezeichnet für Arnold Berleant nichts anderes als die Weise, wie Menschen und Umwelt mittels eines spezifischen Erfahrungsmodus, einer engaged experience, aneinander gekoppelt bzw. miteinander verbunden sind.4 Auf beiden Seiten, jener der Theorie wie jener der Kunst, können individuelle Ansätze und spezifische Ausarbeitung also variieren. Der grundsätzliche Gedanke, sich dem wahrnehmenden Menschen und umgebenden Wahrnehmungskontext in ihrer Verbundenheit zuwenden, ist jedoch für alle behandelten Ansätze gleichermaßen konstitutiv. In der philosophischen Theoriebildung wie in der Praxis der installativen Kunst macht es dieser Gedanke überhaupt erst möglich und notwendig, sich nicht entweder allein mit der Rolle der menschlichen Wahrnehmung oder allein mit der Verfasstheit eines umgebenden Wahrnehmungskontextes zu befassen. Ohne diese Sichtweise wären hingegen weder die theoretischen Reflexionen eines Arnold Berleant und Gernot Böhme möglich, die bestehende phänomenologische Ansätze, welche sich vorwiegend auf die perzeptive menschliche Physis (respektive den Leib) als Apriori von Wahrnehmung und Erkenntnis konzentrieren, hinter sich lassen, noch ein künstlerisches Medium, das (gebaute) menschliche Umwelten nicht allein abbildet, schildert oder plastisch nachformt (wie bei Malerei, Literatur, Skulptur der Fall), sondern diese selbst herstellt, um sie für RezipientInnen unmittelbar und aktiv erfahrbar werden zu lassen. Perzeptive menschliche Physis und aktives, multisensorisch-synthetisches Wahrnehmen Nach der Feststellung dieser ersten grundlegenden Gemeinsamkeiten nun zu einer der beiden komplementären Seiten des Mensch-Umwelt-Verhältnisses. Zunächst zur Seite des wahrnehmenden Menschen: Welche Gemeinsamkeiten lassen sich diesbezüglich zwischen der Seite der Theorie und der Kunst feststellen? Auffallend an der Funktionsweise des Mediums der architektur- und ortsbezogenen Installation ist, dass dieses eine aktive physische Erkundung durch RezipientInnen einfordert. Dieser Umstand wurde im vorausgehenden Kapitel auch als physio-kinetisches Moment der architektur- und ortsbezogenen Installation bezeichnet. Besonders augenfällig wird die Notwendigkeit eines aktiven Sich-Hindurchbewegens anhand der frühen Korridor-Arbeiten Bruce Naumans. Doch auch die Installationen Ilya Kabakovs, Gregor Schneiders oder Rachel Whitereads müssen entweder aktiv begangen oder, wie bei Whitereads ein- oder mehrteiligen Arbeiten der Fall, um- bzw. durchschritten werden.5 4 5

Vgl. Kap. 4.2. Arbeiten Whitereads wie Ghost oder House bedürfen eines Umschreitens, wobei sich, nicht zuletzt auf Grund der originalen Maßstäblichkeit, ein starker und mit traditionellen Skulp-

K ÜNSTLERISCHE UND PHILOSOPHISCHE A NSÄTZE –

KONTEXTUALISIERENDE

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Nun bedeutet dieser Umstand im Umkehrschluss nicht, dass nicht auch andere Aspekte der Sinneswahrnehmung durch architektur- und ortsbezogener Installationen angesprochen würden. Denn eine physio-kinetische Rezeptionsform birgt mehr in sich als einen bewegten Körper, der gleich einer Raumsonde frei durch seine Umgebung schwebt und allenfalls mit einem Instrument zur visuellen Informationsverarbeitung ausgestattet ist. Die RezipientIn einer architektur- und ortsbezogenen Installation ist mehr als eine Kamera auf zwei Beinen. Sicher darf die Bedeutung des visuellen Wahrnehmens auch im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation nicht unterschätzt werden. So geben einzelne Bestandteile von Installationen, etwa der Einsatz von Text bei Kabakov oder der Einsatz von farbigem Licht und Fernsehmonitoren bei Nauman, deutlichen Hinweis auf die Rolle auch des visuellen Wahrnehmens.6 Anders als bspw. in der Malerei und der Fotografie der Fall, ist das Sehen im Kontext einer Installation allerdings nie allein – und vor allen Dingen nie als isolierte Perzeptionsweise – ausschlaggebend. Selbst wenn man ein aktives Bewegen und ein visuelles Wahrnehmen zusammennimmt, sind hiermit also bestenfalls zwei wichtige, jedoch keineswegs alle möglichen Aspekte des sinnlichen Wahrnehmens benannt, wie sie angesichts einer architektur- und ortsbezogenen Installation zum Einsatz kommen. Dass RezipientInnen einer architektur- und ortsbezogene Installation mehr sind als eine Kamera auf zwei Beinen, dies verdeutlicht jede der vorgestellten künstlerischen Positionen auf eigene Art und Weise. So stellt Bruce Nauman bspw. angesichts seiner V-förmig zulaufenden Doppelkorridor-Installationen heraus, dass diese sich nicht nur mit dem Aspekt der Bewegung in einem determinierten Umfeld, sondern ebenso mit akustischen und Akustik-verwandten Phänomenen (wie dem Wahrnehmen von Druck) befasse.7 Spezielles Isoliermaterial wie bei Nauman, das die Dämpfung von Geräuschen ermöglicht, kommt auch in den Installationen Gregor Schneiders zum Einsatz. (Etwa in seiner Arbeit Total isolierter toter Raum, bei der es sich um eine Art Gefängniszelle für eine Person handelt, die sich, so Schneider, einmal zugeschnappt, nie wieder öffnen lasse).8 Soundelemente in Form von gesprochener Sprache oder Musik, die in eine spezifische Geräuschkulisse nicht substraktiv, mittels Geräuschwegnahme, sondern additiv, mittels gezielter Hinzufügung, eingreifen, finden sich bei Ilya Kabakov und Bruce Nauman.9 Haptisch-taktil erfahrbare Aspekte

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turen kaum zu vergleichender Bezug zur perzeptiven Physis einstellt. Besonders augenfällig – i.e. auch auf Abbildungen nachzuvollziehen – wird dies anhand der Arbeit Untitled (Basement) von 2001. Diese besteht aus zwei abgeformten, zu einem L-förmigen Objekt verbundenen Treppenelementen, von welchen eines schräg nach oben geradezu bedrohlich über den Rezipientinnen aufragt. Andere Arbeiten Whitereads müssen nicht allein umwandert, sondern zusätzlich durchschritten werden, wie Untitled (Library), 1999, Embankment, 2005/2006, oder Detached, 2012. Kabakov schildert die Art, wie seine Installationen erfahren werde, derart, dass zunächst ein ,Bildʻ, also ein visueller Umraumeindruck, entstehe, der sodann durch andere Erfahrungsmodi, mittels der sich im Umraum bewegenden Physis, abgelöst bzw. ergänzt werde. Vgl. Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.17. Vgl. Kap. 7.1. Total isolierter toter Raum, u r 8, Giesenkirchen, 1989-91. Siehe etwa: Bruce Nauman: Get out of my mind, get out of this room, 1968.

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wiederum erfahren in dem von Rachel Whiteread eingesetzten Verfahren der Abformung und gezielten Nachbearbeitung von Wand- und Möbeloberflächen besondere Aufmerksamkeit. 10 Eine solche ist auch bei Gregor Schneider zu beobachten, der dezidiert gebrauchte Gegenstände bzw. architektonische Versatzstücke (wie abgegriffene Türklinken oder ausgetretene Treppenstufen) in seine Installationen integriert.11 Kurz: Unterschiedlichste Dimensionen der Sinneswahrnehmung wie Sehen, Hören, Druckempfinden, das taktile Spüren von Oberflächen, das physische Spüren von Umräumen, von Enge und Weite – potentiell auch Aspekte wie Riechen und Schmecken (etwa, wenn Gregor Schneider den Besuchern von Haus u r in seinem Gästezimmer Kaffee kredenzt) – werden im Kontext von architektur- und ortsbezogenen Installationen angesprochen. Sie kommen dabei nicht isoliert voneinander zum Einsatz, sondern sie wirken synthetisch zusammen.12 Explizit bringt dies Bruce Nauman zum Ausdruck, wenn er angesichts der soeben erwähnten Korridor-Arbeit in einem Interview den Zusammenhang von Hören, Druckempfindung und Umraumwahrnehmung betont, oder Ilya Kabakov, der an unterschiedlichen Stellen seiner Ausführungen zur Totalen Installation auf jeweils unterschiedliche Konstituenten einer räumlichen Atmosphäre hinweist, wobei er besonders das Zusammenwirken von Farbe und Licht sowie den zusätzlichen Einfluss von „Stimmen, Gesang, Musik“ hervorhebt.13 Zwei Dinge lassen sich für die Seite der Kunst soweit festhalten. Erstens: Architektur- und ortsbezogene Installationen arbeiten nicht, wie die große Mehrheit traditioneller künstlerischer Medien, mit einem isolierten Einzelsinn, sondern sie agieren gezielt mit unterschiedlichen Aspekten des sinnlichen Wahrnehmens. Zweitens: Eine derart multisensorische Wirkungsweise ist – und dies im Gegensatz nicht nur zu monosensorischen, sondern auch zu solchen Kunstformen, die mehr als eine Sinnesdimension ansprechen wie Film oder Oper – konstitutiv an eine aktive perzeptive menschliche Physis gebunden. Wobei das Moment des ,Aktivenʻ nicht auf ein physi-

10 Vgl. Kap. 7.3. 11 Derart haptisch-taktile Aspekte mögen sich zuweilen primär über den Weg des visuellen Wahrnehmens vermitteln. So bei Rachel Whitereads Arbeiten der Fall (die auf Grund von nach wie vor in Ausstellungsräumen üblichen Konventionen in aller Regel nicht berührt werden dürfen.) Aber auch direkt sensorische Erfahrungen sind möglich. (Während museale Ausstellungsrichtlinien bei Ilya Kabakov zumindest ein vorsichtiges Berühren gestatten, wird dieses bei Gregor Schneiders Installation Haus u r, in Gestalt eines Öffnens von Türen, eines Steigens von Treppen oder Durchkriechens von Tunneln unumgänglich.) 12 Ein Besucher von Haus u r schildert sein synthetisches Erleben der Installation sowie der spezifischen, darin zu erfahrenden Atmosphären wie folgt: „Es gibt leichte und helle, ganz gewöhnlich sich gebende Räume oder im Gegenteil dazu Räume der Niederung und der Dunkelheit, übertrieben saubere und dreckige, zugängliche und versperrte Räume. [Haus u r] ist über ein komplexes Raumsystem unterschiedlicher Atmosphären aufgebaut, in dem nahezu alles Räumliche eine Wirkung hat, selbst das Unsichtbare.“ Udo Kittelmann; in: ders. (Hrsg.), Gregor Schneider – Totes Haus ur: La Biennale di Venezia 2001; a.a.O. 13 Wobei hinsichtlich der atmosphärischen Wirkung von Umräumen prinzipiell noch weitere „Hebel“, die eine Atmosphäre in Gang bringen, wie Kabakov formuliert, zu berücksichtigen wären. Vgl. Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.18-19 und S.67-70.

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sches Sich-Bewegen beschränkt ist. Ein Besucher einer Installation Kabakovs nicht nur hören, sondern aktiv zuhören, nicht nur sehen, sondern aktiv hinsehen.14 Eine derartige mediale Arbeitsweise ist theoretischen Positionen wie denjenigen Berleants und Böhmes insofern verwandt, als auch diese differenziert auf unterschiedliche Aspekte des Umweltwahrnehmens eingehen, dabei zugleich aber um die Fundierung von philosophischen Konzepten bemüht sind, die ein multisensorisches Zusammenspiel, im Sinn eines synthetischen (respektive synästhetischen) Wahrnehmens zu erklären vermögen. Bei Gernot Böhme steht mit dessen Atmosphärentheorie des sinnlichen Wahrnehmens im Sinn eines allgemeinen und grundlegenden Prinzips das synthetische Perzipieren sogar explizit im Vordergrund.15 Einzelne Aspekte des sinnlichen Wahrnehmens, visuelle, auditive, taktile Wahrnehmungsformen, werden hier prinzipiell nur im Kontext einer allgemeinen, die Einzelsinne überschreitenden bzw. grundierenden Perzeptionsweise, als ein Spüren atmosphärischer Charaktere, thematisiert. Arnold Berleant differenziert seinerseits zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsaspekten, wie sie für ihn angesichts des Wahrnehmens der (gebauten) menschlichen Umwelt zum Einsatz kommen. Dabei löst er die alltägliche Vorstellung von ,fünf Sinnenʻ konsequent auf, indem er einzelne Sinnesbereiche weiter ausdifferenziert. (Am Beispiel ,des Spürensʻ: Oberflächliches, subkutanes und viszerales Spüren; Textur-, Oberflächen-, Druck-, Temperatur-, Feuchtigkeits- und Schmerzempfinden; Spüren von Muskeln, Gelenken, Knochen; kinetisches Wahrnehmen; Erleben von Bewegung und Positionierung der eigenen Physis im Umraum; Wahrnehmen von Enge und Weite u.a.16) Vor allem aber betont Arnold Berleant die Notwendigkeit, das menschliche Wahrnehmen generell nicht nach dem Vorbild eines isolierenden, organologischen Modells zu imaginieren. Denn einzelsinnliche Wahrnehmungen sind für Berleant nur unter künstlichen Bedingungen, etwa innerhalb eines Labors, zu isolieren, während reale Umwelterfahrungen das gesamte „functionally interactive human sensorium“ ansprächen. In diesem Sinn gilt es für Berleant auch, solche Theoriebildungen zum Wahrnehmen zu überwinden, die dieses statisch und kontextlos konzipieren (etwa, weil sie selbst das Wahrnehmen ,im Laborʻ zu einem solchen statischen, kontextlosen Vorgang machen), und stattdessen – im Anschluss an Gibson und Merleau-Ponty (auch an Husserl wäre hier zu denken) – eine theoretische Position zu entwickeln, die Wahrnehmen als eine „activity of the moving body“ auffasst, „in which the perceiver is an active participant with sensory involvement in the world“. Wobei der folgende Umstand (in Absetzung zu Merleau-

14 Zu Recht könnte und sollte hier angemerkt werden, dass letztlich jedes Wahrnehmen nicht allein passiv vonstattengeht, sondern immer auch aktive Anteile enthält. Dies ändert allerdings nichts daran, dass traditionelle Rezeptionsweisen auf ein distanziertes Hören und Sehen beschränkt bleiben. Das gilt selbst für Medien wie Tanz, Oper, Schauspiel, die an sich mit den Mitteln der Bewegung sowie der Zusammenführung unterschiedlicher Sinnesdimensionen arbeiten. Dennoch findet auch in diesen Bereichen – traditionelle ästhetiktheoretische Anschauungen und gängige Rezeptionsweisen gehen hierbei Hand in Hand – eine Perzeption allein durch eine statisch sitzende, aus der Distanz heraus sehende/hörende RezipientIn statt. 15 Vgl. Kap. 5.2. 16 Vgl. Kap. 4.5.

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Ponty) stets zu beachten sei: „The flesh embodies motion and force but must adapt to the motions and forces of the lived world.“17 Mit Arnold Berleants Reflexionen mögen erste wichtige Schritte, mit Gernot Böhme in gewisser Hinsicht bereits ein allzu starker Ansatz für ein konzeptionelles Verständnis vorliegen, das Wahrnehmen als multisensorischen und aktiv-dynamisch verfassten Prozess begreift (vgl. Kap. 5.2). An diesem Punkt ist jedoch nicht ausschlaggebend, wie genau es um die Theoriebildung innerhalb des Bereichs einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt bestellt ist. Entscheidend ist vielmehr, inwiefern Gemeinsamkeiten grundsätzlicher Art bestehen, die die Ausbildung dieses Forschungsfeldes als eines transdisziplinär verfassten erlauben könnten. Und diesbezüglich können an dieser Stelle gleich mehrere wichtige Übereinstimmungen zwischen Theorie und installativen Ansätzen festgehalten werden: So das Faktum, dass beide Seiten sich einem multisensorischen Wahrnehmen zuwenden, wobei sie einzelne Dimensionen des sinnlichen Wahrnehmens differenziert einsetzen bzw. thematisieren, dabei aber andererseits das synthetische Wahrnehmen – im Fall der Kunst medial, im Fall der Theorie konzeptionell – zur Voraussetzung machen. Des Weiteren die Betonung einer im doppelten Sinn aktiven perzeptiven Physis. Dies kann auf Seiten der Theorie im Detail, wie bei Gernot Böhme der Fall, durch ein Anknüpfen an einen phänomenologischen Leib-Begriff im Sinn der schmitzschen Leibphilosophie geschehen oder, wie bei Arnold Berleant, in Anlehnung an John Dewey und Merleau-Ponty, durch den Begriff des ,lived bodyʻ. Der große verbindende konzeptionelle – und auch methodische – Nenner liegt, auf Seiten der Theorie und der Kunst, dabei in einem theoretischen bzw. praktischen Einsatz einer Erste-PersonPerspektive. Denn weder wird die menschliche Physis auf Kunstseite (etwa im Sinn eines Proportionsschemas) noch auf Theorieseite (sei es als anatomisch-physiologischer Gegenstand der Medizin oder als Produkt sozial-diskursiver Prägung) allein als äußerlicher ,Körperʻ aufgefasst, sondern auf beiden Seiten geht es darum, Wahrnehmungsprozesse in ihrer ganzen Komplexität vom Standpunkt der Erlebenden zu erfassen, zu verstehen, und dementsprechend zu theoretisieren respektive in Gang zu setzen. Architekturen und Orte als komplex verfasste Wahrnehmungsgefüge Eine erste Gemeinsamkeit zwischen Kunst und Theorie besteht im Gedanken des InBeziehung-Setzens von Mensch und umgebendem Wahrnehmungskontext, wobei beide nicht als ,in sich geschlossenʻ, sondern vielmehr als aufeinander ausgerichtet 17 Gibson weist darauf hin, dass bspw. die Augen nicht statisch fixiert sind, sondern dreidimensional drehbar in einem sich seinerseits bewegenden Kopf sitzen, welcher wiederum auf einem bewegten Körper aufruht. Statisches Wahrnehmen von einem fixen Standpunkt aus stellt in dieser Hinsicht eher den physiologisch aufwändig herzustellenden Ausnahmefall, als die Regel dar. Husserl weist seinerseits auf die Rolle eines kinästhetischen Erlebens hin und gibt hierfür das Beispiel des Ertastens eines runden Apfels, das an sich dynamisch über dessen Oberfläche bewegende Finger gekoppelt ist. Zu Merleau-Ponty in diesem Kontext, siehe Kap. 4.4, 4.5 (insbesondere Fn. 71 und 89); zu James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception (Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates, 1979) S.3 und S.205; zu Edmund Husserl, Ding und Raum. Husserliana XVI (Den Haag: Martinus Nijhoff) S.176.

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aufgefasst werden. Weitere Gemeinsamkeiten zeigen sich in der Betonung eines multisensorischen und zugleich synthetischen Wahrnehmens, das an eine im doppelten Sinn aktive perzeptive menschliche Physis gebunden ist. Theoretisch wie praktisch kommt dabei eine Erste-Person-Perspektive zum Einsatz. Eine weitere Gemeinsamkeit schließt an diese Punkte direkt an, wobei sie nicht auf Seiten des perzipierenden Menschen, sondern auf jener des umgebenden Wahrnehmungskontextes zu suchen ist. Sie liegt in der Art und Weise, wie Interieurs, Zimmer, Gebäude, städtische Plätze – kurz: wie Orte und Architekturen in beiden Bereichen aufgefasst werden. So behandeln die vorgestellten künstlerischen Beispiele diese nicht allein im Sinn eines ,Sujetsʻ, das es unter singulären (etwa: visuellen) Gesichtspunkten distanziert darzustellen gilt; sondern im Sinn von komplex verfassten Wahrnehmungsgefügen. Derartige Wahrnehmungsgefüge sind durch unterschiedlichste Detailaspekte gekennzeichnet, die mittels eines installativen Set-ups im Sinn eines künstlerischen Arbeitsmediums herausgearbeitet und gezielt eingesetzt werden müssen. Auf Seiten der Theorie findet eine Behandlung auf analoge Weise statt. Der Ausdruck ,Umweltʻ, respektive ,environmentʻ, gibt dabei bereits Hinweis darauf, inwiefern diesbezüglich eine verwandte Sichtweise vorliegt. Denn schon von Begriffsseite her kommt hier ein Denken zum Ausdruck, das menschliche Umräume nicht als (mathematisch) messbare, (geografisch) kartografierbare, oder (architektonisch) planbare Räume versteht. Vielmehr werden menschliche Umgebungen in ihrer konkreten Manifestation, so wie diese auf den physisch verfassten Menschen in dessen alltäglicher Wahrnehmung wirken, betrachtet. Übereinstimmungen zwischen Installationen (die in ihrer Frühphase nicht zuletzt selbst als ,Environmentsʻ bezeichnet wurden) und einer aisthetischen Betrachtungsperspektive finden sich also bereits im Grundgedanken angelegt, wie Orte und Architekturen zu behandeln sind. Von begrifflicher Seite her ist es somit, wie sich nun zeigt, also durchaus möglich, nicht allein im Kontext philosophischer, sondern auch installativer Arbeiten von ,Umweltʻ – und nicht allein von ,Umräumenʻ oder ,Umgebungenʻ – zu sprechen. Bedingung dafür ist allein, was in Kapitel 5 für den Begriff der ,Umweltʻ im Allgemeinen festgehalten wurde: dass man ihn im Sinn eines konstellativen Begriffs, als Teil eines Begriffspaares – nämlich des ,Mensch-Umwelt-Verhältnissesʻ – versteht, wobei er den Gegenpol zur Seite des wahrnehmenden Menschen bezeichnet und an diesem das im Wahrnehmen als solchem erfahrene ,Umhafteʻ betont. Sinnvoll eingesetzt werden kann der Ausdruck somit im Kontext all jener künstlerischen Arbeiten, die installative Set-ups als komplexes Wahrnehmungsgefüge einsetzen, in denen RezipientInnen, als aktiv Perzipierende, physisch aufgenommen und multisensorischsynthetisch angesprochen werden; bzw. die Orte und Architekturen, Zimmer, Plätze, Städte, Landschaften, auf die sie sich formal und/oder inhaltlich beziehen, auf entsprechende Weise behandeln. Dies ist angesichts aller bislang behandelten Positionen, gleich ob künstlerischer oder philosophischer Verortung, der Fall, wobei ein solches Grundverständnis – als weiterer zu nennender Gemeinsamkeit – auch Auswirkungen hinsichtlich der diversen Detailaspekte hat, die thematisiert respektive bearbeitet werden. So zählt Ilya Kabakov in seinen Ausführungen zur Totalen Installation differenziert und nach thematischen Gruppen gegliedert Einzelaspekte auf, die ihm zur Herstellung seiner Arbeiten dienen. Diese Aufzählung reicht von baulich-materiellen Komponenten (Wände, Decken, Böden, Türen, Fenstern etc.) über Gegenstände, die einen Umaum

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bevölkern mögen (Tische, Stühle, Diwane, Regale, Teller, Tassen, Lampen etc.), bis hin zu immateriellen Aspekten (Farben, Licht, Klängen, Musik, Atmosphären).18 Bei allen genannten Konstituenten handelt es sich um Aspekte, die, in der einen oder anderen Form, auch bei Gernot Böhme und Arnold Berleant Beachtung finden. Ebenso wie im Bereich der installativen Kunst werden sie von theoretischer Seite her nicht im Sinn von in sich verschlossenen Phänomenen behandelt, sondern sie erfahren in ihrer Wirkung auf die menschliche Wahrnehmung – mit Gernot Böhme könnte man sagen, in ihrer ,ekstatischen Wirkungʻ – Aufmerksamkeit. Welche Aspekte hierbei im Einzelnen eine Rolle spielen, dies wurde bereits ausführlich für jeden der beiden Bereiche separat dargestellt und muss an diese Stelle nicht eigens wiederholt werden (siehe hierzu Kap. 3-5 und 7). Um die Art und Weise, wie derartige Aspekte von philosophischer und künstlerischer Seite her behandelt werden – nämlich als gleichsam zwischen Umwelt und Mensch aufgespannte Phänomene – zu illustrieren, dürfte hingegen die Rekapitulation eines einzelnen Beispiel genügen und zwar jenes des Lichts. Besondere Aufmerksamkeit lassen diesem Gernot Böhme und Ilya Kabakov zuteilwerden. So entwickelt Böhme eine ganze Phänomenologie des Lichtes, in der er die diversen Weisen untersucht, wie Licht, nicht als ,Gegenstand an sichʻ (etwa im Sinn der Physik, als elektromagnetische Strahlung von bestimmter Wellenlänge), sondern als im menschlichen Wahrnehmen in Erscheinung tretender Aspekt der menschlichen Umwelt, bzw. genauer: als Aspekte, der selbst Umraum- bzw. Umwelt-konstituierende Qualitäten besitzt, effektiv wird. Dabei unterscheidet Böhme zwischen großen Phänomengruppen: ‚Licht als Beleuchtungʻ und ‚Licht als Lichtʻ, etwa wenn dieses in Gestalt von ,Lichtern im Raumʻ sichtbar wird. An anderer Stelle betont Böhme den ,emotivenʻ, also die Stimmung, die Emotion modifizierenden Charakter des Lichts. Ilya Kabakov widmet dem Licht in seinen Betrachtungen zur Totalen Installation seinerseits ein eigenes Kapitel. Auch hier werden die Möglichkeiten thematisiert, Licht auf Umräume beeinflussende bzw. Umräume bildende Weise einzusetzen – etwa als „helles Licht, schwaches Licht, Halbdunkel, Punktlicht“. Und ebenso wie Gernot Böhme weist auch Ilya Kabakov auf das Potential von Licht hin, die menschliche Befindlichkeit zu beeinflussen, wenn er konstatiert, dass dieses „intime Behaglichkeit“ ebenso herzustellen vermöchte, wie „den Wahnsinn eines Irrenhauses“. Kurz: Nicht allein hinsichtlich der allgemeinen Auffassung und der unterschiedlichen Detailaspekte der (gebauten) menschlichen Umwelt kommen sich die behandelten installativen und philosophischen Ansätze nah; auch in der Art und Weise, wie sie diese und was sie an dieser thematisieren, nähern sie sich zuweilen auf frappierende Weise an.

8.2 U NTERSUCHENDE ASPEKTE IN KÜNSTLERISCHEN UND PHILOSOPHISCHEN ANSÄTZEN Mit den genannten Punkten wurden diverse wichtige Gemeinsamkeiten zwischen der Seite der Kunst und der Theorie festgestellt. Doch das Spektrum an potentiellen Übereinstimmungen endet hiermit nicht. Eine weitere potentielle Übereinstimmung

18 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.27ff., S.59ff., S.67ff.

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liegt in der spezifischen Art und Weise, wie ,sinnliches Wahrnehmenʻ eingesetzt respektive konzipiert wird; sie liegt im Einsatz bzw. in der Konzeption von aisthesis. Inwiefern diesbezüglich untersuchende Aspekte – und dies auf Seiten der Theorie wie der Kunst – eine Rolle spielen, dies wurde in den vorausgehenden Kapiteln erst latent offenkundig, jedoch noch nicht explizit zum Thema gemacht. Eine entsprechende Darstellung erfolgt daher an dieser Stelle – und zwar zunächst für jede der beiden Seiten getrennt voneinander. 8.2.1 Zu untersuchenden Aspekten des installativen Arbeitens Ein Punkt sollte mittlerweile hinreichend deutlich geworden sein: Bei architekturund ortsbezogenen Installationen handelt es sich nicht um oberflächliche Kopien, die ohne weitere Reflexion nur das nachahmen, was ohnehin gegeben ist. Bereits Bruce Naumans frühe Installationen machten klar, dass es sich bei diesen nicht etwa um Nachbildungen realer Korridore handelt, sondern eher, wie man sagen könnte, um ,experimentelle Versuchsanordnungenʻ, die gezielt spezifische, auf die menschliche Physis bezogene räumliche Situationen kreieren und dabei, um es mit Nauman zu sagen, eine Art physische ,awarenessʻ generieren. 19 Auch Ilya Kabakov, Gregor Schneider und Rachel Whiteread, die sich der künstlerischen Verfahren der detailreichen räumlichen Inszenierung bzw. der materiellen Abformung bedienen, verdeutlichen, dass es in ihren Arbeitsprozessen nicht um das Herstellen von Repliken oder das Reproduzieren des ohnehin Gegebenen geht, sondern dass in ihrem künstlerischen Arbeiten ein Moment des bewussten Erkundens, des Herausarbeitens, Verstärkens oder gezielten Vernachlässigens und Auslassens liegt (zu denken an Whiteread, wenn diese ,allzu individuellʻ geprägte Aspekte entfernt). Architektur- und ortsbezogene Installationen als reflexionslose Auslöser sensorischer Reiz-ReaktionsSchemata zu verstehen, die eine bestimmte Wahrnehmungswirkung nur deshalb entfalten, weil auch die Vorbilder, die sie vermeintlich kopieren, dies tun, wäre also verfehlt. Wie verhält es sich nun aber genauer mit der Rolle des Wahrnehmens angesichts eines installativen Arbeitens? Zeigt sich die Art und Weise, wie dieses aufgefasst und eingesetzt wird, der Vorstellung von aisthesis, wie sie auf theoretischer Seite in Teil II dargestellt wurde, verwandt? Und wie steht es diesbezüglich mit Begriffen, wie sie zuweilen bereits anklangen, mit Ausdrücken wie ,experimentierenʻ, ,erkundenʻ, ,erforschenʻ? Diese werden in der Kunstkritik, aber auch in der aktuellen fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung nur allzu gern auf die Künste angewandt, ohne dabei zwangsläufig viel bedeuten zu müssen (etwa: „Der Maler erforscht in seinem Bild die Wirkung der Farbe.“; oder: „Die Bildhauerin erkundet die Dimensionen des Raumes.“). Bedeuten derartige Formulierungen hier tatsächlich mehr als vordergründige Floskeln? Und falls ja, worauf genau lassen sie sich beziehen? Experimentelles Vorgehen Gut nachvollzogen werden kann die potentielle Bedeutung dessen, was mit einer experimentellen künstlerischen Vorgehensweise gemeint ist, bei Bruce Nauman. Denkt man an dessen erste, als solche zu bezeichnende architektur- und ortsbezogene 19 Vgl. Kap. 7.1.

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Installation, Performance Corridor, zurück, so entsteht diese nicht etwa als Produkt präziser Planung. Vielmehr zeugt sie von einem fließenden Arbeitsprozess. Zur Erinnerung: Zunächst hatte Nauman das installative Set-up allein dazu errichtet, eine seiner activities vor laufender Kamera durchzuführen. Der Korridor sollte als eine Art Szenenbild fungieren, das im Kameraausschnitt den visuellen Eindruck eines schmalen Gangs kreieren würde. Im Zuge der Durchführung dieser activity richtete sich Naumans Interesse dann zunehmend auf den Aspekt einer physischen Limitierung des eigenen Bewegungsspielraums mittels des installativen Set-ups. Zur Ausstellung gelangt schließlich nicht allein das Video der gefilmten activity, sondern auch der Korridor selbst.20 Bereits innerhalb dieser einzelnen Arbeit lässt sich also eine prozessuale Vorgehensweise feststellen, die weniger durch ein vorgegebenes Konzept als durch ein ergebnisoffenes Experimentieren mit dem Gegebenen gekennzeichnet ist. Ein ähnliches Vorgehen legt Nauman auch an den Tag, was längere Arbeitsphasen betrifft. Dabei lotet der Künstler, ausgehend von seiner Installation Performance Corridor unterschiedliche Möglichkeiten aus, die ihm das installative Set-up des Grundtyps ,Korridorʻ bietet. Auf diese Weise entstehen Korridore mit parallel verlaufenden oder mit V-förmig zulaufenden Wänden21; gerade ausgerichtete oder elliptisch-kurvenförmige Korridore22; Installationen, die aus einem einzelnen Korridor bestehen, oder solche, die mehrere Korridore nebeneinander gruppieren 23 ; Korridore, die Videokameras und Fernsehmonitore integrieren, Korridore die Neonlicht und Spiegel einsetzen 24 ; oder etwa großräumige möblierte Korridore. 25 Allerdings erschöpft sich Naumans Interesse für räumliche Konfigurationen nicht in seinen Korridor-Variationen. Neben diesen, oder richtiger: auf diesen aufbauend finden schon bald Experimente mit weiteren räumlichen Grundtypen (insbesondere dem Grundtyp ,Zimmerʻ als quadratischem, rechteckigem, rautenförmig verzerrtem oder dreieckigem Umraum) sowie mit komplexeren räumlichen Gebilden, die verschiedene ,Grundtypenʻ kombinieren, statt. 26 Generell erscheint Naumans Arbeitsweise dabei von einem initialen Interesse angetrieben, das sich in unterschiedlichen Formen, die dem Erkunden dieses Interesses dienen, manifestiert, wobei diese Erkundungsformen wiederum neue Möglichkeiten für ein Fortschreiten aufschließen. Dabei hastet der Künstler nicht von einer zur nächsten, naheliegenden Möglichkeit (etwa, indem er sich mit einer Korridor-Arbeit begnügt, um sich direkt in der nächsten Arbeit dem Grundtyp ,Zimmerʻ zuzuwenden). Sondern verschiede-

20 Vgl. Kap. 7.1. 21 So etwa: Performance Corridor, 1969; Corridor Installation with Mirror – San Jose Installation (Double Wedge Corridor with Mirror), 1970-1974. 22 Elliptical Space, 1972. 23 Corridor Installation/Nick Wilder Installation, 1970. 24 Corridor with Mirror and White Lights, 1971. 25 Dream Passage, 1983. 26 Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care von 1984/2010 setzt drei Korridore ein, die sich – horizontal und vertikal jeweils im 90°-Winkel zueinander stehend – schneiden. Im Schnittpunkt der drei Korridore entsteht so eine Art hohler Kubus ohne Wände.

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ne Set-ups werden ausgiebig und oft über Jahre hinweg auf die unterschiedlichen Möglichkeiten hin, die sie inkorporieren, erkundet. Kurz und zusammengefasst: Ein experimentelles Moment ist Naumans Arbeitsweise gleich in mehrfacher Hinsicht eingeschrieben. Es zeigt sich im Bestreben des Künstlers, unterschiedliche Möglichkeiten eines bestimmten installativen Set-ups (etwa des Typs ,Korridorʻ) auszuloten, im Moment des Prozessualen, das Nauman sukzessive von einer bestimmten räumlichen Situation (,Korridorʻ) zur nächsten (,Zimmerʻ) führt, im experimentellen Einsatz unterschiedlicher medialer Mittel, die innerhalb seines installativen Set-ups erprobt werden (farbiges Licht, Fernsehmonitore, Texte), oder im Ansatz des frühen Nauman, sich einer bestimmten Fragestellung parallel, mittels unterschiedlicher Medien (activity, Skulptur, Foto, Installation) gleichzeitig zuzuwenden.27 Systematisches Erkunden Bruce Nauman – der künstlerisches Arbeiten ganz generell als „investigative activity“ und nicht etwa vorrangig als eine ,Produktion von Kunstwerkenʻ versteht 28 – kann, für den Augenblick, als besonders offenkundiges Beispiel einer experimentellen Vorgehensweise im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installationen festgehalten werden. Ein ,systematisches Erkundenʻ lässt sich hingegen besonders gut am Beispiel Ilya Kabakovs nachvollziehen. Dieser Umstand wird schon allein angesichts Kabakovs intensiver textbasierter Auseinandersetzung mit Fragen der Kunst deutlich, in der der Künstler sich ausgiebig praxis- wie theoriebezogenen Fragestellungen und Problemen des (installativen) künstlerischen Arbeitens zuwendet. Denkt man in diesem Zusammenhang an die im Kontext dieser Untersuchung exemplarisch behandelte Schrift Kabakovs Über die Totale Installation, so genügt ein Studium des Inhaltsverzeichnisses, um zu erkennen, mit welch klarem analytischen Blick der Künstler zwischen unterschiedlichen Aspekten seines Arbeitsmediums unterscheidet. So differenziert Kabakov zwischen dem Ort, dem Raum, der Zeit der Totalen Installation, zwischen den in dieser befindlichen Objekten, den immateriellen Bestandteilen Licht und Farbe, Musik und Stimme, sowie der Dramaturgie des installativen Aufbaus. Dass eine derartige Gliederung nicht etwa Ausdruck eines allein nachträglichen und dem künstlerischen Arbeiten selbst äußerlichen Systematisierungsstrebens ist, dies wird deutlich, wenn Kabakov den Entstehungsprozess seiner Arbeit Kommunalwohnung aus dem Jahr 1988 beschreibt. Denn bei dieser, der ersten, die Kabakov selbst als Totale Installation bezeichnet, hatte es sich 27 Wie Nauman selbst einmal in einem frühen Interview sagt: „I've always had overlapping ways of going about my work. I've never been able to stick to one thing.“ Konkret bezieht sich Nauman hier auf seine frühen medialen Experimente, die den ersten Korridor-Arbeiten vorausgingen oder parallel zu diesen durchgeführt wurden. So etwa Skulpturen, die Nauman herstellte, um anschließend nicht mit dem Hergestellten (der Skulptur), sondern der Form (die üblicherweise allein ein Mittel des Herstellens einer Skulptur darstellt) weiterzuarbeiten. 28 Bruce Nauman hierzu: „Art is a means of acquiring an investigative activity. […] my attitude comes from being an artist and not a scientist, which is another way of investigating. […] This investigative activity is necessary. I think that we trust too much in accepting traditional validations.“ Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.188.

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offenbar in der Tat noch um eine Art glückliche Findung gehandelt. Kabakov hierzu: „[...] ein Mystiker könnte sagen, damals wollte die Totale Installation selbst mit meiner Hilfe geboren werden.“29 Allerdings wird sich der Künstler schon im Zuge des Arbeitsprozesses an Kommunalwohnung über die Potentiale des unter seinen Händen neu entstehenden Mediums bewusst: „In einem ungeheuren, mir bis dahin unbekannten Ausbruch von Enthusiasmus [...] bekam ich eine Ahnung von neuen Möglichkeiten für die Steuerung des Betrachters im Inneren der Installation, für die Planung seiner Reaktionen […].“ 30 Und so erforscht Kabakov von seiner ersten Totalen Installation an gezielt unterschiedliche formale Mittel (exemplarisch wurden Kabakovs Ausführungen zur aufmerksamkeits- und bewegungssteuernden Wirkung von Licht wiedergegeben31) ebenso, wie er verschiedene mediale Mittel, wie „Bilder, Objekte, Zeichnungen [...] Texte“ daraufhin erkundet, ob und wie diese in eine Totale Installation integriert werden können. Einen Ausdruck finden Kabakovs Untersuchungen schließlich in der Aufzeichnung einer ganzen ,topologischen Typologieʻ, die verschiedene Möglichkeiten der räumlichen Anordnung (respektive der Aufmerksamkeits- und Bewegungssteuerung von RezipientInnen durch unterschiedliche räumliche Anordnungen) darstellt, beginnend bei einer einfachen Installation, „die aus einem Haupt- und mehreren untergeordneten Sälen besteht“, bis hin zu komplexen „Zweistöckigen Installationen, wo sich der Betrachter wie in einem Haus fühlt“.32 Gäbe es im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation Rollen zu verteilen, Ilya Kabakov erschiene ebenso prädestiniert für diejenige des ,Systematikersʻ wie Bruce Nauman für jene des ,Experimentatorsʻ. Letztlich finden sich Spuren des jeweils anderen aber bei beiden künstlerischen Ansätzen: So liegt in der Vielschichtigkeit der medialen (Untersuchungs-)Mittel, mit der sich der junge Nauman einer bestimmten Fragestellung zuwendet, oder in der Ausführlichkeit, mit der er unterschiedlichen Möglichkeiten eines bestimmten räumlichen Grundtyps nachgeht, sicher ebenso ein systematisch untersuchendes Moment, wie Kabakovs Arbeiten – das Beispiel der ,glücklichen Findungʻ seiner ersten Totalen Installation macht es deutlich – umgekehrt nicht allein auf bereits bekanntem, akkumulierten und systematisierten Erfahrungswissen beruht. Zur Frage des Wahrnehmens Welche Rückschlüsse lassen sich aus derart experimentellen oder systematisch erkundenden künstlerischen Vorgehensweisen nun hinsichtlich der Frage des Wahrnehmens ziehen? Sicher finden sich bei den genannten künstlerischen Positionen keine expliziten Auseinandersetzungen mit dem Begriff ,aisthesisʻ. So wie bei den vorgenannten Punkten von einer echten ,Gemeinsamkeitʻ zu sprechen, erschiene also problematisch. (Denn schließlich sollen nicht Konzepte aus einem Bereich kurzerhand auf den anderen übertragen werden. Vielmehr gilt es, Dinge von innen her, aus sich selbst heraus, offenzulegen, sie gleichberechtigt nebeneinander zu stellen und 29 30 31 32

Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.39. Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.40. Vgl. Kap. 7.2. Ilya Kabakov, Der Raum der Totalen Installation; in: ders., Über die Totale Installation; a.a.O., S.27-31.

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sachlich neutral miteinander abzugleichen.) Eines aber ist doch sicher: Nämlich dass, gleich auf welche spezifische installative Art und Weise jeweils vorgegangen wird, Wahrnehmen nicht einfach in einem konventionellen, alltagssprachlichen Sinn als ,bloßes sensorisches Perzipierenʻ zu Einsatz kommt. Sondern, dass wahrnehmungsgebundene Phänomene im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation im Sinn komplex verfasster Sachverhalte eingesetzt und untersucht werden, wobei kognitive und sensorische Aspekte nicht als widersprüchlich, sondern vielmehr als zusammenwirkend aufgefasst werden. Dies trifft auf Bruce Nauman zu, der schon mit seinen frühen activities eine Art ,physischer Selbstbewusstheitʻ untersucht, die sich nicht allein durch Bücherlesen, sondern nur durch körperliche Eigenaktivität einstelle (womit dem physischen Wahrnehmen bereits hinsichtlich seines nicht sprachlich explizierbaren Gehalts große, um nicht zu sagen: epistemische Bedeutung zugesprochen wird), und der später im Rahmen seiner Korridor-Arbeiten diese physische awareness nicht nur mit anderen wahrnehmungsgebundenen Aspekten (dem Erleben spezifischer akustischer Phänomene, spezifischer Farbwirkungen etc.), sondern auch mit komplexen ,kognitiven Prozessenʻ wie dem Lesen eines vor der Installation angebrachten Textes oder dem Selbstwahrnehmen auf einem Monitorbild verbindet.33 Ebenso trifft es auf Kabakovs Totale Installationen zu, die das physische Erfahren unterschiedlicher Umräume (siehe Kabakovs Typologie der Totalen Installation) mit dem Wahrnehmen von spezifischen Detailaspekten dieser Umräume (Wandfarben, Beleuchtung, Mobiliar, Materialoberflächen etc.) sowie dem Hören von Musik oder dem Lesen von Texten synthetisieren. Auch hier findet sich ein weites Spektrum an wahrnehmungsgebundenen Eindrücken, das von un- oder teilbewussten Wirkungen (Bewegungssteuerung durch Licht) bis hin zu einem bewussten Hinhören oder gezielten Hinsehen (in Gestalt eines gezielten Hörens von Musik, eines Betrachtens integrierter Bilder oder eines Lesens von Texten) reicht. Eine deutliche Parallele zum aisthesis-Begriff, wie er auf Seiten der Theorie philosophisch-konzeptionell begründet wird, liegt also durchaus vor. Denn auch hier wird Wahrnehmen, etwa mit Arnold Berleant, ja einerseits als unmittelbares Erfahren, als immediate experience, bestimmt, das in diesem Sinn „simply a bodily event“ darstelle; andererseits ist es auch für Berleant unweigerlich an ,kognitive Faktorenʻ wie „patterns of thoughts, structures of understanding, mandatory convictions, prescribed behavior“gebunden.34 Auf beiden Seiten, jener der Kunst wie der Theorie, 33 So in der Arbeit Live Taped Video Corridor, 1970, in der Nauman eine Kamera derart am Eingang zu einem Korridor montiert, dass sie eine diesen betretende Person stets von hinten filmt. Da der Bildschirm, auf den das Videobild in Echtzeit übertragen wird, am Ende des Korridors positioniert ist, kommt es zu dem Effekt, dass eine Person, die den Korridor betritt und sich sukzessive dem Monitor – somit dem Videobild des eigenen Körpers – annähert, auf eben diesem Monitorbild zunehmend kleiner wird und sich Schritt für Schritt entfernt. Allein in dieser von Nauman kreierten Wahrnehmungssituation liegen komplexe Momente gebunden (RezipientInnen müssen das Videobild als ihr eigenes Bild erkennen, sie müssen das Prinzip verstehen, nachdem das experimentelle Set-up funktioniert, sie müssen verstehen, dass sie das, was auf dem Monitor als Bild zu sehen ist, über ihre eigene physische Bewegung steuern können etc.), die ein vermeintlich ,reines sensorisches Registrieren von Sinnesreizenʻ weit überschreiten. 34 Vgl. Kap. 4 und Kap. 5.2.

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wird Umweltwahrnehmen – und dies jenseits spezifischer Binnenkonzeptionen – also nicht auf ein einfaches sensuelles Perzipieren verkürzt, sondern in seinem komplexen Wechselspiel mit üblicherweise als ,kognitivʻ bezeichneten und konzeptionell ausgegrenzten Aspekten (wie einem verbalisierbaren Wahrnehmen, einem Lesen von Texten, einem Interpretieren von Zeichen) betrachtet. (Mehr zur Frage des Wahrnehmens im Sinn von aisthesis im Anschluss unter 8.3.2.) 8.2.2 Zu untersuchenden Aspekten aisthetiktheoretischer Positionen Inwiefern es sich auf Seiten der Theorie um eine, im Wortsinn, ,Erforschungʻ von aisthesis und (gebauter) menschlicher Umwelt handelt, dies mag angesichts eines philosophisch-ästhetiktheoretisch basierten Ansatzes weniger erklärungsbedürftig wirken als angesichts der behandelten künstlerischen Positionen. Denn Umweltwahrnehmungen werden hier zugleich analysiert und mit theoretischen Konzepten unterlegt. Systematisch geht dabei Gernot Böhme vor, der seine Ausführungen zur Wahrnehmung von Architektur, Stadt und Landschaft in den Kontext seiner allgemeinen Wahrnehmungslehre stellt.35 Der differenzierenden Betrachtung, die weniger um das Entwickeln einer in sich geschlossenen Theorie der Wahrnehmung der (gebauten) menschlichen Umwelt als um das Ausräumen von (nicht-begründbaren) Vorannahmen und das Herstellen von Binnendifferenzierungen bemüht ist, bedient sich Arnold Berleant. Beide Autoren arbeiten mit Verfahrensweisen, wie sie im Sinn einer philosophisch-,geisteswissenschaftlichenʻ Forschungsmethodik allgemein akzeptiert sind. Die Frage, inwiefern es sich bei derartigen Ansätzen um eine Erforschung (gebauter) menschlicher Umwelten handelt, dürfte sich also – jedenfalls von einer philosophisch-,geisteswissenschaftlichenʻ Warte aus – kaum stellen. Allerdings darf angesichts dieser vermeintlich klaren Sachlage eine Tatsache nicht übersehen werden: dass auch eine ästhetiktheoretisch-philosophisch basierte Auseinandersetzung mit dem Wahrnehmen (gebauter) menschlicher Umwelten nicht ohne eine irgend geartete Bezugnahme auf die empirische Seite des Wahrnehmens vonstattengehen kann. Eine an der Phänomenologie orientierte Wahrnehmungsforschung, wie es eine kollaborative Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt hinsichtlich ihrer philosophischen Anteile zu sein verspricht, hat sich dabei nicht an solchen empirischen Verfahren zu orientieren, die ihre Erkenntnisse mittels eines Sammelns und Evaluierens von Daten in einer Dritte-Person-Perspektive gewinnen (wie in der empirischen Sozialforschung oder der Architekturpsychologie üblich, in der Dritte über ihre Wahrnehmungserfahrungen befragt werden und durch eine quantitativ breite Streuung ein möglichst ,objektivesʻ Durchschnittsergebnis angestrebt wird). Denn die phänomenologische Methode basiert nicht auf der Vorstellung der Betrachtung einer Außenperspektive, sondern vielmehr auf dem Einsatz einer ErstePerson-Perspektive. Sie gründet im Gedanken der Unhintergehbarkeit der menschlichen Erfahrungsrealität, oder anders formuliert: Die Art und Weise, wie ein wahrnehmendes ,Ichʻ die (gebaute) menschliche Umwelt erfährt, ist ausschlaggebend dafür, wie diese auch theoretisch zu konzipieren ist.36 35 Vgl. Kap. 3. 36 Vgl. Kap. 4, 5, 11.

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Diese Erfahrungsrealität, von der in phänomenologischer Manier auszugehen ist, liegt einer philosophischen Betrachtung nun allerdings nicht so ohne Weiteres offen, wie es den Anschein haben mag. Denn um die Erfahrung einer spezifischen natürlichen oder gebauten Umwelt zu machen, müssen auch TheoretikerInnen sich dieser aussetzen. Das rein sachlich-distanzierte Konstatieren und Reflektieren einer Umwelterfahrung mag dabei als heuristisches Ziel dienen, ist in der Realität aber schwer zu erreichen. Die Gründe hierfür sind offensichtlich. Schließlich gilt der einfache Satz: In dem Moment, in dem eine Erfahrung gemacht wird, ist sie auch schon wieder vorbei. In diesem Sinn kann eine Erfahrung mit sachlich-distanzierten, reflexiven Mitteln prinzipiell nur retrospektiv, im Blick zurück, rekonstruiert und philosophisch erschlossen werden. Dabei nehmen die Probleme, die sich allgemein mit einer Erinnerungsperspektive bzw. dem Gedanken der Rekonstruktion verbinden, zu, je weiter sich die philosophische Reflexion vom Wahrnehmungsereignis entfernt. (Ein möglichst nahes ,Dranbleiben an den Sachen selbstʻ, ist, wie man mit Husserl gegen Husserls ,auf die Sachen selbst zurückgehenʻ sagen könnte, also geboten – vgl. Kap. 11.3 zum späten Ludwig Wittgenstein.) Eine andere Möglichkeit besteht in einer teilnehmenden Beobachtung, bei der das Machen einer Umwelterfahrung bereits im Moment des Wahrnehmungsereignisses bewusst mitvollzogen wird. Auch diese Möglichkeit ist methodisch interessant und legitim. Allerdings liegt das Problem für eine philosophische Reflexion, die eine rein distanzierte Beobachtungshaltung – und das noch während des Wahrnehmungsvorgangs – einzunehmen sucht, ebenfalls auf der Hand: Es ist das gleiche, mit dem sich die Katze auf der Jagd nach ihrem eigenen Schwanz konfrontiert sieht: in dem Moment, in dem man versucht die eigene Erfahrungsrealität aus der philosophischen Distanz heraus zu erhaschen, entzieht sie sich einem auch schon wieder.37 Theoretische Ansätze, wie sie im Bereich einer zeitgenössischen Alltags- und Umweltästhetik entwickelt werden, können also nicht von einem komplett uninvolvierten, einem archimedischen Standpunkt der reinen Ratio aus operieren. Vielmehr sind auch sie letztlich immer auf die Empirie angewiesen. Gernot Böhmes Arbeiten gibt diesen Umstand eher implizit zu erkennen; so, wenn der Theoretiker sich den unterschiedlichen Stufen des sinnlichen (i.e. atmosphärischen) Wahrnehmens zuwendet und hierzu das Beispiel einer Person anführt, die sich ruhig liegend in einem Hotelzimmer befindet, bis plötzlich das Surren einer Fliege zu vernehmen ist. Der Theoretiker analysiert in diesem Kontext alle möglichen Zwischenstufen und Aspekte, die zwischen beiden Ereignissen, also zwischen dem ruhigen Liegen in einem Zimmer und dem Identifizieren des Geräusches als Surren einer Fliege, stattfinden (vgl. Kap. 3.3). Hierbei handelt es sich um Prozesse, die, in zeitliche Dimensionen transferiert, in Bruchteilen einer Sekunde ablaufen und zudem partiell, laut Böhmes eigenen Ausführungen, noch vor dem Bewusstwerden des Machens einer Wahrnehmungserfahrung liegen. Die Mittel, derer sich Böhme bedient, können also bei genauerer Betrachtung nur jene der retrospektiven Rekonstruktion sein.38 37 Inwiefern derartige Einwände nicht gegen eine phänomenologisch orientierte Untersuchungsmethodik per se sprechen, siehe dazu: 5.2.1, 8.4 (Fn.40). 38 Von ,Introspektionʻ soll im Kontext dieser Untersuchung hingegen ausdrücklich nicht gesprochen werden. Zwar mag dieser Begriff einen ähnlichen Sachverhalt meinen. Allerdings ist er in höherem Grad als die hier gewählten Ausdrücke nicht-vorannahmsfrei. Denn

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Bei Arnold Berleant wird die Notwendigkeit, auf eine empirische Seite zurückgreifen zu müssen, noch deutlicher. Allerdings wendet Berleant dieses vermeintliche philosophische Problem in eine epistemologische Stärke seines Ansatzes. Denn Berleant setzt sich offen mit der Frage auseinander. Im Zuge dessen entwickelt der Theoretiker, wie dargestellt, auch die Vorstellung einer ,deskriptiven Ästhetikʻ. 39 Ein Gedanke, der es nicht zuletzt verlangt, sich unterschiedlichen Umweltsituationen – dem Erleben von Gebäuden, Städten, Dörfern, Landschaften – selbst auszusetzen und die daran geknüpften Wahrnehmungserfahrungen so unmittelbar wie möglich festzuhalten. Wie aber kann eine konkrete (gebaute) menschliche Umwelt einerseits wahrgenommen werden, während es andererseits gleichzeitig die eigenen Wahrnehmungserfahrungen zu konstatieren, zu notieren und gar zu analysieren gilt? Dieses Problem wird in Berleants Artikel The World from the Water besonders offenkundig. Der Theoretiker setzt sich hier in ein Kanu und fährt, um die Welt vom Wasser aus zu erkunden, mehrere Tage lang einen Fluss hinab. Wie aber mit beiden Händen paddeln und gleichzeitig die zu machenden Wahrnehmungserfahrungen festhalten? Am Beispiel der berleantschen Kanufahrt wird eine Problematik ersichtlich, mit der sich letztlich jegliche Wahrnehmungsforschung – und nicht allein eine solche, die dem Gedanken des eigenen Einnehmens einer Erste-Person-Perspektive folgt – konfrontiert sieht. So mag eine mikro-physiologische Wahrnehmungsforschung neuronale Prozesse untersuchen (vgl. Kap. 11), eine psychologische Wahrnehmungsforschung Laborexperimente an breit gestreuten Probandengruppen durchführen – auf die Aussagen über dasjenige, was parallel zur Beobachtung eines neuronalen Prozesses oder während der Durchführung eines Laborexperiments wahrnehmend erfahren wird, bleiben sie dennoch angewiesen.40 Arnold Berleant geht seinerseits konstruktiv mit dieser Schwierigkeit um, wobei er gar nicht erst den Anschein erweckt, die gemachten Wahrnehmungserfahrungen könnten von einer erlebenden Erste-Person-Perspektive abgelöst werden. Stattdessen gibt er die praktisch-konkreten Bedingungen der eigenen Erkenntnismöglichkeit offen an – und mehr noch: Er variiert sie gezielt, indem er menschliche Umwelten der Gedanke der Introspektion basiert auf einer Dichotomisierung von außen und innen (wobei er unterstellt, man könne gleichsam aus sich selbst heraustreten, um anschließend wiederum in sich selbst hineinblicken zu können) sowie, damit verbunden, von sprachgebundenem Denken und nicht-sprachlichem Wahrnehmen (das denkende Ich erforscht seine nicht-sprachlichen Anteile). Insofern sind die Begriffe der ,teilnehmenden Beobachtungʻ – wie ihn auch die Sozialwissenschaften verwenden – bzw. der ,retrospektiven Rekonstruktionʻ neutraler und adäquater. 39 Vgl. Kap. 4.2 und 4.3, Fn.42. 40 Bei genauerer Betrachtung potenziert sich hier das Problem sogar, denn vermeintlich objektive Beschreibungssysteme, die eine Außenperspektive einzunehmen suchen, bleiben 1. auf die Aussagen Dritter (Probanden, befragte Personengruppen) angewiesen, während sie 2. selbst nicht umhinkommen, von einer eigenen empirischen Wahrnehmung Gebrauch zu machen (und sei es allein, um Messergebnisse von Skalen abzulesen). Inwiefern diese wissenschaftstheoretische bzw. erkenntnistheoretische Problematik einerseits prinzipiell unlösbar ist, andererseits das menschliche Wahrnehmen trotzdem als, wenn auch nichtabsolutes, Erkenntnisinstrument anerkannt werden sollte, siehe hierzu etwa: William P. Alston, The Reliability of Sense Perception (Ithaca: Cornell University Press, 1993).

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auf unterschiedlichste Weisen erkundet. Die Perspektive eines Fußgängers, eines Autofahrers oder eines Kanuten stellen hierbei nur einige der potentiell denkbaren Möglichkeiten dar.41

8.3 W ECHSELSEITIGE ANNÄHERUNG VON UND PHILOSOPHISCHEN ANSÄTZEN

KÜNSTLERISCHEN

Bei genauerer Betrachtung finden sich experimentell-untersuchende oder systematisch-erkundende Vorgehensweisen also auf beiden Seiten der hier verhandelten künstlerischen und philosophischen Positionen. Bemerkenswert ist dieser Umstand insofern, als dies keineswegs einem üblichen Stereotyp entspricht. Zwar baut bereits die philosophische Tradition des Empirismus, die lange vor jener der Phänomenologie einsetzt, auf dem bekannten Axiom auf ,nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu‘ (nichts ist im Verstehen, was nicht zuerst in den Sinnen war). Mit Philosophen, die den Einsatz der eigenen Wahrnehmung zu einem epistemologischen Instrument erklären und sich in Kanus setzen, um die Formen, Farben, Gerüche, Atmosphären ihrer Umwelt zu erkunden, dürften diesbezüglich jedoch neue – und vom philosophischen Empirismus so nicht geahnte – Dimensionen erreicht sein.42 Doch nicht nur DenkerInnen, die die Bedingungen der eigenen Möglichkeiten mit Leibeskräften in ihre Untersuchungen einbeziehen, statt zu versuchen, diese allein gedanklich offenzulegen, sondern auch KünstlerInnen, die ihre Arbeit als „investigative activity“ verstehen (Nauman) und die Erkenntnisse, die sie aus ihrem Tun ziehen, schriftlich fixieren (Kabakov), dürften einem üblichen Klischee – das sich angesichts der Künstlerrolle weniger am homo universalis der Renaissance, als an einem populär-weichgezeichneten Genie-Begriff des 18. Jahrhunderts orientiert – kaum entsprechen.43 8.3.1 Empirie und Reflexion im Verbund: Dan Graham und Gernot Böhme Inwiefern jenseits üblicher Klischeebilder sogar eine äußerst weitgehende Annäherung stattfinden kann, von Seiten der Theorie hin zur Empirie, von Seiten der Kunst zur theoretischen Reflexion, dies soll im Folgenden anhand zweier Fallbeispiele thematisiert werden. Um hierfür nicht erneut Ilya Kabakov, als das Text-affinste der bislang behandelten künstlerischen Exempel, bemühen zu müssen, wird an dieser Stelle ein anderer Protagonist der architektur- und ortsbezogenen Installationskunst zur Sprache kommen: Dan Graham. Die Arbeit des US-amerikanischen Künstlers (Jahrgang 1942) kann heute nicht minder als klassischer Referenzpunkt der installativen Kunst angesehen werden. Ähnlich wie für Kabakov, so stellt auch für Graham die theoretische, textbasierte Auseinandersetzung mit kunstbezogenen Fragestellun-

41 Siehe etwa: Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment (Philadelphia: Temple University Press, 1991). 42 Zu Berleants aesthetic argument, siehe Kap. 4.3 und Kap. 5.2. 43 Vgl. Kap. 1 und Kap. 8.4.

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gen eine wichtige Komponente seines Arbeitens dar, wie am folgenden Beispiel, der Arbeit Public Space/Two Audiences, deutlich wird: Beispiel 1: Dan Graham und ,Public Space/Two Audiencesʻ Dan Grahams Installation Public Space/Two Audiences (1976) besteht aus einem rechteckigen Zimmer, das in der Mitte durch eine Glaswand getrennt wird. Die Glaswand ist transparent, so dass einzelne Besucher oder Besuchergruppen, die eine der beiden Zimmerhälften betreten, durch die gläserne Trennwand hindurch in die jeweils andere Zimmerhälfte blicken können. Geräusche werden hingegen gefiltert, da die Trennwand aus einem speziellen schalldämmenden Material (von Graham als ,Thermopaneʻ bezeichnet) besteht. Die Rückwand einer der beiden Zimmerhälften ist flächenfüllend mit Spiegelglas ausgekleidet. Alle anderen Wände (Rückwand der anderen Zimmerhälfte und Seitenwände) sind weiß gestrichen. Eine gleichmäßige Ausleuchtung erfolgt durch Oberlicht. In einem gleichnamigen Text zu Public Space/Two Audiences wendet sich Dan Graham der Installation sowie Fragestellungen, die sich für den Künstler mit dieser verbinden, zu. Dabei schildert Graham zunächst den Kontext der Arbeit, die anlässlich der Biennale von Venedig in den durch die Biennale bereitgestellten Ausstellungsräumen realisiert wurde. Als konkrete Motivation für die Arbeit nennt Graham zum einen Kunst-immanente Fragestellungen: So seine Überlegungen zur vorgefundenen Ausstellungssituation sowie Bezüge zur minimal art, mit der sich der Künstler (nicht zuletzt im Zuge dieser Arbeit) kritisch auseinandersetzt. Allerdings enden Grahams Ausführungen hiermit nicht. Vielmehr bettet der Künstler seine theoretischen Überlegungen zu Public Space/Two Audiences in einen weiteren thematischen Kontext ein. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf zwei Aspekten – zum einen dem Spannungsverhältnis von materialgebundenen Wirkungen und semiotischen Konnotationen eines Materials (hier: Glas); zum anderen dem Zusammenhang von räumlicher Situation und gesellschaftlichen Fragestellungen (konkret: gesellschaftspolitischen Implikationen und psycho-sozialen Wirkungen). Beachtenswert hinsichtlich Grahams Ausführungen zur Wirkungsweise des Materials Glas ist, dass der Künstler dieses einerseits unter semiotischen Gesichtspunkten diskutiert, dass er andererseits dessen materialgebundene Wirkungsweise (wie sie in der künstlerischen Tradition im Zuge einer modernen Materialästhetik besondere Aufmerksamkeit erfahren hatte44) nicht gänzlich negiert. Der zweitgenannte Aspekt wird beispielsweise aus der folgenden Passage erkenntlich: Da Glas selbst als Material spiegelnd ist, sehen Betrachter, die in dem vom Spiegel weiter entfernten Raum stehen und durch die Glaswand in Richtung auf den Spiegel blicken, eine doppel-

44 Dem Prinzip der Materialgerechtigkeit, also dem Gedanken, dass es eine jeweils adäquate Umgangsform mit unterschiedlichen Materialien – mit Stein, Holz, Bronze etc. – und deren jeweiliger wahrnehmungsbezogener Wirkungsweise geben müsse, kommt in der Kunst des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts – angefangen von der englischen Arts&CraftsBewegung über die deutsche Werkbundbewegung und das Bauhaus bis hin zur Nachkriegsmoderne eines Henry Moore und darüber hinaus (zu denken an Bewegungen wie minimal art und Arte Povera) – eine zentrale Rolle zu.

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te Reflexion ihres Bildes, und zwar zunächst in der Glaswand und dann, kleiner aber klarer, in dem Spiegel.45

Sichtdurchlässigkeit und Reflexionspotential von Glas/Spiegel werden hier eindeutig im Sinn von materialgebundenen Wirkungsweisen (und nicht etwa im Sinn von ,Zeichenʻ oder ,sozialen Konventionenʻ) erörtert. Andererseits gilt es nach Graham zu bedenken: Die angebliche [...] Neutralität der verwendeten Materialien (Thermopane, Glas und Spiegel) ist kontaminiert durch ihre sozialen Konnotationen [...].46

Der Schluss, zu dem Graham im diesem Kontext gelangt, liegt also darin, dass Materialien, wie das von ihm eingesetzte Thermopane, auch im Alltag weder allein mittels spezifischer Materialwirkungen (wie Transparenz, Spiegeleffekt, Schalldämmung) noch allein im Sinn von gesellschaftlichen Zeichen wahrgenommen werden, sondern das stets beides zugleich der Fall ist. Und Graham geht noch einen Schritt weiter. Denn für ihn wirkt sich die Art, in der Materialien im Alltag eingesetzt werden, wiederum rekursiv auf eine gesellschaftliche Perspektive auf ebendiese Materialien aus. Diesen Zusammenhang von wahrnehmungsbezogener Materialwirkung und gesellschaftlicher Verwendung erläutert Graham anhand zweier konkreter Beispiele aus dem Alltagsleben: Die Glastrennwände in Zollabfertigungsbereichen vieler internationaler Flughäfen zum Beispiel sind schalldicht und isolieren diejenigen, die eine Aufenthaltsgenehmigung für das Land haben, von den ankommenden Fluggästen, die technisch gesehen, noch im Schwebezustand sind, bis sie die Zollabfertigung hinter sich gebracht haben. Ein anderes Beispiel ist der Einsatz hermetisch abgedichteter Glasscheiben vor dem Säuglingszimmer der Endbindungsstation in einigen Krankenhäusern, um den Vater, der sein Kind sehen möchte, von dem Neugeborenen fernzuhalten. In diesem Moment erhebt die Institution, nachdem sie das Kind von seiner Mutter getrennt hat, gegenüber dem „natürlichen“ Vater, dem anfänglich (als Entschädigung) nur die Sehbeziehung gestattet wird, im Interesse der öffentlichen Gesundheit einen Rechtsanspruch auf den Körper des Kindes.47

Graham stellt also Bezüge her zwischen einem bestimmten Material (Glas), dessen gesellschaftlich üblicher Verwendungsweise (als ebenso Sicht-durchlässigem wie physisch trennendem Material) und daran geknüpften gesellschaftspolitischen Fragestellungen (dem Anspruch, den eine Staat oder eine Institution gegenüber einem Individuum erhebt). Doch auch die komplexen Wechselwirkungen zwischen Materialwirkung, spezifischer räumlicher Situation und psycho-sozialen Wirkmechanismen macht Graham zum Thema. Hierzu, abschließend, eine längere Passage aus Grahams Artikel, welche

45 Dan Graham, Ausgewählte Schriften; herausgegeben von Ulrich Wilmes (Stuttgart: Oktagon, 1994). 46 Dan Graham, Ausgewählte Schriften; herausgegeben von Ulrich Wilmes; a.a.O., S.90. 47 Dan Graham, Ausgewählte Schriften; herausgegeben von Ulrich Wilmes; a.a.O., S.91f.

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sich den unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen seiner installativen Arbeit zuwendet: Ein Betrachter in dem Raum mit Spiegel kann zwischen mehreren alternativen Blickrichtungen wählen: er kann nur auf sein eigenes Bild im Spiegel sehen, er kann sich selbst im Spiegel, dabei aber seine Beziehung zu seiner Gruppe beobachten, er kann als Einzelner im Spiegel die andere Publikumsgruppe beobachten (und sich selbst dabei in Beziehung zu dieser anderen Publikumsgruppe sehen und vielleicht, wie diese Gruppe ihn beobachtet, während er die Gruppe beobachtet), er kann, während er sich als kollektiver Teil des Publikums empfindet, beide Gruppen beobachten, wie sie sich gegenseitig beobachten. Wenn der Betrachter seine Position verändert und sich vom Spiegel abwendet, kann er seine eigene Gruppe beobachten (wie im normalen Leben). Und schließlich kann er, wenn er auf die Glaswand sieht, Mitglieder der anderen Gruppe beobachten, wobei er allerdings kein Bild von sich selbst sieht (da die Wand am Ende des anderen Raumes leer ist). [...] der Betrachter wird sich sozial und psychologisch seiner selbst bewußter ... der Betrachter wird sich seiner selbst als Körper, als wahrnehmendes Subjekt, und in seiner Beziehung zu seiner Gruppe bewußt.48

Beispiel 2: Gernot Böhme und ,Der Glanz des Materials – Zur Kritik der ästhetischen Ökonomieʻ In seinem Artikel Der Glanz des Materials – Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie setzt sich Gernot Böhme seinerseits mit der Frage der Wirkung und gesellschaftlichen Rolle von Materialien auseinander. Den Einstieg hierzu bieten die folgenden beiden Fragestellungen: Inwiefern ist Material schön? Und: Wie wird Material in unserer heutigen Realität eingesetzt? Zwecks Antwortfindung bestimmt Böhme zunächst einmal näher, um welche Realität es sich bei dieser ,unserer Realitätʻ überhaupt handelt. Denn diese ist keine „ahistorische oder globale Realität“, sondern, wie Böhme präzisiert, die Realität westlicher, entwickelter Länder im fortgeschrittenen Industriezeitalter. Konkret befasst sich der Theoretiker mit der Realität des öffentlichen bzw. teil-öffentlichen Raums, wie er uns in Gestalt von Innenstädten, Flughäfen, Restaurants begegnet. Derartige (gebaute) menschliche Umwelten, die nach Böhme einer ökonomischen bzw. kapitalistischen Dominanz unterliegen, folgten einem klaren Leitbild: Marmor und Edelstahl in den U-Bahnhöfen, Gold, Silber, edle Holztäfelungen in den Restaurants, Kaufhäusern, Flughäfen. Dazu die Farbenpracht der Blumen, die Eleganz der Stoffe, über allem das Geflimmer und das Gleißen der Spotlights, der Halogenlämpchen, die zwischen Spiegeln und Scheiben und marmornen Fußböden auf und ab, hin und her hüpfen. Das Urbild dieser Inszenierung ist unschwer zu erraten. Es ist das fürstliche Schloss [...].49

Böhme scheint sich in seinem Artikel also mit der Art und Weise zu befassen, wie bestimmte Materialien (Marmor, Metall, Holz) zur Gestaltung der (gebauten) menschlichen Umwelt unter ökonomisch-kapitalistischen Gesichtspunkten eingesetzt werden. Allerdings ist ebendies – und hierin liegt der eigentliche Punkt des Artikels – nicht der Fall. Warum dem nicht so ist, dies erläutert der Theoretiker anschaulich 48 Dan Graham, Ausgewählte Schriften; herausgegeben von Ulrich Wilmes; a.a.O., S.93f. 49 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.51.

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anhand eines spezifischen Materials: der Spanplatte. Diese stellt für Böhme nicht allein eines unter vielen gegenwärtig gebräuchlichen Materialien dar, sondern sie verkörpere auf geradezu paradigmatische Weise die spezifischen Anforderungen, die heute an ein Material gestellt würden. In diesem Sinn entpuppe sich vieles an unserer (gebauten) menschlichen Umwelt, was auf den ersten Blick als vermeintlich echtes Gold, Silber, Marmor, Holz erscheine, letztlich als Imitat oder oberflächliche Kaschierung nach dem Rohmodell der Spanplatte – bzw. schlicht und einfach: als Spanplatte. Paradigmatisch [...] ist die Spanplatte. An ihr wird sinnfällig, was für modernes Materialdesign charakteristisch ist, nämlich das Auseinandertreten von innerem Design und Oberflächendesign. Die Spanplatte: innerlich grislich, braun, charakterlos, äußerlich imponierend als Buche, Eichenholz, aber auch als Marmor oder Metall und dann in vielfältiger Weise glänzend durch dekoratives Resopal.50

Böhme stellt seine weiteren Ausführungen, innerhalb derer er das Auseinandertreten von ,innenʻ und ,außenʻ (von innerer Materialzusammensetzung und oberflächlicher Materialwirkung), wie es sich an der Spanplatte paradigmatisch zeige, in den Kontext seiner allgemeinen Atmosphärentheorie. Worauf es an dieser Stelle, hinsichtlich der oben genannten Frage nach der Annäherung von künstlerischer und philosophischer Reflexion, ankommt, ist jedoch ein anderer Punkt. Diesbezüglich aufschlussreich dürfte sein, dass auch Gernot Böhme, ebenso wie Dan Graham, sich einerseits einem ganz konkreten Material und dessen wahrnehmungsbezogener Wirkungsweise zuwendet, dass er andererseits, ausgehend von empirischen Beobachtungen, den Reflexionshorizont bis hin zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen ausweitet. Denn prototypisch ist die Spanplatte für Gernot Böhme letztlich nicht nur hinsichtlich der materiellen Gestaltung konkreter (gebauter) menschlicher Umwelten, sondern auch hinsichtlich einer allgemeineren gesellschaftlichen bzw. ökonomisch-gesellschaftlichen Epochenkonstellation. Diese sieht Böhme einerseits dadurch bestimmt, dass heute erstens „ein Großteil der gesamtgesellschaftlichen Arbeit [...] ästhetische Arbeit oder Inszenierungsarbeit“ sei. Zweitens dadurch, dass „[d]ie produzierten Werte [...] in wachsendem Maße ästhetische Werte“ seien. Nicht nur beim konkreten Material Spanplatte, auch in ökonomisch-gesellschaftlicher Hinsicht sei also ein Auseinandertreten von ,innenʻ (Funktion, Nutzen, Gebrauchswert) und ,außenʻ (Oberfläche, Image, Tauschwert) zu beobachten, wobei das ,Außenʻ zunehmend als eigentlicher ökonomisch-gesellschaftlicher Wert angesehen werde, während es seinen Bezug zu einem ,Innerenʻ, für das es vermeintlich stehe, mittlerweile verloren habe.51

50 Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S. 57-58. 51 Wenn beide Ansätze freilich auch spezifische und jeweils unterschiedliche Interessen verfolgen, so möchte Dan Graham vor dem Hintergrund der Minimal Art der 1960er Jahre den Aspekt der ,sozialen Konnotationʻ gegenüber dem Gedanken einer unmittelbaren materialgebundenen Wirkungsweise stärken, während Gernot Böhme darum bemüht ist, beide Wirkungsweisen unter die Ägide seines Atmosphären-Begriffs zu bringen.

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8.3.2 Der wechselseitige Blick Gernot Böhmes und Dan Grahams Ausführungen können an dieser Stelle nicht weiter auf inhaltlicher Ebene nachvollzogen werden. Auch wenn Dan Graham, der bislang nur kurz zur Sprache – beziehungsweise selbst zu Wort – kam, zweifelsohne nicht allein in diesem Artikel einen beachtenswerten Beitrag zur künstlerischen Untersuchung (gebauter) menschlichen Umwelten liefert. 52 Hinsichtlich der oben gestellten Frage nach einer wechselseitigen Annäherung von Kunst und Theorie gilt es hingegen, anhand der vorgestellten Beiträge nach Korrespondenzen Ausschau zu halten. Solche zeigen sich – und dies ist erwähnenswerter, als es erscheinen mag – bereits die Form betreffend: Denn nicht nur der ,Theoretikerʻ Böhme, auch der ,Künstlerʻ Graham greift zum Mittel einer schriftlich verfassten, sachlich-theoretischen Auseinandersetzung. Umgekehrt stellt für beide die Beschäftigung mit einem konkreten, empirisch erfahrbaren Material ein zentrales Moment dar. Dieses wird nicht allein von seiner sprachlich leicht verfügbaren semiotischen Seite her (als gesellschaftlich konnotiertes Zeichen) oder allein als sensorisch erfahrbarer Gegenstand (als innerlich grisliche, braune Spanplatte, als sichtdurchlässiges, leicht spiegelndes Glas), sondern unter beiden Gesichtspunkten zugleich in die Erörterung einbezogen. In dieser Hinsicht bestärken sich die Positionen Grahams und Böhmes also wechselseitig – und dies auf keineswegs banale Weise. Denn eine Einbeziehung semiotischer Wirkungsweisen war in Kunstkreisen lange Zeit nicht selbstverständlich. Und auch phänomenologisch oder semiotisch beeinflusste Theoriebildungen argumentieren in der Regel entweder für diese oder für jene Wirkungsweise, unter Negation der jeweils anderen.53 Des Weiteren gleichen sich die Artikel hinsichtlich ihrer thematischen Spannweite: Diese reicht in beiden Fällen von der Auseinandersetzung mit einem konkreten Material (bei Graham: Glas; bei Böhme: Spanplatte) über die Erörterung bestimmter räumlicher Situationen, in denen dieses zum Einsatz kommt (Graham: Zollabfertigung am Flughafen, Geburtsstation im Krankenhaus; Böhme: Kaufhäuser, Bahnhöfe, Innenstädte) bis hin zu damit verbundenen Fragestellungen von gesellschaftspolitischer Tragweite (Graham: materialisierte Machtstrukturen, wie sie im Einsatz von Glas an Flughäfen und Krankenhäusern manifest werden; Böhme: sozio-ökonomische Entwicklung, die sich paradigmatisch im Einsatz von Spanplatte in ökonomisierten öffentlichen Räumen zeigt). Am Beispiel Gernot Böhmes und Dan Grahams wird deutlich, dass sich beide Seiten, die Seite der installativen Kunst und die Seite der philosophischen Theoriebildung, verdächtig nahe kommen können. ,Verdächtigʻ ist diese Annäherung insofern, als eine philosophische Position, die sich ,allzu sehrʻ dem Bereich der Empirie nähert, ebenso Gefahr läuft, als unphilosophisch abqualifiziert zu werden, wie eine künstlerische Positionen, die sich ,allzu sehrʻ theoretisch-reflexiv betätigt, als unkünstlerisch disqualifiziert werden könnte. Andererseits: Stellt man nicht den Gedanken ,der Philosophieʻ oder ,der Kunstʻ in den Vordergrund, sondern jenen einer Er52 Weitere, in diesem Kontext beachtenswerte Artikel: Two Adjunct Pavilions (1978-1982) oder etwa Alteration to a Suburban House; in: Dan Graham, Ausgewählte Schriften; herausgegeben von Ulrich Wilmes; a.a.O., S.103-110, S.245-248 (siehe auch Kap. 10). 53 Siehe auch Kap. 11.

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forschung der Wahrnehmung (gebauter) menschlicher Umwelten, so ist es eben diese wechselseitige Offenheit und Annäherungen (der philosophisch-ästhetiktheoretischen Auseinandersetzung an ein empirisches Vorgehen, der installativen Kunst an die theoretische Reflexion), welche von entscheidender Bedeutung sein dürfte. Als wirklich produktiv könnte eine derartige wechselseitige Annäherung freilich erst bezeichnet werden, wenn es sich nicht allein, wie im gegebenen Beispiel der Fall, um eine singuläre und von außen aufgedeckte Übereinstimmung handelte. Vielmehr müssten sich beide Seiten selbst über verbindende Fragestellungen im Klaren sein. Und sie müssten sich durch diese Bewusstheit und eine gegenseitige zur Kenntnisnahme hinsichtlich ihrer geteilten Fragestellungen weiterentwickeln können. Wie sieht es diesbezüglich aus? Gibt es Fragestellungen und virulente Punkte, in denen sich philosophisch-ästhetiktheoretisches und künstlerisch-installatives Arbeiten produktiv begegnen könnten – und dies nicht allein in einem wechselseitig bestärkenden, sondern gegebenenfalls auch in einem kritisch-konstruktiven Sinn? Die oben festgestellten Gemeinsamkeiten allgemeiner Art geben Anlass zu der Vermutung, dass dem so sein könnte. Drei konkrete Beispiele folgen. Natürlicher Leib und sozialisierter Körper Eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen der Seite der Kunst und der Theorie besteht in der Auffassung bzw. dem Einsatz der menschlichen Physis als einem aktiven perzeptiven Instrument, so wurde es oben festgestellt. Steigt man nun tiefer in diese Thematik ein, so stellt sich indes die Frage, wie genau eine derartige perzeptive Physis zu konzipieren ist. Nicht selten geschieht dies, der – oder richtiger: einer phänomenologischen Tradition folgend, nicht im Sinn eines sozialisierten Körpers, sondern im Sinn eines natürlichen Leibes. Die menschliche Physis als Medium menschlichen Umraum- bzw. Umweltwahrnehmens – und somit, im Sinn von aisthesis, als Medium sinnlicher Erkenntnis – wird nicht als etwas erachtet, das selbst einer historischgesellschaftlichen Formung unterläge, sondern als a priori gegebene Bedingung der Möglichkeit sinnlichen Wahrnehmens, die selbst nicht weiter auf ihr historischgesellschaftliches Gewordensein hin zu überprüfen wäre. Eine solche Sichtweise scheint bspw. Gernot Böhme zu vertreten.54 Dass es auch die perzeptive menschliche 54 Zwar geht Böhme explizit auf eben diese Thematik ein – so im Kontext seiner Reflexionen über die Ausführungen Dieter Hoffmann-Axthelms zu historisch-gesellschaftlichen Einflussfaktoren des Wahrnehmens. Allerdings zeitigen diese Reflexionen innerhalb des böhmeschen Atmosphärenmodells des Wahrnehmens letztlich keine Wirkung. Vielmehr zieht Böhme aus dem mit Hoffmann-Axthelm konstatierten Faktum, dass historischgesellschaftliche Faktoren das menschliche Wahrnehmen beeinflussen, die argumentativ nicht-trennscharfe Konsequenz, dass man sich von theoretischer Seite her „über Wahrnehmungsweisen […], die für die Ästhetik grundlegend sind“ verständigen könne. (Hier werden zwei Ebenen miteinander vermischt: die des beobachteten Sachverhaltes und jene der theoretischen Betrachtungsperspektive. Denn nicht die Theorieperspektive hat ja eine Entscheidungsgewalt bezüglich der Art und Weise, wie Menschen wahrnehmen, sondern historisch-gesellschaftliche Prozesse. Bei Böhme wird hingegen der Anschein erweckt, als habe die theoretische Reflexion, der fachwissenschaftliche Diskurs, sich nur über eine ,grundlegende Wahrnehmungsweiseʻ zu einigen und anschließend würden sich auch die Menschen danach richten – „selbst wenn sie der einzelne überhaupt erst entdecken oder

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Physis selbst ist, die historisch-gesellschaftlichen Prägungsfaktoren ausgesetzt ist, dies merkt seinerseits Arnold Berleant an. 55 Nicht allein allgemeine theoretischkonzeptionelle Reflexionen, sondern konkrete Hinweise diese Frage betreffend, finden sich nun in den Ausführungen Ilya Kabakovs. So erklärt dieser, dass seiner langjährigen künstlerischen Erfahrung gemäß Umraumwahrnehmungen im ,Ostenʻ und ,Westenʻ unterschiedlich vonstattengingen: Im Westen würden nämlich primär in einem Zimmer befindliche Dinge wahrgenommen; im Osten (gemeint ist der ,Ostblockʻ der Sowjetära) sei hingegen ... alles genau umgekehrt. Die Dinge spielen nicht diese Rolle im Leben jedes Menschen, vor allem darum, weil sie kaum zu bekommen sind, und wenn sie überhaupt vorhanden sind, so sind sie alt, unansehnlich und in der Regel schmutzig. Wenn es sich um Maschinen handelt, funktionieren sie nicht und [...] bei Kleidung, Möbeln und Gebrauchsartikeln ist sich alles ähnlich, unterscheidet sich in fast nichts und erinnert insgesamt an einen Haufen Plunder im etwa selben Farbton. Aber dafür sind die Räume, wo sich die Sachen befinden, unsere! Und sie unterscheiden sich sehr wohl voneinander, und dieser Unterschied wirkt deutlich auf die Bewohner unseres Landes. Wie fein und schnell wir jeden Ort bestimmen können, an den wir geraten sind! Und wie unterschiedlich wir uns verhalten, je nachdem ob wir zu Hause sind, im Haus des Nachbarn, in einer Behörde, im Zimmer des Vorgesetzten, in der U-Bahn, auf dem Bahnhof oder an unzähligen anderen Orten. Jeder Ort zwingt uns, „anders“ zu sein [...].56

Diese Ausführungen sind bezüglich der Frage eines natürlichen Leibes von doppeltem Interesse, insofern, als Kabakov darin in gleich zweifacher Weise auf den möglichen Einfluss einer gesellschaftsspezifischen Sozialisation der perzeptiven Physis hinweist: So stellt er a) heraus, dass Gegenstände im Westen die weitaus wichtigeren Bezugspunkte im Wahrnehmungsakt lieferten, während im Osten, mit Gernot Böhme formuliert, das leibliche Spüren von Umräumen stärker ausgeprägt sei; b) stellt er entwickeln müßte.“.) An anderer Stelle thematisiert Böhme historisch-gesellschaftlich beeinflussende Aspekte des Wahrnehmens unmittelbar im Kontext seiner Atmosphärentheorie des Wahrnehmens. Hier ist es jedoch nicht so, dass der wahrnehmende, physisch verfasste Mensch in seinem Wahrnehmen sozialisiert wäre, sondern, das Moment des Sozialen wird in die wahrgenommene Atmosphäre verlegt. Dementsprechend wird etwa das Perzipieren einer bestimmten milieuspezifischen Atmosphäre nicht derart erklärt, dass ein Umraum von Menschen, die in einem bestimmten sozialen Milieu sozialisiert wurden (bspw. Arbeiter, Kleinbürger), ausgestaltet wurde und von Menschen, deren Wahrnehmungsvermögen in einem anderen sozialen Milieu (bspw. Bildungsbürger) sozialisiert wurde, perzipiert wird, sondern: Das Soziale wird in den Wahrnehmungsgegenstand selbst verlagert (etwa in ,die kleinbürgerliche Atmosphäreʻ, so als gäbe es ,das Kleinbürgerlicheʻ unabhängig von einem jeweiligen Betrachtungsstandpunkt). Kurz: Obwohl Gernot Böhme historisch-gesellschaftliche Einflussfaktoren zum Thema macht, bleibt der Leib in der böhmeschen Theoriebildung letztlich ein außersozialer, natürlicher. Gernot Böhme, Aisthetik; a.a.O., S.31ff., S.87ff., S.102f. 55 Insbesondere in Sensibility and Sense kommt Berleant immer wieder auf dieses Faktum zu sprechen, wobei auch hier letztlich keine eindeutige Position bezogen wird. Vgl. Kap. 5.2, Fn. 32. 56 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.14.

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dar, inwiefern auch innerhalb eines einzelnen Kulturraums unterschiedliche Umräume eine jeweils unterschiedliche Wirkung entfalteten können (ein privater Umraum wirkt demnach anders auf uns ein als ein institutionalisierter Ort).57 Rückbezogen auf die perzeptive Physis hieße dies: Wenn Kabakov Recht hätte, so könnte mit b) weder davon ausgegangen werden, dass alle Menschen mittels ihrer Physis Umräume auf die gleiche Weise empfinden. Denn das ,feine und schnelle Bestimmenʻ eines jeweiligen Umraums gelänge ja nur denjenigen Menschen, deren leibliches Umraumempfinden auch auf einen konkreten Umaumtyp hin geeicht wurde. (Wenn ich mit dem Wahrnehmungskontext ,Privatwohnungʻ, nicht aber mit dem Wahrnehmungskontext ,Behördeʻ vertraut bin, so weiß meine perzeptive Physis im zweiten Fall nicht, woraufhin sie ihre leiblichen Antennen zu richten hat.) Noch könnte, mit Punkt a), überhaupt davon ausgegangen werden, dass die allgemeine Fähigkeit, Umräume ,leiblich zu spürenʻ, bei allen Menschen gleich entwickelt ist. (Ein Mensch aus ,dem Ostenʻ könnte demnach auf Grund der Art, wie seine perzeptive Physis sozialisiert wurde, ein wesentlich stärkeres Potential, Umräume differenziert wahrzunehmen, besitzen als ein Mensch aus ,dem Westenʻ.) Kabakovs Ausführungen sind nicht mit systematisch durchgeführten empirischen Studien, die in einer hinreichenden Breite erhobenen wurden, zu verwechseln. Allerdings, wenn Kabakov mit seiner individuellen Beobachtung Recht haben sollte, so hätte dies in der Tat weitreichende Konsequenzen. Denn letztlich würde dies bedeuten: Ein phänomenologischer Leib-Begriff, verstanden im Sinn eines ,natürlichen Leibesʻ, müsste hinsichtlich sozialisierender Faktoren konzeptionell geöffnet und somit re-konzipiert werden. Sicher ist dies eine große Herausforderung angesichts des vermeintlich geringen Anlasses der Beobachtungen einer Einzelperson. Andererseits entspringen Kabakovs Ausführungen nicht etwa einer beiläufigen Impression, sondern der jahrzehntelangen Erfahrung eines Menschen, der selbst in Ost wie West gelebt hat und in Fragen des Umraumwahrnehmens mittels der eigenen perzeptiven Physis extrem geschult ist. Ob Kabakovs Beobachtung auf breiter empirischer Basis bestätigt werden könnte, ist also eine Frage für sich. Der hier relevante Punkt ist jedoch ein anderer – und zwar jener, dass Kabakov überhaupt eine erfahrungsbasierte Beobachtung liefert, die sich mit einer konkreten philosophisch-wahrnehmungstheoretischen Fragestellung verzahnt bzw. verzahnen lässt. Und in dieser Hinsicht kommt ihr im Sinn einer potentiell signifikanten Beobachtung kein geringerer – im Gegenteil: eher ein höherer, da auf intensiver Eigenerfahrung beruhender – Status zu als solchen Beobachtungen, wie sie auch eine philosophische Theoriebildung zwangs-

57 Die sozialisationsbedingten Unterschiede in der Wahrnehmung von Umräumen und Gegenständen sind es auch, die Kabakov nicht zuletzt als einen auslösenden Faktor für den Wandel seiner künstlerischen Arbeitsweise nahelegt. Denn sein Ansatz entwickelte sich vom Bereich der experimentellen Malerei und Objektkunst erst mit seiner Emigration aus der Sowjetunion in die USA in Richtung dessen, was Kabakov als ,Totale Installationʻ bezeichnet. Ein Umstand, der dem Künstler offenbar erst nötig und sinnvoll erschien in einem Augenblick, in dem seine künstlerischen Arbeiten eines zuvor üblichen räumlichen wie sozialen Kontexts entbehrten. Vgl. Ilya Kabakov, Wie kam es zur Idee der Totalen Installation?; in: ders., Über die Totale Installation; a.a.O.

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läufig zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen zu nehmen hat. (Zu denken an Gernot Böhmes ,Surren einer Fliegeʻ oder Arnold Berleants Kanufahrt.)58 Sensorische und kognitive Anteile des Wahrnehmens Eine weitere konkrete Fragestellung, angesichts derer sich philosophische und installative Ansätze produktiv begegnen könnten –ist jene nach der Art des Verhältnisses kognitiver und sensorischer Anteile des Wahrnehmens. Dass Wahrnehmungserfahrungen, so wie sie angesichts konkreter (gebauter) menschlicher Umwelten gemacht werden, letztlich immer fallspezifisch, angesichts eines jeweiligen Kontextes, untersucht werden müssen, dies wurde bereits deutlich. Eine damit verbundene, jedoch davon zu differenzierende Fragestellung ist jene nach dem prinzipiellen Verhältnis von kognitiven und sensorischen Anteilen. Sollten diese als interkonnektiv miteinander verwoben oder – im Sinn von Kern und Schale – als, zumindest hypothetisch, voneinander trennbar imaginiert und konzipiert werden? In Kap. 5 wurde diese Frage anhand der Ansätze Gernot Böhmes und Arnold Berleants als virulenter Punkt einer Aisthetik aufgezeigt. Eine abschließende Antwort konnte hingegen nicht gegeben werden. Auch Böhme und Berleant beziehen diesbezüglich beide eine uneindeutige Position. So schließt Gernot Böhme im Zuge der Entfaltung seiner Wahrnehmungstheorie zunehmend sämtliche offensichtlich unter kognitiver Beteiligung stattfindenden Aspekte (wie das analytische Wahrnehmen von Dingen oder das semiotische Interpretieren von Zeichen) aus. Andererseits folgt Böhmes Wahrnehmungslehre dem prinzipiellen Anspruch, nicht allein Lehre des sinnlichen Wahrnehmens, sondern der sinnlichen Erkenntnis sein zu wollen. Kann es aber ,Erkenntnisʻ jenseits jeglicher identifizierender und interpretierender Wahrnehmungsaspekte geben? Auch Arnold Berleant verhält sich hinsichtlich der Frage einer genauen Konzeption ambig: Einerseits stellt für ihn „pure sensation“ das eigentliche Ziel dar, dem es sich theoretisch-reflexiv wie praktisch anzunähern gilt. Andererseits ist eine von kognitiven Aspekten freie Wahrnehmung für ihn ,mehr eine Ideeʻ, die möglicherweise jeder realen Entsprechung entbehrt.59 Dass beide Positionen letztlich unterschiedliche Interpretationen zulassen und mit welchen Problemen eine jeweilige Interpretation in konzeptioneller Hinsicht verbunden ist, dies wurde bereits ausgiebig diskutiert. Die Frage, die sich an dieser Stelle stellt, lautet jedoch: Was könnten künstlerische Positionen angesichts einer so komplexen und grundlegenden theoretischen Fragestellung beitragen? Einfache Antworten sind diesbezüglich auch von Seiten der Kunst her nicht zu erwarten, dies ist gewiss. Allerdings, was diese möglicherweise liefern könnte, sind auf einer empirischen Praxis basierende Denkanstöße. Ilya Kabakov und Bruce Nauman arbeiten im Rahmen ihrer Installationen zuweilen mit Text – und somit mit einem stark kognitiv zu erfassenden Medium (ohne kognitive Beteiligung den Sinngehalt eines Textes zu erfassen, dürfte schwer vorstellbar sein). Bei Nauman dient dieser Einsatz von Text dazu, ein Spannungsfeld zu kreieren. Für ihn stellen das installative Set-up und der Text „two pieces of information“ dar, wobei die zu machende Gesamterfahrung letztlich weder durch die eine 58 Diese Fragestellung ,natürlicher Leib und sozialisierter Körperʻ wird in Kapitel 11 weiterverfolgt. 59 Siehe Kap. 4 und 5.

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noch die andere Komponente bestimmt werde: „[...] the piece is finally about that. It's about the tension of not being able to put them together.“ Die konkrete Erfahrung der Installation ergibt sich für Nauman also weder allein aus deren physischen Begehung noch allein aus der Rezeption des vor dem Betreten zu lesenden und oft eher assoziativ denn deskriptiv gestalteten Textes.60 Sie liegt, stattdessen, in einem Feld ,dazwischenʻ. Dieser Sachverhalt sagt nun freilich wenig darüber aus, inwiefern kognitive Anteile an der Wahrnehmung eines installativen Set-ups auch ohne Beigabe von Text beteiligt sind; wohl deutet er aber darauf hin, dass kognitive Aspekte (sprich: textuelle Elemente) diese Wahrnehmung beeinflussen können. Bei Ilya Kabakov werden textuelle Elemente nicht nur begleitend, sondern auf unterschiedlichsten Ebenen eingesetzt. Sie dienen dazu, einen allgemeinen Kontext für eine Installation zu liefern, ebenso wie sie als Beschriftungen an einzelnen Details oder als vermeintlich authentische Schriftzeugnisse von fiktiven Bewohnern eines Ortes innerhalb einer Installation Verwendung finden. Der Einsatz partikularer Elemente (so auch textueller Art) in einem installativen Umraum hat hierbei folgende Konsequenz. Er bewirkt, so Kabakov ... ein ständiges Springen vom Ganzen zu den Details und wieder zurück zum Ganzen [...] oder, was dasselbe ist: die zerstreute, summarische Orientierung im Raum und gleich darauf – der aktive, gezielte Zugriff auf Einzelnes, Kleines, Ungewöhnliches [...] ein gutes Beispiel hierfür wäre ein kleiner Text auf einem weißen Stück Papier [...].61

Auch für Ilya Kabakov muss das Wahrnehmen eines installativen Kontextes also nicht entweder ,allein physischʻ vermittelt (Orientierung im Umraum) oder ,allein intelligibelʻ (Lesen von Text) vonstattengehen, sondern gerade das permanente Hinund-her-Springen zwischen Detail und Ganzem, zwischen Textlesen und Umraumorientierung, kreiert die spezifische Wirkungsweise der Installation. Dabei löst für Kabakov die eine (globale) Wirkungsweise nicht einfach die andere (partikulare) Wirkungsweise ab. Vielmehr leiten diese fließend ineinander über bzw. grundieren sie sich wechselseitig: [...] wenn der Betrachter die Gesamtatmosphäre gespürt hat, „verliert“ er sich [...] in der Betrachtung der Details; diese [...] kooperieren so miteinander, daß der Betrachter „gezwungen“ wird, sich wieder dem Gesamteindruck zuzuwenden, ihn zumindest als aktiven Hintergrund zu spüren [...].62

Wirkmechanismen, wie sie sich bei Kabakov und Nauman beschrieben finden, lösen die komplexe Frage nach der Art des Verhältnisses von kognitiven und sensorischen Anteilen nicht. Aber sie deuten in eine bestimmte Richtung. So ist eine strikte konzeptionelle Trennung – wie sie Gernot Böhme zwischen sinnlich-atmosphärischem Wahrnehmen, identifizierendem Dingwahrnehmen und semiotischem Wahrnehmen zieht – mit den kabakovschen Ausführungen schwer in Einklang zu bringen. Denn die Atmosphären der Totalen Installation müssten durch das ständige Springen zwi60 Janet Kraynak (Hrsg.), Please Pay Attention Please; a.a.O., S.281. 61 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.46. 62 Ebd.

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schen unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi, zwischen konkreter Dingwahrnehmung, semiotischem Wahrnehmen und atmosphärischem Spüren, ja permanent, wie Böhme sagt, ,in sich zusammenbrechenʻ. Nach Kabakov können sich aber gerade im Gegenteil auch konkrete Detailwahrnehmungen, von Dingen, von Texten, zu einem atmosphärischen Gesamteindruck verdichten. Mit der alternativen, zweiten Interpretationsmöglichkeit, welche, wie aufgezeigt, sowohl Gernot Böhmes als auch Arnold Berleants Ansatz prinzipiell zulassen – und welche das Verhältnis von kognitiven und sensorischen Aspekten als ein interkonnektiv verwobenes Zusammenspiel imaginieren –, sind die geschilderten künstlerischen Erfahrungswerte hingegen deutlich besser kompatibel. (Und, dies ist nur ein Nebenaspekt, aber dafür ein interessanter: Nicht zuletzt liefern Bruce Naumans Vorstellung eines Spannungsbogens, der einen Raum dazwischen öffnet, oder Ilya Kabakovs Beobachtung eines permanenten Hinund-her-Springens bzw. eines sich wechselseitigen Grundierens interessante Denkfiguren ab, was mögliche philosophische respektive wahrnehmungstheoretische Modellbildungen zum aisthesis-Begriff anbelangt.63) Atmosphären, Aufforderungsqualitäten, Bewegungsanmutungen Ein konkretes Phänomen, das sich bei Ilya Kabakov thematisiert findet, ist jenes der räumlichen Atmosphären, die eine installative Umgebung auf spezifische Weise prägen können. In seiner Schrift zur Totalen Installation geht Kabakov immer wieder auf diesen Aspekt ein, der für ihn mehr als allein ein Aspekt unter vielen ist, denn ... eines der wichtigsten Einflußmittel der Installation [ist] – ihre Atmosphäre. Die Gestaltung dieser ,Atmosphäreʻ [...] ist so wichtig, daß man sie bei der Arbeit von Anfang an berücksichtigen und schon von Anfang an in die noch leere „Schachtel“ des Raumes hineinblasen, hineinpumpen muß; die Herstellung dieser Atmosphäre muß der erste Arbeitsschritt sein […].64

Wie aber ,blästʻ man eine Atmosphäre in einen Umraum ,einʻ? Für Kabakov sind letztlich alle einen Umraum kennzeichnenden Detailaspekte auf ihren Beitrag zu einer spezifischen räumlichen Atmosphäre hin zu beachten. Dies schließt auch die baulichmateriellen Gegebenheiten oder die in einem Umraum befindlichen Gegenstände ein. Als besonders wirkmächtig hebt Kabakov jedoch drei Aspekte hervor: die Elemente „Farbe und Licht“ sowie (so diese im Rahmen einer jeweiligen Installation zum Einsatz kommen) Klänge, bzw. konkret: „Stimmen, Gesang, Musik“.65 Auch für den Theoretiker Gernot Böhme – mittlerweile wohl überflüssig zu erwähnen, dass auch dieser 63 Der Gedanke des Spannungsbogens erinnert an ein altes, und schönes, sprachliches Bild, mit dem der Begriff ,aisthesisʻ veranschaulicht wird: Baumgarten beschrieb den weiten Zwischenbereich, mit dem sich die von ihm gegründete Disziplin der Ästhetik befassen sollte, im Sinn eines Bogens; und nicht irgendeines Bogens, sondern des Weges, welchen die Sonne bei ihrem alltäglichen Weg über den Himmel vom Morgen (dem vermeintlich ,rein Sensorischenʻ) bis zum Abend (dem vermeintlich ,rein Kognitivenʻ) zurücklegt. Vgl. Constanze Peres, Sinnliche Erkenntnis – Experiment – Induktion; Vortrag, gehalten beim VIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik im Oktober 2011; Onlineveröffentlichung unter: www.dgae.de. 64 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.67. 65 Vgl. Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.18-19 und S.67-70.

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Atmosphären thematisiert – sind atmosphärische Wirkungen gezielt herstellbar: „und zwar durch Setzen durchaus objektiver Mittel. Dazu gehören außer den klassischen wie Geometrie, Gestalt, Proportion, Abmessung, noch Licht, Farbe, Ton“.66 Böhme und Kabakov, der Praktiker und der Theoretiker, sind sich angesichts der Frage von räumlichen Atmosphären (verstanden nicht im Sinn eines umfassenden Prinzips zur Erklärung des sinnlichen Wahrnehmens, sondern im Sinn eines konkreten Phänomens) also überaus einig. Einen kleinen Punkt der Differenz mag es allenfalls hinsichtlich der Universalität von räumlichen Atmosphären geben, denn, während diese für Gernot Böhme ubiquitär sind, also in jedem Umraum vorkommen, besitzt für Kabakov offenbar nicht jede Räumlichkeit immer und zwangsläufig eine Atmosphäre. Denn wie sonst könnte sie einer solchen, gleich einer leeren Schachtel, eingeblasen werden? Angesichts des Beispiels von räumlichen Atmosphären zeigt sich, dass es keineswegs immer die Seite der Kunst sein muss, die auf jene der Theorie produktiv einzuwirken verspricht. Denn angesichts Ilya Kabakovs und Gernot Böhmes intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema ist durchaus das Potential für eine gleichberechtigt wechselseitige Befruchtung gegeben. Inwiefern auch die Seite der Kunst – und dies in noch weiterem Maß als angesichts von räumlichen Atmosphären der Fall – von der Seite der Theorie profitieren könnte, dies wird wiederum an anderen möglichen Wirkmechanismen (gebauter) menschlicher Umwelten erkenntlich. So gilt der Umgang mit Proportionen, Massen, Volumina in zeitgenössischen wie in traditionellen künstlerischen Arbeitsfeldern (von der Architektur über die Bildhauerei bis zur Installationskunst) als hinlänglich bekanntes Arbeitsmittel. Auf Seiten der Theorie werden aber noch weitere konventionell schwer greifbare, da immaterielle Qualitäten von (gebauten) menschlichen Umwelten thematisiert. Diese mögen in künstlerischen Arbeitsprozessen unterschwellig eine Rolle spielen. Eine Benennung und differenzierte Auseinandersetzung mit diesen auf Seiten der Theorie könnte aber, so sie von Seiten der Kunst zur Kenntnis genommen würde, ihrem bewussten und gezielten Einsatz als installativem Arbeitsmittel durchaus zuträglich sein. Konkret zu denken wäre in diesem Kontext, um ein Beispiel zu geben, an das Arbeiten mit dem Prinzip der Einfühlung, wie es die Einfühlungstheorie von wahrnehmungspsychologischer Seite her identifiziert.67 Gemeint ist das Phänomen der Übertragung des menschlichen Körperschemas auf ein wahrgenommenes Objekt – etwa, wenn ein Gebäude, dessen Gliederung in Fassade, Rückseite und bilaterale Symmetrie an die Gliederung des menschlichen Körpers erinnert und es hierdurch erlaubt, sich in dieses Objekt auch physisch, quasi leiblich, hineinzuversetzen. Eine anderes Beispiel wäre die Beachtung von Aufforderungscharakteren – etwa die auffordernde Wirkung eines Druckknopfes, eines Hauseingangs oder eines Weges, wie sie Arnold Berleant mit Kurt Lewins Begriff der ,Hodologieʻ beschreibt (vgl. Kap. 4.5).68 Ein drittes Exempel 66 Ilya Kabakov, Über die Totale Installation; a.a.O., S.18. 67 Siehe auch Kap. 1, Kap. 5.2, Kap. 11.1 (Fn. 44); sowie ausführlicher: Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hrsg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion – Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst (Münster: Lit-Verlag, 2007); 68 Beide Gedanken, der der Einfühlung und der von Aufforderungscharakteren, haben in Ansätzen Einzug in die Design- und Architekturtheorie gefunden bzw. werden sie dort, etwa unter dem Schlagwort ,usabilityʻ, aktuell wiederentdeckt. Exempel aus dem Bereich zeitgenössischer Bildende Kunst sind hingegen rar. Erwin Wurms Arbeit Fat House mag

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liefern sogenannte Bewegungssuggestionen, wie von Gernot Böhme im Anschluss an Hermann Schmitz thematisiert; also bauliche Formen, die eine dynamische Bewegung andeuten, wie die ,aufstrebendenʻ Pfeiler in einer gotischen Kirche oder die ,drückendenʻ Gewölbe in einer Krypta.69 Kurz: Auch die Liste an beachtenswerten Aspekten und Fragestellungen, die die Seite der Theorie identifiziert (bzw. in ihrer Historie identifiziert hat) und somit in ein künstlerisch-installatives Arbeiten und Forschen einbringen könnte, ist lang.

8.4 Z UR M ÖGLICHKEIT

EINES KOLLABORATIVEN

F ORSCHENS

Die bisherigen Überlegungen deuten in ihrer Konsequenz in Richtung einer bestimmten Möglichkeit – eine Möglichkeit, die nunmehr weitgehend offen und explizit zu Tage liegt. Sie lautet: Wenn künstlerische und theoretische Positionen beide experimentell-untersuchende wie systematisch-erkundende, empirisch-agierende wie theoretisch-reflektierende, kurz: in unterschiedlichster Hinsicht forschende Züge tragen, sollte es dann nicht möglich sein, sie auch tatsächlich im Sinn einer Forschung zu verstehen – und zwar konkret: einer Erforschung der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität (gebauter) menschlicher Umwelten? Und weiter: Wenn beide Seiten, die der Kunst und der Theorie, hierin Übereinstimmungen aufweisen, die von fundamentalen konzeptionellen Gemeinsamkeiten bis hin zu potentiell geteilten Fragestellungen reichen, hinsichtlich derer sich beide Seiten produktiv-kritisch zu bestärken, zu ergänzen und zu korrigieren versprechen, ist es dann nicht obendrein geboten, auch die Möglichkeit eines gemeinsamen, eines im besten Sinn des Wortes ,kollaborativenʻ Forschens ins Auge zu fassen? Mehr hierzu im folgenden Kapitel. Zuvor gilt es allerdings festzuhalten, dass obige Frage keineswegs rhetorischer Natur ist. Denn gerade im Hinblick auf die Künste könnten Einwände laut werden: Kann künstlerisches Arbeiten, selbst wenn man es als solches – und nicht etwa vom Standpunkt einer Rezeptionstheorie allein als Hervorbringung von zu interpretierenden Werken – ansieht, tatsächlich als Forschung begriffen werden? Stehen dem nicht zu viele, einem traditionellen, aber auch einem aktuellen Kunstverständnis immanent eingeschriebene Anschauungen und Bestimmungen entgegen; Gedanken wie: Kunst bedarf der Autonomie, der Zweckfreiheit, des intuitiven Spiels, sie basiert auf kontemplativen Akten, dem Sich-Einlassen auf Emotionen, dem Streben nach Schönheit – und nicht etwa dem nach systematisch gewonnener, objektiv nachvollziehbarer wissenschaftlicher Erkenntnis. Ein solcher Einwand ist nicht unberechtigt, oder genauer gesagt: er scheint nicht unberechtigt. Allerdings gilt es, sich an diesem Punkt drei Dinge noch einmal zu vergegenwärtigen: Auch bei Aussagen zu Kunst, wie den soeben wiedergegebenen, handelt es sich – erstens – nicht um Beschreibungen naturgegebener Sachverhalte, sondern um normabewusst mit einem Moment der Einfühlung arbeiten, wäre aber, so man Klassifizierungen anstrebt, eher dem Bereich Archiskulptur zuzuordnen. Ilya Kabakov arbeitet, wie an obigem Tür-Beispiel deutlich wurde, mit Aufforderungscharakteren, thematisiert diese, anders als bspw. das Phänomen ,Atmosphäreʻ, jedoch nicht explizit unter diesem Gesichtspunkt. 69 Zu ,Bewegungssuggestionenʻ oder ,Bewegungsanmutungenʻ, siehe: Kap. 3.3.

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tive Stellungnahmen. Ihre vermeintlich unanzweifelbare Legitimation beziehen derartige Aussagen aus einem Begründungssystem, das selbst einer solchen, nämlich einer unanzweifelbaren Legitimation, entbehrt. Denn, wie in Teil I der Untersuchung deutlich wurde, ein heute übliches Kunstverständnis zeigt sich stark durch die Disziplin der philosophischen Ästhetik geprägt. Dabei ist es ein traditionelles Ästhetikverständnis, wie sie sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert konstituiert, das nachhaltig Einfluss auf das Bild der Kunst nimmt. Wie gezeigt, ist ein traditionelles Ästhetikverständnis, inklusive des darin implementierten Kunstbegriffs, heute jedoch kaum mehr haltbar. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Nicht wenige betreffen zweifelhafte Aussagen und Bestimmungen zur Kunst. Als da wären: der Versuch, eine ,Kunst als solcheʻ mittels generalisierender und essentialisierender Bestimmungen zu definieren; die konzeptionelle Isolierung der Künste vom breiteren Kontext alltagskultureller Praktiken; die konzeptionelle Abtrennung von benachbarten Feldern wie ,der Wissenschaftʻ, ,der Technikʻ, ,der Politikʻ, ,der Religionʻ, ,dem Sportʻ; die Fixierung und Limitierung von Kunst auf ein ästhetisches Objekt im Sinn eines zu rezipierenden (materiellen) Kunstwerks; die Behauptung eines eigenständigen ästhetischen Funktionsmodus, der nur im Bereich der Künste zu beobachten sei; die Bestimmung dieses Funktionsmodus durch emotionale, a-rationale, non-kognitive Momente; den gleichzeitigen Ausschluss sachlich nachvollziehbarer, kognitiver, rationaler Aspekte; das Kreieren eines dem Funktionsmodus entsprechenden, am Genie-Begriff orientierten Künstlerbildes.70 Bei all diesen Aussagen und Bestimmungen handelt es sich um Punkte, die von einer traditionellen Ästhetik postuliert, dabei nicht länger philosophisch hinreichend substantiiert werden können. Führt man sich vor Augen, in welchem Maß ein vermeintlich natürlicher Kunstbegriff sich mit ästhetiktheoretischen Aussagen und Bestimmungen durchwirkt zeigt, die selbst einer soliden, tragfähigen philosophischen Fundierung entbehren, so ist es – und dies gilt es als ersten Punkt festzuhalten – durchaus fragwürdig, im Sinn von des Fragens wert, ob konventionellen Anschauungen über Kunst tatsächlich eine größere Berechtigung zugesprochen werden sollte als alternativen Auffassungen. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass konventionelle Anschauungen über Kunst falsch wären. Was es bedeutet, um dies noch einmal präzise zu sagen, ist: Sie sind nicht mehr oder minder gerechtfertigt als mögliche alternative Auffassungen. Sie sind kontingent, nicht in dem Sinn, dass sie rein zufällig ober beliebig wären, sondern im engeren Sinn des Ausdrucks, insofern, als sie zwar möglich, nicht aber zwingend notwendig sind. Zweitens sollte man sich vergegenwärtigen, dass mit dem Aufzeigen der Möglichkeit, einen Perspektivwechsel zu vollziehen und bestimmte Aspekte in den Künsten unter dem Gesichtspunkt eines Forschens zu betrachten, nicht einhergeht, dass andere Aspekte, die heute zum Bereich der Kunst gezählt werden, zwangsläufig verabschiedet werden müssten. So schließen sich das Herstellen eines materiellen, zu rezipierenden Kunstwerks – eines Gemäldes, einer Skulptur, einer Installation – und ein forschendes Vorgehen, wie etwa von Kabakov, Nauman, Whiteread praktiziert, nicht wechselseitig aus. Auch wird durch das Beachten forschender Aspekte keine neue normative Aussage getroffen. Stattdessen wurde bereits in Kapitel 1 dieser Untersuchung auf ein Spektrum an Möglichkeiten hingewiesen, das sich durch eine 70 Vgl. Kap. 1.

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Abkehr von einem traditionell verengten Kunstbegriff auftut und das es als solches, als Spektrum, zu beachten gilt. Dieses schließt die Möglichkeit ein, künstlerische Tätigkeit nicht länger als Agieren innerhalb einer abgeschlossenen Sphäre zu begreifen, sondern sie als eine konventionelle Tätigkeit anzusehen, die sich prinzipiell in derselben alltagsweltlichen Sphäre wie praktische, soziale, technische, ökonomische, wissenschaftliche Tätigkeiten bewegt (wodurch weniger der Autonomiegedanke als solcher als vielmehr die Art, ihn zu denken, einen Wandel erfährt71). Es schließt des Weiteren die Möglichkeit ein, das Bild von KünstlerInnen nicht länger gemäß eines populär-weichgezeichneten Genie-Begriffs zu konzipieren, deren Handlungsmotivationen in einem dunklen, mythischen Urgrund verborgen liegen, sondern künstlerisches Handeln als potentiell ebenso sachlich nachvollziehbar aufzufassen wie das Handeln von HandwerkerInnen, TechnikerInnen, WissenschaftlerInnen (deren konkrete Vorgehensweisen wir, wenn wir ehrlich sind, ebenfalls in den seltensten Fällen nachvollziehen können, bei denen wir, obwohl ihr Handeln sich unserem Beurteilungsvermögen entzieht, jedoch wie selbstverständlich davon ausgehen, dass für das, was sie tun, prinzipiell nachvollziehbare Gründe – und keine mythischen Urgründe – ausschlaggebend sind72). Und es schließt die Möglichkeit ein, künstlerisches Arbeiten nicht allein über das Herstellen von Produkten – somit über einen Aspekt, der im Rahmen einer kapitalistischen Verwertungslogik maßgeblich ist – zu definieren, sondern es als Agieren innerhalb eines vielgestaltigen Feldes zu verstehen, innerhalb dessen auch ein Nachdenken über kunstbezogene Fragestellungen oder ein schriftliches Niederlegen von Erkenntnissen, die aus künstlerischen Arbeitsprozessen gewonnen werden, einen ebenso festen Platz haben, wie ein freies empirisches Experimentieren, das in überhaupt kein konkretes Produkt – weder materieller noch immaterieller Art – mündet. Drittens ist festzuhalten: Wenn im Folgenden das Arbeiten im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation im Sinn eines Beitrags zu einer Forschungspraxis diskutiert werden wird, so ist das Ziel nicht, bestehende künstlerische Äußerungsformen in eine fremde, vorgefertigte und diesen äußerliche Form zu pressen. Es geht nicht darum, Bestehendes gegen seine Natur zu verbiegen, sondern im Gegenteil darum, begrifflich-konzeptionelle Konventionen von Bestehendem abzuziehen, die eben eine solche vermeintliche Natur postulieren, dabei aber tatsächlich das Gegebene in seinem Entfaltungsspielraum einschränken. Stattdessen müssen alternative (Betrachtungs-)Möglichkeiten sichtbar gemacht werden. Dies betrifft die Künste – es betrifft aber auch den Begriff ,Forschungʻ. Denn künstlerisches Tun unter diesem Gesichtspunkt betrachten kann nicht bedeuten, den Künsten ein tradiertes (philoso71 Zu einem kontextuellen Autonomiebegriff, siehe Kap. 1, insbesondere Fn. 95 und Fn. 106. 72 Auch dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, künstlerisches Handeln auf sachlich nachvollziehbare Momente zu limitieren. Was es, genau gesagt, bedeutet, ist: a) diese auch, unter anderen, anzuerkennen, b) hinsichtlich anderer Formen des Handelns nicht nur ,rein rationalʻ nachvollziehbaren Aspekten Beachtung zu schenken, c) den Begriff dessen, was allgemein als ,sachlich nachvollziehbarʻ gilt und akzeptiert wird, kritisch zu überprüfen. (Ist es weniger ,sachlich nachvollziehbarʻ, in einem Gemälde neben eine blaue Farbfläche die komplementäre Farbe Orange zu setzen, als in einer Rechnung eins und eins zu zwei zu addieren? Beruhen nicht beide Vorgehensweisen auf axiomatischen, in sich selbst nicht weiter begründbaren Anschauungen?)

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phisch-ästhetiktheoretisches) Begründungssystem zu entziehen, um ihnen im gleichen Zug das Korsett eines anderen, vorgefertigten (wissenschaftlichen) Begründungssystems überzustreifen.73 Vielmehr wird durch das Betrachten von künstlerischem Tun unter dem Forschungsgesichtspunkt mit einem konventionsverhärteten Kunstbegriff zugleich ein konventionsverhärteter Wissenschaftsbegriff in Frage gestellt. Denn um Kunst als Forschung verstehen zu können, muss dieser nicht minder von gängigen Konventionen, wie derjenigen einer einseitigen Orientierung am Leitbild der ,Naturwissenschaftenʻ oder einer strikten Kanonisierung und Abgrenzung (,der Wissenschaftenʻ gegenüber ,den Künstenʻ, ,der Naturwissenschaftenʻ gegenüber ,den Geisteswissenschaftenʻ, ,der Physikʻ gegenüber ,der Philosophieʻ, ,der Psychologieʻ, ,der Physiologieʻ etc.) befreit werden. Stattdessen gilt es zu erkunden, was sich unter begrifflichen Verkrustungen an unterschwelligen Familienähnlichkeiten offenbart – und dies auch zu einem Bereich hin, der den Wissenschaften, oder wie einst (bemerkenswerterweise) gesagt wurde, den Artes 74 , nicht zu allen Zeiten rein äußerlich war: dem Feld der Künste. 73 Oder wie Elke Bippus zu Recht feststellt: „Werden die aus den Wissenschaften geläufigen Forderungen ungebrochen in die Kunst übernommen, dann hieße dies, künstlerische Forschung in eine wissenschaftliche zu überführen und gerade hierdurch ihre Potentiale zu verschenken.“ Elke Bippus, Einleitung; in: dies. (Hrsg.), Kunst als Forschung (Zürich/Berlin: diaphanes, 2009) S.10. 74 Die artes liberales stellten in der Antike und im Mittelalter einen Kanon an Fähigkeiten dar, die jeder höhergestellte, also ,freieʻ junge Mann zu beherrschen hatte. Die erfolgreiche Aneignung der artes liberales glich somit, in unsere heutige Zeit transferiert, einer Art Abituroder Universitäts-Abschluss. Aufschlussreich ist dieser Fächerkanon insofern, als darin keine Unterscheidung zwischen Künsten und Wissenschaften, wie wir sie heute kennen, getroffen wurde. Vielmehr bezog sich der Ausdruck ,arsʻ gleichermaßen auf sämtliche gelehrte Fächer, auf die Grammatik, Rhetorik, Logik ebenso, wie auf die Mathematik, Geometrie, Astronomie, Musik. Was heute im Deutschen vergessen scheint, während etwa im Englischen der Ausdruck ,artsʻ eine gewisse Mehrdeutigkeit beibehalten hat. Interessant ist in diesem Kontext auch der heute im Deutschen ebenfalls vergessene Ausdruck der ,schönen Wissenschaftenʻ (der später zum Ausdruck ,Belletristikʻ, von ,belles lettresʻ, mutierte), zu dem noch im 17. Jahrhundert die Geschichtsschreibung ebenso gezählt wurde, wie die Rhetorik, Poesie, Musik und Malerei. Eine Aufteilung in ,Naturwissenschaftʻ und ,Geisteswissenschaftʻ, oder in ,Wissenschaftʻ und ,Kunstʻ, wie sie sich im 18. und 19. Jahrhundert etablierte und heute vermeintlich natürlich erscheint, lässt sich in vergangenen Zeitaltern also nicht beobachten. Macht man sich diesen Sachverhalt bewusst, so wird auch Baumgartens initiale Bestimmung der Ästhetik aus heutiger Sicht besser nachvollziehbar. Hierzu noch einmal Constanze Peres: Nach Baumgarten ist „die Ästhetik (1.) eine „Theorie der freien und schönen Künste / theoria liberalium artium“, (2.) eine „Erkenntnislehre und Logik der unteren oder sinnlichen Erkenntniskräfte / gnoseologia inferior“, (3.) eine „Lehre und Kunst des schönen oder ästhetischen Denkens / ars pulcre cogitandi“, (4.) eine „Lehre und Kunst des vernunftanalogen Denkens / ars analogi rationis“. Für alle vier Alternativbezeichnungen und thematischen Gewichtungen gilt, dass sie als „Wissenschaft“ der sinnlichen Erkenntnis definiert sind. Auch „ars“ kann demnach nicht im heutigen Sinne von „Kunst“ verstanden werden, sondern in der alten Bedeutung einer „Lehre“ oder „angewandten Theorie“, die, wenn jemand ihr Wissen beherrscht, auch die

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Fertigkeit und „Kunst“, sie anzuwenden, impliziert.“ Zitat: Constanze Peres, Sinnliche Erkenntnis – Experiment – Induktion (Online-Veröffentlichung). Zum Begriff der ,schönen Wissenschaftenʻ, siehe: Werner Strube, Die Geschichte des Begriffs ,schöne Wissenschaftenʻ; in: Erich Rothacker/Hans-Georg Gadamer (Hrsg.), Archiv für Begriffsgeschichte, Bd.33, 1990, S.136-216.

Teil IV

Kapitel 9 Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt

In Teil IV wird ein ebenso hypothetischer wie realistischer Ausblick gewagt. Dieser baut auf der folgenden Frage auf: Angenommen, philosophische und künstlerische Positionen, wie sie soweit behandelt wurden, trügen nicht allein Züge eines Forschens an sich, sondern verstünden sich in Zukunft, hinsichtlich dieser Züge, auch selbst und explizit im Sinn einer kollaborativen Forschung, einer künstlerischphilosophisch basierten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, wie würde ein solches Forschen aussehen? Eingebettet in allgemeine Überlegungen zum Begriff ,Forschungʻ und potentiellen Forschungscharakter (einleitend sowie unter 9.4), wird dieser Frage konkret anhand dreier Aspekte nachgegangen, die sich mit dem Gedanken des Forschens verbinden – respektive: ohne die von Forschung zu sprechen schwer vorstellbar ist. Dies sind a) ein spezifisches Gegenstandsgebiet (9.1), b) spezifische Probleme und Fragestellungen innerhalb dieses Gegenstandsgebiets (9.2) und c) spezifische methodische Mittel und Herangehensweisen, mittels derer besagte Fragestellungen behandelt werden können (9.3). Mit der Skizzierung einer kollaborativ verfassten, künstlerisch wie philosophisch basierten, empirisch wie reflexiv agierenden Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt wird die vorliegende Untersuchung an ihrem Zielpunkt angelangt sein. Denn die gedankliche Bewegung, die in Teil I mit einer kritischen Distanznahme von einem gemeinsamen Ausgangspunkt einsetzte, die sodann in Teil II und Teil III in zwei Bereichen parallel fortgeschritten war, und die schließlich in Teil IV eine Möglichkeit aufzeigt, wie beide Bereiche innerhalb eines konkreten Feldes ein neues, gewandeltes Verhältnis miteinander einzugehen vermögen, wird hiermit abgeschlossen sein. Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt als Forschung Wie könnte eine kollaborative Untersuchung (gebauter) menschlicher Umwelten bzw. der Art und Weise, wie diese von Menschen im alltäglichen Umgang wahrgenommen werden, konkret aussehen? Und inwiefern handelt es sich dabei um Forschung? Zunächst, den gedanklichen Faden des vorausgehenden Kapitels aufgreifend, einige Überlegungen zum zweiten Punkt. Klar ist, dass es sich, auch wenn es sich bei einer kollaborativ verfassten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt um eine Forschung handeln wird, so doch um keine Forschung handeln kann, wie sie in dieser Form bereits besteht, weshalb auch die Frage, ob es sich um eine Forschung handelt, letztlich nicht sinnvoll gestellt

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oder beantwortet werden kann, da es hierzu eben jener Art von Forschung, die es noch nicht gibt, bereits bedürfte.1 Dieser Satz mag tautologisch anmuten, hat aber klare Konsequenzen. Denn ein Abgleich mit etablierten Forschungsstandards, wie sie für diesen oder jenen Wissenschaftsbereich gelten, dürfte hinsichtlich der Frage, ob es sich bei einer künstlerisch-philosophisch basierten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt um eine Forschung handelt oder nicht, letztlich wenige bis gar keine Erkenntnisse zu Tage fördern. Hierzu ein Beispiel: Ein Abgleich mit Standards, wie sie im Bereich ,der Naturwissenschaftenʻ, etwa im Bereich Astrophysik, bestehen, dürfte wohl – wie jedenfalls stark anzunehmen ist – die Erkenntnis liefern, dass diese durch eine künstlerisch-philosophisch basierte Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nicht erfüllt werden. Was aber wäre damit anderes gewonnen als die Einsicht, dass es sich bei einer künstlerisch-philosophisch basierten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nicht um ,Naturwissenschaftʻ und insbesondere nicht um Astrophysik handelt? (Ein solcher Abgleich mag gewisse Hinweise hinsichtlich des zu erwartenden Forschungscharakters geben, nicht aber hinsichtlich der Frage, ob es sich überhaupt um Forschung handelt; vgl. 9.4.) Relevant für eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt wären die bestehenden Kriterien im Bereich Astrophysik allenfalls dann, wenn beide Felder sich auf vergleichbare Weise mit einem vergleichbaren Gegenstandsgebiet befassten. Sicher könnten Sonnensysteme, ferne Galaxien, die unermesslichen Weiten des Weltalls potentiell auch unter dem Gesichtspunkt einer Erforschung der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität des Menschen eine Rolle spielen. Angesichts des, recht wörtlich, schier endlos weiten Themenfeldes, das diese der Astrophysik darbieten, nimmt sich diese Rolle allerdings erdenklich limitiert aus: Sie besteht in einem Himmel, sei er sonnendurchflutet, wolkenverhangen, verregnet oder sternenbeschienen, wie er als Teil einer konkreten (gebauten) menschlichen Umwelt, etwa einer urbanen oder ländlichen Region, die auf ihre aisthetische Wahrnehmungswirkung hin untersucht wird, in Erscheinung tritt. 2 Doch selbst wenn Menschen ins Weltall umsiedeln und dieses zu ihrer alltäglichen Umwelt machen würden, so würde dies nichts an dem Sachverhalt ändern, dass beide Bereiche grundsätzlich andere Gegenstandsgebiete besitzen. Denn was ein Gegenstandsgebiet ist, bestimmt sich letztlich erst durch eine jeweilige Forschungsperspektive, die darauf gerichtet wird. 1

2

Im Grunde ist dies alles, was zum Thema sinnvoll gesagt werden kann und gesagt werden sollte. Denn die Versuchung, die Frage, ob es sich bei einer neuartigen Art von Forschung um Forschung handelt oder nicht, an bestehenden Standards auszurichten, ist groß. Einen interessanten, da differenzierten Versuch, künstlerische und philosophische Erkenntnisformen mit (natur-)wissenschaftlichen zu vergleichen, macht Dieter Mersch in Kunst als epistemische Praxis. Was der Artikel zeigt, ist allerdings: letztlich mündet jeder Versuch, selbst der differenzierteste, von einem konventionellen Wissenschafts-, Philosophie- und Kunstverständnis auszugehen, unweigerlich in einen Zirkelschluss, der allein das zu Tage fördern kann, was er zunächst selbst zur Voraussetzung gemacht hatte: nämlich dass (Natur-)Wissenschaft, Kunst und Philosophie sich unterscheiden. Zu einem neuen Forschungsbegriff ist auf diesem Weg nicht zu gelangen. Vgl. Dieter Mersch, Kunst als epistemische Praxis; in: Elke Bippus (Hrsg.), Kunst als Forschung (Zürich/Berlin: diaphanes, 2009) S.27-47. Vgl. Kap. 2.3 und die dort zitierten Artikel von Yuriko Saito (The Aesthetics of Weather) und Pauline von Bonsdorff (Building and the naturally unplanned).

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Und ist die Perspektive, aus der heraus ein Bereich forscht, eine grundverschiedene, so tritt auch ein jeweiliges Gegenstandsgebiet grundverschieden in Erscheinung. (Die Sonne mag als Teilaspekt einer spezifischen menschlichen Umwelt – gleich ob auf Erden oder einer synthetischen menschlichen Umwelt im extraterrestrischen Bereich – wahrgenommen werden, ebenso wie sich die Sonne im Zentrum unseres Sonnensystems befindet. Dennoch ist die Sonne als alltäglich wahrgenommener Bestandteil einer spezifischen menschlichen Umwelt nicht Gegenstand der Astrophysik, ebenso wie die Sonne als Zentrum unseres Sonnensystems nicht Gegenstand einer Erforschung des alltäglichen menschlichen Umweltwahrnehmens ist.3) Kriterien für Forschung von einem Bereich auf einen anderen Bereich zu übertragen, welcher eine andere Betrachtungsperspektive auf ein Gegenstandsgebiet richtet, somit automatisch ein divergierendes Gegenstandsgebiet besitzt, somit automatisch andere Fragestellungen an dieses hat, und hierdurch letztlich ebenso unweigerlich andere Methoden und Mittel zum Einsatz bringen muss, ist also weder möglich noch sinnvoll.4 Was aber bleibt übrig? Welche Forderung kann an eine Forschung gestellt werden, die hinsichtlich ihrer Perspektive, ihres Gegenstandsgebiets, ihrer Fragestellungen und Probleme, ihrer methodischen Mittel und Herangehensweisen allenfalls eine potentiell mehr oder weniger große Ähnlichkeit, sicher aber keine absolute Übereinstimmung mit einem schon existenten Forschungsgebiet zu besitzen verspricht? Letztlich kann wohl allein dies sinnvoll gefordert werden, dass eine neuartige Forschung überhaupt über besagte Aspekte verfügt: 1. ein Gegenstandsgebiet, auf das eine spezifische Betrachtungsperspektive angewendet wird 2. spezifische Probleme und Fragestellungen innerhalb dieses Gebietes 3. spezifische methodische Mittel und Herangehensweisen, mit denen an besagten Problemen und Fragestellungen gearbeitet werden kann5 3 4

5

Zu unterschiedlichen menschlichen Erfahrungsdimensionen, siehe Kap. 5.2. Schon Martin Heidegger kritisiert die Annahme, dass sich ein Gegenstandsgebiet per se untersuchen lasse, losgelöst von einer bestimmten Perspektivität, die spezifische Fragestellungen, Probleme und Methoden mit sich führt. So wenn er ausführt, dass Husserl „eindringlich zum Bewußtsein gebracht“ habe, dass „echte Methode [...] dem Grundcharakter eines bestimmten Gegenstandsgebietes und seiner Problematik entwächst“, um im Anschluss diese, bereits in sich beachtenswerte Feststellung weiter einer kritischen Denkbewegung zu unterziehen. So fragt Heidegger, was dies seinerseits nun eigentlich heißen solle, „die Methode erwächst einer bestimmten Problematik einer Gegenstandsregion? Was heißt Problem? Liegen denn Probleme einfach nur in dem betreffenden Gegenstandsgebiet gleichsam am Wege, dass man sie aufgreift und nach ihnen Methode gestaltet! Oder erwachsen die Probleme nicht selbst erst, und zwar in der Weise der Fragestellung, in der Methode, bezogen auf das betreffende Gegenstandsgebiet? [...] Und dieses? Liegt das einfach schlicht da, so dass man nur Fragen in es hineinzusenden braucht? Ist es schlecht und recht gegeben, vorgegeben? Was heißt ,gegebenʻ [...]?“ Vgl. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20); Gesamtausgabe, Bd.58, herausgegeben von Hans-Helmut Gander (Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1993) S.4. Einmal mehr handelt es sich eine operative Merkmalsbestimmung und keine Definition von Forschung. Handelte es sich um einen konventionellen Definitionsversuch, mit den

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9.1 G EGENSTANDSGEBIET Wie steht es mit den genannten Anforderungen? Gibt es ein Gegenstandsgebiet, auf das sich Ansätze aus dem Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation und solche aus dem Bereich einer Alltags- und Umweltästhetik, mittels einer gemeinsamen Perspektive richten könnten? Diese Frage wurde bereits beantwortet: Ein gemeinsames Gegenstandsgebiet konnte in der Tat identifiziert werden. Es liegt im Bereich der (gebauten) menschlichen Umwelt, und näherdings in der Art und Weise, wie diese mittels unterschiedlicher Wirkmechanismen auf ein aisthetisch aufgefasstes menschliches Wahrnehmen einwirkt. Oder, alternativ, vom Standpunkt des wahrnehmenden Menschen aus formuliert: Die Aufgabe einer künstlerisch-philosophisch basierten Aisthetik besteht in der Untersuchung der Art und Weise, wie Menschen eine (gebaute) Umwelt mittels aisthetischer Wirkmechanismen alltäglich erfahren.6 Dass es sich hierbei um eine ebenso spezifische Betrachtungsperspektive, wie – in der Folge – um ein originäres Gegenstandsgebiet handelt, dies macht der Versuch deutlich, die in der Bezeichnung vorkommenden Termini, wie sie nunmehr angesichts konkreter Kontexte näher bestimmt wurden, durch anderslautende zu ersetzen: Der Begriff ,aisthesisʻ erweist sich angesichts eines derartigen Unterfangens als ebenso schwer substituierbar wie jener der ,(gebauten) menschlichen Umweltʻ. Zwar ist eine Übersetzung von ,aisthesisʻ mit ,Wahrnehmenʻ, wie in Kapitel 3 festgestellt wurde, prinzipiell möglich. Gegenüber einem alltagssprachlichen Wahrnehmungsbegriff bringt ,aisthesisʻ jedoch eine spezifische Auffassung zum Ausdruck (oder, wie man mit gleicher Berechtigung sagen könnte: der alltagssprachliche Wahrnehmungsbegriff bringt eine spezifische Auffassung zum Ausdruck, von welcher jener der ,aisthesisʻ frei ist). Denn der Begriff bezeichnet einerseits auf präzise Weise, andererseits gezielt im Sinn eines operativen Terminus einen Bereich zwischen vermeintlich ,rein Sensorischemʻ und ,rein Kognitivemʻ; einen Bereich also, den man auch als ,sinnliches Verstehenʻ, ,sinnliche Erkenntnisʻ oder, szientistisch angehaucht, als ,sinnliche Kognitionʻ respektive ,embodied cognitionʻ bezeichnen könnte. (Zum aisthesis-Begriff, siehe ausführlicher Kap. 3, 5, 11.) Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Teil der Benennung, der Formulierung ,(gebaute) menschliche Umweltʻ. An welchen alternativen Begriff man hier auch denken mag: ,Stadtʻ, ,Landschaftʻ, ,gebauter Raumʻ, ,sozialer Raumʻ, ,Lebensweltʻ – alle befassen sich mit einem ähnlichen Gegenstandsgebiet. Durch keinen der genannten Begriffe kommt jedoch die spezifische Perspektivität, die mittels der Formulierung einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt eingebracht wird, zum Ausdruck. Nur der Begriff ,Umweltʻ verweist auf ein konstellatives Verhältnis, das nicht entweder die Seite des Menschen (wie angesichts der Begriffe ,sozialer Raumʻ oder ,Lebensweltʻ der Fall) oder die Seite des Umgebenden (wie bei den Begriffen ,Stadtʻ, ,Landʻ, ,gebauter Raumʻ gegeben) isoliert betrachtet. Stattdessen werden durch die Bezeichnung ,(gebaute) menschliche Umweltʻ beide Seiten zusammenge-

6

genannten Aspekten wären allenfalls notwendige, nicht aber hinreichende Kriterien angegeben. Wobei mit der Frage nach aisthetischen Wirkmechanismen nicht nur eine instantane – also auf den Augenblick beschränkte – Wirkungsweise gemeint ist, sondern potentiell ebenso nachhaltige, langfristig effektive Formen der aisthetischen Beeinflussung. Vgl. Kap. 11.

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führt und um die präzisierende Fragestellung nach der aisthetischen Erfahrbarkeit herum zentriert. (Zum Umwelt-Begriff als konstellativem Begriff, der stets beides, ein Umgebendes und ein Umgebenes einbezieht, siehe Kap. 2, 5.) Originär ist das Gegenstandsgebiet einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt also. Der Umstand, dass es gewisse Berührungspunkte oder Schnittmengen mit benachbarten Forschungsfeldern geben dürfte, ist dabei nicht als Widerspruch anzusehen (wie insbesondere das abschließende Kapitel 11 noch einmal explizit zeigen wird). Vielmehr vermag eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt von einer derartigen Einbettung in einen weiteren Forschungskontext potentiell zu profitieren, so, wie sie umgekehrt ihre Erkenntnisse mit benachbarten Feldern zu teilen in der Lage ist. Eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt konkurriert in diesem Sinn nicht mit anderen Beschreibungssystemen. Sie ergänzt sie komplementär. Nun deckt eine Antwort, wie sie soeben gegeben wurde, eine erste Facette der Frage nach dem Gegenstandsgebiet ab. Eine andere Facette stellt der Aspekt des Verbindenden dar. Oder in anderen Worten: Inwiefern handelt es sich nicht allein um ein ,originäresʻ, sondern auch um ein ,gemeinsamesʻ Gegenstandsgebiet? Dass dieser Aspekt der Fragestellung ebenfalls positiv zu beantworten ist, dies wurde im Zuge der Diskussion des vorausgehenden Kapitels deutlich. Insbesondere verweisen hierauf die unter 8.1 konstatierten konzeptionellen Gemeinsamkeiten zwischen künstlerischen und philosophischen Positionen, die eine Übereinstimmung in der Perspektive, somit eine Übereinstimmung im Gegenstandsgebiet gewährleisten. Eine stichpunktartige Aufzählung kann eine differenzierende Betrachtung, wie sie im letzten Kapitel vorgenommen wurde, nicht ersetzten. Um derartige Gemeinsamkeiten aber zumindest knapp in Erinnerung zu rufen – dabei handelte es sich um die folgenden Punkte: (1) Das ,Mensch-Umraum-Verhältnisʻ als der grundlegende Gedanke, sich wahrnehmendem Menschen und wahrgenommener Umgebungen nicht isoliert voneinander, sondern in ihrer Verbundenheit zuzuwenden, wobei (2) beide nicht als ,in sich verschlossenʻ aufgefasst werden, sondern als, mittels des an die Physis gebundenen Wahrnehmens, konstitutiv aufeinander ausgerichtet. Diese grundlegende konzeptionelle Gemeinsamkeit kann weiter ausdifferenziert werden in: (3) Die Betonung eines multisensorischen Wahrnehmens, bei dem einzelne Wahrnehmungsdimensionen thematisieren bzw. bewusst und gezielt eingesetzt werden, während andererseits zugleich (4) ein synthetisches Wahrnehmen – im Fall der theoretischen Positionen konzeptionell, im Fall der künstlerischen Positionen medial – zur Voraussetzung gemacht wird. Das Thematisieren bzw. Einsetzen einer aktiven perzeptiven Physis; und dies im doppelten Sinn (5) eines Leibes, der sich mittels seiner Perzeptivität nach außen richtet und (6) eines dynamischen Momentes, bei dem der Leib selbst als bewegt aufgefasst bzw. eingesetzt wird, wobei (7) eine Erste-Person-Perspektive eingenommen wird. (8) Auf Seiten des Umgebenden: der Gedanke, Installationen bzw. Umwelten als komplex verfasste Wahrnehmungsgefüge aufzufassen, deren (9) unterschiedlichste konkrete Detailaspekte es gezielt zu bearbeiten bzw. thematisieren gilt. (10) Die spezifische Art und Weise, wie sinnliches Wahrnehmen eingesetzt respektive im Sinn von aisthesis konzipiert wird. (Wobei, streng genommen, angesichts dieses Punktes eher von einer ,Paralleleʻ als von einer ,Gemeinsamkeitʻ gesprochen werden sollte.) Neben den festgestellten Übereinstimmungen konzeptioneller Art wurden weitere Gemeinsamkeiten methodischer Art konstatiert. Einen ver-

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bindenden Ausgangspunkt hierfür liefert der nicht allein konzeptionell, sondern auch methodisch wichtige Aspekt der Erste-Person-Perspektive. Diese erlaubt beiden Seiten, selbst philosophischen Ansätzen, ein experimentelles Vorgehen bzw. ein systematisches Erkunden sowie das Arbeiten mit einer weiten Spanne von empirischen bis hin zu reflexiven Mitteln. Derartige methodische Mittel und Herangehensweisen werden unter 9.3 noch ausführlicher zu behandeln und in weitere Punkte auszudifferenzieren sein. Hinsichtlich der Frage nach einem gemeinsamen Gegenstandsgebiet ist nun hingegen weniger wichtig, wie viele Gemeinsamkeiten im Detail identifiziert werden können, als vielmehr die Frage, ob diese hinreichend signifikant sind, um sich in ihrer Bündelung zu einer gemeinsamen Perspektive zu verdichten; sowie – was nicht vergessen werden darf – die Frage, ob es sich überhaupt um echte Gemeinsamkeiten handelt (also um Aspekte, die in jedem der Bereiche für sich genommen anzutreffen sind und die sich erst in einem zweiten Schritt, im Rahmen eines sachlich-neutralen Abgleichs, als übereinstimmend erweisen. Im Gegensatz zu Ansätzen, Begriffen, Konzepten, die in einem Bereich entwickelt und auf einen anderen angewandt bzw. übertragen werden. Dieser Unterschied ist wichtig.) Eine letzte Facette der Fragestellung richtet sich auf die Art, wie ein derartiges, nunmehr gegenüber anderen Bereichen als ,originärʻ und als ,gemeinsamesʻ bestimmtes Gegenstandsgebiet immanent konstituiert ist; oder, wie andernorts gesagt wurde: welche Verdichtungspunkte, welche unterschiedlichen thematischen Dimensionen es aufweist. Nicht zu trennen, aber analytisch zu unterscheiden, gilt es in dieser Hinsicht zwischen einer Aisthetik im weiteren und einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt im engeren Sinn. Eine Aisthetik könnte, neben den in Kapitel 5 angesprochenen Dimensionen, potentiell noch weitere Schwerpunktfelder ausbilden. So wäre es bspw. denkbar, dass sie sich eines Tages auch dem Bereich des Virtuellen im Sinn eines eigenen Verdichtungspunktes zuwendet. Allerdings, so viel dieser als innovativ – und aktuell geradezu als einzig innovativ – aufgefasste Bereich auch an Aufmerksamkeit auf sich ziehen mag, vom Standpunkt einer Aisthetik aus betrachtet erscheint er doch eher peripher. Großen Einfluss besitzen elektronische Hilfsmittel, Computer und entsprechende Softwares, heute auf die Gestaltung (gebauter) menschlicher Umwelten. Virtuelle Welten, die eigenständige wahrnehmungsbezogene Erfahrungsrealitäten generieren und dabei den Menschen als ganzes physisch verfasstes Wesen ansprechen, statt ihn auf einzelne Aspekte, wie etwa die Auge-Hand-Koordination, zu beschränken, sind indes rar. Sie stellen bislang selbst eher eine virtuelle Fiktion denn den virtuellen Alltag dar. (Dies soll keine Ignoranz gegenüber dem Thema sein. Aber es bedarf einer realistischen Einschätzung von dessen Tragweite.) Die Frage, welche Arbeitsfelder im konkreten eine Aisthetik besitzt bzw. besitzen wird, ist also, wie das Beispiel zeigt, nicht kategorisch, sondern nur situativ, geknüpft an eine jeweilige Zeit und ihre drängenden Fragestellungen, zu beantworten. (Wobei es zwischen echten Problemfeldern, die nicht immer als solche offensichtlich sein mögen, und vermeintlichen, die allein auf Anhieb als solche erscheinen, zu unterscheiden gilt.) Die Arbeitsfelder einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt im engeren Sinn lassen sich heute indes wie folgt benennen: Da wäre zunächst der Bereich eines konkreten, alltäglichen Wahrnehmens (gebauter) menschlicher Umwelten (wie unter 5.3 behandelt). Dieser verkörpert einen thematischen Verdichtungspunkt von besonderer Bedeutung. Er bildet sozusagen ein epistemisches Gravitationszentrum

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aus. Denn es ist dieser Bereich, der den Ausgangspunkt für die praktische wie theoretische Auseinandersetzung mit den anderen genannten Schwerpunktfeldern liefert (vgl. 5.2-5.4). Bei diesen handelt es sich, um noch einmal knapp zu rekapitulieren: (a) um eine wahrnehmungstheoretische, (b) eine erkenntnistheoretische und (c) eine gesellschaftsbezogene Dimension (inklusive der damit einhergehenden sozialen, ökonomischen, politischen, ethischen Fragestellungen). Alle Felder sind im Rahmen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nicht isoliert voneinander, sondern im Verbund miteinander zu untersuchen.

9.2 P ROBLEME

UND

F RAGESTELLUNGEN

Sehen wir weiter: Gibt es spezifische Probleme und Fragestellungen, denen sich eine künstlerisch-philosophisch basierte Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zuwenden könnte? Dass dies der Fall ist, wurde ebenfalls bereits deutlich (vgl. Kap. 5 und 8). Auch diesbezüglich bedarf es an dieser Stelle also allenfalls einer zusammenfassenden, Überblick bietenden Darstellung. Dabei ist zu beachten, dass mögliche Frage- und Problemstellungen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt in einem weiten Feld aufgespannt sind, das sich von konkreten Einzelfallbezogenen, bis hin zu komplexen übergreifenden Fragestellungen erstreckt. Dieses Feld in Gänze hinsichtlich einzelner Problemfelder zu ordnen, dürfte angesichts einer Forschung, die bislang allein hypothetisch oder richtiger: allein latent existiert, kaum möglich sein. Zumindest sollen im Weiteren aber einige Probleme und Fragestellungen herausgegriffen werden, wie sie sich bereits jetzt abzeichnen. Elementare Fragestellungen Eine erste Gruppe von Fragestellungen innerhalb des weiten Feldes einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt kann als Bereich der elementaren Fragestellungen bezeichnet werden. Mit ,elementarʻ soll dabei zweierlei zum Ausdruck gebracht werden: Zum einen, dass es sich um basale, grundlegende Fragestellungen handelt; zum anderen, ganz wörtlich, um ,Elementeʻ, wie man sie beispielsweise in einem chemischen Periodensystem oder – um einen weniger ,naturwissenschaftlichʻ konnotierten Vergleich zu wählen – als Bausteine in einem Baukasten findet. Statt von Elementen wäre es prinzipiell ebenso möglich, von Phänomenen oder Phänomengruppen zu sprechen. Allerdings verbindet sich mit diesen Ausdrücken allzu leicht der Gedanke von transhistorisch, transkulturell gültigen, ja wesenhaften Entitäten. Dass dem nicht so sein muss, macht die jüngere phänomenologische Tradition deutlich. 7 Dennoch soll hier, um mögliche Missverständnisse von vornherein auszuschließen, das einfache sprachliche Bild des Bausteins oder Elements bevorzugt werden. Was ist konkret mit solchen Elementen oder Bausteinen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt gemeint? Ein offensichtliches Beispiel, schon auf Grund der Ausgiebigkeit, mit der es bei Gernot Böhme behandelt wird, sind Atmosphären, wie sie, nicht im Sinn der böhmeschen Wahrnehmungstheorie, sondern als konkretes Phänomen auch Ilya Kabakov thematisiert. Was es anhand dieses Elements 7

Vgl. Kap. 11, Fn. 81.

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zu untersuchen geben könnte, machen beide Positionen auf jeweils eigene, dabei verwandte Weise deutlich. Es sind Fragestellungen wie die Folgenden: In welchen unterschiedlichen Formen treten Atmosphären angesichts (gebauter) menschlicher Umwelten in Erscheinung (bspw. als heitere, düstere, nüchterne Atmosphären)? Worauf basieren Atmosphären bzw. mit welchen Mitteln können sie hergestellt werden (Aspekte wie Licht, Farbe, Klang)? Wo und wie treten Atmosphären jenseits der (gebauten) menschlichen Umwelt noch in Erscheinung (etwa in der natürlichen Umwelt oder zwischen Menschen)? Weiter könnte gefragt werden: Wenn von Atmosphären die Rede ist, handelt es sich dann tatsächlich immer um wahrnehmungsbezogene Wirkungsweisen oder, möglicherweise, zuweilen allein um metaphorische Ausdrücke (ist die heitere Atmosphäre des Tals, in dem ich mich befinde, tatsächlich als räumliche Wirkung erfahrbar – oder handelt es sich nicht eher um eine sprachliche Konvention, einen Euphemismus, mit dem der örtliche Tourismusverein mich von den Reizen der hiesigen Landschaft zu überzeugen sucht)? Für das Element Atmosphäre leisten die Positionen Kabakovs und Böhmes bereits wichtige Grundlagenarbeit. Neben diesem gibt es aber noch etliche weitere wahrnehmungsbezogene Wirkungsweisen, die im Sinn von einfachen Elementen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt in Betracht zu ziehen und zu erforschen sind. Als Beispiele ist zu denken an Bewegungsanmutungen, Aufforderungscharaktere, hodologische Wirkungen, Einfühlungsmomente, kinästhetische (mittels unterschiedlicher Bewegungsmodi erfahrene) Wirkungen, Toplogische Wirkungen (physische Erfahrung von Lagebeziehungen zueinander aber zugleich eben immer auch in Bezug auf die perzeptive Physis), Vertrautheits-/Fremdheitswirkungen, Alters-/Neuheitswirkungen, Zustandswirkungen (,vernachlässigtʻ/,gepflegtʻ, ,chaotischʻ/,geordnetʻ) – allesamt Aspekte, die in üblichen Beschreibungssystemen vernachlässigt werden. Doch auch vermeintlich konventionelle, dabei unter aisthetischen Gesichtspunkten – also hinsichtlich ihrer Wirkungsweise auf die perzeptive Physis (und eben dies ist der entscheidende Unterschied) – keineswegs hinreichend erforschte Phänomene gilt es in die Betrachtung einzubeziehen, Aspekte wie dimensionale Wirkungen, Größenwirkungen, Proportionen, Massen, Volumen, Formen, Flächen, Konturen, Texturen, Strukturen, Muster, Materialwirkungen, Oberflächenwirkungen, Beleuchtung, Licht, Helligkeit/ Dunkelheit, Farben, Gerüche, Geschmäcker, Klänge/Geräusche, Harmoniewirkungen, Ikonische Wirkungen, symbol-/zeichenhafte Wirkungen (die sich mit anderen Wirkungsweisen, wie Farb- oder Lichtwirkungen, verbinden mögen; Beispiele: Verkehrsschild, Ampel). Wenn derartige wahrnehmungsbezogene Wirkungsweisen an dieser Stelle als ,Elementeʻ bezeichnet werden, so nicht allein, um möglichen Missverständnissen hinsichtlich eines Phänomenbegriffs vorzubeugen. Sondern auch deshalb, weil damit auf eine bestimmte Möglichkeit hingewiesen werden soll, wie sie sich in obiger Aufzählung bereits andeutet und für eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt anbietet. Nämlich besagte Elemente explizit als solche herauszuarbeiten und sie – gleich Bausteinen in einen Baukasten – einzusortieren in eine Überblick bietende und als epistemisches Arbeitswerkzeug dienende Auflistung wahrnehmungsbezogener Wirkungsweisen (gebauter) menschlicher Umwelten. Der im Gegensatz zu Ausdrücken wie ,Taxonomieʻ, ,Klassifizierungssystemʻ, ,Kategorienbildungʻ wenig nach einem andauernden, festen Ordnungsgefüge klingende Vergleich mit einem Baukasten ist dabei mit Vorsatz gewählt. Denn eine entsprechende Systematisierung

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hat stets die Balance zu halten zwischen dem Bemühen einer ordnenden Identifizierung von Elementen (respektive ,Phänomenenʻ oder ,Phänomengruppenʻ) einerseits und dem Bewussthalten des letztlich artifiziellen, allein operativen Zwecken dienenden Charakters einer derartigen Identifizierung andererseits. Gernot Böhmes Phänomenologie des Lichts, Arnold Berleants Taxonomie des urbanen Sounds oder Ilya Kabakovs topologische Typologie könnten als erste Beiträge zu einem derartigen Elemente-Baukasten aufgefasst werden. 8 In allen drei Fällen werden Phänomengruppen als solche identifiziert und in einem Folgeschritt weiter differenzierend untersucht. Elemente werden also gleichsam in ihre Unterelemente, große Bausteine in kleinere Bausteine, zerlegt. Dabei wird deutlich, dass etwa die Phänomengruppe Licht sich hinsichtlich ihrer weiteren Differenzierungsmöglichkeiten von der Phänomengruppe Sound unterscheidet (Gernot Böhme beschreibt zwei große Phänomengruppen, die des ,Lichts als Lichtʻ und die der ,Beleuchtungʻ, die sodann weiter aufgefächert werden; Arnold Berleant konstatiert seinerseits vier große Obergruppen, die von natürlichen über organische und mechanische bis zu elektronischen Sounds reichen). Die jeweilige Auffächerung richtet sich also nach dem untersuchten Gegenstand – und nicht etwa nach einem vorgegebenen Untersuchungsraster. 9 Andererseits stellt auch eine derartige Binnenuntergliederung, ihres differenzierten und differenzierenden Charakters, der sich auf ein jeweiliges Element fallspezifisch einstellt, zum Trotz, einen unweigerlich artifiziellen Eingriff in den Gesamtzusammenhang des Wahrnehmens dar. (Hierauf weist nicht zuletzt der Umstand hin, dass beide Autoren bei genauer Betrachtung hinsichtlich unterschiedlicher Gesichtspunkte systematisieren: Gernot Böhme ordnet bezüglich des Gesichtspunktes umraumbezogene bzw. umraumbildende Wirkung, Arnold Berleant unter dem Gesichtspunkt herkunftsbedingter Charakter.) Im Alltag wird Licht oder Sound indes weder als ,Phänomen per seʻ, noch als bspw. ,Lichter im Raumʻ (Böhme) oder als ,organische Geräuscheʻ (Berleant) wahrgenommen. Vielmehr werden sie als konkrete Eindrücke, etwa als ,der Schein dieser Kerzeʻ oder als ,die Stimme dieses Vogelsʻ in einem einmaligen und nicht verallgemeinerbaren Wahrnehmungskontext erfahren. Das Einsortieren von Elementen in einen Baukasten, wie differenziert es auch vonstattengehen mag, fügt also einer alltäglichen Wahrnehmungsrealität unabdingbar eine ihr äußerliche Rasterung zu, die diese selbst nicht kennt.10

8 9

Vgl. Kap. 3.4, 4.5, 7.3, 8.2. Wie die beiden oben genannten Beispiele zeigen, ist also davon auszugehen, dass nicht alle Phänomengruppen nach ein und demselben Strickmuster behandelt werden können, sondern sie im Gegenteil auf ihre spezifische Eigenlogiken hin zu untersuchen sind. Mehr hierzu im Anschluss in Kapitel 11 (insbesondere 11.3 zu Ludwig Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem Einzelelement Farbe). 10 Ein operatives Vorgehen, wie oben beschrieben, darf also keinesfalls mit einem atomistischem Wahrnehmungsmodell auf Sachebene verwechselt werden, welches einzelne Phänomengruppen, wie ,das Geräuschehörenʻ als real gegebenen Effekt und als Summe von Unter-phänomenen, wie ,dem Hören von natürlichen Geräuschenʻ, ,dem Hören von organischen Geräuschenʻ, ,dem Hören von mechanischen Geräuschenʻ etc. konzipiert. Wie gesagt: Das ,Phänomen Geräuschʻ kann gedacht werden, ist eine Kategorie des Denkens, nicht aber des Wahrnehmens.

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Dennoch dürfte es sich hierbei, im Sinn einer bewusst operativen, stets vorläufigen Maßnahme zwecks Gewinnung eines Überblicks im weiten Feld der Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, um eine sinnvolle Vorgehensweise handeln. Übergeordnete Fragestellungen Andere Fragenkomplexe dürften sich weniger leicht gruppieren und ordnen lassen – so übergeordnete Fragestellungen, für die das treffende Bild weniger jenes eines Baukastens als das von Leitmotiven – oder besser: von durchgängigen, immer wieder zu Tage tretenden Strängen – ist, die das Gewebe der Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt durchziehen, sich zuweilen berühren oder kreuzen – und eben hierdurch verflechten. Das Bild mag an dieser Stelle genügen, um auf den Charakter und die Rolle entsprechender Fragestellungen innerhalb einer aisthetischen Forschung hinzuweisen. Als konkrete Beispiele ist in diesem Kontext an Fragestellungen zu denken, wie sie unter Punkt 8.3.2 angeführt wurden: große Fragen, wie jene nach der perzeptiven Physis im Sinn eines natürlichen oder sozialisierten Leibes oder nach dem Verhältnis kognitiver und sensorischer Anteile von aisthesis. Auch an die unter 8.3.1 anhand von Gernot Böhme und Dan Graham angesprochene, nicht minder große Frage des Verhältnisses von Wahrnehmen und Sprache ist zu denken. Inwiefern nicht allein eine aus den Bereichen installative Kunst und philosophische Ästhetik hervorgehende und getragene Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, sondern zudem ein weiter disziplinär vernetztes Forschen zur Bearbeitung übergeordneter Fragestellungen beitragen könnte, dies wird im abschließenden Kapitel 11 exemplarisch anhand der drei soeben genannten Fragestellungen skizziert werden. Wichtig ist jedoch die Feststellung, dass eine gezielte fallspezifische trans- bzw. interdisziplinäre Vernetzung mit anderen künstlerischen und/oder wissenschaftlichen Forschungsbereichen zwar stets möglich ist und angesichts von komplexen Fragestellungen, wie den oben genannten, auch in der Tat sachdienlich sein dürfte, dass sie aber dennoch nie losgelöst vom Hauptaktionsbereich einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt stattfinden sollte. Konkrete Fragestellungen Dieser Hauptaktionsbereich einer nicht allein konzipierten, sondern real praktizierten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt dürfte im weiten Feld konkreter Frage-stellungen liegen. Denn bereits von ihrer Grundintention her richtet eine aisthetische Forschung ihr Augenmerk ja nicht auf abstrakte Wahrnehmungsprinzipien, sondern auf die Konkretheit von Wahrnehmungsereignissen in einem spezifischen Kontext – darauf, ,wie es sich anfühltʻ, mittels der Präsenz einer jeweiligen (gebauten) menschlichen Umwelt eine spezifische sensorisch-kognitive Wahrnehmungserfahrung zu machen. Dabei ist davon auszugehen, dass konkrete Fragestellungen nicht isoliert von den beiden zuvor genannten Fragenkomplexen diskutiert werden können. Im Gegenteil: Vielmehr dürfte ein wichtiges Moment einer real praktizierten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt gerade in einer Art Pendelbewegung bestehen, die sich zwischen der genauen Untersuchung konkreter Einzelfälle und der operativen Einbeziehung elementarer Aspekte (i.e. den allgemeinen Erkenntnissen, die hinsichtlich dieser bereits gewonnen wurden) sowie der Rückbindung an große übergeordnete Fragestellungen (insofern diese für eine jeweilige konkrete Fragestellung potentiell eine Rolle spielen) einstellt. Eine solche Pendelbewegung findet we-

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der im luftleeren Raum der Theorie, noch im gesättigten Grund der Empirie statt, sondern sie verknüpft gesammeltes, akkumuliertes, geordnetes, reflektiertes Wissen mit neuen empirischen Beobachtungen. Beide Seiten dienen als wechselseitige Kontrastfolie füreinander, als möglicher Hinweise darauf, wie und wonach im Einzelfall Ausschau zu halten ist, oder als mögliches Korrektiv und potentielle Erweiterung des Bekannten. Das Pendel schwingt also, um im Bild zu bleiben, hin und her, ohne dass eine der beiden Seiten, die der Theorie oder die der Empirie, gänzlich von der anderen zu lösen wäre.11

9.3 M ETHODISCHE M ITTEL UND H ERANGEHENSWEISEN Schließlich zur Frage gemeinsamer methodischer Mittel und Herangehensweisen. Anders als die vorausgehenden Punkte wurde dieser Aspekt bislang noch nicht als solcher erörtert. Allenfalls wurden mit der Vorstellung individueller künstlerischer und theoretischer Herangehensweisen (Kap. 3-4 und 7) sowie mit dem Hinweis auf experimentell-untersuchende, systematisch-erkundende und theoretisch-reflexive Vorgehensweisen (Kap. 8) erste Schritte in diese Richtung unternommen. Da die Frage bislang noch nicht explizit Thema war, wird sie im Folgenden ausführlicher zu behandeln sein. Zunächst muss dazu, wie schon in Teil II und Teil III der Untersuchung der Fall, noch einmal ein genauer Blick auf jede der beiden Seiten, die der Kunst und die der Philosophie, für sich geworfen werden, bevor im Anschluss das potentiell Gemeinsame – möglicherweise, so gegeben, aber auch das Differente – herausgestellt werden kann. 11 Um diesen Gedanken anhand eines konkreten Beispiels zu erläutern: Gernot Böhme setzt sich in seinem Aufsatz Die Atmosphären kirchlicher Räume mit der Frage auseinander, inwiefern von Kirchenräumen eine spezifische Atmosphäre ausgeht. Hierzu wendet sich der Theoretiker unterschiedlichen Aspekten wie der ,heiligen Dämmerungʻ (oder profan formuliert: der Beleuchtungssituation in Kirchenräumen), der ,Stille und Erhabenheitʻ (die in Kirchen im Kontrast zu umgebenden urbanen Räumen herrscht) oder dem ,steinernen Charakterʻ (wie er sich insbesondere in romanischen oder gotischen Kirchen antreffen lasse) zu. Eine elementare Ebene spielt in diesem Fall mittels der Thematisierung von Einzelaspekten, wie dem Einsatz und der Wahrnehmungswirkung von Materialien, Beleuchtung, Akustik, als Bestandteilen einer atmosphärischen Gesamtwirkung, eine Rolle. Eine Rückbindung an eine übergeordnete Ebene erfolgt mittels der Frage nach einer allgemein-gesellschaftlichen Funktionsweise, die „Herrschaftsarchitekturen“ (wie historische Kirchen und Schlösser, aber auch zeitgenössische Repräsentationsbauten) an den Tag legen. Die konkrete Untersuchung der aisthetischen Wirkungsweise eines singulären, einmaligen Kirchenraumes (wenn Böhme diese auch selbst nicht vornimmt) ergibt sich nun gerade aus der Verbindung beider Ebenen, der elementaren und der übergeordneten. Dabei können sowohl bestehende Erkenntnisse zu elementaren Aspekten (wie der Wahrnehmungswirkung von Materialien, Beleuchtung, Akustik, räumliche Atmosphären) und übergeordneten Fragestellungen (gesellschaftlich-politische Rolle von (gebauten) menschlichen Umwelten) auf eine konkrete Situation angewandt werden, wie umgekehrt spezifische Ergebnisse einer Einzelfalluntersuchung – zwecks kritischer Überprüfung und gegebenenfalls Erweiterung – auf allgemeinere Erkenntnisse zurückgeführt werden können.

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Zur Seite des installativen Arbeitens Dass künstlerische Arbeitsweisen variieren, und dies von einem Bereich zum anderen (Malerei ist nicht Bildhauerei; Szenografie nicht Druckgrafik) ebenso wie innerhalb eines Gebiets (Kaltnadelradierung ist nicht Holzschnitt), versteht sich von selbst. Auch im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation ist davon auszugehen, dass die konkreten methodischen Mittel und Herangehensweisen, welcher sich KünstlerInnen bedienen, von Fall zu Fall und zum Teil vermutlich sogar stark divergieren. Denkt man allein an die Arbeitsweise Rachel Whitereads, mit ihrem Mittel der Abformung (gebauter) menschlicher Umwelten, an Gregor Schneider, der seine Installationen teils aus originalen, teils aus original erscheinenden Bestandteilen errichtet, oder an Bruce Nauman, dessen Arbeiten weder in unmittelbarer Auseinandersetzung mit konkreten Vorbildern entstehen, noch aus deren Bestandteilen zusammengefügt werden, so wird bereits anhand dieser drei Beispiele die mögliche Varianz installativen Arbeitens ersichtlich. Um sich methodischen Möglichkeiten im Detail zuzuwenden, wäre an dieser Stelle also eine enorme Ausweitung der Betrachtung nötig, wobei unterschiedlichste künstlerische Positionen, ja letztlich so viele unterschiedliche Einzelbeispiele architektur- und ortsbezogener Installationen wie möglich zu berücksichtigen wären. Eine derartige Vorgehensweise sollte mit Sicherheit aufschlussreich sein (siehe hierzu Kap. 10). Hinsichtlich der hier zur Diskussion stehenden Frage potentiell gemeinsamer methodischer Mittel und Herangehensweisen ist sie aber nicht notwendig. Denn an diesem Punkt gilt es, nicht nach der potentiellen Weite des Spektrums, sondern vielmehr nach verbindenden Momenten innerhalb des Spektrums zu fragen. Und diese sollten sich, so gegeben, auch anhand einer limitierten Anzahl an Beispielen, wie sie in den vorausgehenden Kapiteln behandelt wurden, offenlegen lassen. Ein erstes potentiell verbindendes Moment kann dabei unter dem Begriff der ,deskriptiven Verfahrensweisenʻ zusammengefasst werden. Zu denken ist in diesem Kontext zunächst einmal an die genaue Darstellung (gebauter) menschlicher Umwelten mittels dreidimensionaler installativer Set-ups. Um sich diesen Aspekt, der bereits in Kapitel 7 – wenn auch unter anderen als methodischen Gesichtspunkten – thematisiert wurde, noch einmal vor Augen zu führen, genügt ein kurzer gedanklicher Blick zurück auf Gregor Schneiders Installation Haus u r, konkret etwa auf den Installationsbestandteil u r 10. Dieser vermittelt auf präzise Weise den Eindruck eines realen Wohnraumes. Auf die Frage: Wie sieht ein normales Zimmer aus, in dem man seine Gäste empfängt?, wird hier die Antwort geben: In ein solches Zimmer gehören: ein Tisch, Stühle, ein Fenster, ordentliche Gardinen, eine frische Tischdecke, eine Topfpflanze, Geschirr, Besteck, eine Kaffeekanne, Licht, weiße Wände, eine unaufgeregt-freundliche räumliche Atmosphäre etc. Dass eine derartige detailgetreue und detailreiche Installation, wie Schneiders Haus u r, deskriptive Züge an sich trägt – wobei ,deskriptivʻ nicht allein im engeren Sinn von ,beschreibendʻ, sondern auch im weiteren von detailliert, Punkt für Punkt, Element für Element darstellend, zu verstehen ist –, dürfte selbstevident sein. Eine deskriptive Komponente lässt sich nun aber nicht allein in dreidimensionalen installativen Umräumen, sondern zudem in einem anderen installativen Arbeitsmittel antreffen, das bislang noch nicht zur Sprache kamen: Und zwar in zweidimensionalen Darstellungsformen. Denn eine Installation vorbereitend, deren Entstehung begleitend oder das fertige Ergebnis dokumentierend, können auch die Mittel der Zeichnung, der Fotografie, der Collage

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(sowie potentiell zudem der Video- oder Soundaufnahmen) zum Einsatz kommen.12 Inwiefern es sich bei diesen im Kontext installativen Arbeitens nicht um eigenständige ,künstlerische Werkeʻ, sondern um pragmatische Arbeitsmittel handelt, dies sei im Folgenden exemplarisch anhand Ilya Kabakovs Einsatz von Handzeichnungen erläutert.13 Blättert man durch Veröffentlichungen zu Ilya Kabakovs bildnerischer Arbeit, die mittlerweile umfangreich und aufwändig dokumentiert ist, so stößt man immer wieder, neben fotografischen Abbildungen und textuellen Beschreibungen seiner Installationen, auf Handzeichnungen.14 Diese werden vom Künstler auf unterschiedlichste Weise und auf unterschiedlichsten Ebenen des Entstehungsprozesses einer Installation eingesetzt: Sie können dazu dienen, eine Idee bzw. einen konkreten Bestandteil der (gebauten) menschlichen Umwelt, einen Gegenstand, ein Zimmer, eine räumliche Situation, die als Vorbild oder Ausgangspunkt für eine Installation dienen, grafisch festzuhalten; oder dazu, Planskizzen zu entwerfen, gemäß derer eine Installation realisiert werden soll. Auch für die Dokumentation fertiggestellter Installationen gibt die Zeichnung dem Künstler ein probates Mittel an die Hand. Ein gutes Beispiel für die deskriptiven Qualitäten derartiger Zeichnungen liefern, als ein Exempel unter vielen, die Installationsskizzen der Arbeit Die Toilette.15 Detailreich und in realistischer Manier geben diese die Ansichten einer Installation von außen und von innen wieder. Ob es sich um die Skizze der erst geplanten oder der bereits realisierten Installation handelt, ist rein vom Eindruck her, den die Skizzen vermitteln, nicht zu entscheiden. Denn nicht nur die räumlich-bauliche Situation und das Interieur werden festgehalten, auch die atmosphärische Gesamtwirkung wird mit grafisch-zeichnerischen Mitteln erfasst. Kabakovs Zeichnungen gehen aber keineswegs ausschließlich in ,realistischer Manierʻ vor. Wie andere Handskizzen verdeutlichen, wählt der Künstler zuweilen auch eine schematisierte Darstellungsweise, die auf Anhieb an architektonischtechnische Zeichnungen (konkret: an 3/4-Ansichten in axiometrischer Perspektive) erinnert.16 Bei genauerer Betrachtung konzentriert sich der Zeichner jedoch nicht auf architektonisch-technische Aspekte, sondern vielmehr auf die Darstellung des räumlichen Arrangements im Sinn einer physisch zu erfahrenden Umwelt, die sich aus 12 Siehe Fn. 19. 13 Das Künstlerpaar Christo&Jeanne-Claude fertigt von seinen Gebäudeverhüllungs- und Land Art-Aktionen kolorierte Zeichnungen an, die kommerziell angeboten werden, um Projekte vorzufinanzieren. Bei diesen Zeichnungen handelt es sicherlich bis zu einem gewissen Grad um Arbeiten, die als ,eigenständige Endprodukteʻ gemeint sind. Allerdings stellt eine solche Vorgehensweise die große Ausnahme dar, während der Einsatz von Zeichnung, Fotografie, Collage als installativem Arbeitsmittel die Regel bildet. 14 Ilya Kabakovs Handzeichnungen und Skizzen finden sich in der umfassenden zweibändigen Monografie: Ilya Kabakov – Installationen 1983-2000, Werkverzeichnis1, 1983-1993 und Ilya Kabakov – Installationen 1983-2000, Werkverzeichnis2, 1994-2000; herausgegeben von Toni Stooss (Düsseldorf: Richter Verlag, 2003). 15 Ilya Kabakov – Installationen 1983-2000, Werkverzeichnis1, 1983-1993; herausgegeben von Toni Stooss; a.a.O.; S.388-393 16 Monografie, Ilya Kabakov – Installationen 1983-2000, Werkverzeichnis1, 1983-1993; herausgegeben von Toni Stooss; a.a.O., S.391.

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einzelnen, voneinander abgetrennten und die potentiellen RezipientInnen umraumhaft umgebenden Abschnitten zusammensetzt. In diesem Sinn werden auch die Stellen, an denen die Installation betreten und verlassen werden soll, mittels angedeuteter Figuren, die sich durch die installativen Umräume bewegen, markiert. Dass der Gegenstand derartiger Zeichnungen in der Darstellung eines zu durchlaufenden Umraumgefüges, einer physisch zu erfahrenden Choreografie liegt, wird umso deutlicher, wenn man sie mit jenen Darstellungen von Die Toilette abgleicht, welche die Installation in konventioneller architektonisch-technischer Manier hinsichtlich baulich-konstruktiver Aspekte darstellen (wovon in jenen Fällen nicht zuletzt die genauen Maßangaben baulicher Details zeugen).17 Doch auch solche Skizzen finden sich bei Kabakov, welche neben architektonisch-technischen Aspekten unterschiedlichste in einer Installation enthaltene Detailaspekte, also Einrichtungsgegenstände, Möbel, Lampen, im Zimmer oder am Boden herumliegende Utensilien, minutiös verzeichnen, während zugleich die Bewegungspfade von RezipientInnen zwischen den einzelnen Bestandteilen der Installation hindurch und um diese herum dargestellt werden.18 Die Vielfalt, in der Handskizzen als deskriptives Instrument, das jeweils unterschiedliche Aspekte einer spezifischen Umgebung mit grafischen Mitteln herauszuarbeiten erlaubt, bei Kabakov zum Einsatz gebracht werden, dürfte hinsichtlich einer konkreten Forschungspraxis im Bereich Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt von nicht geringer Bedeutung sein. Sie ist jedoch nicht der Grund, warum entsprechende Beispiele hier angeführt werden. Wichtig an dieser Stelle ist sich klar zu machen, dass das Mittel der Zeichnung überhaupt unterschiedlichste deskriptive Aufgaben übernehmen kann, die ein bloßes Abbilden, wie es der Schnappschuss mit der Fotokamera liefern würde, bei Weitem übersteigen. Halten wir als ersten Punkt fest: Am Beispiel des Einsatzes der Handzeichnung als installativem Arbeitsmittel werden hinsichtlich der Frage – nicht nach dem potentiellen Spektrum an konkreten, unterschiedlichen Möglichkeiten, sondern – nach dem allgemeineren Charakter von methodischen Mitteln und Herangehensweisen, deskriptive Momente kenntlich. Ein anderes Moment lässt sich ebenfalls am Beispiel grafischer installativer Arbeitsmittel verdeutlichen. (Wobei dieses Moment sich ebenso an anderen installativen Mitteln, wie den genannten der Fotografie, der Collage 19 , oder des Arbeitens mit dreidimensionalen installativen Set-ups selbst aufzeigen ließe.) Gemeint ist das Faktum, das deskriptive Verfahren immer auch einen 17 Katalog, Ilya Kabakov–Installations 1983-1995 (Paris: Centre George Pompidou, 1995) S.162f. 18 Monografie, Ilya Kabakov – Installationen 1983-2000, Werkverzeichnis2, 1994-2000; herausgegeben von Toni Stooss; a.a.O., S.25. 19 Gregor Schneider etwa setzt das Mittel Video ein, um seine Installation Haus u r zu filmen, wobei sich auch hier dokumentarisch-deskriptive mit analytisch-interpretativen Aspekten verbinden; so der Fall, wenn Schneider mittels des Einsatzes einer Handkamera gezielt den Bewegungsmodus einer sich durch die Installation bewegenden Person herausstellt. (Dass Schneider dabei zugleich eine bestimmte Rolle mimt, tut im gegebenen Kontext nichts zur Sache.) Andere KünstlerInnen, wie Gordon Matta-Clark oder Rachel Whiteread, bedienen sich vor allen Dingen Fotografien, wobei beide diese gerne mit zeichnerisch-grafischen Mitteln im Stil eines Collageverfahrens verbinden.

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Aspekt beinhalten, der als ,analytisch-interpretativʻ bezeichnet werden kann. So ist bereits eine vermeintlich realistische Zeichnung einer (gebauten) menschlichen Umwelt dazu gezwungen, gewisse Aspekte in der Darstellung zu vernachlässigen. Am Beispiel der genannten kabakovschen Zeichnung von Die Toilette: Nicht jeder Stein einer Mauer, nicht jedes Brett einer Deckentäfelung und nicht jede Faser einer Textilie kann einzeln in die Skizze eingezeichnet werden. Gleichzeitig werden andere Aspekte gezielt hervorgehoben. Am selben Beispiel: Um einen Eindruck von der atmosphärischen Wirkung zu geben, werden die Lichtverhältnisse mittels starker Hell-dunkel-Kontraste betont und eine Dynamik mittels diagonaler Linienführung suggeriert. Noch deutlicher wird dieses analytisch-interpretative, einzelne Aspekte hervorhebende, andere gezielt vernachlässigende Moment angesichts anderer Kabakov-Zeichnungen. So mag eine Grundrissskizze, gleich einem konventionellen architektonischen Grundriss, dazu dienen, baulich-materielle Details (Wände, Fenster, Türen inklusive Bemaßung) festzuhalten. Eine andere Grundrissskizze integriert – und dies explizit entgegen architektonischer Gepflogenheiten – mobile und ephemere Aspekte wie Einrichtungsgegenstände und im Raum herumliegende Utensilien (welchen im Kontext einer kabakovschen Installation, wie zu sehen war, eine gleich gewichtige Rolle wie baulich-materiellen Details zukommt). Wieder andere Zeichnungen verzeichnen mögliche Bewegungsrichtungen von RezipientInnen oder einzunehmende Körperhaltungen von Personen innerhalb eines bestimmten installativen Set-ups. Kurz: Je nachdem, auf welchen Aspekt in der Betrachtung besonderer Wert gelegt wird, welcher Aspekt jeweils festgehalten und herausgearbeitet werden soll, kommen in einer Zeichnung auch jeweils andere Aspekte zur Geltung. Oder in wissenschaftlichem Jargon formuliert: Je nach Analysekriterium stellen sich andere, zu interpretierende, Ergebnisse ein. Soviel an dieser Stelle exemplarisch zur Zeichnung im Sinn eines installativen Arbeitsmittels sowie zu den darin enthaltenen deskriptiven und analytisch-interpretativen Momenten. Um ein originäres und nicht allein assistierend eingesetztes Mittel der architektur- und ortsbezogenen Installationskunst handelt es sich indes bei der Arbeit mit dreidimensionalen installativen Set-ups. Die Vielschichtigkeit dieses Arbeitsmittels wurde in den vorausgehenden Kapiteln deutlich. Sie besteht nicht nur in einem Errichten von Installationen, sondern reicht von einem vorausgehenden eigenen physischen Umgang mit (gebauten) menschlichen Umwelten (etwa, wenn Ilya Kabakov einen zu bearbeitenden Ausstellungsraum besichtigt, um ihn am eigenen Leib zu erfahren; oder wenn Gregor Schneider leerstehende Häuser auf ihre Wirkungsweise und verwertbare Bestandteile hin inspiziert) über ein aktives Experimentieren und Erkunden (wie es unter 10.2 beschrieben wurde) bis hin zum Einbetten bzw. Einnischen einer Installation in einen spezifischen Kontext (zu denken an Kabakov oder Whiteread, wenn diese ihre Arbeiten School No.6 bzw. House und Mahnmal auf dem Judenplatz, Wien nicht, wie bei anderen Installationen der Fall, in Museumsräume, sondern unmittelbar in reale Umräume und Umgebungen des Alltags implementieren). Originär ist diese Art des Umgangs insofern, als sie sich von zweidimensionalen künstlerischen Darstellungsverfahren (Zeichnung, Fotografie, Collage) unterscheidet, welche die aisthetische Erfahrung (gebauter) menschlicher Umwelten allenfalls in visuelle Formen übersetzen können (so wie Kabakovs Skizze die Atmosphäre einer Installation in grafische Mittel übersetzt).

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Originär ist sie aber auch, da sie sich, im Sinn eines Arbeitsmittels, selbst von einem auf Anhieb stark verwandt erscheinenden Feld wie dem der Architektur unterscheidet. Dieses hat zwar den physisch erfahrbaren menschlichen Umraum zum Gegenstand und Ziel, nicht jedoch zum unmittelbaren Arbeitsmittel. Das ist ein signifikanter Unterschied, den man sich als solchen vor Augen führen muss. Denn nur der Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation erlaubt es, im Arbeitsprozess selbst mit den Mitteln und Ergebnissen dreidimensionalen Arbeitens physisch zu interagieren. (Einem mittelalterlichen Baumeister war dies, anders als einer ArchitektIn des modernen Zeitalters, noch eher möglich. Auch im Bereich vernakulären und vormodernen Bauens, wie es in nicht wenigen Regionen der Erde bis heute üblich ist, kommt ein aktives physisches Agieren zum Einsatz.) Dabei bietet sich im Bereich der installativen Kunst die Möglichkeit einer, wie man sagen könnte, zirkulären bzw. rekursiven Arbeitsweise. Oder in anderen Worten: Es liegt ein offener Arbeitsprozess vor, bei dem Ergebnisse nicht, wie angesichts der Architektur der Fall, planmäßig und linear, von ersten technischen Zeichnungen bis hin zum fertigen Resultat, herbeigeführt werden, sondern auf der Basis von sich sukzessive einstellenden Ergebnissen, die als Zwischenergebnisse genommen werden, situativ weitergearbeitet werden kann. Wobei das auslösende Moment nicht eine ,Planänderungʻ ist, sondern im eigenen physischen Erleben liegt, welches ein bestimmtes weiteres Vorgehen situationsgebunden motiviert, wie etwa das Beispiel Ilya Kabakovs zeigte.20 Und selbst bereits fertiggestellte Installationen können wiederum als Zwischenergebnisse fungieren, die erneut in einen künstlerischen Arbeitsprozess einbezogen werden und somit die Grundlage für ein weiteres Experimentieren mit einer bestimmten materiellräumlichen Konfiguration bilden (zu denken an Bruce Naumans Korridor-Arbeiten). Als letzte Gruppe einer prinzipiell offenen Reihe an methodischen Möglichkeiten seien – im Anschluss an die soeben angesprochenen ,experimentellenʻ bzw. ,systematisch erkundendenʻ Momente – solche Aspekte genannt, die unter den Begriffen der ,kontextualisierendenʻ oder auch ,reflexivenʻ (im Sinn von Reflexionen anstellenden) Verfahrensweisen zusammengefasst werden können. Hierzu zählen künstlerische Hintergrundrecherchen, wie sie beispielsweise Rachel Whiteread im Vorfeld zu ihrer Arbeit an Mahnmal am Judenplatz, Wien unternimmt21; oder Dan 20 Bei Ilya Kabakov ist diesbezüglich an die Schilderung des Entstehungsprozesses einer ,Totalen Installationʻ zu denken, bei dem spontane Modifikationen und Änderungen auf Grundlage des bis zu einem bestimmten Punkt hin realisierten installativen Set-ups als ein konstitutives Moment der Fertigstellung einer Installation beschrieben werden. In der Architekturpraxis des modernen Zeitalters finden sich derartige Vorgehensweisen nur äußerst selten, was kein ,naturgegebener Effektʻ des Mediums, sondern der Art des Umgangs mit diesem, der Weise, wie ,Architekturʻ heute betrieben wird, ist. Vom Architekten Egon Eiermann etwa wird berichtet, dass dieser den Grundriss der von ihm am Reißbrett entworfenen Berliner Gedächtniskirche nach eigener Vor-Ort-Begehung der ersten konkreten Baufortschritte aus gestalterischen Gründen nachträglich unter großem Aufwand um ca. einen Meter verschieben ließ. Derartige Maßnahmen dürften angesichts einer auf Kostenreduzierung, enge Terminvorgaben und effiziente Planungs- und Realisierungsabläufe orientierten Baupraxis in der Architektur der Gegenwart die absolute Ausnahme bilden. 21 Der Ausdruck ,Rechercheʻ greift angesichts der komplexen Herausforderungen, mit denen Whiteread im Zuge dieser Arbeit umzugehen hatte, freilich zu kurz. So ging der Entwurf

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Grahams Überlegungen zu seiner Arbeit Public Space/Two Audiences, die eine installative Arbeit zum einen in einen konkreten alltagsweltlichen Kontext stellt (Situationen, in denen das Material Glas/Spiegelglas auf ähnliche Weise wie in Grahams Installation zum Einsatz kommt), zum anderen von der Arbeit ausgehend einen theoretisch-reflexiven Horizont eröffnet (indem gesellschaftspolitische Implikationen angesprochen werden, die sich mit dem alltäglichen Einsatz bestimmter Materialien verbinden). Ähnlich wie bei deskriptiven und analytisch-interpretativen Momenten handelt es sich auch bei reflexiven oder kontextualisierenden Vorgehensweisen um Arbeitsmittel, wie sie prinzipiell auch von anderen künstlerischen Bereichen eingesetzt werden können. Spezifisch an der Art und Weise, wie sie im Kontext der architektur- und ortsbezogenen Installation Verwendung finden, ist jedoch die Perspektive, welche durch installativ arbeitende KünstlerInnen in derartige methodische Mittel eingebracht wird. Am konkreten Beispiel: Was spezifisch an Whitereads und Grahams kontextualisierenden bzw. reflexiven Auseinandersetzungen mit (gebauten) menschlichen Umwelten in Form von historischen Plätzen, Flughäfen, Geburtsstationen ist, ist nicht die Auseinandersetzung per se, wohl aber die darin vorgenommene zunächst auf einen ausgelobten Wettbewerb zurück, der bestimmte, durch die teilnehmenden KünstlerInnen zu berücksichtigende Kriterien (wie Einbeziehung des gegebenen Aufstellungsortes, Inschriften, u.a.) festschrieb. Später kamen technische Herausforderungen (Wahl eines adäquaten Materials, Herstellung in einzelnen Segmenten, die gegebenenfalls, bei Verunreinigung/Vandalismus, ausgetauscht werden können) hinzu, ebenso wie einzubeziehende politische Dynamiken (rivalisierende Interessengruppen mit jeweils unterschiedlichen Ansprüchen an das Denkmal) oder unvorhergesehene örtliche Gegebenheiten (in die Platzgestaltung einzubeziehende bzw. nicht zu überbauende archäologische Funde). Auf ihre ,Rechercheʻ im engeren Sinn einer inhaltlichen Auseinandersetzung weist Whiteread hingegen hin, wenn sie in einem Projektstatement formuliert: „Nachdem ich viel über den Holocaust gelesen hatte (hauptsächlich Autobiografisches und nicht so sehr geschichtliche Tatsachenberichte) ging mir auf, dass es sich tatsächlich um ein unfassbares Thema handelt und jeder Versuch einer ,Erklärungʻ von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Wenn Kunst […] uns [erlaubt, – Einfügung B.H.] uns durch andere, nonverbale Mittel auszudrücken, dann bietet sie uns eine gute Methode, um dieser unüberwindbaren verbalen Blockade zu entrinnen“. Wie unterschiedliche KunsttheoretikerInnen (James E. Young, Andrea Schlieker, Karina Pauls) anmerken, bezieht sich Whiteread mit ihrem Mahnmal jedoch nicht allein auf den historischen Kontext der Shoah, sondern auch auf das tradierte Bild des Judentums als Buchreligion bzw. der Juden als „people of the book“. Whiteread geht also nicht nur auf unterschiedlichste konkrete Anforderungen, pragmatischer, politischer, gestalterischer Art ein, sie verknüpft auch verschiedenste reflexive und kontextualisierende Momente in ihrem Mahnmal, die diesem materiell eingelagert und somit ebenso unmittelbar physisch erfahrbar wie semiotisch interpretierbar werden. Vgl. Andrea Schlieker, Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns; in: Simon Wiesenthal (Hrsg.), Projekt: Judenplatz Wien – Zur Konstruktion von Erinnerung (Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2000); James E. Young, Rachel Whiteread's Judenplatz Memorial in Vienna. Memory and Absence; in: Chris Townsend (Hrsg.), The Art of Rachel Whiteread (London: Thames&Hudson, 2004); Zitat nach: Karina Pauls, Erlebte Räume – im Alltag und in der Kunst – Rachel Whiteread und Gregor Schneider (Oberhausen: Athena-Verlag, 2009) S.45.

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Fokussierung auf Aspekte wie Materialwirkungen, Bewegungsrichtungen, Blickbeziehungen etc. – kurz: auf Momente, wie sie im Kontext eines installativen Arbeitens mit aktiver perzeptiver Physis und Umraum eine Rolle spielen. (Gleiches gilt für die zuvor behandelten deskriptiven und analytisch-interpretativen Mittel: Auch hier ist nicht der Umstand, dass eine bestimmte (gebaute) menschliche Umwelt grafisch, fotografisch oder filmisch festgehalten wird, an sich das Spezifische, wohl aber der Umstand, dass derartige Darstellungen unter Gesichtspunkten vonstattengehen, die dem Leitgedanken einer physisch-multisensorischen Erfahrbarkeit von Umräumen folgen. Dies ist an Ilya Kabakovs Zeichnungen besonders klar nachzuvollziehen, die Aspekte wie räumliche Atmosphären, Bewegungsrichtungen oder Körperhaltungen von RezipientInnen verzeichnen.) Zur Seite des philosophischen Arbeitens Hiermit ist der Punkt erreicht, an dem ein fließender Übergang zu theoretischen Ansätzen gegeben ist. Denn, wie bereits in Kapitel 8.3. das Beispiel Dan Grahams und Gernot Böhmes deutlich machte, können sich die Seite der installativen Kunst und der Theorie hinsichtlich reflexiver und kontextualisierender Verfahrensweisen mehr als nahekommen. Wie aber sieht es mit den anderen oben genannten Aspekten aus? Also mit deskriptiven, analytisch-interpretativen, experimentellen, systematisch erkundenden methodischen Mitteln – findet sich Vergleichbares auf Seiten der Theorie? Zunächst zu deskriptiven Verfahrensweisen. Diese sind ästhetiktheoretischen Ansätzen, wie etwa jenem Gernot Böhmes oder Arnold Berleants, in der Tat vertraut. Ein Grund für diesen Umstand mag in der konzeptionellen Anbindung beider Ansätze an solche philosophischen Vorläufer liegen, welche in besonderem Maß auf die genaue, und das heißt auch: empirische Zurkenntnisnahme der Umwelt angewiesen sind (ein Sachverhalt, der für die pragmatistische Ästhetik eines John Dewey ebenso reklamiert werden kann wie für die phänomenologische Tradition 22 ). Allerdings 22 Deskriptive Momente spielen im Kontext der Phänomenologie insofern eine Rolle, als von der eigenen Erfahrungsrealität ausgegangen wird, die immer eine Erfahrungsrealität von etwas ist. Selbst im Kontext der klassischen eidetischen Reduktion, also jenem Verfahren Husserls, das sich weniger mit der Existenz von Dingen befasst, als vielmehr von eben dieser abzusehen sucht (Stichwort: Epoché) und eidetische, also ,wesenhafteʻ Momente herauszuarbeiten sucht, spielen deskriptive Momente eine Rolle. Denn ein grundlegender Schritt im Rahmen der eidetischen Reduktion – die bei Husserl auch eidetische Variation genannt wird – besteht darin, sich unterschiedliche Wahrnehmungserfahrungen vor Augen zu führen. Am Beispiel eines Schreibtisches: Dieser zeigt sich mir von einer Seite, etwa von vorn, anders als von einer anderen, von der Seite oder von hinten betrachtet. Um mich nun, im husserlschen Sinn, mit einer möglichen Reduktion dieser mannigfaltigen Gegebenheit, etwa auf den Aspekt der ,Perspektivitätʻ, auseinandersetzen zu können, muss ich diese zunächst als solche beobachtend erfasst haben. Manche jüngeren phänomenologisch motivierten Positionen verlagern das Augenmerk, in freiem Anschluss an den frühen Husserl, sogar gänzlich vom Versuch einer wesenhaften Reduktion auf das Moment einer präzisen deskriptiven Erfassung. Neben Arnold Berleants Phänomenologie ohne Ontologie (vgl. Kap. 11) ist in diesem Kontext etwa an den heute nurmehr wenig bekannten Klaus Holzkamp und sein Projekt der Phänomenografie (man beachte die Endung ,-grafieʻ) zu

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rekurrieren die Ansätze Arnold Berleants und Gernot Böhmes, was deskriptive Verfahrensweisen anbelangt, nicht allein auf philosophische Quellen. So wendet sich Gernot Böhme dem literarischen Genre der Naturlyrik und darin enthaltener Beschreibungen natürlicher Umwelten23 ebenso zu wie der Theorie der Gartenbaukunst des 18. Jahrhunderts. Denn auch diese hinterließ in ihrem Bestreben um natürlich wirkende, dabei durchwegs artifizielle, da szenisch inszenierte Garten- und Landschaftsarrangements nicht allein real verwirklichte, sondern ebenso textuell verfasste Zeugnisse.24 Einen wichtigen Referenzpunkt bildet für Böhme zudem die Tradition der sogenannten Physiognomik von Natur und Landschaft: Eine Theorie und Praxis der Naturforschung, wie sie ebenfalls im 18. Jahrhundert, zur Zeit der großen Forschungs- und Entdeckungsreisen, entwickelt wurde, wobei es, wie Böhme anmerkt, etwa für einen Alexander von Humboldt noch gang und gäbe war, die präzise deskriptive Darstellung von Pflanzen und Landschaften, sei sie sprachlicher oder zeichnerischer Art, nicht als künstlerisches, sondern als wissenschaftliches Arbeitsmittel zu verstehen.25 Arnold Berleant wendet sich auf der Suche nach Quellen, die die natürliche oder gebaute menschliche Umwelt deskriptiv erfassen, insbesondere der Literatur zu. 26 Anders als für Böhme, der sich hinsichtlich deskriptiver Darstellungsverfahren fast ausnahmslos des Zeugnisses Dritter bedient, stellt für Berleant die genaue sprachliche Beschreibung ein Mittel dar, dessen sich die Philosophie selbst bedienen kann. Der Theoretiker merkt in diesem Sinn, hinsichtlich der unterschiedlichen Möglichkeiten, an, die sich einer philosophischen Ästhetik prinzipiell böten:

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denken. Holzkamp selbst beschreibt diesen Gedanken als Versuch, „die unreduzierte menschliche Lebenswirklichkeit“ zu erfassen und einer „deskriptiven Verdeutlichung“ zuzuführen. Vgl. Klaus Holzkamp, Zur Phänomenographie der Wahrnehmung als Erkenntnis; in: ders., Sinnliche Erkenntnis (Frankfurt a.M.: Athenäum, 1973) S.335. Eine gute Einführung in den husserlschen Begriff der ,eidetischen Reduktionʻ findet sich in: Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hrsg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion; a.a.O., S.19ff. Von der klassischen Dichtung Goethes über den Expressionismus eines Gottfried Benn bis hin zu japanischen Haikus. Siehe etwa Christian Cayus Lorenz Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst (Leipzig: M.G. Weidmanns Erben und Reich, 1779-85; als Nachdruck: Hildesheim: Olms, 1973, 1985). In diesem Sinn zitiert Böhme Alexander von Humboldt bezüglich des Unterschieds zwischen individueller Naturbetrachtung und forschender Untersuchung wie folgt: „[...] von der individuellen Naturbeschreibung [ist] die allgemeine, oder die Physiognomik der Natur verschieden“. Unter ,Physiognomikʻ ist dabei so etwas wie ,Summe charakteristischer Merkmaleʻ zu verstehen: „[...] Himmelsbläue, Wolkengestaltung, Duft, der auf der Ferne ruht, Saftfülle der Kräuter, Glanz des Laubes, Umriß der Berge sind die Elemente, welche den Totaleindruck einer Gegend bestimmen. Diesen aufzufassen und anschaulich wiederzugeben ist die Aufgabe der Landschaftsmalerei“. Zitiert nach Gernot Böhme, Atmosphäre; a.a.O., S.144f. Berleant gibt diesbezüglich Exempel aus dem englischsprachigen Raum, von Mark Twain bis zu T.C. Boyle; siehe etwa: The World from the Water oder Is Greasy Lake a Place; in: Arnold Berleant, Aesthetics and Environments - Variations on a Theme; a.a.O., S.57-68; S.75-88.

364 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT One can, in fact, distinguish several different ways of doing aesthetics. Substantive aesthetics has the longest history. It comprises theories that propose [...] views about the character, experience, and meaning of art [...] metaesthetics reflects an attempt to set aside these large issues in favor of the seemingly more manageable tasks of redefining the classifications, distinctions, and concepts that deal with art [...] yet there is another [approach] that we must also acknowledge, for it is growing in importance. This is descriptive aesthetics, accounts of [...] aesthetic experience that may be partly narrative, partly phenomenological, partly evocative, and sometimes even revelatory. Efforts at aesthetic description occur most often as parts of other kinds of writing – novels, poems, nature writing [...]. But descriptive aesthetics goes beyond communicative function. Its investigations also have theoretical importance [...] offering material of critical use. While a descriptive account can not be denied or refused as such, except for factual inaccuracies, its theoretical significance can be debated. That is what makes it philosophy and not another literary genre or scholarly discipline.27

Einmal mehr zeigt sich das grenzaufweichende Bestreben im Denken Arnold Berleants. Denn nicht länger sieht dieser sprachlich verfasste Deskriptionen, wie sie in Romanen, Gedichten, literarischen Naturschilderungen vorkommen, als Gegenstand philosophischer Ästhetik. Vielmehr hält er sie für ein prinzipiell gleichberechtigtes methodisches Mittel, welches von SchriftstellerInnen ebenso eingesetzt werden kann wie von PhilosophInnen. Denn als relevant erachtet Berleant, wie obigem Zitat zu entnehmen ist, nicht die Provenienz einer jeweiligen Deskription, als vielmehr, ob diese unter theoretischen Gesichtspunkten als signifikant zu erachten ist. Damit trifft Berleant einen Punkt, der wohl nicht allein für das Mittel der sprachlichen Schilderung, sondern für deskriptive Momente im Allgemeinen, seien sie sprachlicher oder bildnerischer Art, geltend gemacht werden kann. Analytisch-interpretative Aspekte in einer deskriptiven Ästhetik, wie sie Arnold Berleant im Sinn einer alternativen Möglichkeit der Ästhetiktheorie vorschlägt, können nun auf ähnliche Weise diagnostiziert werden, wie angesichts installativer Mittel der Fall. Als Beispiele hierfür stehen Berleants taxonomy of urban sounds oder Böhmes Phänomenologie des Lichts. Beide bedienen sich beschreibender Mittel, um bestimmte Aspekte der Wahrnehmungswirkungen (gebauter) menschlicher Umwelten zu erfassen. Zugleich findet eine Darstellung jedoch hinsichtlich spezifischer, explizit in den Vordergrund gerückter Kriterien statt (,umraumbezogene bzw. umraumbildende Wirkung von Lichtʻ, ,herkunftsbedingter Charakter von urbanen Soundsʻ). So wie im Bereich der architektur- und ortsbezogenen Installation gezielt unterschiedliche Aspekte (gebauter) menschlicher Umwelten mittels bildnerischer Verfahren dargestellt und herausgearbeitet werden, so dient auf Seiten der Theorie das Mittel der Sprache dazu, einerseits möglichst sachliche Schilderungen abzugeben, die andererseits gezielter analytisch-interpretativ eingreifen, indem sie konkrete Wahrnehmungserfahrungen (gebauter) menschlicher Umwelten hinsichtlich bestimmter Gesichtspunkte (etwa: ,umraumbezogene Wirkungʻ oder ,herkunftsbedingter Charakterʻ) filtern, ordnen und klassifizieren, wobei sich unweigerlich eine Art sprachlich-konzeptionelle Rasterung, wie oben gesagt wurde, einstellt. Gemeinsamkeiten zwischen der Seite der Philosophie und der Seite der installativen Kunst sind also sowohl hinsichtlich deskriptiver wie analytisch-interpretativer 27 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environment; a.a.O., S.25f.

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Momente vorhanden. Wie verhält es sich mit aktiv erkundenden und experimentellen Vorgehensweisen? Ein solches Moment kann üblicherweise wohl kaum zum tradierten methodischen Kanon einer philosophischen Betrachtungsperspektive gezählt werden. Allerdings: Eben eine solche, eine der Tradition verpflichtete Auffassung, wird im Rahmen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, wie sie die Ansätze eines Gernot Böhme oder Arnold Berleant fundieren, auch nicht angestrebt. Und so finden sich, wie bereits Kapitel 8 zeigte, in der Tat bei beiden Theoretikern aktiv erkundende und experimentelle methodische Momente. Insbesondere ist dies bei Arnold Berleant der Fall, der sich zwecks Erprobung und Exemplifizierung seines deskriptiven Ansatzes immer wieder unterschiedlichsten experimentellen Situationen aussetzt. Denn nicht zuletzt gelte, so der Theoretiker Berleant: [...] the focal center of aesthetic description [...] is not merely a pleasing scene that lies before me as a distant view [...] It includes not only what lies before my eyes but what is behind my back, beneath my feet, above my head. The aesthetic environment is not constituted primarily of visual objects: It is sensed through my feet, in the kinesthetic sensations of my moving body, in the feel of sun and wind on my skin, in the tug of branches at my clothing, in the sounds from every direction that attract my attention.28

Um sich dieser, hier noch einmal treffend beschriebenen, multisensorischen und dynamischen Erfahrungsrealität der (gebauten) menschlichen Umwelt nicht allein von theoretischer Seite her, sondern auch aktiv zu nähern, unternimmt Arnold Berleant diverse Exkursionen. Dabei steigt er nicht nur in ein Kanu, um die Landschaften vom Wasser aus zu erkunden. Er gleitet auch per Ski über zugefrorene Seen oder begibt sich zu Fuß auf Erkundungsspaziergänge durch ländliche Regionen. 29 Wie angesichts installativer Herangehensweisen der Fall, steht bei Arnold Berleant stets jene besondere Betrachtungsperspektive im Vordergrund, welche den umgebenden Umraum und die perzeptive menschliche Physis im Sinn eines korrelativen Verhältnisses zusammenführt und den Theoretiker nicht etwa allein mit dem erkennenden Blick des Denkers, sondern auch, siehe obiges Zitat, mit den sensiblen Fußsohlen Erkenntnisse sammeln lässt. Eine Einschränkung – und hier gilt es aufzumerken – ist nun allerdings zu machen: Denn anders als auf Seiten der installativen Kunst der Fall, bleiben aktiv erkundende oder experimentelle Verfahrensweisen auf Seiten der Theorie auf die wahrnehmende Instanz, also auf den Menschen und seine perzeptive Physis, beschränkt. Während ein Ilya Kabakov, ein Bruce Nauman oder eine Rachel Whiteread beide Komponenten, die des Einsatzes der menschlichen Physis und jene der Gestaltung installativer Set-ups, auf experimentelle Weise einzusetzen vermögen, ist der die Umweltbedingungen des Wahrnehmens modulierende Eingriff in die (gebaute) menschliche Umwelt einem Arnold Berleant nicht möglich. (Dies liegt freilich weniger an diesem persönlich, als vielmehr an einem üblichen Philosophieverständnis, hinsichtlich dessen Berleant bereits weit geht in seiner Bereitschaft, sich unterschiedlichsten Wahrnehmungssituationen selbst aktiv auszusetzen, jedoch nicht so weit, in diese auch aktiv gestalterisch einzugreifen. Die zu überwindende Schwelle ist, wie an 28 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environments; a.a.O., S.27. 29 Arnold Berleant, The Aesthetics of Environments; a.a.O., S.29-56.

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diesem Punkt deutlich wird, klein, um nicht zu sagen: sie ist allenfalls als Barriere im Kopf vorhanden, jedoch nicht durch einen Hinderungsgrund in der Sache motiviert.) Abschließend, nun noch einmal zurück zu dem, was weiter oben als kontextualisierende und reflexive Verfahrensweisen bezeichnet wurde. Derartige methodische Mittel sind auf Seiten der Theorie nicht nur vertreten, sondern sie bilden – und dies gleichgültig, ob es sich um traditionelle oder aktuelle alternative Ansätze aus dem Bereich der Ästhetiktheorie handelt – deren originäres Handwerkszeug. Was dabei die Frage konkreter Mittel betrifft, so kann dieser – ebenso wie angesichts konkreter künstlerisch-installativer Mittel der Fall – an dieser Stelle nicht en détail nachgegangen werden. Operativ könnte man zwei große Blöcke, oder, um beim Bild des Handwerkszeugs zu bleiben, zwei unterschiedliche Werkzeugkästen eines philosophischen Hantierens im Bereich der (gebauten) menschlichen Umwelt unterscheiden. Der eine enthält Instrumente, die ein kritisches Zerlegen erlauben, so etwa das logischsprachliche Analysieren, Differenzieren, Bezweifeln, kritische Hinterfragen – Mittel also, wie sie sich in der Geschichte der Philosophie seit jeher antreffen lassen, von der antiken Skepsis über das kartesianische Dubito bis zur (nach)modernen Sprachkritik und Dekonstruktion. Der andere Werkzeugkasten erlaubt ein produktives Zusammenführen. Er ist bestückt mit den Instrumenten des Belegens, Fundierens, Argumentierens, Kombinierens, Systematisierens, Kategorisierens, Synthetisierens – kurz: methodische Verfahrensweisen, wie sie im Bereich Ästhetik in der Zeit der großen Systementwürfe eines Kant oder Hegel auf besonders imposante Weise zum Einsatz kamen. (Als gute Handwerker des Geistes bringen die meisten DenkerInnen freilich in aller Regel beide Werkzeugkästen mit. Und dies gilt selbst für solche Geistesarbeiter, die vorgeblich allein den erstgenannten Werkzeugkasten im Gepäck haben.) Was nun aus aisthetischer Sicht über den Einsatz eines derartigen Instrumentariums gesagt werden kann – und dies ganz allgemein und ungeachtet der Frage, welchem Werkzeugkasten es dominant entstammt –, ist, dass es fast durchwegs auf eine Weise eingesetzt wird, die zu einer kontinuierlichen Bewegung fort von der empirischen Ebene des konkreten Machens einer Wahrnehmungserfahrung führt. Denn anders als auf Seiten der Kunst, welche mittels ihrer installativen Set-ups in der Lage ist, aktiv mit der Wahrnehmungserfahrung (gebauter) menschlicher Umwelten zu agieren, findet auf Seiten der Theorie nur eine äußerst punktuelle (zu denken an Gernot Böhmes Fliege, die dessen gedanklichen Weg kreuzt, um ein Nachdenken über Wahrnehmungsprozesse zu stimulieren) oder zeitlich befristete (Arnold Berleants Exkursionen, die mehrere Tage in Anspruch nehmen können, doch zwangsläufig irgendwann an ein Ende gelangen) Bezugnahme statt. Zwar mag die Seite der Theorie sich dabei im Spannungsfeld von induktiven und deduktiven Verfahrensweisen nicht allein von einer konkreten Erfahrungsebene entfernen, sondern sich dieser hin und wieder punktuell annähern. Dies geschieht in aller Regel jedoch nur, um bereits entwickelte Theorieansätze zu exemplifizieren. Zirkuläre Prozesse, wie sie für die Seite der Kunst beschrieben wurden, sind hingegen nicht üblich. (Ob und inwiefern sie möglich wären, dazu mehr in Kapitel 11.) Gemeinsamkeiten in methodischen Mitteln und Herangehensweisen Was die Frage methodischer Mittel und Herangehensweisen betrifft, so zeigen sich also vor allen Dingen Gemeinsamkeiten. Es zeigen sich aber auch gewisse Unterschiede. Gerade auf konkreter Ebene, wie sie hier nur punktuell berührt werden

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konnte, dürften daher weitere Differenzierungen notwendig sein. So ist bspw. zu erwarten, dass deskriptive zeichnerische Verfahren ein anderes Binnenspektrum an methodischen Mitteln an den Tag legen als sprachliche Verfahren. (Beide können einen detailreichen Eindruck wiedergeben. Einen Grundriss darstellen kann die Sprache hingegen nicht. Allenfalls könnte sie unter großem Aufwand etwas Ähnliches zu liefern versuchen. Die Idee des Grundrisses besteht jedoch gerade in der Prägnanz des Eindrucks. Umgekehrt: Etwas über die urbane Einbettung oder den sozialen Kontext einer (gebauten) menschlichen Umwelt auszusagen, fällt der Sprache leichter als der Zeichnung.) Dies ist ein wichtiger Unterschied, wenn es um einen praktischen – und vor allem einen sinnvollen Einsatz derartiger methodischer Mittel geht. Entscheidend in konzeptioneller Hinsicht – und das ist die Frage, um die es an dieser Stelle geht – ist er nicht. Denn hierfür ist es sekundär, wie viele konkrete methodische Differenzierungsmöglichkeiten es geben mag. Was es zu überprüfen galt, war hingegen, ob sich angesichts der jeweiligen methodischen Mittel und Herangehensweisen überhaupt so etwas wie ein gemeinsamer Pool bildet, was prinzipielle Arten und Weisen des methodischen Zugriffs anbelangt. Diese Frage ist, angesichts obiger Reflexionen, eindeutig positiv zu beantworten. Wichtig, um nicht zu sagen, von entscheidender Bedeutung für den Gedanken einer kollaborativen Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sind dabei, um abschließend noch einmal zusammenzufassen, zwei Dinge. Erstens: Mit den Momenten deskriptiver, analytisch-interpretativer, experimenteller, systematisch-erkundender, reflexiver, kontextualisierender Vorgehensweisen liegen nicht allein Ähnlichkeiten, sondern Gemeinsamkeiten vor. (Dieser Unterschied ist insofern relevant, als Ähnlichkeiten einen interdisziplinären Dialog zwischen zwei Bereichen ermöglichen könnten. Gemeinsamkeiten erlauben hingegen Transdisziplinarität – und somit: echte Zusammenarbeit.) Zweitens: Auch hinsichtlich solcher methodischer Bereiche, in denen die jeweils eine oder andere Seite spezifische Stärken besitzen mag, besteht keine fundamentale Differenz. Denn entsprechende Ansätze finden sich, zumindest der Tendenz nach, auf beiden Seiten. Es gibt also keine starre Grenze, die beide Seiten rigide voneinander trennen würde. Vielmehr handelt es sich um graduelle Schwerpunktsetzungen, die sich auf einer prinzipiell fließenden Skala bewegen. Verlagerungen sind somit möglich. Weniger allgemein, dafür am konkreten Beispiel, gesagt, bedeutet dies: Was etwa reflexive und kontextualisierende Methoden anbelangt, so wurde an den Exempeln von Dan Grahams und Ilya Kabakovs Schriften deutlich, wie weitgehend sich künstlerische Positionen dieser zu bedienen vermögen, ohne dabei Gefahr zu laufen, ihren eigenen Standpunkt zu verlieren. Graham oder Kabakov sind nicht plötzlich weniger gute Künstler, nur weil sie sich parallel zu ihrer installativen Arbeit und verbunden mit dieser sprachlich-textueller Mittel bedienen. Genauso wenig, wie sie dadurch zu besseren Künstlern würden. Die Frage des Kunstcharakters oder künstlerischer Qualität wird hiervon schlichtweg nicht berührt. Im Gegenteil: Gerade ein künstlerischer Standpunkt, oder richtiger: ein aus ihrem installativen Arbeiten herrührender anwendungsbezogener Horizont scheint es ihnen zu ermöglichen, eine spezifische Perspektivität in die theoretische Auseinandersetzung einzubringen. Das Gleiche gilt bezüglich experimenteller methodischer Herangehensweisen für die Seite der Philosophie: So wie die Seite der Kunst von einem konkreten Arbeiten mit (gebauten) menschlichen Umwelten in Gestalt installativer Set-ups ausgehen und ihr

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methodisches Spektrum bis hin zu einer komplexen Theoriebildung erweitern kann, so ist auch für die Seite der Theorie vorstellbar, dass diese sich nicht allein punktuell konkreten Wahrnehmungserfahrungen zuwendet, oder, wie Arnold Berleant, sich allein solcher experimenteller Verfahrensweisen bedient, welche die Instanz des Wahrnehmens, i.e. den physisch verfassten Menschen, in unterschiedliche wahrnehmungsgebundene Situationen versetzt. Auch ein aktiver experimenteller oder erkundender Umgang mit (gebauten) menschlichen Umwelten ist, nach dem Vorbild der architektur- und ortsbezogenen Installation, theoretisch vorstellbar und real möglich. Angesichts einer prinzipiell fließenden methodischen Skala, die von einem aktiven Experimentieren bis hin zu komplexer Theoriebildung reicht, stellt sich letztlich die Frage, inwiefern überhaupt von einer ,Seite der Theorieʻ und einer ,Seite der Kunstʻ ausgegangen werden sollte. Denn die Differenz zwischen beiden Seiten dürfte letztlich weniger in der Sache als in einem tradierten Rollenverständnis liegen. Freilich können auch innerhalb eines solchen – die im Rahmen dieser Untersuchung behandelten Beispiele machen es deutlich – wertvolle Erkenntnisse hinsichtlich des Forschungsbereichs einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt hervorgebracht werden. Denn konstitutiv für das Beschriebene ist kein Rollenwechsel, sondern allein eine wechselseitige Offenheit, Zurkenntnisnahme und Bereitschaft zur Kooperation. Nicht die Philosophie oder die Kunst ,per seʻ müssen sich hierzu wandeln, sondern Ansätze aus beiden Bereichen müssen sich hinsichtlich bestimmter Aspekte ihres Tuns, im Sinn eines kollaborativen Forschens zusammenfinden. (Wobei es sich, wie festzuhalten ist, nicht gerade um Aspekte handelt, die bislang in den Vordergrund gerückt würden, wie etwa experimentelle Momente auf philosophischer Seite oder theoretisch-reflexive auf Seiten der Kunst.) Vom Standpunkt eines aisthetischen Forschens aus gesehen ist das Festhalten an tradierten Rollenbildern hingegen nicht notwendig. Denn von dieser Warte aus betrachtet ist es durchaus denkbar, dass sich auch ein und dieselbe Person der gesamten Bandbreite des beschriebenen Spektrums bedienen könnte. Ein derartiges Hybridwesen, das sich sozusagen in der Mitte der fließenden Skala zwischen Empirie und Theorie, mit jedem Fuß auf einer Seite, positionierte, hätte dabei gleichermaßen geschult und gekonnt mit unterschiedlichen methodischen Mitteln umzugehen. Es könnte im Bereich deskriptiver Verfahrensweisen ebenso zum Wort wie zum Zeichenstift – respektive zum Fotoapparat, zur Videokamera, zur Soundaufnahme – greifen. Analytisch-interpretative Momente wären aus der genauen Beobachtung einer vorgefundenen aisthetischen Umwelterfahrung ebenso abzuleiten, wie aus dem eigenen Hantieren mit installativen Set-ups. Desgleichen gilt für reflektierende und kontextualisierende Ausführungen, die ihren Ausgangspunkt in einem systematisch erkundenden Umgang mit vorgefundenen, wie in einem Experimentieren mit eigens hergestellten installativen Umwelten zu finden vermöchten. Ja, letztlich könnte es in der weiteren Konsequenz auch zu komplexeren, aufeinander aufbauenden Formen der Bezugnahme kommen, etwa dergestalt, dass eine installative Arbeit ihren Ankerpunkt in einem bestimmten Aisthetik-theoretischen Ansatz findet, welcher seinerseits bereits nicht mehr ,bloße Theorieʻ ist, sondern wiederum aus eigenem empirischen Erfahren und Agieren hervorging, so dass sich, wenn man den Prozess weiterdenkt, eine strikte Grenzziehung zwischen zwei klar zu trennenden Seiten mit der Zeit von selbst auflösen dürfte. Sie wäre, früher oder später, als solche schlichtweg nicht mehr

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relevant und würde, jedenfalls vom Standpunkt einer Aisthetik aus, auch nicht vermisst werden. Fazit Zurück zur eingangs gestellten Frage: Ist eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt eine Forschung? Festzustellen ist: Im Sinn einer hypothetischen Möglichkeit wie einer in ihren entscheidenden Ansätzen latent gegebenen Realität erfüllt eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt alle drei Überprüfungskriterien: Ein spezifisches (gemeinsames) Gegenstandsgebiet liegt ebenso vor, wie spezifische (gemeinsame) Probleme und Fragestellungen und spezifische (gemeinsame) methodische Mittel und Herangehensweisen. Gemäß der Kriterien ist die Frage mit ,Jaʻ zu beantworten. Und mehr noch: Es scheint sich – wie die Diskussion unter obigen Gesichtspunkten verdeutlicht – zudem um eine äußerst vielversprechende Möglichkeit zu handeln. Denkt man diesen Umstand zusammen mit dem im Einleitungskapitel beschriebenen epistemischen Defizit, dem weißen Fleck, den die Frage des alltäglichen Wahrnehmens (gebauter) menschlicher Umwelten bis dato auf der ansonsten intensiv erkundeten und mittlerweile disziplinär reich bevölkerten Landkarte der Architektur-, Stadt-, Raum-, Landschafts-bezogenen Forschung ausbildet, so ist zudem die Frage, ob es nicht allein möglich, sondern auch sinnvoll wäre, das soweit latent Gegebene zu bergen und explizite Realität werden zu lassen, mit ,Jaʻ zu beantworten.

9.4 Z UR F RAGE

DES

F ORSCHUNGSCHARAKTERS

Ein Punkt, der am Ende dieses Kapitel und im unmittelbaren Anschluss an das soweit Festgestellte zu diskutieren verbleibt, ist jener des wissenschaftlichen Charakters einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt. Diesbezüglich muss differenziert werden. Es gilt, beide Begriffskomponenten gesondert zu betrachten: Hinsichtlich des wissenschaftlichen Charakters ist zu konstatieren, dass eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt die oben genannten Kriterien ebenso zufriedenstellend erfüllt, wie dies etwa dem genannten Exempel der Astrophysik gelingen dürfte. Andererseits könnte dergleichen potentiell wohl auch für die Astrologie geltend gemacht werden. Besitzt diese nicht ihrerseits ein Gegenstandsgebiet, das sie einerseits, in der einen oder anderen Form, mit dem der Astrophysik verbindet, während sie andererseits eine originäre Perspektive auf dieses richtet, was letztlich zu dementsprechend anderen und originären Fragestellungen, Methoden und Herangehensweisen führt? Wäre in diesem Sinn, gemäß der oben genannten Kriterien, die Astrologie also nicht aller Voraussicht nach ebenfalls als eine Forschung zu bezeichnen? Dieser Einwand ist möglich. Andererseits war der eingangs des Kapitels gegebene Hinweis, dass nähere Kriterien, jenseits der hier genannten, nicht festzulegen und vor allem nicht anzuwenden sind, da Forschungsstandards nicht von einem bestehenden wissenschaftlichen Bereich abgeleitet und auf einen anderen, aktuell erst im Entstehen begriffenen übertragen werden können, gleichermaßen berechtigt – und dies in einem logischen wie in einem konkreten wissenschaftshistorischen Sinn. Denn auch die Soziologie oder die Psychologie wären wohl, hätte man sie allein an den beste-

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henden Konventionen ihrer Zeit gemessen, nie zu wissenschaftlichen Forschungsbereichen geworden. Dies war nur möglich, da sich mit ihrer Anerkennung als Wissenschaften auch ein Wissenschaftsbegriff als solcher wandelte. Kurz: Die Frage des wissenschaftlichen Charakters einer möglichen, dabei zu einem gegebenen Zeitpunkt erst latent vorhandenen und in der Herausbildung begriffenen Forschung, kann nicht wirklich sinnvoll beantwortet werden, denn sie bleibt zwangsläufig im Bereich des Spekulativen verhaftet. Ein Versuch der Klärung gliche einem paradoxen Tauziehen, bei dem Verfechter der einen Seite argumentieren könnten, dass jener neue Bereich nicht mit den bereits bekannten und etablierten Wissenschaftsfeldern, inklusive deren Forschungsstandards, übereinstimme, somit auch nicht Forschung sei, während die andere Seite dagegenhalten könnte, dass dieser Bereich ja auch gar nicht Forschung in dem Sinn, wie es bestehende Wissenschaftsfelder sind, sein wolle. Interessanter und fruchtbarer ist hingegen die Frage nach dem zu erwartenden wissenschaftlichen Charakter einer neuen Forschung bzw., wie besser gesagt werden sollte, einer neuen Art des Forschens. (Womit weniger sprachliche Abwertung gegenüber dem Bestehenden als vielmehr ein positiv aufzufassendes Potential, nämlich jenes, bestehende Konventionen zu öffnen und in produktivem Sinn zu überwinden, zum Ausdruck kommen soll.) Wie sieht es aus mit diesem? Was ist über ihn auszusagen? Und: Ist über ihn, bereits heute, überhaupt etwas auszusagen? Zum Charakter einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt In der Philosophie befasst sich traditionellerweise ein eigener Bereich (der zuzeiten – konkret jenen des logischen Positivismus eines Wiener Kreises – sogar den Anspruch erhob, größer als diese selbst zu sein, indem er auch diese mit zu umfassen suchte30), nämlich jener der Wissenschaftstheorie, mit der Frage: Was ist Forschung?31 Doch einfache Antworten sind von dieser Seite – und dies nicht erst seit Paul Feyerabend und Thomas Kuhn, die mit ihren sloganhaft zitierten Begriffen des ,Paradigmenwechselsʻ und des methodischen ,anything goesʻ die Möglichkeit, universell verbindlicher Kriterien von Wissenschaftlichkeit festzulegen, per se in Zweifel zogen – sicher nicht zu erwarten.32 Etwas leichter machen es sich in dieser Hinsicht einschlägige Nachschlagewerke, wissenschaftliche und philosophische Wörterbücher, die unter den Schlagwörtern ,Forschungʻ und ,Wissenschaftʻ das an Kriterien repetieren, was ein konventionelles Verständnis, wie es maßgeblich durch ein Forschen in ,naturwissenschaftlichenʻ Feldern geprägt ist, vorbuchstabiert. Hier finden sich Punkte wiedergegeben, wie der Gedanke einer Transparenz der Mittel und Wege – also die Vorstellung, dass Forschungsergebnisse „auf begründete Weise“ 33 und „inter-

30 Siehe etwa: Walter Schulz, Der logische Positivismus: Die Problematik der Reduktion der Philosophie auf Wissenschaftstheorie; in: ders., Philosophie in der veränderten Welt (Stuttgart: Klett-Cotta, 1972) S.29-78. 31 Neben der philosophischen Wissenschaftstheorie setzen sich weitere Bereichen mit der Frage der Wissenschaft auseinander, wie Wissenschaftssoziologie, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftspsychologie, Wissenschaftspolitologie. 32 Vgl. Fn. 40, 41. 33 Martin Gessmann, Wissenschaft, Lexikoneintrag; in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch (Stuttgart, Kröner, 2009) S.772f.

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subjektiv nachvollziehbar“ 34 zustande kommen müssen; oder der Anspruch, dass Untersuchungsprozesse und daraus resultierende Ergebnisse ebenso überprüfbar und reproduzierbar wie potentiell korrigierbar und falsifizierbar zu sein hätten – ein Umstand, der nicht zuletzt die Forderung nach klaren Kriterien, etwa in Gestalt mathematisch beschreibbarer, quantitativ messbarer Ergebnisse, mit sich bringt. Auch der Gedanke einer Regelhaftigkeit, eines Übergangs vom Spezialfall zum Allgemeinen, die in Form von Gesetzen gefasst und formuliert werden kann, bildet einen kanonischen Bestandteil derartiger Definitionsversuche. Wie steht es diesbezüglich mit einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, als einer philosophisch und künstlerisch basierten Forschungspraxis? Lässt sich diese in ihrem Charakter, wie er sich bereits heute in ersten Zügen abzuzeichnen beginnt, mit solchen Kriterien vereinbaren? Manche Aspekte, wie die beschriebenen experimentellen Vorgehensweisen, scheinen einen Hinweis in diese Richtung zu geben. Andererseits liegen, bei genauerem Blick darauf, was sich jeweils mit dem Ausdruck des ,Experimentsʻ verbindet, auch deutliche Unterschiede vor. Denkt man an Bruce Naumans Umgang mit installativen Set-ups, so werden hier experimentelle Versuchsanordnungen errichtet. Diese werden angepasst, modifiziert, variiert, bis RezipientInnen sie schließlich, gleich Probanden, durchlaufen. Anders als bei ,naturwissenschaftlichenʻ Experimenten handelt es sich jedoch um keine planmäßig, systematisch durchgeführten Versuche35, dergestalt, dass ein Experiment zur Klärung einer vorab definierten Fragestellung unter Aufstellung einer Hypothese entworfen wird; dass im Rahmen der Durchführung Richtlinien befolgt werden, die eine größtmögliche Allgemeingültigkeit gewährleisten sollen (wie: Festlegung von experimentellen Parametern, von zu modifizierenden Variablen, Auswahl von Probanden, Aufstellung einer Kontrollgruppe etc.); oder dass die Ergebnisse des Versuchs zwecks Dokumentation und Auswertung in eine mathematisierte, messbare Form gebracht würden. Experimentelle Set-ups, wie sie im Bereich der installativen Kunst vorkommen, weisen demgegenüber, wie oben festgestellt, vielmehr ein prozesshaftes oder rekursives Moment auf, das ein spontanes Umbauen und Umgestalten im Arbeitsprozess, der selbst bereits Teil des Experimentierens ist, ermöglicht, ohne dass ein zu erreichendes, mögliches Ergebnis dabei im Vorhinein exakt determiniert worden wäre. Auch was die experimentelle Durchführung in erweitertem Personenkreis, sprich: die Rezeption eines Kunstwerkes anbelangt, so wird weder ein Probandenkreis auf seine Adäquatheit hin überprüft (im Gegenteil: RezipientInnen rekrutieren sich einerseits willkürlich, andererseits selektiv, in Gestalt eines Kunstpublikums, das unter soziologischen Gesichtspunkten sicherlich keinen repräsentativen Gesellschaftsdurchschnitt bildet), noch werden Ergebnisse (i.e. Wirkmechanismen, die sich während der Erfahrung eines installativen Set-ups einstellen) systematisch gemessen, dokumentiert und ausgewertet. Ähnlich verhält es sich mit anderen Aspekten, die im Rahmen ,naturwissenschaftlichenʻ Forschens eine Rolle spielen – so angesichts der Frage einer Nachvollziehbarkeit der Mittel und Wege oder der Möglichkeit der Überprüfung und Falsifi34 Brigitte Wiesen, Wissenschaft, Lexikoneintrag; in: Wulff D. Rehfus (Hrsg.), UTB Handwörterbuch Philosophie (Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 2003) S.685. 35 Brigitte Wiesen, Experiment, Lexikoneintrag; in: Wulff D. Rehfus (Hrsg.), UTB Handwörterbuch Philosophie; a.a.O., S.351.

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zierung. Prinzipiell ist eine nachvollziehende und überprüfende Einblicknahme auch im Rahmen einer Aisthetik, und dies nicht allein auf theoretischer, sondern ebenso auf künstlerischer Seite, möglich: etwa durch bildnerische Dokumentation von Arbeitsprozessen, durch das Führen von Interviews mit KünstlerInnen oder durch schriftlich fixierte Auskünfte von KünstlerInnen selbst (von einfachen Arbeitsnotizen bis hin zu theoretisch-reflektierenden und kontextualisierenden Schriften). Wo aber verläuft die Grenze zwischen solchen künstlerischen Aussagen, die präzise und sachlich eine jeweilige Arbeitspraxis oder daraus hervorgehende Erfahrungswerte schildern – und anderen Aussagen, bei denen es sich um künstlerische Eigeninterpretationen oder empirisch nicht begründete individuelle Meinungsäußerungen handelt? 36 Hier gilt es, im Einzelfall genau Einblick zu nehmen und abzuwägen. Eine faktische Überprüfung oder Falsifizierung im Sinn ,der Naturwissenschaftenʻ, etwa anhand verobjektivierter, mathematisierter Messergebnisse, ist hingegen – jedenfalls ohne massive Eingriffe in das Gegebene – schwer vorstellbar (und, wie anzumerken ist, wohl auch weder notwendig noch erstrebenswert; vgl. Kap. 8.2).37 Zu unterschiedlichen Formen des Wissens- und Erkenntniserwerbs Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurden – etwa durch Wilhelm Dilthey oder den frühen Karl Popper – immer wieder Versuche unternommen, Demarkationslinien 36 Hierzu ein Beispiel, in dem ein Interviewer (UL) Gregor Schneider (GS) zu einem bestimmten Aspekt seiner Arbeit befragt, nämlich zu solchen installativen Bestandteilen, die nicht wahrnehmbar sind, da sie sich hinter den von Schneider installierten Wänden befinden: „UL: Wenn hier eine Arbeit beschrieben ist als Wand vor Wand und ich als Ausstellungsbesucher eine Begegnung habe mit dieser Arbeit, sehe ich ja nicht die Wand dahinter ...“ GS: … die gebaute Wand bleibt sichtbar, aber nicht erkennbar ... UL: ... aber die, vor die sie gesetzt ist, kenne ich gar nicht. GS: Ein roter Stein hinter der Wand oder eine Wand hinter der Wand sind unsichtbare Arbeiten. UL: Bringen Sie dann in der Ausstellung ein Hinweisschild an, auf dem steht, Roter Stein hinter der Wand? GS: Nein, die Kennzeichnung spielt keine Rolle. Die Arbeit besteht in dem Moment allein in der Arbeit. UL: Und jemand, der die Ausstellung besucht, könnte sie völlig verpassen? GS: Sie ist da, und was passiert, weiß ich nicht. Es gibt andere Arbeiten, die auch nicht als solche erkennbar sind, aber eine Wirkung hinterlassen, eine Stimmung oder ein Verhalten verändern.“ Schneiders Hypothese, dass Aspekte, die nicht unmittelbar, etwa mittels visueller oder haptischer Sinnesdimensionen, erfahren werden können (wie ,rote Steineʻ oder Wände hinter Wänden), auch eine Wirkung entfalten, wirkt stark idiosynkratisch geprägt und dürfte weniger auf real gemachten Erfahrungen, denn – wie der Künstler selbst andeutet – auf nicht begründeten freien Spekulationen beruhen. Wo hierbei eine Grenze anzusetzen ist, zwischen wohlsubstantiiertem Erfahrungswissen und freiem Spekulieren, ist nicht pauschal zu beantworten. Dies spricht allerdings weniger gegen den Versuch, sich mit derartigem Erfahrungswissen zu befassen, als solchen, als vielmehr im Gegenteil für die Notwendigkeit einer genauen und differenzierten Einzelfallbetrachtung. Zitat: Ulrich Loock/Gregor Schneider, … ich schmeiße nichts weg, ich mache immer weiter ... – Gregor Schneider und Ulrich Loock; Interview in: Katalog, Gregor Schneider (Bern: Kunsthalle Bern, 1996) S.19-57. 37 Inwiefern sich dennoch interessante Möglichkeiten für einen interdisziplinären Austausch zwischen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt und ,naturwissenschaftlichenʻ Feldern bieten, dazu mehr in Kap. 11.

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zwischen unterschiedlichen Formen des Wissens- und Erkenntniserwerbs zu ziehen. Während Dilthey mittels einer Kritik der historischen Vernunft38 eine Grundlagensicherung für den Bereich der ,Geisteswissenschaftenʻ anstrebte, unternahm Popper seinerseits den Versuch einer Erkenntnistheorie der modernen ,Naturwissenschaftenʻ39. Den Hintergrund beider Projekte bildete, aller gegebenen Unterschiede zum Trotz, der verbindende Gedanke, dass es nicht zwangsläufig allein einen einzigen gültigen Forschungs- und Wissenschaftsbegriff geben müsse, sondern dass unterschiedliche Weisen des Wissens- und Erkenntniserwerbs auch zu jeweils unterschiedlichen – und nicht durch andere substituierbare – Arten von Wissen und Erkenntnis führen könnten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machten sich mit den bereits genannten Positionen eines Thomas Kuhn 40 und Paul Feyerabend 41 – sowie, nicht zu vergessen, eines Richard Rorty42 – verstärkt Ansätze bemerkbar, die gegen eine strikte Grenzziehung argumentierten. Allerdings sollte damit keineswegs eine Konvergenz unterschiedlicher Formen des Wissens- und Erkenntniserwerbs im Sinn eines einzigen homogenen Wissenschaftsbegriffs behauptet werden. Zwar wurde für einen prinzipiell gleichen Status plädiert, was den Gültigkeitsanspruch unterschiedlicher Formen des Wissens- und Erkenntniserwerbs betrifft. Was methodische Fragen anbelangt, so wurde hingegen, teilweise sogar vehement – Feyerabends viel zitierte Formulierung eines ,anything goesʻ bringt dies pointiert zum Ausdruck –, gegen allgemeinverbindliche Standards angegangen. Differenzen sind also, dies als allgemeiner Punkt, nicht mit Defiziten oder Vorzügen zu verwechseln. Relevanter als die Frage, ob strikte Grenzen zwischen unterschiedlichen Diskursformen gezogen werden können oder nicht, ist angesichts der Frage nach dem Charakter einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt daher wohl eher, welche spezifischen Qualitäten in diesem Kontext diskutiert wurden. Und in dieser Hinsicht mögen Unterscheidungen, wie sie historisch getroffen wurden, durchaus eine Richtungsanzeige ermöglichen. So unterscheidet Wilhelm Dilthey zwischen erklärenden und verstehenden Erkenntnisformen. Hermeneutische Prozesse kennzeichneten demnach alle Wissenschaften des handelnden Menschen, oder in anderen Worten: jene Bereiche die heute, maßgeblich im Anschluss an Dilthey selbst, unter den Begriffen der ,Geisteswissenschaftenʻ gefasst werden, während ein Erklären den ,Naturwissenschaftenʻ vorbehalten sei. Eine derartige Unterscheidung ist heute, im Sinn einer zur Konvention gewordenen Setzung, die unreflektiert diskursiv reproduziert wird, in Frage zu stellen. Die einst zu Grunde liegende Intention Diltheys, die bezweckte, das Spezifische eines jeweiligen forschenden Bereichs zu 38 Siehe (u.a.): Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften – Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte; Gesammelte Schriften, Bd.1; herausgegeben von Bernhard Groethuysen (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1991). 39 Vgl. Karl Popper, Logik der Forschung – Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft (Tübingen: Mohr Siebeck, 1934). 40 Vgl. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago: University of Chicago Press, 2012). 41 Vgl. Paul Feyerabend, Against Method (New York: Verso Books, 2010). 42 Siehe etwa: Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature (Princeton: Princeton University Press, 1979).

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kennzeichnen, könnte hingegen durchaus zu einer Einschätzung der spezifischen Qualitäten einer künstlerisch-philosophisch basierten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt beitragen. Denn deren Potential dürfte weniger auf Seiten eines Erklärens liegen (etwa der mikro-physiologischen Prozesse, die sich während eines Wahrnehmungsprozesses ereignen), als vielmehr in einer verstehenden Einblicknahme bestehen, nämlich in die Art und Weise, wie es sich anfühlt, eine spezifische Wahrnehmungserfahrung einer (gebauten) menschlichen Umwelt zu machen.43 Ein weiteres, sicher nicht minder interessantes Unterscheidungskriterium, findet sich in der historischen Differenzierung zwischen sogenannten nomothetischen und idiographischen Formen des Wissens- und Erkenntniserwerbs, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts durch den Neu-Kantianer Wilhelm Windelband und seinen Schüler Heinrich Rickert entwickelt wurde. Als maßgebliches Kriterium wird dabei herausgestellt, ob eine jeweilige Form des Wissens- und Erkenntniserwerbs auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten oder auf die Erklärung von Einzelfällen gerichtet ist. Während das nomothetische Erkenntnisideal verlangt, Untersuchungsgegenstände hinsichtlich ihrer verbindenden Merkmale zu sortieren und von Unähnlichkeiten zu abstrahieren, verlangt das idiographische Ideal gerade im Gegenteil nach einem Herausarbeiten der Unterschiede, die zur Erklärung der Besonderheit eines Einzelfalls beitragen können. Ziel dieser von Windelband und Rickert eingeführten Unterscheidung war es, einem fortschreitenden, von den ,Naturwissenschaftenʻ her abgeleiteten Anspruch entgegenzutreten, nach dem Wissenschaft per se stets auf das Universelle, Regelhafte, Gesetzmäßige abzuzielen habe. Andererseits betont Windelband ausdrücklich, dass letztlich, in mehr oder weniger stark ausgeprägter Form, Anteile beider Forschungsideale in jedem Bereich anzutreffen seien.44 Interessant im gegebenen Kontext ist diese Unterscheidung zunächst einmal, als sie – wissentlich oder unwissentlich – an eine Unterscheidung anknüpft, die bereits Alexander G. Baumgarten bezüglich der von ihm konzipierten Ästhetik als einer Lehre der sinnlichen Erkenntnis Mitte des 18.Jahrhunderts traf. Dabei stellt, wie in Kapitel 2.2 ausgeführt, Baumgarten dem logischen ,oberem Erkenntnisvermögenʻ ein sinnliches ,unteres Erkenntnisvermögenʻ bei Seite. Ersteres zeichnet sich dadurch aus, dass es Klarheit in der Vorstellung auf ,intensiveʻ Weise erlangt, zweiteres auf ,extensiveʻ Weise. Hierzu Dagmar Mirsbach: Durch Baumgartens Unterscheidung der intensiven und extensiven Klarheit läßt sich [...] die eigene Qualität der cognitio sensitiva näher bestimmen. Im Gegensatz zur verstandesmäßigen, logischen Erkenntnis, deren Ziel es ist, einzelne Merkmale eines Gegenstands so intensiv-klar, 43 Diese tendenzielle Verortung liefert auch eine Antwort auf die oben thematisierte Frage nach quantitativ messbaren Ergebnissen. Diese werden im Rahmen philosophischer oder künstlerischer Untersuchungsmethoden, wie sie in dieser Untersuchung beschrieben wurden, weniger deshalb nicht erreicht, weil dies prinzipiell unmöglich wäre (auch Arnold Berleants oder Bruce Naumans experimentelle Vorgehensweisen ließen sich potentiell bestehenden ,naturwissenschaftlichenʻ Standards angleichen), sondern vor allen Dingen deshalb, weil derartige Ergebnisse schlichtweg nicht angestrebt werden. 44 Vgl. Wolfgang Krohn, Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten; in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hrsg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft (Bielefeld: Transcript, 2011).

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d.h. so deutlich oder näherungsweise so adäquat wie möglich zu erkennen, zeichnet es die sinnliche Erkenntnis aus, daß sie den selben Gegenstand extensiv-klar in eine größere Merkmalsfülle […] erfassen kann. Die sinnliche Erkenntnis ist mithin „keine Vorstufe zur Deutlichkeit“ der Vorstellungen der logischen Erkenntnis, sondern ihre ,Zielrichtungʻ ist gerade umgekehrt: Während sich die deutliche Erkenntnis – abstrahierend und analysierend – „auf die mehreren Dingen zukommenden, gleichen Merkmale“ konzentriert, „um aus der Menge der Gleichen die Spezies zu bilden“, achtet die sinnliche Erkenntnis – konkretisierend und synthetisierend „auf die möglichst reichhaltige Menge von Merkmalen, die das Eigentümliche und nicht Vergleichbare“ des Gegenstands ausmachen.45

Oder in anderen Worten: Baumgartens Ästhetik ist eine ideografische Wissenschaft avant la lettre. Interessant ist diese Unterscheidung aber vor allem auch hinsichtlich des sich abzeichnenden Charakters einer aktuellen Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt. Diese dürfte in ihrer Gestalt nämlich zwischen den beiden Polen des Nomothetischen und des Idiographischen, sprich: zwischen der Herausarbeitung allgemeiner Wirk- und Wahrnehmungsweisen und der präzisen Erfassung konkreter wahrnehmungsgebundener Erfahrungen der (gebauten) menschlichen Umwelt oszillieren. Hierfür wurde weiter oben das Bild des Pendels gewählt, das zwischen konkreten Einzelfalluntersuchungen und elementaren bzw. übergreifenden Fragestellungen hin und her schwingt. Gerade der Gedanke der Idiographie, interpretiert als eine Art des Forschens, die das Regelhafte nicht ausschließt, aber auch nicht zwanghaft sucht, während sie das Hauptaugenmerk auf die Erforschung der Besonderheit des Einzelnen legt, könnte für eine Aisthetik dabei wegweisend sein.

45 Dagmar Mirsbach, Einführung zur fragmentarischen Ganzheit von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750/58); in: Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik; Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirsbach, Band I (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2007), S.XLII.

Kapitel 10 Anwendungsbezogene Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt

Mit den Betrachtungen von Kapitel 9 ist diese Untersuchung an ihrem Ziel angelangt – eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt hingegen erst an ihrem Anfang. Denn mit den bisherigen Überlegungen sind die Grundzüge eines kollaborativen künstlerisch-philosophisch basierten Forschens bestimmt. Eine Realisierung in der Praxis steht indes erst noch bevor. Dass in den Alltag einer Forschung, die bislang allein latent existiert, kein faktischer Einblick genommen werden kann, versteht sich. Dennoch soll im Rahmen zweier Ausblicke zumindest ein gewisser Eindruck vermittelt werden. Kapitel 10 wendet sich hierzu einer – künftig möglichen und wahrscheinlichen – anwendungsbezogenen Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zu. In diesem Kontext wird einer Erscheinungsform architektur- und ortsbezogener Installationen Aufmerksamkeit zuteilwerden, die bislang erst ansatzweise zur Sprache kam: nämlich solchen Installationen, die sich unmittelbar in situ, in konkreten Orten des urbanen Außenraums verankern. Derartige Installationen könnten, so die Vermutung, ein doppeltes Potential in sich bergen: Zum einen, weitere konkrete Mittel zur Untersuchung (gebauter) menschlicher Umwelten bereitzustellen; zum anderen, mittels ihrer spezifischen Verfasstheit, zugleich einen Beitrag zu deren Veränderung zu leisten. Um sich diesem vielversprechenden Doppelpotential zu nähern, werden unter Punkt 10.1 einige Beispiele für In-situ-Installationen und ihre jeweiligen Arbeitsmitteln vorgestellt. 10.2 greift im Anschluss zwei Exempel heraus, anhand derer sich der Arbeitsprozess von einer künstlerischen Voruntersuchung bis zu einem konkreten Eingreifen vor Ort nachvollziehen lässt. In 10.3 schließlich wird die Frage gestellt, wie genau sich die vorgestellten Positionen und Herangehensweisen zum Gedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt verhalten bzw. welchen spezifischen Beitrag sie zu dieser zu leisten versprechen. Beschließen möchte ich das Kapitel mit einigen freieren Überlegungen (10.4), die – anders als die Ausführungen bis zu diesem Punkt hin – weniger Gegebenes offenlegen und zusammenführen, als dass sie Fäden für ein künftiges Anknüpfen auslegen.

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10.1 B EISPIELE

VON I N - SITU -I NSTALLATIONEN

Der folgende Ausblick 1 wird sich mit der Frage einer künftigen anwendungsbezogenen Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt befassen. Hierzu sind einige Vorbemerkungen notwendig: Zunächst einmal muss erklärt werden, was an dieser Stelle unter einer ,anwendungsbezogenenʻ oder auch ,anwendungsorientierten Praxisʻ verstanden werden soll. Die alltägliche Praxis einer Forschung kann prinzipiell unterschiedliche Facetten aufweisen: Sie kann sich, der Tendenz nach, stärker am theoretisch-reflexiven oder am empirischen Ende der Skala verorten, wobei beide Seiten, wie in Kapitel 9.3 festgestellt wurde, im Rahmen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt unabdingbar miteinander in Verbindung stehen. Wenn im Weiteren von einem ,Anwendungsbezugʻ die Rede ist, so ist damit also nicht etwa eine Unterscheidung in Theorie und Praxis gemeint. (Auch das theoretische Arbeiten an konzeptionellen Fragestellungen kann Forschungsalltag und in diesem Sinn ,Praxisʻ einer Forschung sein, ebenso wie ,Theorieʻ im Zuge konkreter empirischer Untersuchungen zum Einsatz gebracht werden und sich auf diese Weise in ,Praxisʻ wandeln kann.) Gleichermaßen nicht gemeint ist eine Unterteilung in philosophische Reflexion und künstlerische Aktion. Eine derartige Unterteilung ist, wie im Zuge der Untersuchung immer wieder deutlich wurde, allgemein problematisch und insbesondere vom Standpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aus hinfällig. Vielmehr soll an dieser Stelle eine Differenzierung vorgenommen werden, ähnlich wie sie angesichts anderer Forschungsbereiche zwischen Grundlagenforschen und angewandtem Forschen gezogen wird. Oder, konkret gesagt: Mit der ,anwendungsbezogenen Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umweltʻ ist hier und im Weiteren die Untersuchung singulärer (gebauter) menschlicher Umwelten gemeint. Wie aber kann ein Ausblick in konkrete Einzelfalluntersuchungen gegeben werden, wenn diese noch gar nicht praktiziert werden? Das Problem stellt sich. Doch wäre es voreilig, aus diesem Umstand zu folgern, dass schlichtweg nichts über die künftig mögliche und wahrscheinliche anwendungsbezogene Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt ausgesagt werden könnte. Bereits die Auseinandersetzung mit dem Feld der architektur- und ortsbezogenen Installation im Allgemeinen hatte gezeigt, inwiefern diese wichtige Hinweise auch und nicht zuletzt hinsichtlich konkreter empirischer Untersuchungsmittel einer real praktizierten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zu liefern vermag. (Einige Beispiele zur Erinnerung: Bruce Nauman zeigt mit seinen Korridor-Arbeiten einen Weg auf, mit spezifischen (gebauten) menschlichen Umwelten in Gestalt installativer Set-ups zu experimentieren; Ilya Kabakov gibt Einblicke in systematisch erkundende Vorgehensweisen; Gregor Schneider führt physische Ortsbegehungen durch.) Eine Auseinandersetzung mit solchen architektur- und ortsbezogenen Installationen, die sich unmittelbar in realen Orten des urbanen Außenraums verankern, dürfte in diesem Sinn also durchaus dazu beitragen, weitere Einblicke hinsichtlich einer möglichen anwendungsbezogenen Praxis zu gewinnen. Nur gilt es, in diesem Punkt präzise zu sein: Was im Weiteren vorgenommen werden kann, ist, um es genau zu sagen, nicht ein Exkurs in die anwendungsbezogene Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt selbst, wohl aber in den potentiellen Beitrag, den bereits heute existente künstlerische Vorgehensweisen zu einer künftigen anwendungsbezogenen

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Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt liefern könnten. Oder, bildlich ausgedrückt: Erneut soll ein Blick nach vorn mittels eines Blicks zurück in den Spiegel des Bestehenden geworfen werden. Vorab allein noch eine kurze Anmerkung terminologischer Art: Die spezifische Möglichkeit von architektur- und ortsbezogenen Installationen, sich in einem konkreten Ort im urbanen Außenraum einzubetten, wird im Weiteren verkürzt als ,In-situInstallationʻ – also als: ,vor Ortʻ- oder wörtlich: ,im Ortʻ-Installation – bezeichnet. Dabei handelt es sich um keine kunsttheoretische Gattungsdefinition, sondern, einmal mehr, um eine operative Bestimmung. 1 Angesprochen wurde diese besondere Möglichkeit der architektur- und ortsbezogenen Installation bereits anhand einiger Einzelbeispiele. Stand in den vorausgehenden Betrachtungen dabei die Frage im Vordergrund, inwiefern architektur- und ortsbezogene Installationen einen jeweiligen Ort, an dem sie sich verankern, quasi unweigerlich und ,von selbstʻ in den Kontext eines installativen Gefüges einbeziehen (zu denken an Gregor Schneiders und Ilya Kabakovs Anmerkungen zur Rolle des Fensters), so soll nun – im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Rachel Whitereads Arbeiten House oder Mahnmal am Judenplatz, Wien – gefragt werden, welche unterschiedlichen Möglichkeiten der bewussten Einbeziehung und gezielten Bezugnahme es gibt. Beispiele von In-situ-Installationen Welche Beispiele an architektur- und ortsbezogenen Installationen gibt es, die sich in konkreten (gebauten) menschlichen Umwelten des urbanen Außenraums, im Wortsinn, ,verortenʻ – und welcher Mittel bedienen sie sich dabei? Naheliegend ist in diesem Kontext zunächst noch einmal ein Blick auf Rachel Whitereads Arbeit House. Wie in Abschnitt 9.4 dargestellt, wendet sich die Künstlerin in dieser einem typischen englischen Reihenhaus zu, wie es sich vielerorts in Großbritannien antreffen lässt. Gemäß Whitereads üblicher Herangehensweise wird das Gebäude im Zuge des Arbeitsprozesses abgeformt und in sein materielles Gegenteil verkehrt. (Das, was zuvor Hohlraum war, i.e. die Zimmer des Hauses, wird massiv ausgefüllt; das, was zuvor massiv war, i.e. die Mauern, wird entfernt.) Allerdings ergibt sich durch die materielle Umkehrung mehr als allein die Bezugnahme auf ein singuläres Gebäude. Denn es ist nicht nur die fehlende Außenhaut eines Hauses, die durch Whitereads Eingriff als abwesend erfahren werden kann. Vielmehr ist die Arbeit House umgeben von einer weiten Brachfläche, welche einst flächendeckend mit Häusern wie jenem, das Whiteread abformt, besetzt war. Worauf das in sein materielles Gegenteil verkehrte Rudiment hinweist, ist also die Abwesenheit nicht nur eines Gebäudes, sondern gleich mehrerer Häuser, ja, letztlich einer ganzen, einstmals am Standort befind1

Der Ausdruck ,In-situ-Installationʻ findet hier und im Weiteren für urbane Außenraumarbeiten Verwendung. Prinzipiell könnte er auch solche architektur- und ortsbezogenen Installationen einschließen, die sich in ländlichen Regionen oder in Innenräumen verorten. Bedingung hierfür wäre, dass ein Innenraum nicht allein als ein peripherer Bezugspunkt neben anderen dient (wie etwa in den Installationen Kabakovs der Fall), sondern dass eine intensive Auseinandersetzung mit diesem – potentiell auf formaler wie inhaltlicher Ebene – einen zentralen Gegenstand der Arbeit darstellt (wie bei Gregor Schneiders Haus u r, oder noch deutlicher in einem klassischen Exempel der institutionskritischen Kunst, bei Michael Asher, der Fall).

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lichen und heute verschwundenen neighbourhood.2 Oder, wie man im Sinn des Gedankens einer künstlerischen Untersuchung (gebauter) menschlicher Umwelten sagen könnte: Zwar untersucht Whiteread konkret nur ein singuläres Gebäude. Da es sich bei diesem jedoch um ein für seine Nachbarschaft typisches Haus handelt – und da die weitere Umgebung im Sinn eines physisch erfahrbaren Umraums (vergleichbar der Wirkungsweise von Whitereads Arbeit Ghost3) unmittelbar in den installativen Eingriff einbezogen wird –, erstreckt sich die Reichweite der Untersuchung auf mehr als ein singuläres Objekt. Wie ließe sich dies Arbeitsweise, wie sie die Künstlerin im Fall von House an den Tag legt, nun begrifflich charakterisieren? Einerseits kann man sie wohl als recht offensichtlich ,destruktivʻ – bzw. präziser als ,de(kon)struktivʻ – bezeichnen, andererseits birgt sie zugleich, wenn auch weniger offensichtlich, ein ,poietischesʻ Momente in sich. De(kon)struktiv geht die Künstlerin insofern vor, als ein konkreter, einmaliger Ort (i.e. das Gebäude mit der Hausnummer 193 in der Grove Road, London) demontiert wird, wobei die Künstlerin – anders als bei ihren übrigen orts- und architekturbezogenen Installationen – bereits aus technischen Gründen gezwungen ist, den einstigen Gegenstand der Auseinandersetzung zu zerstörten. Die De(kon)struktion erfolgt aber nicht etwa willkürlich, sondern es werden, gemäß des konstruktiven Aufbaus des Hauses, geradezu behutsam, nach und nach, Schritt für Schritt und Stück für Stück, Dach, Decken, Wände entfernt. ,Poietischʻ (von altgr. ,poiesisʻ = hervorbringen) verhält sich Whitereads Vorgehensweise hingegen insofern, als das Ziel der de(kon)struktiven Anteile ihres Arbeitens nicht schiere Zerstörung ist, sondern die produktive Hervorbringung von etwa, das zuvor zwar vorhanden, nicht jedoch materiell präsent und als solches physisch-materiell erfahrbar war.4 Eine verwandte Herangehensweise findet sich bei einem anderen Künstler, der (gebaute) menschliche Umwelten vor Ort, in situ, bearbeitet, und zwar bei Gordon Matta-Clark. Dessen charakteristische Weise der Annäherung an Gebäude mag, jedenfalls auf den ersten Blick und in direktem Vergleich mit Whitereads Vorgehensweise, wenig poietisch und schlichtweg destruktiv erscheinen. Denn anders als bei Whiteread der Fall demontiert Matta-Clark in seinen als Cuttings bezeichneten Arbeiten (realisiert zwischen 1974 und 1978) Gebäude nicht etwa sachgemäß, um hierdurch etwas, das in deren Innerem verborgen liegt (und sei es ein Vakuum), materiell hervorzubringen. Stattdessen nimmt Matta-Clark ,Schnitteʻ in die Gebäude2

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Das Gebäude, das Whiteread für ihre Arbeit wählte, war vormals Teil eines Ensembles viktorianischer Reihenhäuser gewesen, die auf Grund städtischer Restrukturierungsmaßnahmen zum Abriss freigegeben worden waren. Das Haus, das Whiteread bearbeitete, wurde zunächst gezielt für diesen Zweck ausgespart. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Installation stellte es das einzige Relikt der Nachbarschaft dar. Vgl. Kap. 7.4. Der Begriff ,dekonstruktivʻ, wie er oben Verwendung findet, sollte nicht mit dem gleichlautenden philosophischen Terminus verwechselt werden. Zumindest weist Derrida – der den Ausdruck im philosophischen Kontext prägte – darauf hin, dass sein Verständnis von Dekonstruktion weitergehe bzw. zumindest zu unterscheiden sei von gleich bezeichneten künstlerisch-architektonischen Praktiken. Zum Dialog zwischen dekonstruktiver Philosophie und dekonstruktivistischer Architektur siehe: Jacques Derrida/Peter Eisenman, Chora L works; herausgegeben von Jeffrey Kipins/Thomas Leeser (New York: Monacelli, 1997).

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substanz vor: Dabei versieht der Künstler Häuser mit kegelförmigen Aussparungen (Conical Intersect, 1975), er schneidet Kuben aus diesen heraus (Splitting Four Corners, 1974) oder teilt sie mittels eines einzigen langen Schnittes, der die gesamte Breite eines Hauses durchzieht, als Ganzes in zwei Hälften (Splitting, 1974). Die auf solche Weise behandelten – um nicht zu sagen: misshandelten – Gebäude sind nach Matta-Clarks Eingreifen dabei weder reparabel, noch können sie dauerhaft konserviert werden. Dieses drastische Moment in Matta-Clarks Vorgehensweise mag nicht zuletzt der Grund dafür sein, dass die Arbeiten des Künstlers von Seiten einer Rezeptionstheorie her nicht selten als Architekturkritik mit radikalen Mitteln interpretiert werden (wobei Matta-Clark selbst mit Wort und Tat zu einer derartigen Interpretation beigetragen hat).5 Von einer Betrachtungsperspektive aus, die, anders als eine übliche Rezeptionstheorie, nicht auf ,zu rezipierende Kunstwerkeʻ, sondern auf künstlerische Arbeitsprozesse gerichtet ist, kann und sollte Matta-Clarks Vorgehen jedoch nicht derart einseitig verkürzt aufgefasst werden.6 Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist das Interesse des Künstlers keineswegs allein auf das Erreichen eines bestimmten, kritisch-destruktiven Endresultats gerichtet. Einen interessanten Einblick gibt diesbezüglich das von Matta-Clark angefertigte Dokumentationsmaterial zu seinen Arbeiten, in dem der Künstler auch Zwischenschritte, wie sie sich sukzessive, im Lauf des Arbeitsprozesses einstellen, festhält und dokumentiert. Die prozessuale, untersuchende Komponente in Matta-Clarks Arbeit selbst sollte also, und dies als Grund eins, nicht unterschätzt werden. Zum anderen steht auch was ein angestrebtes Endresultat anbelangt bei Matta-Clark weniger der konkret realisierte Eingriffe per se im Vordergrund (etwa in Gestalt einer abstrakt-geometrischen Form, die der Künstler in ein Gebäude einschneidet7) als vielmehr dasjenige, was durch diesen formalen Ein5

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Matta-Clark spricht zuweilen selbst von seiner künstlerischen Herangehensweise als einer ,subversiven Praxisʻ. Die wohl radikalste Aktion, die diesen Aspekt im Arbeiten MattaClarks zum Ausdruck bringt, dürfte Window Blow-out (1976) darstellen, in der MattaClark die Fenster eines Ausstellungsgebäudes – es handelte sich (man mag es für Zufall halten oder nicht) um den Sitz des renommierten Institute for Architecture and Urban Resources, New York – mit einem Luftgewehr zerschoss. Der Architekt Rem Koolhaas erinnert sich an den Einfluss, den Matta-Clarks Arbeiten auf ihn hatte, wie folgt: „I was fascinated by Matta-Clark. I thought he was doing to the real world what Lucio Fontana did to canvas. At the time, the most shocking, exciting aspect of his work was maybe the glamour of violation. Now I also think that his work was a very strong, early illustration of some of the power of the absent, of the void, of elimination, i.e. of adding and making.“ Koolhaas rezipierte, nach Selbstaussage, Matta-Clarks Arbeit also zunächst allein hinsichtlich dessen destruktiven Gestus', der ihn an Fontanas Leinwandschnitt-Bilder erinnert. Erst später erkannte er die produktive Seite, das Hervorbringen durch substraktive Verfahren, das „adding and making“, das in diesem Vorgehen eingebettet liegt. Zitiert nach: Stephen Walker, Gordon Matta-Clark - Art, Architecture and the Attack on Modernism (London: I.B. Tauris, 2009) S.Xii. In der Arbeit Conical Intersect (1975) schneidet Matta-Clark einen Kegel, also eine konisch, sich zu einer Spitze hin verjüngende geometrische Form, in ein Gebäude. Bei Circus/The Caribbean Orange (1978) dienen Kugelformen als Vorlage. Was die Orientierung an derartigen Formen Matta-Clark ermöglicht, ist, eine Logik (die der geometrischen

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griff aisthetisch – also ebenso sensorisch-kognitiv wie multisensorisch – zu erfahren möglich wird. Matta-Clark selbst hierzu: Everybody [...] accepts architecture as something to look at [however – Einfügung B.H.], surface [...] is too easily accepted as a limit. [...] I was [...] becoming very interested in [...] breaking through the surface [...] it was the kind of thin edge of what was being seen that interested me [...] the layering, the strata, the different things that are being severed.8

Es sind also die „strata“, die Schichtungen, dasjenige, was unter der „thin edge“ der visuellen Oberfläche, wie Matta-Clark formuliert, verborgen liegt, worauf hin sich das erkundende Interesse des Künstlers richtet.9 Das Mittel des Schnitts erlaubt es Matta-Clark dabei, ein Gebäude im Arbeitsprozess dynamisch und aktiv physisch – oder phänomenologisch formuliert: am eigenen Leib – zu erfahren; ebenso, wie es potentiellen RezipientInnen (die sich im Grunde genommen, statt allein fotografische Dokumentationen zu betrachten, ebenso wie der Künstler selbst aktiv durch ein Gebäude hindurch bewegen müssten, um Matta-Clarks Eingriffe wirklich nachzuvollziehen zu können) ein Gefühl für all dasjenige zu geben vermöchte, was üblicherweise verborgen bleibt, wie bspw. die Lagebeziehungen von neben- oder übereinander gelegenen Zimmern, die materielle Zusammensetzung von Wänden und Decken, das Vorhandensein von verborgenen Zwischen- und Hohlräumen. Um zusammenzufassen: Vergleichbar Rachel Whitereads Ansatz enthält also auch Gordon Matta-Clarks Vorgehensweise bei genauerer Betrachtung keineswegs allein destruktive Züge 10 , sondern ebenso poietische, ,das Verborgene hervorbringendeʻ Momente. Dass In-situ-Installationen in ihrem künstlerischen Umgang mit (gebauten) menschlichen Umwelten keineswegs immer, wie bei Whiteread und Matta-Clark der Form) mit einer anderen Logik (die des architektonischen Aufbaus eines Gebäudes) zu kontrastieren (vgl. Office Baroque, 1977, Abb. 42-44). 8 Zitat wurde aus mehreren Passagen zusammengeführt. Zitiert nach: Moure, Gloria (Hrsg.), Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings (Barcelona: Poligrafia, 2006) S.167; sowie: Stephen Walker, Gordon Matta-Clark – Art, Architecture and the Attack on Modernism; a.a.O., S.31 und S.33. 9 Auch Rachel Whiteread, deren künstlerische Untersuchungen sich weniger auf baulichmaterielle Aspekte denn auf sedimentierte Geschichte sowie das Verhältnis von An- und Abwesenheit richten, bringt dieses Interesse zum Ausdruck, wenn sie formuliert: „the space beneath the floorboards is like the intestines of the house, containing the vestiges of the lives of those that have lived there.“ Zitat: Andrea Rose/Rachel Whiteread, Rachel Whiteread interviewed by Andrea Rose; Interview; in: Katalog, Rachel Whiteread; a.a.O, S.34. 10 Nicht destruktiv sondern dekonstruktiv ist Matta-Clarks Vorgehensweise insofern, als der konstruktive Aufbau eines Gebäudes einen zentralen Gegenstand der Auseinandersetzung bildet, dem jedoch gezielt zuwidergehandelt wird. Man könnte also, hinsichtlich der negativen Anteile in Matta-Clarks Methodik, auch von einer anti-konstruktiven Vorgehensweise sprechen, die sich – im Gegensatz zu Whitereads Vorgehen, das den gegebenen konstruktiven Aufbau seiner eigenen Logik gemäß zergliedert und umkehrt – gezielt einer baulichen Konstruktion zuwider verhält, um diese eben hierdurch umso deutlicher herauszuarbeiten.

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Fall, mit einer ,negativen Methodikʻ – im Sinn eines die bestehende Substanz destruierenden Eingreifens –, einhergehen müssen, machen andere Beispiel deutlich. Eine künstlerische Position, die sich sogar ausdrücklich erhaltender bis rekonstruktiver Mittel bedient, findet sich bei Dani Karavan. Dessen künstlerischer Ansatz mag, was eine formale Ebene betrifft, eher bildhauerisch als installativ anmuten. Allerdings verorten sich Karavans skulpturale Arbeiten fast ausschließlich in Außenräumen, wobei sie – und dies durchaus entgegen einem üblichen Verständnis von Skulptur und Plastik – gezielt versuchen eine dichotome Trennung von Objekt und Umgebung aufzuheben. Was Karavans In-situ-Arbeiten stattdessen anstreben, ist eine gleichberechtigte Verschränkung von gebauter und natürlicher menschlicher Umwelt. (Und in dieser Hinsicht dürften sie sogar auf geradezu exemplarische Weise einem interkonnektiven Umweltbegriff, wie bspw. von Arnold Berleant vertreten, Form verleihen.11) An dieser Stelle seien, zwecks Veranschaulichung, allein zwei Arbeiten Karavans genannt. Ein Beispiel für einen konservierenden Eingriff findet sich in der Arbeit Garten der Erinnerung (Duisburg, 1999). Dabei handelt es sich um eine Außenraumgestaltung, in der Rudimente eines einstigen Industriegeländes (konkret: Verwaltungsgebäude und Lagerhallen), das in einen öffentlichen Park umgewandelt werden sollte, bereits während der Abrissphase durch den Künstler gezielt erhalten, bearbeitet und schließlich mit neu angelegten Grünflächen zu einer Einheit verbunden wurden. Nicht allein erhaltend, sondern obendrein rekonstruktiv verhält sich eine Arbeit wie Misrach (Regensburg, 2008). Hier bildet Karavan den Grundriss einer im Mittelalter zerstörten Synagoge an ihrem einstigen Standort nach, indem er diesen als vertieftes Bodenrelief in einen öffentlichen Platz einprägt. Diese Vorgehensweise trägt nicht allein rekonstruktive, sondern auch konservierende Züge insofern, als reale historische Zeugnisse (erhaltene Grundmauern) einbezogen wurden und sich mit neu gestalteten Elementen (weißen Betonquadern), die über den originalen Mauern errichtet wurden, zu einer Einheit verbinden.12

11 Dies ist übrigens selbst angesichts eines künstlerischen Bereichs wie der land art – von dem bereits von Begriffs wegen eine Wertschätzung der natürlichen Umwelt zu erwarten wäre – keineswegs selbstverständlich. So stellt bspw. der land art-Künstler Michael Heizer klar: „It's about art, not about landscape“, wobei er sich ausdrücklich gegen eine ideelle Einverleibung der land art in die Ökologiebewegung richtet. Zitiert nach: Griselda Pollock (Hrsg.), Generations and Geographies in the Visual Art: Feminist Reading (London: Routledge, 1996) S.300. 12 Eine konservierend-rekonstruktive Herangehensweise zeigt sich nicht nur in der Arbeit Dani Karavans, der seinen architektur- und ortsbezogenen Ansatz bereits seit den 1960er Jahren entwickelt. Sie lässt sich auch in Arbeiten aus jüngerer Zeit antreffen, wie etwa der In-situ-Installation Grabungsstaedte von Dagmar Schmidt (Halle, 2003-2005). Hier wurde ein Großraumwohnkomplex aus DDR-Zeiten im wörtlichen Sinn bis auf seine Grundmauern abgetragen. Auf Betreiben der Künstlerin blieben allein die Außenmauern und Wände des ansonsten abgerissenen Gebäudes bis zu einer Höhe von ca. 1,5 m bestehen. Ein nicht allein konservierendes, sondern zudem rekonstruktives Moment findet sich hierbei in Form der Einrichtung des Gebäudes, die von der Künstlerin in einer prototypischen Variante in Beton nachgebildet und in die Installation integriert wurde.

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Ein künstlerisches Vorgehen, das de(kon)struktive und rekonstruktive Züge im Sinn eines Collage-Prinzips miteinander vereint, findet sich bei Siah Armajani. 13 Dieser setzt sich in zahlreichen seiner Außenraumarbeiten mit vernakulären – also ortstypischen, alltäglichen, ohne Mitwirkung professioneller ArchitektInnen entstandenen – US-amerikanischen Bauformen auseinander. De(kon)struktive Momente kennzeichnen Armajanis Installationen insofern, als sie vernakuläre Gebäude, gedanklich, sowie in Form von Modellen, zunächst in einzelne Segmente und räumliche Situationen zerlegen (etwa: ,Eingangssituationʻ, ,Ausgangssituationʻ, ,Ecksituationʻ etc.). ,Rekonstruktiveʻ und ,collagehafteʻ Züge tragen sie, da im Rahmen von Armajanis Vor-Ort-Eingriffen einzelne Segmente und räumliche Situationen in Originalgröße nachgebildet und zu einer Einheit synthetisiert werden, wobei im Resultat nicht erneut komplette Gebäude entstehen, sondern bewusst fragmentarische Collagen, die spezifische Elemente vernakulärer Bauformen mit vorgefundenen natürlichen und gebauten menschlichen Umwelten verzahnen. Eines vergleichbaren Prinzips bedient sich auch Dan Graham in einer Reihe von In-situ-Arbeiten, so in Alteration to a Suburban House. Dieser konzipierte, dabei nie real ausgeführte, Eingriff beruht auf einer intensiven Auseinandersetzung des Künstlers mit architektonischen Baustilen und konstruktiven Bauweisen, wie sie sich in den verschiedenen Bereichen US-amerikanischer Städte, vom Innenstadtbereich bis hinein in die Vorstadtgürtel, antreffen lassen. Als prototypisch erachtet Graham in diesem Kontext zwei Bauformen: Erstens eine moderne Stahl-und-Glas-Architektur (sei es in Form exklusiver moderner Villen im Stil eines Mies van der Rohe oder einer, die US-amerikanischen Innenstädte dominierenden, Wolkenkratzerarchitektur), sowie zweitens eine industrielle, modulare Fertigbauweise von suburbanen Wohnhäusern. Beide Bauformen überlagert Graham in seinem Konzept für Alteration to a Suburban House, indem er Elemente des einen (den Baukörper des suburbanen Fertighauses) mit Elementen des anderen (einer die gesamte Fassade einnehmende Glasfläche) collagiert. Noch freier im Umgang mit einer nur latent an einen konkreten Ort gebundenen Thematik verhalten sich Arbeiten wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas von Peter Eisenman (Berlin, 2003-2005; ursprünglicher Entwurf: Peter Eisenman/Richard Serra) oder der formal äußerst ähnliche Garten des Exils von Daniel Libeskind (Jüdisches Museum, Berlin 2001).14 Wie bei Dani Karavans Rekonstrukti13 Armajanis Vorgehensweise trägt nicht allein de(kon)struktive und rekonstruktive Züge an sich, sie wird auch vom Künstler selbst explizit als „deconstructive-reconstructive method“ bezeichnet; vgl. Jean-Christophe Ammann/Wim A.L. Beeren; Vorwort zum Ausstellungskatalog; in: Katalog, Siah Armajani - Kunsthalle Basel/Stedelijk Museum Amsterdam (Basel: Kunsthalle Basel, 1987) o.S. 14 Beide Arbeiten wurden durch Architekten realisiert, fügen sich aber – insbesondere auf Grund des auch in diesen Fällen zentralen Moments einer unmittelbar physischen Erfahrbarkeit (sowie des Faktums, dass eben diese Erfahrbarkeit den zentralen Gegenstand der Arbeiten darstellt) – in dasjenige ein, was an dieser Stelle unter dem Begriff der In-situInstallationen diskutiert werden soll. In allgemeinerer Hinsicht wird anhand dieser Beispiele noch einmal gut ein Sachverhalt deutlich, auf den im Lauf der Untersuchung an verschiedenen Stellen immer wieder hingewiesen wurde: nämlich, dass eine Differenz von installativer Kunst und Architektur sowie zwischen den Betrachtungsparadigmen

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on eines Synagogengrundrisses handelt es sich auch bei diesen um In-situGestaltungen, die sich mit der historischen Tiefendimension eines Ortes befassen. Und ebenso wie bei Dani Karavan der Fall, wird auch bei Eisenman und Libeskind ebendiese Dimension im Sinn einer physisch erlebbaren Topografie aus einem jeweiligen Ort herausgearbeitet bzw. in diesen eingeprägt. In beiden Fällen handelt es sich um ein vertieft in den Boden eingelassenes, minimalistisches Stelenfeld, wobei dieses bei Libeskind eine vergleichsweise kleine Ausdehnung besitzt, während es bei Eisenman einen weit ausgedehnten innerstädtischen Platz einnimmt. 15 Ein Unterschied zu Dani Karavan besteht hingegen im Charakter des zu Erfahrenden: Denn während es sich bei Karavan um die, zumindest in ihren Rudimenten, noch vorhandene und somit real gegebene Tiefendimension eines Ortes handelt (Karavans Arbeit rekonstruiert den Grundriss einer Synagoge über deren materiellen Überresten, er erfindet diese nicht), prägen die Arbeiten Eisenmans und Libeskinds eine freie Gestaltung in einen Ort ein (für die Stelen gibt es keine konkreten Vorbilder oder Bezugspunkte am Ort der Errichtung der Gedenkstätten).

10.2 M ITTEL UND W EGE

VON I N - SITU -I NSTALLATIONEN

Soweit zu einigen konkreten Beispielen von In-situ-Installationen und ihren unterschiedlichen Aktionsweisen. Welche Rückschlüsse sich hinsichtlich der künftigen anwendungsorientierten Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt ziehen lassen, dazu mehr unter 10.3. Zunächst gilt es aber, die genannten Beispiele noch einmal genauer unter dem Gesichtspunkt künstlerischer Arbeitsmittel im Sinn von Untersuchungsmitteln zu betrachten. So lässt sich bei den eingangs behandelten Beispielen Rachel Whitereads und Gordon Matta-Clarks eine enge Verbindung zwischen den jeweils eingesetzten künstlerischen Arbeitsmitteln einerseits und den durch diese zu Tage geförderten künstlerischen Resultaten andererseits feststellen; oder im Sinn eines künstlerischen Forschens formuliert: Zwischen einer jeweiligen Untersu,Architekturʻ und ,(gebauter) menschlicher Umweltʻ letztlich nicht an traditionellen Genregrenzen festzumachen ist. 15 Erstaunlicherweise besitzt der Garten des Exils eine mindestens ebenso starke, wenn nicht stärkere physisch erfahrbare Wirkung wie das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Erstaunlich ist dies insofern, als beide Arbeiten mit äußerst ähnlichen Mitteln arbeiten, wobei Eisenman im Gegensatz zu Libeskind ein Platz von enormer Weite zur Verfügung steht. Allerdings arbeitet er mit einer regelmäßigen, normierten Bodenpflasterung, auf der Stelen weitgehend senkrecht und in gleichbleibenden Abständen zueinander positioniert sind, was den Eindruck eines fest verankerten, normierten Rasters verstärkt. Bei Libeskind stehen die Stelen nicht lotrecht, sondern sind deutlicher spürbar zur Seite geneigt. Zudem setzt Libeskind ein unregelmäßiges und unebenes Kopfsteinpflaster ein. Während Eisenmans Mahnmal also in erster Linie großer Ausdehnung bedarf, um ein Gefühl der Vereinzelung heraufzubeschwören, gelingt es dem Garten des Exils von Libeskind auf vergleichsweise kleiner Fläche, den BesucherInnen mittels subtil eingesetzter Mittel ein intensives Gefühl physischer Beklemmung (angesichts der Übermacht der dem Anschein nach ‚wankenden Stelenʻ) und des Verlusts des sicheren Bodens unter den Füßen (mittels des unebenen Untergrundes) zu geben.

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chungsmethodik und einem Untersuchungsgegenstand. In beiden Fällen ergibt sich eine bestimmte wahrnehmungsbezogene Wirkungsweise sowie, hiermit verbunden: eine sich einstellende aisthetische Erkenntnis, unmittelbar aus der Art und Weise, wie in eine vorgefundene (gebaute) menschliche Umwelt eingegriffen wird: Rachel Whiteread bringt im Fall von House die aneinander gekoppelten Mittel der materiellen Umkehrung und der planvollen De(kon)struktion zum Einsatz. Einerseits wird mittels der Demontage des Gebäudes dessen konstruktiver Aufbau freigelegt, andererseits wird mittels der materiellen Abformung dasjenige, was üblicherweise nicht materiell vorhanden ist, physisch erfahrbar gemacht. Die Untersuchungsmittel des geordneten Dekonstruierens und materiellen Abformens stehen also nicht nur im Wechselbezug zueinander, sondern auch und vor allem in unmittelbarer Verbindung zu einem künstlerischen Resultat, das als Folge des Eingriffs erfahrbar wird. Überspitzt formuliert könnte man auch sagen: Whitereads Installation besteht letztlich aus nichts anderem als eben den Effekten ihres geordneten de(kon)struktiv-poietischen Eingreifens. Gleiches gilt für Gordon Matta-Clarks Verfahren der Cuttings: Auch hier verhalten sich Mittel und Resultat komplementär zueinander, wie ,Ursache und Wirkungʻ (Schneiden und Einschnitt), wie ,Negativ und Positivʻ (Wegnahme des Gegebenen; Schaffung von Hohlräumen, Durchblicken, Beziehungsgefügen), wie ,Frage und Antwortʻ (Woraus besteht ein Haus? Daraus besteht ein Haus, nämlich aus Schichtungen von Tapeten, Trockenbauplatten, Tragwerk, Hohlräumen etc.). Zwar folgt Matta-Clark, anders als Whiteread, mit seiner in methodischer Hinsicht ebenso simplen wie effektiven Vorgehensweise keiner durch eine jeweilige (gebaute) menschliche Umwelt vorgegebenen Logik. Dennoch bringt auch er diese Logik zum Vorschein, wobei er ihr durch das Setzten von Schnitten (die sich konträr zur Logik des konstruktiven Aufbaus eines Gebäudes verhalten), gezielt zuwider agiert und eben hierdurch den materiell-konstruktiven Aufbau eines Gebäudes nur umso deutlicher zu Tage fördert. Stehen künstlerische Mittel und bearbeitete Orte aber nicht immer, in allen genannten Beispielen, in direktem Bezug zueinander? Dass dem nicht so sein muss, dass eine enge Verbindung von künstlerischem Eingriff und der spezifischen Qualität, die mittels eines künstlerischen Eingreifens an einem Ort hervorgebracht wird, keineswegs selbstverständlich ist, wird an den letztgenannten Beispielen ersichtlich. Ein Punkt der Differenz liegt hierbei nicht allein in dem Umstand, dass es sich im Fall Whitereads und Matta-Clarks um Eingriffe handelt, die durch Bildende KünstlerInnen und zu einem Gutteil eigenhändig vorgenommen werden, während es sich bei Eisenman und Libeskind um von Architekten geplante Entwurfsrealisierungen handelt.16 Er liegt auch in dem Faktum, dass die von Eisenman und Libeskind eingesetzten Mittel sich an einem Ort entfalten, ohne tatsächlich in diesen einzugreifen. An16 Entscheidend ist in dieser Hinsicht nicht, von wem ein Ort gestaltet bzw. mit installativen Mitteln untersucht wird, also: ob diese Person sich selbst als Künstlerin, Architektin, Handwerkerin, Theoretikerin deklariert. Entscheidend ist, ob ein jeweiliger Eingriff auf physisch-sensorischer Eigenerfahrung aufbaut und gezielt mit aisthetischen Mitteln umzugehen weiß. Ein Unterschied besteht somit nicht zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen, sondern schleicht sich gleichsam erst durch die Hintertür, mittels der Differenz von distanzierter Planung/theoretischer Auseinandersetzung und eigenem physischen Erleben/Agieren, ein.

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ders als etwa bei den Denkmalsgestaltungen von Dani Karavan (Misrach, Regensburg) oder Rachel Whiteread (Mahnmal für den Judenplatz, Wien) der Fall, wird bei Eisenman und Libeskind nicht eine latent an einem konkreten Ort – und nur an diesem konkreten Ort – vorhandene historische Tiefendimension freigelegt; so, wie diese bei Karavan mittels des angedeuteten Grundrisses eines einst real an eben jenem Fleck befindlichen Gebäudes oder bei Whiteread mittels der Rekonstruktion/Negativabformung eines Zimmers, so wie es sich einst in einem der umliegenden Häuser am Judenplatz befunden haben könnte und noch heute befinden mag, freigelegt wird. Bei den Gestaltungen von Eisenman und Libeskind handelt es sich eher, wie man sagen könnte, um projektive Vorgehensweisen. Diese mögen auf intensiven, vorausgehenden Auseinandersetzungen mit einer historischen und lokal gebundenen Tiefendimension beruhen (wie der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands im Allgemeinen sowie jener der Stadt Berlin im Besonderen). Hinsichtlich eines konkreten Orts, an dem eine künstlerische Auseinandersetzung stattfindet, verhalten sich die Arbeiten jedoch neutral: Eisenmans und Libeskinds Gedenkorte können sich an ihren jeweiligen Standorten, sie könnten sich theoretisch aber ebenso gut einen Häuserblock weiter oder in einem gänzlich anderen Stadtviertel verorten. Beide Arbeiten prägen eine abstrakte formale Struktur in die Oberfläche eines Ortes ein, was entfernte Assoziationen an archäologische Ausgrabungsstätten (an Baufundamente, an traditionelle jüdische Grabmale u.a.) weckt. Sie deuten, auf einer interpretativen Ebene gesprochen, somit eine historische Zerfurchung an und liefern ein metaphorisches Bild für eine historische Tiefendimension. Dabei gelingt es ihnen, einem Ort eine starke eigene Identität zu verleihen. Als Mittel, um eine bereits zuvor an diesem Ort gegebene Qualität aus der Stätte ihrer Verortung herauszuarbeiten, dienen sie indes nicht. Im Gegenteil: Sie negieren ihren konkreten Standort geradezu, löschen die Erinnerung an das, was sich einstmals real an ihm befunden haben mag, aus.17 Der Weg von der künstlerischen Voruntersuchung zum konkreten Eingriff vor Ort Wie könnten künstlerische In-situ-Eingriffe aussehen, die einerseits, wie die Gestaltungen von Eisenman und Libeskinds, einen thematischen Kontext bearbeiten, um diesen gezielt an einem konkreten Ort zu bündeln, die andererseits aber zugleich, wie bei Whiteread oder Matta-Clark der Fall, künstlerische Mittel gezielt im Sinn von architektur- und ortsbezogenen Untersuchungsmitteln einsetzen, um mittels dieser die Spezifika eines Ortes nicht zu negieren, sondern sie vielmehr freizulegen und aktiv aisthetisch erfahrbar zu machen? Zwei Beispiele, an denen diese Möglichkeit gut deutlich wird und anhand derer zugleich der künstlerische Arbeitsprozess, von einer umfangreichen kontextualisierenden Voruntersuchung bis hin zu einem konkre17 Als am designierten Standort des Denkmals für die ermordeten Juden Europas im Zuge der Bauarbeiten reale archäologisch Befunde zu Tage traten, führte dies zu Problemen. Denn bei den Befunden handelte es sich um Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs: eine Bunkeranlage, die der SS als Kommandozentrale gedient hatte und obendrein von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels genutzt worden war. In einen Ort projizierte bzw. an diesem gebündelte Geschichte und real an diesem vorhandene und aus diesem zu Tage tretende Geschichtlichkeit trafen in diesem Fall unvermittelt hart aufeinander.

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ten Eingreifen vor Ort, anschaulich nachvollzogen werden kann, finden sich in Dan Grahams Auseinandersetzungen mit US-amerikanischen Suburbs sowie in Siah Armajanis Beschäftigung mit vernakulären Bauformen. Dan Graham: Von ,Homes for Americaʻ zu ,Alteration to a Suburban Houseʻ Zunächst zu Dan Graham. Dessen oben beschriebene Arbeit Alteration to a Suburban House von 1978 stellt nicht etwa die erste Auseinandersetzung des Künstlers mit vorstädtischen Regionen dar. Vielmehr geht diese auf eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen des suburbanen Wohnens zurück, die bei Graham bereits Mitte der 1960er Jahre einsetzt. Dabei hatte sich der Künstler im Rahmen von Vor-OrtRecherchen zunächst des Mittels der Fotografie bedient, um die charakteristischen baulichen Strukturen von Vorstädten visuell zu analysieren. Grahams Fotos, die der Künstler gemeinsam mit begleitendem Textmaterial unter dem Titel Homes for America veröffentlichte18, zeigen uniforme Fertighäuser, die in gleichmäßiger, serieller Reihung neben- oder hintereinander gestaffelt stehen und hinsichtlich bestimmter, klar definierter und limitierter Variationsmöglichkeiten (was etwa Haustyp oder Farbe betrifft) beliebig austauschbar und kombinierbar wirken. 19 Allerdings beschränkt sich eine anonyme Beliebigkeit nicht auf visuelle Aspekte, wie Graham feststellt: Diese Siedlungen stehen zur Umgebung in einem völlig fremden Verhältnis. Da sie gebaut wurden, um brachliegendes „totes“ Gelände auszunutzen, brauchen sich diese Häuser weder der Natur anzupassen noch sich gegen sie abzusetzen. Es gibt keine Einheit in einer Verbindung zwischen landschaftlichem Ort und Haus. Beide sind entwurzelt – separate Teile in einer größeren, vorausbestimmten systematischen Ordnung.20

18 Wie der Bildende Künstler und studierte Kunsthistoriker Jeff Wall zeigt, können Grahams Untersuchungen, die zunächst in Form einer Ausstellung und eines (stark editierten) Journal-Artikels veröffentlicht wurden, auch hinsichtlich kunstimmanenter Referenzen – so zur US-amerikanischen concept art und minimal art der 1960er – betrachtet werden. An dieser Stelle sind es aber nicht die kunstweltlichen Bezüge, die eine Rolle spielen, sondern die alltagsweltlichen. Jeff Wall, Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit – Essays und Interviews; herausgegeben von Gregor Stemmrich (Hamburg: Fundus, 2008). 19 Graham selbst beschreibt die serielle Typisierung und beliebige Kombinierbarkeit wie folgt: „Die Standardeinheit ist ein Kasten oder auch eine Serie von Kästen [...]. Hat ein solcher Kasten ein steiles, schräges Dach, so wird er ,Cape Codʻ genannt. Ist er länger als breit, so nennt man ihn ,Ranchʻ. Ein zweigeschossiges Haus heißt im allgemeinen ,Colonialʻ. Besteht es aus zwei aneinandergrenzenden Kästen, deren einer etwas höher steht, so heißt es ,Split Levelʻ. [...] neuerdings gibt es einen Trend zum ,Doppelhaus-Heimʻ. Dieses besteht aus zwei Kästen, die durch angrenzende Wände getrennt sind [...] oft werden auch Reihen von Apartment-ähnlichen, quasi abgeteilten Zellen verkauft. Diese werden gebildet, indem man ein ausgedehntes Rechteck aus bis zu zehn oder zwölf [...] Häusern seitwärts unterteilt“. Dan Graham, Ausgewählte Schriften; a.a.O., S.31. 20 Dan Graham, Ausgewählte Schriften; a.a.O., S.32.

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Wie aus dieser Passage deutlich wird, richtet sich Grahams Interesse also nicht allein auf das optische Erscheinungsbild industriell gefertigter Vorstadthäuser, sondern auch auf die Frage, in welchem Verhältnis diese zu einer jeweiligen Umwelt stehen, in bzw. auf der sie errichtet werden, sowie darauf, welche Art von (gebauter) menschlicher Umwelt sie selbst ausbilden. Zu einer installativen Bearbeitung dieser Fragestellung kommt es im Jahr 1978, mit Alteration to a Suburban House. Ein konzeptioneller Eingriff, den der Künstler selbst wie folgt beschreibt: Die Frontfassade eines konventionellen Vorstadthauses [wird] vollständig entfernt und durch eine transparente Glasscheibe ersetzt. Der hintere Teil des Hauses ist vom vorderen durch eine Spiegelwand getrennt. Hinter dem Spiegel liegen die privaten Schlaf- und Badezimmer verborgen, davor liegen sichtbar Küche, Diele, Vorratsraum und Wohnzimmer. Durch das Spiegelglas führen Türen.

Grahams Konzept sieht einen in konstruktiver Hinsicht relativ geringen Eingriff in ein suburbanes Wohnhaus vor. Dabei wird die massive Fassade eines Gebäudes durch Glas, die entlang der Mittelachse verlaufende mittlere Trennwand durch Spiegelglas ersetzt. Dieser Eingriff hat jedoch signifikante Auswirkungen auf das Erscheinungsbild des Gebäudes, das hierdurch als eine Collage aus moderner Stahlund-Glas-Architektur und seriellem Fertighaus erscheint. Insbesondere hat der Eingriff jedoch Auswirkungen auf ein vor Ort gegebenes Wahrnehmungsgefüge. Denn während die suburbanen Wohnhäuser ohne Grahams Eingriff beziehungslos nebeneinanderstehen, bildet sich durch Grahams Eingreifen ein ganzes Netzwerk an wechselseitigen Beziehungen heraus. Dabei erlaubt das collagehaft eingefügte Panoramafenster auf der Frontseite (im Gegensatz zu konventionellen Fensteröffnungen, die alleine einen kleinen fragmentierten Ausschnitt der Umgebung zeigen) einen weiten Ausblick aus dem Gebäude, dem sich die gesamte, vor dem Gebäude befindliche Nachbarschaft erschließt. Andererseits verschwindet eben hierdurch die undurchdringliche Fassade des Gebäudes, welche üblicherweise einen Einblick ins Innere verwehrt. Die gesamte Frontseite wird somit von der Straße aus einsehbar. Hinzu kommt die spiegelnde Wirkung der mittleren Trennwand. Jede Bewegung, gleich ob sie im oder vor dem Gebäude vonstattengeht, wird von der verspiegelten Trennwand reflektiert: Bewohner im Gebäude, spielende Kinder vor dem Gebäude, Passanten und vorbeifahrende Autos auf der Straße – sie alle werden zu einem Bestandteil eines dynamischen Gefüges, indem aktives Wahrnehmen und passives WahrgenommenWerden Hand in Hand gehen. Grahams Konzeptvorschlag, wie er ihn mit Alteration to a Suburban House unterbreitet, besteht in einem vergleichsweise einfachen Eingriff: dem collagehaften Zusammenfügen zweier Bauformen, das durch das Substituieren eines Materials (dem der Fassade und der Trennwand, etwa Holz) durch ein anderes (Glas/Spiegelglas) erreicht wird. Die Konsequenzen dieses Eingriffs könnten jedoch, so in die Praxis umgesetzt, weitreichend sein: Nicht nur würde hierdurch ein vorherrschendes Schema, das durch die Prinzipien der Uniformität, der Typisierung, des seriellen Nebeneinanders geprägt ist, durchbrochen und in ein interkonnektives Wahrnehmungsgefüge transformiert werden. Letztlich entstünde – und hierin dürfte ein zentrales Anliegen von Grahams Eingriff liegen – auch eine veränderter sozialer Raum.

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Siah Armajani: Von ,Dictionary for Buildingsʻ zu konkreten Vor-Ort-Eingriffen Nun zu Siah Armajani, der sich mit ähnlichen Fragestellungen wie Graham befasst. Auch Armajanis Arbeit ist gekennzeichnet durch eine intensive Auseinandersetzung mit spezifischen Bauformen, wobei das Augenmerk nicht auf industriell gefertigten Häusern, sondern auf traditionellen, vernakulären US-amerikanischen Gebäuden liegt. Ebenso wie Graham zielt aber auch Armajani letztlich nicht allein auf gestalterische oder architektonische Fragen, sondern zugleich auf gesellschaftliche Dynamiken ab, die sich mit einer bestimmten baulichen Form verbinden. Wie der Kurator Jean-Christophe Ammann feststellt, ist Armajanis Ansatz dabei weniger von dem Bestreben gekennzeichnet, „herausragende künstlerische Werk zu kreieren“, vielmehr gehe es Armajani stets darum, „die alltäglichen Bedürfnisse der Menschen hinsichtlich des öffentlichen Raumes“ in seinen Arbeiten zu berücksichtigen und diesen „ästhetische, soziale, kommunikative [...] Bedeutung“ zu verleihen.21 Der Arbeitszyklus, auf den hier näher eingegangen werden soll, setzt in den Jahren 1974/75 ein – und zwar mit einer intensiven Auseinandersetzung des Künstlers mit tradierten US-amerikanischen Bauformen. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung skizziert der Künstler zunächst unterschiedliche bauliche Elemente, die in traditionellen vernakulären nordamerikanischen Wohngebäuden zum Einsatz kommen. Diese werden von Armajani in Form von Modellen und Zeichnungen festgehalten. Der Künstler selbst beschreibt dieses umfangreiche, von ihm selbst mit Dictionary for Buildings betitelte, angesammelte Arbeitsmaterial wie folgt: A large number of small cardboard models were made between 1974 and 1975. They are a reference for building; a guide in which all possible combinations of architectural elements are indexed. The model traces each element back into the domain in which it belongs and underlines its formal use. The models are a statement of similarities and differences between architectural types, conditions, and meanings. The cardboard models display conditions: open/closed, up/ down, physical/perceptual. [...] The dictionary [...] examines and defines, separates and then classifies form and function through variation of materials, conditions, and permutation.22

In den Jahren 1979 bis 1985 setzt Armajani seine Arbeit an der Dictionary for Buildings-Serie fort. Allerdings experimentiert er nun mit Bestandteilen von Gebäuden, nicht mehr allein in Modellform, sondern in Originalgröße (wie Fenster, Türen, Spiegel, Treppen, Küchenanrichten, Kaminen). Zudem entwickelt der Künstler einen parallelen Arbeitsstrang, in dem er seine soweit gewonnenen Erkenntnisse im Außenraum einsetzt. So bspw. in der Arbeit Red School House for Thomas Paine (197779), in deren Rahmen im Außengelände eines College ein nachempfundenes vernakuläres Schulgebäude installiert wird. Dieses ist in einzelne Bestandteile und räumliche Situationen ,zerlegtʻ, die von Armajani mit ,Eingangʻ, ,Portikusʻ, ,Eckeʻ, ,Ausgangʻ betitelt werden. Ehemals funktionale Räume werden so, durch die Zergliederung und Neukombinationen die der Künstler vornimmt, dysfunktional; andere, 21 Vgl. Jean-Christophe Ammann; Begleittext zum Ausstellungskatalog; in: Katalog, Siah Armajani - Kunsthalle Basel/Stedelijk Museum Amsterdam, a.a.O., o.S. 22 Ebd.

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vormals nicht nutzbare Elemente erhalten erst durch die collagehafte Zusammenfügung einen möglichen Nutzen. Ähnlich agieren Armajanis Arbeiten Reading Room (1978/79), Newsstand (1980), Reading Garden (1980), oder Meeting Garden (1980), in denen der Künstler vernakuläre Architekturen gedanklich zergliedert, um sie mit lose in der Umgebung verteilten Elementen, die eine kommunikationsfördernde Rolle übernehmen (wie Bänken und Tischen) oder Schutz bieten sollen, während sie zugleich Ein- und Ausblick erlauben (niedrigen Zäunen, Wandelementen), zu kombinieren. Dabei kommt es zu einer Verzahnung von installativem Eingriff und Umgebung. Beide greifen ineinander über: natürliche Umwelt und installatives Setup, offene angeschnittene Zimmer und geschlossene Umräume, innen und außen wechseln einander ab, werden zu einer heterogenen, collagehaften Einheit. Ähnlich wie bei Dan Graham, so ist es also auch im Fall Armajanis ein vergleichsweise einfaches Mittel, nämlich jenes der Fragmentierung und Neukombination von baulichen Elementen, das zur Herstellung neuer sozialer Beziehungsgefüge führen soll.

10.3 I N - SITU -I NSTALLATIONEN IM K ONTEXT EINER AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Die Beispiele Siah Armajani und Dan Graham geben auf anschauliche Weise Zeugnis von der – nicht allein unter temporalen Gesichtspunkten – weiten Spanne, die zwischen künstlerischen Voruntersuchungen und konkreten In-situ-Eingriffen liegen kann. Den Ausgangspunkt bildet dabei in beiden Fällen nicht das Einnehmen einer isolierten theoretischen Perspektive (etwa soziologischer, gesellschaftstheoretischer Art). Vielmehr gehen beide Künstler zunächst von einer wahrnehmungsbezogenen Analyse aus, indem sie die Art und Weise untersuchen, wie bestimmte (gebaute) menschliche Umwelten, oder Teile dieser Umwelten, im Alltag erfahren werden. Dan Graham konzentriert sich hierzu, im Rahmen seiner Arbeit Homes for America, auf visuell wahrnehmbare Momente wie die serielle Reihung von Gebäuden oder die permutierende Austauschbarkeit von Farben innerhalb eines limitierten, vorgegebenen Spektrums. Armajani setzt sich seinerseits im Dictionary for Buildings mit dreidimensionalen Bestandteilen von (gebauten) menschlichen Umwelten auseinander, die im Sinn von charakteristischen Einzelsituationen vernakulärer Bauformen aufgefasst und herausgearbeitet werden. Diese Auseinandersetzung mit einer wahrnehmungsbezogenen Wirkungsweise wird nicht unter rein formalen Gesichtspunkten durchgeführt, sondern sie geht mit einem bestimmten übergreifenden Interesse bzw. dem Verfolgen einer zu Grunde liegenden Fragestellung einher. Dabei wendet sich bspw. Dan Graham dem Thema Vorstadt nicht zunächst unter wahrnehmungsbezogenen und sodann, in einem zweiten Schritt, unter soziologischen oder gesellschaftstheoretischen Gesichtspunkten zu, sondern er untersucht von vornherein, wie diese ineinander eingebettet liegen und im Verbund miteinander in Erscheinung treten. Ähnliches gilt für Siah Armajani, der sein Dictionary for Buildings nicht im Sinn eines Selbstzwecks anlegt, sondern dieses nicht zuletzt dazu nutzt, um sich über die potentielle soziale Rolle einzelner Elemente vernakulärer Bauformen klarzuwerden. In diesem Sinn dient das Dictionary for Buildings Armajani als Grundlage

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für seine späteren kommunikationsfördernden In-situ-Eingriffe in reale (gebaute) menschliche Umwelten (wobei ,Kommunikationʻ an dieser Stelle nicht allein im Sinn von ,Gesprächʻ, sondern auch von sozialem Austausch und miteinander in Kontakt treten zu verstehen ist). Was den oben angesprochenen Aspekt einer Herangehensweise von zwei Seiten betrifft (von einem weiteren thematischen Kontext aus einerseits, von konkreten ortsspezifischen Untersuchungen andererseits), so lässt sich bei Graham und Armajani ein projektives Vorgehen beobachten, das die Ergebnisse künstlerischer Voruntersuchungen – die wohlgemerkt in beiden Fällen wahrnehmungsbezogene und theoretische Fragestellungen unmittelbar aneinander koppeln – auf einen bestimmten Ort überträgt und in diesem fokussiert. Zugleich verhalten sich die Eingriffe beider Künstler aber keines-wegs gleichgültig gegenüber den konkreten räumlichen Situationen, in denen sie zum Einsatz gebracht werden. Vielmehr werden spezifische Mittel entwickelt (bei Graham ein Collageverfahren, das unterschiedliche Architekturformen mittels einer Substitution von Baumaterialien bzw. baulichen Elementen kombiniert; bei Armajani ein Collageverfahren, das eine einzelne Bauform fragmentiert, in vorgefundene räumliche Situationen einsetzt und mit diesen verzahnt), um aus bestehenden Orten einen spezifischen Aspekt herauszuarbeiten, der diesen ebenso im konkreten Einzelfall innewohnt, wie prototypisch eingeschrieben ist. Beispiele im Kontext Soweit zu Siah Armajani und Dan Graham als singulären, dabei in allgemeinerer Hinsicht aufschlussreichen Exempeln von In-situ-Installationen. Nun zurück zur eingangs gestellten Fragestellung und somit zum eigentlichen Grund, warum dieser kleine Exkurs in den Bereich der In-situ-Installation überhaupt unternommen wurde: Was lässt sich angesichts der soweit angestellten Betrachtungen zur In-situInstallation als spezifischer Erscheinungsform der architektur- und ortsbezogenen Installation hinsichtlich der möglichen und wahrscheinlichen Zukunft einer anwendungsbezogenen Praxis der Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt folgern? Wie eingangs erwähnt, lässt sich eine Antwort auf diese Frage nicht einfach und jenseits bestimmter einzudenkender Prämissen geben. So ist die anwendungsbezogene Praxis einer kollaborativen, künstlerisch-philosophisch basierten Forschung bislang weniger Realität als latent gegebene Möglichkeit. Ein einfacher Abgleich mit bereits Bestehendem kann somit nicht erfolgen. Was sich jedoch sagen lässt, ist, inwiefern künstlerische Vorgehensweisen, wie sie im Bereich der In-situ-Installation anzutreffen sind, sich mit Grundgedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt treffen, sowie, welche Anforderungen diese Grundgedanken an künstlerische Vorgehensweisen stellen würden, um diese nicht allein als potentiell aufschlussreiche künstlerische Positionen, sondern auch als aktiven und bewussten Beitrag zu einer anwendungsbezogenen aisthetischen Forschungspraxis verstehen zu können. (Wobei ,Anforderungʻ nicht im Sinn einer dem installativen Arbeiten gleich einem Korsett übergestülpten äußeren Anforderung, sondern vielmehr als eine diesem selbst latent innewohnende Möglichkeit zu verstehen ist.) Ein erster interessanter Punkt findet sich diesbezüglich im soeben konstatierten Moment, dass wahrnehmungsbezogene Aspekte einer jeweiligen (gebauten) menschlichen Umwelt – insbesondere bei Dan Graham, aber auch bei Siah Armajani – nicht als isoliert, sondern als immanent verbunden mit übergreifenden theoretischen Frage-

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stellungen aufgefasst werden. Denn in diesem Punkt scheinen beide künstlerischen Positionen, implizit, bereits einem aisthetischen Grundgedanken zu folgen, nach dem sensorische und kognitive Momente im Wahrnehmen (gebauter) menschlicher Umwelten nicht konzeptionell zu trennen, sondern vielmehr in ihrer wechselseitigen Verwobenheit miteinander zu beachten sind.23 Dan Grahams Arbeit Homes for America, die gegebene (respektive fehlende) wahrnehmungsbezogene Beziehungsgefüge in suburbanen Regionen analysiert und diese Analyse mit der Betrachtung von gesellschaftsreflexiven Gesichtspunkten – wie der An- oder Abwesenheit von sozialen Beziehungsgefügen – verknüpft, wobei er beide Aspekte als wechselseitig ineinander eingebettet und im Verbund miteinander in Erscheinung tretend begreift, könnte diesbezüglich, was ihren grundsätzlichen Ansatz betrifft, geradezu als exemplarische Untersuchung unter aisthetischen Gesichtspunkten angesehen werden. Nun bedient sich Dan Graham im Rahmen seiner Recherchen zu Homes for Amer-ica in medialer Hinsicht neben dem Mittel des Texts jenem der Fotografie. Dies ist insofern konsequent, als damit eine maßgeblich unter visuellen Gesichtspunkten gestaltete und von visuellen Aspekten dominierte (gebaute) menschliche Umwelt mit einem adäquaten, i.e. visuell operierenden, Mittel untersucht werden kann. Was Grahams späteren In-situ-Eingriff, seine Arbeit Alteration to a Suburban House betrifft, so gelingt es diesem seinerseits erfolgreich, die bestehende, in Homes for America herausgearbeitete, visuell dominierte suburbane Wahrnehmungssituation zu durchbrechen. Jedoch bleibt Grahams geplante Intervention hierbei selbst maßgeblich an das Moment des Visuellen gebunden. (Die von Graham in die bestehende räumliche Situation eingefügten Materialien, Glas und Spiegelglas, führen zur Implementierung komplexer Wahrnehmungsgefüge – allerdings: ,komplexʻ allein hinsichtlich neu entstehender wechselseitiger Sichtbeziehungen.) Betrachtet man diese Vorgehensweise vom Standpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aus, so wäre indes nicht allein das, was eine jeweilige (gebaute) menschliche Umwelt unter wahrnehmungsbezogenen Gesichtspunkten prägen mag (zum Beispiel visuelle Faktoren), sondern spätestens, wenn es zu einem konkreten Eingriff vor Ort kommt, auch dasjenige, was dieser unter wahrnehmungsbezogenen Gesichtspunkten fehlen mag, einzubeziehen (sprich: Aspekte des multisensorischen Wahrnehmens wie haptische, olfaktorische, akustische, atmosphärische Wahrnehmungswirkungen). Dass In-situ-Installationen sich in ihrer Auseinandersetzung mit einem Ort nicht zwangsläufig auf singuläre wahrnehmungsbezogene Wirkmechanismen limitieren müssen, dies wird anhand von Siah Armajanis In-situ-Installationen deutlich. Zwar wäre auch dessen Dictionary for Buildings, das die Untersuchung von Einzelelementen vernakulärer Gebäude, wie bereits das Wort ,dictionaryʻ verrät, mit einem starken – möglicherweise auch allzu starken – semiotischen Einschlag versieht, aus Sicht einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt in ein ,Dictionary of Lived Environmentsʻ umzuschreiben. (Nicht Elemente von vernakulären Gebäuden per se, sondern in ihrer Wirkung auf die perzeptive Physis wären hier zu untersuchen.) Dennoch gelingt es Armajani im Rahmen seiner späteren konkreten Vor-Ort-Eingriffe, unterschiedlichste Aspekte des sinnlichen Wahrnehmens anzusprechen, was visuelle Momente keineswegs ausschließt, aber auch andere Erfahrungsdimensionen, wie ein aktives Begehen, sich Setzen, Verweilen, den Geräuschen der Umgebung lauschen, 23 Vgl. Kap. 5 und 8-9.

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Gerüche wahrnehmen – sowie potentiell: einen Kaffee mit einem Nachbarn trinken oder in bereitgestellten Zeitungen und Büchern lesen24 – mit einschließt. Anders als bei Dan Grahams Alteration to a Suburban House der Fall, wird bei Siah Armajani also nicht allein eine übliche, visuell dominierte Wahrnehmungssituation aufgebrochen, sondern es wird zudem eine neue, multisensorische Wahrnehmungssituation, die sich mit einer neuen sozialen, kommunikativen Situation verbindet, geschaffen. In dieser Hinsicht liegt Armajanis Ansatz – so pointiert Grahams Vorgehensweise, was eine Analyseebene betrifft, ist – hinsichtlich des Moments eines Eingriffs in bestehende (gebaute) menschliche Umwelten näher an demjenigen, was eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt von ihrer anwendungsbezogenen Praxis einfordern würde. Ein weiterer interessanter Aspekt findet sich im Punkt der Auseinandersetzung mit einem konkreten Ort: Beide Künstler, Armajani wie Graham, entwickeln im Rahmen ihrer In-situ-Installationen spezifische Mittel, um sich einer räumlichen Situation adäquat zu nähern. Betrachtet man Dan Grahams Eingriff Alteration to a Suburban House hinsichtlich der Frage des Ortsbezugs jedoch näher, so fällt auf, dass es sich bei diesem zwar um einen durchaus spezifischen Eingriff handelt, jedoch weniger um einen spezifischen Eingriff in einen konkreten Ort als vielmehr in eine bestimmte räumliche Situation bzw. einen urbanen Topos. Denn eingegriffen wird in ,die Vorstadtsiedlungʻ bzw. in ,das suburbane Wohnhausʻ – und nicht etwa in ein singuläres, einmaliges Gebäude. (Wobei anzumerken ist, dass es hierfür zwei konkrete Gründe geben könnte: Zum einen handelt es sich bei Grahams Arbeit um einen Konzeptvorschlag, der nie real verwirklicht wurde. Erst bei einer Realisierung wäre aber eine weitere Ausarbeitung und das Anpassen an einen konkreten, einmaligen Ort möglich geworden. Zum anderen merkt Graham selbst an, dass die von ihm beschriebenen US-amerikanischen suburbanen Neugründungen die Eigenheit besitzen, sich wie ein anonymes Ordnungsraster zu verhalten, das zu seiner Umgebung keine echte Beziehung aufbaut. In dieser Hinsicht, so könnte man sagen, spiegelt der Schematismus, den Grahams projektierter Eingriff aufweist, den Schematismus des Gegenstandes der Auseinandersetzung treffend wieder.) Der Gedanke einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt würde die Auseinandersetzung mit einer räumlichen Situation oder einem urbanen Topos nun sicherlich (im Sinn einer nomothetischen Komponente; vgl. Kap. 9.4) nicht ausschließen, würde allerdings dessen ungeachtet zudem ein weitergehendes (eine idiographisches) Sich-Einlassen auf einen Ort in seiner Einmaligkeit einfordern. Denn selbst ein noch so schematisch geplantes, beziehungsloses Häuserraster wird von realen Menschen belebt und transformiert sich somit, mit der Zeit, in eine einmalige (gebaute) menschliche Umwelt, wobei es gerade das Spannungsverhältnis von schematischer architektonischer Planung und belebter Umwelt sowie die konkreten Probleme, zu denen dieses führt, sein könnten, die einer genauen aisthetischen Untersuchung bedürften. Dass ein solches Sich-Einlassen auf einen konkreten, belebten Ort nicht etwa im Widerspruch zur Bearbeitung einer übergreifenden thematischen Fragestellung stehen muss, zeigen nicht allein die In-situ-Eingriffe Siah Armajanis, sondern auch andere Exempel: So wendet sich Rachel Whitereads Arbeit House einem singulären Gebäude als singulärem Gebäude zu (etwa, indem sie individuelle Benutzungsspuren 24 Siehe Arbeiten wie: Meeting Garden (1980), Reading Garden (1980), Newsstand (1980).

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des Gebäudes wie eine zitronengelb gestrichene Wand, die auf den von ihr geschaffenen Betonquader abfärbt, bewusst einbezieht); gleichzeitig macht sie hiermit jedoch das Verschwinden einer ganzen Londoner neighbourhood erfahrbar (welche ihrerseits ein typisches Beispiel für milieuspezifische und identitätsstiftende Wohnformen, nämlich jene der englischen working class, darstellt). Auf ähnliche Weise lässt Dani Karavans Garten der Erinnerung die Rudimente eines Industriegebiets im Duisburger Hafengelände aisthetisch erlebbar werden, vermittelt dabei aber zugleich ein Gefühl für den Identitätswandel, dem eine gesamte Region (i.e. das Ruhrgebiet) unterworfen ist. Auch Arbeiten wie Misrach (Dani Karavan) oder das Mahnmal am Judenplatz, Wien (Rachel Whiteread) machen gleichermaßen die Abwesenheit einmaliger Orte – einer Synagoge, eines Bücher-bestückten Zimmers – erfahrbar, wie sie an die Ermordung der jüdischen Bevölkerungsanteile der Städte Regensburg und Wien sowie deren potentiellen Beitrag zum sozialen und kulturellen Leben beider Städte, gemahnen. Kurz: Nicht allein die Bearbeitung von ,urbanen Topoiʻ oder ,räumlichen Situationenʻ, sondern die Auseinandersetzung mit Orten in ihrer einmaligen, sensorisch-kognitiv erfahrbaren Präsenz, inklusive der darin eingebettet liegenden Implikationen, ist eine weitere Anforderung, die der Grundgedanke einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt an ihre anwendungsbezogene Praxis stellt. Ein letzter interessanter Aspekt, der an dieser Stelle zur Sprache kommen soll, schließt an diesen Punkt an. Es ist die Frage, von wo ausgehend installative Arbeitsmittel – respektive Untersuchungsmittel – sowie übergreifende thematische Fragestellungen, die an einem Ort untersucht werden, entwickelt werden. Armajani und Graham setzen sich beide intensiv mit bestimmten Fragenkomplexen (vernakuläre und suburbane Bauformen in ihrer gesellschaftlichen Rolle und sozialem Potential) auseinander und wählen hierzu gezielt Mittel aus (fotografische Analyse; Analyse dreidimensionaler Elemente vernakulärer Häuser mittels Modell und Zeichnung; installatives Collage-verfahren). Eine derartige Vorgehensweise ist von einem künstlerischen Standpunkt aus – welcher ein individueller, somit schon allein aus Kapazitätsgründen zwangsläufig limitierter ist – nur folgerichtig. Vom Standpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aus gesehen müsste jedoch nicht allein ein Sich-Einlassen auf einen konkreten Ort mittels selektiver Fragestellungen und Arbeitsmittel vonstattengehen, sondern es müsste noch radikaler ein Ort in seiner Einmaligkeit den Ausschlag für eine jeweilige Untersuchung geben. Konkret bedeutet dies: Es müsste zunächst eine so weit als irgend möglich uneingeschränkte und umseitige Auseinandersetzung mit dem Ort stattfinden. Es wären also – am gegebenen Beispiel – nicht entweder allein soziale oder allein gesellschaftstheoretische Fragestellungen auf ihre Verwobenheit mit wahrnehmungsbezogenen Aspekten an einem bestimmten Ort hin zu untersuchen, sondern: soziale, gesellschaftstheoretische, politische, ökonomische, historische, kulturelle, spirituelle, funktionale, klimatische – kurz: alle nur erdenklichen Aspekte, die für einen Ort potentiell relevant sein könnten – wären in die Betrachtung einzubeziehen und darauf zu überprüfen, ob und falls gegeben, inwiefern sie hinsichtlich des Ortes und seiner aisthetisch erfahrbaren Präsenz eine Rolle spielen. Hier wird auch noch einmal die Bedeutung theoretisch-reflexiver Momente im Kontext der anwendungsbezogenen Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt deutlich, die nicht allein in einem distanzierten, vermeintlich rein phi-

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losophischen Nachdenken, sondern in einer unmittelbaren Involviertheit in konkrete Einzelfalluntersuchungen besteht. Gleiches gilt für die einzusetzenden Mittel: Diesbezüglich wäre ebenfalls, abhängig von einem jeweiligen Ort, nicht eine singuläre, vorher feststehende künstlerische Herangehensweise, sondern eine große Vielzahl an methodischen Mitteln daraufhin zu überprüfen, ob und inwiefern sie sich zur Untersuchung eines Ortes in seiner Singularität – samt der diversen, potentiell in dieser gebunden liegenden Implikationen – eignen könnten. Erst in einem zweiten, hieran anschließenden Schritt, wäre eine Einschränkung der zu untersuchenden Fragestellung und damit einhergehende Limitierung der Mittel vorzunehmen.

10.4 I N - SITU -I NSTALLATIONEN ALS I NSTRUMENT DER U NTERSUCHUNG UND V ERÄNDERUNG Soweit einige Überlegung zur Verwandtschaft zwischen grundlegenden Gedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt und Herangehensweisen, wie sie im Bereich der In-situ-Installation bereits heute anzutreffen sind. Was aus diesen Überlegungen, zusammengefasst, erkenntlich wird, ist das Folgende: Eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt teilt vieles mit In-situ-Installationen, wie sie sich als Sonderform architektur- und ortsbezogener Installationen schon heute bzw. – die Beispiele Graham und Armajani machen es deutlich – bereits seit einigen Jahrzehnten antreffen lassen.25 Eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt stellt aber auch Anforderungen an ihre anwendungsbezogene Praxis, die nicht jede einzelne der exemplarisch genannten installativen Arbeiten, so man sie unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erfüllt. Und sie geht – siehe den letztgenannten Punkt einer

25 Folgt man einer kunsthistorischen Unterscheidung in drei Phasen bzw. Erscheinungsformen von Kunst im öffentlichen Raum (vgl. Lewitzky/Kwon, Kap. 6), so handelt es sich bei den vorgestellten Beispielen durchwegs um Arbeiten, die dem Bereich der Kunst als öffentlichem Raum (und somit Phase 2) zuzurechnen sind: Denn weder werden die angesprochenen Arbeiten, gleich Skulpturen, einfach im öffentlichen Raum aufgestellt (Phase 1), noch handelt es sich um Kunst im öffentlichen Interesse, die sich in sozialen, statt in räumlich-materiellen Kontexten verortet (Phase 3). Sicher sind alle drei Aspekte letztlich nie ganz voneinander zu trennen. Folgt man jedoch der Unterscheidung, so ist das maßgebliche Moment der hier thematisierten Exempel, dass sie selbst ,öffentliche Räumeʻ, in Form konkreter (gebauter) menschlicher Umwelten, ausbilden. Obwohl es sich bei Phase 3 also vermeintlich nicht um die kunsthistorisch aktuellste handelt, so dürfte es, wie mittlerweile deutlich wurde, doch gerade diese sein, die interessante Hinweise darauf zu geben vermag, was künftig im Kontext einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt möglich sein könnte. (Dass die zitierte Einordnung ohnehin, selbst kunsthistorisch, nicht in streng chronologischem Sinn anwendbar ist, davon zeugt die Tatsache, dass nicht wenige der oben behandelten Arbeiten nicht etwa, ihrer Phase gemäß, in den 1970er bis 1990er Jahren, sondern deutlich später entstanden. Zu denken an: Rachel Whiteread: Mahnmal am Judenplatz, Wien 2000; Daniel Libeskind: Garten des Exils, Berlin 2001; Peter Eisenman: Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2005; Dani Karavan: Misrach, Regensburg 2008.)

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radikal ortsbezogenen Untersuchungsweise, die eine komplexe Vernetzung unterschiedlichster empirischer und theoretisch-reflexiver Aspekte und Fragestellungen einfordert – über das hinaus, was im Feld der In-situ-Installation, in der heute gegebenen Form, üblich ist. Beide Bereiche, die bestehende Praxis der In-situ-Installation und die zukünftig mögliche Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sollten also nicht miteinander verwechselt oder kurzerhand gleichgesetzt werden. Gleichwohl liefert – ähnlich, wie architektur- und ortsbezogene Installationen im Allgemeinen nicht Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sind (in dem Sinn, dass sie von KünstlerInnen selbst bereits heute so bezeichnet würden), diese Möglichkeit jedoch latent in sich tragen und in diesem Sinn viel zum Gedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt beizutragen haben – auch der Bereich der In-situ-Installation, als besondere Erscheinungsform der architektur- und ortsbezogenen Installation, einen vielversprechenden und hinsichtlich einer anwendungsbezogenen Praxis potentiell sogar richtungsweisenden Beitrag. 10.4.1 In-situ-Installationen als Instrument der Untersuchung Worin besteht dieser Beitrag nun im Einzelnen? Zunächst einmal ist aus Sicht einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt beachtenswert, welche unterschiedlichen Arbeitsmittel sich im Bereich In-situ-Installation antreffen lassen, die eine Auseinandersetzung mit (gebauten) menschlichen Umwelten ganz konkret vor Ort, im urbanen Außenraum erlauben. Denkt man bspw. an die in Kapitel 7 beschriebenen Vorgehensweisen eines Ilya Kabakov oder Bruce Nauman zurück, so besitzen diese spezifische Stärken im Bereich eines aktiven Experimentierens und systematischen Erkundens von (gebauten) menschlichen Umwelten mittels installativer Set-ups. Dabei bleiben sie jedoch stets an den Atelier- oder Ausstellungsraum als Ort der Auseinandersetzung gebunden. Dies ist kein Defizit, sondern schlichtweg eine Gegebenheit, die ebenso – etwa unter pragmatischen Gesichtspunkten – als spezifische Qualität verstanden werden kann. (Ein Korridor lässt sich leichter im Arbeitsraum installieren, als ein Haus an seinem originalen Standort mit Beton ausfüllen und in sein materielles Gegenteil verkehren.) In-situ-Installationen machen es demgegenüber jedoch zusätzlich möglich, sich nicht allein im künstlerischen Arbeitsraum, sondern auch an Ort und Stelle, quasi im ,freien Feldʻ – i.e. dem der empirischaisthetischen Feldforschung –, auf untersuchende Weise mit (gebauten) menschlichen Umwelten zu befassen. In dieser Hinsicht schließen sie einer anwendungsbezogenen Praxis eine differenziertere Skala an empiriebezogenen Vorgehensweisen auf. Diese können auch experimentelle oder erkundende Züge an sich tragen. Eine spezifische Stärke scheinen In-situ-Installationen jedoch gerade in einem analytischinterpretativen Bereich zu besitzen. Exemplarisch zu denken ist hier an Gordon Matta-Clark: Dieser experimentiert mit verschiedenen Schnittformen – linearen, bogenförmigen, kubischen, konischen u.a. Schnitten – und erkundet dabei, mehr oder weniger systematisch, unterschiedliche architektonische Gebäudetypen und Bauweisen (etwa: suburbanes Wohnhaus, städtisches Mietshaus, Lagerhalle). Eine hervorstechende Eigenschaft seiner Arbeitsweise ist es jedoch ein vergleichsweise simples Mittel, den Schnitt in ein Gebäude, zu dessen präziser Analyse hinsichtlich eines spezifischen Gesichtspunktes einzusetzen.

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Nun handelt es sich bei Verfahrensweisen wie Matta-Clarks Methode des Schnitts, Whitereads Abformung und materieller Umkehrung oder Siah Armajanis Fragmentierung und Neukombination von baulichen Elementen vom Standpunkt der Künste aus betrachtet um Mittel, die eng mit einer individuellen künstlerischen Position verknüpft sind – und dies bis zu einem Grad hin, dass sie von anderen KünstlerInnen heute kaum mehr (zumindest jenseits des offenkundig zitathaften) eingesetzt werden können. Denn der Originalitätsgedanke – ein weiterer metaphysisch grundierter Überlebender einer traditionellen ästhetiktheoretischen Sichtweise, welcher sich heute nahtlos mit marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten amalgamiert – verbietet das Anwenden von Mitteln, die eine andere KünstlerIn bereits einmal eingesetzt und zu ihrem ,Markenzeichenʻ gemacht hat.26 Vom Standpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aus, die nicht eine Künstlerpersönlichkeit und deren individuelle Handschrift, sondern vielmehr einen Ort und dessen aisthetische Untersuchung ins Zentrum rückt, könnten Herangehensweisen wie die genannten hingegen durchaus als Beiträge zu einem allgemeinen methodischen Werkzeugkasten verstanden werden, welcher zwar von individueller künstlerischer Seite her in eine kollaborative Forschungspraxis eingebracht wird, bei dem jedoch nicht länger der mit einem jeweiligen Instrument verbundene Markenname, als vielmehr die Frage der fall- und ortsspezifischen Tauglichkeit relevant erscheint. (Was letztlich nicht nur 26 Das Konzept der Originalität zeigt sich historisch eng mit einem traditionellen GenieBegriff verknüpft. In beiden kommen metaphysisch grundierte Anschauungen zum Ausdruck. So ist, wie die Philosophin Annemarie Gethmann-Siefert in ihren Betrachtungen zur weiteren Historie der Ästhetiktheorie ausführt, bereits im Mittelalter „Kunst […] nicht bloße Nachahmung der Natur, sondern Nachahmung der Schöpferkraft Gottes, die in der Natur ihren Ausdruck gefunden hat. […] Im bloß wiederholenden Nachahmen der vorgegebenen Natur liegt keine eigenständige Leistung […]. Die Nachahmung der Schöpferkraft Gottes aber fordert den Künstler als ein freies Wesen, das zudem über das alltägliche Menschsein erhoben ist.“ Es sind derartige Vorstellungen, in denen sich die antiken Ausführungen eines Platon und Aristoteles mit einem christlichen Weltbild verbinden, die auch noch in Kants Bestimmung des Wesens des Künstlers einfließen. Allerdings wird aus dem Nachvollzug der göttlichen Schöpfung im Kontext einer zunehmend säkularisierten Welt bei und in der Folge Kants etwas anderes: „Löst sich nämlich die Bestimmung der Nachahmung der göttlichen Schöpfung von ihrem christlichen Fundament, dann stellt sich die Frage, wer eine solche Neuschöpfung der Welt zu leisten vermag. Gewiß kann man diese Fähigkeit nicht jedermann zuschreiben. Daher wird der Künstler, der fähig ist, in der Anschaulichkeit des Bildes oder Wortes eine vollendete Welt zu entwickeln, zu einem besonderen Subjekt erklärt. Der Künstler wird zum Genie.“ Oder in anderen Worten: Von einer Art erstem Diener Gottes – der die göttliche Schöpfung nachschöpft – wird der Künstler selbst zu einer Art gottähnlichem Wesen (wenn auch einem gewissermaßen gedankenlosen, da allein aus angeborenem Trieb heraus schaffenden Gott). „Hat man aber […] den Künstler in dieser Weise überhöht, so erscheint es plausibel, auch das Kunstwerk mit den Qualitäten auszustatten, die dem […] schaffenden […] Subjekt zukommen. […] Sowohl das Genie als auch das Werk sind durch Originalität gekennzeichnet.“ Siehe ausführlicher: Annemarie Gethmann-Siefert, Grundbegriffe der philosophischen Ästhetik; in: dies., Einführung in die Ästhetik, a.a.O.; S.124-148 (zum Genie-Begriff, siehe auch Kap. 1, insbesondere Fn. 90-93).

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den freien Einsatz eines bestimmten Arbeitsmittels, etwa jenem des Schnittes, der materiellen Umkehrung, der Collage, sondern bspw. auch die Akkumulation oder den parallelen Einsatz unterschiedlicher Mittel zugleich rechtfertigt.) 10.4.2 In-situ-Installationen als Instrument der Veränderung Die im Rahmen von In-situ-Installationen eingesetzten Mittel könnten, erstens, einen vielgestaltigen Beitrag zum anwendungsbezogenen Untersuchungsinstrumentarium einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt liefern. Sie sind, zweitens, aber noch unter einem anderen Gesichtspunkt beachtenswert. Denn nicht zuletzt weisen sie eine, im doppelten Wortsinn, ,merk-würdigeʻ Doppelgesichtigkeit auf. Sie können in einer konkreten (gebauten) menschlichen Umwelt zum Einsatz gebracht werden und erlauben es hierdurch, diese unter bestimmten Gesichtspunkten zu untersuchen; andererseits bewirken sie zugleich mehr: Künstlerische In-situ-Eingriffe sind immer auch schon ebendies – sind Eingriffe in bestehende, vorgefundene Orte. Diese Doppelgesichtigkeit mag hinsichtlich eines Forschungsgedankens als nicht unproblematisch erachtet werden. Denn gerade wenn eine solche sich an einem idiographischen Forschungsideal ausrichtet, das weniger die Klärung allgemeiner Sachverhalte als die Gewinnung von Erkenntnissen über singuläre Einzelfälle zum Ziel hat, so verschwindet mit einem untersuchenden Eingriff zugleich der einstige – und in dieser Form auch einzige – Gegenstand der Untersuchung; bzw. wandelt sich der vormals ,neutrale Untersuchungsgegenstandʻ in einen ,Gegenstand in der Untersuchungʻ. Was zuweilen, bspw. im Fall Gordon Matta-Clarks – das Wortspiel ist hier schwer zu umgehen – einschneidende Konsequenzen für diesen mit sich bringt. Andererseits kann gerade dieser Sachverhalt, die unmittelbare Koppelung von Untersuchung und Eingriff, auch als Chance einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt verstanden werden. Denn während architektur- und ortsbezogene Installationen, wie diejenigen Bruce Naumans oder Ilya Kabakovs, es erlauben, interessante Erkenntnisse über (gebaute) menschliche Umwelten zu Tage zu fördern, sich dabei aber gegenüber den alltagsweltlichen Bezugspunkten ihrer Untersuchungen (realen Korridoren, Fluren, Interieurs) distanziert verhalten, indem sie sich diesen allein aus der räumlichen Entfernung heraus annähern, so schreiben sich Herangehensweisen aus dem Bereich der In-situ-Installation (wie die besprochenen Arbeiten von Whiteread, Matta-Clark, Karavan, Armajani, Graham) mittels ihrer analytischinterpretativen Mittel direkt in (gebaute) menschliche Umwelten ein. Dabei treten installative Arbeitsmittel bzw. – aus Sicht einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt formuliert – aisthetische Untersuchungsmittel als solche, als Untersuchungsmittel, offen zu Tage, während die Orte eines installativen Eingriffs, sprich: die Untersuchungsgegenstände, ihrerseits nicht nur als Orte des Eingreifens fungieren, sondern sich zugleich als solche, als untersuchte Orte, darbieten. Hier wird ein weiterer, ein dritter beachtenswerter Aspekt von In-situ-Installationen kenntlich: Nicht nur stellen diese 1) unterschiedlichste vielversprechende Einzelwerkzeuge bereit, die es 2) erlauben, (gebaute) menschliche Umwelten unmittelbar in situ, vor Ort zu untersuchen; auch ermöglichen sie es, 3) reale Orte als aisthetisch untersuchte Orte in Erscheinung treten zu lassen. Installative In-situArbeitsmittel, im Sinn einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt an realen Orten des Alltags eingesetzt, legen also beides zugleich offen: Die Erkenntnisse, die

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sich hinsichtlich einer bestimmten Fragestellung mittels des Einsatzes spezifischer analytisch-interpretativer Mittel aus einem untersuchten Ort gewinnen lassen, und die Fragestellungen, die mittels der eingesetzten Mittel offen ersichtlich als solche in den Ort eingeschrieben werden. (Oder, noch einmal am konkreten Beispiel dargestellt: Matta-Clarks Schnitte legen nicht nur verborgene materielle Schichten und räumliche Beziehungsgefüge in einem Gebäude frei, sie bleiben auch selbst deutlich als Untersuchungswerkzeuge, als Schnitte, kenntlich.) Die sich einstellende Konsequenz ist die folgende: Ein Ort wird von einem unmittelbar aisthetisch erfahrbaren zu einem reflexiven Ort – einem Ort, in den gleichsam eine zweite Ebene der aisthetischen Erfahrbarkeit eingebettet wird, welche wahrnehmungsgebundene Aspekte, die zuvor allein latent zu erfahren waren (,latentʻ insofern, als man ihnen Aufmerksamkeit schenken musste, um sie bewusst wahrzunehmen), nun explizit und als Untersuchte, als aisthetisch reflektierte Aspekte erfahrbar macht.

10.5 R EFLEXIVE O RTE Stellen die im Rahmen von In-situ-Installationen eingesetzten Mittel bereits eine Merkwürdigkeit in sich dar, insofern, als sie einen doppelgesichtigen Charakter aufweisen, welcher Untersuchung und Eingriff miteinander verschränkt, so verkörpern reflexive Orte, welche mit ihrer Hilfe hervorgebracht werden können, erst recht ein ,merk-würdigesʻ, i.e. ein zu bemerkendes und bemerkenswertes Phänomen. Inwiefern mit Hilfe installativer Mittel, wie sie architektur- und ortsbezogene Installationen im Allgemeinen und In-situ-Installationen im Besonderen einer anwendungsbezogenen Praxis der Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zur Verfügung stellen, Orte des urbanen Außenraums in etwas in dieser Form noch kaum Bekanntes, da als solches nicht Identifiziertes, gewissermaßen in eine neue topologische Erscheinungsform gewandelt werden könnten, hierzu sollen abschließend einige Gedanken folgen. Diese erheben nicht den Anspruch abgeschlossener, systematischer Überlegungen. Vielmehr sind sie als mögliche Anknüpfungspunkte für ein künftiges Weiterdenken sowie insbesondere für ein künftiges anwendungsbezogenes aisthetisches Weiterarbeiten gemeint. Ihren Gegenstand bildet der Gedanke des reflexiven Ortes als eines ,merk-würdigenʻ Phänomens – und dies nicht allein von einem Standpunkt aus betrachtet, sondern gleich unter mehreren Gesichtspunkten. 10.5.1 Reflexive Orte in der Gestaltung Eine Merk-Würdigkeit bildet die Vorstellung reflexiver Orte zunächst einmal von einem gestalterischen Standpunkt aus. Denn eine Vorgehensweise, die eine reflexive Erfahrungsebene als zweite Ebene der aisthetischen Erfahrbarkeit in Orte einzieht, unterscheidet sich signifikant von konventionellen gestalterischen und planerischen Maßnahmen. Das Ziel von Maßnahmen, wie sie Architektur, Städtebau, Verkehrsplanung, Landschaftsarchitektur konzipieren, besteht, wie man recht pauschal, wohl aber ohne diesen Bereichen Unrecht zu tun, sagen kann, in aller Regel darin, eine Qualitätsverbesserung zu erreichen. (Zwei Beispiele: Eine Straßenkreuzung wird neu konzipiert, wird durch einen Kreisverkehr ersetzt, um den Verkehr effizienter zu regeln; oder: ein innerstädtischer Platz wird neu gestaltet, wird mit Bäumen, Bänken,

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einer anderen Bodenpflasterung versehen, um ansprechender, einladender, barrierefreier zu sein.) Eine solche Qualitätsverbesserung wird zu erreichen gesucht, indem Orte, die unter gestalterischen oder funktionalen Gesichtspunkten für verbesserungswürdig erachtet werden, eine partielle bis komplette Neugestaltung erfahren. Dies geht auf der anderen Seite mit der partiellen bis kompletten Beseitigung eines vormals gegebenen Ortes einher. (Die Straßenkreuzung verschwindet, wird ersetzt durch einen Verkehrskreisel; oder: Die alte Platzgestaltung wird durch die neue Platzgestaltung ersetzt, alte Charakteristika – Asphalt, Parkplätze, Absperrzäune – verschwinden, neue Charakteristika – Kopfsteinpflaster, Sitzgelegenheiten, Platzbegrünung – treten an ihre Stelle.) Eine Auslöschung dessen, was vormals gegeben war, ist einerseits unvermeidliche Begleiterscheinung, andererseits explizit angestrebtes Ziel konventioneller Gestaltungsmaßnahmen. Schließlich gilt es, ein diagnostiziertes ,Problemʻ (etwa die verkehrstechnische Ineffizienz der Straßenkreuzung oder die Unwirtlichkeit eines Platzes) zu beseitigen. Reflexive Orte, wie sie mittels installativer Arbeitsmittel hergestellt werden können, verhalten sich demgegenüber anders. Installativen Eingriffen ist es nicht – jedenfalls nicht zwangsläufig und nicht allein – darum bestellt, einen Ort in seinem Erscheinungsbild oder seiner Funktionalität zu ,verbessernʻ. (Dies kann, etwa im Rahmen eines assimilativen Eingriffs, Ziel sein, siehe Siah Armajani, muss aber nicht, wie interruptive Eingriffe, etwa jene eines Gordon Matta-Clark, zeigen. 27 ) Vielmehr werden installativ zu bearbeitende Orte als eben die Orte, die sie sind, hingenommen, dabei mittels des installativen Eingreifens jedoch zugleich reflexiv gewendet. Das, was an einer bestimmten Stätte des urbanen Außenraums, an einem städtischen Platz, in einer Fußgängerzone, in einer Häuserzeile, vormals latent erfahrbar war, wird nun explizit erfahrbar. Es wird, wie man sagen könnte, von einem dem beiläufigen Wahrnehmen Verborgenen, in ein Geborgenes (ein Etwas, das sich zeigt) und zugleich in ein Entborgenes (ein Etwas, das als sich Zeigendes gezeigt wird) gewandelt.28 27 Zu den Begriffen siehe Rosalyn Deutsche in Kap. 6.4. 28 Assoziationen an Martin Heidegger, die eine derartige Ausdrucksweise heraufbeschwören mag, sind keineswegs abwegig. Schließlich beschreibt auch Heidegger den besonderen Genius Loci, die spezifische Qualität, die ein Ort offenbaren mag, als Effekt eines In-situEingriffs. So führt der Denker zum Verhältnis zwischen einem Bauwerk – hier: einem Tempel – und dessen Standort aus: „Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. Der Glanz und das Leuchten des Gesteins, anscheinend selbst nur von Gnaden der Sonne, bringt doch erst das Licht des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht zum Vorschein.“ In schlichtere Worte gekleidet: Heidegger weist auf das Potential von Gebäuden hin, Orte zu markieren und sie eben hierdurch erst als solche, als Orte, erfahrbar werden zu lassen. In diesem Sinn wird die Fähigkeit des Felsens, als massive, tragende Basis erlebt zu werden, durch den auf ihm aufruhenden Tempel als seinem komplementärem Widerpart, überhaupt erst hervorgerufen; ebenso wie Wetter oder Licht erst mittels des Bauwerks zu Bewitterung und Beleuchtung werden. Freilich meint Heidegger hiermit noch keine ,Reflexivwerdung von Ortenʻ, wie sie oben beschrieben wird. Denn anders als Heideggers architektonische Beispie-

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Das Potential, das einem auf solche Weise reflexiv gewendeten Ort innewohnt, ist also ein prinzipiell anderes, als dasjenige, das eine konventionelle gestalterische Maßnahme besitzt. So kann im Zuge herkömmlicher Gestaltungsmaßnahmen eine unter bestimmten Gesichtspunkten für problematisch erachtete Gestaltung durch eine weniger problematisch erscheinende, eine ,bessereʻ Gestaltung ersetzt werden. Das Ausgangsproblem wird dabei, so die Operation glückt, behoben und verschwindet (jedenfalls punktuell). Eingriffe, wie die hier vorgestellten In-situ-Arbeiten (exemplarisch zu denken an Dan Grahams Alteration to a suburban house) können hingegen problematische Aspekte an einem Ort als solche, als problematische Aspekte, offenlegen – und eben hierdurch auf ein Problem aufmerksam machen, wie es potentiell vielerorts (im Fall Grahams: in neu gegründeten US-amerikanischen Vorstädten eines gewissen Typus per se) und nicht allein an diesem singulären Ort anzutreffen ist. Während das Potential üblicher Gestaltungsmaßnahmen darin besteht, punktuell bessere Lösungen zu schaffen, wobei eben hierdurch eine allgemeinere Problematik verdeckt wird, besitzen installative In-situ-Eingriffe das Potential, punktuelle Eingriffe vorzunehmen und auf allgemeinere Probleme aufmerksam zu machen. Oder noch einmal am konkreten Beispiel der Vorstadt: Übliche urbanistische Maßnahmen würden hier eventuell ein Modellprojekt inmitten einer umgebenden suburbanen Siedlung realisieren. Dieses würde unter architektonischen und soziologischen Gesichtspunkten besser gestaltete, harmonischer zusammenwirkende Gebäude enthalten. Sie würden so ein positives Vorbild liefern, ohne dabei jedoch erfahrbar zu machen, worin die Probleme lagen, die zur Schaffung des Modellprojektes Anlass gegeben hatten. Dan Grahams Eingriff macht demgegenüber das bestehende Problem als solches kenntlich – und dies nicht allein im Sinn von ,intelligibelʻ, sondern im Sinn von ,alltäglich aisthetisch erfahrbarʻ: Sein Eingriff irritiert, indem er übliche, am Ort gegebene, Wahrnehmungskonventionen durchbricht, wobei er ebenso unverhohlen Einblick in das vermeintlich Private im Inneren von Gebäuden gewährt, wie er einen unverhohlen weiten Ausblick auf das Geschehen in der Nachbarschaft erlaubt. Für AnwohnerInnen, die mit dem auf diese Weise neu geschaffenen wahrnehmungsbezogenen Beziehungsgefüge umzugehen gelernt haben, könnte auch Grahams Insitu-Eingriff potentiell eine neue gestalterische und funktionale (hier: soziale Interaktion fördernde) Qualität schaffen. 29 Für alle übrigen: Passanten, Nachbarn, Menschen, die aus einem anderen suburb zu Besuch kommen, stellt der collagehafte Eingriff in ein Haus und eine Nachbarschaft, die zuvor mit dem eigenen Haus und der eigenen Nachbarschaft identisch und mit diesen austauschbar erschienen, hingele, Tempel oder Brücken, überdecken künstlerische In-situ-Installationen Orte nicht, um diese zum ,Reflektorʻ einer jeweiligen Umgebung zu machen, sondern sie gehen einen Schritt weiter, indem sie den Ort selbst ,reflexivʻ werden lassen (i.e.: Nicht allein Qualitäten der Umgebung, sondern auch jene des besetzten Ortes selbst werden aus diesem geborgen.). Man kann an dieser Stelle also zwischen ,reflektiven Ortenʻ (im Sinn Heideggers) und ,reflexiven Ortenʻ (im Sinn der oben beschriebenen Möglichkeit von In-situInstallation) unterscheiden, wobei Erstere eine Stufe auf dem Weg zu Zweitgenannten darstellen. Zitat: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks; in: ders., Holzwege (Frankfurt a.M.: Klostermann, 1950) S.28. 29 Was aus Sicht einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nötig wäre, um dies zu ermöglichen, siehe hierzu oben (10.3).

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gen einen spürbaren Irritationsfaktor dar, der auf eben jene Aspekte, die der Künstler mit seinem Eingriff bearbeitet und zur Sprache bringen möchte, immer wieder aufs Neue aufmerksam macht. 10.5.2 Reflexive Orte in der Stadt Merk-würdig sind reflexive Orte aus gestalterischer Sicht also, da ihnen das besondere Potential innezuwohnen scheint, ein nachhaltiges (kritisches) ortsbezogenes Bewusstsein entstehen zu lassen. Dieses Potential ist nicht allein unter quantitativen Gesichtspunkten beachtlich (i.e. ein singulärer reflexiver Ort, wie durch Grahams Insitu-Eingriff potentiell hervorgebracht, hat das Potential, auf mehr als die Bewohner jenes Gebäudes, nämlich auf die Bewohner des ganzen Straßenzuges, der gesamten Nachbarschaft und darüber hinaus zu wirken). Auch unter qualitativen Gesichtspunkten, hinsichtlich der Art und Weise, wie ein solches Bewusstsein geschaffen wird, ist dieses beachtenswert. Prinzipiell ist die Herstellung von Orten, die etwas ,über sich selbstʻ aussagen, kein Novum. Auch konventionell gestaltete Orte können Bewusstsein für ihren Charakter oder ihre Eigenheiten wecken. Benennungen widmen einen Platz einem bestimmten Zweck (,Marktplatzʻ), einer berühmten Persönlichkeit (,Friedrich-Schiller-Platzʻ), oder einem historischen Ereignis (,Platz der Wiedervereinigungʻ). Derartige Namensgebungen müssen nicht, können aber mit realen Gegebenheiten übereinstimmen. (So wie am Marktplatz einst der zentrale Markt der Stadt stattfand, so mag Friedrich Schiller einst am Ort gewohnt haben oder ein markantes Ereignis der Wendezeit sich an Ort und Stelle zugetragen haben.) Traditionelle Denkmäler, wie sie zuweilen auf einem Platz aufgestellt werden, können zudem eine jeweilige Widmung in eine figürliche, symbolische oder abstrakte Formensprache übersetzten. Ebenso wie Gedenktafeln oder Hinweisschilder vertiefende Hintergrundinformationen beizusteuern vermögen. All dies sind altbekannte Möglichkeiten, ,Bewusstsein für einen Ortʻ entstehen zu lassen und Menschen zu einem Reflektieren über diesen Ort anzuregen. Allerdings: Dies ist etwas grundlegend anderes, als einen reflexiven Ort zu schaffen. Denn reflexive Orte, wie sie mit den Mitteln der In-situ-Installation hervorgebracht werden können, ,stellenʻ nicht ,darʻ, sie ,symbolisierenʻ oder ,thematisiertenʻ nicht; auch liefern sie keine ,vertiefenden Hintergrundinformationenʻ. Natürlich ist dies potentiell zusätzlich möglich. Es bezeichnet aber nicht das, was einen reflexiven Ort in der oben beschriebenen Form ausmacht. Denn reflexive Orte sprechen zunächst einmal und allen voran aus sich selbst heraus – und dies auf eine nonverbale, eine aisthetische Art und Weise. Anders als traditionelle Denkmäler, die distanziert visuell perzipiert und interpretiert werden müssen oder als Gedenk- und Texttafeln, die ,rein kognitivʻ, sprachgebunden operieren, bringen reflexive Orte mit der Hilfe installativer Eingriffe eine aktiv physisch erfahrbare materiell-räumliche Qualität aus ihrem Inneren hervor. Nicht ein gedankliches Reflektieren über einen Ort ist in diesem Sinn gemeint, wenn von ,reflexiven Ortenʻ die Rede ist, sondern eine Reflexivwerdung der (gebauten) menschlichen Umwelt selbst. Das reflexive Moment ist dem Ort, in seiner physischen Erfahrbarkeit, eingeschrieben. Es bedarf keines distanzierten ,Reflektierens überʻ, sondern vielmehr eines sensorischkognitiven, eines aisthetischen ,Erfahrens vonʻ. Macht man sich diesen Unterschied zwischen konventionell gestalteten Plätzen, an denen etwas über einen Ort ausgesagt wird, und reflexiv gewendeten Orten be-

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wusst, so lässt dies die Frage laut werden, wo im städtischen Außenraum, wie er heute gegeben ist, überhaupt Orte, vergleichbar jenen, wie sie mit installativen Arbeitsmitteln hergestellt werden können, anzutreffen sein mögen. Weiter oben wurden reflexive Orte beschrieben als Stätten, die eine zweite Ebene der aisthetischen Erfahrbarkeit in sich tragen. Gibt es in heutigen urbanen Außenräumen aber überhaupt Orte, die auch nur eine erste derartige Ebene implementieren? Die Antwort hierauf fällt klar zweideutig aus: Orte, die den Menschen im urbanen Außenraum auf aisthetische Weise ansprechen, finden sich einerseits überall. (Denn versteht man Wahrnehmen als aisthetischen Prozess und legt diese Sichtweise prinzipiell zu Grunde, so dürfte sich kaum ein Ort finden lassen, der nicht aisthetisch erfahren wird. Dies ist eine Frage der konzeptionellen Sichtweise – und nicht der Orte.) Andererseits finden sie sich nirgends. Denn keiner der üblichen urbanen Topoi spricht den Menschen gezielt sensorisch-kognitiv an. Sicher, der städtische Umraum stellt dem Menschen Orte zur Verfügung, die diesen physisch ansprechen. Auf dieser Seite finden sich klassische und seit Jahrhunderten etablierte Topoi wie jene des Sportplatzes (des griechischen Gymnasions) und des Stadtparks (des einstigen Volksgartens), oder vergleichsweise jüngere Erfindungen wie innerstädtische Badeseen, Fahrradwege, Inlineskate-Bahnen. Ähnlich sieht es auf Seiten einer ,geistigenʻ Ansprache aus: Historische und technische Museen, naturhistorische und volkskundliche Sammlungen, Bibliotheken, Universitäten, Archive, Vortragssäle stellen ,der geistigen Aktivitätʻ eine tradierte Grundstruktur parat. Gezielt aisthetisch, geschweige denn in einem reflexiven Sinn aisthetisch, arbeiten derartige Einrichtungen nicht. Im Gegenteil: Sie separieren physische und kognitive Ansprache, ,Körperʻ und ,Geistʻ, ausdrücklich. (Die Tage der mittelalterlichen Klöster und antiken Philosophenschulen, in denen man betend, denken, disputierend durch Kreuzgänge und Wandelhallen schritt, sind in diesem Sinn vorbei. Moderne Orte des Geistes sind Stätten, an denen sich der Körper möglichst unauffällig zu verhalten, nach Möglichkeit nahezu zu neutralisieren hat. Mit Orten des Körpers verhält es sich ähnlich. Der Spaziergang im Stadtpark mag noch zum Gespräch anregen, spätestens beim Joggen oder auf dem öffentlichen Fußballplatz erscheint geistige Aktivität aber ebenso deplatziert wie körperliche Ertüchtigung in der Bibliothek.) Als Ausnahme von der Regel könnten ,Orte der Kulturʻ angesehen werden, denn wo, wenn nicht in Kunstmuseen, Theatern, Kinos, Konzertsälen wird der Mensch sensorisch und kognitiv zugleich stimuliert? Allerdings, bereits ob derartige Orte tatsächlich jeder Person frei zugänglich sind, ist frag-lich (oder wie der Architekt und Performance-Künstler Vito Acconci es einmal treffend auf den Punkt brachte: „A museum is a public place, but only for those who choose to be a museum public.“30). Zudem tendieren traditionelle Orte der Kultur dazu, aisthetische Erfahrungen zu zergliedern (in einen Ort des Hörens: den Konzertsaal; einen Ort des simultanen Sehens: das Bildermuseum; einen Ort des Hörens und sukzessiven Sehens: das Theater). Dabei machen sie nicht nur aktive Erfahrungen (wie Singen, Malen, Tanzen) zu passiven Tätigkeiten (dem Lauschen von Gesang, dem Betrachten von Bildern, dem Beiwohnen einer Tanzaufführung), sie holen zudem die aisthetische Erfahrung in den geschützten Innenraum und lösen sie somit aus der alltäglichen Erfahrung der Stadt30 Vgl. Katalog, Vito Acconci : The City Inside Us (Wien: MAK - Österreichisches Museum für angewandte Kunst, 1993) S.24.

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bewohnerInnen heraus (wie man in Anschluss an Acconci sagen könnte: Zwar stellt mir die Stadt Orte zur Verfügung, die das Machen spezifischer aisthetischer Erfahrungen31 ermöglichen, nur muss ich mich hierzu gezielt aus meinem Alltag heraus und in diese Orte, in abgekapselte Gebäude, hineinbegeben, wobei eine Verbindung zur alltäglichen Erfahrung intendiertermaßen durchschnitten wird.32). Orte, die demgegenüber eine nahtlose und fließende Verbindung herstellen zwischen alltäglicher (oft unbewusster) und gezielt angesprochener (bewusst-reflexiver) Erfahrung, die des Weiteren StadtbewohnerInnen in ihrem Alltag abholen (ohne ihnen dabei spezifisches soziales, kulturelles oder finanzielles Kapital abzuverlangen, was zum Eintritt in Museen, Theater, Opernhäuser vonnöten ist) und die zudem niedrigschwellig agieren, indem sie ,den Geistʻ mittels ,des Körpersʻ, ,das Kognitiveʻ durch ,das Sensorischeʻ – oder, wie kurz und richtiger gesagt werden sollte: den Menschen mittels eines kontinuierlichen aisthetischen Prozesses – ansprechen, finden sich hingegen auch in üblichen Orten der Kultur nicht.33 31 ,Spezifischʻ sind ästhetische Erfahrungen innerhalb von traditionellen Kunst- und Kulturorten nicht insofern, als sich die Art der zu machenden Wahrnehmungserfahrungen von jenen, wie sie an alltäglichen Orten des urbanen (Außen-)Raumes gemacht werden können, prinzipiell unterscheiden würde. (Wie bereits in Teil I der Untersuchung deutlich wurde, sind Wahrnehmungserfahrungen in einer aisthetischen Perspektive, anders als im Kontext einer traditionellen Ästhetik, prinzipiell nicht dual in eine ,ästhetische Erfahrungʻ versus eine ,alltägliche Erfahrungʻ aufzuspalten.) Sondern spezifisch sind besagte Wahrnehmungserfahrungen insofern, als tradierte Kunstformen ein multisensorisches Wahrnehmen gezielt auf einen Aspekt (Sehen, Hören) oder einzelne Aspekte (Sehen und Hören) fokussieren, und dies innerhalb eines geschützten Umraumes geschieht (dem Museum, Konzertsaal, Theater etc.), der dazu dient, andere Wahrnehmungserfahrungen auszublenden. 32 Die temporäre Belegung von öffentlichen Räumen im Rahmen von Open-Air-Konzerten, Kulturfestivals oder Kunst-Biennalen ändern hieran – aus Sicht der Stadt – wenig. Denn diese bilden keine eigenen urbanen Topoi aus, vielmehr stellen sie eine laufend wechselnde Bespielung dar, die sich fließend mit Weihnachtsmärkten, City-Marathons oder Werbeveranstaltungen abwechselt, wobei sie unter urbanistischen und kapitalismuskritischen Gesichtspunkten – im Sinn eines Beitrag zu einer ,Gesellschaft des Spektakelsʻ, man denke an Guy Debord – sogar ausdrücklich kritisch gesehen werden mag. vgl. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (Berlin: Verlag Klaus Bittermann/Edition Tiamant, 1996). Siehe auch Fn. 43. 33 Allenfalls finden sich entfernte Verwandte reflexiver Orte: Kirchenräume sprechen ihre BesucherInnen gezielt spirituell und physisch an – wobei der Umraum die Bewegungen, das Gehen, Sitzen, Stehen, Niederknien bestimmt. Gerade katholische/orthodoxe Kirchen arbeiten dabei stark multisensorisch. Ähnlich verhält es sich mit einigen wenigen und sehr speziellen Architekturformen, wie etwa der französische Revolutionsarchitektur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Diese plante nicht nur baulich-materielle Aspekte, sondern visionierte zudem die Integration spezifischer Bepflanzungen, die zu verschiedenen Jahreszeiten unterschiedlich blühen und verschiedene Düfte verströmen sollten. Allerdings: Wie es sich so mit Verwandten verhält: Familienähnlichkeiten implizieren keineswegs eine Gleichartigkeit in der Gesinnung. Anders als reflexive Orte wollen die visionären Entwürfe der französischen Revolutionszeit ausdrücklich Architektur sein, die nicht gegebene Orte erfahrbar macht, sondern neue Orte schafft. Kirchen eröffnen mittels ihrer intensiven physisch-multisensorischen Ansprache eine sakral-spirituelle Dimension; ob sie eine (kriti-

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Ähnlich verhält es sich mit anderen traditionellen Dualismen, die gleich der Unterteilung in Körper und Geist – dem klassischen kartesischen Dualismus – über Jahrhunderte hinweg in den Stadtraum implementiert wurden, um sodann wiederum aus diesem herausgelesen werden zu können: So der Fall angesichts des dichotomen Zerfalls des Städtischen in Innenräume und Außenräume oder in eine private und eine öffentliche Sphäre. Auch angesichts dieser Dualismen tun sich konventionell gestaltete Orte und tradierte urbane Topoi, was die Möglichkeit einer Überwindung betrifft, schwer. 34 In-situ-Installationen hingegen, die mit ihren Arbeitsmitteln die Grundlage zur Ausbildung reflexiver Orte bereitstellen, wirken geradezu explizit um eine solche Überwindung bemüht. Zur Illustration dieses Sachverhalts könnte man beinahe an jedes der oben gegebenen Beispiele zurückdenken: Rachel Whitereads Insitu-Arbeiten, die ein Gebäude von seinen Außenmauern, ein Zimmer von seinen umgebenden Wänden befreien, beseitigen die ebenso sprichwörtliche wie realmaterielle Barriere zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich, die Fassade. Gordon Matta-Clark nimmt seinerseits Schnitte in die Gebäudehülle vor. Er nimmt somit, anders als White-read, eine Grenze nicht als Ganzes fort. Aber er transformiert sie, von einer statischen, undurchlässigen Mauer in eine dynamische Übergangszone. Auf ähnliche Weise agieren Dan Grahams und Siah Armajanis Collageverfahren, die ihrerseits gezielt Blickbeziehungen zwischen beiden Seiten, zwischen innen und außen herstellen bzw. Fragmente von privaten Innenräumen mit öffentlichen Außenräumen zusammenfügen.35 Versteht man die (gebaute) menschliche Umwelt der Stadt bis zu einem gewissen Grad hin als sich selbst erfüllende Prophezeiung, in der sich eben dasjenige wiederfindet, was Generationen von Menschen in diese, wissentlich oder unwissentlich, vorsätzlich oder als unbewussten Ausdruck konventioneller Anschauungen einer jeweiligen Zeit und Gesellschaft, in diese eingebracht haben, so wird der Umstand, dass sich der städtische Umraum, wie er sich heute darbietet, so leicht in gängige Dualismen aufteilen lässt, zu einem wenig überraschenden Faktum. (Hierzu eine Anmerkung: In Teil I der Untersuchung wurde die Verwobenheit von traditioneller Ästhetik und Künsten thematisiert. An dieser Stelle deutet sich ein ähnlicher Zusammenhang, eine Geschichte der Wechselbeziehung zwischen Geistesgeschichte – sche) Reflexion über einen Ort zulassen, ist hingegen äußerst fraglich. Ausgrabungsstätten und Freilichtmuseen könnten als weitere Verwandte gesehen werden. Auch sie arbeiten sensorisch und kognitiv. Doch ist hier in aller Regel keine Zusammenführung, sondern vielmehr ein Auseinanderklaffen von physisch erfahrbaren, freigelegten Rudimenten und auf Schildern zu lesenden oder per Audioguide zu hörenden Informationen festzustellen. 34 Überdachte Märkte und Passagen – wie von Walter Benjamin beschrieben – oder moderne Einkaufszentren stellen eine Mischform aus Außen- und Innenraum her. Derartige Orte mögen heute zur unsichtbaren Privatisierung von öffentlichem Raum beitragen (Zulassungsbeschränkungen sind nur für diejenigen sichtbar, die ausgeschlossen werden, wie ,herumhängendeʻ Jugendliche, Menschen, die um Geld betteln, Obdachlose). Eine echte Überwindung des Dualismus von privat und öffentlich bedeuten sie nicht. Desgleichen gilt für die ökonomisch-strategische Intimisierung von öffentlichen Orten wie Cafés (prototypisch zu denken an Starbucks), die anonymen Orten einen privaten, familiären Anstrich geben, wobei im Resultat weder echte Privatheit noch echte Öffentlichkeit produziert wird. 35 Siehe Fn. 24.

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Theologie, Philosophie, Wissenschaften – und der (gebauten) menschlichen Umwelt der Stadt an. Auch diese These lieferte gehaltvollen Stoff für eine eigene Untersuchung. 36 ) Reflexive Orte könnten also nicht allein unter gestalterischen Gesichtspunkten, sondern auch vom Standpunkt der Stadt aus betrachtet ganz eigene Qualitäten entfalten. Sie könnten konventionelle in Stein gehauene (respektive: betonierte) Dichotomien wie innen-außen, privat-öffentlich, Geist-Körper wenn nicht niederreißen, so doch punktuell überwinden bzw. im Sinn einer echten Synthese, die dasjenige von zwei vermeintlich in Opposition zueinander stehenden Seiten bewahrt, was bewahrenswert erscheint, in sich aufheben. 10.5.3 Reflexive Orte in der Gesellschaft Nun handelt es sich bei einer Beschreibung der Stadt als einer durch Orte wie Plätze, Parks, öffentliche Sportanalgen und Bibliotheken bestimmte (gebaute) menschliche Umwelt um eine durchaus fragmentarische und positive, um nicht zu sagen: geradezu idealistische Sichtweise.37 Wenn man etwas über diese hinausgeht und in das Grobraster städtischer Topoi nicht allein Orte des Körpers, Orte des Geistes oder Orte der Kultur, sondern auch pragmatische Aspekte wie Orte des Verkehrs oder Orte des Handels einbezieht, so wird schnell deutlich, dass derartige Bestandteile von Städten sich zwar auch konkret, in Gestalt bestimmter urbaner Topoi (wie Marktplatz, Hauptstraße, Bahnhof) verorten lassen mögen, dass funktionale oder ökonomische Aspekte angesichts zeitgenössischer Stadträume jedoch eine punktuelle, in der Ausdehnung limitierte Verortung überschreiten. In gewissem Sinn könnte man sagen, dass sich angesichts zeitgenössischer Innenstädte kaum mehr ein Ort finden lassen dürfte, der nicht erstens dominant funktional 38 und zweitens dominant ökonomisch bestimmt 36 In diese Richtung zielen, der Tendenz nach, die in der Einleitung zitierten Ansätze Henri Lefebvres und Michel de Certeaus, wenn sie – Zweitgenannter im Anschluss an Michel Foucault – die Stadt als einen spezifischen, historisch-gesellschaftlich hergestellten Raum beschreiben. Allerdings entgeht einer Betrachtungsperspektive, die sich auf den Begriff des ,Raumesʻ richtet, nur allzu leicht eben das, was unter dem Gesichtspunkt der (gebauten) menschlichen Umwelt zu beachten notwendig und wichtig wäre (vgl. Einleitung und Kap. 11). Eine differenzierte Betrachtung der (möglichen) historischen Wechselwirkungen zwischen Geistesgeschichte und Stadt, verstanden als (gebaute) menschliche Umwelt, steht in diesem Sinn noch aus. (Ein Einzelbeispiel, das illustriert, was mit dem Gedanken gemeint sein könnte, findet sich in der Einleitung, Fn. 14). 37 ,Idealistischʻ weniger im philosophischen Sinn, als im Sinn städtebaulicher Visionen zu sogenannten ,Idealstädtenʻ, wie sie von der Antike über die Renaissance bis hinein in die Moderne (zu denken an Oscar Niemeyers/Lúcio Costas Entwurf für Brasilia; vgl. Einleitung) entwickelt wurden. 38 Der Gedanke, den städtischen Umraum in funktionale Sektoren (Zonen der Arbeit, des Wohnens, des Transits) aufzuteilen, stellte ein Leitprinzip des modernen Städtebaus des 20. Jahrhunderts dar, dem später vielgestaltige Kritik zuteilwurde. Die funktionale Aufteilung der Stadt ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem Gedanken, die Stadt per se auf funktionale Art zu denken, d.h. die (gebaute) menschliche Umwelt in jedem Teilaspekt klar zu definieren und diesem eine bestimmte Aufgabe oder Rolle zuzuweisen. Eine funktionale Sicht auf die Stadt, die keinen Bestandteil der (gebauten) menschlichen Umwelt undefiniert

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wäre. Insbesondere der zweitgenannte Aspekt wird dabei von Seiten einer kritischen Stadtforschung her im Sinn einer progressiv-fortschreitenden Tendenz beschrieben. Zwar legte bereits der Urahn einer soziologischen Stadtforschung, Max Weber, zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Vorhandensein eines Marktes ein an die Ökonomie gebundenes Definitionskriterium von Stadt als solcher fest. 39 Allerdings nimmt die Ökonomisierung von Stadtraum heute neue und in dieser Form zu Zeiten eines Max Weber so sicherlich nicht vorauszusehende Dimensionen an. Um nur einige Beispiele zu nennen: Zu denken ist an Prozesse wie die Umwandlung von Innenstädten in Fußgängerzonen, die ihrerseits zu flächendeckende Einkaufsmeilen mutieren; an die Migration von peripheren Shopping-Malls in Stadtzentren; an die Errichtung von Signature-buildings (Gebäuden wie dem Guggenheim-Museum in Bilbao, die nicht nur das Potential zu einem markanten innerstädtischen Wahrzeichen, sondern darüber hinaus einen kommerzialisierbaren Attraktionswert besitzen, der gemäß eines sogenannten ,Bilbao-Effektsʻ weit über die Stadtgrenzen hinweg ausstrahlt); an das Phänomen der Festivalisierung 40 (durch die Schaffung zeitlich befristeter, dabei fließend ineinander übergehender Events im Stadtraum wie Straßenfestivals, City-Marathons, Open-Air-Konzerte); oder jenes der Disneyfizierung41 (bspw. in Gestalt einer durch reale Vorbilder inspirierten (Wieder-)Errichtung ,historischer Altstädteʻ); an die soziale Entmischung von Innenstädten auf Grund von Gentrifizierungs- und Segregationseffekten42 (durch die hochwertige Sanierung von Altbauten, die Umgestaltung von Industriegebäuden in Loft-Eigentumswohnungen, den Bau exklusiver Town houses, den Wegfall von sozia-len Wohnungsbauprogrammen). Kurz: Nicht der Markt in der Stadt, wie noch bei Max Weber, tritt hier in Erscheinung, sondern die Stadt als Markt.43

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lässt, greift in diesem Sinn weiter und über die moderne Architektur mit ihrem Gedanken der Funktionstrennung hinaus. Während der Funktionalismus, als spezifische architektonische Strömung des 20. Jahrhunderts, heute überwunden sein mag, hat sich ein funktionales Denken weitgehend ungebrochen erhalten (vgl. Einleitung). Max Weber dekliniert auf der Suche nach einer differentia specifica der Stadt alle möglichen Aspekte, wie Dichte, Größe, Vielseitigkeit, durch, um eine solches Kriterium schließlich im Vorhandensein eines Marktplatzes zu finden, auf dem „die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs [...] befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des nächsten Umlandes für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat. Jede Stadt im hier gebrauchten Sinn des Wortes ist ,Marktortʻ, d.h. hat einen Lokalmarkt als ökonomischen Mittelpunkt der Ansiedlung [...].“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (Tübingen: Mohr, 1980) S.727-740. Siehe etwa: Hartmut Häussermann/Walter Siebel, Festivalisierung der Stadtpolitik – Stadtentwicklung durch große Projekte (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1993). Siehe etwa: Frank Roost, Die Disneyfizierung der Städte (Opladen: Leske und Budrich, 2000). Siehe etwa: Sharon Zukin, Loft living: Culture and Capital in the Urban Change (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1982). Sicherlich können auch In-situ-Eingriffe zu Zwecken des City-Marketings eingesetzt werden. Das zentrale Shoah-Denkmal in Berlin-Mitte, an der Tourismusader vom Brandenburger Tor zum Potsdamer Platz gelegen, muss in dieser Hinsicht nicht allein positiv

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Henri Lefebvre: Die Produktion widerständiger perzeptiver Körper Ein Theoretiker, der die progressive Ökonomisierung von urbanem Raum bereits früh erkannte und kritisierte, ist Henri Lefebvre. Allgemein bekannt ist der neomarxistische Denker heute insbesondere für seine Theoriebildung zur Produktion des Raumes. 44 In diesem Kontext entwickelte Lefebvre auch die später einflussreich gewordene Vorstellung, dass Räume nicht einfach präexistent gegeben seien, sondern gesellschaftlich hergestellt würden. (Womit er zu einem Vordenker eines relationalen Raumbegriffs im Besonderen sowie des sogenannten ,spatial turnʻ in den Kultur- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen wurde. 45 ) Weniger oft zitiert als Lefebvres Ausführungen zum Raum finden sich die Überlegungen des gleichermaßen von der Phänomenologie kritisch Distanz nehmenden wie von dieser beeinflussten Denkers zur Frage des Verhältnisses von Stadtraum und menschlichem Körper. Die Raumund Architektursoziologin Martina Löw führt in diesem Kontext aus: Henri Lefebvre […] legt […] nicht nur die Spur zu einem relationalen Raumbegriff, sondern bindet diesen auch in Kapitalismuskritik ein. Der Körper ist für Lefebvre dabei gleichermaßen Produzent und Gegenspieler der Raumproduktion. Durch die Fähigkeit, mit vielen Sinnen wahrzunehmen, sei der Körper in der Lage, die kapitalistische Logik der Visualisierung und Homogenisierung zu durchbrechen. Insbesondere in der Freizeit (im Unterschied zur sich wiederholenden Monotonie des Arbeitens), vor allem am Strand als entdeckter Naturraum, verhalte sich der Körper als ,ganzer Körperʻ und sei insofern widerständig gegen die moderne Ordnung.46

Für Lefebvre liegt in der menschlichen Physis gleich ein doppeltes Potential eingebettet. Sie wird gleichermaßen als Produzent und als Gegenspieler der Raumproduktion beschrieben. Wie ist dieser Gedanke zu verstehen? Zunächst einmal ist die beurteilt werden. Schließlich, so wenig ,tourismustauglichʻ sein Anlass sein sollte, so bedient es sich, als abstrakt-minimalistisches Stelenfeld, doch einer Formensprache, die durchaus ,gestalterisch ansprechendʻ empfunden werden kann. Ein touristischer Attraktionswert, ebenso wie ein politisch zu nutzender Symbolwert, sind hier nicht von der Hand zu weisen. Dass In-situ-Eingriffe auch ein gänzlich anderes, ein interruptives, verstörendes, sich einer Instrumentalisierung entziehendes Potential entfalten können, dies machen andere künstlerische Arbeiten im urbanen Außenraum zu ähnlicher Thematik deutlich. Zu denken an: Gunter Demnig, Stolpersteine; Jochen Gerz, Esther Shalev-Gerz, Mahnmal gegen Faschismus, Hamburg-Harburg, 1986; Hans Haacke, Und ihr habt doch gesiegt, Graz, 1988. Zur angesprochenen Problematik, nicht im Kontext von In-situ-Installationen, aber sogenannter ,real site museumsʻ siehe: Paul Williams, Memorial Cultures – The Global Rush to Commemorate Atrocities (Oxford: Berg, 2007). 44 Henri Lefebvre, The Production of Space (Oxford: Blackwell, 1991); weitere einflussreiche Arbeiten: Henri Lefebvre, Das Alltagsleben in der modernen Welt (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1972); Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte (München: List Verlag, 1972). 45 Zum spatial turn siehe Einleitung; zu einem relationalen – im Gegensatz zu einem absoluten – Raumbegriff siehe: Martina Löw, Raumsoziologie; a.a.O. 46 Martina Löw, Die Rache des Körpers über den Raum?; in: Markus Schroer (Hrsg.), Soziologie des Körpers (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005) S.241.

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menschliche Physis für Lefebvre Produzentin von Raum – wobei mit ,Raumʻ kein abstrakter Raum (im Sinn eines mathematisch-euklidischen Raumes) gemeint ist, sondern kon-kret der gesellschaftliche Raum unseres Alltags, welcher angesichts der heutigen Welt ein kapitalistisch bestimmter Raum sei. Die menschliche Physis ,produziertʻ diesen gesellschaftlich-kapitalistischen Raum insofern selbst, als sie im Zuge von Alltagsroutinen bestehende, an räumliche Phänomene gebundene Konventionen repetiert. „In diesem Sinn erfolgt die kapitalistische (Re)Produktion der Raumlogik“ bereits „in den Familien und der Arbeitswelt“ und erstreckt sich von dieser Mikroebene bis hinauf zu einer Makroebene, welche gleichermaßen „städtisch und global“ ist. Kennzeichen einer auf diese Weise (re-)produzierten kapitalistischen Raumlogik ist für Lefebvre des Weiteren, dass diese den Raum zu einem unter visuellen Gesichtspunkten homogenisierten, einem einheitlichen Raum macht, welcher sodann „fragmentiert und hierarchisch“ gegliedert werden kann. Nicht der Nutzwert des Raumes (also der physische Gebrauch, den Menschen potentiell von diesem machen könnten) ist dabei entscheidend, sondern allein der Tausch- bzw. Mehrwert, der sich aus diesem ziehen lässt. Soweit zur (re-)produktiven Seite, die die Physis zu einer Art Werkzeug, einer wehrlosen Erfüllungsgehilfin einer vorgegebenen Ordnung machen würde. Nun liegt in der menschlichen Physis für Lefebvre jedoch zugleich noch ein anderes Potential eingebettet und zwar jenes, Gegenspielerin einer üblichen und dominanten gesellschaftlich-kapitalistischen Raumlogik zu sein. Denn die Physis muss nicht zwangsläufig allein das, was gesellschaftlich vorgegeben ist, reproduzieren, sondern sie kann sich diesem potentiell auch entziehen und widersetzen. Maßgeblich für einen derartigen Widerstand der Physis, den Lefebvre selbst auch als ,Rache des Körpersʻ an einer vorherrschenden Raumlogik bezeichnet, sei dabei die Art und Weise, wie die menschliche Physis gelebt, wie sie als sensorisches (respektive sensorisch-kognitives) Instrument zum Einsatz gebracht werde. In diesem Sinn kann die kapitalistische Logik der Visualisierung und Homogenisierung durch „die Fähigkeit, mit vielen Sinnen wahrzunehmen“ durchbrochen werden, wie Martina Löw formuliert, oder wie im Sinn einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt präziser zu sagen wäre: durch die Fähigkeit des Menschen, sich mittels eines multisensorischen Wahrnehmens aktiv in seine Umwelt hinein zu öffnen.47 Die Vorstellung einer widerständigen Physis, die sich dagegen wehrt, einer einseitigen Dominanz des Visuellen, wie sie eine bestehende gesellschaftlichkapitalistische Raumlogik prägt, zu folgen, genauso wie sie dagegen aufbegehrt, sich im Zuge eines entfremdeten Arbeitsalltags in segmentierte, beziehungslose räumlichmaterielle Einheiten (in „boxes […] piled one on top of the another or jammed next to one another in rows“48) einsortieren zu lassen, knüpft Lefebvre – und dies ist vom Standpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aus betrachtet ein erster spannender Punkt – also an das Potential eines nicht perzeptiv beschränkten, künstlich auf das Moment des Visuellen verengten, sondern einer möglichst umfassend und vielgestaltig wahrnehmenden Körpers, bzw. phänomenologisch formuliert: eines Leibes.

47 Vgl. Martina Löw, Die Rache des Körpers über den Raum?; in: Markus Schroer (Hrsg.), Soziologie des Körpers; a.a.O., S.241-270. 48 Henri Lefebvre, The Production of Space; a.a.O., S.384.

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Dieser bedarf – und dies ist der zweite spannende Punkt – einer entsprechenden perzeptiven Ansprache, eines entsprechenden Wahrnehmungskontextes, um in seinem widerständigen Potential überhaupt erst (wieder) wachgerufen und aktiviert zu werden. Ebendiese Stelle ist es, an der Lefebvre sich dem ,natürlichen Raumʻ des Strandes zuwendet. Hierzu noch einmal Martina Löw: Auf der Suche nach einer Perspektive auf Veränderung, nach einer Verbindung zu dem kulturell verschütteten Wissen um die natürlichen Räume, gelangt Lefebvre zum Körper. Die Zukunft liegt für ihn im Körper und seiner sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit, artikuliert vor allem durch die für ihn der Natur am nächsten kommende Räumlichkeit, den Strand.49

Reflexive Orte als ,counter-spacesʻ Nach diesem kleinen Exkurs zu Lefebvre, nun zurück zur Frage reflexiver Orte: Was haben diese mit Lefebvres Ausführungen zu Raum und menschlicher Physis gemein? Was könnten sie gemein haben? Sicher ließe sich Lefebvres Vorstellung eines ,natürlichen Raumesʻ, etwa in Gestalt eines einsamen, palmenbestandenen Südseestrandes, an dem der Mensch nichts als gelebter ,ganzer Körperʻ ist, leicht als romantisch-verklärte Sehnsucht nach Ursprünglichkeit abtun. Andererseits sagt Lefebvre selbst, dass mit seinen Ausführungen und seinem Beispiel des Strandes allenfalls eine Tendenz beschrieben sei. Die Vorstellung des Strandes, an dem sich Menschen anders als im Alltag erfahren, nämlich auf eine multisensorisch-physische Weise, ist letztlich also eher als Richtungsanzeige, wenn nicht gar als eine Metapher angesichts eines Mangels an besseren, wirklich adäquaten Beispielen, zu verstehen.50 Worauf Lefebvre mit seinem Bild der menschlichen Physis am Strand verweisen zu wollen scheint, ist hingegen der Umstand, dass es überhaupt möglich ist, sich selbst auf physisch-perzeptiver Basis anders als im üblichen (städtischen) Alltagsleben zu erfahren; und sich somit, so Lefebvres zum Ausdruck gebrachter Glaube und seine Hoffnung, einer allgegenwärtigen – mit Lefebvre selbst: einer ,kapitalistischenʻ, oder wie hier gesagt wurde: einer durchgreifend funktionalisierten und ökonomisierten urbanen Ordnung – zu entziehen. Nicht die vermeintliche Frage, ob ein jeweiliger Ort dicht von Menschen bevölkert (somit ein sogenannter ,sozialer Raumʻ) ist oder ob er gleich dem einsamen Strand Robinson Crusoes fern jeder Gesellschaft (als ,natürlicherʻ, ,prähistorischerʻ, ,außergesellschaftlicher Raumʻ) existiert, ist also letztlich der entscheidende Punkt, sondern, wie die perzeptive menschliche Physis in einer jeweiligen Umwelt zum Einsatz gebracht, wie sie durch einen jeweiligen wahrnehmungsgebundenen Kontext stimuliert und innerhalb desselben erfahren werden kann – bzw. umgekehrt formuliert: Welche Möglichkeiten des aisthetischen Erfah49 Martina Löw, Die Rache des Körpers über den Raum?; in: Markus Schroer (Hrsg.), Soziologie des Körpers; a.a.O., S.250. 50 Dies wird gut deutlich, wenn Lefebvre selbst kritisch vom Urlaubsstrand als einem Produkt der neo-kapitalistischen Freizeitindustrie spricht oder wenn er die komplementäre Seite zu jener des Strandes, nämlich die des revoltierenden, sich auflehnenden Körpers, wie folgt beschreibt: „[The revolt of – Einfügung B.H.] the fleshly (spacio-temporal) body [...] must not be understood as a harking-back to the origins, to some archaic or anthropological past: it is firmly anchored in the here and now, and the body in question is 'ours' – our body [...].“ Henri Lefebvre, The Production of Space; a.a.O., S.201.

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rens ein jeweiliger Umraum, nicht als ,Raum per seʻ, sondern als konkret zu erfahrende (gebaute) menschliche Umwelt, dem physisch verfassten Menschen darbietet. Reflexive Orte könnten sich in dieser Hinsicht, um Lefebvres Beispiel metaphorisch aufzugreifen, gleich versprengten Inseln im funktional und ökonomisch dominierten Gefüge des urbanen Raumes ausbreiten, so dass Menschen, bewusst oder zufällig, an ihnen stranden könnten, um sich multisensorisch als ,ganze Körperʻ zu erfahren. Anders als am Strand würde hierbei die perzeptive Physis nicht dominant in ihrem sensorischen Potential, sondern mittels aisthetischer Prozesse auch hinsichtlich kognitiver Anteile – also hinsichtlich dessen, was in der Tradition ,Geistʻ, ,Vernunftʻ, ,Intellektʻ genannt wurde – angesprochen. Und ist es nicht ebendies, worauf auch Henri Lefebvre abzielt, wenn er über den Strand, gleichsam als Ladequelle einer widerständigen Physis sagt, dieser ... tends – but it is no more than a tendency […] – to surmount divisions: the division between the social and mental, the division between sensory and intellectual [...] the division between the everyday and the out-of-the-ordinary [...].51

Inwiefern es sich bei der in den Alltag gleichermaßen eingebundenen, wie aus diesem herausstehenden, der „sensory“ wie „intellectual“ Erfahrung eines solchen ,counter-spaceʻ, wie Lefebvre formuliert, nicht allein um eine „mental“ (sprich: eine individuelle) Erfahrung, sondern gleichermaßen um eine „social“ (eine transindividuelle) Erfahrung handelt, und inwiefern somit auch gesellschaftsbezogene Implikationen eingeschlossen sind, darauf hatte bereits Arnold Berleant hingewiesen. Konkret ist in diesem Kontext zu denken an Berleants Reflexionen zum transindividuellen Gehalt aisthetischer Erfahrungen (Kap. 4.3), an seine Ausführungen zum Gedanken der aesthetic (urban) ecology (Kap. 4.5), sowie jenen der perceptual commons (Kap. 5.4). Zur Erinnerung: ,perceptual commonsʻ bezeichnet für Arnold Berleant all das, was Menschen bzw. eine konkrete Gemeinschaft an Menschen (wie die Bewohner einer Polis, einer Stadt) in ihrem Alltag (aisthetisch) wahrnehmend erfahren. Sie stellen eine Art Gemeingut dar, zu dem – man denke an die basalen Beispiele von Luft und Wasser – jeder Mensch gleichermaßen Zugang haben muss und haben sollte.52 51 Henri Lefebvre, The Production of Space; a.a.O., S.385. 52 Berleant trifft in diesem Kontext eine interessante Unterscheidung zwischen ,Rechtʻ (,rightʻ) und ,Anspruchʻ (,claimʻ). Rechte sind für Berleant Konstruktionen, über die man sich diskursiv einigen kann und die Menschen zugesprochen oder abgesprochen werden können (zum Beispiel: ein Recht auf Privateigentum; ein Recht auf freie Meinungsäußerung). Auf perceptual commons besteht hingegen kein ,Rechtʻ, vielmehr bilden diese eine an den Menschen als physisch verfasstes Wesen geknüpfte Grundbedingung aus, ohne die eine einzelne Person – und zwar jede einzelne Person innerhalb einer Gemeinschaft – nicht sein kann (ohne Zugang zu sauberem Wasser, zu sauberer Luft etc. ist der Mensch als physisch verfasstes Lebewesen nicht lebensfähig). Berleant selbst hierzu: „[...] perceptual commons [form – Einfügung B.H.] the ground of all perceptual experience. Because the grounds of perception are necessary, immediately, and universally present and accessible, they have a common claim. One does not have to establish a 'right' to the air we breathe or to unimpeded movement and unpolluted space. All these are appropriated without chal-

A NWENDUNGSBEZOGENE P RAXIS

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Reflexive Orte könnten in diesem Sinn selbst perceptual commons ausbilden, also Orte im städtischen Gefüge, die jedem einzelnen Menschen ebenso wie der Stadtbevölkerung als Ganzer zur Verfügung stehen, die diesen erlauben, sich und ihre Umwelt auf andere als die alltägliche – reglementierte, perzeptiv verengte und ökonomisch-funktional instrumentalisierte – Art und Weise zu erfahren. Zugleich könnten sie zu einer Gemeinschaft des Sinnlichen (wie in Kapitel 5, in Anlehnung an Arnold Berleant und Jacques Rancière, gesagt wurde) beitragen. Menschen, die vereinzelt an reflexiven Orten anstranden, könnten hier zusammengeführt werden, indem sie sich zunächst perzeptiv öffnen, somit, im übertragenen wie wörtlichen Sinn, ,aufgeschlossenʻ und ,offenʻ werden für ihre Umwelt wie für einander. Wahrnehmungshorizonte, die individuell (erziehungs-, sozialisations-, kulturell bedingt) divergieren, würden angesichts einer derart öffnenden wie verbindenden Umwelterfahrung einander angenähert (sei es temporär, sei es nachhaltig, im Zuge repetitiver Akte), wobei über das Verbindende auf Ebene einer perzeptiven Erfahrung mittels aisthetischer Wirkmechanismen auch ein Austausch auf sogenannter ,geistigerʻ, auf ,intellektuellerʻ Ebene erleichtert würde.53 Bedenkt man des Weiteren, dass Arnold Berleant und Jacques Rancière einer Gemeinschaft des Sinnlichen eine ebenso gesellschaftskonstitutive wie elementar politische Rolle zuweisen – wobei mit Berleant die Möglichkeit, mittels reflexiver Orte Gemeinschaft im Sinnlichen herzustellen, mit Rancière jene, bestehende gesellschaftliche, im urbanen Raum materialisierte Konventionen zu durchbrechen, betont lenge in the activity of sustaining life. The presence of life constitutes its own claim. We can also make perceptual claims: to the viewscape as publicly accessible, to quiet space, for air and water that are pure and healthful and not altered or controlled for others' convenience or profit; in short, for environment that promotes life and well-being. [...] Such a commons is grounded in perception, and perception emerges from the persistent fact of life itself. All these derive from what Kant called 'the right to the earth's surface that belongs in common to the totality of men ...' However, I call these claims, not rights. The concept of rights leads to complexities of argument that entail problems of circularity, and the idea is itself a political construct, if not another political myth. A claim, on the other hand, is a simple assertion evidenced in behavior and grounded on the conditions necessary for life. While there is no limit to claims that can be made, what distinguishes perceptual claims is their immediacy in experience and their primacy for sustaining life itself.“ Arnold Berleant, The Aesthetic Politics of Environment; in: ders., Aesthetics beyond the Arts (Aldershot: Ashgate, 2012) S.181. 53 Wichtig ist es hierbei, zwischen einer inklusiven und einer exklusiven Wirkungsweise zu unterschieden. Künstlerische Arbeitsmittel können, wie von Pierre Bourdieu empirisch untersucht und ausführlich in Die feinen Unterschiede beschrieben, derart instrumentalisiert werden, dass sie zu sozialem Ausschluss beitragen. Sie können aber auch in einem sozialen Austausch fördernden und somit gesellschaftliche Hierarchien und Klüfte abbauenden und überwindenden Sinn eingesetzt werden. Inwiefern dabei ein Unterschied zu einem oberflächlichen sozialen Harmonisierungs- und Homogenisierungsstreben besteht, siehe Kap. 5.4. Zur Möglichkeit, installative Mittel assimilativ oder interruptiv einzusetzen, siehe Kap. 6.4. Zur potentiellen gesellschaftlichen Rolle interruptiver künstlerischer Arbeitsmittel aus bourdieuscher Sicht: Pierre Bourdieu/Hans Haacke, Freier Austausch - für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1995).

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werden kann –, so sollte das Potential derartiger Orte, und sei es nur in Gestalt einzelner, verstreuter Inseln im funktional-ökonomisch dominierten Meer des Städtischen, nicht unterschätzt werden. Reflexive Orte könnten, um von einer naturnahnautischen zu einer hieb- und stichfesten handwerklichen Metapher zu wechseln, beides zugleich sein: aisthetisch-gesellschaftlicher Reißverschluss, der bislang Getrenntes zusammenführt, wie Trennschere, die, Nadelstich um Nadelstich rückgängig machend, bestehende wahrnehmungsbezogene Konventionen auflöst.54 Sicher sind Gedanken, wie sie unter 10.5 zu reflexiven Orten entwickelt wurden, nicht länger allein im Sinn eines sachlich-neutralen Ausblicks in die mögliche und wahrscheinliche anwendungsbezogene Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zu verstehen, wie sie bis zu jenem Punkt hin entwickelt wurden. Vielmehr tragen sie, wenn auch keineswegs utopische, so doch nicht zu leugnende visionäre Züge an sich. Andererseits: Wäre es nicht fatal, wenn ein selbst erst im Entstehen begriffenes, bislang allein latent und als Möglichkeit gegebenes kollaboratives Forschen, wie es eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt darstellt, noch vor dem Zeitpunkt einer realen Praktizierung in seinen Zielen und Hoffnungen hinter den eigenen Charakter zurückfiele und sich, gänzlich frei von jedem visionärem Gehalt, allein dem Rahmen des bereits heute Gegeben, statt jenem des künftig zu Erstrebenden verpflichtete?

54 Hierzu noch einmal Henri Lefebvre, der die Rache bzw. Rebellion des ,ganzen Körpersʻ mit den folgenden, wie auf den Gedanken reflexiver Orte zugeschnittenen Worten, beschreibt: „This is not a political rebellion, a substitute for social revolution, […] it is an elemental […] revolt which does not seek a theoretical foundation, but rather seeks by theoretical means to rediscover – and recognize – its own foundations. [… ] Its exploratory activity is not directed towards some kind of 'return to nature', nor is it conducted under the banner of an imagined 'spontaneity'. Its object is 'lived experience' – an experience that has been drained of all content by the mechanisms of diversion, reduction […] extrapolation […]. There can be no question but that social space is the locus of prohibition, for it is shot through with both prohibitions and their counterparts, prescriptions. This fact, however, can most definitely not be made into the basis of an overall definition, for space is not only the space of 'no', it is also the space of the body, and hence the space of 'yes', of the affirmation of life. It is not simply a matter, therefore, of a theoretical critique, but also of a 'turning of the world upon its head' (Marx) of an inversion of meaning, and of a subversion which 'brakes the tablets of the law' (Nietzsche).“ Henri Lefebvre, The Production of Space; a.a.O., S.201.

Kapitel 11 Aisthetisches Grundlagenforschen im erweiterten disziplinären Kontext

In einem zweiten Ausblick möchte ich mich der Seite eines aisthetischen Grundlagenforschens zuwenden. Im Zug der Untersuchung wurde – zuweilen implizit, zuweilen explizit – bereits deutlich, wie ein derartiges Forschen vorzustellen ist. 1 Der nun folgende Ausblick wird sich daher nicht erneut mit dessen Kernbereich, sondern vielmehr mit dessen Außenbezirken befassen. Gemeint sind Grenzregionen zu benachbarten Feldern einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt. Auch hier ist aisthetisches Grundlagenforschen möglich und dürfte sich, wie zu sehen sein wird, als wechselseitig produktiv erweisen. Den exemplarischen Gegenstand der Auseinandersetzung bilden dabei drei Fragestellungen, die im Lauf der Untersuchung immer wieder als relevant kenntlich wurden, die von einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt allein allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt hin zu bearbeiten sein dürften: Kapitel 11.1 wird sich mit dem Verhältnis von natürlichem Leib und sozialisiertem Körper befassen – und somit mit der (strikten, oder möglicherweise doch durchlässigen?) Grenze zwischen einer phänomenologisch motivierten Forschung und poststrukturalistischen bzw. soziologischen Ansätzen. 11.2 greift die Frage des Verhältnisses sensorischer und kognitiver Anteile von aisthesis auf, was den Austausch mit einem mikro-physiologischen oder, in anderen Worten, einem ,naturwissenschaftlichenʻ Forschen, nahelegt. 11.3 wendet sich dem Themenkomplex Wahrnehmen und Sprache zu. Inwiefern auch hinsichtlich dieser Region nicht allein lineare Grenzen auszumachen sind, dies wird ein kleiner Exkurs in den Bereich der Sprachphilosophie bzw. genauer: in das Arbeiten des späten Ludwig Wittgenstein zeigen. Bei allen drei Punkten handelt es sich, wie in Kapitel 9 gesagt wurde, um übergreifende Fragestellungen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, die einer nachhaltigen Auseinandersetzung bedürfen. Ziel dieses Ausblicks ist es nicht, abschließende Lösungen zu bieten. Im Gegenteil: Was aufgezeigt werden soll, sind Anknüpfungspunkte für ein zukünftiges Arbeiten in erweitertem disziplinären Kontext.

1

Vgl. Kap. 3-9; insbesondere Kap. 5, 8, 9.

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Ausflüge in Grenzregionen Im vorausgehenden Kapitel wurde der Versuch unternommen, einen Ausblick in die mögliche und wahrscheinliche anwendungsorientierte Praxis einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zu gegeben. In diesem Kapitel schließt ein zweiter Ausblick in die weitere disziplinäre Einbettung eines aisthetischen Grundlagenforschens an. Wie eingangs des letzten Kapitels erwähnt sind anwendungsbezogenes und grundlagenbezogenes Forschen im Rahmen einer Aisthetik nicht voneinander zu trennen. So wie auf Seiten eines anwendungsbezogenen Forschens Theorie zum Einsatz kommt und permanent auf den empirischen Prüfstand gestellt wird, so kann aisthetisches Grundlagenforschen nicht jenseits eines Empiriebezugs entwickelt werden. Mehr noch: Für ein Forschen, das seinen Blick mittels des aisthesis-Begriffs auf einen Bereich zwischen ,rein Sensorischemʻ und ,rein Kognitivemʻ richtet, wäre es geradezu fatal, aisthetische Grundlagen allein auf theoretisierende und sprachlich reflektierende Weise untersuchen zu wollen.2 Wenn im Weiteren also ein Ausblick gegeben wird bzw., wie man besser sagen sollte: wenn im Weiteren kleine Ausflüge oder Exkursionen in disziplinäre Bereiche unternommen werden, die eine Relevanz für ein aisthetisches Grundlagenforschen zu besitzen versprechen, die sich selbst jedoch entweder/oder verorten – nämlich entweder auf Seiten eines theoretischreflexiven oder eines empirischen Forschens, so handelt es sich dabei um eine einseitige Positionierung, die eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nicht teilt. Auch sind die thematischen Felder, die im Weiteren ins Zentrum des Interesses 2

Inwiefern empirische Aspekte in einem aisthetischen Grundlagenforschen eine wichtige Rolle spielen bzw. empirische Untersuchungen selbst als solches zu verstehen sind, dies wurde immer wieder deutlich: So anhand der von Arnold Berleant thematisierten Möglichkeit sich gezielt in unterschiedliche physische Situationen zu versetzen, die es erlauben, mittels eines ruhenden, laufenden, sich mit Hilfe verschiedenster Hilfsmittel fortbewegenden Körpers unterschiedliche Modi der perzeptiven Physis zu erkunden (Stichwort: Kanufahrt); oder anhand des experimentellen Umgangs mit installativen Set-ups bei Bruce Nauman, mit deren Hilfe der Künstler die räumliche Situation ,Korridorʻ untersucht, was zu produktiven Hinweisen hinsichtlich einer späteren Möglichkeit der Untersuchung und des Eingreifens in konkrete Orte, in Gänge, Flure, Korridore des Alltags, führen kann. Empiriebezogene Vorgehensweisen wie die genannten stellen einen grundlegenden – da nicht durch theoretische Reflexion zu ersetzenden – Beitrag zum Bereich aisthetischen Forschens dar. Oder anhand des erstgenannten Beispiels dargestellt: Dass unterschiedliche Situationen, in denen sich die perzeptive Physis befindet, dass Stillstehen, Laufen, Schwimmen, Fahren, Fliegen menschliche Wahrnehmungserfahrungen beeinflussen mögen, ist ein Sachverhalt, der auch aus rein theoretischen Reflexionen gemutmaßt werden kann. (Zu denken an das Beispiel Merleau-Pontys, wenn dieser allein aus dem Faktum, dass der Mensch über ein binokulares, also zweiäugiges Sehen verfügt, schlussfolgert, dass physische Disposition/räumliches Sehen und abstraktes Denken in Form von ,Dingenʻ einen Zusammenhang bilden. Merleau-Ponty muss hierzu nicht selbst empirische Beobachtungen anstellen. Ein Reflektieren über das Faktum genügt in diesem Fall.) Ob dem aber tatsächlich so ist und vor allem: wie eine derartige Beeinflussung sich konkret auswirkt, dies kann indes nur empirisch erforscht werden. (Stellt es bspw. einen Unterschied dar, ob ich mich Fahrrad, Motorrad oder Auto fahrend fortbewege? Und wenn, worin genau bestehen die Unterschiede?) Vgl. Kap. 5.2, 8.2-8.4, 9.2-9.3.

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rücken werden, nicht (allein) innerhalb des Feldes, das eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aufspannt, lokalisiert, sondern es handelt sich um Regionen, die gewissermaßen in deren Grenzgebiet, an der Schwelle zu benachbarten Forschungsbereichen angesiedelt sind. Wie genau sich diese Regionen zu einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt verhalten, wie sie sich dieser entziehen oder als mit dieser verbunden erweisen, ebendies wird einer der im Weiteren zu klärenden Punkte sein. Vorab hierzu nur einige Überlegungen genereller Art: Als kollaborativem Forschen, das sich aus zwei unterschiedlichen und üblicherweise miteinander unverbundenen Feldern, nämlich jenem der architektur- und ortsbezogenen Installation und dem der philosophischen Alltags- und Umweltästhetik, speist, ist dem Gedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt ein grenzüberschreitendes Moment bereits mit in die Wiege gelegt. Die Außengrenzen eines derartigen kollaborativen Forschens starr entlang jener Grenzen nachzeichnen zu wollen, die bestehende Ansätze aus dem Bereich der installativen Kunst und der Alltags- und Umweltästhetik vorgeben, erschiene dem dynamischen Charakter eines sich selbst dem Gedanken der transdisziplinären Grenzüberschreitung verdankenden Projekts unangemessen. In diesem Sinn wäre es – rein theoretisch – auch vorstellbar, dass eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sich nicht allein aus den hier behandelten philosophischen und künstlerischen Bereichen, sondern aus weiteren Strömungen und disziplinären Kontexten speiste. 3 Andererseits kann kein Forschen sich selbst und seinen Untersuchungsbereich unbegrenzt ausdehnen. Vielmehr sind Grenzen auf Grund der spezifischen Prämissen, von denen ein jedes Forschen auszugehen hat, auch einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt konstitutiv eingeschrieben. Was dieses Sachverhalts eingedenk aber dennoch möglich sein sollte, ist eine bewusste und möglicherweise gar fallspezifisch unterschiedliche Art und Weise des Umgangs mit eigenen Limitierungen. Nicht selten werden Forschungsbereiche, etwa aus dem Lager der ,Naturwissenschaftenʻ und dem der ,Geisteswissenschaftenʻ bzw. von Seiten spezifischer, konkurrierender Strömungen (bspw. Phänomenologie und Poststrukturalismus), wie Territorien behandelt, die es zu verteidigen und mit Mauern zu umgeben gilt. Diese können, um im Bild zu bleiben, wahlweise genutzt werden, um entweder Brandpfeile hinüber ins feindliche Lager zu senden; oder um sich vor ihnen aufzustellen und mit Blick auf das eigenhändig Errichtete zu proklamieren, hier ende die Welt und alles, was an ihr zu erforschen sei. Beide Strategien sind üblich. Beide lassen sich gut miteinander kombinieren. Einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt als einem von Geburts wegen grenzüberschreitenden Projekt sind beide Vorgehensweisen gleichermaßen unangemessen. Wenn es einer 3

Zu denken wäre bspw., was künstlerische Felder betrifft, an (sachlich-beschreibende) Literatur, (deskriptive) Handzeichnung, Tanz/Performance, Szenografie, Stadtspaziergänge/ Dérives, Audio-Kunst, Landschafts- und Gartengestaltung. Strikte Grenzen zwischen unterschiedlichen Genres sollten hier, aus Sich einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, nicht gezogenen werden. Vielmehr ist umgekehrt zu Fragen, inwiefern Verwandtschaftsbeziehungen bestehen mögen, die für ein aisthetisches Umweltforschen produktiv zu nutzen sind. (Zur möglichen Rolle deskriptiver Verfahren, wie sprachliche Beschreibung und deskriptive Handzeichnung, siehe: Kap. 9.3; zur möglichen Annäherung der Architektur an installative Verfahren, siehe die Beispiele Eisenman und Libeskind, in Kap. 10.2)

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Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt also auch nicht möglich sein mag, alle erdenklichen Felder im Alleingang zu beackern, so sollte sie doch, ihres immanent grenzüberschreitenden Charakters eingedenk, zumindest um einen anderen Umgang mit dieser Gegebenheit bemüht sein. Nun zu einer konkreten Ebene: Im Folgenden werden drei Ausflüge in Außenbezirke oder, je nach eigenem Standpunkt, in benachbarte Regionen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt unternommen. Bei den üblicherweise mit diesen Regionen assoziierten Theorieansätzen handelt es sich erstens: um poststrukturalistische bzw. soziologische Ansätze; zweitens: um ,naturwissenschaftlichesʻ Forschen im Bereich der Mikro-Physiologie (also in Bereichen wie: Neurophysiologie, Neurobiologie, Neuroanatomie, Neurochemie, Neuropsychologie, Kognitive Neurowissenschaften u.a.; da das Feld, die diversen Benennungen deuten es an, einerseits durch eine starke disziplinäre Binnendiversifizierung, andererseits durch ein Einzeldisziplinen überschreitendes Forschen gekennzeichnet ist, wird im Weiteren verallgemeinernd von einem ,mikro-physiologischen Forschenʻ die Rede sein); drittens: sprachphilosophische Ansätze bzw. eine singuläre Position, die üblicherweise mit sprachkritischer Philosophie gleichgesetzt wird, nämlich jene Ludwig Wittgensteins. Den konkreten Gegenstand der Exkursionen werden drei Fragestellungen bzw. Themenkomplexe bilden. Die erste Frage kreist um die Thematik der perzeptiven menschlichen Physis als ,natürlicher Leibʻ und/oder ,sozialisierter Körperʻ: Wie im Zuge der Untersuchung deutlich wurde, ist eine Aisthetik, als Erforschung der Art und Weise, wie (gebaute) menschliche Umwelten von Menschen in ihrem Alltag wahrnehmend erfahren werden, von ihrem Ansatz her konstitutiv an eine Erste-PersonPerspektive gebunden. Die eigene perzeptive Physis (im Sinn eines phänomenologischen Leibes), die wahrnehmend in einen jeweiligen Umweltkontext eingebettet ist, wird dabei als Ausgangspunkt einer aisthetischen Untersuchung genommen. Inwiefern Wahrnehmungserfahrungen nun nicht allein inter-individuell übereinstimmen (siehe Kapitel 4, 5), sondern auch divergieren mögen, sowie, welchen Einflüssen die menschliche Physis in dieser Hinsicht ausgesetzt ist, kann von einem solchen Standpunkt aus alleine nicht erforscht werden. Es ist diese einer Aisthetik immanent, man könnte auch sagen axiomatisch eingeschriebene Limitierung, hinsichtlich derer sich ein Blick auf poststrukturalistische bzw. soziologische Ansätze als aufschlussreich erweisen könnte – und zwar: als wechselseitig aufschlussreich. So jedenfalls lautet die These, der im Rahmen eines ersten Ausflugs nachgegangen werden soll. Eine andere Fragestellung findet sich in jener nach der Art des Verhältnisses kognitiver und sensorischer Anteile von aisthesis. Dass es sich hierbei um eine relevante und in den Konsequenzen potentiell wirkmächtige Fragestellung für den Bereich der Aisthetik handelt, dies wurde in den entsprechenden Kapiteln (insbesondere Kapitel 5) etwa anhand einer kritischen Analyse und den in diesem Kontext aufgezeigten unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der Ansätze Gernot Böhmes und Arnold Berleants deutlich. Ebenfalls deutlich wurde dabei bereits, dass es sich um eine janusköpfige Fragestellung handelt: Ein Gesicht besteht im pathischgnostisch zu erlebenden Moment, mit welchem sich die Aisthetik befasst, das andere in simultan ablaufenden mikro-physiologischen Prozessen. Vom Standpunkt einer Erste-Person-Perspektive aus, die nach den Gegenständen bzw. Inhalten von Wahrnehmungserfahrungen, nicht aber nach den begleitenden physiologischen Prozessen fragt, ist diese Frage immer nur hinsichtlich eines ihrer Gesichter zu bearbeiten. Ein

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möglichst umseitiger Blick, der auch ein ,naturwissenschaftlichesʻ Forschen einbezieht, könnte sich also als durchaus aufschlussreich erweisen, wie ein kleiner, allein einige Grundannahmen und basalen Erkenntnisse eines mikro-physiologischen Forschens zur Sprache bringender Ausflug in entsprechende Gefilde demonstrieren soll. Das drittes Gebiet schließlich, hinsichtlich dessen ein vermeintlich nicht minder in die Ferne gerichteter Blick Einsichten auch hinsichtlich des engeren Forschungsbereichs einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt bringen könnte, bildet der Themenkomplex Wahrnehmen und Sprache: Müssen beide Bereiche wirklich als prinzipiell isoliert voneinander und bestenfalls in einem Abbildverhältnis zueinander stehend konzipiert werden, dem gemäß Wahrnehmungsgegenstände (der perzipierte Apfel vor mir auf dem Tisch) mit sprachlichen Ausdrücken für diese (dem Wort ,Apfelʻ) belegt werden? Können wir dementsprechend immer entweder nur wahrnehmungsgebundene Erfahrungen machen oder über diese Erfahrungen sprechen? Mehr noch: Können wir Menschen, als denkende Lebewesen, deren Denken unweigerlich an Sprache gebunden ist, möglicherweise den Bereich der Begriffe – das Netzwerk der Signifikanten – überhaupt nie verlassen und bewegen uns dementsprechend allein in einem in sich kohärenten sprachlich-diskursiven Gefüge, einer Art Stadt der Sprache, umringt von hohen, unüberwindlichen Mauern? Dass Grenzen zwischen Wahrnehmen und Sprache eventuell nicht so leicht und ohne Weiteres zu ziehen sein mögen, wie es den Anschein hat, dies wurde in der vorliegenden Untersuchung bereits verschiedentlich deutlich (siehe etwa Kapitel 5). Welche methodischen Möglichkeiten es geben könnte, sich auch ganz gezielt in einer Region zwischen vermeintlich nicht-sprachlichem Wahrnehmen und sprachgebundenem Denken zu bewegen, zu diesem Punkt erfolgt ein dritter und letzter Ausflug in das Arbeiten des späten Ludwig Wittgenstein. Alle drei Ausflüge werden einen jeweils anderen Umgang mit den Grenzen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt an den Tag legen – und somit zugleich unterschiedliche Möglichkeiten eines Umgangs mit der nicht vordergründig zu kaschierenden, sondern vielmehr offen einzuräumenden eigenen axiomatisch bedingten Limitiertheit aufzeigen: Zwischen poststrukturalistischen bzw. soziologischen Ansätzen und dem Gedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt werden dabei Möglichkeiten offenbar werden, sich innerhalb eines bestimmten Grenzgebiets, innerhalb einer Übergangsregion dynamisch zu vernetzen. Anhand des Ausflugs in die Bereiche eines mikro-physiologischen Forschens wird sich zeigen, inwiefern ein Blick über den Tellerrand hinweg nicht allein zu Einblicken in Erkenntnisse führen muss, die den eigenen fremd und auf Grund allzu stark divergierender Betrachtungsperspektiven mit diesen inkompatibel erscheinen; sondern die, zumindest potentiell, durchaus Hinweise, möglicherweise gar direkte Rückschlüsse hinsichtlich eigener Fragestellungen erlauben könnten. Mit Ludwig Wittgenstein wird abschließend eine weitere, eine dritte Art des Umgangs mit Grenzen deutlich werden, und zwar, neben 1) jener einer innerhalb einer beschränkten Grenzregion vonstattengehenden intradisziplinären Vernetzung – also einer Vernetzung zwischen unterschiedlichen Strömungen, die innerhalb eines disziplinären Bereichs existieren – und 2) jener eines interdisziplinären Blicks auf die andere Seite – von einem Forschungsbereich hinüber in einen anderen Forschungsbereich –, 3) die eines Gangs entlang der Grenzen, der, im Übertritt mal auf diese, bald auf jene Seite, Schritt für Schritt eine Verbindung herstellt.

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11.1 Z UM V ERHÄLTNIS

NATÜRLICHER UND SOZIALISIERTER K ÖRPER

L EIB

Zunächst zur Frage nach dem Verhältnis von ,natürlichem Leibʻ und/oder ,sozialisiertem Körperʻ und somit zum Exkurs in Richtung poststrukturalistischer bzw. soziologischer Ansätze: Um sich darüber klar zu werden, inwiefern ein Blick auf die Theoriebildung aus diesen Bereichen potentiell von Interesse für den Gedanken einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sein könnte, bzw. um zu verstehen, worin überhaupt ein Unterschied hinsichtlich der Betrachtungsperspektive und somit des jeweiligen Verständnisses der menschlichen Physis liegt, ist es sinnvoll, sich zunächst noch einmal vor Augen zu führen, was den Begriff des ,Leibesʻ kennzeichnet, wie er in einer phänomenologischen und phänomenologisch beeinflussten Theoriebildung, von Maurice Merleau-Ponty bis zu Hermann Schmitz oder Gernot Böhme, Verwendung findet. Ein entscheidendes Merkmal findet sich diesbezüglich im Verständnis der menschlichen Physis als einer apriorischen Bedingung des Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögens. Denn der aktiv erfahrende Leib wird im Kontext phänomenologischer und phänomenologisch motivierter Ansätze als Bedingung (bzw. – wie im Kontext einer Aisthetik zu betonen ist – als eine der Bedingungen4) dafür gesehen, dass der Mensch überhaupt Wahrnehmungserfahrungen machen kann; oder kurz: Leib sein bedeutet wahrnehmen können, ebenso wie wahrnehmen können Erkenntnis gewinnen können bedeutet. Eine Erste-PersonPerspektive zeigt sich dabei unauflöslich mit dem Begriff des ,Leibesʻ verbunden. Gegenstand einer phänomenologischen und phänomenologisch motivierten Theorieperspektive ist demgemäß nicht etwa der physiologische Wahrnehmungsapparat oder die physikalische Beschaffenheit von Wahrnehmungsgegenständen – beides Bereiche, die mittels einer Dritte-Person-Perspektive, im Blick von außen, erschlossen werden können –, sondern das Wie-es-sich-anfühlt, eine Wahrnehmungserfahrung zu machen. Dies als kurze Erinnerung. Nun gibt es neben dem Begriff des ,Leibesʻ zur Bezeichnung der menschlichen Physis noch jenen des ,Körpersʻ. Dieser ist in der Alltagssprache gebräuchlicher, wobei jener, so überhaupt noch üblich, weitgehend synonym mit ,Körperʻ verwendet wird (etwa, wenn von einem ,beleibten Menschenʻ oder von ,Leibeigentumʻ die Rede ist. Derartige alltagssprachliche Ausnahmen zielen nicht etwa auf ein phänomenologisches Verständnis, ein Wie-es-sich-anfühlt, physisch verfasster Mensch zu sein, ab, sondern auf den Körper als voluminösausgedehntes bzw. materiell verfügbares Objekt). Der Ausdruck ,Körperʻ findet aber nicht allein in der Alltagssprache, sondern auch in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten Verwendung: So, neben ,naturwissenschaftlichʻ orientierten Feldern (mehr hierzu unter 11.2), im Bereich der poststrukturalistischen Theoriebildung.

4

Mit Merleau-Pontys ,chairʻ und Hermann Schmitz’ ,Leibʻ rückt die perzeptive Physis als apriorische Voraussetzung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen ins Zentrum der phänomenologischen Aufmerksamkeit. Arnold Berleant betont demgegenüber die nicht minder konstitutive Rolle des environment. Beiden Seiten, der perzeptiven Physis und der wahrgenommenen Umwelt, kommt im Kontext einer Aisthetik eine konstitutive Rolle zu (vgl. Kap. 4, 5, 8, 9).

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Verallgemeinernd kann dabei gesagt werden, dass poststrukturalistische Ansätze in ihrer Rede vom ,Körperʻ nicht eine aktive Seite der menschlichen Physis, wie sie im phänomenologischen Begriff des ,Leibesʻ gefasst wird, zum Gegenstand der Auseinandersetzung machen, sondern eine veräußerlichte, eine passive Seite. Nicht: Inwiefern bin ich Leib und was mache ich mittels meiner leiblichen Verfasstheit?, lautet die zentrale Frage, sondern: Inwiefern wird mein Körper und wird das, was ich als ,Ichʻ bezeichne, mittels meines Körpers gemacht? Es handelt sich also um ein Verständnis von Körperlichkeit, das nach beeinflussenden und prägenden Faktoren fahndet, nach Umständen (Strukturen, Diskursen) die auf diese einwirken bzw. ein bestimmtes (Selbst-)Verständnis menschlicher Physis überhaupt erst hervorbringen und konstituieren. Eben in diesem Punkt liegt nun eine Verwandtschaft vor zwischen einer poststrukturalistischen Sichtweise, als spezifischer philosophisch-wissenschaftlicher Strömung, und dem Körperbegriff der Soziologie.5 Freilich handelt es sich hierbei, die Formulierung ,der Körperbegriff der Soziologieʻ macht es deutlich, um eine Pauschalisierung. Denn die potentiellen Körperbegriffe in der Soziologie dürften so vielfältig sein, wie die potentiell möglichen Ansätze innerhalb des Feldes. Dennoch lassen sich gewisse, jedenfalls bislang dominierende Tendenzen ausmachen: So fahndet die Soziologie von ihrer Grundverortung her hinsichtlich der menschlichen Physis primär nach ,äußerenʻ, konkret: gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf den Körper, wobei eine aktive, perzeptive Seite der Physis, im Sinn eines Leibes, an sich nicht zwangsläufig aus der Betrachtung ausgeschlossen werden müsste, jedoch in aller Regel aus dieser ausgeschlossen wird.6 Die Soziologin Gesa Lindemann kommentiert in diesem Sinn ein bis heute übliches soziologisches Körperbild wie folgt: 5

6

In diesem Sinn überrascht es nicht, wenn Klassiker des Poststrukturalismus, die sich mit dem menschlichen Körper befassen, wie die Ansätze Michel Foucaults oder Judith Butlers, heute gleichermaßen zu Klassikern der Körpersoziologie gezählt werden. Siehe etwa: Markus Schroer (Hrsg.), Soziologie des Körpers (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005) S.8; Cornelia Koppetsch (Hrsg.), Körper und Status – Zur Soziologie der Attraktivität (Konstanz: UVK, 2000) S.9; Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers (Bielefeld: Transcript, 2004) S.45. Bei der Soziologie des Körpers handelt es sich um einen vergleichsweise jungen Forschungsbereich. Zwar finden sich Vorläufer und Anknüpfungspunkte bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Robert Hertz, Georg Simmel, Marcel Mauss oder Norbert Elias. Als eigenständiger Bereich hat sich die Körpersoziologie, ausgehend vom angloamerikanischen Diskursraum, jedoch erst seit den 1980er Jahren entwickelt. Einen guten Einblick in den aktuellen deutschsprachigen Diskurs gibt der von Markus Schroer herausgegebene Sammelband Soziologie des Körpers. Einen vertiefenden Eindruck in die spezifische Thematik von (phänomenologischem) Leib und (poststrukturalistischem) Körper liefert die Soziologin Ulle Jäger in Der Körper, der Leib und die Soziologie. Die folgenden Gedanken zu Unterschieden und Möglichkeiten einer konzeptionellen Verbindung von Leib und Körper stützen sich – wenn auch nicht hinsichtlich konkreter Schlussfolgerungen, so doch hinsichtlich einer allgemeinen Darstellung und Auswahl entsprechender Positionen – auf die genannten Veröffentlichungen. Siehe: Markus Schroer (Hrsg.), Soziologie des Körpers (a.a.O.); und: Ulle Jäger, Der Körper, der Leib und die Soziologie – Entwurf einer Theorie der Inkorporierung (Königstein: Ulrike Helmer Verlag, 2004).

422 | AISTHETIK DER ( GEBAUTEN ) MENSCHLICHEN U MWELT Das gesellschaftliche Personal, das Soziologen vor Augen bekommen, scheint aus Engeln zu bestehen. Denn anders ist es kaum verständlich, warum die Gegenstände soziologischer Forschung fast ausschließlich immateriell konzipiert werden. Zentrale Objekte sind, z.B., Sinnsysteme (Luhmann) oder sinnhaftes Handeln und werthafte Orientierungen (Weber). Ganz allgemein herrscht in der Soziologie eine Vorliebe für Wissen, Sprache und Semantik vor. Darin zeigt sich eine quasimentalistische Bornierung, die es verunmöglicht, systematisch in den Blick zu nehmen, dass es soziale Akteure gibt, die Hunger und Durst haben, die sich ängstigen [...]. Eine Soziologie des Körpers hilft aus dieser Verkürzung nicht heraus. Denn den soziologischen Engeln ist es freigestellt, sich anlässlich irgendeines Bedarfs irgendeinen Körper zu konstruieren.7

Poststrukturalistische und soziologische Perspektiven auf die menschliche Physis Wie Gesa Lindemanns Ausführungen zu entnehmen ist, kann eine gängige soziologische Sichtweise auf die menschliche Physis, welche diese allein im Sinn eines gesellschaftlich determinierten, frei zu konstruierenden Körpers konzipiert, als problematisch erachtet werden – und dies nicht zuletzt vom Standpunkt der Soziologie selbst. (Desgleichen gilt für poststrukturalistische Ansätze. Zu diesem Punkt mehr an späterer Stelle.) Angesichts der Frage nach dem Verhältnis von ,Leibʻ und ,Körperʻ im Kontext einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sollte jedoch nicht, gemäß einer üblichen ,Einmauerungs- und Brandpfeiltaktikʻ, das Augenmerk allein darauf gerichtet werden, inwiefern poststrukturalistische oder soziologische Perspektiven auf die menschliche Physis als einseitig verengt zu kritisieren sind, sondern zunächst einmal und vor allem darauf, worin, jenseits weitverbreiteter klischeehaftreduktionistischer Sichtweisen des jeweils Anderen, der potentielle Wert einer entsprechenden Betrachtungsperspektive liegen könnte. Die Frage, die es an dieser Stelle zu stellen gilt, lautet also nicht: Wie und mit welchen Argumenten lässt sich ein poststrukturalistischer oder soziologischer Körperbegriff kritisieren?, sondern: Inwiefern könnten Ansätze, die die menschliche Physis von einer passiven Seite her, hinsichtlich ihrer (gesellschaftlichen) Geprägtheit oder Gemachtheit, betrachten, eine interessante komplementäre Ergänzung und Erweiterung zu einer aisthetischen Sicht darstellen? Um Hinweise bezüglich dieser Frage zu erhalten, folgen an dieser Stelle drei Schlaglichter auf exemplarische Positionen aus besagten Bereichen. Der Körper in poststrukturalistischer Perspektive: Judith Butler und Michel Foucault Zunächst zu Judith Butler. Die Arbeiten der Philosophin und engagierten politischen Denkerin Butler erfahren seit den 1980er Jahren eine breite Rezeption, was nicht zuletzt daran liegt, dass Butler maßgeblich dazu beigetragen hat, einer feministischen Theoriebildung neue Wege in Richtung Queer Theory zu öffnen.8 Hinsichtlich der Frage der 7 8

Gesa Lindemann, Die Verkörperung des Sozialen; in: Markus Schroer (Hrsg.), Soziologie des Körpers; a.a.O., S.114f. International fand Butler mit ihrem 1990 veröffentlichten Buch Gender trouble. Feminism and the Subversion of Identity (auf Deutsch erschienen als Das Unbehagen der Geschlechter) Aufmerksamkeit. Weitere Arbeiten zur oben beschriebenen Thematik folgten 1993 mit Bodies that matter: On the Discursive Limits of Sex, 1997 mit Explicit Speech. A Politics of the Performative und 2004 mit Undoing Gender.

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Verfasstheit der menschlichen Physis im Sinn eines Körpers findet sich bei Butler eine (radikal) konstruktivistische Sichtweise, die den kritischen Fokus auf die Frage der Geschlechtsidentität, respektive auf die eines binären und heteronormativen Verständnisses von Geschlecht, legt. Butlers konstruktivistische Herangehensweise erlaubt es, nicht von einem ,natürlichʻ vorgegeben Körper auszugehen, sondern diesen als Effekt des (sprachlich verfassten) Diskurses – etwa über Geschlechterfragen – zu erachten. Für Butler gibt es keine natürliche Zweigeschlechtlichkeit, die von physiologischen Aspekten (genotypisch: unterschiedlichen genetischen Anlagen; phänotypisch: primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen) abgeleitet werden könnte. Eben das Gegenteil ist der Fall: Eine binäre Geschlechteraufteilung (in Mann/Frau) stellt ein gesellschaftlich verankertes Unterscheidungskriterium dar, dass sich erst mittels performativer Akte in physiologischen Unterscheidungskriterien materialisiert.9 Freilich handelt es sich dabei um eine bewusst provokante Sicht, die klar ablesbaren politischemanzipatorischen Motiven folgt. Der kritische Punkt, den Butler mit ihrer Darstellung dessen ungeachtet durchaus trifft, wird indes deutlich, wenn man sich die Art und Weise, wie Geschlechtsidentität nach Butler produziert wird, anhand eines anderen gesellschaftlichen Strukturierungsmerkmals wie jenem der Ethnizität/Rasse vergegenwärtigt: Denkt man an die Funktionsweise eines rassenideologischen Weltbildes, so führt dieses normative Unterscheidungskriterien (wie: hellhäutig, blond, blauäugig versus dunkelhäutig, schwarzhaarig, braunäugig) zunächst ja selbst ein und erklärt diese zu relevanten Kriterien, um sie anschließend auf Ebene physiologischer Merkmale vermeintlich bestätigt zu finden. Für Butler handelt es sich in diesem Sinn auch angesichts der Frage der Geschlechteridentität erst um eine gewissermaßen nachträgliche Materialisierung einer vorgängigen gesellschaftlichen Konvention, wobei Konventionen selbst wiederum in den Körper eingeschrieben sind, wodurch sich letztlich, mittels (sprachlich) performativer Wiederholung, eine zirkulär-selbstverstärkende Prozessualität einstellt. Als nicht allein konstruktivistisch, sondern radikal konstruktivistisch könnte Butlers Ansatz dabei insofern interpretiert werden, als dieser prinzipiell die Möglichkeit offeriert, in konzeptioneller Hinsicht nicht nur auf einen ,natürlichen Restʻ (im Sinn eines anatomisch, morphologisch, genetisch determinierten Körpers), sondern auf jeglichen physiologischen Rest zu verzichten; d.h. (geschlechtsspezifische) Körperidentität könnte mit Butler nicht nur als sozial-diskursiv geprägt, im Sinn von signifikant beeinflusst, sondern als gemacht, im Sinn von hergestellt, interpretiert werden. (Diese zugespitzte Lesart Butlers findet sich nicht selten in gesellschaftlich-politisch motivierten Debatten 9

Die Gedanken der Materialisation und der Performativität stellen zwei konzeptionelle Fixpunkte in Butlers Theoriebildung dar. Mit Materialisation wird der Sachverhalt bezeichnet, dass ein Diskurs sich in Form eines (als solchen verstandenen) Körpers materiell ausprägt. Ein konkreter Körper ist in diesem Sinn stets die Materialisation eines vorherrschenden Diskurses. Performativität bezeichnet demgegenüber die Art und Weise, wie diese Materialisation geschieht. Dabei werden historisch abgelagerte sprachliche Konventionen mittels des Ausübens von Sprechakten repetiert und hierdurch in Denken und Handeln implementiert. In diesem Sinn ist, wie Butler formuliert: „Eine performative Handlung [...] eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede unterstreicht.“ Judith Butler, Für ein sorgfältiges Leben; in: Judith Butler/ Drucilla Cornell/Nancy Fraser/Seyla Benhabib, Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart (Frankfurt a.M.: Fischer, 1993) S.123f.

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um Geschlechterfragen. Butler selbst bietet diese allerdings eher an, als dass sie sie explizit vertritt.10) Eine nicht minder einflussreiche poststrukturalistische Position stellt jene Michel Foucaults dar. Verwandt ist diese mit derjenigen Butlers nicht zuletzt insofern, als Butler in ihrer allgemeinen Ausrichtung auf Begriffe wie ,Machtʻ und ,Diskursʻ stark durch Foucault beeinflusst wurde. Foucaults Grundfrage hinsichtlich der menschlichen Physis lautet: Inwiefern lässt sich der Körper als diskursiv bestimmt (also im Rahmen eines sprachlich produzierten Sinnzusammenhangs, der über die Sprache hinausgehende, realitätskonstituierende und realitätsstrukturierende Wirkungen zeitigt) beschreiben – bzw.: Wie lässt er sich im Rahmen einer genealogischen Untersuchung (als einer „Form der Geschichte, die von der Konstitution von Wissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen“ 11 ) rekonstruieren? Stärker als Butler, bei der der Gedanke einer permanenten Erneuerung von Geschlechterkonventionen mittels der Repetition performativer Akte in den Vordergrund gerückt wird, richtet Michel Foucault das Augenmerk auf die großen Züge einer historischen Gewordenheit des Körpers (wohingegen die Frage der Geschlechter-identität, Butlers zentrales Anliegen, keine Rolle spielt). Explizit setzt sich Michel Foucault mit der Frage der Rolle des Körpers in seiner genealogischen Phase12 auseinander, in welcher er nach historischen Entwicklungslinien fahndet, die jenseits der üblicherweise kolportierten großen Narrative (wie bspw. der Erzählung von der Entwicklung der modernen Medizin als einer Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte) liegen. In seiner ersten genealogischen Arbeit, Überwachen und Strafen13, stellt Foucault hierzu die folgenden Fragen: Wie schreibt sich (moderne) Macht in die menschliche Physis ein? Wie wird die menschliche Physis diszipliniert und für eine bestimmte Gesellschaftsordnung, etwa eine kapitalistische, verfügbar und verwertbar gemacht? Oder, in Foucaults eigenen Worten: „Welche Art der Besetzung des Körpers ist für das Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaft wie der unseren notwendig und hinreichend? [...] welchen Körper [braucht] die derzeitige Gesellschaft“.14 Nach Foucault kann eine Disziplinierung des Körpers mittels unterschiedlicher Unterwerfungsmethoden erreicht werden. So ist, wie die drastische Eröffnungspassage von Überwachen und Strafen anschaulich verdeutlicht, in welcher die physische Folter von zum Tode verurteilten Strafgefangenen des 18. Jahrhunderts geschildert wird, eine Disziplinierung mittels purer phy10 Vgl. Ulle Jäger, Der Körper, der Leib und die Soziologie; a.a.O., S.66. 11 Michel Foucault, Wahrheit und Macht; in: ders., Dispositive der Macht – Über Sexualität, Wissen und Wahrheit (Berlin: Merve, 1987) S.32. 12 Foucaults Arbeiten kann in eine archäologische (Die Ordnung der Dinge; Archäologie des Wissens) und eine genealogische (Überwachen und Strafen; Sexualität und Wahrheit) Phase unterschieden werden, wobei eine derartige Unterscheidung, wie etwa Rabinow/Dreyfus bemerken, nicht zwangsläufig im Sinn eines Bruchs interpretiert werden muss. Vgl. Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault – Beyond Structuralism and Hermeneutics (Chicago: University of Chicago Press, 1983) S.104ff. 13 Michel Foucault, Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994). 14 Michel Foucault, Analytik der Macht; herausgegeben von Daniel Defert/François Ewald (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005) S.75.

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sischer Machtausübung möglich. Die Frage, der Foucault eigentlich nachgeht, ist jedoch, inwiefern sich in der Entwicklung der Moderne jenseits derart offensichtlicher Disziplinierungsmaßnahmen auch subtilere Mittel und Wege der disziplinierenden Unterwerfung des Körpers herausgebildet haben mögen. Denn: [...] Unterwerfung wird [...] nicht allein durch Instrumente der Gewalt oder der Ideologie erreicht; sie kann sehr wohl direkt und physisch sein [...] und gleichwohl auf Gewaltsamkeit verzichten: sie kann kalkuliert, organisiert, technisch durchdacht, subtil sein, weder Waffen noch Terror gebrauchen und gleichwohl physischer Natur sein [...]. Gewiss, diese Technologie ist diffus, in zusammenhängenden und systematischen Diskursen kaum formuliert; sie setzt sich aus Stücken und Stückchen zusammen; sie arbeitet mit disparaten Werkzeugen und Verfahren; trotz der Kohärenz ihrer Resultate ist sie häufig ein vielgestaltiger Prozess. Man kann sie auch weder in bestimmten Institutionen noch im Staatsapparat festmachen. Diese greifen auf sie zurück; sie benutzen, fördern oder erzwingen ihre Prozeduren. Aber sie selbst mitsamt ihrer Mechanismen und Wirkungen liegt auf einer anderen Ebene. Es handelt sich gewissermaßen um eine Mikrophysik der Macht.15

Diese „Mikrophysik der Macht“ in ihrer weiten Verzweigung ist es, der Foucault in Überwachen und Strafen nachgeht, wobei er zu einem entscheidenden Punkt vordringt: Nämlich dem Umstand, dass disziplinierende Macht nicht allein von außen her der menschlichen Physis aufoktroyiert wird. Vielmehr werde sie im Zuge der Herausbildung einer sogenannten ,Disziplinargesellschaftʻ zunehmend zu einem immanent wirksamen Prinzip.16 Den Weg hierzu bietet für Foucault ein Prozess der Internalisierung – der Verinnerlichung und, im Wortsinn, Inkorporierung von reglementierenden Machtstrukturen –, bei dem ein Individuum teils unbewusst, teils bewusst und durchaus freiwillig (selbst-)disziplinierende Momente verinnerlicht. Der Körper ist in der poststrukturalistischen Sichtweise Michel Foucaults also letztlich zweierlei: Einerseits Ort der Einschreibung, andererseits zugleich Werkzeug in einem größeren Funktionszusammenhang.17 15 Michel Foucault, Überwachen und Strafen; a.a.O., S.37f. 16 Die Herausbildung eine Disziplinargesellschaft könnte theoretisch auch als stets aufs Neue vonstattengehendes Prinzip beschrieben werden (vgl. oben zu Judith Butler), wird bei Foucault aber als konkreter historischer Prozess gefasst: „Der Übergang [von einem Prinzip der disziplinierenden Macht zum anderen – Einfügung B.H.] beruht auf einer historischen Transformation: der fortschreitenden Ausweitung der Disziplinarsysteme im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts, ihrer Vervielfältigung durch den gesamten Gesellschaftskörper hindurch, der Formierung der ,Disziplinargesellschaftʻ“. Michel Foucault, Überwachen und Strafen; a.a.O., S.269. 17 Diesem Sachverhalt verleiht Foucault nicht zuletzt in seinem bekannten Begriff des ,Panoptismusʻ (vgl. unten, Anmerkung zum panoptischen Gefängnis) und dem fragmentarisch gebliebenen Konzept der Gouvernementalität Ausdruck. Hinsichtlich des foucaultschen Körper-Verständnisses im Allgemeinen ist anzumerken, dass der Theoretiker – auch wenn es sich bei der geschilderten Sichtweise um eine vorherrschende handelt – den Körper nicht allein als passiven Ort der Einschreibung und als Werkzeug einer Disziplinargesellschaft versteht. So stellt Foucault im ersten Band von Sexualität und Wahrheit der sciencia sexualis, als einem reglementierenden, disziplinierenden Körperwissen, eine ars

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Pierre Bourdieu: Eine soziologische Sicht des Körpers Um den poststrukturalistisch zu verortenden Ansätzen Butlers und Foucaults an dieser Stelle eine soziologische Perspektive auf den Körper zur Seite zu stellen, soll ein drittes und letztes Schlaglicht auf Pierre Bourdieu geworfen werden. Breite Bekanntheit erlangte Bourdieus soziologische Arbeit durch seine Studien zum Zusammenhang von ästhetischem Geschmack und sozialem Status, veröffentlicht unter dem Titel Die feinen Unterschiede.18 Mittels unterschiedlicher theoretischer Konzepte – so etwa durch eine soziologische Feldtheorie, die von verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisches, soziales, kulturelles Kapital) ausgeht – wirkte Bourdieu aber auch nachhaltig in die inneren Kreise der Soziologie und erfährt dort bis heute eine ungebrochen breite Rezeption. Bezüglich der Frage nach der Rolle der menschlichen Physis ist es insbesondere der Begriff des ,Habitusʻ, der von besonderem Interesse erscheint.19 Unter Habitus kann mit Bourdieu die Art und Weise verstanden werden, wie eine jeweilige soziale Ordnung in ein physisch verfasstes Individuum, in dessen Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, eingeschrieben ist. Dies betrifft Aspekte wie den Lebensstil eines Menschen, dessen Erscheinungsbild, Kleidung, Sprache, Gewohnheiten, Präferenzen für bestimmte Speisen und Getränke – kurz, all das, was dem Anschein nach ein Individuum als solches, als Individuum, auszumachen scheint. Der Ausdruck ,Habitusʻ zielt nun jedoch gerade nicht auf ein vermeintlich inneres Wesen eines Menschen ab, das bspw. auch dann noch in der gleichen Weise vorhanden wäre, wenn ein Individuum aus seinem gesellschaftlichen Kontext isoliert würde. Vielmehr meint er eine Art latent vorhandene Tiefenstruktur, die prinzipiell sozial verfasst ist. Habitus ist somit nicht ,subjektivʻ, im herkömmlichen Sinn, sondern er muss permanent in der Interaktion mit anderen sozialen Akteuren aktualisiert und wachgerufen werden, um sodann als solcher in Erscheinung zu treten.20 erotica gegenüber, wie sie zu anderen Zeiten, in anderen Kulturkreisen und Gesellschaften gepflegt worden sei. Diese habe nicht Unterwerfung, sondern Schulung im Gebrauch der Lüste in „ihrer Intensität, ihrer spezifischen Qualität, ihrer Dauer und ihrer Ausstrahlung im Körper und in der Seele“ zum Ziel gehabt. Die im Rahmen seiner genealogischen Untersuchungen beschriebenen (selbst-)disziplinierenden Mechanismen der Körperformung stellen für Foucault also keine alternativlosen Automatismen dar, sondern allein eine, in unserem Kulturkreis historisch herausgebildete und vorherrschende Art und Weise der Körperbildung. Ein Sachverhalt, der natürlich in der konzeptionellen Konsequenz die Frage danach, was reglementiert, was gebildet wird – und somit die Frage nach einer ErstePerson-Perspektive auch innerhalb Foucaults eigenem Ansatz –, umso virulenter macht; vgl. Fn. 33). Zitat: Michel Foucault, Der Wille zum Wissen - Sexualität und Wahrheit, Band I (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977) S.74. 18 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987). 19 Der Habitus-Begriff wird von Bourdieu selbst nicht durchwegs konsistent verwendet. Entwickelt und exemplifiziert wird er in Entwurf einer Theorie der Praxis u.a. Vgl. Gerhard Fröhlich, Habitus und Hexis – Die Einverleibung der Praxisstrukturen bei Pierre Bourdieu; in: Hermann Schwengel/Britta Höpken (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft?, Band 2/Teil 2 (Pfaffenweiler: Centaurus, 1999) S.100-102. 20 Die Etymologie des Ausdrucks ist hinsichtlich der Verwendung, die der Begriff bei Bourdieu findet, durchaus aufschlussreich: Denn das lateinische ,habitusʻ bedeutet so viel wie

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Genauer zu differenzieren gilt es nach Bourdieu nun des Weiteren zwischen Habitus und ,Hexisʻ, als dem altgriechischen Äquivalent des lateinischen Begriffs, das bei Bourdieu jedoch eine eigenständige, eine zu unterscheidende Bedeutung erhält: Hexis bezieht sich auf die physische, äußerlich manifest werdende Ausformung; Habitus auf eine nicht physisch-materiell greifbare, ,verinnerlichteʻ Haltung. Der soziale Habitus kann in diesem Sinn auch als eine latent vorhandene, physisch verankerte Disposition beschrieben werden, wie Bourdieu ausführt: „Die Bezeichnung ,Dispositionʻ scheint in besonderem Maße geeignet, das auszudrücken, was der [...] Begriff des Habitus umfaßt: Sie bringt zunächst [...] einen solchen Worten wie ,Strukturʻ verwandten Sinn ein; sie benennt im weiteren eine Seinsweise, einen habituellen Zustand (besonders des Körpers) und vor allem eine Prädisposition, eine Tendenz, einen Hang oder eine Neigung“.21 Die Hexis ist ihrerseits nicht vom Habitus zu trennen, stellt aber gewissermaßen die andere Seite der Medaille dar: Sie bezeichnet all jene Anteile des Habitus, die mittels des habituellen Zustandes des Körpers ,nach außen hinʻ sichtbar werden, also etwa eine charakteristische Körperhaltungen, Gestik, Mimik, Bewegungsmuster, physische Verhaltensweisen eines Menschen. Der entscheidende Punkt hinsichtlich der Frage nach der menschlichen Physis liegt nun darin, dass Habitus und Hexis eine sich wechselseitig bestärkende Wirkung entfalten – und dies untereinander wie im Kontakt mit anderen sozialen Akteuren; d.h.: Indem ich selbst eine bestimmte, sozial vorgegebene Körperhaltung einnehme, übernehme ich ein ganzes damit verwobenes soziales Maßregelwerk, das ich wiederum, mittels des Befolgens der von mir erlernten physischen Verhaltensweisen, reproduziere und somit ,innerlichʻ bekräftige. Das wiederholte Befolgen einer vermeintlich beiläufigen Anweisung (wie: ,Halte den Kopf gerade!ʻ oder ,Mach eine Verbeugung!ʻ) führt in diesem Sinn letztlich zu einer „Unterwerfung unter die“ gesamte „bestehende Ordnung”22, wie Bourdieu sagt. Gleichzeitig hat der in der Hexis zum Ausdruck kommende Habitus aber auch eine reproduktive Kraft anderen sozialen Akteuren gegenüber. Auch diesen weise ich mittels meines sozialen Gehabes eine bestimmte soziale Rolle zu. (Am Beispiel: Indem ich als Diener der Regel folge ,Mach eine Verbeugung!ʻ, reproduziere ich nicht nur meinen eigenen Habitus, sondern ich bekräftige gleichzeitig zudem den Habitus meiner Herrschaft, die meine Verbeugung mit einem huldvollen Nicken des ansonsten gerade gehaltenen Kopfes goutiert.23) ,Haltungʻ, ,Gehabeʻ, ,Gestaltʻ, während der Ausdruck, an den der Terminus erinnert, nämlich ,habitareʻ, ,wohnenʻ meint. Habitus im Sinn einer Haltung zu interpretieren, die einem sozia-len Akteur auch physisch innewohnt, erscheint somit bereits von den begrifflichen Referenzpunkten her, wenn auch nicht in einem streng etymologischen, so doch in einem assoziativen Sinn, naheliegend. 21 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979) S.446. 22 Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993) S.129. 23 Bourdieu selbst erklärt diese Interdependenz, wenn auch nicht am Beispiel von Herrschaft und Diener, so doch anschaulich an traditionellen (kulturspezifischen) Geschlechterrollen: „Einerseits neigt oder senkt man [gemeint ist hier: ,die Frauʻ – Anmerkung B.H.] Kopf und

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Der Körper und die (gebaute) menschliche Umwelt Soweit zu einigen Möglichkeiten, wie die menschliche Physis unter dem Gesichtspunkt eines ,geformtenʻ oder ,gemachtenʻ Körpers thematisiert werden kann. Ziel kann an dieser Stelle nicht die ausführliche Darstellung und Diskussion individueller Positionen sein. Denn ebendies, die präzise und differenzierte Auseinandersetzung, das Auseinanderdröseln und Neuverweben im Detail, ist Aufgabe eines künftigen trans- bzw. intra-disziplinär vernetzten Arbeitens, das an der Schnittstelle von (kritisch-reformierter) Phänomenologie und (kritisch-reformiertem) Poststrukturalismus bzw. von Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt und Soziologie agiert. Was an dieser Stelle weiterverfolgt werden soll, sind hingegen die folgenden zwei Punkte. Nämlich erstens die Frage, worin das Interesse einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt an Sichtweisen wie den oben geschilderten bestehen könnte; sowie zweitens, ob sich diesbezüglich Möglichkeiten für konzeptionelle Brückenschläge auftun. Zunächst zur Frage des Interesses: Um sich in diesem Punkt Klarheit zu verschaffen, ist es notwendig, die in der obigen Darstellung auf ein ungebührliches Maß heruntergebrochenen individuellen Ansätze nun noch weiter herunterzubrechen, bis hinab auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner: Eine Position wie diejenige Judith Butlers ermöglicht es in dieser Hinsicht, die Art und Weise zu untersuchen, wie die menschliche Physis unter einem bestimmten Kriterium (Geschlechtsidentität) mittels performativer Akte in zwei unterschiedliche Seinsweisen (Mann/Frau) unterschieden wird. Und sie ermöglicht es darüber hinaus, was der letztlich entscheidende Punkt ist, diese Unterscheidung nicht als naturgegeben hinzunehmen, sondern sie einerseits als kontingent, andererseits zugleich als auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene nachhaltig effektiv zu verstehen. Mit Michel Foucault kann seinerseits gefragt werden, inwiefern die menschliche Physis nicht nur aktuell bestimmten, sich selbst reproduzierenden Einschreibungsprozessen unterworfen sein mag, sondern welche langfristig wirksamen Mechanismen im Sinn eines umfassenden, historischen Apriori einen diskursiv bestimmten Körper prägen. Die freiwillige wie unfreiwillige Verinnerlichung von (selbst-)disziplinierenden Momenten bildet hierbei ein zentrales Element – und somit einen wichtigen Ansatzpunkt für eine historisch-kritische Untersuchung. Ein diesbezüglich nicht unähnlicher Gedanke findet sich auch bei Pierre Bourdieu, wobei dieser angesichts der Vorstellung der Inkorporierung von gesellschaftlichen Normen mittels seiner Unterscheidung von Habitus und Hexis noch eine weitere Möglichkeit aufzeigt, nämlich diejenige, eine Art Ping-Pong-Spiel, einen permanent vonstattengehenden reziproken Prozess, erstens zwischen unterschiedlichen sozialen Akteuren, zweitens zwischen ,verinnerlichterʻ Haltung (Denk-, Handlungs-, Wahrnehmungsmuster) und äußerlicher Haltung (Körperhaltung) eines einzelnen sozialen Akteurs zu beobachten. Oder, noch einmal in größere Schubladen Stirn als Zeichen der […] Unterwerfung, schlägt man […] die Augen nieder, […] verbeugt sich, wirft sich zu Füßen […]; andererseits blickt man [gemeint ist ,der Mannʻ – Anmerkung B.H.] von oben herab […] trägt den Kopf hoch, sieht den Dingen ins Gesicht […] ist obenauf.“ aus: Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn; zitiert nach: Gerhard Fröhlich, Habitus und Hexis – Die Einverleibung der Praxisstrukturen bei Pierre Bourdieu; in: Hermann Schwengel/ Britta Höpken (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft?, Band 2/Teil 2; a.a.O., S.102. Siehe auch Fn. 43.

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gepackt: Was sich mittels der vorgestellten, exemplarischen Positionen zeigt, ist die Möglichkeit einer Betrachtung der menschlichen Physis 1) unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Strukturierungsmerkmale, welche sich auf diese auswirken mögen. (Butler thematisiert das Strukturierungsmerkmal Geschlecht, bei Bourdieu steht das Kriterium Klasse im Vordergrund. Des Weiteren möglich wäre etwa eine Betrachtung von Strukturierungsmerkmalen wie Ethnizität oder Alter.); 2) unter dem Gesichtspunkt eines historisch-gesellschaftlichen Körperwissens und Körperbildes – als der Frage danach, welche über lange Zeiträume hinweg herausgebildeten religiösen, wissenschaftlichen, politischen, ökonomischen Leitbilder in ihrem Zusammenspiel ein jeweiliges gesellschaftliches Bild der menschlichen Physis konstituieren, das sich in dieser ein- bzw. ausprägt. Relevant könnten derartige Betrachtungsperspektiven für den Gedanken einer Aisthetik nun insofern sein, als vermutet werden mag, dass Faktoren, die sich auf die menschliche Physis im Sinn eines Körpers auswirken, auch Spuren hinsichtlich der Seite eines perzeptiven Körpers oder, phänomenologisch formuliert, eines Leibes hinterlassen dürften.24 Für eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sind die skizzierten Positionen zudem von besonderem Interesse, als auch diese, jedenfalls in Ansätzen, versuchen, eine Verbindung zwischen menschlicher Physis und (gebauten) menschlichen Umwelten herzustellen, wobei diese, analog zur begrifflichkonzeptionellen Differenz zwischen ,Leibʻ und ,Körperʻ, von einer entsprechend anderen Seite her gefasst werden. Kann man die Formulierung der ,(gebauten) menschlichen Umweltʻ mit dem Gedanken einer phänomenologisch motivierten Aisthetik gleichsetzen, so lässt sich eine poststrukturalistische und aktuell übliche soziologische Sicht wohl am treffendsten mit dem Begriff des ,Raumesʻ erfassen.25 Eine soziologische, dabei stark vom Strukturalismus beeinflusste Auseinandersetzungen mit der (gebauten) menschlichen Umwelt als Raum findet sich beim frühen Pierre Bourdieu, wenn dieser sich in Das Haus oder die verkehrte Welt26 dem Prototyp eines kabylischen (nordalgerischen) Hauses zuwendet, das in seiner Korrelation mit gesellschaftsstrukturierenden Anschauungen und Leitbildern untersucht wird. Zum paradigmatischen Beispiel eines Disziplinierungsinstrumentes wird die Architektur hingegen bei Michel Foucault. So der Fall in seinem wohl bekanntesten architektonischen Beispiel, dem panoptischen Gefängnis, als einem Rundbau, der sämtliche Gefängniszellen kreisförmig um einen zentralen Wachturm herum offen 24 In diese Richtung deutet, der Tendenz nach, bereits Pierre Bourdieus Doppelbegriff von ,Habitusʻ und ,Hexisʻ, welcher zwar nicht ,Leibʻ und ,Körperʻ im engeren Sinn, wohl aber ,sozialen Habitusʻ und ,physische Hexisʻ miteinander verschränkt, wobei ebenfalls eine konzeptionelle Verknüpfung von ,verinnerlichterʻ Disposition und äußerlichem, sozial geformtem physischen Körper hergestellt wird. 25 Der Begriff ,Raumʻ, wie er in so unterschiedlichen Bereichen wie der Mathematik, der Physik, der Geografie, der Soziologie u.a. Verwendung findet und aktuell im Zuge eines spatial-turn (vgl. Einleitung) diskutiert wird, geht nicht in einer poststrukturalistischen Sichtweise auf. Umgekehrt lässt sich diese jedoch treffend mit dem Begriff des ,Raumesʻ fassen, denn, wie man in Anlehnung an Gernot Böhme sagen könnte: Die Umwelt ist „eine Umgebung, in der man sich befindet“, der Raum hingegen ist die „Art, in der man sich etwas [...] vorstellt.“ (vgl. Kap. 3.4). 26 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis; a.a.O., S.48-65.

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einsichtig anordnet, so dass die reale (oder auch nur erwartete, eben dies ist Foucaults Punkt) Überwachung von einem einzigen zentralen Standort aus möglich wird. 27 Anhand beider Beispiele zeigt sich nun eine Eigenheit, welche eine (einseitig) strukturalistische bzw. poststrukturalistische Betrachtungsperspektive geradezu zwangsläufig induziert. Diese Eigenart kann, die Seite der (gebauten) menschlichen Umwelt betreffend, mit dem Begriff der ,Entmaterialisierungʻ oder auch ,Entsinnlichungʻ beschrieben werden: So zerfällt das kabylische Haus im strukturalistischen Blick des frühen Bourdieu in ein abstraktes räumliches Raster, das durch binäre Schemata (außen/innen, hell/dunkel, männlicher Bereich/weiblicher Bereich) bestimmt wird. In der Perspektive Foucaults werden Orte wie Gefängnisse, Fabriken, Schulen zu rein abstrakten Instrumenten der Zergliederung und Unterteilung von entmaterialisiertem, dimensional aufgefasstem Raum. Aufgabe von Architektur ist dabei allein, wie Foucault sagt, „sich in ebenso viele Parzellen [zu] unterteilen, wie Körper oder Elemente aufzuteilen sind“.28 Nicht die Härte der Schulbank, die nasskalte Finsternis der Gefängniszelle oder das gleißende Licht der Fabrikhalle sind es, die bei Foucault eine disziplinierende, den Körper prägende Wirkung entfalten, sondern es ist ausschließlich das Moment der visuellen Sichtbarkeit, das die Disziplinarräume Foucaults kennzeichnet (und dies zudem weniger in einem wörtlichen, auf die perzeptive Physis bezogenen Sinn, als vielmehr im Sinn eines Symbols des ,Wissens um etwasʻ, wie das Beispiel des panoptischen Gefängnisses zeigt). Dass es in der Realität des menschlichen Alltags hingegen nicht abstrakte Räume, sondern vielmehr konkret zu erfahrende (gebaute) menschliche Umwelten sind, die in all ihren Details auf die menschliche Physis einwirken, dies wurde im Zug der vorliegenden Untersuchung immer wieder deutlich. Auch der spätere Bourdieu – der, anders als der frühe Bourdieu aus Das Haus oder die verkehrte Welt, explizit um eine Verbindung zwischen strukturalistischen und phänomenologischen Positionen bemüht ist29 – bringt diesen Umstand zum Ausdruck. Ein gutes Beispiel hierfür findet sich in der folgenden Passage, in welcher der Soziologe mit feinem Sinn für wahr27 Wobei die Prominenz dieses Beispiels nicht vergessen lassen sollte, dass Foucault unter ähnlichen Gesichtspunkten neben dem Gefängnis auch die räumlichen Situationen Schule, Manufaktur oder Hospital thematisiert. 28 Michel Foucault, Überwachen und Strafen; a.a.O., S.183. 29 Vgl. Pierre Bourdieu: „Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verwerflichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus“. Markus Schwingel erklärt Bourdieus idiosynkratisch gebrauchte Begrifflichkeiten des ,Subjektivismusʻ und ,Objektivismusʻ wie folgt: „[...] die abstrakte philosophische Opposition von Subjektivismus und Objektivismus [manifestiert sich für Bourdieu – Einfügung B.H.] in einer Reihe von begrifflichen, theoretischen und methodologischen Gegensätzen. Zu den bekanntesten Beispielen [...] die als Ausdruck dieser Spaltung angesehen werden können, gehören [...] die Gegensatzpaare: Individuum und Gesellschaft, Lebenswelt und System [...] Phänomenologie und Strukturalismus [...]. Bourdieus Haltung bezüglich dieser für ihn künstlichen und falschen Opposition besteht [...] darin, zwischen den beiden Extremen des Subjektivismus und des Objektivismus vermitteln und ihre relativen Wahrheiten systematisch zusammenführen zu wollen.“ Markus Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung (Hamburg: Julius, 1995). S.41f.; Zitat: Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn – Kritik der theoretischen Vernunft; a.a.O., S.49.

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nehmungsbezogene Unterschiede den Zusammenhang von sozialem Selbstverständnis (Klassenzugehörigkeit) und privaten Wohnungseinrichtungen schildert: Läßt sich der gesamte Lebensstil einer Klasse bereits aus deren Mobiliar [...] ablesen, dann nicht allein deshalb, weil [sich darin – Einfügung B.H.] die ihre Auswahl beherrschenden ökonomischen und kulturellen Zwänge objektivieren; vielmehr auch, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in diesen vertrauten Dingen gegenständliche Gestalt gewinnen – in deren Luxus wie Ärmlichkeit, deren ,Ausgesuchtheitʻ wie ,Gewöhnlichkeitʻ, ,Schönheitʻ wie ,Häßlichkeitʻ – sich vermittels zutiefst unbewußter körperlicher Empfindungen und Erfahrungen aufzwingen: dem beruhigenden und diskreten Gleiten über den beigefarbenen Teppichboden ebenso wie dem kalten, nüchternen Kontakt mit grellfarbenem Linoleum, dem durchdringenden, scharfbeißenden Geruch von Putzmittel wie dem unmerklichen Duft von Parfüm.30

Mögliche konzeptionelle Anschlussstellen Die Eigenheit (post)strukturalistischer Ansätze, nicht mit realen, physisch erfahrbaren (gebauten) menschlichen Umwelten umzugehen, sondern diese in einem abstrakten Sinn zu konzipieren, wobei konkrete Orte zu dimensionalen Räumen, materielle, physisch erfahrbare Bauwerke zu abstrakten Strukturierungsinstrumenten werden, findet eine Entsprechung auf Seiten der menschlichen Physis, und somit: im Begriff des ,Körpersʻ. Auch dieser wird auf entmaterialisierte bzw. entleiblichte Weise behandelt. Die Soziologin Ulle Jäger konstatiert in diesem Sinn angesichts eines Vergleichs einer phänomenologischen und einer poststrukturalistischen Sichtweise (konkret: anhand der Positionen Merleau-Pontys und Judith Butlers): Während Merleau-Ponty von einem konkreten Körper bzw. Leib ausgeht und dessen Verhältnis zu seiner Umwelt betrachtet, geht es bei Butler um [...] Materialität in einem abstrakten Sinne. Dabei findet der Leib keinen Platz [...].31

Diese Diagnose wiederholt sich angesichts von Michel Foucaults Position. Auch dieser nenne zwar, so Jäger, „als Aufgabe der Genealogie, auch die ,materiellenʻ Aspekte des Körpers zu untersuchen“. Letztlich komme es aber zu keiner Umsetzung dieses Vorhabens, denn „einer eingehenden Analyse dessen, was auf Ebene des Leibes geschieht, wendet er sich [...] nicht zu“. 32 Als problematisch muss diese ,Leibvergessenheitʻ des Poststrukturalismus nun in doppelter Hinsicht gesehen werden: Erstens, da all das, was von Seiten einer phänomenologisch basierten Theoriebildung her, mittels des Einnehmens einer Erste-Person-Perspektive untersucht werden kann, dieser unweigerlich verschlossen bleiben muss; zweitens, weil auch innerhalb poststrukturalistischer Ansätze selbst ungeklärte Leerstellen verbleiben. Zugespitzt formuliert besteht das Problem dabei nicht in einer mangelnden argumentativen Überzeugungskraft entsprechender Positionen, sondern gerade im Gegenteil: In der Durchschlagskraft, mit der eine leiblich verfasste Erfahrungsrealität, die an spezifische physiologische Gegebenheiten und Möglichkeiten gebunden ist, zu Gunsten eines gesellschaftlich hergestellten Körpers argumentativ beseitigt wird. Denn mit 30 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede; a.a.O., S.137. 31 Ulle Jäger, Der Körper, der Leib und die Soziologie; a.a.O., S.77. 32 Ulle Jäger, Der Körper, der Leib und die Soziologie; a.a.O., S.95.

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dem Auflösen der menschlichen Physis in einem bloßen Effekt des Diskurses verschwindet letztlich eben der Gegenstand der Diskussion, es verschwindet das, was die menschliche Physis von einem reinen Diskurseffekt unterscheidet, ebenso wie dasjenige, was sich potentiell gegen eine gesellschaftliche Formung wehren, was gegen diese aufbegehren könnte (vgl. Henri Lefebvre, Kapitel 10.5).33 Die größte ungeklärte Leerstelle einer poststrukturalistischen Sichtweise auf den Körper ist somit letztlich, wie man sagen könnte, der Körper selbst – oder wie der Soziologe Chris Schilling, bezugnehmend auf Foucault, treffend zusammenfasst: 33 Um ein konkretes, Ansatz-immanentes Beispiel zu geben: Mit Judith Butler kann erfolgreich die gesellschaftliche Gemachtheit von heute üblichen Körperkonventionen (binären Geschlechterrollen) erklärt werden. Auf den möglichen Einwand, warum sich Körperkonventionen, wenn sie doch prinzipiell kontingent sind und somit zur freien Disposition stehen müssten, dennoch als in einem hohen Maß wandlungsresistent erweisen, kann dabei, im Sinne Butlers, mit dem Verweis auf die nachhaltige Wirkmacht gesellschaftlicher Einschreibungen reagiert werden. (Oder am konkreten Punkt von Geschlechterrollen: Auf das Argument, dass das binäre Mann/Frau-Schema sich historisch weit zurückverfolgen lässt und bis zum heutigen Tag hin dominant erscheint, kann das Gegenargument angeführt werden, dass gesellschaftliche Geschlechterkonventionen sich in realen Körpern materialisieren, somit allgegenwärtig sind und permanent mittels performativer Akte reproduziert werden. Einen derartigen, sich selbst inaugurierenden Zirkel zu durchbrechen dürfte alles andere als leicht, die Allgegenwart binärer Geschlechterrollen somit weder verwunderlich noch ein Argument für deren physiologisch bedingte Determiniertheit sein.) Ein Ansatzimmanentes Problem ergibt sich in dieser Hinsicht also nicht etwa durch eine vermeintliche argumentative Inkonsistenz auf Seiten Butlers, aber es ergibt sich gerade im Gegenteil durch die Stringenz. Denn eine entschiedene (radikal konstruktivistische) Lesart, lässt die menschliche Physis als eine Art beliebig formbare Masse, einen Teig ohne jede Eigenlogik erscheinen, so dass theoretisch nicht allein Geschlechtlichkeit, sondern auch Aspekte der Leiblichkeit wie Nahrungsaufnahme, Schmerzempfinden, Sterblichkeit gesellschaftlich herauszubilden oder zurückzubilden sein müssten. Butler selbst geht in diesem Punkt nicht so weit. Vielmehr erkennt sie bestimmte menschliche Erfahrungen an, die nicht allein einem Diskurs über die menschliche Physis entstammen, Aspekte wie „leben, sterben, essen und schlafen, Schmerz empfinden und Freude verspüren, Krankheit und Gewalt“. Allerdings stellt sich in diesem Fall die Frage, wie derartige Aspekte von Butler erklärt, worauf sie zurückgeführt werden können, wenn auf die Ebene eines aktiv erfahrenden Leibes, der an bestimmte physiologische Bedingungen geknüpft ist, konzeptionell verzichtet wird. Zwar ist der Hinweis, den Butler in diesem Kontext gibt, dass stets nur eine konkrete Ausformung von Materialität erfahren werden könne und die genannten Erfahrungen somit nur im Lichte eines jeweilig vorherrschenden Diskurses gemacht werden könnten, folgerichtig und berechtigt. Andererseits erklärt dies umgekehrt nicht, inwiefern derartige Erfahrungen sich eines vollständigen diskursiven Zugriffs entziehen. Denn eine solche (komplette oder teilweise) Entzogenheit könnte letztlich ja nur erklärt werden, wenn die menschliche Physis zumindest eine irgendgeartete Art von Eigenlogik besitzen würde. (Wobei ,Eigenlogikʻ nicht mit ,natürlicher Gegebenheitʻ zu verwechseln ist; siehe Kap. 11.2 und 11.3.) Zu einer ähnlichen Schwierigkeit bei Michel Foucault siehe Fn. 17. Zitat: Judith Butler, Körper von Gewicht – Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995) S.15.

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Society is brought so far into the body that the body disappears […] It is present as an item of discussion, but absent as an object of analysis.34

Von Seiten einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sollte nun, wie eingangs erwähnt, allerdings weniger das Augenmerk auf die Probleme einer poststrukturalistischen oder soziologischen Sichtweise gerichtet werden, als vielmehr darauf, wie die durchaus interessanten Perspektiven auf Mensch und Umwelt, die Positionen wie die exemplarisch genannten mit ihrer Beachtung äußerer, gesellschaftlicher Wirkmechanismen einbringen, für eine Aisthetik aufgeschlossen werden können, wenn auch freilich, ohne dabei deren ent-sinnlichte und ent-sinnlichende, die wahrnehmungsbezogene Erfahrungsdimensionen von Physis und Umwelt vernachlässigende bis negierende Tendenz zu übernehmen. Hierzu erweist sich – da sich AutorInnen wie Michel Foucault und Judith Butler explizit von einer phänomenologischen Theoriebildung absetzten und Anschlussmöglichkeiten von dieser Seite her somit nur schwerlich zu gewinnen sein dürften35 – ein Blick in umgekehrter Richtung als sinnvoll. Ein Blick also, der nicht nach dem Aspekt des Leibes in einer körperorientierten, sondern nach jenem des Körpers in einer leibbezogenen Theoriebildung fragt. Der Körper in der phänomenologischen Tradition Anders als angesichts der oft in den Vordergrund gerückten Opposition von Poststrukturalismus und Phänomenologie zu vermuten wäre, spielt der Körper – nicht der Leib, der Körper – in der phänomenologischen Tradition durchaus eine Rolle – und dies gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen unter einem Gesichtspunkt, der als die ,doppelteʻ oder ,gedoppelteʻ Gegebenheit der menschlichen Physis bezeichnet werden könnte. Prägnant bringt diesen Gedanken Merleau-Ponty zum Ausdruck, wenn er im folgenden Zitat aus seiner Phänomenologie der Wahrnehmung das bekannte Beispiel der sich berührenden Hände gibt: […] when I touch my right hand with my left, my right hand, as an object, has the strange property of being able to feel too. [However – Einfügung B.H.] the right hand, as an object, is not the right hand as it touches: The first is a system of bones, muscles and flesh [..], the second [...] touches the world. [...] in passing from one role to the other, I can identify the hand touched as the same one which will in a moment be touching. In other words, in this bundle of bones and muscles which my right hand presents to my left, I can anticipate for an instance the [...] incarnation of that other right hand, alive and mobile, which I thrust towards things in order to explore them. The body catches itself from the outside [...].36

34 Chris Schilling, The Body and Social Theory (London: Sage, 1993) S.81. 35 Foucault und Butler vollziehen beide eine bewusste Abkehrbewegung, um nicht zu sagen, einen expliziten Bruch mit der phänomenologischen Tradition. Vgl. Judith Butler, Gender trouble – Feminism and the Subversion of Identity (New York: Routledge, 1990), und Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974). 36 Das Zitat wurde aus einer längeren Passagen zusammengeführt: Merleau-Ponty, Phenomenology of Perception (London: Routledge & Kegan Paul Edition, 1965) S.79f.

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Auch in der Phänomenologie ist also eine passive Sicht der Physis im Sinn eines Körpers bekannt. Allerdings, wie Merleau-Ponty es mit der Formulierung „the body catches itself from the outside“ treffend in eine Nussschale packt, wird die Physis hierbei nie allein von ihrer passiven Seite her gesehen. Vielmehr ist meine Physis einem permanenten Vexierspiel ausgeliefert, das sich potentiell jederzeit ereignen kann, so dass mein leibliches Spüren laufend in ein körperliches Gespürt-Werden durch mich selbst umkippen kann. Diese doppelte Gegebenheit der menschlichen Physis beschreibt auch Hermann Schmitz, wobei der von Merleau-Ponty geschilderte Sachverhalt bei Schmitz zu einem konzeptionellen Instrument zugespitzt wird. Denn für Schmitz definiert sich der Leib, im Gegensatz zum Körper, eben über all dasjenige, was ich nicht über meine eigene Physis mittels einer äußerlichen, (selbst-)verobjektivierenden Betrachtungsweise, etwa durch Abtasten oder Betrachten, erfahren kann. Schmitz hierzu: Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der [...] Sinne und des perzeptiven Körperschemas (d.h. des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsbildes vom eigenen Körper) zu stützen.37

So viel zur ersten Möglichkeit, wie der Körper in phänomenologischer Perspektive eine Rolle zu spielen vermag. Die zweite Möglichkeit findet sich in dieser kurzen Passage nun bereits angedeutet: Denn nicht nur in der Außenwahrnehmung erscheint mir meine eigene Physis als Körper. Auch hinsichtlich der ,inneren Perspektiveʻ eines physischen Erfahrens – oder korrekter: hinsichtlich einer Erste-PersonPerspektive sind Leib und physiologischer Körper zu differenzieren. Dieser Umstand ist es, auf den Hermann Schmitz Formulierung „was ich in der Gegend meines Körpers spüre“ hindeutet. Denn zwar zeigt sich der phänomenologische Leib durch die menschliche Physis, wie sie anatomisch-morphologisch beschrieben werden kann, mitbestimmt (etwa, indem er Raumrichtungen, bilaterale Symmetrieverhältnisse, Oppositionen wie vorn/ hinten, oben/unten, innen/außen kennt38). Andererseits sind beide, physiologisch-materieller Körper und gespürter Leib, nicht identisch miteinander. So kann ich bspw., wie Gernot Böhme mit einem von Descartes geborgten Beispiel verdeutlicht, mein eigenes Leibempfinden über meine physischen Körpergrenzen hinaus ausdehnen, indem ich mit einem Stock einen am Boden liegenden Stein betaste und den Stein dabei nicht etwa an meiner Hand spüre, sondern am Ende des Stocks, der zu einer Art verlängertem Tastorgan wird. Mein Leibempfinden kann sich aber auch von den äußeren Grenzen meines physiologischen Körpers zurückziehen. Hermann Schmitz verdeutlicht dies mit dem Moment des plötzlichen Erschreckens, in dem ich mich gleichsam in mich selbst zusammenziehe und meine Extremitäten dabei kaum mehr spüre (ich ,fahre in mich zusammenʻ, wie die Redewendung sagt). Ein anderes Beispiel findet sich mit Schmitz in Gestalt sogenannter ,Leibinselnʻ – lokal beschränkten Zonen des leiblichen Empfindens, die sich nur temporär ausbilden und mir erlauben, meinen Leib jeweils unterschiedlich und abweichend von der Totalität meines physiologischen Körpers zu erfahren. (So der Fall, 37 Ulle Jäger, Der Körper, der Leib und die Soziologie; a.a.O., S.56. 38 Vgl. Ausführungen zu Gernot Böhme in Kap. 3.4.

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wenn ich mich auf einen Stuhl setze und den Berührungspunkt von Oberschenkeln und Stuhlkante spüre. Diese Zone wird, für die Dauer meines Verweilens, als solche, als Leibinsel, wie Schmitz sie nennt, ausgeprägt, während sie nach dem Aufstehen schon bald wieder von der inneren Landkarte meines leiblichen Spürens verschwindet. Die Art, wo und wie ich meinen Leib zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Situation spüre, ist also keineswegs immer deckungsgleich mit meinem physiologischen Körper.) Nicht nur der Leib, auch der Körper spielt in der phänomenologischen Theoriebildung also eine Rolle – und dies in gleich zweierlei Hinsicht, wie zusammengefasst werden kann: Erstens als Objekt (indem ich mich selbst von außen als Körper erfahren kann; Beispiel: Abtasten) und zweitens als Wohnort meines leiblichen Wahrnehmens (das im physischen Körper verankert liegt, ohne mit diesem deckungsgleich oder identisch zu sein; Beispiel: Schreck). Inwiefern könnten diese beiden Aspekte nun potentielle Brückenschläge zu einer poststrukturalistischen bzw. soziologischen Theoriebildung – und somit zu vermeintlich äußeren, gesellschaftlichen Einflussfaktoren – erlauben? Leib und Körper als ,doppelte Gegebenheitʻ in der Erfahrung Im Folgenden sollen zwei potentielle Anschlussmöglichkeiten (wohlgemerkt nicht ausgearbeitete Lösungsansätze, aber Anschlussmöglichkeiten) skizziert werden. Eine erste Möglichkeit führt über den Punkt der doppelten oder gedoppelten Gegebenheit von Leib und Körper. In diesem Kontext schlägt Ulle Jäger eine konzeptionelle Koppelung, eine Verschränkung von Leib und Körper im Sinn eines ,körperlichen Leibesʻ vor. Der Weg, den sie hierzu, angeregt durch empirische Studien Lindemanns39, theoretisch vertiefend ausarbeitet, führt über eine Position, die jenseits des Poststrukturalismus, aber auch jenseits der Phänomenologie zu verorten ist: nämlich über den Ansatz des Husserlschülers und späteren Hauptvertreters einer philosophischen Anthropologie Helmuth Plessner. Interessant in Plessners Denken ist, wie Jäger herausarbeitet, bezüglich der gegebenen Fragestellung insbesondere der Begriff der ,Positionalitätʻ.40 Gemeint ist damit die Art und Weise, wie ein organisches Wesen, eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch, in seine jeweilige Umwelt ,hineingesetztʻ ist. So ist die Pflanze für Plessner unmittelbar in ihre Umwelt eingegliedert, sie verfüge über kein Zentrum, das sie zu ihrer eigenen Positionalität in ein Verhältnis rücke. Im Unterschied zur Pflanze verfügten höher entwickelte Tiere dagegen über die Fähigkeit, sich selbst als getrennt von einer umgebenden Umwelt zu erfahren: Diese wirke auf das Tier ein, ebenso wie das Tier sich in diese hinaus ausrichte. In diesem Sinn liege bei Tieren ein Zustand der ,zentrischen Positionalitätʻ vor, wie Plessner sagt, oder anders ausgedrückt: Das Tier 39 Gesa Lindemann, Das paradoxe Geschlecht – Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl (Frankfurt a.M.: Fischer, 1993). 40 Siehe: Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (Berlin: de Gruyter, 1975); Helmuth Plessner, Der Mensch als Lebewesen – Adolf Portmann zum 70. Geburtstag; in: ders., Gesammelte Schriften Band 8 (Framkfurt a.M.: Suhrkamp, 1983) S.314-327. Zu Plessner, siehe auch: Hans Redeker, Helmut Plessner – oder Die verkörperte Philosophie (Berlin: Duncker&Humbolt, 1993); zu Leben, Arbeiten, Rezeptionsgeschichte: Kersten Schüßler, Helmuth Plessner – Eine intellektuelle Biographie (Berlin: Philo, 2000).

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bildet den Mittelpunkt einer konzentrisch, rings um es herum angeordneten Umwelt. Diese Erfahrungswirklichkeit zeichnet für Plessner nun nicht allein das Tier, sondern ebenso den Menschen, als höher entwickeltes Lebewesen, aus. Allerdings komme bei diesem noch ein weiterer Umstand, eine weitere ,Stufeʻ, hinzu: Denn der Mensch gehe nicht einfach wie Pflanze oder Tier reflexionslos in einem Hier und Jetzt auf, sondern er erfahre sich immer zugleich als ein die Umwelt Erfahrender. Dieser Sachverhalt sei es, der den Menschen aus seiner zentrischen Verankerung in einer jeweiligen Umwelt, wie sie beim Tier vorliege, herausrücke und ihn in einen Zustand der ,exzentrischen Positionalitätʻ (lat. ,exʻ = ,ausʻ, ,herausʻ; ,centrumʻ = ,Mitteʻ) versetze. Jäger erklärt diesen Gedanken Plessners wie folgt: Die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Zentrums ist erst mit der exzentrischen Position gegeben, die charakteristisch für den Menschen ist. Durch […] die Möglichkeit der Reflexion auch seines eigenen (leiblichen) Standpunktes ist die […] Einheit zwischen Selbst und Umwelt, in der das Tier lebt, aufgebrochen und der Mensch exzentrisch aus dem unmittelbaren Umweltbezug des Tieres herausgesetzt. […] Doch auch auf Stufe der Exzentrizität bleibt die zentrische Position insofern erhalten, als dass der Mensch mit seinem Leib im Hier und Jetzt steht und aus seiner Mitte heraus und in seine Mitte hinein lebt. Der Mensch lebt in einem unaufhebbaren Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und als Leib.41

Inwiefern ein singulärer Ansatz, wie derjenige Helmut Plessners, welcher zudem seinerseits durchaus spezifischen Zeittendenzen verhaftet ist, dazu geeignet sein mag, eine Verbindung zwischen phänomenologischen und poststrukturalistischen Positionen im Allgemeinen herbeizuführen, mag diskutabel erscheinen. Einen wichtigen Ansatzpunkt identifizieren Jäger und Lindemann mit dem Verweis auf Plessners Gedanken der exzentrischen Positionalität jedoch mit Sicherheit (und dies auch jenseits einer konkreten Ansatz-immanenten Einbettung bei Plessner). Denn hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Körper weist der Begriff auf einen entscheidenden Sachverhalt hin. Dies wird offenkundig, wenn man die beiden Termini der ,zentrischenʻ und ,exzentrischen Positionalitätʻ analog zu den Begriffen ,Leibʻ und ,Körperʻ auffasst: Der Begriff des ,Leibesʻ kann dabei operativ mit jenem der ,zentrischen Positionalitätʻ, der des ,Körpersʻ mit dem der ,exzentrischen Positionalitätʻ gleichgesetzt werden – was zu folgendem Ergebnis führt: Einerseits erfahre ich mich, als Mensch, mittels meiner leiblich-perzeptiven Physis ins Zentrum meiner Umwelt hineingesetzt, andererseits nehme ich mich zugleich als Körper in diese hineingesetzt wahr. Oder, anders ausgedrückt: Worauf Plessner mit seinem Begriff der ,exzentrischen Positionalitätʻ hinweist, ist ein Sachverhalt, der letztlich ebenso kulturanthropologisch, entwicklungsbiologisch, psychologisch oder philosophisch 42 substantiiert werden könnte, der aber auf alle Fälle, gleich welchen Weg der theoretischen Begründung man wählt, einen wichtigen Aspekt der menschlichen Erfahrungsrealität offenlegt: Und zwar die Tatsache, dass es dem Menschen in sehr vielen Situationen schlichtweg nicht möglich scheint, im Wahrnehmen auf einen gleichzeitigen 41 Ulle Jäger, Der Körper, der Leib und die Soziologie; a.a.O., S.123. 42 Man denke an Hegels Reflexionen über die Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins in der Phänomenologie des Geistes oder an Jean-Paul Sartres ,Blick des Anderenʻ in Das Sein und das Nichts.

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selbstreflexiven Blick zu verzichten. Diesen Umstand kann man sich anschaulich anhand der Wahrnehmung von Kleinkindern verdeutlichen, bei denen, in den Worten Plessners, die ,Stufeʻ einer ,exzentrischen Positionierungʻ noch nicht ausgeprägt ist: Ein Kleinkind blickt in die Welt hinaus, etwa in das Gesicht eines anderen Menschen, ohne ein Bewusstsein darüber, dass es im Blicken selbst als Blickendes gesehen wird. Anders verhält es sich bei erwachsenen Menschen, die beim Blick in die Augen des anderen immer beides zugleich erfahren: Sehen und Angesehen-Werden. In den Blick des Erwachsenen ist in diesem Sinn, im Gegensatz zum Blick des Kindes, ein reflexives Moment, eine ,doppelte Ebeneʻ des Wahrnehmens, eine zentrisch und exzentrisch positionierte Sichtweise, konstitutiv eingebettet, wodurch sich auch die Wahrnehmungserfahrung selbst ändert: Während das Kind Augen sieht, sieht der Erwachsene einen Blick, der auf ihn selbst gerichtet ist. Während das Kind ein hohes Haus mit Fenstern sieht, sieht der Erwachsene einen Wachturm, von dem herab er beobachtet werden kann. Vom Standpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, die ihren Ausgang in einer Erste-Person-Perspektive des Wahrnehmens nimmt, liegt hierin ein erster möglicher Ansatzpunkt. Denn bedenkt man, dass eine Dritte-PersonPerspektive des Wahrnehmens nicht allein eine perspektivische Sichtweise ist, die spezifische andere theoretische Strömungen oder Disziplinen zum Einsatz bringen, sondern dass diese eine Komponente der menschlichen Erfahrungsrealität selbst darstellt, so wird aus dem vermeintlichen Übertritt in fremde Gefilde vielmehr ein Erkundungsgang in eine spezifische Region des eigenen Untersuchungsfeldes (auch wenn diese Region entlegener als andere Regionen und in einer fließenden, einer geteilten Übergangszone zu den Refugien anderer Strömungen und Disziplinen zu verorten ist). Die große und eigentliche Frage, die eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nachhaltig beschäftigen dürfte, nämlich: wie genau ein Einwirken mittels einer (eigenen) Dritte-Person-Perspektive auf die menschliche Erfahrungswirklichkeit und somit auf eine Erste-Person-Perspektive vonstattengeht, ist damit freilich noch nicht beantwortet. Was sich diesbezüglich findet, sind allenfalls Hinweise. Mit Michel Foucault oder Judith Butler könnte bspw. von einer ,kognitiven Verinnerlichungʻ ausgegangen werden, dergestalt, dass gesellschaftliche Körperkonventionen, wie sie auch und nicht zuletzt in der Alltagssprache eingelagert sind, das Denken über meine eigene Physis so weitgehend prägen, dass dies Auswirkungen auf mein leibliches (Selbst-)Wahrnehmen zeitigt. (Einer der ersten Vertreter einer derartigen mentalen Introjektionsthese findet sich, lange vor Butler und Foucault, in der Bibel, denn, wie die Genesis berichtet, erst als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, als sie somit Wissen über ihren Körper erlangt hatten, erkannten sie, dass sie nackt waren.) Ein anderer Weg könnte über die Physis selbst führen: Mit Pierre Bourdieu, ebenso wie mit Hermann Schmitz, könnte man in diesem Sinn von einer ,physischen Introjektionʻ oder richtiger: einer ,physischen Induktionʻ ausgehen, dergestalt, dass ich bestimmte Haltungs- und Bewegungsnormen an den Körpern anderer beobachte, sie (repetitiv) nachahme, mit der Zeit übernehme und so letztlich meinen eigenen leiblichen Wahrnehmungshorizont, ja: die Qualität meiner Wahrnehmungserfahrungen selbst modifiziere. (Denn in Schmitz’ leiblichem Alphabet, wie in Bour-dieus Habitus-Hexis-Doppelbegriff, werden Empfindungen und Erfahrungen ja nicht etwa auf innere Zustände zurückgeführt, sondern mit einem

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jeweiligen physischen Zustand, einer Haltung, gleichgesetzt. Dies betrifft Denk- und Handlungsschemata ebenso wie Wahrnehmungsmuster.43) Dies wären erste mögliche Wegrichtungen, die es nicht nur theoretisch weiterzugehen und solide auszuarbeiten, sondern auch empirisch fundiert zu überprüfen gelten würde. Entscheidend an dieser Stelle ist aber, um es noch einmal zu sagen, nicht, welche oder wie viele Möglichkeiten für konzeptionelle Binnenkonstruktionen es im Detail geben mag, sondern allein, dass es Möglichkeiten für konzeptionelle Binnenkonstruktionen gibt – und: dass mit der doppelten Gegebenheit von Leib und Körper als Erfahrungsrealität eine erste konzeptionelle Anschlussstelle für diese Möglichkeiten vorliegt. Die (gebaute) menschliche Umwelt als andere Seite des Leibes Einen zweiten konzeptionellen Ansatzpunkt liefert der phänomenologische Gedanke des Körpers als Wohnort des Leibes; oder genauer gesagt: Ein Ansatzpunkt könnte ausgehend von dem Gedanken entwickelt werden, dass Leibempfinden und physische Körpergrenzen nicht kongruent sein müssen. Diese Beobachtung ist insbesondere insofern theoretisch vielversprechend, als damit einhergeht, dass das leibliche Wahrnehmen, punktuell oder als Ganzes, auch über die physiologisch bestimmbaren Grenzen des Körpers hinauszugehen vermag. Nicht allein Fremdkörper, die in meinen Körper eingebracht werden (Organspenden, Hüftgelenkprothesen, Zahnfüllungen) können in diesem Sinn in die innere Landkarte meines Leibschemas integriert werden, sondern auch Objekte, die meiner Physis angegliedert sind oder die diese umgeben (wie Descartesʻ Beispiel des Tastens mit einem Stock verdeutlicht). Organische Physis und Fremdkörper/angegliederter Gegenstand werden dabei im Wahrnehmungsakt verbunden, sie werden temporär befristet synthetisiert oder gar dauerhaft amalgamiert. Bei diesem Sachverhalt handelt es sich um kein logisches Argument, sondern um eine schlichte empirische Tatsache, wie ein einfacher Selbstversuch verdeutlicht: Nehme ich etwa Descartesʻ Stock zur Hand und taste damit meine Umgebung ab, so kann ich nicht nur Objekte, die am Boden liegen, wie einen Stein, ertasten, sondern auch unterschiedliche Oberflächen perzipieren, kann glatt oder rau, hart oder weich voneinander unterscheiden. Diese Wahrnehmung vermeine ich an 43 Vgl. Bourdieu: „In allen Gesellschaften zeigen die Kinder für die Gesten und Posituren, die in ihren Augen den richtigen Erwachsenen ausmachen, außerordentliche Aufmerksamkeit: also für ein bestimmtes Gehen, eine spezifische Kopfhaltung, ein Verziehen des Gesichts, für die jeweiligen Arten, sich zu setzen, mit Instrumenten umzugehen.“ Diese Gesten und Posituren sind für Bourdieu unmittelbar verbunden mit einem „spezifischen Bewusstseinsinhalt“, wie Gerhard Fröhlich in diesem Kontext erklärt: „Bourdieus Schlüsselkonzept der Inkorporierung bzw. Einverleibung [...] wird in der Literatur oft merkwürdig körperlos (miss-)verstanden. Bourdieu hingegen fasst die Verinnerlichungsprozesse konsequent als Einbau kollektiver Schemata und Dispositionen in die Menschenkörper, als ,eingefleischteʻ kreative Gewohnheiten. Bei der Nachahmung der Handlungen – das heißt: der Hexis – anderer (mimesis) wird die Motorik unmittelbar angesprochen; ,ohne im Bewusstsein thematisiert oder erklärt werden zu müssenʻ […], werden Schemata über praktische Handlungen übernommen [...].“ Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis; Zitiert nach: Gerhard Fröhlich, Habitus und Hexis – Die Einverleibung der Praxisstrukturen bei Pierre Bourdieu; in: Hermann Schwengel/Britta Höpken (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft?, Band 2/2; a.a.O., S.100.

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der Spitze des Stabes zu machen, während die Wahrnehmungserfahrung, die zu erwarten wäre, so mein Leibempfinden an meine physischen Außengrenzen gebunden wäre, allein die des immer gleichen Stockes in meiner immer gleichen Hand zu sein hätte. Eine auf solche Weise verbundene, synthetisierte oder amalgamierte, Einheit aus Physis und Gegenstand dürfte sich nun, wie weiter zu vermuten (und empirisch leicht zu überprüfen) wäre, jeweils anders gestalten, je nachdem ob ich einen Stock oder einen Laserpointer, einen Bleistift oder eine Computertastatur, ein Pferd oder ein Auto mit meinem Leib verbinde. Einer historisch-kritischen Untersuchung nicht allein des Körpers, sondern des Leibempfindens, ist also auch von dieser Seite her – nämlich von Seiten der einem historischen Wandel unterworfenen Objekte, mit denen sich ein leibliches Empfinden im Wahrnehmungsakt verbinden mag – eine Tür geöffnet. (Bspw. könnte spekuliert werden, ob ein Leib, der sich zunehmend mit elektronisch gesteuerten Geräten verbindet, die über Kunststofftasten und Displays bedient werden, mit der Zeit hinsichtlich des Aspekts eines multisensorischen Wahrnehmens verarmt, während selektive Aspekte – allen voran visuelle Fähigkeiten – einseitig bestärkt werden. Kritisch zu betrachten wäre ein derartiger Prozess etwa mit Henri Lefebvre, im Sinn eines fortschreitenden Verlusts des widerständigen, an eine multisensorische Physis gebundenen Potentials, „die kapitalistische Logik der Visualisierung und Homogenisierung zu durchbrechen“; ebenso wie in freiem Anschluss an Michel Foucault die gerätegesteuerte sensorische Selbstdisziplinierung des Leibes im Sinn einer verfeinerten Ausbreitung der Mikrophysik der Macht mit philosophischem Misstrauen zu versehen wäre.) Nun muss das Moment eines ,verlängerten leiblichen Wahrnehmensʻ nicht auf einzelne Objekte beschränkt bleiben. Letztlich können auch ganze (gebaute) menschliche Umwelten derart aufgefasst werden, dass sie sich, wenn auch in Zeitdauer und Grad divergierend, mit einer Person zu verbinden vermögen. (Gut deutlich macht dies das Beispiel des Autos: Selten sprechen AutofahrerInnen davon, dass der Wagen nicht in die Parklücke passt. Wesentlich öfter sagen sie: ,Ich passe nicht hineinʻ – was zumindest als Indiz dafür genommen werden kann, wie die umgebende Kapsel des Autos im Augenblick des Einparkens erfahren wird.) Bedenkenswert erscheint dabei vor allen Dingen die Möglichkeit einer langfristigen und nachhaltigen Verbindung mit einem jeweiligen Umraum. Denn in aisthetischer Sicht bildet sich auch zwischen mir und dem Café, an dessen Tresen ich stehe, um einen Espresso zu trinken, ein wahrnehmungsgebundenes Mensch-Umwelt-Verhältnis aus. Allerdings ist dieses zeitlich stark limitiert. Von einer nachhaltigen Amalgamierung meines Leibempfindens ist kaum auszugehen. Dagegen gehört es durchaus zur Lebenspraxis vieler Menschen, sich gewissen Umwelten, insbesondere Wohn- und Arbeitsräumen, über Jahre oder Jahrzehnte hinweg alltäglich und oft für den größten Teil des Tages auszusetzen. (Dies betrifft die Angestellte, die eine Tageshälfte im Büro, die andere Tageshälfte in ihrer Wohnung verbringt, ebenso wie die Pilotin, die nomadisch durch die Welt reist, sich dabei aber in den immer gleichen räumlichen Situationen von Cockpit, Flughafen, Hotelzimmer bewegt.) Auch hier, nämlich von Seiten der spezifischen Verfasstheit einer (gebauten) menschlichen Umwelt in ihrer potentiellen (nachhaltigen) Verbindung mit einem Leibempfinden sind Verbindungslinien zu einer kritischen Perspektive, die historische und gesellschaftliche Einflussmodi auf die menschliche Physis untersucht, zu ziehen. Denkt man in diesem Zusammenhang etwa an das oben wiedergegebene Zitat Pierre Bourdieus zurück, so dürfte es hin-

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sichtlich meiner leiblichen (und nicht allein körperlichen) Sozialisation durchaus einen Unterschied machen, ob ich mein multisensorisches Wahrnehmungspotential im Kontext einer großbürgerlich eingerichteten Villa im Grünen oder einer einfachen Sozialbauwohnung entwickle; ob mein leibliches Wahrnehmen durch das „beruhigende[...] und diskrete[...] Gleiten über den beigefarbenen Teppichboden“ und den „unmerklichen Duft von Parfüm“ geschult wird oder durch den „kalten, nüchternen Kontakt mit grellfarbenem Linoleum“ sowie den „durchdringenden, scharfbeißenden Geruch von Putzmitteln“. Nicht allein klassen- und milieuspezifische Umgebunden, auch ethnisch segregierte Gebiete oder geschlechtsspezifisch gestaltete Umwelten könnten in diesem Sinn kritisch hinsichtlich ihres nachhaltigen Einflusses im Sinn eines aisthetischen Prägungsdispositivs untersucht werden.44 44 Ein verwandtes, nicht minder untersuchenswertes Phänomen stellt die ,Verlängerung des Leibempfindensʻ in die Physis anderer Menschen hinein dar. Merleau-Ponty beschreibt dieses Phänomen in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung in einer Variation des oben wiedergegebenen Beispiels der sich betastenden Hände. So kann Merleau-Pontys Beobachtung zufolge der folgende Effekt: „I can identify the hand touched as the same one which will in a moment be touching. [...] I can anticipate for an instance the [...] incarnation of that other [...] hand, alive and mobile” nicht nur auftreten, wenn ich mit meiner eigenen linken Hand meine eigene rechte Hand berühre, sondern auch bei der Berührung der Hand eines Fremden. Mein leibliches Spüren kann also nicht nur in einen unbelebten Stock, sondern auch in die belebte Materie eines anderen Menschen hinein verlängert werden, um sich mit dieser kurzzuschließen. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei diesem Sachverhalt weder um eine gedankliche Projektion (also einen bewussten, kognitiven Akt, in dem ich überlege, was meine Hand potentiell wahrnehmen würde, wenn sie an der Stelle der Hand des anderen wäre) noch um einen empathischen Akt im Sinn der Theorie der Einfühlung (denn ebenso wenig muss ich mich gezielt in die Hand des anderen einfühlen, was ja nur möglich ist, so-lange eine Trennung zwischen mir und dem (organischen) Objekt, in das ich mich einfühle, aufrechterhalten wird. Dies ist angesichts des gegebenen Sachverhalts aber nicht der Fall). Was Merleau-Ponty beschreibt, ist dagegen die ganz konkrete und unmittelbare Erfahrung, dass mein eigenes leibliches Spüren mit der Physis anderer überblendet werden bzw. mit dieser verschwimmen kann. Neben Merleau-Pontys Exempel der Hände könnte man in diesem Kontext an unterschiedlichste alltägliche Beispiele denken, in denen zwei oder mehrere Menschen gemeinsam physisch agieren: Denn, gleich ob ich mich in der Sexualität synchron mit einer anderen Person, im Sport im Verbund mit einem Team oder in der Fußgängerzone im Strom der Menschen bewege, die Grenzen zwischen meiner individuellen und einer trans-individuellen leiblichen Erfahrung beginnen hier zu verschwimmen. Ähnlich verhält es sich mit anderen Aktivitäten, die in Gruppen praktiziert werden – bspw. dem Wahrnehmen eines ,kollektiven Rhythmusʻ, wie er sich zwischen mehreren Akteuren beim Musizieren, Rudern, Jonglieren, Tanzen einstellt. An diesem Punkt tut sich also noch eine dritte Möglichkeit für einen konzeptionellen Brückenschlag auf – und dies von einer durchaus überraschenden Seite her: So wurde in der obigen Diskussion gefragt, inwiefern die Erste-Person-Perspektive eines multisensorisch perzipierenden Leibes gewissen ,äußerenʻ, gesellschaftlichen Wirkmechanismen unterworfen – und hierdurch an zeit- und gruppenspezifische Einflussfaktoren gebunden – sein mag. An dieser Stelle deutet sich nun die zusätzliche konzeptionelle Möglichkeit an, gewisse physischleibliche Wahrnehmungen – mittels der Einbeziehung dessen, was erfahren wird, der Um-

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Phänomenologische Positionen, die die menschliche Physis von einer aktiven ErstePerson-Perspektive aus betrachten und poststrukturalistische bzw. soziologische Ansätze, die diese unter einer passiven Dritte-Person-Perspektive untersuchen, müssen, wie im Zuge der Diskussion von 11.1 deutlich wurde, keineswegs als einander wechselseitig ausschließend erachtet werden. Beide skizzierten Anknüpfungspunkte für einen konzeptionellen Brückenschlag bieten, jede auf eigene Weise, Möglichkeiten für eine intra- bzw. transdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der thematischen Grenzregion eines ,sozialisierten Leibesʻ – respektive, wie ebenfalls gesagt werden könnte, eines ,perzeptiven Körpersʻ.45 Bedenkt man die erste Möglichkeit für einen Brückenschlag, also die doppelte Gegebenheit von Erster-Person-Perspektive und Dritter-Person-Perspektive als Konstituens einer menschlichen Erfahrungsrealität selbst, so öffnet dies die Tür für all jene theoretischen Strömungen und disziplinären Forschungsbereiche, die gesellschaftliche, kulturelle, zeitbedingte Varianzen hinsichtlich eines Körperwissens zu erfassen und zu vergleichen in der Lage sind (also neben poststrukturalistischen und körpersoziologischen, etwa auch wissenssoziologische, kultur- und sozialanthropologische oder geschichtswissenschaftliche Ansätze46). Eine Aisthetik, als Erforschung sensorisch-kognitiver Wahrnehmungsprozesse, erstreckt sich ihrerseits bis hinein in diese Grenzregion insofern, als Leiberfahrungen, die durch ein Körperwissen beeinflusst werden und entsprechend divergieren mögen, bevor sie analysiert, verglichen, kontextualisiert werden können, zunächst einmal überhaupt als solche gemacht und beschrieben werden müssen. Die zweite Möglichkeit eines konzeptionellen Brückenschlags – also die einer Untersuchung der Art und welt, des Kontextes, der durchgeführten Aktion – von vornherein nicht als einen Akt zu interpretieren, der an eine einzige, zentrale, in sich verschlossene Wahrnehmungsinstanz gebunden ist. (Dieser Punkt schließt nicht zuletzt an die Frage trans-individueller Aspekte in aisthesischen Prozessen selbst an, wie sie Kap. 4 und 5 thematisiert wurde.) Zitat: Siehe Fn. 36. 45 Beide Begriffe können prinzipiell synonym verwendet werden, wobei jener des ,perzeptiven Körpersʻ eine leichtere Anschlussfähigkeit an die Alltagssprache gewährt. Zudem deutet er spezifische theoretisch-wissenschaftliche Implikationen eher unterschwellig an, während der Ausdruck ,sozialisierter Leibʻ stärker theoriegefärbt wirkt. 46 Arnold Berleant weist in diesem Kontext auf die Bedeutung einer Wissenssoziologie hin, die im Anschluss an Peter L. Berger und Thomas Luckmann nicht allein philosophisches oder wissenschaftliches Wissen, sondern Alltagswissen zu ihrem Forschungsgegenstand macht (vgl. Kap. 4.3). Analog sind es weniger eine traditionelle Ethnologie, die das Augenmerk auf die Erforschung fremder Kulturen richtet, und eine traditionelle Geschichtsforschung, die historische Prozesse im Sinn einer Herrschergeschichte und anhand einschneidender historischer Ereignisse untersucht, als eine zeitgenössische Kultur- und Sozialanthropologie, die, statt jenem des Euro- bzw. Amero-Zentrismus, dem Gedanken der Interkulturalität folgt, sowie eine Mikrogeschichtsschreibung und Mentalitätshistoriografie, die den Betrachtungsschwerpunkt auf gewöhnliche Menschen legen, die in obigem Kontext relevante Perspektiven beizusteuern versprechen. Zu Berger und Luckmann siehe: Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit – Eine Theorie der Wissenssoziologie (Frankfurt a.M.: Fischer, 1969).

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Weise, wie Umwelten, mit denen ich mich auf das engste, bis hin zu einer Verlängerung meines eigenleiblichen Spürens in diese Umwelten hinein, verbunden fühle, nachhaltig mein perzeptives Potential prägen mögen – ist ihrerseits in besonderem Maß auf eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt angewiesen. Schließlich geht diese, im Unterschied zu poststrukturalistischen Ansätzen, nicht nur von einer im Wahrnehmen begründet liegenden Verbindung zwischen Mensch und Umwelt aus (während poststrukturalistische Ansätze, man denke an Foucault, abstrakte Körper einem abstrakten Raum zuteilen, wobei beide letztlich in einem Zustand der wechselseitigen Beziehungslosigkeit einander gegenüber verharren), auch betont sie die gleichwertige und gleich zu wertende Rolle von perzeptiver Physis und (gebauter) menschlicher Umwelt, statt (wie wiederum in einer bestimmten phänomenologischen Traditionslinie üblich) dem Leib allein Aufmerksamkeit im Sinn einer apriorischen Bedingung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen Aufmerksamkeit zu schenken. Der Leib, der Körper und der Körper Von der Fragestellung nach ,natürlichem Leibʻ und ,sozialisiertem Körperʻ, nun zum zweiten Themenkomplex, der an dieser Stelle exemplarisch herausgegriffen und – nicht ansatzweise abschließend, sondern abschließend ansatzweise – diskutiert werden soll: Und zwar der Frage nach dem Verhältnis, oder genauer gesagt: der Art des Verhältnisses sensorischer und kognitiver Anteile von aisthesis. Wurde hinsichtlich des vorausgehenden Punktes zwischen Leib und Körper unterschieden, so gilt es an dieser Stelle, weiter zu differenzieren und zwischen Körper und Körper zu unterscheiden; oder in anderen Worten: zwischen unterschiedlichen Körper-Begriffen. Eine Auffassung der menschlichen Physis, wie sie im Kontext eines mikrophysiologischen Forschens Verwendung findet, teilt mit beiden der zuvor genannten Verständnisweisen gewisse Aspekte: So haben mikro-physiologische und – jedenfalls bestimmte, tradierte – phänomenologische Sichtweisen gemein, dass sie die menschliche Physis als natürlich gegeben auffassen. Mit poststrukturalistischen bzw. soziologischen Positionen liegt hingegen eine Gemeinsamkeit hinsichtlich eines perspektivischen Blicks auf die Physis, im Sinn eines von außen betrachteten Körpers und somit im Einnehmen einer Dritte-Person-Perspektive vor. Was eine mikrophysiologische Perspektive jedoch signifikant von beiden zuvor thematisierten Sichtweisen unterscheidet, ist, dass es ihr weder um das Erfassen einer Leibgebundenen Erfahrungsdimension noch um eine Perspektive auf den historischgesellschaftlich geformten diskursiven Körper geht. Worum es ihr stattdessen geht, ist das Verständnis der menschlichen Physis als einem materiellen Funktionszusammenhang, der sich aus interagierenden Einzelbestandteilen zusammensetzt; und dies von einer morphologisch-anatomischen Makroebene bis hinab zu einer subzellulären Mikroebene.47

47 Für den Begriff ,funktionalʻ gilt an dieser Stelle, was bereits im vorausgehenden Kapitel zu diesem gesagt wurde. Nämlich, dass er in einem weiteren Sinn gebraucht wird, der ein spezi-fisches disziplinäres Verständnis übersteigt. Denn nicht nur in der Architektur, auch im Rahmen der philosophy of mind verbindet sich mit dem Ausdruck ,Funktionalismusʻ eine spezifische Strömung.

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Die grundsätzliche Möglichkeit und Berechtigung einer derartigen Sichtweise, wie sie in unterschiedlichsten ,naturwissenschaftlichʻ orientierten Fächern zum Einsatz gebracht wird, bzw. umgekehrt: wie sie eine ,naturwissenschaftlicheʻ Sicht auf die menschliche Physis überhaupt erst ermöglicht, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung. (Phänomenologen und Poststrukturalisten mögen ein medizinisch-,naturwissenschaftlichesʻ Körperverständnis gerne als naiv abtun, nach erhitzter Debatte über das Thema greifen sie beide gleichermaßen zur Kopfschmerztablette.) Allerdings birgt diese Betrachtungsperspektive, so sie nicht als ebensolche, nämlich als eine perspektivische Sichtweise aufgefasst, sondern einseitig verabsolutiert wird, nicht nur spezifische Qualitäten, sondern auch spezifische Probleme in sich. Ebenso wie eine einseitig verabsolutierte poststrukturalistische Sicht Gefahr läuft, die menschliche Physis zu ent-sinnlichen, so laufen mikro-physiologische Perspektiven Gefahr, die menschliche Physis zu ent-menschlichen. Denn der Schritt von einer Betrachtungsperspektive, die materiell-funktionale Gegebenheiten untersucht, hin zu einer Sichtweise, die den Menschen als Ganzes auf diesen Aspekt reduziert, ihn als eine Art Körpermaschine – und als nichts anderes als eine Körpermaschine – auffasst, ist nicht weit. In diesem Sinn wird eine ,naturwissenschaftlichʻ orientierte Betrachtung mikro-physiologischer Gegebenheiten in erkenntnistheoretischer Hinsicht nicht selten in die Nähe eines (reduktionistischen) Materialismus gerückt – und dies nicht allein durch PhilosophInnen, sondern durch ForscherInnen aus entsprechenden Gebieten selbst. Dabei kommt es zu einer merkwürdigen Verwindung von eigener Prämisse und zu ziehender Schlussfolgerung. (Frei nach dem Motto: Zwar haben wir die menschliche Physis nur auf materiell-funktionale Zusammenhänge hin untersucht, aber auch keinen ,Geistʻ, keine ,Vernunftʻ, kein ,Ichʻ gefunden, also kann es jenseits dessen, woraufhin wir unser Untersuchungsobjekt befragt haben, auch nichts geben.48) Vom Standpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt als einem immanent grenzüberschreitenden Projekt aus betrachtet, sollte nun, ähnlich wie angesichts poststrukturalistischer oder soziologischer Ansätze der Fall, jedoch nicht allein danach gefragt werden, inwiefern eine mikro-physiologische Betrachtungsperspektive zuweilen einseitig verabsolutiert wird und dabei zu erkenntnistheoretisch unbefriedigenden Kurzschlüssen führt. Vielmehr sollte gefragt werden, welche primären Erkenntnisse ein mikro-physiologisches Forschen zu Tage zu fördern und in eine multiperspektivische Betrachtung des physisch verfassten Menschen im Sinn einer komplementären, also prinzipiell ergänzungsbedürftigen Sichtweise einzubringen vermag. 48 Diese Darstellung mag übertrieben erscheinen. In der Tat wird eine solche Lesart aber diskutiert und – im deutschsprachigen Raum vertreten durch Hirnforscher wie Gerhard Roth oder Wolf Singer – in der Öffentlichkeit populär gemacht. Buchtitel wie der Geist im Gehirn entsteht oder Wie das Hirn die Seele macht erklären die im Titel genannten Entitäten zu Illusionen, die ein materiell aufgefasstes Hirn produziere. Sicher ist generalisierenden und essentialisierenden Begriffen wie ,Ichʻ, ,Seeleʻ, ,Geistʻ auch aus philosophischer Sicht mit Misstrauen zu begegnen. Allerdings gilt desgleichen nicht minder für die hypothetische Setzung eines ,Hirnsʻ, das zunächst aus dem Gesamtzusammenhang MenschUmwelt herausgelöst wird, um sodann wiederum zum Erzeuger eben dieses Menschen, seines Ichs, seiner Seele, seines Geistes, seines Umweltwahrnehmens erklärt zu werden (siehe auch Kap. 5.2).

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Historische und aktuelle Verbindungslinien Versuche, die menschliche Wahrnehmung im Sinn von aisthesis – im Sinn einer ,sinnlichen Erkenntnisʻ oder ,sinnlichen Kognitionʻ – nicht nur von einer künstlerischen oder philosophischen Seite her, sondern auch im Dialog mit empirisch,naturwissenschaftlichʻ orientierten Bereichen zu erforschen, finden sich bislang eher vereinzelt, doch sie finden sich: 1993 erschien der durch Wolfgang Welsch, als einem der zentralen Protagonisten der aisthesis-Debatte (vgl. Kapitel 1), herausgegebene, eine gleichnamige Tagung begleitende Band Die Aktualität des Ästhetischen49, der unter den Schlagwörtern ,Politikʻ, ,Medienʻ, ,Designʻ, ,Kunstʻ, ,philosophische Ästhetikʻ, ,Wissenschaftʻ unterschiedlichste Perspektiven, die sich mit dem Thema des menschlichen Wahrnehmens befassen, zusammenbringt. Der in den USA lehrende Germanist Hans Adler veröffentlichte 2002 eine interdisziplinäre Aufsatzsammlung mit dem Titel Aesthetics and Aisthesis – New Perspectives and (Re)Discoveries.50 Auch hier finden sich neben ,geisteswissenschaftlichenʻ Beiträgen solche aus dem Bereich eines neurobiologischen und psycho-physiologischen Forschens. Dabei ist die Suche nach der Möglichkeit einer Verbindung zwischen philosophischer Ästhetik – respektive Aisthetik – und einem ,naturwissenschaftlichenʻ Forschen im Geist einer grenzüberschreitenden Wahrnehmungsforschung an sich nur naheliegend. Denn, wie etwa Hans Adler anmerkt, bereits bei ihrer Begründung durch Alexander Baumgarten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde ,Ästhetikʻ in einem erweiterten, über die engen Grenzen von Schönheit, Geschmack und Kunst hinausgehenden Sinn verstanden. Ja, mehr noch: Aesthetics was for him [Baumgarten – Anmerkung B.H.] a part of what was then called „empirical psychology“ and within that field, aesthetics assumed the role of the logic of sensate cognition.51

Eine strikte Trennung zwischen empirischer Forschung und philosophischer Reflexion findet sich bei Baumgarten also nicht; im Gegenteil: Mit seiner Inkorporierung des sinnlichen Wahrnehmens als Teil einer „empirical psychology“ in den Bereich der Erkenntnistheorie wandte sich dieser sogar ausdrücklich gegen eine zeittypische Aufspaltung in Empirismus und Rationalismus, wobei Baumgarten selbst vom Standpunkt des Zweitgenannten einen Brückenschlag hin zu Erstgenanntem unternahm. Auch die Psychologische Ästhetik, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte, stellte einen Versuch dar, den Ästhetiken der großen philosophischen Systementwürfe eines Kant oder Hegel, als „Riesen mit tönernen Füßen“, wie Gustav Theodor Fechner formuliert, eine empiriebasierte „Ästhetik von Unten“ zur Seite zu stellen.52 Selbst in den Reihen der Phänomenologie und somit im 49 Wolfgang Welsch (Hrsg.), Die Aktualität des Ästhetischen (München: Wilhelm Fink Verlag, 1993). 50 Hans Adler, Aesthetics and Aisthesis – New Perspectives and (Re)Discoveries (Oxford: Peter Lang, 2002). 51 Hans Adler, Aesthetics and Aisthesis – New Perspectives and (Re)Discoveries; a.a.O., S.12. 52 Gustav Theodor Fechner, der als Begründer einer empirisch-experimentellen Ästhetik gilt, schreibt 1876 (mit deutlicher Skepsis gegenüber einer ,rein philosophischen Ästhetikʻ und unter impliziter Bezugnahme auf die Ästhetiken eines Kant oder Hegel, die er als ,Ästhetik von obenʻ bezeichnet): „Die doppelte Weise, wie sich die menschliche Erkenntnis zu be-

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20. Jahrhundert finden sich – der allgemeinen Wissenschaftsskepsis, die Edmund Husserl ihr mit auf den Weg gab, ungeachtet53 – entsprechende Entgrenzungs- bzw. Grenzüberschreitungsversuche: So allen voran bei Maurice Merleau-Ponty, der in seine philosophischen Reflexionen immer wieder Experimente und Forschungsergebnisse der Psychologie und empirischen Wahrnehmungsforschung einbezieht. Der Gedanke einer Verbindungs-suche ist also keineswegs neuartig. Worin genau könnte nun aber das Interesse von Seiten einer zeitgenössischen Aisthetik an einem Forschen im Bereich Mikro-Physiologie liegen? Zur Klärung dieser Frage wird im Weiteren exemplarisch auf das Problem der Art des Verhältnisses sensorischer und kognitiver Anteilen von aisthesis, wie es in Kapitel 5.2 und Kapitel 8.3 angesprochen wurde, eingegangen. Was haben Forschungsbereiche, die im Feld eines mikro-physiologischen Forschens agieren, diesbezüglich zu sagen? Die Aufmerksamkeit, die entsprechenden Forschungsfeldern aktuell in Wissenschaftskreisen ebenso wie in der breiten Öffentlichkeit zuteilwird, lässt vermuten: Viel. Tatsächlich dürfte es weder möglich noch sinnvoll sein, sich in gründen und zu entwickeln strebt, macht sich auch in der Ästhetik [...] geltend. Man behandelt sie nach einem kurzen Ausdrucke von Oben herab, indem man von allgemeinsten Ideen und Begriffen ausgehend zum Einzelnen absteigt, von Unten herauf, indem man vom Einzelnen zum Allgemeinen aufsteigt. […] Es wird also zwar in demselben Sinne eine philosophische Ästhetik höheren Stils über der empirischen geben können, wie es eine Naturphilosophie über der Physik und Physiologie geben kann [...]. Aber wie die rechte Naturphilosophie [...] diese Lehren nicht wird ersetzen oder aus einem aprioristischen Grunde herausgebären können, vielmehr derselben zur Voraussetzung und Unterlage bedürfen wird, ohne sich selbst in ihre Spezialitäten zu verlieren, so steht es mit dem Verhältnis der philosophischen Ästhetik höheren Stils zur empirischen. Nun aber fehlt es leider noch gar zu sehr an der empirischen Unterlage; und so scheinen mir alle unsre Systeme philosophischer Ästhetik Riesen mit tönernen Füßen. [...] Wohl kann man fragen, ob sich nicht die Vorzüge und Vorteile beider Wege dadurch vereinigen lassen, dass man den Gang von Unten mit Ideen von Oben beleuchtet oder nach Prinzipien von Oben richtet. Das klingt [...] schön [aber – sinngemäße Einfügung, B.H.] Wer Licht erst sucht, und der Weg von Unten ist ein Weg solchen Suchens, kann diesen Weg nicht mit schon fertigem Lichte beleuchten wollen.“ Theodor G. Fechner, Vorschule der Ästhetik (Cambridge: Cambridge University Press, 2013) S.1. 53 In seiner hervorragenden Einführung in die Phänomenologie präzisiert Dan Zahivi: „Husserls Angriff des szientistischen Selbstverständnisses der Wissenschaften als einen Angriff der Wissenschaften als solcher auszulegen, muss ganz eindeutig als ein Kurzschluss gelten. Die Phänomenologie ist nicht wissenschaftsfeindlich, und dass eine von Husserls Programmschriften ,Philosophie als strenge Wissenschaftʻ betitelt ist, ist mehr als ein Zufall. Die Phänomenologie leugnet keineswegs den Wert der Wissenschaft [...] sie kritisiert lediglich die (natur-)wissenschaftliche Neigung zum Szientismus und Objektivismus.“ Zu Edmund Husserls Szientismuskritik siehe: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hamburg: Meiner, 1996); zur wechselseitigen Beeinflussung von phänomenologisch bestimmter Lebenswelt und wissenschaftlichen Theorien siehe: Stephan, Strasser, Phenomenology and Human Sciences: A Contribution to a new Scientific Ideal (Pittsburgh: Duquesne University Press, 1963). Zitat: Dan Zahavi, Phänomenologie für Einsteiger; a.a.O., S.32.

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der Fülle an Einzelstudien, die hier laufend produziert werden, zu verlieren. Stattdessen sollen im Weiteren allein einige basale – und aus Sicht einer ,naturwissenschaftlichʻ orientierten Wahrnehmungsforschung mittlerweile weitestgehend zum Allgemeingut gewordene – Annahmen und Erkenntnisse behandelt werden. Stufen und Aspekte eines Wahrnehmungsvorgangs aus mikro-physiologischer Sicht Zunächst, in diesem Kontext, zu einem üblichen Wahrnehmungsvorgang. Wie stellt sich dieser in mikro-physiologischer Sicht und somit, im Sinn einer sogenannten ,Verarbeitung von Sinnesdatenʻ dar? (Die Anführungszeichen machen es deutlich: Die Thematisierung einer mikro-physiologischen Perspektive bringt eine technizistische Ausdrucksweise, wie sie in entsprechenden Forschungsbereichen üblich ist, zwangsläufig mit sich. Von einem Setzen von Anführungszeichen in jedem Einzelfall wird im Weiteren allerdings abgesehen, da dieses nicht die Ausnahme, sondern angesichts von Begriffen wie ,registrierenʻ, ,weiterleitenʻ, ,verarbeitenʻ, ,berechnenʻ, ,speichernʻ die Regel bilden würde. Eine kritische Distanz zu einer derartigen Ausdrucksweise kann vorausgesetzt werden und ist im Sinn eines einzigen großen Anführungszeichens beim Lesen mitzudenken.54) Ein erster Schritt besteht diesbezüglich im Notieren von Reizen; d.h. aus der Umwelt tritt etwas an die menschliche Physis heran, das als Reiz wahrgenommen und weitergeleitet wird. Nicht alle Stimuli werden jedoch gleichermaßen bis hinauf ins Hirn geleitet, um dort verarbeitet zu werden. Manche Reaktionen auf Reize erfolgen in Form von einfachen Reflexen. (Beispiel: Ich verbrühe mir die Hand und ziehe diese ruckartig, kaum dass ich dessen selbst gewahr werde, aus dem Strahl heißen Wassers zurück.) Zwar wird das Hirn über einen entsprechenden Vorgang informiert, es fungiert jedoch nicht als befehlsgebende Instanz, sondern eine Reiz-Reaktions-Kette kann in diesem Fall allein über das Rückenmark abgewickelt werden.55 Bottom-up-Prozesse Derartige Wirkungsmechanismen stellen aus mikro-physiologischer Sicht – so sie überhaupt zum Bereich des Wahrnehmens gezählt werden 56 – allerdings nur den kleinsten Teil von Wahrnehmungsprozessen dar. Üblicherweise werden diese, in einer bis auf Descartes zurückgehenden Modellbildung, hingegen im Sinn eines 54 Der aktuell übliche technizistische Sprachgebrauch im Bereich eines mikro-physiologischen Forschens wurde zunächst, wie Ulrich Ansorge und Helmut Leder anmerken, offenbar durch einen Rekurs auf die mathematische Informationstheorie stimuliert. Vgl. Ulrich Ansorge/ Helmut Leder, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit (Wiesbaden: VS-Verlag, 2011) S.35f.; zu einer kritischen sprachanalytisch motivierten Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Problemfeld ,Sprache und mikro-physiologisches Forschenʻ siehe: Maxwell R. Bennett/Peter M. S. Hacker, Philosophie und Neurowissenschaft; in: Dieter Sturma (Hrsg.), Philosophie und Neurowissenschaften (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006) S.20-42. 55 Vgl. Philip G. Zimbardo/Richard J. Gerring, Psychologie (München: Pearson Studium, 2008) S.66f. 56 Zu gängigen Unterscheidungen von ,Empfindenʻ und ,Wahrnehmenʻ aus mikrophysiologischer Sicht siehe: Ulrich Ansorge/Helmut Leder, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit; a.a.O., S.15f.

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sogenannten ,Bottom-up-Prozessesʻ konzipiert. Das heißt: Reize werden nicht unmittelbar im Rückenmark verarbeitet, sondern sie werden, bevor eine entsprechende Reaktion erfolgen kann, zunächst ins Hirn geleitet und erst dort weiterverarbeitet. Wie ein solcher physiologischer Bottom-up-Prozess genauer vorgestellt werden kann, dies wird gerne am Beispiel des visuellen Wahrnehmens illustriert, da dieses ein anschauliches Exempel liefert. Ein üblicher visueller Bottom-up-Prozess verläuft demnach wie folgt: Ein Reiz in Form von elektromagnetischen Wellen eines bestimmten Frequenzbereichs – oder kurz: farbigen Lichts – wird durch das Auge aufgenommen. Durch die Pupille der Iris dringt er in den Augapfel ein. Unmittelbar hinter der Iris sitzt eine Linse, die das Licht bündelt und weiter ins Innere des Augapfels, auf dessen Rückseite lenkt, den Sitzt der Retina, der Netzhaut. Hier sorgen lichtempfindliche Rezeptoren dafür, dass der eingehende Lichtreiz aufgenommen und mittels des Sehnervs in entsprechende Hirnareale weitergeleitet wird.57 Bis zu diesem Punkt erinnert die Beschreibung eines Bottom-up-Prozesses an die Funktionsweise einer Fotokamera. (Und bliebe es bei dieser Beschreibung, der mikro-physiologische Wahrnehmungsvorgang würde in der Tat auf frappierende Weise an eine erkenntnistheoretische Abbildtheorie erinnern; vgl. Kapitel 3.2.) Nun können visuelle Reize allerdings nicht einfach als Lichtwellen ins Hirn weitergeleitet werden. Denn hierzu wäre nicht nur im übertragenen Sinn, sondern ganz wörtlich ein Kopfkino vonnöten, eine Leinwand, auf die die ankommenden Lichtreize projiziert werden. Stattdessen findet bereits in der Retina ein Übersetzungsprozess statt: Die elektromagnetischen Wellen des Lichts werden hier mittels mehrerer übereinandergelagerter Zellschichten in elektrische Nervenimpulse umgewandelt. Dieser als ,Transduktionʻ bezeichnete Vorgang stellt allerdings keine Eins-zu-eins-Umsetzung dar. Denn die Netzhaut (bei der es sich entwicklungsgeschichtlich um einen Teil der Großhirnrinde zu handeln scheint, der in der Herausbildung des Auges in die Peripherie wanderte 58 ) registriert mit ca. 125 Millionen Lichtsinneszellen eingehende Reize, leitet diese aber nur an ca. eine Million Nervenfasern weiter. Über in der Netzhaut befindliche neuronale Netzwerke beeinflussen sich die Photorezeptoren des Auges dabei gegenseitig, indem sie sich zu rezeptiven Feldern variabler Größe formieren. Mit anderen Worten: Bereits in den Zellschichten der Netzhaut findet ein erster Auswahlprozess statt. Dabei fungiert das Auge nicht nur als passiver Rezeptor, sondern es greift aktiv in die Bildgestaltung mit ein. Dieser Sachverhalt, also jener eines Eingreifens in die perzipierten Sinnesdaten, wird auch an anderen Stellen des Verarbeitungsprozesses deutlich. So entspricht das, was mittels der Linse des Auges gebündelt auf die Netzhaut projiziert wird, noch keineswegs dem, was später als visueller Eindruck wahrgenommen wird, wie der Neurobiologe Heinz Penzlin im Folgenden erklärt: „[...] die Qualität des Netzhautbildes ist geradezu erbärmlich. Es strotzt nur so vor Abbildungsfehlern, da die Linse nicht alles eingefallene Licht – unabhängig von seiner Wellenlänge und dem Durchtrittsort durch die Linse – präzise in einem Brennpunkt vereinigt.“59 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der weitere Verarbeitungsprozess, wie er im Anschluss 57 Vgl. Philip G. Zimbardo/Richard J. Gerring, Psychologie; a.a.O., S.122ff. 58 Vgl. Heinz Penzlin, Die Welt als Täuschung; in: Gehirn und Geist – Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung, Nr.2/2004, S.6-11. 59 Ebd.

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an die Ableitung der Nervenimpulse aus dem Augapfel erfolgt. Denn hier finden zahlreiche weitere Auswahl-, Interpretations- und Klassifizierungsprozesse statt: So wird das Netzhautbild nach Verlassen des Auges zunächst halbiert und in die beiden Hirnhälften weitergeleitet, wobei die jeweils linken Halbbilder beider Augen (also die Halbbilder des linken und des rechten Auges) in die eine, die jeweils rechten Halbbilder in die andere Hirnhälfte übertragen werden. Dort wird jedes eingehende Halbbild des Weiteren in verschiedenen Schichten gespeichert, wobei diese Schichten jeweils unterschiedliche Informationen (die einen Farben, die anderen Formen, die dritten Bewegung und Räumlichkeit) abspeichern. Anschließend trennen sich die verschiedenen Bahnen und leiten ihre jeweiligen Informationen weiter an unterschiedliche Stellen der Sehrinde.60 Um noch einmal zusammenzufassen: Die Aufnahme eines stark eingeschränkten Frequenzbereichs aus einem potentiell wesentlich weiteren Spektrum elektromagnetischer Lichtwellen, Abbildungsfehler bei der Bündelung der Lichtwellen in der Linse, die Informationsreduzierung in der Netzhaut, die Aufspaltung von Bildhälften, das Abfragen einzelner, selektierter Informationen mittels unterschiedlicher Schichten, die weitere Fragmentierung und Weiterleitung an unterschiedliche Stellen in der Sehrinde – all dies sind Detailaspekte, die deutlich machen, wie stark das, was Menschen im Alltag für ein einfaches ,originalgetreues Abbild der Weltʻ halten, aus mikro-physiologischer Sicht von den spezifischen Funktionsmechanismen der visuellen Informationsverarbeitung mitbestimmt wird. Wie ein originalgetreues Abbild der Welt überhaupt aussehen könnte, ist auch aus mikro-physiologischer Sicht nicht zu sagen. (In philosophisch-erkenntniskritischer Hinsicht wäre vielmehr die Hypothese eines einzigen, realen Abbildes einer vom Wahrnehmen unabhängigen und diesem neutral vorgegebenen Welt zu kritisieren.) Was anhand der obigen Aufzählung festgestellt werden kann, ist hingegen, dass dasjenige, was Menschen perzipieren, mit dem nicht übereinstimmt, was sie gemäß des funktionalen Aufbaus des Augapfels perzipieren müssten. Dass es sich bei dieser Aussage nicht etwa um freie Spekulation handelt, dies verdeutlicht die psycho-physiologische Wahrnehmungsforschung, wenn sie alltägliche Beispiele gibt, anhand derer eine Divergenz deutlich wird. Eines liefert jenes des fahrenden bzw. stehenden Zuges: Sitzt eine Person in einem stehenden Zug und blickt aus dem Fenster auf einen anderen stehenden Zug, und beginnt einer der beiden Züge langsam und ruhig loszufahren, so ist es der Person allein auf Grund des visuellen Eindrucks im ersten Augenblick unmöglich zu sagen, welcher der beiden Züge sich bewegt. Das Beispiel verdeutlicht, dass der optische Eindruck (,draußen vor dem Zugfensterʻ bzw. ,draußen vor dem Augeʻ) an sich identisch ist, egal ob sich die Person selbst bewegt oder ihre Umgebung. Dennoch erlebt ein Mensch, wenn er seinen Kopf oder seinen Körper bewegt, die Gegenstände in seiner Umwelt ebenso wie diese Umwelt als Ganzes als stabil und statisch, während er sich selbst als bewegt erfährt. Dieser Sachverhalt kann nicht aus dem funktionalen Aufbau des Augapfels allein erklärt werden.61 Ein zweites Beispiel bildet jenes der Wahrnehmungskonstanzen, etwa im Bereich des Farbsehens. Wie oben beschrieben, nimmt das Auge aus mikro-physiologischer Perspektive Licht im Sinn von elektromagnetischen 60 Ebd. 61 Rainer Schönhammer, Einführung in die Wahrnehmungspsychologie – Sinne, Körper, Bewegung (Wien: Facultas, 2000) S.67-84.

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Wellen einer bestimmten Frequenzlänge auf. Die spektrale Zusammensetzung des Lichtes ändert sich im Lauf eines Tages jedoch stark. Allein auf Grund der perzipierten elektromagnetischen Lichtwellen müssten Menschen mittels des optischen Apparates des Auges die Farbe eines Wahrnehmungsgegenstandes, etwa eines roten Autos, also morgens anders wahrnehmen als mittags oder abends. Dennoch erleben Menschen die Farbe ihres Autos den gesamten Tag über, jenseits von Morgengrauen und Abenddämmerung, als konstant. Auch dieser Wahrnehmungseindruck kann nicht gemäß eines einfachen Kamera-Abbild-Modells erklärt werden, sondern es muss eine Art einflussnehmende oder gar gestaltende Kraft geben, die über einen simplen Abbildungsmechanismus hinausgeht.62 Top-down-Prozesse Wenn wir das cartesische Modell der Informationsverarbeitung [...] annehmen, dann heißt dies, daß Informationen aus den verschiedenen Sinneswelten – also etwa aus der visuellen, auditiven oder taktilen Welt – jeweils von entsprechenden Sinneszellen umgewandelt, gleichsam als Hirnsprache verfügbar gemacht werden, und daß uns auf dieser Grundlage ein Bild der Welt vermittelt wird. Die Wirklichkeit unseres Erlebens ist jedoch nicht passive Rezeption; wir konstituieren die Welt. Das Gehirn ist nicht ein passiver „Filter“, sondern das Gehirn hat gestaltende Kraft.63

Eine konzeptionelle Ergänzung erfährt das tradierte kartesische Bottom-up-Prinzip heute, im Kontext einer aktuellen mikro-physiologischen Forschung, in Gestalt eines sogenannten ,Top-down-Prinzipsʻ. Dieses erläutert der Hirnforscher Ernst Pöppel wie folgt: [...] aus zahlreichen Experimenten über Wahrnehmungs- und Denkprozesse läßt sich als allgemeines Gesetz festhalten: Das Wahrgenommene [...] ist jeweils eine Bestätigung oder Zurückweisung einer Hypothese [...] innerhalb eines mentalen Bezugssystems [...]. Hypothesen, die unser Wahrnehmen [...] bestimmen, bestehen in jedem Augenblick. Mentale Hypothesen gehören zu unserem Wahrnehmen [...] wie das Atmen.64

Wie Pöppel verdeutlicht, ist Wahrnehmen keine funktionale Einbahnstraße, die allein durch den physiologischen Aufbau des Sehapparates und die Weiterleitung neutral registrierter Sinnesdaten erklärt werden könnte, sondern es bedarf darüber hinaus eines mentalen Bezugssystems, das im Sinn eines Top-down-Prozesses in den Wahrnehmungsvorgang eingreift bzw. diesen überhaupt erst als solchen ermöglicht. Wie ein derartiger Top-down-Prozess, oder richtiger: wie derartige Top-down-Prozesse genauer imaginiert werden können, scheint auch aus mikro-physiologischer Sicht nach wie vor eine große Frage darzustellen, die sich nicht nach einem einheitlichen Schema beantworten lässt. Als Einzelfall bietet es sich, zwecks näherer Einblicknahme, jedoch an, auf das Phänomen des sogenannten perzeptuellen Lernens einzu62 Philip G. Zimbardo/Richard J. Gerring, Psychologie; a.a.O., S.140/141. 63 Ernst Pöppel, Zum formalen Rahmen des ästhetischen Erlebens – Ein Beitrag aus der Hirnforschung; in: Wolfgang Welsch (Hrsg.), Die Aktualität des Ästhetischen; a.a.O., S.231. 64 Ebd.

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gehen (nicht zuletzt, da dieses auch im allgemeineren Kontext der Untersuchung ein interessantes Phänomen zur Sprache bringt): So wäre üblicherweise, gemäß der tradierten mikro-physiologischen Vorstellung eines Bottom-up-Prinzips, davon auszugehen, dass Sinnesdaten nur ,von unten nach obenʻ weitergeleitet werden, also im Hirn zunächst von der primären zur sekundären Sehrinde, um schließlich, im Anschluss an eine weitere, mit anderen Wahrnehmungseindrücken kontextualisierende Verarbeitung, in das in den Schläfen- und Scheitellappen verankerte Gedächtnis für Dinge, Räume, Aktionen einzugehen. Der primäre visuelle Kortex würde somit nichts als eine erste Anlaufstelle im Hirn darstellen, die rein funktionale Aufgaben übernähme und nicht modifizierbar wäre. Nach aktuellem mikro-physiologischen Forschungsstand scheint dem aber offenbar nicht so zu sein. Vielmehr wird mittlerweile von so bezeichneten ,backward projectionsʻ ausgegangen, also von einer Art Umkehrung der Verarbeitungsrichtung aus dem Schläfen- und Scheitellappen in die primären Areale des visuellen Kortex. Das Beachtenswerte dabei: Üblicherweise allein den sensorischen Sphären eines (nicht verbalisierbaren) Wahrnehmens zugerechnete Regionen wären somit, mittels perzeptivem Training, modifizierbar, oder anthropomorphisierend ausgedrückt: ,lernfähigʻ. Hierzu Manfred Fahle:65 Nach Befunden der neueren Forschung zum perzeptuellen Lernen kann das von Wissen und Können angeleitete Einüben des Sehens, wie es in Berufsausbildungen vorkommt (etwa [...] in der gestalterischen Grundausbildung von Künstlern und Designern), sogar die Struktur von elementaren Analysatoren im primären visuellen Kortex verändern [...].66

Hinsichtlich eines Top-down-Prozesses verdeutlicht das Beispiel des ,perzeptuellen Lernensʻ, wie weitreichend die von oben nach unten bzw. vom Zentrum in die Peripherie gerichtete Steuerung von Wahrnehmungsprozessen, die üblicherweise – auch und nicht zuletzt in der Alltagsvorstellung – als reine Bottom-up-Vorgänge verstanden werden, zu sein scheint. (Interessant hinsichtlich des Gedankens einer philoso65 Wie Fahle ausführt, handelt es sich bei dem beschriebenen Sachverhalt um ein plausibles und wahrscheinliches Erklärungsmodell, wenn auch kein bereits hinreichend belegtes. Was feststeht, ist, dass Ergebnisse aus Verhaltensexperimenten und elektro-physiologischen Messungen gegen eine lange Zeit angenommene feste Verdrahtung – also eine im Erwachsenenalter nicht mehr veränderbare Verfasstheit der kortikalen Informationsverarbeitung – sprechen und somit gegen eine Interpretation, gemäß derer Lernfähigkeit allein auf ,höherer, kognitiver Ebeneʻ möglich wäre. Im Unterschied zu älteren Modellbildungen betonen neuere Modelle des perzeptuellen Lernens „zunehmend die Tatsache, dass perzeptuelles Lernen auf verschiedenen Ebenen der kortikalen Verarbeitung auftreten kann – sowohl auf ,höherenʻ, schon immer für Lernvorgänge reklamierten, als auch auf ,niederenʻ Ebenen“. Eine mögliche Erklärung für den Sachverhalt, dass perzeptuelles Lernen überhaupt auf ,niedererʻ – d.h. primär ,sensorischer Ebeneʻ möglich ist, bietet die Annahme, dass Top-down-Prozesse eine Wirkung zeitigen, indem sie von zentralen kortikalen Verarbeitungsebenen her eine Modifikation der ,niederenʻ Ebenen stimulieren. Siehe: Manfred Fahle, Perzeptuelles Lernen; in: Hans-Otto Karnath/Peter Thier, Neuropsychologie (Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2006) S.617-623. 66 Rainer Schönhammer, Einführung in die Wahrnehmungspsychologie – Sinne, Körper, Bewegung; a.a.O., S.148.

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phisch-künstlerisch basierten Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt ist dieses Beispiel zudem, da es letztlich nichts anderes besagt, als dass der menschliche Sinnesapparat nicht eine Art ,Durchlaufstationʻ zwischen Umwelt und Hirn darstellt, sondern dass er selbst lernfähig ist; bzw. korrekter gesagt: dass dasjenige, was auf mikro-physiologischer Ebene mit menschlichem Lernen in Verbindung gebracht wird, nicht allein in ,kognitivenʻ, sondern auch in ,sensorischenʻ Regionen vonstattengeht. Die von Bildenden Künstlern häufig zu hörende, dabei in aller Regel metaphorisch aufgefasste Formulierung, nach welcher es nicht etwa allein das Machen, etwa das Zeichnen, das Malen, das plastische Gestalten, sondern vor allen Dingen das Sehen zu lernen gelte, gewinnt in einer mikro-physiologischen Interpretation also ganz neue und eigene Bedeutung.) Kontextualisierung von philosophischen und mikro-physiologischen Perspektiven An diesem Punkt, zurück zur Ausgangsfrage und somit der mit dieser verbundenen, grundsätzlichen Fragestellung: Wie verhält sich eine mikro-physiologische Perspektive zu Ansätzen, Thesen und Erkenntnissen aus dem Bereich einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt? Sicher ist, dass beide nicht einfach miteinander abgeglichen werden können. Zwar gehen beide Bereiche (auch) empirisch vor. Allerdings agieren sie dabei auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen: Während eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt nach einer menschlichen Erfahrungsrealität, einem Wie-es-sich-anfühlt, eine bestimmte Wahrnehmungserfahrung zu machen fragt, richtet ein mikro-physiologisches Forschen das Augenmerk auf die materiellfunktional aufgefassten Bedingungen von menschlichen Wahrnehmungserfahrungen. Sich diese Differenz, welche durch eine unterschiedliche Betrachtungsperspektive gegeben ist, bewusst zu machen – und sie bewusst zu halten – ist von großer Bedeutung. Was sie ver-bietet, ist direkte Rückschlüsse aus dem einen Bereich auf den anderen zu ziehen. Um einige konkrete Beispiele anzuführen: Wenn Arnold Berleant in seiner Auseinandersetzung mit dem menschlichen Wahrnehmen über ,kognitive Filterʻ nachdenkt und in diesem Kontext kulturell, gesellschaftlich, historisch vorgeformte Denkmuster, Überzeugungen, Verhaltensvorschriften nennt, derer es sich auf dem Weg zu einer als solcher nie vollständig zu erreichenden pure sensation zu entledigen gelte, so meint Berleant hiermit nicht, sich mikro-physiologisch beschreibbarer Top-down-Prozesse zu enthalten. Auch ist die pure sensation, von der Berleant spricht, nicht als Reflexbogen zu imaginieren, der im Sinn eines einfachen ReizReaktions-Mechanismus über das Rückenmark abläuft und somit das Hirn als kognitiven Filter außen vor lässt. Derartige Gleichsetzungen – oder schlimmer noch: Vermengungen – würden eine verhängnisvolle Verwechslung von Beschreibungsebenen bedeuten. Denn worum es Arnold Berleant geht, ist, dasjenige, was im Wahrnehmen, somit von einer Erste-Person-Perspektive aus, als kognitive Filter identifiziert werden kann (also etwa: vorgeformte Denkmuster, Überzeugungen, Verhaltensvorschriften) von einer immanenten Perspektive aus kritisch, mit aisthetischen Mitteln – d.h. denkend wie wahrnehmend – zu reflektieren. Mit der Frage, welche Hirnareale hierbei aktiv sind oder wo und wie derartige Prozesse auf physiologischer Ebene ablaufen, hat dies zunächst einmal nichts zu tun. Dennoch nähern sich beide Perspektiven, die eines mikro-physiologischen und eines aisthetischen Forschens, zuweilen an: So angesichts der Frage nach der Art des

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Verhältnisses sensorischer und kognitiver Anteile von aisthesis. Dies wird gut deutlich, wenn man sich noch einmal die individuellen Positionen Gernot Böhmes noch Arnold Berleants zum Thema vor Augen führt. Beiden Ansätzen lässt sich hinsichtlich der gegebenen Fragestellung letztlich keine eindeutige Aussage abgewinnen. Der Tendenz nach scheint Arnold Berleant stärker einem Überformungsmodell (Stichwort: Zwiebelmodell) zuzuneigen, bei dem ,das Sensorischeʻ von ,dem Kognitivenʻ im Sinn kognitiver Filter überlagert wird. Gernot Böhme schließt seinerseits im Zuge der Entfaltung seiner Theorie des sinnlichen Wahrnehmens nach und nach sämtliche als ,kognitivʻ zu bezeichnende Prozesse (wie ein analytisches Wahrnehmen von Dingen, ein semiotisches Interpretieren von Zeichen) aus. In beiden Fällen scheinen die Theoretiker selbst also eher der Vorstellung einer potentiell möglichen, wenn auch in der Realität stets hypothetisch bleibenden, Trennbarkeit von sensorischen und kognitiven Vorgängen zuzuneigen. Andererseits stellt diese Interpretation, wie gezeigt, keine unumgängliche Schlussfolgerung dar. Denn von ihrer Grundanlage her lassen beide Ansätze theoretisch eine alternative Interpretation zu, die von einer prinzipiellen Untrennbarkeit, einer interkonnektiven Art der Verbindung ausgeht (vgl. Kapitel 5.2 und Kapitel 8.3). Eine tendenzielle wechselseitige Annäherung einer aisthetischen und einer mikrophysiologischen Perspektive lässt sich dabei insofern feststellen, als auch zweitgenannte im Rahmen ihres Beschreibungssystems Untersuchungen zu sensorischen und kognitiven Aspekten von Wahrnehmungsvorgängen anstellt, wobei, was auf physiologischer Ebene als ,sensorischʻ, was als ,kognitivʻ zu bezeichnen ist, prinzipiell nicht minder in Frage steht. Zu behaupten, beide Perspektiven hätten nichts miteinander zu tun, sie kämen einander in Fragestellungen und Gegenstandsgebiet nicht näher als Soziologie und Astrophysik, ist also wenig plausibel. (Es sei denn, man legte eine dualistische Weltsicht zu Grunde, welche zwischen ,rein physischmateriellenʻ und ,rein psychisch-geistigenʻ Vorgängen unterscheidet und beide Sphären in keinerlei Verbindung miteinander setzt. Ebendies wird im Rahmen einer Aisthetik, deren Ziel nicht das Festhalten, sondern vielmehr das Überwinden traditioneller Dualismen ist, jedoch nicht angestrebt; vgl. Kapitel 4.3 und 5.2.) Was, angesichts der geschilderten Situation, die einerseits keinen unmittelbaren Abgleich zulässt, andererseits eine strikte Trennung wenig plausibel erscheinen ließe, möglich sein sollte, ist ein ,vorsichtiger Vergleichʻ. Dieser kann keine Beweise oder Argumente liefern, die sich, gleich Zahnrädern in einem Uhrwerk, aus dem Kontext des einen Beschreibungssystems ausbauen und in den Kontext des anderen Beschreibungssystems einbauen lassen. Was aber möglich sein sollte, ist, Indizien und Hinweise zu sammeln, in welche Richtung weiterzugehen sich potentiell als produktiv erweisen könnte. Was ist damit konkret gemeint? Ein einfaches Exempel liefert das Wahrnehmen von Vexierbildern, also solchen bildlichen Darstellungen, die sich weder eindeutig noch mehrdeutig, sondern doppeldeutig verhalten, indem sie entweder als dies (das Gesicht einer zahnlosen alten Frau) oder als das (die Gestalt einer jungen Dame mit Feder im Haar) gesehen werden können. Die Art und Weise, wie Vexierbilder im Alltag mittels einer Erste-Person-Perspektive erfahren werden, verrät sicherlich nichts darüber, wie auf mikro-physiologischer Eben der funktionalmaterielle Aufbau des Auges oder des Hirns beschrieben werden kann. Allerdings, ginge man allein von der Existenz von Bottom-up-Prozessen aus, so sollte der Umstand, dass ich in der Lage bin, ein Vexierbild gezielt so (als Gesicht einer zahnlosen

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Alten) oder so (als Gestalt einer Jungen mit Feder im Haar) zu sehen, doch zu denken geben. Mit der Vorstellung von Top-down-Prozessen, die steuernd in einen physiologischen Wahrnehmungsvorgang eingreifen bzw. konstitutiver Teil eines solchen sind, lassen sich die Indizien und Hinweise, die ein alltägliches Wahrnehmen angesichts von Vexierbildern gibt, hingegen wesentlich besser in Verbindung setzen. In diesem Sinn nun also auch zu einem vorsichtigen Vergleich mikro-physiologischer Modellbildungen und aisthetischer Ansätze. Was legt eine mikro-physiologische Perspektive hinsichtlich der unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten, welche die Ansätze Gernot Böhmes und Arnold Berleants anbieten, nahe? Ganz basal, ganz allgemein gesagt, wohl erstens, dass es im Hinblick auf die Möglichkeit einer kontextualisierenden Betrachtung zwischen beiden Betrachtungsperspektiven wenig produktiv sein dürfte, sensorische und kognitive Anteile des Wahrnehmens konzeptionell voneinander zu isolieren – und sei es nur zu ,heuristischen Zweckenʻ, wie Arnold Berleant sagt. Denn das, was bei Böhme und Berleant als sinnliches Wahrnehmen diskutiert wird (die Erfahrung von Reflexen wie ,sich die Hand verbrühenʻ stellt hier kein gängiges Beispiel dar), geht in einem mikro-physiologischen Beschreibungssystem ja durchwegs unter konstitutiver Beteiligung des Hirns vonstatten. Ist es aber sinnvoll, Vorgänge, die in mikro-physiologischer Perspektive unter Beteiligung des Gehirns ablaufen, auf Erfahrungsebene als ,nicht-kognitivʻ zu bezeichnen? Sinnvoll wäre dies nur dann, wenn man auch auf mikro-physiologischer Ebene eine strikte Grenze zwischen sensorischen und kognitiven Anteilen im Hirn ziehen könnte, so dass dieses klar in ein ,kognitives Hirnʻ und ein ,sensorisches Hirnʻ zu unterscheiden wäre. Zwar lässt sich das menschliche Gehirn prinzipiell, gemäß dem Gedanken der Modularität, in verschiedene Areale dividieren, von welchen wiederum manche Bereiche schwerpunktmäßig diese oder jene Aufgaben übernehmen. Doch selbst wenn eine Grobunterscheidung zwischen einzelnen Hirnarealen prinzipiell möglich sein mag, so lassen sich doch auch gute Argumente anführen, die trotzdem gegen eine strikte mikro-physiologische Unterscheidung in ,rein kognitiveʻ und ,rein sensorischeʻ Regionen sprechen. Neben einer generellen Differenz von anatomischer und funktioneller Aufteilung des Hirns (nicht jeder Ort im Hirn korreliert mit der Bewältigung nur einer Aufgabe, nicht jede Aufgabenbewältigung korreliert mit nur einem Ort im Hirn) liefert ein spezifischeres Argument etwa das genannte Phänomen des perzeptuellen Lernens – wobei dieses mittels seiner Benennung letztlich ja nur äußerst unscharf beschrieben ist. Denn das, was hier ,lerntʻ, ist nicht ,die Perzeptionʻ, sondern letztlich der Mensch, dessen Lernvorgänge mit neuronalen Veränderungen in Bereichen in Verbindung gebracht werden können, welchen bislang allein ,niedereʻ Funktionen zugeschrieben wurden. Eine zu beobachtende Veränderung in diesen Bereichen sagt strenggenommen also nicht, dass ,sensorische Regionen lernfähig sindʻ, sondern, in einer präziseren Formulierung, dass der Mensch hinsichtlich seines Wahrnehmungsvermögens lernfähig ist und dass dieses Potential auf mikro-physiologischer Ebene mit Veränderungen in Regionen einhergeht, die mit Aspekten ,des Sensorischenʻ korrelieren, während die Veränderungen selbst üblicherweise als Korrelat ,des Kognitivenʻ genommen werden. Oder, erneut in unscharfer Formulierungsweise: ,Das Sensorischeʻ weist auf mikro-physiologischer Ebene selbst ,kognitiveʻ Züge auf. Ein anderes, hiermit verbundenes Argument liefert die allgemeine Annahme von Top-down-Prozessen, welche ,höhereʻ

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Ebenen konstitutiv an ,niedereʻ Ebenen binden. Zwar mögen derartige Prozesse bis dato nicht in all ihren Details erforscht sein. An ihrer prinzipiellen Existenz und Bedeutung als einem unabdingbaren Bestandteil von Wahrnehmungsprozessen scheint aus heutiger Sicht aber kein Zweifel mehr zu bestehen. (Das Bild, das schon Merleau-Ponty gibt, nämlich jenes des Wahrnehmens als einer Art Lichtprojektor, der nicht wie die Fotokamera allein äußere Eindrücke einfängt und abbildet, sondern sich gleichermaßen gezielt und aktiv in seine Umwelt hinein ausrichtet, findet mittlerweile also auch von Seiten eines mikro-physiologischen Forschens her Anklang.67) Auch in dieser Hinsicht ist ein striktes Auseinanderdividieren in ein ,kognitivesʻ und ein ,sensorischesʻ Hirn auf mikro-physiologischer Ebene kaum möglich. Zur Frage der Art der Verbindung von sensorischen und kognitiven Anteilen von aisthesis Soweit einige erste, allgemein kontextualisierende Überlegungen. Welche Indizien liefern diese nun, zweitens, für die spezifische Frage nach der Art der Verbindung von sensorischen und kognitiven Anteilen von aisthesis, wie sie von Arnold Berleant und Gernot Böhme entwickelt werden? Die von Böhme im Rahmen seiner Wahrnehmungstheorie gegebene Interpretation des atmosphärischen Wahrnehmens als vorausgehendem Prozess zu einem antagonistischen, dabei erst im Anschluss ablaufenden identifizierenden Ding-Wahrnehmen, das zudem von anderen Wahrnehmungsmodi (wie einem semiotischen bzw. hermeneutischen Wahrnehmen) zu unterscheiden sei, ist mit Ansätzen, Thesen, Erkenntnissen, wie sie auf Seiten eines mikrophysiologischen Forschens anzutreffen sind, kaum produktiv in Beziehung zu setzen. Denn, nimmt man das Beispiel des Sehvorgangs: Hier werden aus mikrophysiologischer Sicht ja nicht etwa Netzhautbilder als Ganzes weitergeleitet, um mit den Eindrücken anderer Sinnesdimensionen zunächst zu einem noch vagen atmosphärischen Gesamteindruck synthetisiert zu werden, der erst anschließend im Hirn präzisiert bzw. durch die identifizierende Wahrnehmung eines Dings konkretisiert und abgelöst wird, sondern identifizierende Prozesse (die Wahrnehmungseindrücke etwa hinsichtlich der Aspekte Farbe, Form, Bewegung und Tiefe aufspalten) finden bereits auf den untersten Stufen der Verarbeitung von Sinnesdaten statt.68 Wie gesagt 67 Wobei, gleich in welchem Bereich, Merleau-Pontys eigener kritischer Hinweis nicht vergessen werden sollte: „Freilich ist auch das Bild des Projektors kein glückliches, da es gegebene Gegenstände unterstellt, über die sein Licht hingleitet“, während man genau genommen weder sagen könne, „der Mensch sehe, weil er Geist sei“, noch „er sei Geist, weil er sehe“, vielmehr seien „Sehen in der Art, wie ein Mensch sieht, und Geistsein synonym“. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Berlin: Walter de Gruyter, 1974) S.164 und S.166. 68 Die in Fn. 65 angesprochene Interaktion unterschiedlicher Hirnareale untereinander ist also nicht mit einem rein synthetischen, alles vermischenden (bzw. ,atmosphärischenʻ) Wahrnehmen zu verwechseln. Denn, wie der Autor obiger Passage fortfährt zu erklären: „Diese ,Rekrutierungenʻ tangieren offenbar nicht das WAS der Wahrnehmung“. Vielmehr blieben Wahrnehmungen durchaus spezifisch, so dass etwa Tasten auch unter Mitarbeit des visuellen Kortexʻ stets Tasten bleibe. Siehe hierzu ausführlicher: Rainer Schönhammer, Multisensorische Wahrnehmung und Synästhesie, in: ders., Einführung in die Wahrnehmungspsychologie – Sinne, Körper, Bewegung; a.a.O., S.219-237 (Zitate: S.222-223).

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liefert diese Feststellung kein Argument, geschweige denn einen Beweis, dass die Erfahrungsrealität menschlichen Wahrnehmens nicht derart verfasst ist, wie in Gernot Böhmes Atmosphärentheorie der Wahrnehmung beschrieben. (Theoretisch könnten mikro-physiologische Prozesse und die Erfahrungsrealität des menschlichen Wahrnehmens auch stark differieren.) Zumindest lässt sich aber sagen, dass sich auf mikro-physiologischer Ebene keine Indizien oder Hinweise finden, die Böhmes Theorie unterstützen. Gleiches gilt für Arnold Berleant bzw. die von diesem nahegelegte Interpretationsmöglichkeit einer schichtweisen kognitiven Überformung eines ,sensorischen Kernsʻ. Eine Kontextualisierung mit einem aktuellen mikro-physiologischen Forschungsstand ist auch in diesem Fall schwer möglich. Denn ein ,sensorischer Kernʻ, dessen Freilegung auf Erfahrungsebene zu heuristischen Zwecken zum Ziel gemacht werden soll, findet auf mikro-physiologischer Ebene angesichts des heute angenommenen konstitutiven Einflusses von Top-down-Prozessen – und eingedenk spezifischer Phänomene wie jenem eines perzeptuellen Lernens – kaum eine Entsprechung. Bedenkt man des Weiteren den Umstand, dass nicht nur Bereiche, die ganz am Anfang des mikro-physiologischen Verarbeitungsprozesses im Hirn stehen, wie die primären Areale des visuellen Kortex, ,kognitiveʻ Aspekte aufweisen (i.e. durch eine spezifische, nachhaltige Art der Aktivierung in ihrer neuronalen Struktur veränderbar sind), sondern es sich bspw. selbst bei der Netzhaut des Auges entwicklungsgeschichtlich um einen einstigen Teil der Großhirnrinde zu handeln scheint, so dürfte auch der Gedanke, ,das Sensorischeʻ als eine Art Urgrund des Menschseins zu verstehen, auf welchem ,das Kognitiveʻ erst nach und nach Schichten anhäuft und Ablagerungen hinterlässt, von mikro-physiologischer Seite her kaum Stärkung erfahren. Nun lassen sich, wie gesagt, aus diesen ausbleibenden Möglichkeiten einer Kontextualisierung keine direkten Schlüsse ziehen. Und die Gefahr, dies dennoch tun zu wollen, muss stets aufs Neue bewusst begegnet werden. Allerdings dürften sich die in Kapitel 5 angedeuteten alternativen Interpretationsmöglichkeiten, die beiden Ansätzen prinzipiell innewohnen, leichter mit einer mikro-physiologischen Sichtweise in Beziehung setzen lassen. Dies gilt für die Möglichkeit, die von Gernot Böhme herausgestellten unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi (atmosphärisches Wahrnehmen, identifizierendes Wahrnehmen u.a.) als permanent miteinander interagierende Aspekte von Wahrnehmungserfahrungen aufzufassen, wie für den Gedanken einer Reziprozität bzw. Interkonnektivität, den Arnold Berleants Ausführungen anbieten. Denn die Vorstellung, Wahrnehmen auf Erfahrungsebene als einen Vorgang zu versteht, bei dem sich der Mensch als konkretes (kulturell, gesellschaftlich, historisch u.a.) geformtes Wesen in eine ebenso konkrete Umwelt hinein ausrichtet, indem er mittels seiner perzeptiven Physis gleichsam Fragestellungen an diese richtet und erst dementsprechend Antworten erhält, die erneut in einen weiteren Kontext eingebettet werden müssen, um ihrerseits den Bezugsrahmen für neue, mittels der perzeptiven Physis zu stellende Fragen, zu liefern, scheint einer mikro-physiologischen Modellbildung, welche von einem Ineinandergreifen von Bottom-up- und Top-downProzessen ausgeht, keineswegs unverwandt. Bedenkt man des Weiteren, dass auch aus aisthetischer Perspektive selbst – sowohl was ihre philosophischen wie ihre künstlerischen Anteile betrifft – gute Gründe für die zweitgenannte und gegen die erstgenannte Interpretationsmöglichkeit sprechen, so fragt sich, ob Indizien und Hinweise, wie sie ein mikro-physiologisches Forschen liefert, nicht in der Tat als

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weiterer Motivationsfaktor verstanden werden sollten, von einem Theoretisieren, welches eine prinzipielle Trennbarkeit ,kognitiverʻ und ,sensorischerʻ Anteile postuliert, künftig abzusehen. Wechselblick als produktive Perspektive Ebenso wie die Frage nach der Rolle äußerer, gesellschaftlicher Einflüsse auf die perzeptive Physis, so ist auch jene nach der Art des Verhältnisses sensorischer und kognitiver Anteile von aisthesis bislang weit davon entfernt, gelöst zu sein. Im Gegenteil stellt sich angesichts obiger Diskussion vielmehr die Frage, ob nicht selbst solche Ansätze, die beide Aspekte prinzipiell als interkonnektiv miteinander verbunden aufzufassen erlauben, ihrerseits noch weiterzugehen und selbst die operativen Termini ,des Sensorischenʻ und ,des Kognitivenʻ noch grundsätzlicher in Frage zu stellen hätten. Was eine interdisziplinär kontextualisierende Diskussion, wie sie oben nur in allerersten Ansätzen skizziert werden konnte, hingegen ganz grundsätzlich aufzuzeigen vermag, ist, dass eine ,naturwissenschaftlicheʻ und eine philosophischkünstlerische, eine aisthetische Perspektive sich keineswegs wechselseitig ausschließen. Vielmehr sind unterschiedliche Betrachtungsperspektiven ebenso wenig 1) wechselseitig reduzibel aufeinander (eine mikro-physiologische Perspektive ersetzt nicht einfach eine aisthetische Perspektive; so wie umgekehrt eine aisthetische Perspektive nicht einfach eine mikro-physiologische Perspektive ersetzt), wie sie 2) potentiell miteinander unvereinbar sind (wobei ,Vereinbarkeitʻ im oben bezeichneten Sinn zu verstehen ist, d.h. Ergebnisse aus einem Bereich können im Rahmen eines vorsichtigen Vergleichs Indizien und Hinweise dafür liefern, inwiefern sich ein Fortschreiten in die eine oder andere Richtung für einen anderen, benachbarten Bereich als produktiv erweisen könnte). Auch ein mikro-physiologisches Forschen könnte in diesem Sinn von einem Blick über den eigenen Erkenntnishorizont hinweg und hinein in den Bereich eines aisthetischen Forschens profitieren. So sind, bspw. angesichts der oben wiedergegebenen Darstellung eines visuellen Wahrnehmungsvorgangs, vom Standpunkt einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt aus betrachtet diverse Aspekte mit einem kritischen Fragezeichen zu versehen – und nicht allein jener eines technizistischen und oft unscharfen Sprachgebrauchs (in dem Hirnareale ,lernfähigʻ sind und Nervenbahnen ,Informationen weiterleitenʻ). In aisthetischer Perspektive ist es nämlich durchaus fragwürdig, erstens: den Menschen, als Instanz des Wahrnehmens, vom Kontext einer wahrgenommenen Umwelt zu lösen; zweitens: konkret erfahrene Aspekte einer Umwelt auf abstrakte Reize zu reduzieren; drittens: den Menschen auf einen materiell-funktionalen Zusammenhang zu verkürzen; viertens: aus diesem materiell-funktionalen Zusammenhang heraus wiederum eine einzelne Sinnesdimension zu isolieren.69 Demgegenüber vermag eine philosophisch-künstlerisch ba69 Dabei ist es nicht allein eine aisthetische Außensicht, die Fragen auswirft. Auch aus mikrophysiologischer Sicht selbst sind Bedenken angebracht. Hierzu der Wahrnehmungspsychologe Rainer Schönhammer: „Lippenbewegungen, die man sieht, bestimmen mit, welche Laute man hört […]. Die Intensität von Aromen wird durch Farben und Mundgefühle modifiziert […] der ertastete Eindruck der Form von Gegenständen [verändert sich] bei verzerrter Optik […]. Noch vor nicht allzu langer Zeit herrschte die Ansicht vor, die Sinne seien säuberlich getrennte Module der Informationsverarbeitung, die man isoliert zu erfor-

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sierte Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt innerhalb ihres Beschreibungssystems in sich konsistent und schlüssig zu zeigen, dass einzelsinnliche Wahrnehmungen sich auf alltäglicher Erfahrungsebene stets im Bezugsrahmen eines multisensorischen Wahrnehmungskontextes ereignen und im Sinn eines konstitutiven Mensch-Umwelt-Verhältnisses gleichermaßen an eine perzeptive Physis wie an eine konkret perzipierte Umwelt gebunden sind. Traditionelle mikro-physiologische Modellbildungen, die einen Vorgang wie das Sehen dominant organologisch, also an ein einzelnes, spezifisches Sinnesorgan gebunden, konzipieren und es dementsprechend als isolierten und zu isolierenden Forschungsgegenstand betrachten, könnten hier produktive Anregungen ganz grundsätzlicher Art beziehen. Desgleichen gilt für solche neuro- und kognitionswissenschaftlichen Ansätze, die ,das Hirnʻ nicht nur aus dem Kontext der menschlichen Physis, sondern damit zugleich aus jenem einer Umwelt, in welche jene konstitutiv eingebettet ist, herauslösen.70 Ein Hauptargument, welches aus ,naturwissenschaftlicherʻ Perspektive gegen eine kontextualisierende Betrachtung spricht, mag dabei weniger in dem Mangel an Einsicht begründet liegen, dass es sich als potentiell produktiv erweisen könnte, den Menschen als Menschen, welcher in einer konkreten Umwelt lebt, zu erforschen, als vielmehr in methodischen Schwierigkeiten. Denn einer mikro-physiologischen Perspektive, so erfolgreich sie die menschliche Physis im Sinn eines funktionalmateriellen Zusammenhangs zu untersuchen erlaubt, bleibt es prinzipiell verwehrt, schen habe, um schließlich noch der Frage nachzugehen, wie das, was wir sehen, hören, fühlen etc., sich am Ende zur wahrgenommenen Welt fügt. […] Nicht zuletzt hat die Hirnforschung das Bild von gegeneinander abgeschotteten Sinneskanälen korrigiert. Invasive Studien [...] an den Gehirnen von [...] Affen [zeigen, dass sich – Einfügung B.H.] hier in bunter Mischung Zellen [finden], in denen Reize aus Auge, Ohr, Haut, Muskeln sowie Nase und Zunge bimodal gekoppelt sind. Studien mit bildgebenden Verfahren beim Menschen deuten darauf hin, dass es in ihren Gehirnen ein vergleichbares Zusammentreffen gibt.“ Rainer Schönhammer, Multisensorische Wahrnehmung und Synästhesie, in: ders., Einführung in die Wahrnehmungspsychologie – Sinne, Körper, Bewegung; a.a.O., S.221f. 70 Im Bereich der psychologischen Wahrnehmungsforschung war es bereits James J. Gibson (vgl. Kap. 4.4), der die konstitutive Rolle der Umwelt als spezifischem Wahrnehmungskontext betonte. Aktuelle Ansätze, die auf phänomenologisches Gedankengut, so auf Merleau-Ponty, Bezug nehmen, finden sich im Bereich einer sogenannten ,verkörpertenʻ (engl. ,embodimentʻ) oder ,situiertenʻ Neuro- und Kognitionsforschung. Dabei wird „In den Kognitionswissenschaften […] unter dem Begriff EMBODIMENT diskutiert, dass das Denken nur auf der Grundlage eines Körpers möglich sei. Unter der Prämisse, dass Menschen immer irgendwo in der Welt örtlich und zeitlich verortet sind, werde unsere Wahrnehmung ständig davon beeinflusst, dass wir einen Körper haben. EMBODIMENT beschreibt hier die Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit. Da in einem solchen Konzept körperliche Materialität, seine Wahrnehmung und seine Benennung, nur im wechselseitigen Zusammenwirken zu verstehen sind, könnte hier eine Auflösung des Dualismus Körper-Geist möglich werden.“ Zitat: Sigrid Schmitz, Entweder-Oder – Zum Umgang mit binären Kategorien; in: Sigrid Schmitz/ Kirsten S. Ebeling (Hrsg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften (Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 2006) S.340; zu Gibsons ökologischer Wahrnehmungspsychologie siehe etwa: James J. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt (München: Urban und Schwarzenberg, 1982).

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selbst Einblick in das zu nehmen, was mittels des untersuchten ,physiologischen Apparatesʻ wahrgenommen wird. Auf das Problem, dass konkrete Wahrnehmungsgegenstände in einer Außenperspektive gleichsam unsichtbar werden, sich in abstrakte ,Hirnaktivitätenʻ und ,Erregungspotentialeʻ verwandeln, kann freilich mit unterschiedlichsten technischen und experimentellen Mitteln reagiert werden. Gelöst werden kann es hierdurch nicht. Experimentelle Vorgehensweisen, wie sie bspw. Bruce Nauman und Ilya Kabakov zum Einsatz bringen, wenn sie mit der eigenen perzeptiven Physis innerhalb eines eigenhändig gestalteten Umraums experimentieren, kennen derartige Schwierigkeiten nicht, würden von ,naturwissenschaftlicherʻ Seite her jedoch wohl kaum als ,wissenschaftlichʻ anerkannt. Aber: Hier gilt es, präzise zu sein und nicht leichtfertig Begriffe zu verwechseln. Denn was von ,naturwissenschaftlicherʻ Seite her gegen eine Erste-Person-Perspektive spricht, wie sie im Rahmen einer Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt zum Einsatz kommt, ist allen voran die Annahme, dass diese ,subjektivʻ verfasst sei und somit wissenschaftlich nicht aussagekräftig. Hierbei handelt es sich, wie im Kontext der vorliegenden Untersuchung deutlich wurde, jedoch a) um einen Trugschluss, denn trans-individuelle Aspekte lassen sich nicht allein mittels großer, neutral zusammengestellter Probandengruppen eruieren, sondern auch immanent, im Wahrnehmen selbst, welches das Wahrnehmen einer Einzelperson ist, antreffen; und b) um eine problematische, da unhinterfragte Setzung; denn der historisch tradierte Begriff des ,Subjektivenʻ ist selbst alles andere als vorannahmsfrei. Mittels des Einsatzes einer Erste-Person-Perspektive können durchaus trans-individuelle Aspekte untersucht werden. Allein ist angesichts von experimentellen Vorgehensweisen, wie sie Nauman und Kabakov zum Einsatz bringen, noch kein Maßstab angelegt, der aus ,naturwissenschaftlicherʻ Sicht aussagekräftig ist, bezüglich der Frage, inwiefern es sich um trans-individuelle Aspekte handelt. Einsichten, wie jene, zu denen Nauman und Kabakov gelangen, sind also weder ,wissenschaftlichʻ, noch sind sie ,unwissenschaftlichʻ. Was Erkenntnisse, die mittels einer Erste-Person-Perspektive gewonnen werden, aus ,naturwissenschaftlicherʻ Perspektive sind, ist zunächst einmal ,außer-wissenschaftlichʻ (insofern, als noch keine spezifischen Standards an sie angelegt wurden); bzw., so es sich um Erkenntnisse handelte, wie sie im Kontext eines anderen Forschungsbereichs hervorgebracht werden, ,anders wissenschaftlichʻ (in dem Sinn, dass sie von jenem Forschungsbereich gemäß eigener, hier relevanter Standards, als gültig anerkannt werden). Eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, die nicht allein unreflektierte Alltagsimpressionen sammelt, sondern auf qualifiziertem Weg gewonnene und reflektierte künstlerisch-philosophische Einsichten und Erkenntnisse zu Tage fördert, könnte einem ,naturwissenschaftlichʻ orientierten Forschen also ihrerseits nicht Argumente und Beweise, wohl aber fundierte Indizien und Hinweise dafür liefern, in welche Richtung weiterzuforschen sich als potentiell produktiv erweisen könnte. Der Gedanke eines produktiven Wechselblicks gilt somit bilateral – und er gilt darüber hinaus: Auch Strömungen und disziplinäre Bereiche wie die zuvor genannten könnten von einer Einbeziehung profitieren. Die mikro-physiologische Annahme eines mentalen Bezugssystems, welches sich im Sinn von Top-down-Prozessen auswirkt und einen konstitutiven Einfluss auf Wahrnehmensprozesse nimmt, kommt bspw. soziologischen bzw. poststrukturalistischen Vorstellungen, welche die Bedeutung von gesellschaftlich-historisch hervorgebrachten Diskursen und Dispositiven

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betonen, die den Hintergrund und Kontext für ein menschliches Körperverständnis, somit ein alltägliches Wahrnehmen, liefern, deutlich entgegen. 71 Wichtig, im Sinn einer Art Grundregel, dürfte es hierbei sein – und dies ist ein Punkt, der für sämtliche Formen eines Zusammenarbeitens, von einer interdisziplinären Zusammenarbeit bis hin zu einer trans- oder intradisziplinären Vernetzung gilt –, nicht einzelne perspektivische Sichtweisen zu verabsolutieren und andere kategorisch auszuschließen. Diese Anmerkung mag trivial klingen, ist angesichts üblicher Gepflogenheiten aber nicht nur gerechtfertigt, sondern wichtig. Als produktiv könnte es sich dabei erweisen, um abschließend einen konkreten Vorschlag zu machen, hinsichtlich der Frage eines disziplinübergreifenden Verständnisses der menschlichen Physis von zwei aneinander gekoppelten Gedanken auszugehen: nämlich dem der ,Eigenlogikʻ und dem der ,Formungsspektrenʻ. Der perzeptive Körper wäre in diesem Sinn weder als komplett vorgegeben (im Sinn eines ,natürlichenʻ physiologischen Körpers bzw. phänomenologischen Leibes) noch als komplett unspezifisch (gleich einer beliebig zu formenden poststrukturalistischen Materialität) verfasst zu konzipieren. Stattdessen kann mit dem Gedanken der Formungsspektren davon ausgegangen werden, dass im Zuge eines nicht von außen her künstlich übergestülpten, sondern eines konstitutiven, eines unabdingbaren und notwendigerweise vonstattengehenden (sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen) Formungsprozesses der perzeptive Körper innerhalb einer gewissen, limitierten Bandbreite ausgeprägt wird. Diese Ausprägung erfolgt ontogenetisch (also von der befruchteten Eizelle bis zum voll entwickelten, erwachsenen Lebewesen), bleibt aber auch darüber hinaus, ein gesamtes Menschenleben über, modellierbar (so dass sie mittels repetitiver Akte konserviert oder verändert werden kann). Beide Prozesse, Ausprägung und Modellierung, wären zudem – und hier kommt der Begriff der ,Eigenlogikʻ ins Spiel – nicht als im luftleeren Raum vonstattengehend zu konzipieren (i.e. dem abstrakt ,gesellschaftlichenʻ, abstrakt ,kulturellenʻ, abstrakt ,historischenʻ Raum), sondern anhand einer konkreten Umwelt, welche einen glei71 Von Seiten einer empirischen Wahrnehmungspsychologie her finden sich seit langem Bemühungen, den Einfluss von ,mentalen Bezugssystemenʻ auf das Wahrnehmen zu untersuchen. Dazu ein Beispiel: Empirische Studien zum kontextuellen Wahrnehmen scheinen die Vermutung nahezulegen, dass dieses in fernöstlichen Kulturen stärker ausgeprägt ist als in westlichen Kulturkreisen. Während etwa US-amerikanische Probanden in Tests tendenziell besser darin abschneiden, wenn es darum geht, einzelne zentrale Elemente von visuellen Eindrücken wiederzuerkennen, scheinen japanische Probanden stärker auf den Gesamtkontext eines Wahrnehmungseindrucks zu achten. Studien wie diese könnten durchaus dazu beitragen, ,geisteswissenschaftlicheʻ Reflexionen zu kulturellen, historischen, gesellschaftlichen, politischen Einflussfaktoren produktiv zu ergänzen, indem sie bestimmte, empirisch beobachtbare Sachverhalte offenzulegen und nachzuweisen vermögen. Interpretationen und weiterführende kontextualisierende Betrachtungen sind hingegen noch nicht automatisch enthalten. (Wie genau gehen kulturspezifische Prägungen vonstatten? Spielen performative Akte eine Rolle oder nicht? etc.) Vgl. Takahiko Masuda/Richard E. Nisbett, Attending holistically versus analytically – Comparing the Context Sensitivity of Japanese and Americans; in: Journal of Personality and Social Psychology, 81 (5), 2001, S.922-934; eine klassische Studie zum Thema des Einflusses mentaler Bezugssysteme findet sich in: Albert Hastrof/Hadley Cantril, They saw a Game: A Case Study; in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 49 (1), 1954, S.129-134.

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chermaßen spezifische Eigenarten aufweisenden wie spezifische Möglichkeiten zulassenden perzeptiven Körper formt. Soviel, in aller Kürze, zu einem möglichen Verständnis der menschlichen Physis, mit dem unterschiedliche Seiten, eine aisthetische/phänomenologische, eine poststrukturalistische/soziologische, eine mikro-physiologische Forschung im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit operativ agieren könnten, ohne dass einzelne Seiten sich hierdurch in ihrem jeweiligen spezifischen Leib- bzw. Körperverständnis ausgeschlossen fühlen sollten.72

11.3 Z UM P ROBLEMFELD W AHRNEHMEN UND S PRACHE Nun zum letzten im Rahmen dieses Ausblicks exemplarisch angesprochenen Themenkomplex: Dem Zusammenhang von Wahrnehmen und Sprache – respektive: aisthesis und sprachlich verfasstem Denken. Wie hat sich dieser im Kontext der vorliegenden Untersuchung dargestellt? In Kapitel 8 wurde (anhand der Beispiele Gernot Böhmes und Dan Grahams u.a.) deutlich, dass nicht nur philosophische, sondern auch künstlerische Ansätze theoretische Reflexionen vornehmen und sich somit des Mittels der Sprache bedienen können. Was die Frage einer Verbindung von beiden Seiten, jener eines aktiven empirischen Untersuchens (gebauter) menschlicher Umwelten und einer sprachgebundenen Reflexion, betrifft, so scheinen sich installative Ansätze leichter zu tun als philosophisch-ästhetiktheoretisch motivierte. Zwar stellt sich auch bei künstlerischen Positionen die Frage, wie ein aktives Arbeiten mit aisthesis mit einer weiterführenden, sprachgebundenen kontextualisierenden und reflektierenden Auseinandersetzung verknüpft werden kann. Allerdings handelt es sich dabei eher um ein praktisches Problem (bspw. ist zu eruieren, welches Format adäquat erscheint: Führen von Interviews, Verfassen eigener Texte, Anlegen von Recherchematerial, Dokumentation von Arbeitsprozessen etc.). Eine Rückbindung entsprechender Vorgehensweisen an eine Erfahrungsebene erfolgt hingegen stets von selbst, mittels eines weiteren aktiven Arbeitens mit installativen Set-ups. Dieses 72 Eine derartige Konzeption sollte ebenso den epistemischen Zielen eines aisthetischen Forschens gerecht werden, wie sie der Grundhaltung eines mikro-physiologischen Forschens Rechnung trägt. Auch mit den emanzipatorischen, gesellschaftlich-politischen Zielen einer poststrukturalistischen Perspektive dürfte sie sich verbinden lassen. Denn die Gedanken der Eigenlogik und der Formungsspektren sagen ja nichts darüber aus, wie viel Formung und Umformung die perzeptive menschliche Physis zulässt. Was diese besagen, ist lediglich, dass eine Formung nicht unbegrenzt möglich ist. Ob bspw. binäre Geschlechteridentitäten innerhalb oder außerhalb des umzuformenden Spektrums liegen, ist damit nicht gesagt. Im Gegenteil: Eben die mögliche Varianz, das mögliche Spektrum an ,Geschlechternʻ (bzw. Geschlechteridentitäten), das die menschliche Physis zulässt, wäre zu überprüfen. Umgekehrt würden die Gedanken der Eigenlogik und der Formungsspektren die theoretische Reflexion davor bewahren, in selbst gelegte Fallstricke zu geraten, etwa dergestalt, dass spezifische Gegebenheiten, obwohl aus der Alltagsrealität nicht fortzudenken, kurzerhand ignoriert oder geleugnet werden, so wie bspw. menschliche Wahrnehmungserfahrungen in einer Erst-Person-Perspektive und die physischen Bedingungen, an die diese gebunden sind, von poststrukturalistischer Seite her allzu leicht negiert werden.

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enthält zudem immanent reflexive und kontextualisierende Momente, so dass sich eine darauf aufbauende sprachlich-reflexive Auseinandersetzung nicht etwa als aufoktroyierte Zutat, sondern vielmehr als natürliche Verlängerung einer bereits gegebenen Praxis darstellt. Etwas anders verhält es sich auf Seiten eines philosophisch motivierten Arbeitens. Zwar impliziert auch dieses empirische Aspekte. (Selbst eine dem Anschein nach ,rein philosophischeʻ Wahrnehmungsforschung kann, wie in Kapitel 8.2 deutlich wurde, nicht losgelöst von jeglicher empirischer Anbindung operieren.) Allerdings erfolgt dabei keine automatische Rückbindung an eine Ebene der Empirie. Während sich auf Seiten der Kunst mittels eines praktischen Arbeitens rekursiv-zirkuläre Prozesse einstellen, bleiben diese auf Seiten der Theorie aus. Stattdessen findet eine punktuelle Bezugnahme auf empirische Beobachtungen statt, von denen sich ein sprachlich verfasster Reflexionsakt sodann, diese als Ausgangspunkt nehmend, loslöst und verselbstständigt, um allenfalls gelegentlich, mittels des Eingehens auf Fallbeispiele, für kurze Zeit auf eine Empirie-Ebene zurückzukommen. Ebendies könnte nun aber eine wichtige Frage ganz grundsätzlicher Art sein, nämlich: Muss eine sprachgebundene theoretisierende Auseinandersetzung mit aisthesis die Ebene des Wahrnehmens wirklich zwangsläufig verlassen, um sich von dieser zunehmend zu entfernen, oder könnte es nicht auch Mittel und Wege geben, diese – ähnlich wie auf Seiten der Kunst bereits heute der Fall – immer wieder an ein aktives aisthetisches Erleben zurückzubinden? Dieser Gedanke wird im Weiteren hauptsächlich zur Debatte stehen. Allerdings besitzt das Problemfeld ,Wahrnehmen und Spracheʻ noch andere Facetten, die mit diesem in unmittelbarer Verbindung stehen. Ein Punkt liegt in jenem des Systematisierens. Die Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, wie sprachlich verfasstes Denken in seinen designierten Untersuchungsgegenstand potentiell einzugreifen vermag bzw. dies unweigerlich – oft auch unwissentlich, unbemerkt (vgl. oben zu einem unscharfen Sprachgebrauch im Bereich eines mikro-physiologischen Forschens) – tut. Gemäß einer konventionellen Sichtweise, wird Sprache gerne als ein der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität Äußerliches verstanden. Sie bildet ein in sich geschlossenes Zeichensystems, das eine Referenz zu den Dingen ,da draußen in der Weltʻ besitzt. In diesem Sinn wird sie auch von philosophisch-,geisteswissenschaftlicherʻ Seite her als effektives Werkzeug eingesetzt, entweder, um auf ,die Welt da draußenʻ zuzugreifen und über diese zu reflektieren, oder, um eben eine solche externe Referenz zu leugnen (wodurch Philosophie zu einem Nachdenken über Sprach-immanente Probleme wird). Andererseits lassen sich hinsichtlich des Einsatzes eines vermeintlich neutralen Werkzeugs, wie es die Sprache in beiden Fällen darstellt, zuweilen signifikante Interferenzen beobachten. So scheint, wie im Kontext der Untersuchung immer wieder deutlich wurde, jede Art der sprachlichen Systematisierung und Benennung von Phänomenbereichen (wie: ,Farbeʻ, ,Formʻ, ,Proportionenʻ, ,Geruchʻ etc.) nicht zuletzt mit unserer Auffassung eines solchen Phänomenbereichs als Phänomenbereich einherzugehen. Dies kann man sich anhand der üblichen Unterscheidung zwischen ,Geruchʻ und ,Geschmackʻ prägnant vergegenwärtigen, als einer Trennung, die die Alltagssprache und das Alltagsdenken vornehmen, die auf Wahrnehmungsebene allerdings – übrigens ebenso wie auf physiologischer Ebene – keineswegs eindeutig zu ziehen ist. Dennoch ist sie in unserem alltäglichen Denken über Riechen und

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Schmecken als getrennten und zu trennenden Wahrnehmungsdimensionen fest verankert. Auch ein Zusammenhang zwischen den systematisierenden Eigenschaften von Sprache und der Art und Weise, wie menschliche Wahrnehmungserfahrungen als solche erfahren werden, kann also durchaus gemutmaßt werden. Phänomenologie und Sprache – oder: Von der husserlschen Wesensschau zu einer ,Phänomenologie ohne Ontologieʻ Hinsichtlich des genannten Problemfeldes könnte nun ein Blick auf einen Philosophen von Interesse sein, der üblicherweise mit einer kritischen Sprachphilosophie, kaum hingegen mit dem Bereich der philosophischen Wahrnehmungsforschung oder gar der Phänomenologie in Verbindung gebracht wird: Ludwig Wittgenstein73 – bzw. genauer gesagt: das Denken und methodische Vorgehen des späten Wittgenstein, wie es aus dessen Philosophischen Untersuchungen 74 sowie insbesondere seinen Bemerkungen über die Farben75 erkenntlich wird. Um zu verstehen, inwiefern Wittgensteins Arbeiten Berührungspunkte mit phänomenologischem Gedankengut aufweist (Wittgenstein selbst hierzu: „Es gibt zwar nicht Phänomenologie, wohl aber phänomenologische Probleme.“76), sich dabei zugleich aber radikal von traditionellen phänomenologischen Ansätzen (auf die der Gedanke einer Aisthetik, vermittelt durch Ansätze wie diejenigen eines Arnold Berleant, Gernot Böhme, Hermann Schmitz, Maurice Merleau-Ponty, wenn auch kritisch, so doch maßgeblich aufbaut) unterscheidet, dürfte es hilfreich sein, sich an diesem Punkt noch einmal knapp deren Grundzüge vor Augen zu führen. Denkt man etwa an Edmund Husserl (der im Kontext der vorliegenden Untersuchung kaum explizit zur Sprache kam, der als Begründer der Phänomenologie jedoch stets latent im Hintergrund stand), so prägte dieser mit seinem bekannten Motto: ,Zu den Sachen 73 Ludwig Wittgensteins philosophisches Arbeiten nimmt eine Schlüsselrolle in der Philosophie des 20. Jahrhunderts ein. Bereits mit seinem ersten – und einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten – Buch, dem Tractatus logico-philosophicus, legte der Denker den Fokus seines Forschens auf die Sprache, aus der für den frühen Wittgenstein kein Weg herausführt. Wittgenstein wurde somit zu einer Schlüsselfigur eines späteren linguistic turn, als einer umfassenden Hinwendung der Philosophie, Geistes- und Kulturwissenschaften zum Thema Sprache. Wie im Weiteren dargestellt, greift eine Sichtweise des wittgensteinschen Arbeitens, die diesen allein auf einen Sprachphilosophen reduziert, jedoch zu kurz. Denn insbesondere die späten und spätesten Arbeiten des Philosophen – so jedenfalls die These, die im Weiteren implizit vertreten wird – zeigen diesen auch als einen Wahrnehmungsforscher. Brisant ist dieser Umstand insofern, als Ludwig Wittgenstein sich damit in Bereiche vorwagt, die laut jener Bewegungen, die Wittgensteins Arbeiten stimulierte (i.e. solche, die die Sprache für ein in sich geschlossenes und/oder ein realitätskonstituierendes System erachten), an sich zu betreten gar nicht möglich sein dürfte (da in dieser Sichtweise auch Wahrnehmungserfahrungen allein mit den Mitteln der Sprache zu untersuchen bzw. maßgeblich als Effekt derselben zu verstehen wären). 74 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; in: ders., Werkausgabe Band 1 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984). 75 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Farbe; in: ders., Werkausgabe Band 8 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984). 76 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Farbe; in: ders., Werkausgabe Band 8; a.a.O., S.23.

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selbst!ʻ77 nachhaltig den Wahlspruch der philosophischen Bewegung. Allerdings war damit keineswegs gemeint, was vielleicht zu vermuten naheläge, nämlich, dass es – etwa anhand des hier behandelten Themengebiets der (gebauten) menschlichen Umwelt – darum gehen solle, diese in all ihrem Facettenreichtum so präzise wie möglich zu erkunden. Nicht die detaillierte Beschreibung der menschlichen Umwelt und auch nicht die detaillierte Beschreibung der Art und Weise, wie diese wahrgenommen wird, wären in diesem Sinn Ziel einer Phänomenologie der (gebauten) menschlichen Umwelt. Denn das Phänomenologieverständnis Husserls – insbesondere das des späteren – folgt keinem, in den oben eingeführten Begrifflichkeiten, idiographischen, sondern vielmehr einem nomothetischen Wissens- und Erkenntnisideal. Nicht Einzelfälle, sondern möglichst allgemeine Sachverhalte, ja mehr noch: essentielle, wesenhafte Grundzüge sind der Gegenstand, auf den Husserl sich in seiner Rede von den Sachen selbst bezieht. Die Phänomenologie husserlscher Prägung ist in diesem Sinn also nicht als philosophische Forschung misszuverstehen, der es um konkrete Wahrnehmungsgegenstände, etwa um empirisch wahrgenommene Farben, Formen, Gerüche etc. ginge. Sondern sie soll Transzendentalphilosophie sein, d.h. ihr Ziel ist die schrittweise Annäherung an apriorische Bedingungen, welche einen menschlichen Weltbezug ermöglichen und konstituieren. Nicht die Reflexion über im Bewusstsein gegebene Gegenstände, sondern über Bewusstseinsakte steht im Zentrum. Dabei folgt die husserlsche Phänomenologie bestimmten ontologischen Vorannahmen, die sich nicht zuletzt in ihrer Methodik widerspiegeln: Denn das maßgebliche erkenntnistheoretische Instrument, das einer Phänomenologie im Sinn einer Transzendentalphilosophie zur Verfügung steht, ist nach Husserl die eidetische Reduktion (respektive: eidetische Variation). Ein Mittel, das, wie bereits der Name zum Ausdruck bringt (altgr. ,eidosʻ = Urbild), dazu dienen soll, mittels des gedanklichen Vergleichs unterschiedlicher Weisen, wie ein Gegenstand im Bewusstsein gegeben ist, sowie mittels eines sukzessiven Absehens von unwesentlichen Aspekten, wesenhafte Aspekte und Strukturen zum Vorschein zu bringen. Rudimente eines derartigen initialen Phänomenologieverständnisses finden sich bspw. bei Gernot Böhme. Denn auch dessen Wahrnehmungstheorie, die sämtliche Aspekte des sinnlichen Wahrnehmens auf ein atmosphärisches Wahrnehmungsprinzip zu reduzieren sucht, scheint ja einem husserlschen Impetus zu folgen, sich nicht singulären Erscheinungsweisen, sondern vielmehr allgemeineren Prinzipien zuzuwenden. Einen expliziten Hinweis auf diesen, wenn auch unterschwelligen, husserlschen Einfluss im böhmeschen Denken gibt der Theoretiker selbst, wenn er sich im folgenden Zitat zum Charakter einer Aisthetik der natürlichen Umwelt – die an dieser Stelle als ,Phänomenologie der Naturʻ bezeichnet wird – wie folgt äußert: Wenn die Naturwissenschaft seit Newton ihre Tugend darin sieht, nicht nach dem Wesen zu fragen, so kann man für die Phänomenologie der Natur sagen, dass sie jedenfalls nach dem Erscheinungswesen fragt. Die systematische Untersuchung bestimmter Phänomenfelder zielt auf die Beantwortung der Frage, was Farbe ist, was Wachstum ist, was Geruch ist [...].78 77 Bzw. „Wir wollen auf die ,Sachen selbstʻ zurückgehen“; Edmund Husserl, Logische Untersuchungen (Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1993) S.6. 78 Gernot Böhme, Ästhetik als Wissenschaft sinnlicher Erfahrung; in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hrsg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft (Bielefeld: Transcript, 2011) S.329.

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Auch Gernot Böhmes Phänomenologiebegriff hat also das Freilegen wesenhafter Momente zum Ziel. Hinsichtlich des Themenkomplexes ,Wahrnehmen und Spracheʻ hat ein derartiges Denken nun eine recht einfache und offensichtliche Konsequenz: Nämlich die, dass ein aktives Wahrnehmen nur sehr bedingt zum Einsatz gebracht werden muss, während sich ein Großteil der Arbeit in herkömmlicher philosophischer Manier in Form eines gedanklichen Reflexionsaktes – und somit im Zuge eines sprachlich verfassten Denkprozesses ereignet.79 Eine interessante, alternative Interpretationsmöglichkeit der phänomenologischen Methode findet sich bei Maurice Merleau-Ponty. Jedenfalls wird sie hier angedeutet. Denn für Merleau-Ponty muss die zentrale phänomenologische Methode der eidetischen Reduktion nicht zwangsläufig derart verstanden werden, dass mittels dieser das Wesen eines Sachverhaltes (eines Bewusstseinsaktes bei Husserl, eines Erscheinungswesens bei Böhme) entschlüsselt wird. Vielmehr kann die Wesensschau mit Merleau-Ponty als je schon gelebte Form des Weltvollzugs aufgefasst werden, wie Thomas Fritz in einer Abhandlung zu Merleau-Pontys Phänomenologie als einer Philosophie inkarnierter Vernunft feststellt: [Es wird – Einfügung B.H.] eine für Merleau-Pontys Philosophieren typische Verschiebung spürbar [...]. Die ,Wesensschauʻ erweist sich dabei nämlich zusehends nicht als eine spezielle Methode oder epistemologische Anweisung [...], sondern als die je schon gelebte Form menschlichen Erkennens. [...] Was Merleau-Ponty über die Wesensschau sagt, scheint sie weniger zu einem epistemologischen Instrument zu bestimmen, um das Erkenntnisgeschehen, das inkarnierte Vernunft ist, verstehen zu können, als sie zu einer problematischen Formulierung dieses Geschehens selbst zu machen.80

Als „problematische Formulierung“ wird diese Interpretation der Wesensschau durch Merleau-Ponty von Fritz deshalb bezeichnet, weil sich angesichts der angedeuteten Möglichkeit einer interpretativen Verschiebung fragen lässt, inwieweit der Begriff einer ,Wesensschauʻ als solcher überhaupt noch adäquat erscheint. (Erstens 79 Bezugnahmen auf reale Wahrnehmungserfahrungen finden sich bei Gernot Böhme etwa, wenn der das Beispiel der im stillen, dunklen Zimmer surrenden Fliege gibt. Gerade dieses Beispiel verdeutlicht aber, wie wenige die Realität des Wahrnehmens letztlich ausschlaggebend für einen philosophischen Umgang mit Wahrnehmungserfahrungen sein muss. Denn, handelt es sich bei dem geschilderten Fall selbst bereits um einen prototypischen – und, wie spekuliert werden kann, möglicherweise eher erdachten denn real erlebten – Wahrnehmungsfall, so löst sich Böhmes weitere Analyse des Prozesses einer Wahrnehmungserfahrung zunehmend von dieser punktuellen Bezugnahme auf ein konkretes empirisches Erleben ab. Ähnlich verhält es sich mit den von Böhme unternommenen Typologisierungen, wie er sie im Rahmen seiner ,Phänomenologie des Lichtsʻ unternimmt. Am stärksten wird die Aktualität des Wahrnehmens indes in den Schilderungen konkreter (gebauter) menschlicher Umwelten einbezogen, welche weiteren sprachlich-philosophischen Analysen vorausgehen. So, wenn Böhme seine Impressionen einer Stadt (Paris), bestimmter Gebäudeformen (gotische Sakralarchitektur, Einkaufszentrum), oder Materialien (Spanplatte) wiedergibt. Vgl. Kap. 3 und 8.3. 80 Thomas Fritz, Eine Philosophie inkarnierter Vernunft (Würzburg: Königshausen&Neumann, 2000) S.81f.

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kann zu Bedenken gegeben werden, wie ein Vorgang einerseits philosophische Methode und andererseits zugleich je schon gelebte alltagsübliche Praxis sein kann. Zum anderen fragt sich, ob die Wesensschau als solche, also als „je schon gelebte Form menschlichen Erkennens“, überhaupt zu so etwas wie essentiellen Strukturen zurückführt. Täte sie dies, das Wesen eines Sachverhalts, eines Bewusstseinsaktes, einer wahrnehmungsgebundenen Erfahrung, etwa ,das Wesen der Farbe Blauʻ, läge bereits im Alltag immer schon offen zu Tage und bedürfte keiner weiteren philosophischen Klärung mehr.) Arnold Berleant, der sich im Gegensatz zu Gernot Böhme, für den Hermann Schmitz den zentralen post-husserlschen Referenzpunkt darstellt81, in seinem Phänomenologieverständnis explizit von Merleau-Ponty beeinflusst zeigt, scheint auch dessen ambige Positionierung zu Husserls Wesensschau zu teilen. So lobt Berleant diese zunächst mit den folgenden Worten: „The phenomenological reduction, the idea that fundamental philosophical inquiry should proceed by suspending all assumptions [...] stands as one of the great marks of twentieth century philosophy […]“, um nur wenige Zeilen später fortzufahren: „[...] while the procedure [...] is a 81 Anzumerken ist, dass Hermann Schmitz’ Neue Phänomenologie ihrerseits explizit kritisch an Husserl anschließt. So will Schmitz Phänomenologie betreiben, ohne deren transzendentalen Gültigkeitsanspruch zu übernehmen. Hierzu nimmt der Neue Phänomenologe eine doppelte Relativierung gegenüber dem Phänomenologieverständnis der ,älterenʻ (Husserl, Scheler, Heidegger) vor. Denn deren Versuch zu dem, „was sich zeigt“ (Heidegger), oder zu den „Sachen selbst“ (Husserl) vorzudringen, hält Schmitz aus gleich zweierlei Gründen für problematisch: Erstens, da es nicht möglich sei, ein Phänomen losgelöst von einem jeweilige historisch Kontext zu bestimmen; zweitens, da es ebenso wenig möglich sei, es derart zu bestimmen, dass es wirklich für alle bzw. jeden einzelnen Menschen als solches anzuerkennen sei. In diesem Sinn formuliert Schmitz: „Die Neue Phänomenologie erhebt nicht den Anspruch, etwas mit apodiktischer Gewissheit für immer und für alle feststellen zu wollen“. Hinzu kommt nach Schmitz angesichts des husserlschen Verfahrens der eidetischen Reduktion die Unmöglichkeit der Gewissheit, wirklich alle potentiell möglichen Betrachtungsperspektiven durchkonjugiert zu haben. In diesem Sinn kann niemals in strengem Sinn verifiziert werden, dass es sich um ein Phänomen handelt. Statt einer Transzendentalphilosophie wird die Neue Phänomenologie somit zu einer „durch und durch empirischen Wissenschaft, in der man immer wieder nachsehen muss, ob etwas für einen noch ein Phänomen ist“ (Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (Freiburg: Karl Alber, 2009) S.12-13). Eine gewisse Verwandtschaft zu Ludwig Wittgenstein, wie er im Weiteren behandelt werden wird, insbesondere zu dessen Begriff des ,Sprachspielsʻ, findet sich dabei insofern, als (auch) für Schmitz ein Sachverhalt immer nur „im Licht der verwendeten Sprache und des gesellschaftlich geprägten Vorrats an Gesichtspunkten“ verstanden werden kann. Ein Unterschied besteht hingegen hinsichtlich der Methode. Denn Ziel der schmitzschen Vorgehensweise ist es, „durch systematische Abschälung aller vom Belieben abhängigen Annahmen den harten Boden der Phänomene freizulegen, nämlich der Sachverhalte, die man jeweils als Tatsachen anerkennen muß, weil man sie nicht im Ernst bestreiten kann.“ (H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand (Bonn: Bouvier, 1990) S.34). Während der späte Wittgenstein – wie im Weiteren zu sehen sein wird – verstärkt der Kontextgebundenheit und heterogenen Verfasstheit von Sachverhalten Rechnung zu tragen sucht.

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useful way of calling attention to the often insidious intrusions of [...] presuppositions, it is inadequate as technique for re-grounding philosophy.“82 Auch für Berleant gilt es also, ähnlich wie für Merleau-Ponty, die husserlsche Methodik in einem konstruktiv-kritischen Sinn aufzugreifen, wobei er die husserlsche Hoffnung, zu so etwas wie essentiellen, wesenhaften Zügen und Gewissheiten zu gelangen, für grundsätzlich verfehlt erachtet. Was Berleant selbst dem husserlschen Unterfangen entgegenstellt, ist eine sogenannte Phänomenologie ohne Ontologie, als einer Vorgehensweise, die zwar bestimmte Aspekte der eidetischen Reduktion – wie das gezielte ,Einklammernʻ von unreflektierten Vorannahmen (seien dies Alltagsanschauungen oder wissenschaftliche Vorstellungen, die in diese einfließen) – übernimmt, andere hingegen – wie das Verfahren der Reduktion auf eidetische, wesenhafte Aspekte – hinter sich lässt. Dieser Schritt ist in konzeptioneller Hinsicht insofern vielversprechend, als er erlaubt, sich mit einem Schnitt aller Probleme, die sich mit der essentialistischen Grundhaltung der husserlschen Phänomenologie verbinden, zu entledigen. Andererseits zieht er unmittelbar die Frage nach sich, worauf dann, wenn nicht auf ihre wesenhaften Gehalte hin, eine Aisthetik ihre jeweiligen Gegenstände zu untersuchen habe. Die offensichtliche Gefahr besteht darin, sich in der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit der Phänomene zu verlieren, zumal von Seiten eines sprachlich verfassten Denkens auch aus Arnold Berleants Sicht keinerlei Orientierungshilfe zu erwarten ist. An das Denken richtet Berleant nämlich allein die folgende Forderung: „thinking [must – Einfügung B.H.] remain true to aisthesis“. 83 Hinsichtlich der Beziehung zwischen Sprache und aisthesis gelte hingegen: Perhaps we can think best of language as a functional symbol system that is applied to the world of experience to assist us in gaining our goals, but that has no outside correlative. [...] The mistake in assuming that they [i.e. words – Einfügung B.H.] do is committed constantly. But the unavoidable fact is that all we have is perceptual experience ordered by language on historical, conventional, and pragmatic grounds, and this ephemeral bond of praxis is the only connection there is between language and experience. For words are always false to experience.84

Für Berleant ordnet die Sprache also bestenfalls unsere Wahrnehmungserfahrungen, wobei sie historischen, konventionellen, pragmatischen Gegebenheiten unterworfen ist, während die Erfahrung selbst (und hier, in der Rede von ,der Erfahrungʻ, scheint Berleant für einen Augenblick seinem eigenen Ansinnen zum Trotz alles andere als frei von essentialistischen Anflügen) sich eher zufällig, mittels eines ephemeren Bandes, mit dieser verbunden zeigt. Um an diesem Punkt noch einmal zusammenzufassen: Was sich bei Gernot Böhme findet, ist ein – indirekter, über Hermann Schmitz vermittelter – kritischer Anschluss an Edmund Husserl und dessen Verfahren der eidetischen Reduktion. Eine mögliche Systematisierung von Aspekten, wie sie das Wahrnehmen (gebauter) 82 Vgl. Kap. 4.1. 83 Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.71. 84 Berleant bezieht sich im gegebenen Zitat auf Ferdinand de Saussure; Zitat: Arnold Berleant, Sensibility and Sense; a.a.O., S.78f.

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menschlicher Umwelt kennzeichnen, ergibt sich dabei aus den wesenhaften Strukturen der Wahrnehmungsphänomene selbst. Die Sprache spielt hingegen keine explizite Rolle, sie kann von aisthetischen Sphären prinzipiell getrennt werden. (Wobei der Umstand, dass Phänomenbereiche wie ,Farbeʻ, ,Geruchʻ, ,Wachstumʻ mit sprachlichen Einheiten, mit Begriffen, korrelieren, zwar verwundern könnte, jedoch nicht weiter thematisiert wird.) Bei Arnold Berleant wird hingegen nicht allein kritisch mit Husserl verfahren, sondern es wird hinsichtlich des Gedankens der Reduktion auf wesenhafte, essentielle Aspekte ein expliziter Bruch vollzogen. Dies bringt den Vorteil mit sich, dass Probleme, wie sie sich mit einer essentialistischen Grundhaltung verbinden, mit einem Schlag überwunden werden, lässt aber die Frage auftauchen, nach welchen Gesichtspunkten dann, wenn nicht hinsichtlich zu Grunde liegender essentieller Strukturen, eine Orientierung im schier unüberschaubaren Gegenstandsgebiet des Wahrnehmens (gebauter) menschlicher Umwelt möglich ist. Denn auch bei Arnold Berleant bleibt die Sprache ein der aisthetischen Wahrnehmungsrealität Äußerliches. Als beachtenswerte Mittlerposition verbleibt in diesem Fall MerleauPonty. Denn bei diesem wird eine Möglichkeit angedeutet, nach der die vermeintliche ,Wesensschauʻ Husserls möglicherweise vielmehr im Sinn des Nachzeichnens einer im alltäglichen Umweltvollzug je schon gelebten Erfahrungswirklichkeit interpretiert werden sollte. Dieser Gedanke könnte sich mit Arnold Berleants Vorstellung einer ,Phänomenologie ohne Ontologieʻ durchaus produktiv verbinden lassen – und er könnte hinsichtlich des letztlich bei Gernot Böhme wie bei Arnold Berleant unerklärt gebliebenen (bzw. für allein kontingent erklärten) Korrelierens von sprachlichen Entitäten und Wahrnehmungsphänomen aufschlussreich sein. An diesem Punkt, zu Ludwig Wittgenstein. Wittgenstein zu Sprache und Farbe Ludwig Wittgensteins Denken, das richtiger vielleicht als kontinuierliches philosophisches Arbeiten bezeichnet werden sollte, lässt sich nicht in wenigen Sätzen auf den Punkt bringen. Grund hierfür ist die Verfasstheit dieses Arbeitens selbst, in dem es intendiertermaßen den einen Punkt nicht gibt. Dies gilt insbesondere für Wittgensteins späteres Arbeiten, von dem im Weiteren die Rede sein wird und dem es sich zunächst über einige Seiten hinweg zu überlassen gilt, ehe abschließend, im Zuge eines Fazits, eine Rückbindung an die oben gestellte Ausgangsfrage erfolgen kann. Im Vorwort zu seinen Philosophischen Untersuchungen, die den Übergang vom mittleren zum späten Arbeiten des Philosophen markieren, merkt Wittgenstein selbst diesbezüglich an: Nach manchen mißglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem [...] Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, daß mir dies nie gelingen würde [...]. Und dies hing freilich mit der Natur der Untersuchung selbst zusammen. Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedankenfeld, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen.85

Mit dieser für Wittgenstein ungewöhnlichen, da summarisch zur eigenen Methodik Stellung nehmenden Aussage, ist bereits viel über die Herangehensweise gesagt, 85 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; in: ders., Werkausgabe Band 1; a.a.O., S.231.

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welche das spätere Arbeiten des Philosophen prägt: Nicht die Methode – auch nicht das auf Sprache ausgerichtete Philosophieren, dessentwegen Wittgensteins Ansatz oft auf eine reine kritische Sprachphilosophie verkürzt wird – ist es, die den Charakter und die Gestalt einer Untersuchung vorgibt. Vielmehr ist es die „Natur der Untersuchung selbst“, wie Wittgenstein sagt. Diese generiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern vielmehr erst aus dem Korrelieren mit einem jeweiligen Untersuchungsgegenstand. Denn, wie eine genaue Lektüre des Zitats klar macht, was die Untersuchung tut, ist ja zunächst einmal nichts anderes, als sich in einem bestimmten Gegenstandsgebiet zu bewegen. Die Bewegungsrichtung eines „kreuz und quer“ wird hingegen durch die Eigendynamik des Untersuchungsfeldes erzwungen. In gewissem Sinn könnte man also sagen, dass hierbei der Charakter einer Untersuchung und der Charakter eines Untersuchungsgegenstandes in eins zusammenfallen. Ähnlich einer Negativabformung und eines positiv abgeformten Gegenstandes bedingt das eine das andere. Wie äußert sich diese Vorgehensweise nun angesichts eines konkreten Untersuchungsfeldes? Zum Gegenstandsgebiet der Sprache gibt Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen folgendes Bild: Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.86

Für Wittgenstein, wie er uns in diesem Zitat entgegentritt, ist das Gegenstandsgebiet der Sprache also kein planes Feld, das nach allen Richtungen hin, ganz nach Belieben befahren werden könnte. Die Untersuchung der Sprache gleicht demgemäß auch keinem Schiff, das sich „kreuz und quer“ frei übers offene Meer bewegen könnte, während sein ,Echolotʻ (sprich: eine vorgegebene Untersuchungsmethode, etwa jene der sprachkritischen Analyse) von erhabenem Punkt aus und in alle Richtungen hin gleichmäßig den harten Untergrund sondierte. Vielmehr müssen wir uns, um uns mit Sprache befassen zu können, in diese selbst hineinbegeben. Oder, richtiger formuliert: Aus der Stadt der Sprache führt, auch und gerade in der Auseinandersetzung mit dieser, kein Weg heraus (jedenfalls keiner, der selbst noch sprachlicher Natur wäre). Woran aber können wir uns nun in der ,Stadt der Spracheʻ orientieren? Und wonach haben wir, als Untersuchende dieser Stadt, überhaupt Ausschau zu halten? Eine erste Vermutung, wie sie der frühe Wittgenstein in seinem Tractatus logicophilosophicus selbst noch gehegt hatte, könnte lauten, dass es wohl einen irgend gearteten ,Masterplanʻ geben müsse. Demgemäß würde die Aufgabe einer die Sprache untersuchenden Person darin bestehen, diese grundlegende Ordnungsstruktur der Sprache so lange Stück für Stück offenzulegen, bis sich ein Masterplan in seiner Gesamtheit abzeichnet. (Und da, wo dieser verschüttet ist, wäre er eben freizulegen. – Eine befriedigende und nicht gerade geringe Ausgabe, wie es scheint.) Dabei stellt sich nun aber, wie Wittgensteins Zitat aus späterer Zeit verrät, ein Problem: Und 86 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; in: ders., Werkausgabe Band 1; a.a.O., S.245.

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zwar, dass manche Viertel (die neuen Vororte) einer bestimmten Ordnung folgen mögen, dass dieses Ordnungsmuster aber nicht einfach auf alle anderen Stadtteile (wie die historisch gewachsenen Altstadtviertel mit ihrem „Gewinkel von Gäßchen und Plätzen“) übertragen werden kann. Eine einheitliche Ordnung der Stadt kann also weder von vornherein vorausgesetzt, noch gleich einer Matrize im Nachhinein abgezogen werden. (Denn dazu müsste man ja, um im Bild zu bleiben, einen erhöhten, archimedischen Punkt einnehmen, von dem aus sich die Matrize abziehen ließe. Hierzu stünden jedoch erneut allein sprachliche Mittel zur Verfügung.87) Und als ob dieser Umstand für die nach Orientierung suchenden Forschenden nicht schon schlimm genug wäre, ist noch nicht einmal die umgekehrte Schlussfolgerung möglich, also jene, die Stadt folge dann wohl schlicht und einfach gar keiner vorgegebenen Ordnung, sie stelle ein beliebiges Gewirr dar (das demgemäß, potentiell, auch jederzeit demontierbar und beliebig konstruktiv neu zu errichten wäre). In einzelnen Teilbereichen mögen bestimmte, wenn auch unterschiedliche und in ihrer Ausdehnung beschränkte Ordnungsstrukturen, aber durchaus existieren. Was letztlich bleibt, ist also nichts, als sich der Begehung der Stadt auszuliefern – und das gemäß dem, was diese vorgibt. Wie verhält es sich nun mit einem anderen Gegenstandsgebiet, nicht jenem der Sprache, sondern einem wahrnehmungsbezogenen, wie dem der Farben? In den unterschiedlichen Schriften Wittgensteins finden sich seit dem Tractatus immer wieder lose verstreute Bemerkungen zum Thema. Viele dieser Bemerkungen könnten den Anschein erwecken, dass auch die Farben allein im Sinn eines sprachlich zugänglichen Phänomenbereichs (eines bestimmten ,Stadtviertelsʻ der Stadt der Sprache) thematisiert werden. Um ein Beispiel zu geben: In seinen Philosophischen Bemerkungen88 befasst sich Wittgenstein mit der Formulierung ,zwischenʻ, wie sie in ,Orange liegt zwischen Rot und Gelbʻ oder in ,Rot liegt zwischen Violett und Orangeʻ Verwendung findet. Für den sprachkritischen Philosophen lassen sich hier zwei unterschiedliche Verwendungsweisen konstatieren. Während im ersten Fall der Sachverhalt einer Mischung von zwei Farben bezeichnet wird, die zudem graduell stark verschieden sein kann, meint der zweite Sachverhalt, obwohl der sprachlichgrammatischen Form nach gleich, eine ganz bestimmte Farbe, eine Primärfarbe, bzw. „einfache Farbe“, wie Wittgenstein sagt, von der beide anderen Farben etwas an sich haben, ohne dass dieses Dazwischen-Liegen eine Mischung wäre.89 Nun ist es allerdings keineswegs eine sprachliche Spitzfindigkeit allein, die Wittgensteins Aufmerksamkeit weckt. Denn die zitierten Formulierungen scheinen nicht zuletzt in irgendeiner Form mit der Vorstellung des Farbdreiecks (bzw. Farbzirkels), als üblicher Repräsentationsform von Farben, zu korrelieren. Die Sprache passt dabei nur auf den ersten Blick mit der ,Grammatik der Farbenʻ zusammen, nicht aber auf 87 Eine sogenannte Metasprache, die sich über eine bestehende legt, gliche in der Sichtweise, die Wittgensteins Bild der Stadt suggeriert, weniger einem ,wesenhaften Planʻ, als vielmehr einem massiven urbanistischen Eingriff, sozusagen der artifiziellen Errichtung einer zweiten Etage, die sich über die ersten Etage der Stadt legt. Um aber wirklich das Ganze im Blick zu haben, müsste eine dritte, vierte, fünfte Etage usw. ad infinitum hinzukommen. 88 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen; Werkausgabe Band 2 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984). 89 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen; Werkausgabe Band 2; a.a.O., S.276f.

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den zweiten Blick (wobei ,Grammatikʻ hier im Sinn einer Art immanenter Ordnung, einer „Geometrie“ oder „Logik“, wie Wittgenstein auch sagt, zu verstehen ist). Woran sich Wittgenstein konkret stört, ist die Art und Weise, wie Farben konventionell gemäß eines Dreiecks oder Kreises arrangiert werden – ein Arrangement, das für sein Dafürhalten nicht mit der Erfahrungswirklichkeit von Farben übereinstimmt. Hier wird also ein von einem reinen ,Sprachphilosophenʻ kaum zu erwartendes Interesse deutlich. (Denn es geht nicht etwa um die ,Grammatikʻ oder ,Logikʻ der Farbbegriffe, es geht um die ,Logikʻ oder ,Grammatikʻ der Farben selbst.) Dabei hatte sich Wittgenstein, wie Byong-Chul Park in einer Arbeit über phänomenologische Aspekte in Wittgensteins philosophischem Arbeiten herausstellt, schon sehr früh mit der wahrnehmungsgebundenen Erfahrungsrealität von Farben befasst. One of the persistent themes in Wittgenstein's philosophy is the concept of color. It is evident that Wittgenstein takes up the problem of color from his early period on. He mentions color only a few times in the Tractatus, but with very important ideas [such as – Einfügung B.H.] the concept of color-space, which constantly continues to appear in his later writings about color concepts [...]. The introduction of color-space that cannot be separately understood without reference to visual space suggests Wittgenstein's concern is not with physical colors but phenomenological colors from the initial stage of his philosophy.90

Parks Vermutung, dass Wittgenstein sich den Farben nicht allein im Sinn eines sprachlichen oder physikalischen Gegenstandsgebietes nähert, bekräftigt Wittgenstein – jedenfalls der spätere Wittgenstein – auch explizit, wenn er formuliert: Was ich brauche, ist eine [...] phänomenologische Farbenlehre, keine physikalische und ebensowenig eine physiologische. Und zwar muß es eine rein phänomenologische Farbenlehre sein, in der nur von wirklich Wahrnehmbarem die Rede ist und keine hypothetischen Gegenstände – Wellen, Zellen etc. – vorkommen.91

Seinen Niederschlag findet dieses Interesse an dem „phänomenologischen Problem“ Farbe insbesondere in dem Versuch, ein konventionelles Farbmodell (Dreieck oder Zirkel) durch andere, adäquatere Modelle der Wahrnehmungsrealität von Farben zu ersetzen. Dabei denkt Wittgenstein, angeregt durch eine Auseinandersetzung mit Goethes Farbenlehre (die für ihn ebenfalls keine physikalische, da von „Verachtung [...] für das Experiment im Laboratorium“92 geprägte Auseinandersetzung mit Farben darstellt), zunächst einmal an ein Farbquadrat, das als vierte primäre Farbe neben

90 Byong-Chul Park, Phenomenological aspects of Wittgenstein's Philosophy (Dordrecht: Kluwer, 1998) S.135; zu einer Gegenüberstellung von Wittgenstein und phänomenologischem Gedankengut siehe auch: Nicholas F. Gier, Wittgenstein and Phenomenology – A Comparative Study of the Late Wittgenstein, Husserl, Heidegger and Merleau-Ponty (New York: State University of New York Press, 1981). 91 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen; Werkausgabe Band 2; a.a.O., S.273 92 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen; in: ders., Werkausgabe Band 8 (Frankfurt: Suhrkamp, 1984) S.465.

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Rot, Gelb, Blau, die Farbe Grün inkorporiert.93 Im Gegensatz zu einem Kreis besitzt die Form des Vierecks den Vorzug, dass sie erlaubt, primäre Farben als Eckpunkte zu mar-kieren. Doch damit nicht genug. Weiter gilt es, die Aspekte von Helligkeit und Dunkelheit zu inkorporieren, wobei die besondere Verfasstheit von Schwarz und Weiß, welche gewissermaßen an den Grenzen der Farben liegen, berücksichtigt werden muss. Wittgensteins Lösung: Ein Farboktaeder – also eine achtflächige, an ihren quadratischen Grundflächen zusammengesetzte Doppelpyramide, bei der die vier Eckpunkte der Äquatorialebene die vier Primärfarben, die beiden Spitzen jeweils Schwarz und Weiß markieren. Wittgenstein selbst hierzu: Der Farbraum wird [...] dargestellt durch das Oktaeder, mit den reinen Farben an den Eckpunkten, und diese Darstellung ist eine grammatische [...] Die Oktaeder-Darstellung ist eine übersichtliche Darstellung der grammatischen Regeln.94

Die Oktaeder-Darstellung erscheint Wittgenstein nun also „übersichtlich“ und durchaus adäquater als jene des Farbdreiecks oder des Farbkreises, allerdings, noch keinesfalls adäquat.95 Dieses Problem wird der Philosoph in seinen spätesten Schriften, den Bemerkungen über die Farbe, aufgreifen. Hier scheint Wittgenstein mittlerweile auch klar geworden zu sein, dass es angesichts der Erfahrungsrealität von Farben nicht allein Oberflächenfarben zu beachten gilt, etwa derart, wie Bücher, Tische, Stühle eine Farbwirkung besitzen. Stattdessen müssen auch Farbwirkungen von flüssigen oder durchsichtigen Medien, wie sie farbiges Wasser oder Buntglas aufweisen, einbezogen werden. Eine mögliche Lösung könnte freilich lauten, unterschiedliche Farboktaeder als Modell zu Grunde zu legen, etwa einen für Oberflächenfarben und einen für transparente Farben. Doch auch damit wäre für Wittgenstein offenbar noch kein hinreichendes Modell gegeben. Denn hinzu kommt bspw. das Problem der Trübheit. So „scheint [...] schwarz eine Farbe zu trüben, Dunkelheit jedoch nicht. Ein Rubin also könnte danach immer dunkler werden, ohne doch je trüb zu werden, 93 Vgl. George Eduard Moore, Wittgenstein Lectures in 1930-33; in: Ludwig Wittgenstein, Philosophical Occasions; herausgegeben von James Klagge/Alfred Nordmann (Indianapolis: Hackett, 1993) S.108 94 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen; in: ders., Werkausgabe Band 2; a.a.O., S.51f. 95 So spricht Wittgenstein auch angesichts des Farb-Oktaeders noch von einer „beiläufig[en]“, bzw. ,vagenʻ, ,ungefährenʻ Darstellung (wie die Formulierung ,beiläufigʻ in der englischen Ausgabe durch die Übersetzung mit „rough representation“ interpretiert wird). Alternativ zur Doppelpyramide denkt Wittgenstein zudem das Modell des Doppelkegels an. Dieser besäße den Vorteil, dass die Äquatorialebene, mit ihrer kreisförmigen Fläche, weder drei (Blau, Rot, Gelb), noch vier (Blau, Rot, Gelb, Grün) sondern gar keine Farbe als ,primärʻ auszeichnet. Jenseits rein farbtheoretischer Überlegungen ist dies von Bedeutung, als sich im Schwanken zwischen dem Modell mit viereckiger Äquatorialebene und kreisförmiger Äquatorialebene letztlich auch das Schwanken des ,mittleren Wittgensteinʻ zeigt, zwischen der Suche nach Ordnung, Klarheit, Übersicht (nach welcher der frühe Wittgenstein fahndet) und einem sich zunehmend dem, was Gegebenen und allein als solches aufzudecken ist, überlassenden Wittgenstein der Spätphase (mehr hierzu: oben, sowie in Fn. 99). Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen; Werkausgabe Band 2; a.a.O., S.278.

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würde er aber schwarzrot, so würde er trüb.“ Aus diesem Sachverhalt zieht Wittgenstein den folgenden Schluss: „Nun, Schwarz ist eine Oberflächenfarbe. Das Dunkel nennt man keine Farbe.“ (Oder in anderen Worten: Während Schwarz im Oktaeder der Oberflächenfarben an der inneren Grenze liegen müsste, somit noch Farbe wäre, läge es in Gestalt eines absoluten Dunkel an der äußeren Grenze des Modells transparenter Farben. Hellstes Gelb und dunkelstes Blau wären hier die extremst möglichen Farben, die noch als solche bezeichnet werden können.96) Erste, kleine Brüchigkeiten tun sich also hinsichtlich des Oktaeder-Modells auf. Doch auch damit noch nicht genug. Denn, wie Wittgenstein nun weiter feststellt: Selbst einzelne Farben verhalten sich nicht immer gleich. Während bspw. Rot oder Weiß (so in Form von Rotglut oder Weißglut) leuchten können, kann Grau dies nie: „Was leuchtend aussieht, sieht nicht grau aus. Alles Graue sieht beleuchtet aus.“97 Weiß hingegen kann als Flüssigkeitsfarbe in opaker Form auftreten (Milch), nicht aber als transparente Farbe: „Weißes Wasser wird man sich nicht denken können“98, während andere Farben, Grün, Blau, Gelb etwa, ebenso opak wie transparent zu sein vermögen. Wittgensteins Farbanalysen kann an dieser Stelle leider nicht weiter en detail nachgegangen werden, obwohl sie bereits für sich genommen – hinsichtlich des Phänomenbereichs Farbe – äußerst aufschlussreich für eine Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt sind.99 Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und (aisthetischem) Wahrnehmen sind Wittgensteins Analysen nun aber in verschiedener Hinsicht von allgemeinerem Interesse: Erstens, da der späte Wittgenstein, anders als angesichts des Wittgenstein des Tractatus noch zu vermeinen wäre, gerade nicht auf der Suche nach einer Logik der ,Logik der Farbenʻ im Sinn einheitlicher Ordnungsstrukturen oder essentieller wesenhafter Momente ist. Zwar verwendet 96 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Farbe; in: ders., Werkausgabe Band 8; a.a.O., S.72f. 97 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Farbe; in: ders., Werkausgabe Band 8; a.a.O., S.20. 98 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Farbe; in: ders., Werkausgabe Band 8; a.a.O., S.18. 99 Wenn angesichts derartiger Modelle in oben gegebenem Zitat von einer „grammatischen Repräsentation“ die Rede war, so liegt dies daran, dass Wittgenstein zunächst noch auf der Suche nach einer allein immanenten ,Logikʻ, oder wie er auch sagt, einer ,Geometrieʻ oder ,Grammatikʻ der Farben war. Spätestens mit der Unmöglichkeit, alle Erscheinungsformen von Farbe hinreichend in Gestalt des Farboktaeders zu repräsentieren, erweist sich dieser Versuch jedoch als brüchig. Denn ähnlich wie die ,Grammatikʻ der Sprache – die hier nicht als Grammatik im üblichen Sinn eines Regelwerks, sondern als gelebte, organische Struktur zu verstehen ist –, so scheinen sich auch die Farben, als Wahrnehmungsfarben wie eine ,alte Stadtʻ zu verhalten. Zwar erweisen sie sich, anders als die Sprache, im Groben gemäß eines kreisförmigen oder genauer eines quadratischen oder noch genauer eines oktaederförmig repräsentierbaren Masterplans ausgelegt. Letztlich, angesichts einer ganz nahen Betrachtungsdistanz, weisen aber auch sie, Wittgensteins Analyse macht es deutlich, nicht nur regelmäßige, sondern ebenso „verwinkelte Gäßchen und Plätze“ auf (was in letzter Konsequenz bedeutet: Nur weil etwas für die eine Farbe gilt, muss es für die andere Farbe nicht gleichermaßen zutreffend sein).

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Wittgenstein auch später noch Ausdrücke wie ,Geometrieʻ, ,Grammatikʻ oder ,Logikʻ der Farben. Derartige Formulierungen sollen jedoch nur verdeutlichen, dass es in diesem Bereich wahrnehmungsgebundene Eigenlogiken gibt, denen es zu folgen gilt. Dass diese Eigenlogiken dabei de facto das Korsett einer modellhaft illustrierbaren oder allgemein sprachlich fassbaren Regelhaftigkeit sprengen und stattdessen verlangen, sich einem regellosen Gewinkel und Gewirr ebenso offen zu überlassen wie möglichen partiellen Regelhaftigkeiten, dies zeigt Wittgenstein auf höchst sensible Weise in seinem aktiven Umgang mit den Farben. Zweitens – und dies ist ein nicht minder bemerkenswerter Punkt – wird deutlich, dass Wittgenstein eben gerade nicht allein über Farben spricht oder nachdenkt. Denn diese liegen als Wahrnehmungserfahrungen, zumindest zu einem guten Teil, außerhalb einer allein sprachlich fassbaren Realität. Die ,Stadt der Spracheʻ zu verlassen ist einem Philosophen, wie nun deutlich wird, also doch möglich. Nur eben nicht auf konventionell philosophischem Weg, d.h. dem Weg des sprachgebundenen Denkens. Aspekte wie leuchtende Farben, opake Farben, Oberflächenfarben, transparente Farben – das alles sind Regionen, die nicht vom Standpunkt der Sprache allein aus erschlossen und untersucht werden können. Hierzu bedarf es vielmehr einer eigenen Methodik, die sich mutig in die Sprache und in das aktive Wahrnehmen hineinbegibt. Ebenso wie ein Nachdenken über sprachlich-verfasste Probleme mit Wittgenstein dabei richtiger als ein Nachdenken in der Sprache bezeichnet werden sollte, so fordert auch der Bereich des Wahrnehmens eine immanente Herangehensweise. „Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!“100, könnte in diesem Sinn ein wegweisendes – und angesichts des Wahrnehmens von Farben durchaus wörtlich zu nehmendes – Motto sein, dass Wittgenstein einer Aisthetik (aber auch einem philosophischen Arbeiten im Allgemeinen) mit auf den Weg gibt. Wittgenstein zur Verbindung von Sprache und Farbe Eine dritter interessanter Aspekt zeigt sich im Themenfeld ,Wahrnehmen und Spracheʻ hinsichtlich möglicher Übergänge oder Berührungspunkte zwischen beiden Bereichen. So war bisher von Sprache und Farbwahrnehmen die Rede, als handle es sich für Wittgenstein dabei um zwei strikt getrennte Gefilde, von denen eines mit sprachlich-reflexiven Mitteln, eines mittels wahrnehmend-reflexiven Mitteln zu erkunden sei. In der Tat schien der frühe Wittgenstein noch von einer derartigen Trennung auszugehen. In diesem Sinn, nämlich als ein in sich geschlossenes sprachliches Gefüge, ist auch der strenge, hierarchisch in Ober- und Unterpunkte gegliederte Aufbau seines Tractatus zu verstehen. Eine formale Ordnung, die eine inhaltliche Entsprechung besitzt: Fügt man dessen erste Obersätze nämlich quersummenartig zusammen, so lesen sich diese wie folgt: ,Die Gesamtheit aller sinnvollen Sätze ist das logische Bild der Welt.ʻ101 Oder in anderen Worten: Alles, was sich sagen lässt, 100 Wobei dieses „schau!“ angesichts anderer Wahrnehmungsdimensionen um ein ,Spüre! Taste! Höre! Rieche!ʻ (u.a.) zu erweitern wäre. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; in: ders., Werkausgabe Band 1; a.a.O., S.277. 101 Satz I: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“; Satz II: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“; Satz III: „Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.“; Satz IV: „Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.“ Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logicophilosophicus; in: ders., Werkausgabe Band 1 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984).

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sollte sich auch klar sagen lassen. Wohingegen gilt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“102 Denkt man in diesem Kontext an Wittgensteins eigenes Bild der Sprache als Stadt zurück, so zeigt sich diese im Tractatus also noch von festen Mauern umgeben. Wer die Stadt verlassen will, der muss über die Mauern hinwegklettern und „die Leiter“, welche selbst sprachlicher Natur ist, „wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen“ 103 ist. Allerdings, das Bild der Leiter deutet es bereits an, selbst für den frühen Wittgenstein ist die Welt der Sprache letztlich nicht wirklich „alles, was der Fall ist“.104 Sondern hinter den Mauern liegen noch andere Bereiche, die einer allein auf dem Weg der Sprache fortschreitenden Philosophie jedoch zwangsläufig verschlossen bleiben müssen. Im Tractatus bezeichnet die Sprache also die immanenten Grenzen des Sagbaren, während das, was jenseits dieser Grenzen liegt (etwa die Gefilde der Ästhetik, der Ethik, der Metaphysik), ihr zwar entzogen scheint, dabei aber keineswegs inexistent ist. Für den späten Wittgenstein stellt sich die Lage anders dar. Zum einen hat sich die immanente Ordnung der Sprache mittlerweile als durchaus eigenwillig verfasst erwiesen, bis zu einem Punkt hin, an dem von einem ,Masterplanʻ der Stadt der Sprache – wie ihn der Tractatus noch anzustreben scheint – kein Rede mehr sein kann. Zum anderen erweisen sich auch die äußeren Grenzen des Sagbaren, also die Mauern der Stadt, zunehmend als brüchig. Diese Lageeinschätzung kommt wohl am prägnantesten in Wittgensteins bekanntem Bild des ,Sprachspielsʻ zum Ausdruck. Grundlage hierfür ist zunächst die Einsicht in die Kontextgebundenheit von Begriffen und sprachlichen Äußerungen: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.105

So lautet die prägnanteste Formulierung dieses Gedankens. Der gewohnt lapidare Tonfall, mit dem Wittgenstein seine Einsicht formuliert, könnte dabei leicht darüber hinwegsehen lassen, um was für eine einschneidende, „die Fundamente herkömmlichen Denkens bis auf den Grund“ erschütternde Feststellung es sich hierbei handelt, wie der Philosoph Thomas Rentsch erläutert, denn: Wittgensteins Sinnanalyse besagt nicht zuletzt: Kein Substantiv ohne Adjektiv, kein Adjektiv ohne Substantiv. ,Röteʻ ist: ein roter Apfel, ein rotes Kleid, rote Wangen, eine rote Rose – ,irgendetwasʻ kann nicht rot sein. Es gibt nicht ,die Röteʻ – aber ebenso nicht ,den Tischʻ, ,die Liebeʻ oder ,die Wahrheitʻ.106 102 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus; in: ders., Werkausgabe Band 1; a.a.O., S.85. 103 Ebd. 104 Vgl. Fn. 101. 105 Dieser konkreten Formulierung mag im Kontext der Passage, der sie entnommen ist (Philosophische Untersuchungen § 43) zwar eine „ganz andere Funktion“ zukommen, als die, welche ihr üblicherweise zugesprochen wird. Dieser mögliche Einwand ist im gegebenen Kontext aber zu vernachlässigen. Vgl. Elke von Savigny (Hrsg.), Ludwig Wittgenstein – Philosophische Untersuchungen (Berlin: Akademie Verlag, 1998) S.8. 106 Thomas Rentsch, Negativität und praktische Vernunft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000) S.346.

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Oder in anderen Worten: Es gibt keine Ontologie, keine Reich der Ideen, kein essentielles Wesen, das hinter einem Sachverhalt verborgen läge. Und somit ist es auch ... müßig und ohne Nutzen [...] von den Charakteren der einzelnen Farben zu reden. Man denkt eigentlich dabei nur an spezielle Verwendungen. Daß Grün als Farbe einer Tischdecke die, Rot jene Wirkung hat, läßt auf ihre Wirkung in einem Bild keinen Schluß zu.107

Weder können also einzelne Begriffe (das Wort ,rotʻ) losgelöst von ihren jeweiligen konkreten sprachlichen Verwendungsweisen betrachtet werden (man denke etwa an ,Ich sehe rot.ʻ versus ,Ich sehe das rote Auto.ʻ), noch können einzelne Aspekte des Wahrnehmens aus ihren konkreten Wahrnehmungszusammenhängen (,Ich sehe ein rotes Auto, das neben einem anderen Auto parkt, das mir im direkten Vergleich nun eher orange erscheint.ʻ) isoliert werden. Doch diese Kontextualität hat noch weiterreichende Konsequenzen. Ebenso wie Begriffe in Sätze und Sätze in Sprachkontexte eingebettet sind, so sind diese für den späteren Wittgenstein ihrerseits wieder in eine alltägliche menschliche Lebenspraxis eingebettet. Auch Sprache und Wahrnehmen sind also miteinander „verwoben“. 108 Wie eine derartige ,Verwobenheitʻ konkret vorgestellt werden kann, dies führt Wittgenstein zwar nicht explizit am Beispiel des (Farb-)Wahrnehmens, dafür aber an jenem der „Empfindungen“ aus: Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen? [...] Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen.109

Sprache ,bildetʻ das Empfinden also nicht einfach ,abʻ, denn „der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt“ hier ja „das Schreien und beschreibt es nicht.“110 Die formalen Strukturen der Sprache lassen sich somit auch nicht einfach von ihren jeweiligen, vermeintlichen ,Inhaltenʻ oder ,Gegenständenʻ trennen. Denn eine sprachliche Äußerung kann selbst Handlung (und nicht Abbild) sein.111 Dieser Umstand ist es auch, den Wittgenstein mit dem Begriff des ,Sprachspielsʻ zum Ausdruck bringt: Das Wort ,Sprachspielʻ soll [...] hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.112

107 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen; in: ders., Werkausgabe Band 8; a.a.O., S.571. 108 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; in: ders., Werkausgabe Band 1; a.a.O., S.241. 109 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; in: ders., Werkausgabe Band 1; a.a.O., S.357. 110 Ebd. 111 Siehe hierzu Fn. 113. 112 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; in: ders., Werkausgabe Band I; a.a.O., S.250.

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Als ,Spielʻ bezeichnet Wittgenstein derartige Interaktionen insofern, als gewisse ,Regelnʻ erlernt worden sein müssen, um ein bestimmtes Sprachspiel praktizieren zu können. So würde etwa, am Beispiel der Schmerzempfindungen, der Schmerzensausruf ,Au!ʻ keinen Sinn machen für jemanden, der ein derartiges Schmerzverhalten nicht, oder eben ganz anderes, gelernt hat. Um aber ,Au!ʻ rufen zu können, muss ich dieses Sprachspiel erlernt haben und es muss Teil meines Alltags, meiner Sozialisation, meiner kulturellen Praxis, oder kurz, wie Wittgenstein sagt, meiner Lebensform sein. Auf das Verhältnis von Wahrnehmen und Sprache rückbezogen bedeutet dies nun letztlich: Auch Wahrnehmungsbegriffe (Farbwörter) können nicht allein auf ein ,rein phänomenalʻ Wahrgenommenes zurückgeführt werden, das sie abbilden würden. Sondern: Sie sind mit diesem ,verzahntʻ. 113 Das phänomenale Wahrnehmen von Farben ist im Kontext all dessen zu sehen, was ich über Farben je gelernt habe und wie ich Farben zu sehen gelernt habe: Farbwörter, Farbtabellen, Farbmetaphorik, Farbsignale, farbige Autos, farbige Kleidungsstücke, Farben in der Natur, physikalische Lichtwellen, der physiologische Aufbau des Sehapparates – all dies sind unterschiedliche Bestandteile des mannigfaltigen Sprachspiels Farbe. Weder kann dabei ein Teilaspekt auf einen anderen reduziert werden (etwa Farbwörter auf physikalische Lichtwellen), noch ist es möglich, die Wahrnehmungsrealität der Farben aus ihren unterschiedlichen Kontexten zu isolieren. (Beispiel: Ich kann nicht ,die Rotwahrnehmungʻ aus dem Wahrnehmen der roten Ampel, aus der roten Rose, oder dem Ausruf ,Ich sehe rotʻ isolieren. Denn in einem Fall spiele ich das Sprachspiel Wutverhalten, im anderen das Sprachspiel Liebesbekundung, im wieder anderen das Sprachspiel Verkehrsregeln. Habe ich eines der Sprachspiele nie erlernt, weil es nicht zu meiner Lebensform gehört, die spezifische Bedeutung der Farbwahrnehmung wird sich mir nie erschließen – ja, die Wahrnehmung selbst wäre eine andere, denn: Weiß ich nicht, was eine Ampel ist oder was Verkehrsregeln sind, ich werde auch die rote Ampel nicht als rote Ampel und somit als Signal sehen.) Was ist von Wittgenstein angesichts des Problemfeldes ,Sprache und Wahrnehmenʻ zu lernen? Wittgensteins philosophisches Arbeiten könnte einer Aisthetik hinsichtlich des Problemfeldes ,Sprache und Wahrnehmenʻ gleich in dreierlei Hinsicht einen Weg weisen: Erstens, da es mahnt, nicht ,wesenhafte Momenteʻ in einen Untersuchungsgegenstand hineinzuinterpretieren, sondern vielmehr das jeweils Gegebene so genau wie möglich aus sich selbst heraus nachzuzeichnen. In dieser Hinsicht trifft sich Wittgensteins Ansatz mit einer (engeren und weiteren) phänomenologischen Tradition ebenso, wie es dieser zuwiderläuft. Wie Edmund Husserl, Hermann Schmitz oder Gernot Böhme nimmt es seinen Ausgangspunkt in einer genauen Analyse der alltäglichen Lebenswelt (des alltäglichen Wahrnehmens, des alltäglichen Erlebens, der Alltagssprache), wie Arnold Berleants Phänomenologie ohne Ontologie weist es dabei eine 113 Oder, wie Wittgenstein selbst, seine oben wiedergegebene berühmte Formulierung zu Bedeutung und Gebrauch eines Wortes, andernorts variierend sagt: „Nur im Fluß des Lebens haben die Worte ihre Bedeutung“ Ludwig Wittgenstein, Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie; G.H.Wright/Heikki Nyman (Hrsg.), Bd.1, §913 (Oxford: Basil Blackwell, 1982) s.118.

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Rückführung auf wesenhafte Momente zurück. Mit Merleau-Ponty nicht unverwandt, richtet es sich stattdessen auf das Nachzeichnen einer im menschlichen Weltbezug je schon gelebten Erfahrungswirklichkeit. Vor allem aber fordert es dazu auf, sich einem Untersuchungsgegenstand radikal zu überantworten und statt nach einer Essenz (sei es der harte Kern einer Sache oder eine übergreifende Struktur) allein nach dem zu fahnden, was sich jeweils im nachvollziehenden Suchen auffindet (was partielle Regelmäßigkeiten ebenso einschließt wie „die Härte des Weichen“114). Die Konsequenz einer derartigen Vorgehensweise, die durchaus darin bestehen kann, dass das Erforschen eines Gegenstandsgebietes potentiell unabschließbar wird oder dass es allein in einem Zickzackkurs erkundet werden kann, ist dabei zu tragen. Zweitens: Da es zeigt, dass Untersuchungsgegenstände nicht isoliert von ihrem jeweiligen konkreten Kontext betrachtet werden können, sondern nur in einem Zusammenhang, der jener eines bestimmten Sprachspiels, einer bestimmten Lebensform (bzw. unterschiedlicher Sprachspiele und unterschiedlicher Lebensformen) ist. Wahrnehmen lässt sich somit ebenso wenig vom Sprechen über dieses isolieren, wie sich das eine auf das andere zurück abbilden ließe. Beide Elemente verhalten sich nicht einfach wie Signifikant und Signifikat, sondern sie sind in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen auf unterschiedlichste, und jeweils im Einzelfall genau zu untersuchende Weisen, verwoben. Die Verbindung, die Wittgenstein im Kontext seiner Überlegungen zu Sprachspielen zwischen Sprache und Verhalten herstellt, haben philosophiehistorisch (vermittelt etwa über die Sprechakttheorie eines John Langshaw Austin115) nicht zuletzt dazu beigetragen, Sprache selbst in ihrer performativen, realitätskonstituierenden Kraft zu untersuchen. Anders als die unter 11.1 vorgestellten poststrukturalistischen Ansätze geht der vermeintliche Sprachphilosoph Wittgenstein jedoch keineswegs davon aus, dass die Sprache allein (etwa als maßgebliches Element von Diskursen oder in Gestalt von performativen Akten) realitätskonstituierende Kraft besitzt. Denn, drittens, muss der Gedanke, sich einem Untersuchungsgegenstand radikal zu überantworten, auch bedeuten, den Bereich des sprachlich verfassten Denkens zuweilen, fallbezogen, zu verlassen und angesichts von wahrnehmungsbezogenen Sachverhalten diesen angemessen, nämlich auch wahrnehmend, vorzugehen. Wie Wittgensteins auf sprachanalytischer und wahrnehmungsanalytischer Ebene gleichermaßen feinsinnige Betrachtungen zu Farben zeigen, sind Wahrnehmungserfahrungen dabei in ihrem vielschichtigen Wechselspiel, das sich zwischen Mensch und Umwelt, zwischen sprachlich-lebensweltlichen und eigenlogischen Wirkmechanismen – denen Wittgenstein in seinen Bemerkungen über die Farben besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt – entspinnt, zu untersuchen. Sprache, menschliche Lebensform und die Beschaffenheit des Wahrgenommenen116 114 Vgl. Kap. 1; Fn. 69. 115 Die Sprechakttheorie John L. Austins, später weiterentwickelt von John Searle, schließt an Wittgensteins Gedanken einer Verbindung von Sprache und Handeln an, indem sie die Beziehung zwischen sprachlichen Äußerungen und den Absichten und Überzeugungen der Sprechenden untersucht. Judith Butler stützt sich in ihrem Performativitätsbegriff ihrerseits auf Austin (respektive Derridas kritische Lektüre Austins). Siehe auch Fn. 73). 116 Mit der ,Beschaffenheit des Wahrgenommenenʻ sind an dieser Stelle freilich nicht ,Dinge an sichʻ gemeint, sondern eigenlogische Wahrnehmungsgegenstände, wie sie sich als eigenlogische Wahrnehmungsgegenstände im Wahrnehmen zeigen.

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gliedern also erst gemeinsam (in einem komplexen Zusammenspiel, das nicht auf eine einzelne Konstituente allein reduziert werden kann) die Realität unserer Wahrnehmungserfahrungen und somit unsere Realität als solche. Statt entweder ,rein kognitivʻ, sprachlich denkend, oder ,rein sensorischʻ wahrnehmend vorzugehen, kann von Ludwig Wittgenstein dabei in methodischer Hinsicht last, aber keinesfalls least, ein aisthetischer Grenzgang gelernt werden, der bald sprachlich, bald wahrnehmend, bald beides verbindend voranschreitet. Auch auf Seiten einer ,theoretischenʻ, ,philosophischenʻ Reflexion wird aisthesis somit nicht nur zum Gegenstand, sondern gleichzeitig zum Mittel des Forschens.117

117 Oder in Wittgensteins Worten: „Denken ist kein unkörperlicher Vorgang […]“. Zugegeben entstammt dieses Zitat einem spezifischen Kontext. Sicher wäre aber interessant gewesen, wie weit der vergleichsweise früh verstorbene Wittgenstein selbst noch in seinen differenzierten und immer weiter differenzierenden Betrachtungen zum Zusammenhang von Denken und Physis, Sprache und Wahrnehmen gegangen wäre. Dass er analog zu seiner Auseinandersetzung mit Begriffen, die in Sprachspiele und Lebensformen eingebettet sind, nicht auch angesichts einer Diskussion des Leibes die wahrgenommene Umwelt im Sinne eines unabdingbaren Kontexts menschlicher Wahrnehmungsvollzüge anerkannt und thematisiert hätte, ist jedenfalls schwer vorstellbar. (Siehe auch Kap. 5.2.) Zitat: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; in: ders., Werkausgabe Bd.1 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984) S.387.

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L ITERATUR

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Architektur und Design Eduard Heinrich Führ Identitätspolitik »Architect Professor Cesar Pinnau« als Entwurf und Entwerfer September 2016, 212 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3696-3 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3696-7

Judith Dörrenbächer, Kerstin Plüm (Hg.) Beseelte Dinge Design aus Perspektive des Animismus September 2016, 168 S., kart., z.T. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3558-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3558-8

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Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3

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Architektur und Kulturgeschichte bei transcript Eduard Heinrich Führ

Identitätspolitik »Architect Professor Cesar Pinnau« als Entwurf und Entwerfer

September 2016, 212 Seiten, kart., 24,99 E, ISBN 978-3-8376-3696-7 E-Book: 21, 99 E Der Architekt Cäsar Pinnau (1906 – 1988) ist bis heute heftig umstritten: War er ein wichtiger Vertreter nationalsozialistischer Architektur? Hat sich seine Haltung in sein Wirken nach 1945 übertragen? Oder fühlte er sich zeitlebens dem überhistorischen Klassizismus verpflichtet? Eduard Führ untersucht, wie die Identität eines Architekten entworfen wird – durch selektive Zusammenstellung seiner Werke und durch unscharfe Datierungen, durch Konstruktion einer Biografie und durch Publikationen. Die Studie zeigt, wie Pinnau selbst in seinen Werken für Staat, Unternehmen und Eliten Identitäten gestaltet, und diskutiert, wie die Ansätze einer Analyse Pinnaus zu kontroversen Identitätsbestimmungen der Disziplin Architektur genutzt werden.

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