Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität 9783111348759, 9783110994896


249 60 11MB

German Pages 194 [200] Year 1960

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Α. Einführung
Β. Grundlagen einer Phänomenologie der Perspektivität
C. Grundlagen einer Psychologie der Perspektivität
D. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Autorenregister
Recommend Papers

Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität
 9783111348759, 9783110994896

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

C. F. G R A U M A N N · P E R S P E K T I V I T Ä T

PHÄNOMENOLOGISCH-PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNGEN

HERAUSGEGEBEN

VON

C. F. G R A U M A N N U N D J. L I N S C H O T E N

BAND 2

1960 W A L T E R

DE

G R U Y T E R

&

C O . / B E R L I N

VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - G E O R G R E I M E R - K A R L J. T R Ü B N E R - V E I T & C O M P .

GRUNDLAGEN EINER PHÄNOMENOLOGIE UND

PSYCHOLOGIE DER PERSPEKTIVITÄT VON

C. F. G R A U M A N N

M I T 13 A B B I L D U N G E N

1960 W A L T E R

DE

G R U Y T E R

&

C O . / B E R L I N

VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - G E O R G R E I M E R - K A R L J. T R Ü B N E R - V E I T & C O M P .

GEDRUCKT

M I T U N T E R S T Ü T Z U N G DER

DEUTSCHEN

FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. © 1960 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 Printed in Germany - Archiv-Nr. 34 99 60 Druck: Thormann & Goetsch

Inhaltsverzeichnis Seite

Α.

Einführung

1

I. Ziel und Methode der Untersuchung II. Die wissenschaftliche Situation der Untersuchung B.

Grundlagen

einer

Phänomenologie

1 1

der

Ρ ersρ ekti νität I. Die Perspektive als subjektbezogene Darstellungsform 1. Körperperspektive a) Dinge in körper-perspektivischer Darstellung a) Abschattung S. 8. — ß) Der körperbezogene Blickpunkt S. 14. b) Der Raum in körper-perspektivischer Darstellung 2. Scaenographia Exkurs über theoretische Perspektive 3. Zentralperspektive

7 7 8 8

15 16 17 19

a) Der Raum in zentralperspektivischer Darstellung a) Durchsicht und Durchsichtigkeit S. 20. — ß) HorizontStruktur S. 23.

20

b) Die Körper in zentralperspektivischer Darstellung

30

II. Die perspektivische Struktur des Weltinnewerdens 1. G. W. Leibniz

32 33

2. G. Teichmüller

36

3. F. Nietzsche

38

4. J. von Uexküll

44

5. E. Rothacker

49

6. A. Gehlen

53

7. E. Straus

56

8. L. Binswanger

60

III. Grundlagen einer Phänomenologie der Perspektivität 1. Die Struktur der Perspektivität a) Perspektivität als horizontale Verweisungs-Ganzheit b) Perspektivität und Phänomenologie der Wahrnehmung . . . . 2. Psychologisch relevante Hypothesen über Perspektivität

65 66 66 72 74

Seite

C.

Grundlagen

einer Psychologie der P e r s p e k t i v i t ä t

I. Der Geltungsbereich der Perspektivität

76 80

1. Stufen und Modi perspektivischen Welt-Innewerdens

80

a) Perspektivität im anschaulichen Gewahren α) Vorgegenständliches Gewahren S. 81. — ß) Flüchtiges Gewahren S. 86. — γ) Gegenständliches Gewahren S. 89. Exkurs: Der Sinn-Begriff in der Psychologie

80

98

ö) Monothematisdies Gewahren S. 118. b) Nicht-anschauliche Perspektivität a) Die Intermodalität des horizontalen Verweisungs-Ganzen S. 126. — ß) Perspektivität im Alltagsdenken S. 130. — γ) Perspektivität im wissenschaftlichen Vorgehen S. 135. 2. Die Perspektivität des Sich-Verhaltens

140

II. Der moüvationale Grundzug der Perspektivität

141

1. Das horizontale Verweisungs-Ganze als Motivationszusammenhang 2. Motivationale Verfestigungsformen perspektivischen haltens

141

Sichver-

a) Zur Problematik des experimentellen Ansatzes b) Motivational eindeutige Situationen α) Die Situation des Durstes S. 151. — ß) Die Situation des Hungers S. 155. — γ) Zur Reichweite motivational eindeutiger Situationen S. 160. III. Motivational ausgeprägte Funktionen kognitiven Verhaltens

D.

126

147 147 151

162

1. Funktionsanalyse und Funktionalismus

162

2. Funktionsanalysen motivational akzentuierter Perspektiven . . a) Die Experimental-Situation des Hungers S. 164. — ß) Die Experimental-Situation des Durstes S. 166. — y) Zur Reichweite und Motivation ausgeprägter kognitiver Funktionen S. 168. — δ) die aktualgenetische Herausbildung einer Hinsicht S. 171.

164

3. Motivation und Aufgabe

174

Zusammenfassung

178

Literaturverzeichnis

182

Autorenregister

192

Α. Einführung I. Ziel und Methode der Untersuchung Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung wird das menschliche kognitive Sich-Verhalten in verschiedenen psychologisch unterscheidbaren Modis stehen. Die Beschreibung dieser Verhaltensweisen soll den Nachweis erbringen, daß kognitive Situationen perspektivischer Struktur sind. Der Begriff der perspektivischen Struktur (Perspektivität) soll zu diesem Zwecke aus der Struktur der perspektivischen Darstellung entwickelt werden, wie sie der bildenden Kunst vertraut ist. Die Freilegung der perspektivischen Struktur kognitiven Verhaltens vollzog sich vor und außerhalb psychologischer Forschung in der philosophischen Reflexion über das menschliche Erkennen. Ohne eine historische Absicht zu verfolgen, soll der rein sachliche Gehalt einiger dieser Reflexionen paradigmatisch und auch nur so weit berücksichtigt werden, wie er zur Gewinnung eines psychologisch relevanten Begriffes der Perspektivität beiträgt. Der rein psychologisch gemeinte Begriff der Perspektivität bezieht sich also ausschließlich auf die empirisch, d. h. deskriptiv und experimentell aufweisbare Struktur kognitiver Verhaltensmodi. Erkenntnistheoretische Fragestellungen, wie etwa nach dem Ursprung und nach der Geltung unserer Erkenntnis, werden weder aufgeworfen, noch können sie im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung beantwortet werden. Die Unterscheidung zwischen Perspektivität und „Perspektivismus" wird diesen Unterschied verdeutlichen helfen. Methodisch bedient sich die Untersuchung der Deskription wie des Experimentes. In den bisher vorliegenden experimentellen Befunden über perspektivische Phänomene haben sich Differenzen und Scheinprobleme ergeben, die zu einem wesentlichen Teil in dem notwendig isolierenden Vorgehen der experimentellen Verfahrenstechnik begründet sind. Ihre Überwindung soll durch eine möglichst unverkürzte Deskription in einer umfassenderen Analyse versucht werden.

II. Die wissenschaftliche Situation der Untersuchung Die für die Entwicklung der neueren Psychologie wohl entscheidenste Erkenntnis ist die aus ganzheitstheoretischem Denken erwachsene Einsicht, daß das verbindliche Bezugssystem psychologischer Analyse der Mensch in seiner Situation sein muß. Die Analyse auch vereinzelnd herausgegriffener 1 1

Graumann

Verhaltens- und Erlebnisweisen ist erst dann gegen vorsdinelle Abblendungen geschützt und nur dann als vollständig anzusehen, wenn sie den situativen Zusammenhang miterfaßt, innerhalb dessen es zu einem bestimmten Verhalten oder Erleben kommt. Weder die bloß „binnenseelische", letztlich auf Introspektionen beruhende, noch die nur an äußerlich beobachtbaren „Reizen" und „Reaktionen" orientierte Analyse können diese Aufgabe erfüllen. Ein „Verhalten zu einer bestimmten Zeit" (Lewin) ist, was es ist, nur in seiner situativen Bedingtheit. Es mag gerade für eine psychologische Untersuchung von Vorteil sein, wenn auf sie selbst — als einem Produkt komplexen theoretischen Verhaltens — diese Erkenntnis angewendet und Rechenschaft darüber abzulegen versucht wird, in welcher wissenschaftlichen Situation sie entstanden und zu dem geworden ist, als was sie hier vorgelegt wird. Als erstes Motiv zu einer Untersuchung der kognitiven Perspektivität müssen wir die durchgängige Erfahrung des Aneinander-vorbei-Redens nennen. Die anfängliche Verwunderung darüber, daß Menschen, die sich versichern, daß sie ,die gleiche Sprache reden', dennoch immer wieder aneinander vorbei reden, wurde zu der zeitweilig bestürzenden Beobachtung, daß selbst im Rahmen ein und derselben Terminologie diese Verständigungsschwierigkeiten auftauchen, deren Wurzeln man gemeinhin und wohl allzurasch in der Unverbindlichkeit und mangelnden Präzision der Alltagssprache zu finden bereit ist. Sogenannte Schulstreitigkeiten gerade innerhalb der Psychologie über die adäquate Beschreibung und Definition. an sich fest umschriebener Sachverhalte spielten bei diesem Anstoß zur Untersuchung eine besondere Rolle. Nun ist die Möglichkeit, daß unsere Begriffe auf Grund ihres Allgemeinheits-Charakters verschiedenartige Sachverhalte decken und deshalb zum Aneinander-vorbei-Reden führen, selbst für die sogenannten termini technici nie ganz auszuschließen. Das Problem bliebe nach wie vor ein semantisches. Aber gerade der in der letzten Zeit von einer Reihe von Psychologen gemachte Versuch, in Anlehnung an die neopositivistische Methodologie den nach genus proximum und differentia specifica definierten .klassischen' Begriff (qua conceptus) durch ein rein operational bestimmtes Symbol (qua constructum) zu ersetzen und aus der Wissenschaft zu verdrängen [22; 231]1, hat die Problematik des Aneinander-vorbei nur vertieft. Denn die Schwierigkeit, sich univok über ein und dieselbe S adle zu verständigen, ist durch das streng operationale Verfahren nicht behoben, sondern nur als unlösbar übergangen worden, und zwar so, daß man die Sache in der Fülle 1 Die in eckigen Klammem stehenden Bezeichnungen verweisen auf das Literaturverzeichnis p. 182. Die nach einem Komma stehende Ziffer innerhalb der Klammer bedeutet die Seitenzahl.

2

ihrer Erscheinungsweisen vollständig dem Verfahren unterwirft, das zugleich das constructum liefert. ,Ausgesagt' wird also nur mehr über das Verfahren selbst [77, 176 ff.]. Der Gegenstand oder Sachverhalt, auf den sich das Verfahren richtet, kommt nur mehr in termini des rein technischen Vorgehens gegen ihn zum Ausdruck; hier erst — im rein operationalen constructum — findet der ,terminus technicus' seine Vollendung. Das hat zur Folge, daß eine eigentliche Verständigung über die psychologische Eigenart bestimmter Verhaltensweisen nicht mehr möglich und nicht mehr beabsichtigt ist. Nehmen wir als Beispiel eine sogenannte Gewohnheitsvornahme: K. raucht Kette, wenn er erregt ist. Selbst wenn es gelingen sollte, K's Erregtsein durch die Ausschläge eines Polygraphen zu ,definieren', und wenn eine statistisch zureichende Häufung der Fälle das „Wenn" des obigen Satzes legitimiert, so kann eine streng operationalistische Bestimmung (Vorhersage) dieses Verhaltens nur in einer Formel etwa nach der Methode Hulls sHr = w — w (10-hN) ihren Ausdruck finden [103, 211]. Bereits eine Übertragung dieser Symbole für „habit strength" in die „Metasprache" Englisch stellt die Ausgangsproblematik grundsätzlich wieder her. Viel entscheidender aber ist die Feststellung, daß das psychologische Interesse an dem als Beispiel genommenen Verhalten mit der Gewinnung einer Formel der obigen Art nicht erschöpft sein kann, ja daß die psychologische Eigenart dieser Verhaltensweise nicht einmal berührt wurde. Was gewonnen wurde, ist im Idealfall die Möglichkeit der Voraussage, daß K. im Falle einer physiologisch definierbaren ,Erregung', also bei erhöhter Adrenalinausschüttung, heraufgesetzter Pulsfrequenz etc., pro Zeiteinheit mehr Zigaretten rauchen wird, wobei die Zufallsgrenzen der Wahrscheinlichkeit dieser Voraussage anzugeben wären. Die Voraussage bezieht sich also ausschließlich auf dasjenige, was im angedeuteten Verfahren unter Kontrolle gehalten werden konnte, was wiederum ausschließlich durch die Art des Verfahrens festgelegt wird. Wir haben an anderer Stelle [77] zeigen können, wie jedwedes strengem Verfahren unterworfenes Verhalten sich nur mehr nach den Kriterien des Verfahrens, nicht mehr aber nach seinen eigenen Kriterien bestimmen läßt. Das besagt: die Fülle möglicher Aspekte eines Verhaltens wird zugunsten eines prinzipiell austauschbaren Verfahrensgesichtspunktes geopfert, wobei „austauschbar" sowohl heißt, daß prinzipiell beliebig viele völlig autonome Verfahren an ein und dasselbe Verhalten angesetzt werden können, als auch, daß ein und dasselbe Verfahren formal identische Voraussagen über die verschiedensten Verhaltensweisen zu machen gestattet. Der Verzicht, der in dieser methodischen Einengung liegt, wie der Vorteil dieser Verfahrenstechnik, sollen hier nicht diskutiert werden, wohl aber die psycholo1«

3

gis die Relevanz der Fülle der Aspekte angezeigt werden, die das zum Beispiel genommene Verhalten von sich her bietet. Als psychologisch relevant bezeichnen wir bereits die deskriptive Frage: Wie sieht das überhaupt aus, wenn der erregte K. Kette raucht? — eine Frage, die nicht mehr mit operationaler Methodik zu bewältigen ist; weiter die genetische Frage, seit wann er dieses Verhalten zeigt, die sozialpsydiologische, ob es sich hier um ein gruppenbedingtes oder nur in bestimmten sozialen Situationen praktiziertes Verhalten handelt; die phänomenologisch-psychologische Frage nach dem Sinn dieses Rauchens. Motivationspsychologisch fragen wir, ob K. vielleicht nicht nur raucht, wenn er erregt, sondern vielleicht, weil er erregt ist, beziehungsweise, ob er sich nicht vielleicht erregt, wenn er länger nicht geraucht hat; weiter die Frage, warum er gerade raudit, wenn er sich erregt hat; die Untersuchung der Möglichkeit, daß er raudit, wenn er sich über Vorgesetzte geärgert hat, während er andere Erregung in Schimpfen transponiert. Was erlebt K., wenn er sich so verhält, wäre für eine ganze Psychologen-Generation die vorrängige Frage gewesen; der moderne Werbepsychologe untersucht auf Grund von K's Verhalten, ob man nicht Leicht-Erregbare wie K. durch entsprechende Werbung zu Zigarrenrauchem ,machen' kann usw. Kurz, es zeigt sich, daß, ohne das Gebiet der Psychologie zu verlassen, ein umschriebener Sachverhalt eine Reihe von wissenschaftlich sinnvollen Fragen, wenn gleich verschiedener Wichtigkeit, ermöglicht, und je nach der Art der Frage wird die Methode eine andere sein. Nun wird von der Behavioristik — Stevens zieht diesen Titel mit gutem Grund dem der Psychologie vor [238] — ein Teil der hier entworfenen möglichen Fragen an einen Sachverhalt als sinnlos (meaningless) und unwissenschaftlich zurückgewiesen, weil eine Beantwortung auf dem operationalistischen als dem alleine streng wissenschaftlichen Wege — zumindest zur Zeit — nicht möglich ist. Die Erörterung solcher Fragen, vor allem die Sinnfrage gilt als sinnlos; sie wird den nichtwissenschaftlichen Lebensbereichen überlassen, als da sind: Kunst, Metaphysik und Alltagsdenken. Wir stehen also vor der Erkenntnis, daß es gerade die Fülle der sprachlich nur unvollkommen zu bewältigenden Aspekte ein und desselben zirkumskripten Sachverhaltes ist, die — um der Einheitlichkeit der Wissenschaft willen — die Einschränkung auf einen nicht mehr von der Sache her, sondern rein durch den Vollzug eines technischen Verfahrens determinierten Gesichtspunkt nach sici gezogen hat. Dieser Gesichtspunkt ist, wie es Hull etwas paradox nennt, der „uniformity point of view" des nur mehr quantifizierenden Verfahrens. Voraussetzung für diese jüngste Entwicklung auch der Psychologie, die wir als Einengung und völlige Festlegung der Erkenntnisart durch Reduktion der Sprache auf mathematisch bestimmbare Symbole kennzeichnen können, ist also gerade die Ambiguität des nicht4

naturwissenschaftlichen sprachgebundenen Erkennens, die auch nach Beseitigung semantischer Schwierigkeiten als Ambiguität grundsätzlich bestehen bleibt. Vor allen semantischen Schwierigkeiten der Kommunikation liegt also die Fülle der möglichen kognitiven Aspekte eines Sachverhaltes. In dieser kognitiven ,Aspektivität' liegt nun der zweite Anstoß für die vorliegende Untersuchung. Denn die verschiedenartigsten theoretischen wie experimentellen Bemühungen des Verfassers führten ihn immer wieder auf diesen Befund, daß ein und derselbe Sachverhalt von diesem so und von jenem so gesehen wird oder zumindest gesehen werden kann, beziehungsweise von ein und demselben zu verschiedenen Zeiten je anders gesehen wird. Dieser Befund zeigte sich dem Verfasser im Bereich des Problemlösungs-Verhaltens, indem das Anders-sehen-Können geradezu die Bedingung der Lösung wird; in der Praxis der Erziehungsberatung, deren Problemfälle nicht selten auf der Tatsache beruhen, daß Eltern sich selbst wie ihre Kinder anders sehen und verstehen als ihre Kinder sie beziehungsweise sich selbst; ähnlich in der Problematik der Reifezeit, die zu einem wesentlichen Teil in der .Undefinierten' Position des Heranwachsenden liegt, der von Fall zu Fall von Kindern als Kind, von Erwachsenen als Kind (was zweierlei ist), dann wieder von Kindern wie von Erwachsenen als ,Großer' angesehen und entsprechend behandelt wird. Der Jugendliche selbst sieht je nach Situation die nur unwesentlich Jüngeren als Kinder und behandelt wesentlich ältere Erwachsene als pares usw. Oft ist die Klärung dieser ,Sichtweisen' die notwendige Voraussetzung für die weitere Analyse wie Beratung. Andere Untersuchungen wie über den sogenannten ,Steuerwiderstand', über die Test-Situation, wie zuletzt über erste soziale Kontaktnahme und das Phänomen der Kritik erbrachten das nämliche: gerade die psychologische Analyse der genannten Phänomene und Probleme stößt immer wieder auf die Notwendigkeit, erst einmal (deskriptiv) klären zu müssen, wie der Einzelne eine Sache oder einen Sachverhalt sieht, um dann (erklärend) herauszufinden, warum er gerade so und nicht anders sieht beziehungsweise sehen kann. Daß hier, wie überhaupt im Vorigen, der Begriff des .Sehens' nicht nur im Sinne der visuellen Wahrnehmung gebraucht wurde, ergibt sich aus den angeführten Bereichen. Die Frage, ob Perspektivität das anschauliche wie unanschauliche Erkennen gleichermaßen oder doch in ähnlicher Weise durchzieht, tauchte bei den oben genannten Beobachtungen früh auf und wird in der eigentlichen Analyse berücksichtigt werden müssen. Die erste Hypothese, die sich aus diesen Beobachtungen bildete, nämlich daß Perspeküvität ein Grundzug menschlichen Erkennens sei, fand nun beim Befragen der Literatur einerseits eine bedenklich starke Unterstützung, stieß auf der anderen Seite jedoch ins Unbestimmte. Diese Diskre5

panz bildete dann den eigentlichen Anstoß, eine Klärung der Perspektivität auf psychologischer Ebene zu versuchen. Die Bestätigungen nämlidi, die das Studium der Literatur erbrachte, stammten vornehmlich aus der außerpsychologischen Literatur, vorab aus der Philosophie. Hier steht an erster Stelle Nietzsches Lehre vom „Perspektivismus" unserer Erkenntnis; es folgen — wohl in dessen Nachfolge — perspektivistische Theorien biologischer und anthropologischer Autoren, nach denen Perspektivität nicht nur, wie hypothetisch angesetzt, ein Zug, sondern Prinzip schlechthin unseres Erkennens ist. Ganz anders die Lage in der engeren psychologischen Fachliteratur: Sieht man von denjenigen Autoren bzw. Publikationen ab, die Befunde der Psychologie in anthropologischer Absicht verwenden, beziehungsweise die Fragestellungen beider Disziplinen synoptisch beantworten, so bieten psychologische Theorien bzw. Lehrbücher kaum eine Thematisierung unseres Problems; daß seine Behandlung auch unter dem Terminus „Perspektivität" oder ähnlichen Begriffen erfolge, war ohnehin nicht zu erwarten. Diese Lücke wurde aber erst befremdlich, als der Blick weiter auf psychologische Einzeluntersuchungen vorab experimenteller Methodik ging: hier eine Fülle perspektivischer Phänomene, auf die verschiedenste Weise interpretiert. Vor allem die neuere, experimentell arbeitende Sozialpsychologie, seit sie die Wahrnehmung als Forschungsgegenstand aufgenommen hat, beziehungsweise die neuere Wahrnehmungsforschung, seit sie die Grenze zur Sozialpsychologie durchstoßen hat, bieten die verschiedenartigsten perspektivischen Befunde, die aber — von überstürzten Verallgemeinerungen abgesehen — als bloße facts der theoretischen Durchdringung und Ordnung bedürften. Dieses sehr widersprüchliche Bild vom Stande unserer Erkenntnis über die kognitive Perspektivität kennzeichnet die Ausgangslage der vorliegenden Untersuchung. Aus dieser unausgeglichenen Situation heraus einerseits eine theoretische Orientierung zu versuchen, die eine systematischere Weiterarbeit erleichtern soll, zum andern die beachtlichen Lücken unseres Wissens über die Struktur unserer kognitiven Funktionen zu kennzeichnen und drittens dazu beizutragen, die eine oder andere Lücke zu schließen, wurde schließlich deswegen zum Ziel einer eigenen Untersuchung, weil Psychologie Erfahrungswissenschaft in einem doppelten Sinne ist. Einmal steht die Psychologie im klassischen Sinne des Begriffs methodisch in der Reihe der empirischen Wissenschaften, zum andern aber hat sie auch Erfahrung, d. h. die Weise, wie der Mensch wahrnehmend, denkend, fühlend und handelnd Welt erfährt, zum Gegenstand ihrer Forschung. Verstehen wir aber Perspektivität als eine bestimmte Form menschlichen Weltinnewerdens (Lersdh), so muß gerade eine psychologische Analyse dieser Perspektivität gefordert werden. 6

Β. Grundlagen einer Phänomenologie der Perspektivität I. Die Perspektive als subjektbezogene Darstellungsform Zur Gewinnung eines psychologisch relevanten Vorbegriffs der Perspektivität wendet sich die Untersuchung zunächst einer Explikation der Struktur perspektivischer Darstellung zu, wie sie sich im Verlauf der Geschichte der abendländischen Kunst entwickelt und tradiert (BI). Zusammen mit einer Analyse der Perspektivität, wie sie uns als Kategorie philosophischen und anthropologischen Denkens begegnet (BII), soll sie zu einer Phänomenologie der Perspektivität (Bill) beitragen. Diese phänomenologische Untersuchung wird jedoch nur soweit ausgeführt werden, wie es für die Vorbereitung der psychologischen Analyse erforderlich erscheint, wird also nicht über die Grundlagen einer Phänomenologie der Perspektivität hinausführen. Jeder Rüdegriff, der auf Erkenntnisse der Kunstwissenschaft gemacht werden muß, erfolgt in rein lemmatisther Hinsicht; solche Erkenntnisse haben im übrigen für den Gang unserer Untersuchung nur sekundäre Bedeutung. Die Ordnung allerdings, nach der die Untersuchung geführt werden soll, wird durch das geschichtliche Auftauchen perspektivischer Phänomene bestimmt sein, um am Leitfaden der Entwicklung der Perspektive erkennen zu können, was ursprünglich und notwendig, was Überformung und zufällig ist. Leider liegt gerade über die Geschichte der Perspektive eine neuere, umfassende und kritische Arbeit nicht vor. Auch die Auffassungen, was unter dem Titel „Perspektive" zu behandeln sei, schwanken erheblich. Am einen Ende stehen die Autoren, die unter Perspektive alles fassen wollen, was von der Skenographia und angewandten Optik der Griechen über die Renaissance bis zur projektiven Geometrie der Neuzeit •— so etwa Poudra [192] und Bense [21], ja bis zur psychologischen Wahrnehmungslehre reicht — so Schweitzer [223]; andere ziehen mit einem gewissen Recht eine Einengimg des Begriffes auf die Zentralperspektive seit der Renaissance vor2. Im Sinne der der Arbeit vorangestellten Grundhypothese müssen aber alle Phänomene berücksichtigt werden, die eine Abhängigkeit von wie immer gearteten Gesichtspunkten zur Darstellung bringen. Also ist die Kunst der Antike zu berücksichtigen. 2 Zur Reichweite des Begriffs und zu seinen Differenzierungen vgl. Panofsky [182] und Siede [235],

7

1. Körperperspektive Als ersten Anfang einer perspektivischen Darstellung überhaupt setzt Schweitzer zu Ende des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts die sogenannte „Körperperspektive" an [223, 5], die insofern als Teilperspektive bezeichnet werden kann, als sie lediglich die einzelnen Körper, nicht aber einen sie umgreifenden Raum, in eine erste Form perspektivischer Darstellung einbezieht. Diese Tatsache, daß der Raum erst nach den Körpern perspektivisch behandelt wird, läßt es ratsam erscheinen, die Analyse der einzelnen perspektivischen Darstellungsweisen akzentuierend nach Körper und Raum zu gliedern 3 . (a) D i n g e i n k ö r p e r - p e r s p e k t i v i s c h e r D a r s t e l l u n g α) Abschattung. Vergleicht man Darstellungen der vorperspektivischen Zeit mit den ersten körper-perspektivischen, so hat man anschaulich den Eindruck, als trete das je Dargestellte in seiner Körperlichkeit aus der Bildfläche heraus. Was vorher etwa rein flächige Darstellung eines Schildes war (Fig. 1), zeigt jetzt anschaulich mehr als nur eine (Sdiau-)Seite und verweist damit unseren Blick auf nicht wahrgenommene, wenngleich prinzipiell wahrnehmbare Seiten (Fig. 2).

Fig. 1

Fig. 2

In Anlehnung an die Terminologie Vitruvs, eines der ersten überlieferten Theoretiker der Perspektive, bezeichnen wir diese Art der Darstellung einer .vorderen' Seite in Einheit mit den von ihr aus zurückweichenden Seiten, also die „frontis et laterum abscedentium adumbratio" [259, 9] 4 , als Abschattung; der Körper, der in der Darstellung einer seiner Seitenansichten anschaulich auf andere, diese Ansicht fortsetzende und damit seine Körperlichkeit zur Darstellung bringende Seiten verweist, werde als abgeschattet bezeichnet. Dieses anschauliche Andeuten von etwas, das als Ganzes simultaner originärer Wahrnehmimg nicht gegeben sein kann, dieser anschauliche Hinweis auf nur abgeschattet zur Darstellung kom3

Zur „akzentuierenden" gegenüber „determinierender" Betrachtungsweise vgl.

Lersdi [ 142, 21 f.], 4

8

Eigene Hervorhebung.

mende Ganze, macht die Grundbedeutung des Begriffes der Abschattung aus5. Wie aber kann Nicht-Wahrgenommenes anschaulich gegeben sein, da es doch dem Blick entzogen ist? Schalten wir für diese Überlegung alle Möglichkeiten aus, nach denen das momentan dem Blick Entzogene veranschaulicht', also im Sinne von noch so lebhaften Vorstellungen gehabt oder auch nur gewußt werden kann, schalten wir aus, daß wir um ein Körperding herumgehen oder es abgreifen können, um so nach und nach alle seine Seiten zur vollen Anschauung zu bringen. Das in Frage stehende, zur Zeit nicht Wahrnehmbare sei verdeckt und zwar anschaulich verdeckt; nicht in der Weise, in der hinter einem Schirm irgend etwas versteckt ist, von dem wir wissen, oder nicht wissen, worunter wir uns etwas vorstellen oder nicht vorstellen können, das aber in keiner Weise zur Anschauung kommt, unserer Wahrnehmung keinerlei Anhaltspunkte bietet. Anschaulich verdeckt heißt vielmehr, daß die Verdeckung selber wahrnehmbar ist, so wie es bei den beiden Linealen in Fig. 3 der Fall ist. Unmittelbar wahrnehmbar — ohne Zuhilfenahme von Vorstellungen und Wissen —- sind hier zwei Lineale, eines davon ,unter' bzw. .hinter' dem anderen.

Fig. 3

Fig. 4

Daß und auf Grund welcher Gestaltfaktoren der fragliche, in Fig. 4 schraffierte Teil immer als realer, d. h. hier: unmittelbar erlebnismäßig „vorhandener" Teil mitgegeben und nicht nur erschlossen ist, haben eingehende Untersuchungen der Gestaltpsychologie erwiesen. [J35; 173; 174; 6] Von ihren Ergebnissen sei hier nur das eine wiedergegeben, daß nämlich alleine die Art der Gesamikonfiguration motiviert, ob eine Gestalt als vor bzw. hinter einer anderen befindlich gesehen werden kann. Motiviert will sagen: die Auffassung beispielsweise einer zweidimensionalen Konfiguration als flach oder tief (zwei- oder dreidimensional), ist nicht schlechthin beliebig. Ihr ist innerhalb der vorgegebenen und übergreifenden Gesamtkonfiguration ein Spielraum gesetzt, in dem sie sich mehr oder weniger sinnvoll betätigen kann. Dabei gibt es — wie bei aller Motivation — Gestalten von relativ (hier zur Tiefe) zwingendem Charakter und solche, die 5 Vgl. hierzu die sog. ,übertragenen' Bedeutungen von adumbro, etwa in: Georges [70], sub. tit.

9

verschiedene Auffassungen ermöglichen®. So nimmt in der Figurenreihe 5 die Tendenz, statt eines flächigen Davidstems zwei auf- oder hintereinanderbefindliche Dreiedke zu sehen, von links nach rechts zu (5 a—e). Die technischen Mittel der Weglassung von Konturen, des Vermeidens von Symmetrie und der Schattierung bzw. verschiedener Färbung tragen zur anschaulichen Verdeckung bei (Fig. 5f).

$ $ o $ a

b

c

d

e

f

Fig. 5 Damit aber etwas als verdecktes zur Anschauung kommen kann, muß dieses Etwas sich auch als das zeigen, was es ist: es muß sich zu einer wie immer beschaffenen ganzen Gestalt ergänzen. In der Figurenreihe 6 tritt der Eindruck einer verdeckten Figur erst bei 6 c einigermaßen anschaulich auf; die bei 6 a und 6 b vorstehenden kleinen Dreiecke werden eher als ,Auswüchse' des großen Dreiecks, d. h. aber: in der Ebene des Dreiecks gesehen, etwa als Lüftungsöffnungen eines Zeltes o. ä. Erst Teile, die sich anschaulich zu einem Ganzen ergänzen, das keine „gute Gestalt" zu sein braucht (vgl. 6 d), machen Verdecktheit anschaulich7. Voraussetzung ist immer, daß dasjenige, was vom Verdeckten sich zeigt, das verborgene Ganze darzustellen' vermag, so wie drei Ecken in bestimmter Anordnung ein Dreieck, Finger einen Menschen usw.

Δ a

Δ Λ Çs b Fig. 6

e

d

Als anschaulich verdeckt können wir demnach dasjenige Nicht-Wahrgenommene bezeichnen, dessen „Vorhandenheit" nicht erschlossen oder 6 Zu dem für diese Untersuchung zentralen Thema des Verhältnisses von Motivation, (aufgefaßtem) Sinn und Gestalt vgl. p. 141 ff. 7 Daß nicht nur gestaltliche Kriterien i. e. S., sondern vor allem auch Sinnkriterien die Verweisung eines Teiles auf ein Ganzes bestimmen, beweisen die Fälle, in denen ein sinnvolles Kleindetail ein Ganzes anzeigt (Finger, die aus Kissen, Schuhe, die aus einem Sack herausragen; eine Fülle solcher Beispiele bieten die Zeichnungen von Wilhelm Busch).

10

gewußt zu werden braucht, sondern sidi im anschaulichen Hinweis wahrgenommener Seiten oder Teile auf ein zugehöriges bestimmtes Ganzes enthüllt. Nur solche Seiten aber enthüllen ein Ganzes als ein bestimmtes, die ihrerseits vom Ganzen so bestimmt sind, daß sie es anschaulich vergegenwärtigen mögen. Wir bezeichnen diese Funktion von wahrgenommenen Seiten oder Gliedern eines nicht wahrgenommenen Ganzen als anschauliche Repräsentation. Die in Fig. 5 d mit Α, Β und C bezeichneten Spitzen repräsentieren also anschaulich das Dreieck ABC und zwar als verdecktes.

A

Nun zeigt sich gerade an unseren bisherigen Beispielen, daß anschauliche Verdecktheit zwar in einem bescheidenen Sinne, aber doch prinzipiell .Tiefe gibt'; nicht aber gibt Verdecktheit die Körperlichkeit, um die uns beim Phänomen der Abschattung zu tun ist. Soll auf einer Fläche ein Würfel zur Anschauung gebracht werden, so bietet sich eine Reihe von Möglichkeiten, seine Dreidimensionalität darzustellen:

4yi Fig. 7 Die — gelegentlich von und an Kindern und auch von Naturvölkern praktizierte — „Explikation" des Würfels (Fig. 7 a) können wir außer acht lassen, weil die Veranschaulidiung der Dreidimensionalität fehlt. Dem11

gegenüber sind die Figuren 7 b—7 e gleichermaßen korrekte „Projektionen" 8 eines Würfels9. Aber erst nach dem Vermeiden von zusammenfallenden Geraden (Doppelbesetzung, Fig. 7 b), von durchgehenden Geraden (Fig. 7 c) und von Symmetrie (Fig. 7 b—d) kommt es in der sogenannten „Schrägansicht" von Fig. 7 e zu einer anschaulichen Dreidimensionalität, nicht aber zu anschaulicher Körperlichkeit. Denn selbst, wenn wir uns den Würfel als gläsern vorstellen oder auch bereit sind, einen Drahtwürfel als Körper nicht nur sensu geometrico zu akzeptieren, so spricht — wiederum rein anschaulich fundiert — der ständige, zumindest ständig mögliche „Umschlag" gegen Körperlichkeit. Ein Gebilde, bei dem ,hinten' jeden Augenblick in ,vorne' oder gar ,außen' ständig in ,innen' umzuschlagen droht, hat erlebnismäßig eher Phantom- als Körpercharakter. Dreidimensionalität und Körperlichkeit zweidimensional dargestellter Gebilde treten also psychologisch auseinander. Damit erfährt die Projektion körperlicher Gebilde auf eine ebene Fläche als Darstellungsmittel eine wesentliche Einschränkung. Nehmen wir nun unseren Würfelprojektionen ihre Transparenz (Fig. 7 c \ 7 e'), verdecken wir also die in der Projektion .durchscheinende' Rückseite durch Weglassung der sie bedeutenden Linien, so ist ihre Körperhaftigkeit wesentlich eindringlicher geworden. Während die Konfiguration 7 c durch ihre Symmetrie noch die .ebene Auffassung' gestattet, fällt sie bei 7 e' schwer. Der Körper ist jetzt sechsseitig und relativ solide geworden; die auch bei 7 e' noch mögliche .nichtkubische Auffassung' trägt nun den Charakter der weniger guten, nicht so sinnvollen. Weitere Festigungen lassen sich mit Hilfe von Schattierungen und

Fig. 7 Verkürzungen (Fig. 7 e')10, vor allem aber durch die Einbettung in festlegende Bezugssysteme erzielen. Wieder ist es erst die Darstellung aus „Schrägansicht", die eine dem Betrachter zugekehrte Seite oder Kante in eins mit den von ihr zurückweichenden Seiten bietet, und sie allein kann 8

Zum Begriff der „Projektion" vgl. p. 19 f. Zu den Gestaltfaktoren der teilweise Kopfermann entnommenen Beispiele vgl. [135, 314], 10 Uber die Gestaltgesetze der Verkürzung vgl. Metzger [174, 313], 9

12

als psychologisch zwingende Abschattung eines Körpers bezeichnet werden. Die „adumbratio frontis et laterum abscedentium" setzt — als Abschattung eines Körpers — die Berücksichtigung bestimmter Gestaltfaktoren (Vermeiden von Symmetrie, durchgehenden Geraden usw.) sowie die anschauliche Verdecktheit voraus11. Gestaltfaktoren und anschauliche Verdecktheit berücksichtigt finden wir aber in der Schrägansicht des in Fig. 2 dargestellten körper-perspektivischen Schildes. Auch dieser Schild ergänzt sich anschaulich zu seiner vollen Körpergestalt: Schildrand, konvexe Außen- und konkave Innenseiten sind zugleich sichtbar, keines davon ganz, aber jedes so, daß es das Ganze anschaulich repräsentiert. Der Schild ist als abgeschatteter in seiner Körperlichkeit ganz vorhanden. „Abgeschattet ganz vorhanden" heißt aber auch: nur im Ganzen vorhanden; denn über Einzelheiten und Besonderheiten informiert uns nur die wahrgenommene, nicht aber die anschaulich verdeckte Seite des Schildes. Daß seine Körperlichkeit sich also ausschließlich nach Maßgabe der Gestalt des von ihm Wahrgenommenen ergänzt und diese Gestalt nicht unbedingt maßgebend für das Verdeckte ist, macht die erlebnismäßige Unbestimmtheit der Abschottung aus, die noch zu behandeln sein wird12. Die anschauliche Verdecktheit, die als solche nur den Eindruck räumlicher Tiefe vermittelt (Fig. 3), ist also nur dann ,Darstellungsmittel' von Körperlichkeit, wenn eine bestimmte — gestaltlich unausgewogene — Konfiguration sich zu einer ganzen, für die Wahrnehmung aber teilweise verdeckten Gestalt („Körper") ergänzt, mit anderen Worten: wenn die Darstellung einer ,Seite' eines Dinges so beschaffen ist, daß sie den Wahrnehmenden auf andere nicht wahrnehmbare (Rück-)Seiten desselben Dinges anschaulich verweist. Betrachten wir abschließend noch die Vollzugsart des Wahrnehmens einer solchen abgeschatteten Schrägansicht. Der Blick, der auf den dem Betrachter zugekehrten Rand des Schildes trifft, umgreift den Schild. Während ein volles Umgreifen eines Körperdings dem Handhaben, also motorisch-haptischem Verhalten vorbehalten bleibt, vermögen wir sehend — auf Grund der binokularen Struktur unserer Wahrnehmung — Körperdinge ansatzweise zu umgreifen13. Auch der Vollzug des Wahrnehmens geht also auf das Ganze eines Körpers; die Faktizität unseres eigenen Leibes (unser Augabstand, die Entfernung, aus der wir sehen, und der Winkel, unter dem wir einen Körper betrachten) begrenzt aber diese Intention auf ihren Ansatz. Die abgeschattete Darstellung der Körper-Perspektive geht zum ersten Male auf diese Faktizität unserer Wahrnehmungs-Struktur ein 11 Über die Rolle teilweise verdeckter Züge für den „Anschein von Körperlichkeit" s. a. Bartlett [16, 83 ff.] und Arnheim [6, 198 ff.]. 12 Vgl. p. 71. 13 Vgl. hierzu auch Linschoten [155],

13

und gestattet erstmalig das ansatzweise Umgreifen auch bloß dargestellter Körper; das damit eingeführte ,haptische Element' wird Kriterium perspektivischer Darstellung in der Kunst. ß) Der körperbezogene Blickpunkt. Körper abgeschattet abbilden bedeutet, sie für den Betrachter so darstellen, daß er ihre Körperlichkeit wahrnimmt. Diese Absicht ist die Motivation der Schrägansicht. Der darzustellende Körper wird so lange gedreht bzw. umschritten, bis der Maler den Ort gefunden hat, von dem aus der Gegenstand seiner Darstellung in seiner Körperlichkeit zur Anschauung kommt. Abschattung besagt also die Hinordnung eines darzustellenden Gegenstandes auf einen Ort außerhalb der Darstellung, nämlich auf den Punkt, von dem aus der Betrachter den dargestellten Gegenstand erblicken soll. Wir nennen diesen Punkt den Blickpunkt. Der Blickpunkt, als ein dem Bild nicht zugehöriger Ort, wird Zentrierungspunkt der abschattenden Darstellungsweise. Die Darstellung wird damit in etwas verankert, das in seiner Faktizität den wie immer gearteten Gesetzen der künstlerischen Darstellung entzogen bleibt. Betrachtendes Subjekt und dargestelltes Objekt werden so in bestimmter Hinsicht aufeinander bezogen, die „Subjekt-Objekt-Beziehung" fließt — und zwar als räumliche — in die perspektivische Darstellungsweise ein. Sie fließt zugleich aber auch in die Sichtweise des Betrachters ein; denn so, wie der Künstler sich in seiner Darstellung nach dem Blickpunkt eines Betrachters richtet, so findet sich der Betrachter durch eben diese Darstellungsweise auf eine bestimmte Ansicht verwiesen, die ihn — mehr oder weniger — anhält, den ihr allein korrespondierenden Blickpunkt aufzusuchen. Zwar handelt es sich bei der Körperperspektive per definitionem noch nicht um einen zentralen Blickpunkt; aber selbst wenn jedem Körper sein eigener Blickpunkt zugeordnet ist, so bedeutet doch ein Verlassen oder Nicht-Besetzen dieses Blickpunktes ein Verfehlen der intendierten An-sicht. Anschaulich haben wir den Schild von Fig. 2, als blickten wir von einem Ort schräg rechts hinter ihm in seine Höhlung hinein. Halten wir die Abbildung jetzt mit nach links ausgestrecktem Arm von uns und blicken auf den Schild, so erleben wir, wie sich dieser aus der Bildfläche quasi herausdreht. Ein eventuell dagegengestelltes Knie eines hinter seinem Schild abgebildeten Kriegers14 tritt dann anschaulich vor das rechte dem Betrachter zugewendete Knie — eine anschauliche Absurdität, die einen Phantom-Charakter in die Darstellung hineinträgt, wie er der Körperlichkeit der ständig umkippenden Würfel-Projektionen zukommt. Das Nicht-Besetzen bzw. Nicht-Einhalten des mit der perspektivischen Darstellung korrelativ verbundenen Blickpunktes, das bei der späteren zen14

14

Vgl. die Abbildung des attischen Kraters in: Schweitzer

[223, Abb. 4],

tralperspektivisdien Konstruktion so viele Diskussionen auslöste, ist als Möglichkeit mit jeder abschattenden Darstellung gegeben; die abschattende Darstellung impliziert ein räumlich bestimmtes Zueinander von (wahrnehmendem) Subjekt und (wahrgenommenem) Objekt. (b) Der Raum in k ö r p e r - p e r s p e k t i v i s c h e r

Darstellung

Schweitzers Terminus der „Körperperspektive" schließt nach der oben wiedergegebenen Definition die Einbeziehung des Raumes in die perspektivische Darstellung aus. Kunsttheoretisch gesehen mag diese Bestimmung ausreichend sein, phänomenologisch betrachtet ist sie es nicht. Denn gerade eine Analyse der Korrelation zwischen abgeschattetem Körper und Blickpunkt des Betrachters enthüllt diese Korrelation als eine primär räumliche. Der Raum ist demnach durchaus Konstituens auch der Körper-Perspektive. Aber er ist es als Erlebnis-Raum, nicht als Bild-Raum. Der Raum, der den abgeschatteten Körper und den Blickpunkt des Betrachters übergreift, fließt — so konnten wir zeigen — als ,räumliche Beziehung', als Richtungs-Raum15 in die körper-perspektivische Darstellungsweise, sie mitkonstituierend, ein. Die doppelte Verweisung des abgeschatteten Körpers kennzeichnet die Richtung genauer. Einmal verweist, wie wir sahen, die wahrnehmbare Konfiguration als Glied oder Seite anschaulich auf das Ganze, dessen Ansicht sie ist, zum andern verweist sie in ihrer Abgeschattetheit als Schrägansicht auf den Ort des Betrachters. Das wahrnehmende Verhalten nimmt also seine Richtung vom Blickpunkt aus und geht — ,über' die dem Betrachter zugekehrte Seite des Körpers — auf das anschaulich repräsentierte Ganze des Körpers. Die Wahrnehmung also .bleibt nicht stehen' bei der zweidimensionalen Konfiguration, sondern ,transzendiert' sie in Richtung auf das Ganze der abgeschatteten Körperlichkeit eines Dings. Diese Gerichtetheit der Wahrnehmung auf das Ganze eines Dings ist zwar selber ein Ganzes, im Sinne einer Einheit, umgreift aber zwei Arten Raum, die analytisch wohl zu trennen sind: (1.) den Erlebnisraum als Richtungsraum des (wahrnehmenden) Verhaltens und (2.) die nur dargestellte Tiefe des Körperdings des .Bildraums' (vgl. p. 22 f.). D. h. die Bildfläthe körper-perspektivischer Darstellungen ist in dem Maße anschaulich-räumlich, wie die in ihr abgeschatteten Körper in sie hinein- bzw. aus ihr herausragen. Diesen in der körper-perspektivischen Abgeschattetheit der Dinge und in ihrer Bezogenheit auf einen im Erlebnisraum lokalisierten Ort nur implizierten Darstellungsraum faltet erst die Raumperspektive i. e. S. auch thematisch aus. 15

Lewin

Den Begriff des Richtungsraumes oder „hodologischen Raumes" hat K. als psychologischen Grundbegriff im Rahmen seiner „Topologie" einge-

führt. Vgl. hierzu: Lewin [149; 151] und Brown [32].

15

2. Scaenographia Die Anfänge der Szenographie als der perspektivischen Bühnenmalerei verlegt Vitruv, geknüpft an den Namen des Agatharchos, in die Zeit des Äschylos. Ihre Entdeckung sei sofort von zwei der bedeutendsten Philosophen aufgegriffen worden; denn „ex eo moniti Democritus et Anaxagoras de eadem re scripserunt", und hier folgt die erste Begriffsbestimmung, „quemadmodum oporteat ad aciem oculorum radiorumque extentionem certo loco centro constituto lineas ratione naturali respondere, uti de incerta re certae imagines aedificorum in scenarum picturis redderent spe